Festschrift für Alexander Reuter 9783504387464

Anlässlich seines 65. Geburtstags haben sich Freunde und Weggefährten des Jubilars zusammengefunden, um dem renommierten

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Festschrift für Alexander Reuter
 9783504387464

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Festschrift für Alexander Reuter

FESTSCHRIFT FÜR

ALEXANDER REUTER ZUM 65. GEBURTSTAG herausgegeben von

Achim Compes Roderich C. Thümmel Angelo Winkler

2021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http:// dnb.d-nb.de abrufbar. Verlag Dr. Otto Schmidt KG Gustav-Heinemann-Ufer 58, 50968 Köln Tel. 02 21/9 37 38-01, Fax 02 21/9 37 38-943 [email protected] www.otto-schmidt.de ISBN 978-3-504-06065-7 ©2021 by Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­ rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das verwendete Papier ist aus chlorfrei gebleichten Rohstoffen hergestellt, holz- und säurefrei, alterungs­ beständig und umweltfreundlich. Einbandgestaltung: Lichtenford, Mettmann Satz: WMTP, Birkenau Druck und Verarbeitung: Kösel, Krugzell Printed in Germany

Vorwort Am 2. Juli 2021 hat Alexander Reuter sein 65. Lebensjahr vollendet. Freunde und Weggefährten haben dies zum Anlass genommen, zu seinen Ehren diese Festschrift zusammenzustellen. Dabei haben sie Themen aufgegriffen, mit denen sich der Jubilar im Laufe seines Berufslebens vielfach befasst hat. Die Breite des Themenspektrums ist kennzeichnend für ihn: Alexander Reuter hat immer wieder neue rechtliche Fragestellungen aufgegriffen, diese mit hoher Akribie durchdrungen und sie in die praktische Rechtsanwendung eingebracht. Geboren wurde Alexander Reuter in Stuttgart. Dort hat er sein Abitur abgelegt, um dann das Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Heidelberg und Lausanne aufzunehmen. Dem glänzend bestandenen 1. juristischen Staatsexamen schloss sich der Referendardienst am Kammergericht in Berlin an, wo er das 2. juristische Staatsexamen ablegte. Parallel zum Referendariat arbeitete Alexander Reuter als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin und promovierte dort bei Hans D. Jarass zu dem Thema „Kartellbehördliche Recherche als Eingriff in Freiheit und Eigentum – Zugleich ein Beitrag zur Eingriffsdogmatik im Lichte informaler Verfahrensweisen“. Schon an der Wahl dieses Themas zeigte sich das Sensorium von Alexander Reuter für den Schutz des Eigentums, das sich durch seine berufliche Vita zieht. Das gegenwärtig von Interessenverbänden und dem Gesetzgeber breit diskutierte Thema der Verbandssanktionen, also der Bestrafung von juristischen Personen für Fehlverhalten ihrer Organe, ist ihm eine Herzensangelegenheit. Er hat diese Diskussion maßgeblich beeinflusst und ihr im Lichte des Eigentumsschutzes seinen Stempel aufgedrückt. Dem Referendardienst und der Promotion folgte ein einjähriger Studienaufenthalt an der New York University School of Law, den er mit dem M.C.J. abschloss. In der Folge legte er dann auch das Bar Exam im US-Staat New York ab und erwarb seine Zulassung als Attorney at Law. Die neu erworbene Qualifikation nutzte er sogleich und verbrachte ein Jahr als Rechtsanwalt in New York bei der Kanzlei Walter Conston & Schurtman. Seine berufliche Tätigkeit in Deutschland begann Alexander Reuter 1985 als Rechtsanwalt bei Mueller Weitzel Weisner, heute Hengeler Mueller. Er wechselte 1987 als Justiziar zum ThyssenKrupp-Konzern, zunächst mit Tätigkeiten in den Bereichen des Gesellschafts-, Kapitalmarkt- und M&A-Rechtes, sodann als Leiter der Rechtsabteilung der Thyssen Stahl AG. 1989 kehrte er hauptberuflich in die Anwaltschaft zurück und gründete für White & Case deren Düsseldorfer Büro, das er bis 2014 zusammen mit Kollegen und Partnern deutlich ausbaute. Hier zeigte sich sein besonderes Interesse für Public Private Partnerships und die Projektentwicklung und -finanzierung, die er weiterentwickelte und neben den klassischen Gebieten des Gesellschaftsrechtes und der M&A-Aktivitäten betreute. Seit 2014 ist Alexander Reuter als Partner bei Görg in Köln tätig.

V

Vorwort

Die erheblichen beruflichen Herausforderungen haben Alexander Reuter nie davon abgehalten, sich intensiv mit wissenschaftlichen Themen zu befassen. Seine Veröffentlichungsliste mit mehreren Büchern, Buchbeiträgen und einer großen Zahl von Aufsätzen spricht insoweit Bände und unterstreicht seine enorme Schaffenskraft und insbesondere auch sein breites Interesse. Dementsprechend hat er ab 2008 dann auch Lehrtätigkeiten an der Ruhr-Universität Bochum aufgenommen und sich dabei auf das Internationale Handels- und Gesellschaftsrecht konzentriert. Der verdiente Lohn für sein universitäres Engagement war die Ernennung zum Honorarprofessor im Jahre 2013. Thematisch spielten für Alexander Reuter neben den klassischen Themen des Wirtschaftsanwalts immer auch in der Fachwelt und darüber hinaus aktuell diskutierte Fragestellungen eine Rolle. Er hat ein besonderes Augenmerk für Themen, die sich gerade zu entwickeln beginnen und bei denen wahrscheinlich ist, dass sie in der Praxis Bedeutung erlangen werden. Hierzu gehört das erwähnte Projektentwicklungsgeschäft, dessen Möglichkeiten Alexander Reuter früh erkannt und deren Geschäftsmodelle er maßgeblich beeinflusst hat. Sein Buch über die Projektfinanzierung, das inzwischen in der 2. Auflage vorliegt, macht dies deutlich. Ebenso hat er sich des bereits angesprochenen Themas der Verbandssanktionen besonders angenommen. Der deutsche Gesetzgeber, insoweit international Impulsen folgend, hat hier eine Initiative gestartet, deren Gefahren und Risiken Alexander Reuter hellsichtig erkannt hat. Durch vielfältige Interventionen, Eingaben und Veröffentlichungen hat er es vermocht, eine große Zahl von Mitstreitern zu gewinnen und das Gesetzgebungsprojekt zu einem vorläufigen Stillstand zu bringen. Dabei ist es nie seine Methode gewesen, mit groben Knüppeln auf das Projekt einzuschlagen. Vielmehr verfolgt er dieses Ziel, wie auch seine sonstigen Belange, mit intellektueller Brillanz und feinsinnigem Humor. Wo immer Alexander Reuter auftauchte und tätig war, war er von Kolleginnen und Kollegen wegen seiner fachlichen Expertise, seiner Zugänglichkeit, Kommunikationsfreude und seinem Humor hochgeschätzt. Insbesondere auch in seiner heutigen Tätigkeit bei Görg hat er sich als Kollege und Freund einen Namen gemacht. Möge sich das praktische und wissenschaftliche Wirken von Alexander Reuter noch lange fortsetzen. Seine Freunde und Weggefährten freuen sich auf den weiteren Austausch und die Begegnungen mit ihm. Ad multos annos. Achim Compes

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Roderich C. Thümmel

Angelo Winkler

Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Isabelle Berger / Jacob Henze / Thomas Kohlmeier Vorschläge für einen zeitgemäßen Umgang mit Kostenrisiken hochvolumiger Rechtsstreitigkeiten – zur Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jörg Böttcher Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Bremen Verbandssanktionen, Insolvenz und Sanierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Hans-Georg Bretschneider Checks and Balances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Christian Bürger Der Konzernumsatz taugt nicht zur Bemessung von Unternehmenssanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ralph Busch „Falsche Freunde“ – terminologische Missverständnisse und andere Fußangeln bei Haftungsbegrenzungen in internationalen Anlagenbauverträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Marco Buschmann Haftung ohne Verantwortung: Der Wertungswiderspruch zwischen Verbandssanktionengesetz und Aktionärsstellung im Lichte von Art. 14 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Hans-Georg Heesen Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren (eWpG-E) – Sachfiktion versus Wertrecht? – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Thoralf Herbold / Julia Huth Grüner Stahl: Offshore-Windenergie und Wasserstoff als Wegbereiter . . .

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VII

Inhaltsverzeichnis Seite

Christiane Hoerdemann-Napp / Laura Katharina Pauli KI am Steuer der Aktiengesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Adrian Eugen Hollaender Die Wahrung der Kompetenzgrundlagen der Europäischen Union . . . . .

141

Christian Jostes Ausgewählte Problemkreise zu Wettbewerbsverboten im Rahmen von Gemeinschaftsunternehmen – Hinweise zur Vertragsgestaltung und zur Vertragsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

Alexander Kessler Behandlung von Verlustausgleichansprüchen nach § 302 AktG in der Gestaltungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Lambert Köhling Rechtsprüfungspflichten im Bankaufsichtsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

Oliver Lange Die prozessuale Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit der Gesellschaft im Managerhaftungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

Sascha Lehmann / Claus Christopher Schiller Die Auswirkungen von Krise und Insolvenz auf den Unternehmensvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Gisela Meister-Scheufelen Mehr Gesetzesqualität durch Folgekostenberechnungen auf Bundes- und Länderebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

253

Hans-Jürgen Meyer Das Duell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

263

Kathrin J. Niewiarra Wieviel Integrität braucht der Aufsichtsrat? Vom ehrbaren Kaufmann bis zum Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität . . . . . . . . . . . . .

277

Walter G. Paefgen Zur Ausfallhaftung von GmbH-Gesellschaftern für die Abfindung ausscheidender Mitgesellschafter – dogmatische Grundlage, Voraussetzungen, Anwendungsbereich und kautelarjuristische Gestaltungsfreiheit . . . .

283

Klaus Pannen Zuständigkeitsprobleme im Rahmen von Konzerninsolvenzen – Ein Überblick unter besonderer Berücksichtigung des StaRUG – . . . . .

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VIII

Inhaltsverzeichnis Seite

Peter M. Polak The Golden Lady . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

Julia Redenius-Hövermann / Christian Strenger Überlegungen für eine wirksamere aktienrechtliche Organhaftung . . . . . .

359

Daniel Reichert-Facilides Vorüberlegungen zu einem Gesetz über die Restrukturierung ausländischer Staatsschulden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373

Jan-Hendrik Röver Rechtsfortbildung durch teleologische Umformung . . . . . . . . . . . . . . . . .

387

Yorick M. Ruland Einfluss der Sanierungssituation auf Finanzierungsverträge aus Kreditgebersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

413

Antonio Sanchez-Pedreño Kennaird Arbitrator Disclosures on Independence and Impartiality: Further Developments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

437

Christoph Thole Der Einfluss des Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetzes (StaRUG) auf die Projektfinanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449

Roderich C. Thümmel Die Business Judgment Rule im Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

461

Gregory J. Thwaite Prof. Dr. Alexander Reuter and the Rise of the International Lawyer in Germany . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Klaus van den Woldenberg § 613a Absatz 4 BGB – Kündigungsschutz wegen des Betriebsübergangs, der Umgang mit einer unbekannten Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Stephan von Petersdorff-Campen Öfter mal was Neues. Überall dasselbe. Die Mode und ihr Schutz gegen Nachahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501

Arnd Waleczek Neue Normalität am Kapitalmarkt: Grenznutzen einer ausufernden Staatsfinanzierung zum Nulltarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

513

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Inhaltsverzeichnis Seite

Anne Wehnert Die Verbandsverantwortlichkeit im Entwurf des Verbandssanktionengesetzes: Der „Sündenfall“ des § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E und die Abkehr vom Schuldprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

523

Norbert Wimmer Über grünen Tee, bittere Schokolade und die Sorgfalt im Allgemeinen Überlegungen zum Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten . . . . . .

535

Angelo Winkler Der ursprüngliche Stifterwille und die „wesentliche Veränderung der Verhältnisse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

571

Alexander Reuter Veröffentlichungen/Publications . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Autorenverzeichnis Berger, Isabelle Dr., Rechtsanwältin, Chief Investment Officer und Partner bei Nivalion, Steinhausen/Schweiz Böttcher, Jörg Dr., Projektmanager bei der IB.SH Energieagentur, Kiel sowie Lehrbeauftragter an mehreren Hochschulen Bremen, Michael Rechtsanwalt / vereidigter Buchprüfer und Partner, Vorstand des VID Verband Insolvenzverwalter Deutschlands e.V., PLUTA Rechtsanwalts GmbH, Düsseldorf Bretschneider, Hans-Georg Rechtsanwalt, München Bürger, Christian Dr., Rechtsanwalt und Partner, GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Köln Busch, Ralph Rechtsanwalt/Syndikusrechtsanwalt, Leiter Recht des Bereichs Mining Technologies, thyssenkrupp Industrial Solutions AG, Essen Buschmann, Marco Dr., Rechtsanwalt, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Berlin Heesen, Hans-Georg Dr., Justiziar, Leiter Recht der RAG-Stiftung, Essen Henze, Jacob LL.M. (Queen Mary University), Rechtsreferendar Kammergericht Berlin, in der Rechtsanwaltsstation bei Nivalion Herbold, Thoralf Rechtsanwalt und Partner, GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Köln Hoerdemann-Napp, Christiane Dr., Rechtsanwältin und Fachanwältin für Bau- und Architektenrecht, Taylor Wessing Partnerschaftsgesellschaft mbB, Düsseldorf Hollaender, Adrian Eugen Mag. Dr. iur., emeritierter Rechtsanwalt, Wien, und Lehrbeauftragter für Menschenrechte an der Päpstlichen Hochschule Heiligenkreuz Huth, Julia Rechtsanwältin und Associate, GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Köln XI

Autorenverzeichnis

Jostes, Christian Dr., Rechtsanwalt und General Counsel der Kleinewefers-/Jagenberg-Gruppe, Krefeld Kessler, Alexander Dr., LL.M., Rechtsanwalt und Partner, GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Köln Köhling, Lambert Dr., LL.M. (London), Rechtsanwalt/Syndikusrechtsanwalt, Bundesverband deutscher Banken e.V., Berlin Kohlmeier, Thomas Rechtsanwalt, Co-CEO und Partner bei Nivalion, Steinhausen/Schweiz Lange, Oliver LL.M. (M&A), LL.M. (Insurance), Rechtsanwalt, Wirtschaftsmediator, Head of Claims Handling & Product Development, VOV GmbH, Köln Lehmann, Sascha Dr., LL.M., Rechtsanwalt und Counsel, GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Köln Meister-Scheufelen, Gisela Dr., Vorsitzende des Normenkontrollrats Baden-Württemberg, Stuttgart Meyer, Hans-Jürgen Dr., LL.M. (Harvard), M.A. (HUB), Rechtsanwalt, Unternehmensberater, Vorstand i.R. (Vattenfall Europe AG, Dussmann Group), Berlin Niewiarra, Kathrin J. Dr., Rechtsanwältin, Attorney-at-Law (New York), Ombudsfrau, bleu&orange®, Berlin Paefgen, Walter G. Dr. iur., Außerplanmäßiger Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen Pannen, Klaus Dr., Rechtsanwalt, Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Vorsitzender des Insolvenzrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins e.V. (DAV), Hamburg, Frankfurt am Main, Berlin, Dresden Pauli, Laura Katharina Rechtsreferendarin am OLG Düsseldorf in der Zivilstation am Landgericht Mönchengladbach Polak, Peter M. Dr., LL.M., Rechtsanwalt, Polak & Partner Rechtsanwälte, Wien/Österreich

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Autorenverzeichnis

Redenius-Hövermann, Julia Dr. iur. habil., LL.M., Professorin für Bürgerliches Recht und Unternehmensrecht sowie Direktorin des Corporate Governance Institute an der Frankfurt School of Finance and Management, Frankfurt am Main Reichert-Facilides, Daniel Dr., Rechtsanwalt und Attorney-at-Law (New York), Freshfields Bruckhaus Deringer Rechtsanwälte Steuerberater PartG mbB, Frankfurt am Main Röver, Jan-Hendrik Dr. Dr., LL.M. (LSE), FRSA, Rechtsanwalt, Barrister (Middle Temple), Honorarprofessor an der Universität Augsburg, Lehrbeauftragter an der Ludwig-MaximiliansUniversität München Ruland, Yorick Dr., Rechtsanwalt und Partner, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Köln Sanchez-Pedreño Kennaird, Antonio LL.M. (London), M.C.J. (New York), MCIArb (London), Attorney-Arbitrator, Licenciate in Law Madrid, admitted to the Madrid and New York Bars, President of the Madrid Court of Arbitration 2014-2019, Arbitrator with the Spanish Court of Arbitration, the Court of Arbitration of Madrid, the Barcelona Arbitral Tribunal, the Madrid College of Lawyers Arbitral Court, the ICC, and the Permanent Court of Arbitration. Schiller, Claus Christopher Rechtsanwalt und Assoziierter Partner, GÖRG Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB, Köln Strenger, Christian Mitglied verschiedener Aufsichts- und Beiräte, Gründungsmitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex sowie Honorarprofessor und Direktor des Corporate Governance Institute an der Frankfurt School of Finance and Management, Frankfurt am Main Thole, Christoph Dr., Dipl.-Kfm., Universitätsprofessor, Institutsdirektor, Institut für Verfahrensrecht und Insolvenzrecht, Institut für Internationales und Europäisches Insolvenzrecht, Institut für Anwaltsrecht, Universität zu Köln Thümmel, Roderich C. Dr., LL.M. (Harvard), Rechtsanwalt und Attorney-at-Law (New York), Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart, Honorarprofessor an der Universität Tübingen Thwaite, Gregory J. International Lawyer B.A. LL.B. (Hons) [Auckland], LL.M. (Harvard), Pro Merito (Poland), Solicitor, England & Wales, New Zealand, and Samoa, Attorney-at-Law, California USA, Rechtskundiger (Frankfurt) XIII

Autorenverzeichnis

van den Woldenberg, Klaus Rechtsanwalt, Justiziar thyssenkrupp AG, Essen von Petersdorff-Campen, Stephan Rechtsanwalt bei rospatt osten pross Intellectual Property Rechtsanwälte, Düsseldorf/Mannheim Waleczek, Arnd Selbständiger Unternehmer und Dipl.-Ökonom, Maison la Mesa, Sabine Hammann & Arnd Waleczek GbR, Düsseldorf Wehnert, Anne Dr., Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht, tdwe l Thomas Deckers Wehnert Elsner Rechtsanwälte, Düsseldorf Wimmer, Norbert Dr., Rechtsanwalt und Partner bei White & Case LLP, Berlin, Honorarprofessor an der Universität Osnabrück (European Legal Studies Institute) Winkler, Angelo Ministerialrat a.D. A.W., Berlin, 1991 bis 2016 Referatsleiter im Ministerium für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt, Magdeburg

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Vorschläge für einen zeitgemäßen Umgang mit Kostenrisiken hochvolumiger Rechtsstreitigkeiten – zur Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung Isabelle Berger / Jacob Henze / Thomas Kohlmeier

Inhaltsübersicht I. Vorbemerkung II. Die zur Verfügung stehenden Risikotransferinstrumente 1. Prozessfinanzierung a) Prozessfinanzierung im Brennpunkt von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur b) Funktionsweise und Bestandteile der Prozessfinanzierung c) Der deutsche und europäische Markt für Prozessfinanzierungen 2. ATE-Versicherung a) Funktionsweise b) Der europäische Markt für ATE-Versicherungen 3. Das Mandanteninteresse

III. Liquiditätsspritze versus Kostenschutz – oder das Beste zweier Welten? 1. Die Kosten von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung 2. Vorteile einer Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung 3. Beispiel aus der Praxis IV. Fallprüfung des Prozessfinanzierers und Underwriting des ATE Versicherers 1. Inhalt und Dauer der Fallprüfung 2. Empfehlenswerte Vorgehensweise für Parteien und ihre Rechtsvertreter V. Zusammenfassung

I. Vorbemerkung Wie andere Wissensberufe wird auch die rechtsberatende Branche gelegentlich von innovativen und dynamischen Entwicklungen geprägt. Derzeit in vieler Munde ist der „nutzerzentrierte Ansatz“, der mit der Methodik des legal design thinking die Bedürfnisse des Mandanten betont und in eine neue Wertigkeit zu bringen versucht1. Im Bereich der (schieds-)gerichtlichen Durchsetzung von Rechtsansprüchen werden die Bedürfnisse des Mandanten immer auch von seinem Wunsch bestimmt, die rechtliche Dimension eines Problems mit dessen ökonomischen Auswirkungen bestmöglich in Einklang zu bringen. Dies ist in der Praxis von erheblicher Bedeutung, zumal die rechtliche Durchsetzung (oder auch Abwehr) eines Anspruchs ökonomisch betrachtet mit drei Nachteilen verbunden ist: Zunächst muss der Kläger schon mit der Einleitung des Verfahrens und dann laufend Liquidität bereitstellen. Diese Mittel bleiben bis zu einer eventuellen Vollstreckung des (letztinstanzlichen) Urteils ge1 Vgl. Lücke, Legal Design Thinking – ein Reisebericht, ReThinking Law 1/2020, 34.

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Isabelle Berger / Jacob Henze / Thomas Kohlmeier

bunden und können üblicherweise mehrere Jahre nicht anderweitig investiert werden, was in der Regel zu beträchtlichen Opportunitätskosten2 führt. Hinzu kommt schließlich auch noch das jedem Rechtsstreit anhaftende Risiko des Prozessverlustes. Kaum jemand wird vor diesem Hintergrund ernsthaft bezweifeln, dass die teils substanziellen Kosten im Zusammenhang mit der Durchsetzung von Rechtsansprüchen bei externen Risikoträgern besser aufgehoben sind als in der Bilanz des betroffenen Unternehmens3. Wie dieser Kosten- und Risikotransfer in der Praxis funktioniert, ist auf Unternehmensseite vielen Finanzverantwortlichen und ihren Ansprechpartnern in der Rechtsabteilung bisher noch nicht oder erst im Ansatz geläufig. Die Anwendungsbereiche, praktische Durchführung und Kosten der Prozessfinanzierung sind dabei bereits etwas bekannter als die die sog. „After-the-Event“- oder ATE-Versicherung, die in Deutschland und Kontinentaleuropa insgesamt noch eher eine Nischenerscheinung ist. Im nachfolgenden Beitrag erläutern die Autoren, dass ein aus Sicht des Mandanten optimaler Risikotransfer – jedenfalls bei großvolumigen Rechtsstreitigkeiten – in der Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung liegen kann. Zudem geben sie Einblick in die Fallprüfung von Prozessfinanzierern sowie den Underwriting-Prozess von Versicherern.

II. Die zur Verfügung stehenden Risikotransferinstrumente 1. Prozessfinanzierung a) Prozessfinanzierung im Brennpunkt von Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur Inhalte und rechtliche Einordnung der Prozessfinanzierung sind mittlerweile Gegenstand zahlreicher Monografien4 und sonstiger wissenschaftlicher Beiträ2 Als Opportunitätskosten werden fiktive Kosten bezeichnet, die durch den Verzicht auf die Durchführung einer Alternative zugunsten einer zweiten Alternative entstehen; diese Vergleichsberechnung wird insbesondere bei der Entscheidung über Investitionen verwendet, https://www.rechnungswesen-verstehen.de/lexikon/alternativkosten.php. 3 Der Prozessfinanzierer begleicht während des Rechtsstreits fortwährend die Kosten des Verfahrens. Diese Kosten erscheinen nicht mehr in der Erfolgsrechnung der finanzierten Partei und haben deshalb keinen Einfluss auf das von ihr erzielte Betriebsergebnis. Zusätzlich wird auch der Cashflow nicht beeinträchtigt. Somit bleibt die Bilanz komplett frei von Rückstellungen für die Begleichung von Verfahrenskosten. 4 Vgl. Dimde, Rechtsschutzzugang und Prozessfinanzierung im Zivilprozess, 2003; Hoffmann, Gewerbliche Prozessfinanzierung in internationalen Investitionsschiedsverfahren, 2018; Homberg, Erfolgshonorierte Prozessfinanzierung, 2006; Jaskolla, Prozessfinanzierung gegen Erfolgsbeteiligung, 2004; Kochheim, Die gewerbliche Prozessfinanzierung: Rechtsfragen der Fremdfinanzierung von Prozessen gegen Erfolgsbeteiligung, 2003; Lötscher, Prozesskostenfonds, 2015; Maubach, Gewerbliche Prozessfinanzierung gegen Erfolgsbeteiligung, 2002;

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Zur Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung

ge5, sowie auch einer sich kontinuierlich weiter ausdifferenzierenden Judikatur6 geworden. Aktuell ist die Prozessfinanzierung auch in den Blickpunkt des Gesetzgebers gerückt, der sich, ausgelöst durch das Grundsatzurteil des BGH zu „wenigermiete. de“7, mit dem am 11.11.2020 vorgelegten „Entwurf eines Gesetzes zur Förderung verbrauchergerechter Angebote im Rechtsdienstleistungsmarkt“ des Themas zumindest in Teilbereichen angenommen hat8. Mit seinem aktuellen Reformvorhaben steht der

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6

7 8

Siebert-Reimer, Der Anspruch auf Erstattung der Kosten der Prozessfinanzierung, 2017; Skrzepski, Die gewerbliche Fremdfinanzierung von Prozessen gegen Erfolgsbeteiligung, 2008; Sturm, Zivilrechtliche, prozessuale und anwaltsrechtliche Probleme der gewerblichen Prozessfinanzierung, 2005 (jeweils mit zahlreichen weiteren Literaturnachweisen). Wie anhand der Veröffentlichungsdaten deutlich wird, war ein erster „Veröffentlichungsboom“ bald nach dem um die Jahrtausendwende erfolgten Durchbruch der gewerblichen Prozessfinanzierung in Deutschland zu beobachten; in der jüngeren Vergangenheit steigt nun, im Einklang mit der dynamischen Entwicklung der Branche, auch das wissenschaftliche Interesse an dieser wieder an (Entsprechendes gilt für die nachfolgend zitierten nichtselbstständigen Veröffentlichungen). Vgl. für die Schweiz beispielhaft: Schumacher, Prozessfinanzierung, 2015. Vgl. zur gewerblichen Prozessfinanzierung im Allgemeinen: Buschbell, AnwBl 2004, 435; Buschbell, AnwBl 2006, 825; Dethloff, NJW 2000, 2225; Frechen/Kochheim, NJW 2004, 1213; Grunewald, BB 2000, 729; Kallenbach, AnwBl 2010, 352; Kilian, AnwBl 2012, 244; Lenz, AnwBl 2007, 483; Resen, MDR 2010, 182; Scherer, VuR 2020, 83; Stadler, WuW 2018, 189; Wilde, AnwBl 2006, 813; zur Prozessfinanzierung in erbrechtlichen Streitigkeiten: Krüger, ZEV 2019, 575; zur Prozessfinanzierung in familienrechtlichen Streitigkeiten: Krüger, NZFam 2017, 295; Meyer, FF 2010, 116; van Bühren, FF 2004, 277; zur Prozessfinanzierung in insolvenzrechtlichen Streitigkeiten (insbesondere aus Sicht des Insolvenzverwalters): Tetzlaff, ZInsO 2011, 331; zur Prozessfinanzierung in der Schweiz Meier, Prozessfinanzierung, insbesondere prozessuale und konkursrechtliche Fragen, ZZZ 2019, 3; zur Prozessfinanzierung in den USA: Zekoll/Steffen, ZIP 2019, 1461; zur Prozessfinanzierung im Vereinigten Königreich: Zekoll/Pfleiderer, ZIP 2019, 1199; zur Prozessfinanzierung im Bereich der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit umfassend: International Council for Commercial Arbitration (ICCA), Report of the ICCA-Queen Mary Task Force on Third-Party Funding in International Arbitration, in: The ICCA Reports No. 4, 2018, online abrufbar unter https://cdn.arbitration-icca.org/s3fs-public/document/media_document/Third-Party-Fund ing-Report%20.pdf (zuletzt abgerufen, wie sämtliche Hyperlinks in diesem Beitrag, am 29.1.2021). Vgl. für Deutschland (Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit): OLG München v. 13.10.2004 – 7 U 3722/04, NJW 2005, 832; OLG Hamburg v. 2.6.2006 – 11 U 244/05, AG 2007, 500; OLG Koblenz v. 18.1.2007 – 2 U 664/04, VersR 2009, 405; OLG München v. 31.3.2015 – 15 U 2227, NJW-RR 2015, 1333; OLG München v. 4.12.2017 – 19 U 1807/17, WM 2018, 426; OLG Köln v. 5.11.2018 – 5 U 33/18, NJW-RR 2019, 759; OLG Frankfurt/ Main v. 2.7.2020 – 1 U 67/19, NJOZ 2020, 1394; LG Köln v. 4.10.2002 – 91 O 78/02, NJWRR 2003, 426; LG München II v. 23.4.2004 – 14 O 7483/03, NJW 2004, 2313; LG München I v. 7.2.2020 – 37 O 18934/17, NZKart 2020, 145 – LKW-Kartell; für die Schweiz: BGE 131 I 223; BGer v. 22.1.2015 – 2C_814/2014. BGH v. 27.11.2019 – VIII ZR 285/18, NJW 2020, 208. Vgl. den entsprechenden Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 21.1.2021, online abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RegE_Rechts dienstleistungsmarkt.pdf?__blob=publicationFile&v=2. Einordnend und kommentierend zu dem Regierungsentwurf im Allgemeinen und zur spezifischen Dynamik dieses Gesetzgebungsverfahrens Lührig, Gesetz zum Legal Tech-Inkasso: Erfolgshonorar auch für Anwalt-

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Isabelle Berger / Jacob Henze / Thomas Kohlmeier

deutsche Gesetzgeber im Übrigen nicht allein. So hat der Schweizer Bundesrat dem Parlament im Februar 2020 im Rahmen punktueller Anpassungen der Schweizerischen ZPO vorgeschlagen, eine Informationspflicht in Bezug auf die Möglichkeiten der Prozessfinanzierung einzuführen9. b) Funktionsweise und Bestandteile der Prozessfinanzierung Die klassische Prozessfinanzierung (litigation funding) beruht auf einer Vereinbarung zwischen einer (potenziellen) Prozesspartei und einem Prozessfinanzierer, in der sich der Prozessfinanzierer dazu verpflichtet, seinem Vertragspartner die finanziellen Mittel zur Durchsetzung des streitgegenständlichen Anspruchs zur Verfügung zu stellen. Als Gegenleistung erhält der Prozessfinanzierer im Erfolgsfall einen Anteil des Prozessergebnisses. Der Erfolgsfall setzt den mindestens teilweise positiven Verfahrensausgang sowie die tatsächliche Durchsetzung des Rechtsanspruchs voraus. Der an den Prozessfinanzierer auszukehrende Anteil wird in der Regel als Vielfaches des eingesetzten Risikokapitals berechnet oder besteht in einer quotalen Beteiligung am Ergebnis. Unterliegt der Kläger im Prozess, muss er keine Zahlungen an den Prozessfinanzierer leisten und insbesondere keine von diesem übernommenen Kosten rückvergüten (sog. non-recourse-Abrede). Der Prozessfinanzier verliert also seine Investition im Falle des Prozessverlusts vollständig. Mithin trägt er das gesamte Prozessrisiko. Die Prozessfinanzierung deckt je nach Bedarf der finanzierten Partei sämtliche im Zusammenhang mit dem Verfahren stehenden Kosten oder nur einen Teil dieser Kosten ab. Kontinentaleuropäische Prozessfinanzierer bieten regelmäßig auch die Absicherung des Gegenparteirisikos10 an, und nehmen die entsprechenden Kosten auf Wunsch ihres Vertragspartners ins Finanzierungsbudget auf 11. Ist ein Verfahren schaft in: AnwBl Online v. 20.1.2021, online abrufbar unter https://anwaltsblatt.anwaltver ein.de/de/anwaeltinnen-anwaelte/berufsrecht/erfolgshonorar-legal-tech-inkasso-gesetz. Zur besseren Nachvollziehbarkeit der doch erheblichen Entwicklungen innerhalb dieses Gesetzgebungsverfahrens vgl. auch den zuvor veröffentlichten Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) v. 11.11.2020, online abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/Dokumente/RefE_ Rechtsdienstleister.pdf?__blob=publicationFile&v=1. 9 Der Entwurf zur „Änderung der Zivilprozessordnung (Verbesserung der Praxistauglichkeit und der Rechtsdurchsetzung)“ v. 26.2.2020 sieht einen neuen Art. 400 Abs. 2 ZPOSchweiz vor, der sich mit Prozessfinanzierung befasst. Der Schweizer Bundesrat schlägt in dem Entwurf u.a. vor, dass Rechtssuchende über Möglichkeiten der Prozessfinanzierungen zu informieren sind. Der Entwurf ist im Schweizer Bundesblatt abgedruckt (BBl 2020, 2697, online abrufbar unter https://fedlex.data.admin.ch/filestore/fedlex.data.ad min.ch/eli/fga/2020/653/de/pdf-x/fedlex-data-admin-ch-eli-fga-2020-653-de-pdf-x.pdf). 10 Unter dem Gegenparteirisiko versteht man das Risiko, dass der Kläger die Kosten der Gegenpartei vorzuschießen oder bei (teilweise) negativem Verfahrensausgang ganz oder teilweise zu übernehmen hat. 11 Dies ist historisch gewachsen insbesondere in allen Jurisdiktionen mit „loser pays“-Regelungen wie z.B. § 91 ZPO und Art. 106 ZPO-Schweiz, zumal sich in den Anfangszeiten der Prozessfinanzierung in Deutschland ein Wettbewerb zwischen Rechtsschutzversiche-

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schon weit fortgeschritten, insbesondere in Konstellationen, in denen lediglich noch die Vollstreckung einer bereits ergangenen Entscheidung in Frage steht, kommt bei hohen Erfolgsaussichten auch eine Teil-Monetarisierung in Betracht12. c) Der deutsche und europäische Markt für Prozessfinanzierungen Angebotsseitig sind der deutsche und europäische Markt für Prozessfinanzierungsmodelle gut erschlossen. Es liegen zahlreiche, in einzelne Bereiche ausdifferenzierte Angebote vor. Angelegenheiten mit sehr hohen Streitwerten sind dabei typischerweise die Domäne internationaler Anbieter wie Burford13, Nivalion14 oder Harbour15 sowie vergleichbarer Marktteilnehmer. Für den Bereich mittlerer Streitwerte stehen ebenfalls spezialisierte Anbieter bereit, wie beispielsweise die Legial AG16, die vorwiegend in Deutschland und Österreich in insolvenzrechtlichen Streitigkeiten eine große Marktbedeutung hat. Die gesamte zur Verfügung stehende Kapazität für Prozessfinanzierungslösungen dürfte deutschlandweit im Bereich einer halben Milliarde EUR p.a. liegen17. Auf der Nachfrageseite ist das Interesse am Angebot der Prozessfinanzierung in Deutschland sowie in Kontinentaleuropa insgesamt in den letzten Jahren stetig gewachsen. Es bleibt aber weiterhin eine wichtige Aufgabe der Anbieter von Prozessfinanzierungslösungen, die Marktteilnehmer über das Angebot und die Funktionsweise der Prozessfinanzierung zu informieren, damit das zur Verfügung stehende Instrumentarium in geeigneten Fällen genutzt werden kann.

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rern und Prozessfinanzierern abzuzeichnen schien. In Common-Law-Jurisdiktionen wie z.B. im Vereinigten Königreich war die Übernahme des Gegenkostenrisikos traditionell nicht Gegenstand einer Prozessfinanzierung. Die Rechtsprechung der britischen Gerichte gibt jedoch vor, dass eine negative Kostenentscheidung zu Lasten der finanzierten Partei auch gegenüber dem Prozessfinanzierer vollstreckt werden kann (vgl. im Einzelnen Dymocks Franchise Systems (NSW) Pty Ltd v Todd [2004] UKPC 39, [2004] 1 WLR 2807; Arkin v Borchard Lines Ltd (Nos 2 and 3) [2005] EWCA Civ 655, [2005] 1 WLR 3055 – „Arkin“; Chapelgate Credit Opportunity Master Fund Ltd v Money & Others [2020] EWCA Civ 246, [2020] 1 WLR 1751, [2020] WLR(D) 106). Deshalb ist in den meisten finanzierten Rechtsstreitigkeiten eine ATE-Versicherung Bestandteil der jeweiligen Prozessfinanzierungsverträge. Die Versicherung kann dabei entweder vom Prozessfinanzierer oder dem Kunden beschafft werden. Hier gewährt der Prozessfinanzierer zusätzlich zur Übernahme der Kosten, welche für die erfolgreiche Beendigung des Verfahrens notwendig sind, einen Vorschuss auf den zu vollstreckenden Betrag. Damit werden Mittel zur Verfügung gestellt, die ansonsten erst nach einer erfolgreichen Vollstreckung eingesetzt werden könnten. https://www.burfordcapital.com. https://www.nivalion.com. https://www.harbourlitigationfunding.com. https://www.legial.de. Quelle: Marktrecherche und Schätzung der Verfasser.

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2. ATE-Versicherung a) Funktionsweise Einer ATE-Versicherung liegt eine Vereinbarung zwischen einer Partei eines Rechtsstreits und einem Versicherer zugrunde, in der sich letzterer dazu verpflichtet, bestimmte im Vorhinein definierte Verfahrenskosten zu übernehmen. Die ATE-Versicherung deckt typischerweise die von der finanzierten Partei im Unterliegensfall zu tragenden Gegenparteikosten (adverse costs) ab18. Anders als bei traditionellen Versicherungstypen, die ebenfalls die Kosten rechtlicher Auseinandersetzungen übernehmen (wie z.B. die klassische Rechtsschutzversicherung), wird eine ATE-Versicherung abgeschlossen, nachdem der Rechtsstreit bereits entstanden ist (deshalb auch „after the event“). Die Zahlung der Versicherungsprämie kann entweder ganz oder teilweise vorab, oder aber aufgeschoben (deferred) erfolgen. In der letztgenannten Konstellation ist die Fälligkeit der Pflicht zur Bezahlung der Versicherungsprämie vom Erfolg des Versicherten im Rechtsstreit abhängig. Die Prämie ist mithin nur und erst dann zu zahlen, wenn der Versicherte im Verfahren obsiegt. Die Ausgestaltung als deferred-Prämie ist freilich auch die teuerste Variante der ATE-Versicherung. Wenn der Versicherte einen Anteil der (oder sogar die gesamte) Prämie vorab entrichtet, fällt die Gesamthöhe der Prämie deutlich niedriger aus. Die Verzinsungserwartung des Finanzierers bzw. die Prämienerwartung des Versicherers im Falle einer deferred-Prämie liegen in einem sehr ähnlichen Rahmen; der entscheidende Unterschied, auf den nachfolgend noch einzugehen sein wird, liegt in dieser Variante in der Art und Weise, ob und wann der Vertragspartner Liquidität zugeführt erhält19. b) Der europäische Markt für ATE-Versicherungen Der europäische Markt für ATE-Versicherungen befindet sich insgesamt noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium. In Kontinentaleuropa existiert, soweit ersichtlich, überhaupt kein Angebot20. Im Vereinigten Königreich gibt es dagegen knapp 15 Versicherer, die ATE-Versicherungen für Prozessrisiken anbieten können, allesamt mit Sitz in London21. Allerdings verfügt nur eine Handvoll der Londoner Anbieter über Erfahrung im Bereich der Absicherung von Risiken, die aus Verfahren außerhalb des Vereinigten Königreichs resultieren.

18 Als sehr neuer Trend zeichnet sich ab, dass einzelne Anbieter von ATE-Lösungen nicht nur die Gegenparteikosten, sondern auch die Verfahrenskosten der versicherten Partei selbst (sog. own side costs) ganz oder teilweise mit abdecken. 19 Siehe dazu nachfolgend unter III.2. 20 Nach Kenntnis der Verfasser besteht neben dem Angebot von Nivalion (Kombination einer Prozessfinanzierung durch Nivalion und einer ATE-Versicherung) derzeit keine weitere Option. 21 Diese und die nachfolgenden Informationen beruhen auf eigenen Marktrecherchen der Verfasser, einschließlich Interviews mit Londoner Marktteilnehmern.

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Zur Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung

Der britische ATE-Markt für Prozessrisiken ist damit der derzeit mit Abstand am weitesten entwickelte in ganz Europa. Dies dürfte auch damit zu tun haben, dass englische Solicitors dazu verpflichtet sind, ihre Mandanten über die Möglichkeit einer ATE-Versicherung aufzuklären22 und sich ihnen gegenüber im Unterlassenfall schadensersatzpflichtig machen können. Die Gesamtdeckungskapazität des Londoner Markts wird in Branchenkreisen auf neu abgeschlossene Versicherungen im Wert von 100 Mio. EUR pro Jahr geschätzt. Folglich dürfte auch dieser bisher im europäischen Vergleich mit Abstand am weitesten entwickelte Markt noch erhebliches Wachstums- und Reifepotenzial haben. Die Hauptnachfrage für ATE-Versicherungen kommt bisher dem Vernehmen nach aus dem Lager der Prozessfinanzierer, die sich damit entweder ihrerseits absichern oder ihren Kunden eine ATE-Versicherung als zusätzliche Option neben der Prozessfinanzierung anbieten wollen. Aus Gesprächen mit Anbietern wird also deutlich, dass der ATE-Markt noch nicht volle Fahrt aufgenommen hat. Kontinentaleuropäische Wirtschaftskanzleien und die von ihnen beratenen Unternehmen melden sich bisher kaum bei ATE-Versicherern. Dies dürfte primär auf die derzeit noch weit verbreitete Unkenntnis des Konzepts zurückzuführen sein, mag aber auch mit der nicht nur einfachen Position zusammenhängen, in der sich Rechtsanwälte im Hinblick auf die Beratung zur ATE-Versicherung befinden: Erstens werden ATE-Versicherungen oftmals zu Unrecht nur mit sog. personal injury-Fällen in Verbindung gebracht. Dies ist ein Marktsegment, das von manchen Marktbeobachtern griffig als „the grubby end of the market“ charakterisiert wird, in der Wahrnehmung vieler Berater mithin weit von den luftigen Höhen der Commercial Litigation und Arbitration entfernt ist, in denen sie selbst tätig sind. Zweitens gehen viele beratende Rechtsanwälte davon aus, dass ihre Mandanten grundsätzlich über ausreichendes Kapital verfügen (soweit im Ansatz ja meist auch vollkommen zu Recht), und folgern daraus dann, dass die Mandanten nicht auf eine ATE-Versicherung angewiesen und damit auch nicht an einer diesbezüglichen Beratung interessiert sind. Drittens ist jede Erläuterung zur ATE-Versicherung zugleich auch immer ein impliziter Hinweis auf die latent unbequeme Tatsache, dass der Prozess – selbst bei kompetentester Beratung durch den Rechtsanwalt – verloren werden kann. Viertens braucht es für die Beratung des Klienten bezüglich ATE-Versicherungsoptionen entsprechendes Branchen-Know-how, mindestens aber die Kenntnis vertrauenswürdiger Ansprechpartner. 22 Vgl. Adris & Others v The Royal Bank of Scotland Plc [2010] 4 Costs LR 598, [2010] EWHC 941 (QB). Zudem verlangen Ziff. 8.6 der von der Solicitors Regulation Authority (SRA) im SRA Code of Conduct for Solicitors aufgestellten standesrechtlichen Regeln (abrufbar unter: https://www.sra.org.uk/solicitors/standards-regulations/code-conduct-solici tors/) von Solicitors u.a., dass diese ihre Mandanten in die Lage versetzen, „informierte Entscheidungen über die von ihnen benötigten Dienstleistungen, darüber, wie ihr Fall gehandhabt wird, und über die ihnen zur Verfügung stehenden Optionen“. Diese Pflicht erstreckt sich ausweislich von Ziff. 8.7. des Code of Conduct auch auf die Kosten des Verfahrens, im Verhältnis zwischen Mandant und Solicitor also vor allem die von dem Solicitor in Rechnung gestellten Gebühren. Zur Erfüllung der Pflicht gehört insoweit nach einhelliger Auffassung auch die Beratung zum Thema ATE-Versicherung.

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3. Das Mandanteninteresse Das Interesse an einer möglichst umfassenden Risikosteuerung und -absicherung ist jeder seriösen wirtschaftlichen Tätigkeit immanent. Die Überlegung, dass eine Partei sich nicht für ein Risikotransferinstrument interessiert, wenn bei ihr grundsätzlich ausreichend Kapital vorhanden ist, greift deshalb regelmäßig zu kurz: Auch ein komfortabel mit Liquidität ausgestattetes Unternehmen möchte selbst proaktiv entscheiden, wann und wie es über diese verfügt. Die Erfahrung der Verfasser zeigt, dass Parteien aus dem Corporate-Bereich den Hinweis auf die Möglichkeiten der Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung deshalb nicht als Unterstellung fehlender finanzieller Mittel auffassen. Ebenso wenig begreifen sie die Frage nach dem Wunsch einer Absicherung des Gegenparteirisikos mittels einer ATE-Versicherung als fehlendes Vertrauen in den Fall. Ganz im Gegenteil: Mandanten sind in der Regel über jede Aufklärung zu diesen ihnen in der Regel noch wenig oder überhaupt nicht vertrauten Instrumenten dankbar und rechnen es ihren Beratern hoch an, dass sie insoweit „mitdenken“. Für Rechtsanwälte eröffnet sich damit ein zusätzliches Feld, mit welchem sie ihre Kompetenz demonstrieren und sich von den Wettbewerbern differenzieren können. Dabei dürfen die Erwartungen an den Umfang einer entsprechenden Beratung freilich nicht überspannt werden: Gerade weil insbesondere das Konzept einer ATE-Versicherung in Deutschland noch so neu ist, kommt es aus Sicht des Mandanten entscheidend darauf an, überhaupt Informationen über das Vorhandensein und die grundlegende Wirkungsweise der Versicherung zu erhalten; wenn der oder die Beraterin zusätzlich noch Zugang zu Anbietern oder gar vertrauenswürdigen Ansprechpartnern ermöglichen kann, umso besser.

III. Liquiditätsspritze versus Kostenschutz – oder das Beste zweier Welten? 1. Die Kosten von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung Die Kosten des Risikotransferinstruments Prozessfinanzierung spiegeln für gewöhnlich die Tatsache wider, dass das investierte bzw. bereitgestellte Kapital des Prozessfinanzierers seinerseits dem Risiko eines Totalverlusts unterliegt. Ein Totalverlust tritt immer dann ein, wenn der finanzierte Prozess erfolglos endet oder wenn bei mindestens teilweise erfolgreichem Prozessausgang die nachgelagerte Vollstreckung scheitert. Das hat zur Folge, dass auf Seiten des Finanzierers eine entsprechend hohe Renditeanforderung besteht. Die maßgebenden Parameter für die Berechnung der Erfolgsbeteiligung des Prozessfinanzierers sind vorab die Höhe der zu investierenden Kosten, das voraussichtliche Prozessergebnis, die potenzielle Verfahrensdauer und der Stand des Verfahrens. Je früher im Verfahren eine Finanzierung zugesagt wird und je länger das Verfahren noch dauert, umso teurer wird im Allgemeinen das bereitgestellte Kapital, weil das Risiko vergleichsweise größer ist und die Rendite später vereinnahmt wird. 8

Zur Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung

Die Renditeanforderung entspricht typischerweise der Höhe nach den typischen Verzinsungsanforderungen von Private Equity-Firmen, welche wiederum in der Regel mindestens 20 % IRR23 auf das zur Verfügung gestellte Kapital („Capital Committed“) betragen. Wichtig zu wissen ist dabei, dass es für diese Betrachtung nicht darauf ankommt, wieviel von diesem Kapital auch tatsächlich abgerufen wird. Denn der Prozessfinanzierer muss das zugesagte Budget für alle Eventualitäten bereithalten (sog. „ringfencing“), und kann es deshalb nicht anderweitig investieren. Die Prozessfinanzierung hat somit aus Sicht einer Partei, die sie in Anspruch nehmen möchte, einen im Einzelfall durchaus beträchtlichen Preis. Im Vergleich dazu sind die Kosten für eine ATE-Versicherung mit Prämienzahlung bei Abschluss des Versicherungsvertrages deutlich günstiger. Nach den Erkenntnissen der Verfasser ist dabei derzeit marktweit von einem Netto-Prämiensatz von zwischen 30 und 35 % der Deckungssumme auszugehen. Der Grund hierfür ist, dass die im Rahmen von ATE-Deckungen gezeichneten Risiken in der Regel über Erstversicherer an Rückversicherer zediert werden. Diese können wiederum aufgrund ihrer eigenen enormen Risikotragfähigkeit und Diversifiziertheit die gezeichneten Risiken günstiger einpreisen als dies die von den meisten Prozessfinanzierern benutzten Kapitalmarktvehikel24 könnten. 2. Vorteile einer Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung Nach dem vorstehend Ausgeführten kann es sich für eine Partei, die an einer weitgehenden Risikoabsicherung interessiert ist – die also nicht nur die notwendigen finanziellen Mittel für die Verfahrensführung (Gerichts- und Anwaltskosten, Sachverständigenkosten, Auslagen) auslagern, sondern auch das Gegenparteirisiko abdecken möchte –, anbieten, die Kombination der Prozessfinanzierung in Bezug auf ihre eigenen Kosten mit einer ATE-Versicherung für die Absicherung des Gegenparteirisikos zu prüfen. Denn die Kosten für eine solche Totalabsicherung fallen geringer aus, wenn das Gegenparteirisiko nicht in seiner gesamten Höhe Teil des vom Prozessfinanzierer bereitgestellten Kapitals wird (vgl. dazu das Beispiel im nachfolgenden Abschnitt). Zu berücksichtigen, und im Einzelfall als Entscheidungskriterium wichtig, ist zudem der offensichtliche und entscheidende Unterschied zwischen Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung: Der Prozessfinanzierer stellt vorab und laufend Liquidität zur Finanzierung der Klage zur Verfügung, wohingegen eine ATE-Versicherung einen 23 Der IRR (internal rate of return) einer Investition ist ein Kalkulationszinssatz, bei dessen Verwendung sich ein Kapitalwert von null ergibt, anders gesagt der Abzinsungsfaktor, bei dessen Verwendung die diskontierten künftigen Zahlungen dem heutigen Preis bzw. der Anfangsinvestition entsprechen. Ist dieser Zinsfuß größer als der Kalkulationszinsfuß (sprich: die Rendite ist größer als die Kapitalzinsen plus Risikoaufschlag), ist die Investition über die Gesamtlaufzeit berechnet wirtschaftlich. 24 In aller Regel handelt es sich dabei um sog. Closed-End Funds (auch CEFs, geschlossene Fonds), die typischerweise in steuerlich interessanten Jurisdiktionen aufgesetzt werden; in einigen Ausnahmefällen nehmen Prozessfinanzierer Risiken auch auf die eigene Bilanz.

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Kostenschutz für den Fall des erfolglosen Ausgangs des Rechtsstreits leistet („Cash Flow Assistance“ vs. „Cost Guard“). Auch deshalb kann es sinnvoll sein, beide Instrumente (ATE-Versicherung und Prozessfinanzierung) zusammenzuspannen, um eine optimale Gesamtlösung zu entwickeln. An dieser Stelle soll auch ein möglicher Nachteil der Kombination beider Instrumente erwähnt werden: Die Durchführung von zwei voneinander unabhängigen Fallprüfungen durch den Prozessfinanzierer auf der einen und den Anbieter der ATEVersicherung auf der anderen Seite. Dies erhöht potenziell den Aufwand für die fallführenden Anwälte und die In-house Counsel bei der Beantwortung der Due-Diligence-Fragen und kann auch zeitliche Verzögerungen auf dem Weg zu einer Finanzierungs- bzw. Versicherungsentscheidung mit sich bringen. Im Markt bekannt sind allerdings auch Konzepte, bei denen nur eine einzige Due-Diligence-Prüfung stattfindet, weil sich die Versicherer auf die Due Diligence des Finanzierers stützen, bzw. diese zum Teil ihres eigenen Underwritings machen. Dies beschleunigt und verschlankt den Entscheidungsprozess erheblich. 3. Beispiel aus der Praxis Um das Zusammenwirken beider Risikotransferinstrumente besser zu veranschaulichen, schildern wir nachfolgend ein stark vereinfachtes Beispiel aus unserer eigenen Finanzierungspraxis, welche im Hinblick auf die Abdeckung des Gegenparteirisikos die Zusammenarbeit mit einem weltweit führenden Rückversicherer einschließt. Wir weisen darauf hin, dass in dem sogleich geschilderten Fall der Prozessfinanzierer selbst als Versicherungsnehmer und Prämienschuldner in Erscheinung trat, der Kläger also mit dem Abschluss der Versicherung nichts zu tun hatte. Das Beispiel ist im Ergebnis aber auch für die Fälle zutreffend, in denen klägerseits über zwei unterschiedliche Anbieter Prozessfinanzierung und ATE-Deckung eingekauft werden. Wir gehen von einer Klage über einen Betrag von 100 Mio. EUR aus und setzen ein Budget für die den Kläger beratenden Rechtsanwälte von 5 Mio. EUR ein25. Das Gegenparteirisiko wird auf Wunsch der finanzierten Partei in der gleichen Höhe angesetzt; es erfolgt somit eine Absicherung für den Unterliegensfall im Umfang von 5 Mio. EUR. Wir unterstellen zudem, dass das Verfahren nach 2,5 Jahren durch einen Vergleich beendet wird, in dem sich die Gegenseite zu einer Zahlung von 50 Mio. EUR an den Kläger verpflichtet. Das gemäß Prozessfinanzierungsvertrag bei einer Verfahrensdauer von 2,5 Jahren vereinbarte Vielfache vom bereitgestellten Budget beträgt 2,0. Die linke Spalte der nachfolgenden Tabelle zeigt die Berechnung der Erfolgsbeteiligung an den Prozessfinanzierer sowie des aus dem Prozessergebnis für den Kläger verbleibenden Teil in der Konstellation ohne ATE-Versicherung. Hier nimmt der Pro-

25 In der Praxis werden darüber hinaus regelmäßig Expertenkosten und Gerichtskostenvorschüsse ins Budget übernommen.

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Zur Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung

zessfinanzierer das Gegenparteirisiko in der vollen Höhe von 5 Mio. EUR ins Budget auf. Die rechte Spalte zeigt das Szenario mit ATE-Versicherung. Hier stellt der Prozessfinanzierer nur die von ihm gegenüber dem Versicherer zu entrichtende Versicherungsprämie ins Budget ein. Wenn man ein typisches Wasserfallszenario26 zugrunde legt, fällt der Anteil des Klägers am Prozessergebnis in einer Lösung, die Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung kombiniert, knapp 23 % höher aus als bei einer reinen Prozessfinanzierung27: Absicherung Gegenparteirisiko ohne ATE-Versicherung mEUR

Absicherung Gegenparteirisiko mit ATE-Versicherung mEUR

100

100

Anwaltskosten Kläger

5

5

Abdeckung Gegenparteirisiko

5



ATE-Prämie



1,6

Gesamtrisiko (bereitgestelltes Kapital)

10

6,6

Erlös

50

50

Relevantes Vielfaches des bereitgestellten Kapitals

2,0

2,0

Erfolgshonorar des Prozessfinanzierers

20,0

13,2

Dem Kläger verbleibender Erlös

30,0

36,8

Klagesumme

IV. Fallprüfung des Prozessfinanzierers und Underwriting des ATE Versicherers 1. Inhalt und Dauer der Fallprüfung Bei ihrer Entscheidung darüber, welche Fälle für eine Prozessfinanzierung und/oder eine ATE-Versicherung in Frage kommen, führen sowohl der Finanzierer als auch der

26 Unter einem „Wasserfallszenario“ versteht man die Verteilung des Prozesserlöses unter den involvierten Parteien, einschließlich der Reihenfolge der Auszahlungen. 27 Dieser Prozentsatz erhöht sich mit zunehmender Verfahrensdauer, weil dann auch das vom Prozessfinanzierer verlangte Vielfache vom bereitgestellten Budget ansteigt.

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Versicherer jeweils28 eine Due-Diligence-Prüfung durch, um festzustellen, ob der ihnen unterbreitete Fall ihre Investitionskriterien erfüllt. Die Details dieser Due-Diligence-Prüfung können im Einzelfall von Anbieter zu Anbieter variieren, aber im Allgemeinen befassen sie sich im Rahmen der Prüfung insbesondere mit: – den Erfolgsaussichten der Klage (also der Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Ausgangs des Verfahrens für die finanzierte Partei); – der Aussicht auf einen Vergleichsabschluss; – dem Verhältnis zwischen dem vom Finanzierer zur Verfügung zu stellenden Fallbudget und dem realistischen Prozessergebnis29; – der Spezialisierung und Reputation der von der Prozesspartei mandatierten Rechtsanwälte sowie – der Solvenz der Gegenpartei und den Vollstreckungsaussichten. Die Due-Diligence-Prüfung des Prozessfinanzierers und die Risikoprüfung des Versicherers finden auf der Basis der im Vorfeld eingereichten Klageentwürfe und – soweit vorhanden – Sachverständigengutachten statt. Soweit das Verfahren noch nicht so weit gediehen ist, stützt sich die Due Diligence insbesondere auf Memoranda der fallführenden Anwälte. Oft wird zusätzlich zur internen Prüfung in Bezug auf kritische Punkte ein (vom Finanzierer bzw. Versicherer in Auftrag gegebenes und bezahltes) externes Gutachten eingeholt. Sowohl der Prozessfinanzierer als auch der Versicherer müssen sich eine fundierte Meinung über die Chancen und Risiken des Rechtsstreits bilden. Es ist deshalb unbedingt anzuraten, bei der Strukturierung von Kostentransfers auf den damit verbundenen Zeitbedarf Rücksicht zu nehmen. Eine Zeitdauer von 3 bis 6 Monaten für diesen Prozess sollte – speziell bei Verfahren mit hohen Streitwerten und Budgets – vorsorglich einkalkuliert werden, auch wenn im Einzelfall, insbesondere bei bereits vollständig aufbereiteten Fällen, auch kürzere Durchlaufzeiten möglich sind. 2. Empfehlenswerte Vorgehensweise für Parteien und ihre Rechtsvertreter Die folgenden Aspekte sollten Parteien und ihre Rechtsvertreter berücksichtigen, wenn sie sich mit der Frage einer Verlagerung von Kostenrisiken auseinandersetzen: – Die oben erwähnten Anforderungen an die Fallprüfung können mitunter auch subjektive Komponenten beinhalten, je nach Spezialisierung und/oder individuellem Risikoappetit des Prozessfinanzierers und Versicherers. Deshalb ist es ratsam, eine Marktrecherche durchzuführen.

28 Selbstverständlich werden diese Kriterien auch in den bereits genannten Fällen einer einzigen, einheitlichen Prüfung nur durch den Prozessfinanzierer, auf die sich dann auch der ATE-Versicherer verlässt, angewandt – dann aber eben nur einmal. 29 In der Regel sollte dieses Verhältnis mindestens 1:8 betragen, damit im Erfolgsfall der größte Teil des Prozessgewinns dem finanzierten Kläger verbleibt.

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Zur Kombination von Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung

– Eine solche Marktrecherche sollte auch die Professionalität und finanziellen Kapazitäten des Anbieters mit einschließen. In Bezug auf Prozessfinanzierer sind Anhaltspunkte dafür namentlich die Mitgliedschaft in Selbstregulierungsorganisationen30 und das Vorhandensein einer professionellen Revisionsgesellschaft. – Ein Verständnis der Liquiditätsposition und der Risikotoleranz des Mandanten sollte für den Rechtsanwalt im Zentrum der Diskussion über Produkte zur Absicherung von Verfahrenskosten sein. Beispielsweise haben Mandanten, die über eine hinreichende Kapitaldecke verfügen, zwar oft keine Cashflow-Probleme, möchten aber trotzdem eine ATE-Versicherung in Anspruch nehmen, um das mit einem Prozessverlust einhergehende Risiko abzumindern. – ATE-Versicherungen, Prozessfinanzierung und verschiedene Formen von Honorarvereinbarungen mit den mandatierten Kanzleien schließen sich entgegen einer verbreiteten Fehlvorstellung nicht gegenseitig aus, sondern können vielmehr Wechselwirkungen entfalten, in Abhängigkeit von den Einzelheiten des Falls sowie den Zielen der Kläger. Schon auf der Grundlage weniger Details des Falls sollte ein erfahrener Finanzierer in der Lage sein, zeitnah einen Überblick über die voraussichtlich verfügbaren Produkte zu geben.

V. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich die Prozessfinanzierung als ein innovatives und äußerst dynamisches Teilgebiet des Dispute Management charakterisieren. Sie bietet Rechtssuchenden zahlreiche Möglichkeiten, die mit denen von ihnen geführten Rechtsstreitigkeiten einhergehenden Kostenrisiken im Einzelfall bedürfnisgerecht zu gestalten. Wie dieser Beitrag auch gezeigt hat, steht der Markt in verschiedenen Teilen in den Anfängen einer im Einzelnen noch ungewissen und spannenden weiteren Entwicklung. Aus heutiger Sicht steht aber fest, dass das Zusammenspiel aus Prozessfinanzierung und ATE-Versicherung sehr interessante Möglichkeiten bieten kann, um die mit einer Rechtsstreitigkeit verbundenen finanziellen Risiken abzusichern.

30 Vgl. insbesondere die globale International Legal Finance Association (https://www.ilfa. com/).

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Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten Jörg Böttcher

Inhaltsübersicht I. Energiewirtschaftliche Bedeutung der Photovoltaik 1. Vor- und Nachteile der Nutzung von Photovoltaik 2. Technische Lösungen 3. Planung von PV-Projekten a) Einstrahlungs- und Temperaturdaten b) Systemverluste zwischen PV-Modul und Einspeisepunkt II. Märkte für PV-Installationen III. Spezifische Kennziffern

1. Photovoltaik und der spezifische Energieertrag 2. Photovoltaik und die Entwicklung von Gesamtinvestitionskosten 3. Verhältnis des Vergütungssatzes und der Betriebskostenquote 4. Solarenergie und Stromgestehungskosten 5. Financial Learning im Bereich Photovoltaik – die Sicht der Banken IV. Schlusswort

I. Energiewirtschaftliche Bedeutung der Photovoltaik 1. Vor- und Nachteile der Nutzung von Photovoltaik Die solare Strahlung, die auf die Erde trifft, ist mehr als ausreichend, um den globalen Energiebedarf zu decken. Damit die Photovoltaik auf den Strommärkten etabliert werden konnte, wurde sie in vielen Ländern durch einen Einspeisetarif gesetzlich gefördert. Dies ermöglichte es der Branche, eine Wertschöpfungskette aufzubauen und sich im Energiemarkt zu etablieren. In dem Maße, in dem die Stromgestehungskosten zurückgingen, wurde zunächst die staatliche Förderung sukzessive zurückgefahren und nach und nach die Branche näher an marktliche Bedingungen herangeführt. Ein wesentlicher Vorteil der Nutzung der Photovoltaik ist, dass sie neben der direkten Strahlung auch die diffuse Strahlung für die Stromproduktion verwenden kann. Abbildung 1 zeigt, dass die diffuse Strahlung insbesondere in gemäßigten Klimaregionen eine recht hohe Bedeutung hat.

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Jörg Böttcher

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Mittelwerte der globalen Solar-Strahlung

5 4 3 2 1 0 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun

Jul

Unterschiedliche Einstrahlung

Aug Sep Okt Nov Dez Direkte Bestrahlung

Abbildung 1: Mittelwerte der Globalstrahlung (e.D.)

Die wesentlichen Vorteile der Photovoltaik sind:1 – geringe Komplexität der Technologie, – geringer Wartungsbedarf, – hohe Vorhersagbarkeit der Strahlung, – hohes Maß an Skalierbarkeit. Auf der anderen Seite müssen folgende Nachteile in Kauf genommen werden: – geringer Wirkungsgrad der PV-Zellen, – Verwendung knapper Ressourcen, – energieintensiver Produktionsprozess. Aus Sicht eines Kreditgebers weisen PV-Projekte nur wenige Risiken aus, was sie für Projektfinanzierungen, die auf stabile und vorhersagbare Cashflows angewiesen sind, attraktiv macht. Es gibt weitere Technologien, die im Rahmen der Solarenergie eingesetzt werden können – insbesondere die verschiedenen Formen von solarthermischen Kollektoren und CSP (Concentrated Solar Power).2

1 Siehe zu einer umfänglichen Darstellung der Einzelrisiken von Projektfinanzierungen A. Reuter/C. Wecker, Projektfinanzierung: Anwendungsmöglichkeiten, Risikomanagement, Vertragsgestaltung, bilanzielle Behandlung, 1999, S. 49 ff. 2 Siehe hierzu A. Wiese, Technology of Solar Thermal Projects: Current Status and Developments, in Jörg Böttcher (ed.): Green Banking – Realizing Renewable Energy Projects, 2020, p. 715–750.

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Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

2. Technische Lösungen Der photoelektrische Effekt wurde im Jahr 1887 von Heinrich Hertz und Wilhelm Hallwachs entdeckt. Dieser Effekt entsteht, wenn Licht auf ein Material fällt und Elektronen – sogenannte Photoelektronen – emittiert werden und kann in PV-Zellen zur Stromerzeugung genutzt werden. PV-Zellen bestehen aus einem gitterförmigen Halbleitermaterial; in den meisten Fällen aus solarem Silizium. Strahlung, die in dieses Material eindringt, kann Elektronen aus der Struktur herauslösen. Um die freien Elektronen in eine Richtung zu lenken, die einen elektrischen Strom erzeugt, muss ein elektrisches Feld vorhanden sein. Dies setzt voraus, dass das Halbleitermaterial der Solarzellen bei ihrer Herstellung gezielt verunreinigt wird. Innerhalb einer Halbleiterstruktur aus Silizium-Zellen wird ein kleiner Teil der Silizium-Atome auf der Oberseite durch Arsen-Atome und auf der Unterseite durch Indium-Atome ausgetauscht. Die Oberseite ist dann der n-Typ-Halbleiter, die Unterseite der p-Typ-Halbleiter. Auf der Vorderseite und auf der Rückseite befinden sich metallische Leiter, die den Strom sammeln. Während die hintere Elektrode die gesamte Zelle abdeckt, muss der Halbleiter auf der Vorderseite den Eintritt von Licht in den Halbleiter ermöglichen. Die folgende Abbildung 2 zeigt den schematischen Aufbau einer Silizium-Zelle.

Abbildung 2: Kristalline Silizium-Solarzellen (Quelle: SOLPEG AG)

Das Betriebsverhalten einer Solarzelle wird durch ihre Strom-Spannungs-Kennlinie (I-U-Kennlinie) beschrieben. U ist die Spannung und I ist der Nennstrom, gemessen in Ampere. Zwei Punkte dieser Kennlinie beschreiben den Fall des Kurzschlusses (U = 0, I = Isc) und den Leerlauf-Fall (U = UOC). Die Ausgangsleistung P ist das Produkt aus Spannung und Nennstrom (P = I * U). Die Eigenschaften von PV-Zellen hängen von der spektralen Verteilung und der Intensität der Sonneneinstrahlung ab. Während die Spannung nur wenig mit der Intensität der Einstrahlung variiert, hat die Einstrahlung einen hohen Einfluss auf den Kurzschlussstrom. Die Leistung P einer PV-Zelle steigt mit der Einstrahlung linear an. Um die Spannung zu erhöhen, müssen mehrere PV-Zellen zu einem PV-String in Reihe geschaltet werden. Die kombinierte Spannung von n PV-Zellen in Reihe ist: UTotal = U1 + U2 + … + UN Da alle kombinierten PV-Zellen den gleichen Strom I aufweisen, ist die kombinierte Spannung ausfallgefährdet. Die Reduzierung der Leistung einer Zelle reduziert die 17

Jörg Böttcher

Leistung des gesamten PV-Strings entsprechend. Und bei einem Totalausfall auch nur einer PV-Zelle liefert der gesamte String keinen Strom. Das bedeutet, dass es nicht ratsam ist, alle PV-Zellen in einer Reihenschaltung zu kombinieren, sondern mehrere PV-Strings parallel zu schalten. Eine Parallelschaltung von PV-Modulen führt zu einer einheitlichen Spannung U für alle Module, wobei der Gesamtstrom ITotal und die Gesamtleistung die Summe der Einzelwerte ist: ITotal = I1 + I2 + IN sowie PTotal = P1 + P2 + PN Eine Parallelschaltung liefert auch dann Strom, wenn ein ganzer PV-Strang ausgefallen ist. Die Maximalleistung von PV-Anlagen [kWp] bezieht sich auf Standard-Testbedingungen (STC): Einstrahlung von 1000 W/m2, Luftmasse AM von 1,5 und eine Zelltemperatur von 25 C. Im typischen Betriebsmodus weisen Solarzellen eine höhere Temperatur auf, was zu einem geringeren Wirkungsgrad führt. Dies ist besonders in den Sommermonaten der Fall. PV-Simulationsprogramme berücksichtigen in der Regel diesen Effekt sowie die fortschreitende Degradation der PV-Zellen. Solarzellen gibt es in verschiedenen technischen Konzepten. Die gängigsten sind: – Polykristalline Module mit Wirkungsgraden zwischen 13 und 15 %, – monokristalline Module mit Wirkungsgraden zwischen 14 und 20 %, – Dünnschichtmodule mit Wirkungsgraden zwischen 5 und 9 %. PV-Anlagen erzeugen Gleichstrom. Um den Gleichstrom in Wechselstrom umzuwandeln und damit den Strom nutzbar zu machen, werden Wechselrichter benötigt. Für die Einspeisung in das öffentliche europäische Netz wird eine Spannung von 230 Volt und eine Frequenz von 50 Hertz benötigt. Es stehen drei Wechselrichtertypen zur Verfügung: – Solar-Mikro-Wechselrichter: Diese Mikro-Wechselrichter werden für Solarmodule mit einer Leistung von bis zu 1,4 kWp angeboten. Ein Trenntransformator ist eine Sicherheitsmaßnahme. – String-Wechselrichter sind mehrere PV-Module, die in Reihe geschaltet sind. Sie liefern hohe Spannungen und haben einige Probleme bei Teilverschattung. – Zentralwechselrichter sind kostengünstige Wechselrichter mit einem hohen Wirkungsgrad. Ihr Hauptnachteil ist, dass ein Ausfall innerhalb eines Strings zu einem Ausfall des gesamten Systems führt. Der Prozess der Umwandlung von Gleichstrom in Wechselstrom führt zu Verlusten von 3 % bis zu 7 %. In den meisten Ländern müssen neue PV-Anlagen durch den Netzbetreiber vollständig ferngesteuert werden können.

18

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

3. Planung von PV-Projekten Typischerweise werden PV-Projekte über EDV-Programme geplant. Die zu erwartende jährliche Globalstrahlung spielt eine wichtige Rolle. Es gibt viele Experten, die in der Lage sind, den jährlichen Energieertrag mit hoher Sicherheit zu berechnen. a) Einstrahlungs- und Temperaturdaten Für die Bewertung der Einstrahlungsdatenquellen werden von Experten häufig folgende Kriterien herangezogen: In einem ersten Schritt stehen verschiedene Datenquellen zur Verfügung: Tabelle 1: Meteorologische Datenquellen (e.D.) Artikel

Solar-GIS

PVGIS

Satel-Leuchte (SL)

Abgedeckte Region

Europa, Afrika, Asien, Brasilien, Westaustralien

Europa, Afrika, Teile von Südwestasien

Europa

Satelliten

Abhängig von der Region (Satellitendatenabdeckung)

Abhängig von der Region (Satellitendatenabdeckung)

Basierend auf dem meterologischen Satelliten METEOSAT

Zeitliche Abdeckung

1994–2019

Monatliche Globalstrahlungsdaten

1996–2017

Raumauflösung

Meteosat, , 3 km

Europa: 566 Stationen, ca. 5 × 7 km2 Interpolation: 1 × 1 km2

Zeitauflösung

Stündlich

Langfristige monatliche Durchschnittswerte

30-Minuten-Intervalle

PVGIS (Photovoltaic Geographical Information System) ist ein Forschungs-, Demonstrations- und politikunterstützendes Instrument für Solarenergie-Ressourcen, das Teil der SOLAREC-Aktion der JRC-Einheit für erneuerbare Energien der Europäischen Gemeinschaften (Ispra) ist. PVGIS bietet eine große und genaue Datenbank zur freien Sonneneinstrahlung für Europa, Afrika, das Mittelmeerbecken und Südwestasien. Sie wird als Werkzeug zur Abschätzung der Solarstromproduktion von Photovoltaik (PV)-Systemen verwendet. PVGIS liefert die jährliche Ausgangsleistung von Photovoltaik-Anlagen. Der Modellalgorithmus schätzt die strahlenden, diffusen und reflektierten Komponenten der Globalstrahlung bei klarem Himmel und am realen Himmel auf horizontalen oder geneigten Flächen. Satel-light ist das Ergebnis eines europäischen Projektteams, das Daten der geostationären METEOSAT-Satelliten verwendet hat und detaillierte BestrahlungsstärkeZeitreihen in Halbstundenwerten für fünf komplette Jahre (1996 bis 2000) und für jedes Pixel von etwa 5 × 7 km2 in Europa liefert. Diese Daten werden aufbereitet, 19

Jörg Böttcher

was eine komplexe Behandlung mehrerer Satellitenfotografien in verschiedenen Wellenlängen beinhaltet. SolarGis ist ein Industriestandard und eine anerkannte Quelle für historische, aktuelle und prognostizierte Solardaten. Es bietet Solardaten, die aus Meteosat MSG- und MFG-Satellitendaten und aus atmosphärischen Daten nach der SolarGis-Methode berechnet werden. Die Datensätze beinhalten stündliche Zeitreihen für GHI, DHI, Lufttemperatur und Windgeschwindigkeit. Moderne Sonneneinstrahlungsmodelle wie Solargis nutzen moderne Eingangsdaten (Satellit und Atmosphäre), die systematisch qualitätskontrolliert und validiert werden. Modelle und Eingabedaten sind integriert und regional angepasst, um unter verschiedensten geografischen Bedingungen zuverlässig zu funktionieren. Heute gilt SolarGis als eine der zuverlässigsten Quellen für die Modellierung von Einstrahlungsdaten. Die folgende Abbildung 3 zeigt verschiedenen Einstrahlungsquellen für einen typischen Standort in Deutschland:

Bewertung von Einstrahlungsquellen 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 JAN

FEB

MAR

APR

MAI

JUN PVGist

JUL

AUG

SEP

OCT

NOV

DEZ

SolarGis

Abbildung 3: Vergleich zwischen den vorgewählten Einstrahlungsquellen (e.D.)

b) Systemverluste zwischen PV-Modul und Einspeisepunkt Typischerweise macht ein Solarexperte einen Besuch vor Ort und analysiert die folgenden Punkte:

20

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten Tabelle 2: Ergebnis einer Standortbegehung (e.D.) Auswertung der Beschattungssituation Natürliche Hindernisse

Es wurden keine natürlichen Hindernisse innerhalb des bebaubaren Bereichs identifiziert. Das Gelände muss noch eingezäunt werden.

Neigungen und Schräglagen am Boden

Das Gelände ist überwiegend flach. Nach den bei der Geländebeurteilung erfassten Werten hat das Gelände eine durchschnittliche Höhe von 300 m. Die von Zwängen (HVTL, öffentliche Straßen und Versorgungsflächen) betroffene Fläche innerhalb des bebaubaren Bereichs beträgt etwa 16.000 m2.

Horizont-Analyse

Die einschränkende Wirkung auf die Strahlung durch die Horizontabschattung ist marginal.

Nahabschattung

Der PV-Standort befindet sich direkt neben der Autobahn. Innerhalb des Projektgeländes befinden sich zwei Hochspannungsleitungsmasten. Diese hohen Elemente (durchschnittliche Höhe: ca. 36 m) werden das ganze Jahr über einen Schatten auf die Module werfen.

Topografische Vermessung Oberflächenbegrenzungen

Typischerweise werden hier die Begrenzungskoordinaten angegeben. Wegpunkte werden markiert, um Höhe, Neigung und Lage der Begrenzungslinien, Versorgungsbereiche und natürliche Begrenzungen zu bewerten.

Natürliche Wasserableitung/Bäche

Die klimatischen Eigenschaften der Region führen zu ganzjährigem Niederschlag, kühlen Sommern und kühlen Wintern.

Bodenvorbereitung für die Ausführungsphase

Während der Aufbauphase ist die Nutzung angrenzender Flächen für logistische Zwecke und Zwischenlagerung (nicht) erlaubt.

Endgültige Netto-PVFläche als Ergebnis der oben genannten Punkte

Anhand der GPS-Koordinaten vor Ort und der Einschränkungen durch rechtliche, öffentliche und versorgungstechnische Belange ergibt sich eine bebaubare Nettofläche von 100.000 m2.

Risiken Wasserabflussrinnen

Es sollten Wasserableitungstunnel gebaut werden, um Schäden an der PV-Anlage zu vermeiden. Die Erosion der Pfeiler der Montagekonstruktion könnte ein Problem darstellen.

Zusätzliche PV-Fläche

Es wird keine zusätzliche Fläche für die Anlage benötigt. Die integrale Bauweise wird temporäre Lagerflächen für Aktivitäten während der Bauphase beinhalten.

21

Jörg Böttcher Baumstümpfe

Die Vegetation eines jeden Projektes ist ein wesentlicher Aspekt. Es soll sichergestellt werden, dass die damit verbundenen Auswirkungen der Projektentwicklung minimiert werden, um zu gewährleisten, dass die unmittelbare und nahe Umgebung nicht gefährdet wird. Eine Sozial- und Umweltverträglichkeitsprüfung wurde entsprechend durchgeführt.

Bewertung der sozialen Auswirkungen

Dieser Aspekt bezieht sich auf die Akzeptanz des Projekts durch die Nachbarschaft oder die Gastgemeinden. Es sollte eine umfassende Konsultation der Interessengruppen durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass alle interessierten Parteien die Möglichkeit haben, sich in den Projektplanungsprozess einzubringen.

Verschmutzung

Je nach den Bedingungen vor Ort kann die Reinigung mit Frischwasser eine teure Lösung für Verschmutzungsprobleme sein. Genaue Verschmutzungsmessungen werden empfohlen, um optimale Reinigungsverfahren zu beurteilen (falls erforderlich).

Neben der Globalstrahlung vor Ort spielen die horizontale und vertikale Neigung der PV-Module eine wichtige Rolle. In der Regel ist deren Neigung konstant. PV-Nachführsysteme gibt es jedoch in vielen Formen. Unsere Erfahrung ist, dass der Vorteil einer Ertragssteigerung von bis zu 30 % (2-Achsen) regelmäßig durch die höheren Investitions- und Betriebskosten voll aufgezehrt wird. Es scheint offensichtlich, dass die Verschattung eine wichtige Rolle bei der Beurteilung des Solarfeldes und auch der Veränderungen, die in den nächsten 20 Jahren auftreten könnten oder werden, spielt. Daher ist eine Ortsbegehung des Solarexperten sehr zu empfehlen. Dachflächen sind in vielen Rechtsordnungen eine besondere Anlagenklasse, die mehrere Vorteile aufweisen, wie z.B. Platzersparnis und direkte Nutzung in Kundennähe. Folgende Aspekte sind jedoch zu beachten: – Statik und die Substanz des Gebäudes, – Feuerschutz, – Versicherungsfragen, – rechtliche Fragen, wenn der Eigentümer des Gebäudes und der Eigentümer der Aufdachanlage unterschiedliche Personen sind, – eine Dachsanierung muss so geplant werden, dass die Kosten für die Demontage und den Neuaufbau minimiert werden.

22

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

Diese Hinweise sind nur Anhaltspunkte. Im folgenden Abschnitt sehen wir, welche Entwicklung die PV-Märkte weltweit genommen haben.

II. Märkte für PV-Installationen Die nutzbare Sonnenenergie hängt ab von Faktoren wie der geographischen Lage, der jeweiligen Jahreszeit, dem Wolkenaufkommen und der Luftverschmutzung. Entscheidend ist aber, dass Regionen, die näher am Äquator liegen, eine wesentlich höhere Globalstrahlung aufweisen (Angaben in kWh/m2, Tabelle 3): Tabelle 3: Beispiele von unterschiedlichen Globalstrahlungsdaten (e.D.)

Nutzbare Strahlung

Niederlande

Bayern (Deutschland)

Italien (Mitte)

Aquitanien (Frankreich)

SüdÄgypten spanien

963

1050

1387

1430

1834

2400

Seit 2004 ist die installierte PV-Kapazität weltweit erheblich gestiegen. Bis in die Mitte der 2000er Jahre waren die globalen Kapazitäten wesentlich in Deutschland und Spanien konzentriert. Aufgrund seiner Vorteile und dem Wunsch, nationale EE-Ziele zu erfüllen, folgten viele Länder, wobei insbesondere der Aufstieg der Photovoltaik in China auffällig ist (siehe Abbildung 4): 80.000

Installierte PV-Kapazität in MW

70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Deutschland

Spanien

Frankreich

China

USA

Australien

Belgien

Abbildung 4: Entwicklung der installierten PV-Kapazität (e.D.)

Das dynamische Wachstum des PV-Marktes ist beeindruckend: Während Deutschland und Spanien den Markt bis etwa 2010 dominierten, holten zunächst die USA und danach China deutlich auf. China ist heute das Land mit der größten PV-Erzeu-

23

Jörg Böttcher

gung weltweit.3 Eine ganz wesentliche Rolle bei der marktlichen Durchdringung der Photovoltaik spielte dabei das jeweilige Förderregime4. Zu Beginn der 2000-er Jahre war das Wachstum des PV-Marktes ganz wesentlich durch gesetzlich garantierte Fördertarife getrieben, wie Abbildung 5 zeigt. Abgebildet ist die Entwicklung der deutschen Fördertarife ab dem Jahr 2003: Die Förderung von Freiflächenanlagen startete mit einem Vergütungssatz von 45,7 Cent/kWh. Das war Anreiz genug, dass insbesondere in den neuen Ländern und Bayern Multi-MW-Parks ans Netz gingen.

Vergütungssatz in Cent/kWh (Deutschland, Freiflächenanlagen) 50 40 30 20 10 0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Abbildung 5: Entwicklung des Vergütungssatzes für Freiflächenanlagen in Deutschland (e.D.)

Die ersten PV-Projekte wurden in 2003 errichtet und zunehmend größere Vorhaben folgten in den Folgejahren.5 In einem Zeitraum von 12 Jahren wurden die staatlichen Vergütungssätze sukzessive auf 8,7 Cent/kWh reduziert und dann durch ein Ausschreibungsverfahren abgelöst.6

3 Die installierte Leistung in China betrug Ende 2017 131,1 GW. 4 Siehe hierzu insbesondere A. Reuter, Die Förderung erneuerbarer Energien und die Regeln der EU zu Beihilfen und zur Freiheit des Warenverkehrs, in Jörg Böttcher (Hrsg.), Rechtliche Rahmenbedingungen für EE-Projekte, 2015, S. 125–139. 5 Eine Reihe von speziellen FIT waren für verschiedene Arten von Installationen und Größen verfügbar. Wir beziehen uns auf Freiflächen-PV-Projekte mit einer Leistung von typischerweise mehr als 10 MW. 6 Zu einer umfassenden Darstellung der Historie der Förderung der erneuerbaren Energien siehe C. Torwegge/T. Goldner, The Legal Framework of Promoting Renewable Energies: A Cross-National Study, in Jörg Böttcher (ed.), Green Banking – Realizing Renewable Energy Projects, 2020, S. 105–175.

24

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

III. Spezifische Kennziffern 1. Photovoltaik und der spezifische Energieertrag Besonders interessant ist die Entwicklung des spezifischen Jahresenergieertrages – definiert als Verhältnis aus Jahresenergieertrag und der installierten Leistung. Dieses Verhältnis wollen wir verwenden, um den technologischen Fortschritt – gemessen an einer Verbesserung des Wirkungsgrades – zu messen. Grundlage der Datenerhebung sind knapp 50 PV-Projekte in Europa, die als Projektfinanzierung realisiert worden sind (Tabelle 4).7 Tabelle 4: Spezifischer Energieertrag verschiedener PV-Projekte (e.D.) 2003

2004

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2014

2015

2016

2017

1. Spezifischer Energieertrag (GWh/MW)

0,950

1,395

1,100

2,055

2,067

1,917

1,946

0,957

1,218

1,732

1,358

1,423

2. Spezifischer Energieertrag / Nutzbare Strahlung

0,905

1,127

0,998

1,001

1,181

1,045

1,014

0,964

0,966

1,000

0,979

0,995

2,300 2,100

Spezifischer Jahresenergieertrag

1,900 1,700 1,500 1,300 1,100 0,900 0,700 2003

2004

2007

2008

2009

2010

2011

1. SEY: Spezifischer Jahresenergieertrag (GWh/MW)

2012

2014

2015

2016

2017

2. SEY/Nutzbare Strahlung

Abbildung 6: Spezifischer Jahresenergieertrag von Freiflächenanlagen (e.D.)

7 Wir haben Projekte mit einem Nachführsystem ausgeschlossen, um einen Vergleich mit stationären Freiflächen-Projekten zu ermöglichen. Unserer Erfahrung nach erhöht ein Nachführsystem effektiv die Leistung: Ein Zwei-Wege-Tracking kann zu einer Steigerung von bis zu 40 % führen, während ein Single-Tracking-System zu einer Steigerung von bis zu 20 % führen kann. Allerdings haben die bisherigen PV-Projekte, die wir gesehen haben, den Kapitalgebern keine bessere Wirtschaftlichkeit geboten, da die Gesamtinvestitionskosten entsprechend höher waren.

25

Jörg Böttcher

Der obere Graph von Abbildung 6 zeigt, wie viel Energie an einem bestimmten Standort mit einem MW an installierter Kapazität erzeugt werden kann. Dieser Wert zeigt nach 2006 einen wesentlichen Anstieg auf über 2, der darauf zurückzuführen ist, dass Vorhaben ganz überwiegend in Spanien – mit einer wesentlich höheren Einstrahlung – realisiert wurden. Diese Quote spiegelt also auch die standortspezifischen Einstrahlungswerte wider, so dass wir diese im nächsten Schritt – das ist der untere Graph – bereinigt haben. Im Ergebnis liegt diese Quote während der gesamten Betrachtungsdauer praktisch konstant bei 1,0. Das bedeutet, dass die Effizienz der Anlagen sich praktisch nicht verändert hat. Ganz stimmt das nicht: Es hat technischen Fortschritt gegeben, der typischerweise dazu verwandt wurde, ein gewisses Maß an Verschattung in Kauf zu nehmen, um Flächenkosten zu sparen. Dies ist ökonomisch sinnvoll, da die Modulpreise ganz wesentlich gefallen sind, während die Pachtkosten eher leicht gestiegen sind. Technische Verbesserungen gab es insbesondere beim Temperaturkoeffizienten, allerdings keinen Fortschritt beim Schwachlichtverhalten. 2. Photovoltaik und die Entwicklung von Gesamtinvestitionskosten Ein weiteres spannendes Phänomen ist die Entwicklung der Gesamtinvestitionskosten in der Betrachtungsperiode. Um die verschiedenen Projekte vergleichbar zu machen, haben wir sie auf eine hypothetische Kapazität von 20 MW angepasst. Die grundlegenden Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle 5 dargestellt:8 Tabelle 5: Entwicklung der Gesamtinvestitionskosten (e.D.) G

G

E

E

I

I

F

G

F

F

G

G

2003

2004

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2017

1. Energieausbeute in GWh

19,008

21,994

41,103

38,913

34,633

27,150

28,454

19,132

30,537

24,353

19,940

20,125

2. Nutzbare PV-Strahlung

1050

1102

2054

1918

1731

1387

1430,3

992

1570

1260

964

988

3. Tarif in Cent/kWh

43,4

45,7

44,04

44,04

43,28

42

32,98

22,07

11,4

10,51

8,73

6,35

4. Gesamtinvestitionskosten in Ma

86,835

97,908

182,356

163,436

123,810

100,000

71,983

43,477

32,918

25,699

20,500

22,645

5. OPEXKontingent

12,29 %

14,39 %

17,72 %

11,97 %

11,12 %

19,25 %

11,94 %

15,25 %

21,79 %

21,57 %

13,61 %

26,80 %

8 Jetzt sind Projekte aus verschiedenen Ländern enthalten: G (Deutschland), E (Spanien), I (Italien) und F (Frankreich).

26

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten G

G

E

E

I

I

F

G

F

F

G

G

2003

2004

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2017

6. Gesamtinvestitionskosten/ Tarif/Installierte Kapazität („Spezifische Investitionskosten“)

0,905

0,998

1,001

1,014

1,000

0,979

0,995

0,964

0,973

0,966

1,034

1,018

7. Spezifische Investitionskosten/Einstrahlung

0,953

0,972

1,008

0,967

0,826

0,858

0,763

0,993

0,920

0,970

1,218

1,805

Insbesondere die Relation „Spezifische Investitionskosten“ (Zeile 6) und „Spezifische Investitionskosten/Einstrahlung“ (Zeile 7) geben einen interessanten Einblick in die Mechanik des PV-Marktes. Die grundlegenden Ergebnisse sind in der folgenden Abbildung 7 dargestellt: 1,400

50

Vergütungssatz und spezifische Kosten

1,200 40 1,000 30

0,800 0,600 0,400

20 2. Gesamtinvestitionskosten / Vergütungssatz / Kapazität 3. Ergebnis von 2 / nutzbare Solarstrahlung

0,200

10

1. Vergütungssatz in Cent/kWh

0,000

0 2003

2004

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2017

Abbildung 7: Entwicklung der Tarife und spezifischen Kosten (e.D.)

Obwohl nun mehrere europäische Länder einbezogen sind, ist die Gesamtentwicklung der Tarife recht ähnlich: Bis zum Jahr 2010 haben wir Einspeisetarife oberhalb von 40 Cent/kWh gesehen, die allmählich auf einen Wert von unter 10 Cent/kWh im Jahr 2017 reduziert wurden. Dies entspricht im Wesentlichen der Entwicklung, die wir bereits in Abbildung 5 dargestellt haben.

27

Jörg Böttcher

Interessant ist die Entwicklung der Relation zwischen den Gesamtinvestitionskosten und dem anwendbaren Tarif (SIQ): Die Quote ist in obiger Abbildung 7 (Nr. 2) dargestellt. Die Abbildung zeigt deutlich, dass die Entwicklung der Gesamtinvestitionskosten eine lineare Funktion des anwendbaren Tarifs gewesen ist. Das bedeutet, dass eine Senkung des Tarifs um 10 % zu einem Rückgang der Gesamtinvestitionskosten um ebenfalls 10 % geführt hat. Dieses Verhältnis erklärt auch, warum PV-Projekte bis etwa 2010 nur in wenigen Ländern realisiert wurden: Mit der Einführung des „Regimen Special“ in Spanien im Jahr 2004 waren die spanischen Investoren in der Lage, für die gleiche Leistung fast das Doppelte im Vergleich zu Deutschland zu zahlen: Die Tarife waren recht ähnlich – 43,4 Cent/kWh in Deutschland im Vergleich zu 44,04 Cent/kWh in Spanien –, aber der Wert der nutzbaren Einstrahlung ist sehr unterschiedlich: etwa 1.000 kWh/m2 in Deutschland im Vergleich zu 1.900 kWh/m2 in Spanien. Es überrascht nicht, dass auch die Gesamtinvestitionskosten in Spanien etwa 90 % höher waren als in Deutschland. Das regulatorische System bot damit den Entwicklern und Modulproduzenten einen starken Anreiz, in Spanien zu investieren. Entsprechend viele Solarprojekte wurden in rascher Folge in Spanien realisiert. Der spanische Staat sah sich schließlich veranlasst, auch für Anlagen, die bereits in Betrieb waren, Förderkürzungen zu verfügen, die zu erheblichen Erlöseinbußen und Ratingverschlechterungen der Projekte führten.9 Eine weitere Erkenntnis lässt sich aus der Relation „SIQ/PV-Einstrahlung“ (Abbildung 7) ableiten: Hier ist zu erkennen, dass die Kennzahl nach dem Jahr 2008 leicht sinkt, bevor sie nach vier Jahren wieder auf das alte Niveau zurückkehrt. Meine Vermutung für diese Entwicklung ist, dass im Zuge der Finanzkrise die Banken bei langfristigen Projektfinanzierungen zurückhaltender waren, so dass die Finanzierung eine bessere Relation zwischen Investitionskosten und Tarif aufweisen musste, was zu einer höheren Robustheit führte. Diese Anforderung war mit der sukzessiven Erholung des Finanzmarktes nicht mehr gegeben. Die Erhöhung dieser Quote im Jahr 2015 resultiert aus einigen deutschen Projekten: Zu diesem Zeitpunkt wussten die Marktteilnehmer, dass es in Deutschland zu einer Änderung der regulatorischen Rahmenbedingungen kommen würde. Doch die Auswirkungen auf den Markt und die Nebenbedingungen waren noch unbekannt. Daher akzeptierten die Kreditgeber – gemessen an der Quote der Gesamtinvestitionskosten und des Tarifs – ungünstigere Konditionen, da sie sich mit dieser Assetklasse noch wohlfühlten.

9 Siehe hierzu A. Reuter, Externe Schocks – Rechtliche Grenzen von rückwirkenden Maßnahmen am Beispiel von Erneuerbare-Energie-Projekten, in Jörg Böttcher und Anja Wiebusch (Hrsg.), Krise und Sanierung von Projektfinanzierungen, 2017, S. 58 ff.

28

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

3. Verhältnis des Vergütungssatzes und der Betriebskostenquote Die Entwicklung der Betriebskosten-Quote (OPEX/Einkommen) zeigt eine höhere Volatilität als die Entwicklung der Quote „Gesamtinvestitionskosten/Tarif“ (siehe Abbildung 8). Dennoch ist der Einfluss der Tarifentwicklung auf die Opex-Quote erkennbar: Im Betrachtungszeitraum hat eine Tarifsenkung um ein Prozent zu einem Rückgang der Betriebskosten von 0,8 Prozent geführt. Bei der Stichprobe der Projekte – alle mit einer installierten Leistung von mehr als 5 MW – wurde die Opex-Quote nicht durch die Größe der Projekte beeinflusst. 30,00%

Vergütungssatz und Betriebskostenquote

25,00%

50 45 40 35

20,00%

30 25

15,00%

20 10,00%

15 10

5,00%

5 0

0,00% 2003 2004 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2017 2019 2020 Betriebskostenquote

Vergütungssatz in Cent/kWh

Abbildung 8: Tarifentwicklung und Opex-Quote (e.D.)

4. Solarenergie und Stromgestehungskosten Die Stromgestehungskosten (Levelized Costs of Energy, LCOE) sind der Nettobarwert der Stromkosten über die Lebensdauer einer Erzeugungsanlage. Sie beinhalten eine Reihe von Kosten über die Lebensdauer – insbesondere die Anfangsinvestition und alle Betriebskosten als Zähler und die gesamte Stromproduktion der Anlage als Nenner. Alle diese Werte werden barwertig berechnet, so dass auch die Kapitalkosten berücksichtigt werden. Die LCOE werden oft als Ersatz für den durchschnittlichen Preis genommen, den die Erzeugungsanlage auf einem Markt erzielen muss, um über ihre Lebensdauer kostendeckend zu arbeiten. Für eine Berechnung dieser Kosten ist sie auch geeignet und angemessen, solange sie auch die Integrationskosten und die Systemkosten der betrachteten Energie berücksichtigt.

29

Jörg Böttcher

Die Entwicklung der Stromgestehungskosten in dieser Stichprobe zeigt in Abbildung 9 folgenden Verlauf (Kosten sind in Cent/kWh angegeben): 0,4500 0,4000 0,3500 0,3000

LCOE Solar

0,2500 0,2000 0,1500 0,1000 0,0500 0,0000 2003 2004 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2017 2019 2020

Abbildung 9: Stromgestehungskosten bei PV-Projekten (e.D.)

Aus den Projektverträgen der verschiedenen Projektfinanzierungen geht hervor, dass die Stromgestehungskosten bei PV-Projekten insgesamt deutlich gesunken sind.10 Dies spiegelt hauptsächlich den Rückgang der Gesamtinvestitionskosten und der Betriebskosten wider, der – wie oben erwähnt – direkt mit der allgemeinen Senkung der Vergütung zusammenhängt. Die Stichprobe der letzten fünf Jahre besteht aus Projekten in Deutschland und den Niederlanden, was bedeutet, dass die Kosten für PV-Freiflächenprojekte in diesen Ländern nahe bei 7,5 Cent/kWh liegen und weiter sinken. In 2021 werden aktuell Stromgestehungskosten von unter 4 Cent/kWh erreicht. Der Rückgang der Gesamtinvestitionskosten hat zu einem weiteren Trend bei der Finanzierung von PV-Projekten geführt: Während anfangs nur größere Banken bereit waren, größere PV-Projekte zu finanzieren, haben der Rückgang der Gesamtinvestitionskosten und die positiven Erfahrungen mit den bestehenden PV-Projekten dazu geführt, dass auch kleinere Banken PV-Projekte finanzierten. Da gleichzeitig die spezifischen Investitionskosten – also die Quote GIK/MW – deutlich gesunken ist, musste auch der Umfang der Due-Diligence-Prüfung reduziert werden, damit die Kosten finanzierbar blieben. Da eine vollständige Due-Diligence-Prüfung immer ei-

10 Der Spitzenwert im Jahr 2010 resultiert aus einigen italienischen Projekten, die eine OpexQuote aufweisen, die 50 % höher war als bei vergleichbaren europäischen Projekten. Der Haupttreiber der operativen Kosten waren hier die lokalen und nationalen Steuern.

30

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

ne Voraussetzung für den Finanzierungsprozess der größeren Banken war, waren einige dieser Banken nicht mehr in der Lage, PV-Projekte zu finanzieren, sofern sie diese Leistung nicht selbst anbieten konnten. In der folgenden Abbildung 10 haben wir den Vergütungssatz dem LCOE-Wert gegenübergestellt: 50

Vergleich Vergütungssatz und LCOE

40 30

Tarif

LCOE

20 10 0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019

Abbildung 10: Vergleich des LCOE Solar und des anwendbaren Tarifs (e.D.)

Seit 2012 zeigt die Entwicklung von LCOE Solar und der geltende Tarif ein hohes Maß an Übereinstimmung, sowohl in Bezug auf die Entwicklung als auch auf den absoluten Betrag. Dies legt nahe, dass – zumindest seit 2012 – ein WACC von 4 % ein realistischer Diskontierungssatz zu sein scheint. Der Onshore-Windmarkt in Deutschland stellt sich wie folgt dar: Der Vergütungssatz war – bis auf eine Ausnahme in 2015 – immer größer als die Stromgestehungskosten, wobei sich der Abstand zwischen beiden Werten ab etwa 2012 deutlich verringert hat. Die Stromgestehungskosten selbst haben sich in einer Bandbreite von etwa 6 bis 8,5 Cent/kWh bewegt (siehe Abbildung 11).11

11 Das deutsche EEG 2017 weist in dieser Hinsicht zwei wichtige Merkmale auf: Zum einen wurde das Förderregime von einem Einspeisetarifsystem auf ein Ausschreibungsverfahren umgestellt, was zu einer leichten Senkung der Investitions- und Betriebskosten geführt hat. Der Effekt ist schwer zu quantifizieren, da die Kosten aufgrund von Vorzieheffekten vorher deutlich gestiegen sind. Setzt man den Durchschnitt der letzten fünf Jahre an, ergibt sich eine Absenkung von ca. 10 %, in einzelnen Bereichen der Betriebskosten sind auch höhere Senkungen möglich. Zusätzlich wurde für Onshore-Windprojekte ein Cashflow-stabilisierender Mechanismus durch eine Anpassung der projektspezifischen Vergütung alle fünf Jahre eingeführt. Dies bedeutet, dass sowohl der Wettbewerb als auch das Bewusstsein über mehr oder weniger stabile Einnahmen die Anforderungen an den WACC reduziert haben.

31

Jörg Böttcher 12

LCOE Wind und Vergütungssatz

10 8 6 4 2 0

LCOE Wind

Vergütungssatz

Abbildung 11: Stromgestehungskosten für PV- und Onshore-Windprojekte (e.D.)

In der Abbildung 12 haben wir die Entwicklung der Stromgestehungskosten des PV-Marktes mit den Zahlen des Onshore-Windmarktes in Deutschland verglichen. Während die LCOE-Werte für die PV-Märkte deutlich auf ein aktuelles Niveau von 7,5 Cent/kWh gesunken sind, sind die LCOE-Werte für Onshore-Windprojekte über 18 Jahre – wenn auch unter Schwankungen – auf einem Niveau von Ø 6,9 Cent/kWh geblieben. Das bedeutet, dass Onshore-Windenergie und Photovoltaik inzwischen einen Kipppunkt erreicht haben, da ihre Stromgestehungskosten bereits nahe oder unter denen von konventioneller Energie liegen.

32

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

45

LCOE (PV und Onshore Wind)

40 35

LCOE PV

LCOE Wind

30 25 20 15 10 5 0

Abbildung 12: Entwicklung der LCOE für PV- und Onshore-Wind-Projekte (e.D.)

Während sich die Gesamtinvestitionskosten für Onshore-Windenergie in einem Bereich von 1,2 Mt/MW und 2,0 Mt/MW bewegen, ist dieses Verhältnis bei PV-Projekten von 9,0 Mt/MW in den Boomjahren in Spanien auf unter0,7 Mt/MW in den letzten Jahren deutlich gesunken. Auch diese Entwicklung wird durch die Entwicklung des geltenden Tarifs ausgelöst. Dabei hat die Höhe der angenommenen WACC einen deutlichen Einfluss auf die LCOE, wie in der folgenden Abbildung 13 zu sehen ist:

LCOE für Onshore-Wind auf Basis unterschiedlicher WACC

8,50 8,00 7,50

7,87

6,96

7,00 6,50

6,13

6,00 5,50

5,39

5,00 4,50 4,00 0

2

4

6

Abbildung 13: LCOE für Onshore-Wind (e.D.)

33

Jörg Böttcher

Die Abbildung 13 zeigt die Stromgestehungskosten (Cent/kWh) für Onshore-Windprojekte mit unterschiedlichen WACC-Werten. Bei einem erwarteten WACC von 6 % p.a. ergibt sich z.B. ein LCOE von 7,87 Cent/kWh. Das bedeutet, dass eine Regulierungsbehörde darauf achten muss, dass die aktuelle Höhe der WACC angemessen im Tarif berücksichtigt wird, um Investitionen in dieser Anlagenklasse zu ermöglichen. Wenn ein WACC von 4 % als adäquater Proxy für die WACC funktionieren sollte, sollte ein typischer Onshore-Windpark in Deutschland im Jahr 2021 eine Vergütung von mindestens 6,96 Cent/kWh erhalten. 5. Financial Learning im Bereich Photovoltaik – die Sicht der Banken Nachdem die LCOE-Entwicklung auch etwas darüber ausgesagt hat, welche Renditeerwartungen die Investoren mit einem Engagement in ein PV-Projekt realisieren konnten, fehlt noch die Sicht der Banken als Fremdkapitalgeber. Zu diesem Zweck wollen wir uns ansehen, wie sich bestimmte Kernparameter einer Finanzierungsstruktur, nämlich die Höhe der Belastbarkeit, die Laufzeit des Projektfinanzierungsdarlehens und die Marge entwickelt haben. Zum Teil werden diese Parameter im Forschungsfeld „Financial Learning“ mit untersucht. Wieder haben wir das angesprochene Set an Projektfinanzierungen herangezogen, wobei wir die jeweiligen Werte auf den Durchschnittswert aller Werte beziehen. Damit sind die Daten entsprechend anonymisiert, lassen aber gleichwohl die gewünschten Rückschlüsse zu. Für den Bereich Photovoltaik stellen sich die relevanten Kennziffern wie in Abbildung 14 dar: 180,00%

Kennziffern des PV-Marktes 160,00% 140,00% 120,00% 100,00% 80,00% 60,00%

Marge

Laufzeit

Abbildung 14: Kennziffern des PV-Marktes (e.D.)

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Belastbarkeit

Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

Bei der Marge lässt sich ein leichtes Absinken in den ersten acht Jahren erkennen, wobei das absolute Ausmaß der maximalen Veränderung bei etwa 20 bps liegt. Der Anstieg im Jahr 2013 ist darauf zurückzuführen, dass erstmalig auch PV-Projekte in Frankreich finanziert wurden, die eine etwas höhere Marge zuließen. Mit dem zunehmend enger werdenden Angebot von zu finanzierenden Projekten und einer zunehmenden Anzahl von interessierten Banken sanken die Margen abermals ab. Insgesamt sind die Veränderungen aber in einer Spannbreite von etwa 40 bps, wenn man den einmaligen Ausreißer in 2013 außen vor lässt. Die Laufzeit der Projektfinanzierungsdarlehen zeigt von Anfang an eine hohe Konstanz. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die typischen Vergütungssysteme in ihrer Struktur nur unwesentlich verändert wurden und zumeist einen einheitlichen Zeitraum von 20 Jahren umfassten. Da die Erfahrungen mit den Projekten offensichtlich den Erwartungen entsprachen, bestand hier kein Grund für die Banken, Anpassungen vorzunehmen. Die Belastbarkeit – verstanden als maximal möglicher Rückgang der Energieproduktion unter Einhaltung der Schuldendienstfähigkeit – weist recht hohe Schwankungen auf. Diese sind in den Fällen entstanden, in denen erstmalig ein neuer Markt betreten wurde und es offensichtlich für die Banken möglich war, höhere Belastbarkeiten durchzusetzen. Dieser Effekt verschwand relativ schnell, vermutlich, weil der zunehmende Wettbewerb zwischen den Banken dies nicht zuließ. Insgesamt sind die Veränderungen hinsichtlich der drei untersuchten Parameter allerdings gering – im Prinzip sind die heutigen Finanzierungsstrukturen mit denen vor 17 Jahren gut vergleichbar. Schauen wir uns dieselben Parameter im Bereich Onshore-Wind an, so ergeben sich folgende Ergebnisse (Abbildung 15):

Kennziffern des Onshore-Marktes 190,00% 170,00% 150,00% 130,00% 110,00% 90,00% 70,00% 50,00%

Marge

Laufzeit

Belastbarkeit

Abbildung 15: Kennziffern des Onshore-Windmarktes (e.D.)

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Jörg Böttcher

Bei der Marge lässt sich ein schnelles Einstellen auf den langfristigen Durchschnittswert erkennen, gefolgt von einem Ausreißer nach oben und einem deutlichen Absinken in den letzten drei Jahren. Der Ausreißer in 2015 bildet ein Windvorhaben in Schweden ab – hier ergibt sich durch die deutlich höhere Volatilität der Cashflows auch eine höhere Margenanforderung. Das Absinken in den letzten drei Jahren ist darauf zurückzuführen, dass hier ausschließlich EEG 2017-Projekte enthalten sind, bei denen der Gesetzgeber eine alle fünf Jahre stattfindende Vergütungsanpassung vorsieht, die im Ergebnis aber zu einer wesentlichen Stabilisierung der gesamten Cashflows des Vorhabens führt.12 Insofern ist das Ausfallrisiko eines EEG 2017-Projektes auch deutlich geringer, so dass sich die niedrigere Risikomarge erklärt. Der Anstieg im Jahr 2013 ist darauf zurückzuführen, dass erstmalig auch PV-Projekte in Frankreich finanziert wurden, die eine etwas höhere Marge zuließen. Mit dem zunehmend enger werdenden Angebot von zu finanzierenden Projekten und einer zunehmenden Anzahl von interessierten Banken sanken die Margen abermals ab. Insgesamt liegen die Veränderungen in einer Spannbreite von etwa 40 bps, wenn man den einmaligen Ausreißer in 2013 außen vor lässt. Bei der Laufzeit lässt sich – im Unterschied zum PV-Markt – ein durchgängiger Trend zu längeren Laufzeiten erkennen. Dies gilt insbesondere für den deutschen Markt, der bei Einführung des EEG durchschnittliche maximale Laufzeiten von etwa 13 Jahren zeigte und mittlerweile bei etwa 20 Jahren angekommen ist. Es gibt meines Erachtens zwei Ursachen für diese Entwicklung: zunächst steckt hier in der Tat ein Erkenntnisprozess der Banken, die feststellten, dass im Regelfall die Technik einer Windenergieanlage eine technische Lebensdauer von 20 Jahren und mehr aufweist. Der zweite Treiber, der insbesondere für den Anstieg in den letzten drei Jahren verantwortlich ist, ist das Regulierungsumfeld: Mit zunehmender Verlässlichkeit der Cashflows, wie sie sich durch das EEG 2017 ergibt, ist auch eine Verlängerung der Laufzeit möglich. Die Belastbarkeit ist relativ konstant, ohne dass sich große Ausreißer erkennen lassen. Nicht erkennbar an dieser Kennziffer sind allerdings die zunehmende Erfahrung der Kreditgeber, die im Regelfall verbesserten Messergebnisse und wiederum der Einfluss des Regulierungsumfeldes. Insgesamt sind die Veränderungen hinsichtlich der beiden Parameter Marge und Belastbarkeit gering, während zunehmend längere Finanzierungslaufzeiten breit akzeptiert wurden. Fasst man die Erkenntnisse aus dem PV- und Onshore-Wind-Markt zusammen, so ergibt sich praktisch kein Bezug zur Veränderung der Stromgestehungskosten. Diese waren für die Banken auch nie ein Thema, sondern sie hat im Prinzip nur interessiert, ob ein Vorhaben genug Cashflow generieren kann, um den Kapitaldienst zu bedienen.

12 J. Böttcher/P. Nagel, Onshore-Projekte im EEG 2017 – Konsequenzen auf Projektebene, in Jörg Böttcher (Hrsg.), Handbuch Windenergie, 2. Aufl. 2019, S. 402 ff.

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Die energiewirtschaftliche Bedeutung der Solarenergie und ihre Stromgestehungskosten

IV. Schlusswort Insbesondere der dynamische Rückgang der Stromgestehungskosten der Photovoltaik hat gezeigt, dass die anfänglich großzügigen Förderregime insbesondere in Deutschland und Spanien erhebliche Einkommenschancen bei Entwicklern und Modulproduzenten zuließen. Die Analyse zeigt auch, dass es nicht die Kapitalgeber waren, die Überrenditen bzw. besonders hohe Deckungsrelationen mit ihren Projekten erzielen konnten. Um zu beurteilen, ob die hohen Fördersätze auch notwendig waren, um Skalenerträge zu organisieren, die den Reifeprozess der PV-Branche ermöglichten, müsste man die Jahresabschlüsse der betreffenden Unternehmen im Nachhinein analysieren. Positiv bleibt festzuhalten, dass sowohl Onshore-Windenergie als auch Photovoltaik mittlerweile so niedrige Stromgestehungskosten aufweisen, dass sie günstiger geworden sind als alle konventionellen Energieträger und damit auch zukünftig einen ganz zentralen Pfeiler der Energiewende darstellen werden. Die Diskussion um die Erneuerbaren Energien war lange Zeit auf die jeweiligen Erzeugungsklassen fokussiert. Dies war auch gerechtfertigt, da die verschiedenen Erneuerbaren Energien Zeit brauchten, sich technisch zu bewähren und eine stabile Wertschöpfungskette zu etablieren. Mit dem zunehmenden Anteil von fluktuierender Energie an unserem Strom-Mix, der letztlich Ergebnis der gesunkenen Stromgestehungskosten ist, stellt sich die Frage nach einer neuen Balance des Energieversorgungssystems: Dies erfordert meines Erachtens drei Maßnahmenkomplexe: Zunächst müssen die technischen Voraussetzungen für eine Speicherung von fluktuierender Energie geschaffen werden. Hier scheint aus heutiger Sicht die Erzeugung von grünem Wasserstoff der vielversprechendste Weg und insbesondere in der EU sind bereits viele Projekte in der Umsetzung. Weiter ist es zentral, dass sich die Regulierer klar werden, dass es eines Anreizmechanismus für die Speicherung von Erneuerbaren Energien bedarf, damit die technischen Lösungen auch tatsächlich umgesetzt werden können. Und schließlich wird es auch darum gehen, dass Strom- und Wärmeerzeugung dezentral gefördert werden, um das gesamte Energiesystem in seiner anstehenden Transformation weder zu überfordern noch zu sehr angebotszentriert auszurichten.

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Verbandssanktionen, Insolvenz und Sanierung Michael Bremen

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. 1. 2. 3. 4.

Hauptteil Der Weg zum VerSanG-E Zweck des VerSanG-E Die Verbandstat Der Status Quo der Sanktionsmöglichkeiten 5. Abgrenzung OWiG zum VerSanG-E 6. Verbandssanktion im Insolvenzverfahren a) Insolvenzforderung – nachrangige Insolvenzforderung b) Einordnung einer Verbandssanktion als nachrangige Insolvenzforderung

c) Verbandstat nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens d) Rechtspolitische Stringenz e) Absehen von der Verfolgung bei Insolvenz (§ 39 VerSanG-E) f) Sanktionsloser Zeitraum g) Signifikante Erschwerung von Sanierungen 7. Verbandssanktionen und das Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG III. Fazit

I. Einleitung Alexander Reuter hat sich pointiert zum Vorhaben eines Verbandsanktionsgesetzes geäußert.1 Eine Bebußung des Gesellschaftsvermögens bezwecke dessen Verringerung und stelle daher nichts anderes als einen bewussten und gewollten Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Position von Anteilseignern dar. Da diese aber kaum (GmbH) oder keinen (AG) Einfluss auf die Führung des Verbandes haben, wirke eine Unternehmensbuße weder repressiv noch präventiv und sei folglich ungeeignet und damit verfassungswidrig, jedenfalls soweit sie über eine Abschöpfung zutreffend berechneter Gewinne aufgrund des sanktionierten Verhaltens hinausgehe und damit das Gesellschaftsvermögen zulasten ihrer Eigner vermindere. Soweit ersichtlich, hat er sich mit seinem Vortrag am 26.8.2020 bei dem Institut für Insolvenz- und Sanierungsrecht und der Düsseldorfer Vereinigung für Insolvenz- und Sanierungsrecht e.V. der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Erster zu Schnittstellen zwischen Verbandssanktionen und Insolvenzrecht geäußert. Hieran knüpft der vorliegende Beitrag an.

1 Reuter, Unternehmensbußen – Ein verfassungsrechtlicher Holzweg, ZIP 2018, 2298; Reuter, EU Corporate Fines Hit the Wrong and Fail their Purpose: Empirical Considerations and their Consequences from the Perspective of Shareholders’ Fundamental Rights, EUROPEAN CRIMINAL LAW REVIEW 2020, 395.

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Michael Bremen

II. Hauptteil 1. Der Weg zum VerSanG-E Nicht erst Fälle wie der Dieselskandal, Cum-ex oder jüngst Wirecard, haben Rufe nach einem Unternehmensstrafrecht befeuert. Auf den damalige NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) ging bereits in 2013 die erste Gesetzesinitiative, ein Gesetzentwurf des Landes NRW zurück.2 Im selben Jahr wurden die Sanktionen für Unternehmen nach §§ 30, 130 OWiG verschärft.3 Bußgelder waren danach von bis zu 10 Mio. Euro möglich. 2016 legte das Deutsche Institut für Compliance e.V. einen Gesetzgebungsvorschlag zur Schaffung von Anreizen für Compliance Maßnahmen in Betrieben und Unternehmen vor.4 Darauf folgten der sog. „Köller Entwurf“ der Forschungsgruppe Verbandsstrafrecht5 (2017) und die Frankfurter Thesen zur Unternehmensverantwortung für Unternehmenskriminalität (2018).6 Ein zunächst nur der Presse zugänglich gemachter Referentenentwurf des BMJV vom 15.8.2019 wurde unbeschadet zwischenzeitlich geäußerter Kritik am 20.4.2020 veröffentlicht und Ländern und Verbänden zur Anhörung zugeleitet. Am 16.6.2020 folgte dann der RegE für ein VerSanG7 (VerSanG-E). Zum Ende der laufenden Legislaturperiode erscheint es nicht ausgeschlossen, dass das nach wie vor hoch umstrittene Gesetzesvorhaben8 der parlamentarischen Diskontinuität unterfällt; ob es nach der Bundestagswahl wieder aufgegriffen wird, ist daher nicht abzusehen. 2. Zweck des VerSanG-E Mit dem VerSanG-E verfolgt die Bundesregierung gem. § 1 VerSanG-E eine „Sanktionierung von Verbänden, deren Zweck auf einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb 2 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden, abrufbar unter https://www.strafrecht.de/media/files/ docs/Gesetzentwurf.pdf. 3 Achtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkung, abrufbar unter https://www.buzer.de/gesetz/10725/a182053.htm. 4 Compliance-Anreiz-Gesetz, abrufbar unter https://www.dico-ev.de/wp-content/uploads/ 2016/10/CompAG_21_07_2014.pdf. 5 Köllner, NZI 2018, 311. 6 https://www.semanticscholar.org/paper/Unternehmensverantwortung-f%C3 %BCr-%22 Frankfurter-Thesen%22-Jahn-Schmitt-Leonardy/8592229ff230f7e2351c00a61219cd 7fc1755b03. 7 Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, RegE v. 16.6.2020. 8 Stellungnahme des Rechts- sowie der Wirtschaftsausschuss des Bundesrates (BR-Drucks. 440/1/20); kleine Anfrage der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag vom 4.2.2021 (BTDrucks. 19/26453); Stellungnahme des Deutschen Richterbundes Nr. 7/20, abrufbar unter https://www.drb.de/fileadmin/DRB/pdf/Stellungnahmen/2020/DRB_200612_Stn_Nr_7_Ver SanG-E.pdf; Stellungnahme Nr. 33 der BRAK, abrufbar unter https://www.brak.de/zurrechtspolitik/stellungnahmen-pdf/stellungnahmen-deutschland/2020/juli/stellungnahmeder-brak-2020-33.pdf; s. auch Veröffentlichungen aller Stellungnahmen unter: https:// www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Staerkung_Integritaet_Wirtschaft. html.

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Verbandssanktionen, Insolvenz und Sanierung

gerichtet ist, wegen Straftaten, durch die Pflichten, die den Verband treffen, verletzt worden sind oder durch die der Verband bereichert worden ist oder werden sollte“.9 Verbände sind gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 a) VerSanG-E juristische Personen des öffentlichen und des privaten Rechts, nicht rechtsfähige Vereine und rechtsfähige Personengesellschaften. Mithin sollen Verbände durch Geldstrafen sanktioniert werden, sofern eine Verbandstat verwirklicht wurde. 3. Die Verbandstat Verbandstat gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3 VerSanG-E ist „eine Straftat, durch die Pflichten, die den Verband treffen, verletzt worden sind oder durch die der Verband bereichert worden ist oder werden sollte“. Verbandsverantwortlich sind Leitungspersonen eines Verbandes (§ 3 Abs. 1 Nr. 1) oder Dritte in Wahrnehmung der Angelegenheiten des Verbandes (§ 3 Abs. 1 Nr. 2), die eine Straftat begangen haben, durch welche entweder Pflichten, die den Verband treffen, verletzt worden sind oder durch die der Verband bereichert worden ist oder werden sollte (§ 2 Abs. 3 VerSanG-E). Dabei kann jede Straftat gemeint sein, sofern das Kriterium der Verbandsbereicherung oder der Verletzung von Pflichten erfüllt ist. Neben Vermögens- oder Steuerdelikten kommen daher auch mit Strafe bedrohte Menschenrechtsverletzungen wie Menschenhandel zum Zweck der Ausbeute der Arbeitskräfte (§ 233 StGB), Umweltdelikte (§§ 324 ff. StGB) und Straftaten gegen den Wettbewerb (§§ 298, 299 Abs. 2, 299b StGB) in Betracht.10 Die Verbandsstraftat muss tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft begangen worden sein, ohne dass aber der konkrete Täter feststehen muss – die Feststellung der Begehung einer Verbandstat reicht aus.11 Jede verbandsbezogene Pflichtverletzung einer Leitungsperson wird gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3, 1. Alt. VerSanG-E dem Verband zugerechnet.12 § 2 Abs. 2 Nr. 3, 2. Alt. VerSanG-E verlangt eine Bereicherung oder Bereicherungsversuch. Der Begriff der Bereicherung deckt sich mit dem Begriff des Vermögensvorteils im Sinne des § 263 StGB. Somit stellt jede günstigere Gestaltung der Vermögenslage oder jede Erhöhung des Vermögenswertes einen Vermögensvorteil dar.13 4. Der Status Quo der Sanktionsmöglichkeiten Verbände können bereits nach bestehendem Recht wegen einer Pflichtverletzung sanktioniert werden. Ausgangspunkt ist der aus §§ 76 Abs. 1, 93 Abs. 1 Satz 1 AktG bzw. § 43 Abs. 1 GmbHG entwickelte Pflichtenkanon14 einschl. Auswahl-, Organisations-, Instruktion-, Überwachungs- und Sanktionspflichten. Deren Art und Umfang 9 10 11 12 13 14

Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, RegE v. 16.6.2020, S. 7. Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, RegE v. 16.6.2020, S. 75, Nr. 3. Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, RegE v. 16.6.2020, S. 75, Nr. 3. Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, RegE v. 16.6.2020, S. 75, Nr. 3. Schönke/Schröder/Perron, 30. Aufl. 2019, § 263 StGB Rz. 167. Nicht Gesetz geworden sind die in den ursprünglichen §§ 2, 3 des RegE des Gesetzes über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG, Gesetzesfassung v. 22.12.2020, BGBl. I S. 3256 ff.) noch vorgesehenen haftungsbewehrten Pflich-

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orientiert sich an Art, Größe und Organisation des Betriebs und dessen Überwachungsmöglichkeit. Das Unternehmen muss so organisiert und beaufsichtig werden, dass keine Gesetzesverletzungen stattfinden können (sog. Legalitätspflicht).15 Hat ein Unternehmensinhaber oder die von diesem mit der Leitung betrauten Personen oder ihre Organmitglieder im Sinne des § 9 Abs. 1, 2 OWiG eine Aufsichtspflicht verletzt oder eine Straftat im Sinne der §§ 30 Abs. 1, 130 Abs. 1 OWiG begannen, kann das Unternehmen mit einer Geldbuße belegt werden, bei Vorsatz mit einer Geldbuße gem. § 30 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 OWiG von bis zu 10 Mio. Euro. 5. Abgrenzung OWiG zum VerSanG-E § 9 Abs. 2 Nr. 1 VerSanG-E sieht einen über 10 Mio. Euro hinausgehenden Sanktionsrahmen von bis zu 10 Prozent des durchschnittlichen Jahresumsatzes vor und damit eine Bebußung, die bereits alleine oder zusammen mit weiteren Belastungen (Sanktionen aus anderen Ländern, Schadensersatzforderungen Geschädigter) existenzbedrohend sein kann. Vor allem aber führt § 3 Abs. 1 VerSanG-E mit dem Legalitätsprinzip eine Verfolgungspflicht der Behörden ein im Gegensatz zum Opportunitätsprinzip (§ 47 Abs. 1 OWiG) des Ordnungswidrigkeitenrechts. Der Verdacht einer Verbandstat erfordert zwingend die Strafverfolgung (und Sanktionierung). 6. Verbandssanktion im Insolvenzverfahren Tritt der Staat als Verbandssanktionsgläubiger der Schicksals- und Verlustgemeinschaft der übrigen Gläubiger im Insolvenzverfahren bei, schmälert die Verbandsaktion zwangsläufig die verteilungsfähige Insolvenzmasse zu Lasten der übrigen Gläubiger. Der Umfang der Schmälerung hängt entscheidend von der insolvenzrechtlichen Qualifikation der Verbandssanktion als Masseverbindlichkeit (§ 55 InsO), Insolvenz(§ 38 InsO) oder nachrangigen Insolvenzforderung (§ 39 InsO) ab. Geldstrafen, Geldbußen, Ordnungsgelder und Zwangsgelder sowie solche Nebenforderungen einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit sind gem. § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO nachrangige Insolvenzforderungen; die Gläubiger sollen aufgrund einer gegen den Schuldner verhängten Geldstrafe etc. nicht „mitbestraft“ werden.16 Der Entwurf sieht eine Erweiterung dieses Katalogs auf „Verbandssanktionen und Haftungsbeträge nach dem VerSanG“ vor.17 a) Insolvenzforderung – nachrangige Insolvenzforderung Einfache Insolvenzforderungen sind zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bestehende begründete Vermögensansprüche gegenüber dem Insolvenzschuldner. Anders als zu § 38 InsO enthält das Gesetz keine allgemeine Definition nachrangiger Insolten von Organen zur Wahrung der Gesamtinteressen der Gläubiger bei drohender Zahlungsunfähigkeit. 15 LG München I v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, BeckRS 2014, 1998 – Neubürger. 16 BVerfG v. 24.8.2006 – 2 BvR 1552/06, NJW 2006, 3626, 3627. 17 Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, RegE v. 16.6.2020, S. 36.

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Verbandssanktionen, Insolvenz und Sanierung

venzforderungen, sondern führt in § 39 Abs. 1 InsO nur enumerativ bestimmte Forderungen auf, die im „Rang nach den übrigen Forderungen der Insolvenzgläubiger … berichtigt“ werden. Infolge der Einbeziehung des Neuvermögens in die Insolvenzmasse (§ 35 InsO) sollte damit eine – wenn in vielen Fällen auch nur theoretische – Chance zur Teilhabe von Forderungen am Insolvenzverfahren geschaffen werden, welche unter Geltung der KO gar nicht bestand.18 Nachrangige Insolvenzforderungen werden erst nach vollständiger Befriedigung der einfachen Insolvenzgläubiger berücksichtigt.19 Sie können daher erst auf besondere Aufforderung zur Tabelle angemeldet werden (§ 174 Abs. 3 InsO). b) Einordnung einer Verbandssanktion als nachrangige Insolvenzforderung Man könnte annehmen, mit der Einordnung einer Verbandssanktion wie einer Geldstrafe etc. als nachrangige Insolvenzforderungen nach § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO sei ihre insolvenzrechtliche Qualifikation geklärt. Allerdings handelt es sich bei allen in § 39 Abs. 1 Nr. 1–5 InsO genannten Forderungen um Insolvenzforderungen, also zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bestehende begründete Vermögensansprüche gegenüber dem Insolvenzschuldner, denen § 39 Abs. 1 InsO (lediglich) einen Nachrang beilegt. Damit ist näher zu untersuchen, wann eine Geldstrafe etc. und künftig eine Verbandssanktion ergangen sein muss, damit sie in den Rang von § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO fällt. Muss zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung die Sanktion bereits festgesetzt sein oder reicht die Verwirklichung des Tatbestandes, an welche das Gesetz die Sanktion anknüpft? Soweit ersichtlich, findet sich lediglich ein vereinzelter Hinweis darauf, dass die Geldsanktion im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits (rechts- bzw. bestandskräftig) festgesetzt sein muss, andernfalls sie nicht nachrangig i.S.d. § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO sei.20 Die Sanktion einer vollendeten Verbandstat könnte folglich vom Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO in den Rang des § 38 InsO aufsteigen, wenn die Sanktion zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung noch nicht festgesetzt war, sondern erst nach diesem Zeitpunkt festgesetzt wurde. Die Dauer des Verfahrens, an dessen Ende die Festsetzung einer Geldstrafe oder -buße oder (künftig) einer Verbandssanktion steht, würde folglich über den insolvenzrechtlichen Rang dieser Forderung und damit auch die Frage der Schmälerung der Insolvenzmasse zulasten der anderen Insolvenzgläubiger i.S.v. § 38 InsO entscheiden. Käme es aber auf den Zeitpunkt der Festsetzung einer Geldstrafe oder -buße bis zum oder nach dem Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung für die Qualifikation ihres insolvenzrechtlichen Ranges an, stellte sich sogleich die Frage, warum es sich dann nicht um eine Masseforderung handelt, erfolgt die Festsetzung erst nach Insolvenzeröffnung; ist nämlich die Festsetzung der Geldstrafe oder -buße Bestandteil des Tatbestandes, auf dessen Verwirklichung es für die Frage ihres insolvenzrechtlichen Ranges ankommt, könnte ihre Festsetzung nach Verfahrenseröffnung eine Verbindlichkeit auslösen, die in anderer Weise durch die 18 MüKo InsO/Ehricke/Behme, 4. Aufl. 2019, § 39 InsO Rz. 3. 19 K. Schmidt InsO/Karsten Schmidt/Herchen, 19. Aufl. 2016, § 39 InsO Rz. 1. 20 BeckOK InsO/Prosteder/Dachner, 21. Ed. 15.10.2020, § 39 InsO Rz. 27-33.

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Verwaltung, Verwertung und Verteilung der Insolvenzmasse begründet wurde (§ 55 Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt. InsO). Die Abgrenzung von Insolvenz- und Masseforderungen hängt davon ab, ob der Tatbestand, der den Anspruch entstehen lässt, vor (dann Insolvenzforderungen) oder nach (dann Masseforderungen) der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht und abgeschlossen wurde. Die Qualifikation als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO erfordert, dass der Vermögensanspruch zum Zeitpunkt der Eröffnung bereits begründet war; der Rechtsgrund der Entstehung der Forderung muss zu diesem Zeitpunkt bereits gelegt, also der anspruchsbegründende Tatbestand bereits vor Verfahrenseröffnung in dem Sinne abgeschlossen sein21, dass das Schuldverhältnis vor Insolvenzeröffnung bereits bestanden hat, ohne dass es auf die Fälligkeit der Forderung oder das Erfordernis, dass es noch der Erbringung einer Gegenleistung bedarf, ankommt.22 Der Zeitpunkt der Begründung des Schuldverhältnisses entscheidet folglich über die insolvenzrechtliche Qualifikation der Forderungen von Gläubigern als Insolvenzoder Masseforderungen. Geldstrafen, -bußen und künftig Verbandssanktionen unterscheiden sich grundlegend von derartigen Forderungen, die ihren Rechtsgrund in einem Schuldverhältnis haben. Sie weisen zwar ein wirtschaftliches Substrat aus, haben aber, soweit es um ihre Begründung geht, grundsätzlich keinen Bezug zum Vermögen des Schuldners. Sie zeichnen sich durch einen pönalen Charakter aus, der den Schuldner in persona treffen soll, dessen Verhalten die Pönale ausgelöst hat. Der pönale Charakter ist der rechtspolitische Grund für den in § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO geregelten Nachrang. Geldstrafen, -bußen und demzufolge künftig Verbandssanktionen sind Zahlungsansprüche des Fiskus, die dieser außerhalb eines gesetzlichen oder vertraglichen Schuldverhältnisses erlangt hat. Anders als die Gläubiger hat der Fiskus insoweit eine Vermögensschmälerung aufgrund eigener bereits erbrachter oder noch zu erbringender Leistung nicht zu befürchten. Der staatliche Strafanspruch knüpft alleine an das durch das Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrecht pönalisierte Verhalten des Schuldners an. Es kann daher für den Nachrang einer Geldstrafe etc. und künftig einer Verbandssanktion nicht auf den Zeitpunkt ihrer Festsetzung vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, sondern nur auf die Verwirklichung des die Pönale auslösenden Tatbestandes vor Verfahrenseröffnung ankommen. Das rein fiskalische Interesse an der Realisierung von Geldstrafen, -bußen und künftige Verbandssanktionen hat daher Nachrang gegenüber den Forderungen der durch die Insolvenz des Schuldners bereits geschädigten Gläubiger, die ohnehin nur noch eine Aussicht auf quotalen Befriedigung ihrer Forderungen haben. Es konkurriert daher auch nicht mit Gläubigern von Masseforderungen, sollten die Geldstrafe oder -buße und künftig die Verbandssanktion erst nach dem Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens festgesetzt

21 BGH v. 6.11.1978 – VIII ZR 179/77, BGHZ 72, 263; BGH v. 22.9.2011 – IX ZB 121/12, NZI 2011, 953. 22 Graf-Schlicker/Bremen, 5. Aufl. 2020, § 38 InsO Rz. 16.

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worden sein, wenn das sanktionierte Verhalten des Schuldners vor Verfahrenseröffnung stattfand. c) Verbandstat nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens Damit drängt sich zwangsläufig die Qualifikation einer Geldstrafe, -buße oder künftigen Verbandsanktion als Masseverbindlichkeit auf, wenn das sanktionierte Verhalten nach Eröffnung des Verfahrens stattfand. Konkurriert der auf Geldzahlung gerichtete Strafanspruch des Fiskus mit anderen Massegläubigern, ggf. mit der Folge des Eintritts von Masseunzulänglichkeit (§ 208 InsO), die die in § 209 InsO vorgesehene Reihenfolge der Befriedigung der Massegläubiger auslöst? Vordergründig legt die Abgrenzung vorstehend unter b) die Annahme einer Masseverbindlichkeit nahe, beruht die Verbandssanktion auf einem Sachverhalt nach Verfahrenseröffnung. Jedoch geht mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf den Insolvenzverwalter über. Verbände wie rechtskräftige Vereine oder eine juristische Person werden mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens jedoch aufgelöst (§ 42 Abs. 1 Satz 1 BGB, § 262 Abs. 1 Nr. 3 AktG, § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG). Wird ihr Betrieb zum Zwecke der Sanierung des Rechtsträgers fortgeführt, bleibt es bei der Auflösung des insolventen Rechtsträgers, wenn die Sanierung durch Übertragung des Betriebes im Wege eines asset deals auf einen neuen Rechtsträger erfolgt. Bei einer Sanierung durch Insolvenzplan, welcher u.a. die Fortsetzung des Verbandes beinhaltet und damit die mit Verfahrenseröffnung geltende Auflösung des Verbandes „kassiert“, treten die Wirkungen für und gegen alle Beteiligten gem. § 254 InsO erst weit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zum Ende des Planverfahrens mit rechtskräftiger Bestätigung des Planes ein. Weder der VerSanG-E, noch seine Begründung verhalten sich aber zur Verbandseigenschaft aufgelöster Verbände nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 VerSanG-E. Der nachstehend noch näher zu besprechende § 39 VerSanG-E ist reine Verfahrensvorschrift, ohne einen eine Pönale auslösenden Tatbestand zu ergänzen. Bürgerliches und Gesellschaftsrecht sehen zwar bei Auflösung des Verbandes durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Verein oder die Gesellschaft als fortbestehend an. Als solche kämen sie also nach wie vor als ein geeigneter Verband in Betracht, deren Verbandsverantwortliche einschließlich eines Insolvenzverwalters, auf welchen die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gemäß § 80 InsO übergegangen ist, einen eine Verbandssanktion auslösenden Tatbestand verwirklichen könnten. Die Annahme einer Liquidationsgesellschaft nach Auflösung der juristischen Person ist jedoch auf den Zweck, das vorhandene Vermögen der aufgelösten Gesellschaft in einem Insolvenzverfahren zugunsten der Gläubiger zu verwerten, beschränkt. Dieser Zweck besteht unverändert, sollte es gelingen, zum Zwecke der Sanierung den Betrieb des aufgelösten Verbandes im Wege eines asset deals auf einen neuen Rechtsträger zu übertragen; auch danach wird die Liquidation des insolventen Rechtsträgers fortgesetzt. Bei einer Sanierung durch Insolvenzplan wirkt ein Beschluss über die Fortsetzung der aufgelösten juristischen Person zwar zurück, fingiert aber insoweit (lediglich) den Fortbestand der durch Er45

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öffnung des Insolvenzverfahrens bis dahin aufgelösten (Liquidations-)Gesellschaft für die Zwecke der Sanierung durch Insolvenzplan. Die Annahme einer Liquidationsgesellschaft mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens ist daher ausschließlich gläubigerund sanierungsorientiert, nicht jedoch sanktionsorientiert und dient nicht dazu, die Voraussetzungen eines Sanktionstatbestandes, nämlich das Bestehen eines sanktionsfähigen Verbandes nach dem VerSanG-E, zu Sanktionszwecken zu fingieren. Nach dem Grundsatz nulla poena sine lege fehlt es daher für die Annahme einer Verbandstat nach Auflösung des Verbandes infolge der Eröffnung des Insolvenzverfahrens an einem hinreichend bestimmten gesetzlichen Tatbestand, der eine Verbandssanktion weder als Masse-, noch als Insolvenzforderung auslösen könnte. Die Frage der Qualifikation einer Verbandssanktion als Masseforderung aufgrund eines Verhaltens nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellt sich daher nicht, da der Verband nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 VerSanG-E mit Verfahrenseröffnung aufgelöst ist. d) Rechtspolitische Stringenz Rechtspolitisch steht die Annahme eines sanktionslosen Zeitraums ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Verbandes gemäß § 2 Abs. 1 VerSanG-E im Einklang mit der zu § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO getroffenen Entscheidung des Gesetzgebers, mit auf Zahlung von Geld gerichteten Strafen oder Bußen nicht in Konkurrenz zu ohnehin teilweise ausfallenden Forderungen von Insolvenzgläubigern zu treten. Das wäre aber der Fall, käme die Begehung einer Verbandstat bei Fortführung eines Betriebes zum Zwecke der Sanierung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Betracht: selbst wenn wegen der Höhe der Sanktion aufgrund einer Verbandstat durch einen Verbandsverantwortlichen (§ 3 VerSanG-E) wie z.B. dem Insolvenzverwalter oder einem für die Zwecke der Fortführung des Geschäftsbetriebes eingesetzten Interimsmanager ein Fall der Masseunzulänglichkeit (§ 208 InsO) nicht eintritt, würde eine als Masseverbindlichkeit zu regulierende Verbandssanktion die Verteilungsmasse schmälern und damit deren Quotenaussichten der Insolvenzgläubiger zusätzlich beeinträchtigen. e) Absehen von der Verfolgung bei Insolvenz (§ 39 VerSanG-E) Nach § 39 VerSanG-E kann die Verfolgungsbehörde von der Verfolgung des Verbandes absehen, wenn über das Vermögen des Verbandes ein Insolvenzverfahren eröffnet oder ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt worden ist. Dem Wortlaut dieser und weiterer Vorschriften mit Regelungen über ein Absehen von der Verfolgung (§ 37 VerSanG-E bei schweren Folgen für den Verband, § 38 VerSanG-E bei erwarteter Sanktionierung im Ausland und aus sonstigen Gründen) und auch der Begründung des RegE ist nicht zu entnehmen, dass es hierbei auch um Fälle des Absehens von Sanktionen wegen einer während eines Insolvenzverfahrens begangenen Verbandstag geht. Die Begründung zu § 39 VerSanG-E führt aber aus, dass es bei Liquidation im Insolvenzverfahren regelmäßig nicht geboten sei, ein Verfahren zur Verhängung einer nicht mehr vollstreckungsfähigen Sanktion gegen einen aufgelösten und demnächst vollständig liquidierten Rechtsträger durchzuführen. 46

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Ausdrücklich anders sei es jedoch, werde der Verband zwar liquidiert, der Geschäftsbetrieb aber im Wege einer übertragenden Sanierung vollständig oder zumindest teilweise auf einen anderen Rechtsträger übertragen. Insbesondere wenn der übernehmende Rechtsträger in Verbindung mit den Geschäftsführern oder Gesellschaftern des insolventen Verbandes stehe, könne es auch trotz einer Insolvenz geboten sein, das Verfahren mit Blick auf die Rechtsnachfolger fortzuführen. Bei Beendigung des Insolvenzverfahrens ohne Liquidation des Verbandes käme die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens innerhalb bestimmter Fristen in Betracht.23 f) Sanktionsloser Zeitraum Für die Frage, ob der VerSanG-E überhaupt die Begehung einer Verbandstat nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Auge hat, geben weder die lediglich verfahrensrechtliche Vorschrift des § 39 VerSanG-E, noch die Begründung dazu etwas her. Es bleibt daher dabei, dass nach der bisherigen Anlage des VerSanG-E wegen der fehlenden Bestimmtheit des Tatbestandes als Ausfluss des nulla poena sine lege-Grundsatzes mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein verbandssanktionsloser Zeitraum beginnt. g) Signifikante Erschwerung von Sanierungen Viel gravierender ist aber, dass der Begründung des RegE ein Absehen von der Verfolgung bei Insolvenz auch in Fällen der Sanierung (i) im Wege eines asset deals mit einem übernehmenden Rechtsträger oder (ii) des Rechtsträgers durch Insolvenzplan – nichts Anderes hat die Begründung mit der Formulierung der Beendigung eines Insolvenzverfahrens ohne Liquidation des Verbandes im Blick – nicht erfolgen soll. Das Absehen von der Verfolgung ist ausdrücklich in das Ermessen der Verfolgungsbehörde gestellt. Die Erwähnung der übertragenden Sanierung oder der Sanierung des Rechtsträgers durch Insolvenzplan in der Begründung des RegE führen zwar bei der Anwendung von § 39 VerSanG-E nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null, legt der Verfolgungsbehörde aber die Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Durchsetzung einer Verbandssanktion zulasten des übernehmenden oder sanierten Rechtsträgers nachdrücklich nahe. Es ist in der Sanierungspraxis eine Illusion anzunehmen, dass eine Sanierung unter derartigen Lasten gelingen kann. Kein Investor tritt an und keine Finanzierung wird bereitgestellt zur Bezahlung von einer Verbandssanktion aufgrund eines Verhaltens der Verbandsverantwortlichen eines Verbandes in der Vergangenheit. § 39 VerSanG-E steht daher einem durch die Institute des Insolvenzplanes und der Eigenverwaltung sanierungsorientierten Insolvenzrecht diametral entgegen.

23 Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft, RegE v. 16.6.2020, S. 118.

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7. Verbandssanktionen und das Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz – StaRUG Die Verfahrenshilfen des am 1.1.2021 in Kraft getretenen Gesetzes über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen – StaRUG24 können zur Beseitigung drohender Zahlungsunfähigkeit im Sinne des § 18 Abs. 2 InsO in Anspruch genommen werden. Von der Restrukturierung nach dem StaRUG ausgenommen sind jedoch u.a. ausdrücklich Forderungen nach § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO, nach der Erweiterung dieser Vorschrift entsprechend Art. 3 des RegE des Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft künftig also auch Verbandssanktionen. Allerdings: auch die Haftung des Schuldners für Verbindlichkeiten nach § 39Abs. 1 Nr. 3 InsO – künftig also auch für Verbandssanktionen – kann durch eine Regelung in einem Insolvenzplan nicht ausgeschlossen oder eingeschränkt werden, § 225 Abs. 3 InsO. Verbandssanktionen sind nicht sanierungsfähig.

III. Fazit Das Diktum von Alexander Reuter, die Verbandssanktion treffe die Falschen, trifft auch für Fälle zu, in denen Verbandssanktionen mit Sanierungs- und Insolvenzverfahren zusammentreffen. Mit der Einordnung von Verbandssanktionen als nachrangige Insolvenzforderungen gem. § 39 Abs. 1 Nr. 3 InsO wird in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht für Geldstrafen, -bußen etc. eine zutreffende Qualifikation des insolvenzrechtlichen Ranges vorgenommen; die Verbandssanktion schmälert nicht die Aussichten der Insolvenzgläubiger. Mit dieser Einordnung geht die Verbandssanktion aber gleichwohl sämtlichen Zahlungen ihrer Gesellschafter auf sämtlichen (Eigen-)Kapitalpositionen vor, obwohl Gesellschafter und Aktionäre nur bedingten oder gar keinen Einfluss auf das Handeln der Verbandsverantwortlichen (§ 3 VerSanG-E) haben. Das mag in praxi wegen der ohnehin geringen Aussicht von Gesellschaftern und Aktionären auf Rückflüsse auf ihre Einzahlungen als zu vernachlässigendes Übel erscheinen, ändert aber nichts an dem Verdikt einer Verbandssanktion als verfehlt, weil sie die Falschen trifft. In hohem Maße sanierungsfeindlich sind Verbandssanktionen bei übertragender Sanierung oder Sanierung durch Insolvenzplan. In seiner jetzigen Fassung steht der VerSanG-E einer Sanierung entgegen und zwingt zur Liquidation des Vermögens des Verbandes mit der Folge einer Verschlechterung, wenn nicht zum Wegfall einer Quote für die Insolvenzgläubiger und zum Wegfall deren künftiger Absatzmöglichkeiten sowie zum Wegfall der Arbeitsplätze. Zusätzlich ruft die Begründung zu § 39 VerSanG-E die Verfolgungsbehörden geradezu dazu auf, Altgesellschafter und Geschäftsführer mit einer Verbandssanktion doch noch zu belangen, sollten sie an einer Fortführungslösung bei übertragender Sanierung auf Erwerberseite oder bei Sanierung des Rechtsträgers wieder beteiligt sein. 24 Gesetz über den Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmen für Unternehmen (StaRUG, Gesetzesfassung v. 22.12.2020, BGBl. I S. 3256 ff.).

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Verbandssanktionen sind nicht sanierungsfähig, weder durch die Verfahrenshilfen des am 1.1.2021 in Kraft getretenen StaRUG, noch durch Insolvenzplan (§ 225 Abs. 3 InsO). Ein VerSanG mit einem über 10 Mio. Euro hinausgehenden Sanktionsrahmen von bis zu 10 Prozent des durchschnittlichen Jahresumsatzes kann Geschäftsbetriebe in ihrer Existenz bedrohen. Auch insoweit sind Verbandssanktionen unverhältnismäßig, ungeeignet und damit im Hinblick auf die Rechte der Unternehmensträger verfassungswidrig. Der Schaden durch die Schließung von Betrieben ging weit über die gesetzlichen Höchstgrenzen für Sanktionen hinaus. Augen und Betrieb zu und durch um der Sanktionen willen? Nein! Der Korrekturbedarf des VerSanG-E an der Schnittstelle zum Insolvenz- und Sanierungsrecht ist daher unübersehbar.

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Inhaltsübersicht I. „Kontrollverlust“ II. Die „ordnungsgemäße“ Geschäftsorganisation III. Die Compliance-Funktion 1. Kurzer Abriss der Tätigkeitsfelder von Compliance 2. Kriterien der Ordnungsmäßigkeit der Compliance-Funktion a) Die Dauerhaftigkeit b) Die Wirksamkeit c) Die Kompetenz d) Die Unabhängigkeit 3. Die interne Informationsorganisation

a) Zugang zu Informationen mittels Informationsorganisation b) Vermeidung von Pflichtverletzungen der Geschäftsleitung durch angemessene Information c) Die Compliance-Funktion in der Informationsorganisation IV. Compliance im Leitungs- und Informationsgefüge des Unternehmens 1. Geschäftsleitung (Vorstand) 2. Aufsichtsrat/Verwaltungsrat 3. Wirtschaftsprüfer V. Lösung

I. „Kontrollverlust“ So titelte die Süddeutsche Zeitung1, um am Beispiel des Wirecard-Desaster das Versagen des damaligen Aufsichtsrats als Kernursache allen Übels auszumachen. Doch Wirecard ist lediglich der letzte Fall in einer Reihe unrühmlicher Fälle der jüngeren deutschen Wirtschaftsgeschichte: Unsinnige Zukäufe, schwarze Kassen, Hinterzimmerabsprachen, dubiose Finanzströme, Schmiergeldzahlungen, verlockende Einladungen und Geschenke, nicht aufgelöste Interessenkonflikte, Gefälligkeiten, zügellose Gier, Betrug. Die Gruselliste sprengt jede kriminelle Phantasie. Nur, warum bekommen die Aufsichtsräte davon nichts mit? Sie sollen kontrollieren oder doch wenigstens kritische Fragen zur rechten Zeit stellen. „Oft sind es diese Dinge, die nur Insider mitbekommen“ ist eine gern genutzte, Mut machende Entschuldigung. Sind sie also zu weit weg? Zeitlich, fachlich, räumlich? Versagt das aktienrechtlich austarierte System des „Checks and Balances“, weil die Protagonisten die Informationen nicht bekommen, die sie benötigen, um zielgerichtete Fragen stellen oder konkrete Prüfaufträge erteilen zu können? In der Presse2 wird ausgeführt, dass der Aufsichtsrat der Wirecard machtlos gegenüber der Geschäftsleitung gewesen sei. Dies auch aus Gründen, die der Erst-Gesetzgeber des Aktien- und GmbH-Rechts im Jahr 1937 genau so gewollt habe. Im Fall Wirecard hätten sich die Machtverhältnisse vollständig zum Vorstand hin verschoben. Dies bleiben aus meiner 1 Wirtschaft Report 1./2.8.2020. 2 Zuletzt Süddeutsche Zeitung vom 28./29.11.2020, Seite 22.

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Sicht jedoch Einzelfälle. Mir sind keine Erkenntnisse oder Anhaltspunkte bekannt, dass Machtlosigkeit der Aufsichtsräte systemisch gewollt und beabsichtigt ist. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Chief Compliance Officer würden viele Aufsichtsräte gern mehr eingreifen, aber es fehlt oft der Impuls. Und wenn dieser spürbar wird, ist es in aller Regel zu spät für Aufsicht und Kontrolle. Wie läuft das bei Finanzdienstleistungsunternehmen? Die Finanzdienstleister haben rund zwei Jahrzehnte Regelungsvorlauf, den sie sich auch „verdient“ haben. Waren sie doch sicher keine Vorbilder in Sachen des „ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns“ und wurden gerade deshalb gezwungen, ein geregeltes Umfeld in Form einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation einzurichten. Am Ende könnte ein funktionierendes System des Checks and Balances erreicht worden sein, das die Aufsichtsräte aus ihrer Wissens- und Einflusslosigkeit hinausführen könnte. Darum geht es im Folgenden.

II. Die „ordnungsgemäße“ Geschäftsorganisation An zentraler Gesetzesstelle (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Kreditwesengesetz/KWG) heißt es trocken: „Ein Finanzinstitut muss über eine ordnungsgemäße Geschäftsorganisation verfügen, die die Einhaltung der vom Institut zu beachtenden gesetzlichen Bestimmungen und der betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten gewährleistet“. Hieraus eine die Organisationspflichten einhaltende Umsetzung zu finden, führt über § 25a Abs. 1 Satz 3 Nr. 3c des KWG. Ein Teil dieser geforderten Geschäftsorganisation ist somit ein zu errichtendes „Internes Kontrollsystem“ (IKS). Ordnet eine solchermaßen in die Pflicht genommene Geschäftsleitung die nicht immer in direktem Bezug stehenden Regelungsinhalte nach Regelungszielen, geforderten Eigenschaften, Organisationsmitteln und vorzunehmenden Handlungen, so wird ihr am ehesten deutlich, welche Ordnung und welche Kraft der Geschäftsorganisation beigemessen werden muss. Mit einem tradierten Risikomanagement bestehend aus (Risiko-) Controlling und interner Revision, ergänzt durch eine Rechtsabteilung, ist dieses Ziel nicht (mehr) erreichbar. Hinzutreten muss eine breit angelegte prozessorientierte Prävention, die sich auf Erkenntnisse tiefer Analysen der Gefährdungssituation stützt. (Im Falle von Wirecard ist dies mit offensichtlich berechnender Absicht unterblieben. Vielleicht wäre das Wirecard-Desaster glimpflicher verlaufen, wenn diese Instrumente eingesetzt worden wären, was aber im Abgrenzungsnebel zwischen Wirecard-Technologieunternehmen und Wirecard-Bank unterblieben ist. Es wurde stets das niedrige Präventionsniveau des Technologieunternehmens gewählt.) Die Analyse der Gefährdungssituation in der Präventionsphase ist die Quelle, die die Informationen bereithält, die ein Aufsichtsrat benötigt, um wirksam sein zu können. Wirksam ist er dann, wenn er im Vorfeld, vor Realisierung des Risikos die Informationen bekommt, die ihn in die Lage versetzt, Gefahren abwehren zu können. Der Ver52

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weis auf den Leiter der Internen Revision, an den sich ein Aufsichtsrat jederzeit wenden könne, wie im oben angeführten Artikel ausgeführt wird, greift deshalb zu kurz. Die Revision wird in aller Regel im Nachlauf tätig; „das Kind ist also schon hineingefallen in den Brunnen“. Das ist auch der Grund warum die Revision nicht Teil des Internen Kontrollsystems ist; sie soll dieses System kontrollieren, also nicht Teil davon sein. Bleiben die Fragen: – Was veranlasst ein Mitglied des Aufsichtsrats die Quelle der Erkenntnis anzuzapfen und – wer hält sie bereit?

III. Die Compliance-Funktion Hier kommt die Compliance-Funktion oder genauer: der Compliance-Beauftragte ins Spiel. Im inneren Informationskreis des Unternehmens, bestehend aus Geschäftsleitung (Vorstand), Aufsichtsrat und externem Wirtschaftsprüfer, hat der Beauftragte seine Kompetenzen als Beförderer des Checks and Balances einzubringen. Dazu müssen die rechtlich vorgegebenen Tätigkeitsfelder und die Kriterien für eine ordnungsgemäße Compliance reibungslos zusammenwirken. 1. Kurzer Abriss der Tätigkeitsfelder von Compliance Der europäische Verordnungsgeber hat im Art. 22 der Delegierten Verordnung 2017/ 5653 kursorisch Tätigkeitsfelder benannt, mit der er die Compliance-Funktion betraut sehen möchte: – ständige Überwachung und regelmäßige Bewertung der Angemessenheit und Wirksamkeit der […] eingeführten Maßnahmen, Strategien und Verfahren sowie der Schritte, die zur Behebung etwaiger Defizite […] bei der Einhaltung ihrer Pflichten unternommen wurden; – Beratung und Unterstützung der […] relevanten Personen im Hinblick auf die Einhaltung der Pflichten […]; – mindestens einmal jährlich Berichterstattung an das Leitungsorgan über die Umsetzung und Wirksamkeit des gesamten Kontrollumfelds […], über die ermittelten Risiken sowie über die Berichterstattung bezüglich der Abwicklung von Beschwerden und über die ergriffenen oder zu ergreifenden Abhilfemaßnahmen; – Überwachung der Prozessabläufe für die Abwicklung von Beschwerden und Berücksichtigung von Beschwerden als Quelle relevanter Informationen im Zusammenhang mit den allgemeinen Überwachungsaufgaben.

3 Amtsblatt der Europäischen Union v. 31.3.2017 Nr. L 87/1.

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2. Kriterien der Ordnungsmäßigkeit der Compliance-Funktion Die Compliance-Funktion muss nach Gesetz und Verordnung vier zentrale Kriterien zu ihrer Ordnungsmäßigkeit erfüllen: Dauerhaftigkeit, Wirksamkeit, Kompetenz und Unabhängigkeit. Eine Geschäftsorganisation hat diese Kriterien nicht nur widerzuspiegeln, sie müssen gelebt werden. a) Die Dauerhaftigkeit Das Kriterium der Dauerhaftigkeit (wohl eher „Stetigkeit“) will eine Ad hoc-Compliance vermeiden, die nur dann zusammentritt, wenn konkreter Anlass gegeben scheint. Dass dies nicht dem gesetzlichen Compliance-Bild entspricht, steht außer Frage. Wie aber die Dauerhaftigkeit sicherstellen? Die Verankerung in einer schriftlich fixierten Ordnung, wie z.B. Anweisungen und die Visualisierung in einem Organisationschart setzen zumindest einen Anschein von gewisser Dauer. Doch als noch verhältnismäßig junge Disziplin erleidet die Compliance-Funktion nicht selten ein organisatorisches Wanderleben. Ein „nimm du sie, ich tu es mir nicht an“, „gib sie ihm, er hat für seine Hierarchie noch zu wenig“ oder „nimm sie ihm weg, er hat schon zu viel“ ist nicht selten geübte Praxis in Organisationen. Der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) sind hier durch die Organisationsbefugnis der Geschäftsleiter enge Grenzen gesetzt; doch ohne Druckmittel steht sie nicht da. b) Die Wirksamkeit In Verbindung mit dem weiteren Kriterium der Wirksamkeit ist es durchaus naheliegend, „stetig“ im Sinne von „standhaft“ zu verstehen. Denn wenn eine Compliance-Funktion geschützt ist vor wiederholten Umorganisationen, kann sie auch unangenehm „aufdecken, kontrollieren und abhelfen“. Wenn sie diese vom Gesetz vorgegebenen Aktionen standhaft durchführt, kann sie auch wirksam werden. Hat deshalb ein Compliance-Beauftragter ein Durchgriffsrecht durch Hierarchien oder durch fremde Verantwortungsbereiche hindurch? Soweit geht der EU-Verordnungsgeber nicht. Die Del. Verordnung 2017/565 gesteht in Art. 22 Abs. 3 c) dem Compliance-Beauftragten lediglich zu, dass er ad hoc und direkt das Leitungsorgan informiert, wenn er ein erhebliches Risiko feststellt und Pflichten nicht erfüllt werden. Es steht dann der Geschäftsleitung frei, mit Hilfe ihres Direktionsrechts spezielle Befugnisse einzuräumen. Das gibt der Compliance-Funktion ein hohes Maß an (abgeleiteter) Verantwortung, nimmt aber den Geschäftsleitern ihre Verantwortung nicht ab. c) Die Kompetenz Eine wirksame Compliance-Funktion erfordert über die zeitnahe Aktion hinaus auch die ihr in die Hand gegebenen Werkzeuge (Vorkehrungen, Maßnahmen, Zugang, Kontrollen) ohne Ängstlichkeit, falsche Rücksichtnahmen, konsequent und transparent einzusetzen. Konsequent spricht die EU-Kommission in der englischsprachigen Ausgangsversion, der Commission Delegated Regulation (EU) 2017/565, 54

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in Art. 22 Abs. 3 a) von „necessary authority“. Necessary authority wurde in der deutschen Version mit „notwendige Befugnisse“ übersetzt. Dieser Begriff bewegt sich zwischen den Synonymen „Berechtigung“ und „Ermächtigung“. Der gemeinsame Sinnzusammenhang ist somit die durch Berechtigung abgeleitete Macht, um ein Recht wahrzunehmen. Die Ermächtigung kann also nur durch die Geschäftsleitung erfolgen, die damit ihre unmittelbare Compliance-Verantwortung wahrnimmt. d) Die Unabhängigkeit Eng mit dieser Entscheidung verknüpft ist ein weiteres wichtiges Kriterium: Die Unabhängigkeit der Compliance-Funktion (nicht nur des Compliance-Beauftragten). Unstreitig ist, dass die Compliance-Funktion nicht in Organisationseinheiten eingebunden sein darf, die diese zu kontrollieren, zu beraten und zu unterstützen hat. Bedeutet aber „Unabhängigkeit“ gleichzeitig Weisungsfreiheit? Diese Begriffe hängen eng zusammen. Wer Weisungen widersprechen und unbeachtet lassen kann, ist tatsächlich unabhängig. Gilt dies auch gegenüber der Geschäftsleitung? Wohl nicht. Denn dies griffe in die unternehmerische Freiheit der Geschäftsleitung ein, die in der Direktionsbefugnis ihre Ausprägung findet. Wie wir jedoch noch sehen werden: Die Geschäftsleitung selbst ist die Compliance-Verantwortliche, lediglich die Funktion ist delegiert. So ist es folgerichtig, diese Funktion dem Weisungsrecht der Geschäftsleitung zu unterwerfen. Dies gilt insbesondere für die Weisungshoheit in disziplinarischen Dingen. Eine Weisungsfreiheit hätte sonst die faktische Unkündbarkeit der Compliance-Mitarbeiter zur Folge. Dies wäre ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Geschäftsführungsfreiheit/-hoheit. Im Übrigen fehlt dazu (noch) eine gesetzliche Grundlage. (Diese wurde für Datenschutzbeauftragte allerdings mit § 38 i.V.m. § 6 Abs. 4 Bundesdatenschutzgesetz geschaffen). Da Geschäftsleiter es in Anbetracht ihrer hohen Arbeitsbelastung bevorzugen, sich von disziplinären Pflichten zu entbinden, besteht die Gefahr, dass disziplinäre und fachliche Weisungsabhängigkeit auseinanderfallen. Einer fachlichen Direktanbindung an die Geschäftsleitung stünde die disziplinäre Anbindung an eine andere (untergeordnete) Einheit gegenüber4. Eine solche organisatorische Asymmetrie kann die Unabhängigkeit und damit die Wirksamkeit der Compliance-Funktion erheblich beeinträchtigen. Die Interessen des fachlichen Weisungsgebers (Geschäftsleiter) und die des disziplinären Weisungsgebers (Ressortleiter) müssen nicht übereinstimmen, obgleich sie es, im Interesse des Unternehmens, sollten. Ein solch wünschenswerter Gleichklang ist abhängig von dem Bild, das der Ressortleiter nach oben weitergibt. Es wird allerdings problematisch, wenn die Ansichten zwischen ihm und dem Compliance-Beauftragten nicht übereinstimmen. Auch wenn er den Informationsfluss an die Geschäftsleitung nicht wird auf Dauer verhindern können, so wird er im Konfliktfall, insbesondere, wenn er Betroffener ist, diesen doch beeinflussen. Seine disziplinären Einflussmittel sind Bonus, Patronage, Unterstützung, Zugang zu Informationen; oder der Entzug von 4 Spindler, WM 20/2008, 914 sieht hier die Gefahr der Filterwirkung.

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allem sowie alle denkbaren Zwischenstufen. Dann wird sich der Compliance-Beauftragte von Fall zu Fall zu entscheiden haben, was nicht immer zugunsten einer ungefilterten Information an den zuständigen Geschäftsleiter oder die Geschäftsleitung ausfallen dürfte. 3. Die interne Informationsorganisation a) Zugang zu Informationen mittels Informationsorganisation Die „Verfügung eines Zugangs zu allen für die Compliance-Funktion einschlägigen Informationen“ (Del. Verordnung 2017/565 in Art. 22 Abs. 3 a)) legt den Schluss nahe, dass der Verordnungsgeber die Kontrollpflichten von Compliance im Auge hatte. Unstreitig muss Compliance jedoch präventiv, also zeitlich den Kontrollen weit vorgelagert aktiv sein und zunehmend in Echtzeit kontrollieren, beraten und unterstützen. Hier genügt die Befugnis zur „Verfügung“ eines Zugangs nicht. Als Bestandteil ihrer Pflichten im Präventionsumfeld des IKS benötigt die Compliance-Funktion Vorab-Informationen, die ihr zugetragen werden müssen, da diese ihr naturgemäß nicht bekannt sind. Das bedarf einer internen Informationsorganisation im Besonderen5 die als institutsinterne Vorgabe durch die Geschäftsleiter als Baustein einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation eingerichtet werden sollte. In Bezug auf Informationsorganisationspflichten sieht § 25 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 b KWG dezidiert vor, dass das interne Kontrollsystem auch die Kommunikation der Risiken umfasst. Da in arbeitsteiligen Organisationen mannigfaltige Wissensaufspaltungen naturgemäß sind, ist eine Informationsorganisation unumgänglich. Dies meint nicht die speziellen Informationsorganisationspflichten aufgrund Insiderinformationen und andere, die eine spezielle Informationsorganisationen benötigen, die in der Regel ITgetrieben sind. Hier geht es um die allgemeinen Informationsorganisationspflichten, die besondere Relevanz für die Organisationsform bezüglich Compliance haben. Die allgemeinen Informationen in einer Organisation wirken in fünf Richtungen: – Zum Leitungsorgan hin (Reporting); – vom Leitungsorgan in die Organisation (Wahrnehmung der Direktionsbefugnis); – von der Compliance-Funktion zu den Mitarbeitern im Unternehmen (Wahrnehmung des Beratungs- Unterstützungs- und Schulungsauftrags); – von den Mitarbeitern im Unternehmen zur Compliance-Funktion (Wahrnehmung der Pflicht zur Informationsweitergabe gemäß Art. 21 Abs. 1 e) der Del. Verordnung 2017/565); – vom Kunden zur Compliance-Funktion über in das institutionalisierte Beschwerdemanagement. 5 Buck-Heeb, Corporate Compliance Zeitschrift 1/2009, 18.

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b) Vermeidung von Pflichtverletzungen der Geschäftsleitung durch angemessene Information Die der US-amerikanischen Judikatur entlehnte „Business Judgement Rule“ gibt der Geschäftsleitung einen nicht zu kontrollierenden Freiraum, um der Dynamik des Marktgeschehens Rechnung tragen zu können (§ 93 AktG; ggf. analog). Diese findet ihre Grenzen in den Grundsätzen ordnungsgemäßer Unternehmensführung. Eine wesentliche Ausprägung ist, dass die unternehmerische Entscheidung auf der Grundlage angemessener Informationen erfolgen muss. Die Geschäftsleitung ist verpflichtet, alle ihr zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen auszuschöpfen6. Sie trifft eine unmittelbare „informationelle Sorgfaltspflicht“7 und die Verantwortung eine „ordnungsgemäße Organisation des Wissens“ zu erstellen8. Als Konsequenz wird es im Hinblick auf Compliance unumgänglich sein, im Unternehmen eine entsprechende Organisation von Informationsflüssen vorzusehen. Dass das Informationsmanagement eines Unternehmens ein Teil der Compliance-Aufgaben ist, (und deshalb Eingang in das Compliance Management System finden sollte), ist inzwischen allgemein anerkannt9. c) Die Compliance-Funktion in der Informationsorganisation Eine hinreichende Informationsorganisation setzt stets einen entsprechenden Informationsfluss voraus; was bedeutet, dass sichergestellt sein muss, dass im Finanzdienstleistungsunternehmen eingehende, entstehende und umlaufende Informationen allen entscheidungsbefugten Personen zugänglich zu machen sind10. Entscheidungsbefugt sind auch alle Kompetenzträger unterhalb der Geschäftsleitung. Das „Zuganghaben“ (Del. Verordnung 2017/565 in Art. 22 Abs. 3 a)) ist die wertneutrale Seite des aktiven „zugänglich machen“. Das „Zugang-haben“ deutet auf allgemeine Zugangsmöglichkeit hin, wohingegen ein „zugänglich machen“ eine Einbindung in den Informationsfluss benötigt. So auch die BaFin in ihrer normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift Mindestanforderungen an die Compliance (MaComp) BT 3.1.3.2 Nr. 1. Auf den ersten Blick wirkt das Erfordernis des Informationszugangs wie eine Selbstverständlichkeit. Wer zu kontrollieren hat, muss Zugang zu Informationen haben. Diese Kontrollpflichten sind aber nur ein – wenn auch ein wichtiger – Teilaspekt der Compliance-Pflichten. Dieser Teilaspekt ist eine Pflicht aus der Zeit, als sich die Compliance-„Stelle“ ausschließlich mit dem Abgleich von Daten zur Kontrolle von Mitarbeitergeschäften und Manipulationen zu beschäftigen hatte. Inzwischen hat sich die Compliance-Stelle zur Compliance-Funktion gemausert, mit zahlreich hinzugetretenen Pflichten. Der Weg über die Angemessenheits-, Geeignetheits- und Wirksamkeitsüberwachung und -bewertung führt über die Beratung und Unterstützung 6 7 8 9 10

Mertens/Cahn in Kölner Kommentar AktG, § 93 Rz. 58. Schneider in Handbuch der Kapitalmarktinformation, § 3 Rz. 74. Buck-Heeb in Hauschka, Corporate Compliance, § 2 Rz. 12. Rodewald/Unger, BB 2007, 1629 ff. Rodewald/Unger, BB 2006, 113.

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aller Mitarbeiter hin zu einer Art Verbraucherschutzinstanz. Der weitere Weg zum Servicegeber im Informations-, Organisations- und Konfliktmanagement ist vorgezeichnet. Und dies jeweils und vor allem mit präventiver Wirkung! Vorbeugendes Handeln bedarf einer frühen Verankerung in der Prozesskette. Diese beginnt mit ersten Informationen aufgrund von ersten Kontakten. Da diese Erstkontakte nicht zu den Primäraufgaben von Compliance zählen, spielt die Informationsweiterleitungspflicht im Unternehmen eine wichtige Rolle11. Sofern die bei einem Mitarbeiter oder Geschäftsleiter vorliegende Information für eine andere Person in der Gesamtorganisation erkennbar relevant ist, ist sie an jene Person weiterzuleiten12. In einer komplexen, arbeitsteiligen Organisation wie bei den weitaus meisten Wertpapierdienstleistungsunternehmen, wird die Erkennbarkeit häufig auf eine Erkennbarkeit „aufgrund Zufalls“ oder „Einschaltung zur Problemlösung“ reduziert. Damit entsteht eine bedeutende potentielle Informationslücke. Diese gilt es, so weit wie möglich zu vermeiden. Der kürzeste und unmittelbare Informationsweg ist naturgemäß der sicherste. Jede Zwischenschaltung von Instanzen führt, da wir es mit Menschen zu tun haben, zu Fehlern, entsprechend dem beliebten Kinderspiel „Stille Post“. Was am Ende dieses Informationskettenspiels bei allerbester Absicht der korrekten Weitergabe herauskommt, führt dann zu großer Erheiterung. Was im Spiel zum Lacher wird, wird im Unternehmen zu einer unangenehmen Haftungsfrage aufgrund Wissenszurechnung. Gesteigert wird die Bedeutung der unmittelbaren Information (Primärinformation) durch den Umstand, dass Compliance früh und schnell zu reagieren hat. Die Prävention lebt aus zeitlichem Vorlauf und schneller Intervention. Nähe zur Interventionsinstanz (Eskalationsinstanz) im Sinn einer unabhängigen Wahrnehmung der Compliance-Funktionspflichten erhöht die Risikomanagementfähigkeit und ist Faktor der Angemessenheit der Informationsgrundlage der Geschäftsleitung (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, ggf. analog). Im Reporting von unten nach oben, vom Compliance-Beauftragten zur Geschäftsleitung, ist die unmittelbare Informationsabfrage inzwischen geübte Praxis. Kann es auch gelingen, dass die Informationsweitergabe von der Geschäftsleitung zum Compliance-Beauftragten als weitere Praxis eingeübt wird? Hier hilft ein Kernelement einer ordnungsgemäßen Geschäftsorganisation: Die Installierung eines Strategieprozesses ausgehend von einer durch die Geschäftsleiter aufzustellenden Geschäftsstrategie. Zu berücksichtigen sind externe und interne Einflussfaktoren. Zu diesen zählen, unter anderen auch, die Erkenntnisse aus der Risikoanalyse, die von der Compliance-Funktion erstellt wurde. Diese münden nicht nur in den Compliance-Überwachungsplan ein, sondern bestimmen auch die darüber hinausgehende Bemessung der Tragfähigkeit operationeller und sonstiger Risiken und der personellen und technisch-organisatorischen Ressourcen. Hierzu ist Compliance aufgerufen eine Compliance-Strategie zu erstellen. Diese unterstützt, spezifiziert und 11 Buck-Heeb in Hauschka, Corporate Compliance, § 2 Rz. 27. 12 Buck-Heeb in Hauschka, Corporate Compliance, § 2 Rz. 18. Jetzt auch Art. 21 Abs. 1 e) der Del. Verordnung 2017/565.

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ergänzt die Geschäftsstrategie der Geschäftsleiter. Das setzt aber voraus, dass dem Compliance-Beauftragten vorher die aktuelle Geschäftsstrategie zur Arbeitsgrundlage übergeben wurde. Eine entsprechend enge Abstimmung der Strategien hilft die Sachkunde der Compliance-Funktion präventiv einzubringen. Dies nutzt insbesondere bei der Erschließung neuer Geschäftsfelder, Dienstleistungen, Märkte und Handelsplätze oder bei der Auflage neuer Finanzprodukte sowie der Einführung neuer Werbestrategien im Bereich der Wertpapierdienstleistungen.

IV. Compliance im Leitungs- und Informationsgefüge des Unternehmens Eine dermaßen eingebundene, ermächtigte, ertüchtigte und mit Informationen versehene Compliance-Funktion ist nunmehr in die Lage versetzt, als Quelle der Erkenntnisse zu dienen. 1. Geschäftsleitung (Vorstand) § 25a Abs. 1 Satz 2 KWG konstatiert unmissverständlich: „Die Geschäftsleiter sind für die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation des Instituts verantwortlich …“. Ebenso verhält es sich in Bezug auf die Compliance-Funktion: „Die ComplianceFunktion ist ein Instrument der Geschäftsleitung“ (MaComp BT 1.1.2). Das Geschäftsleitungsorgan selbst muss also die organisatorischen Voraussetzungen schaffen und sich der Compliance-Funktion als eigenes Instrument bedienen. Damit ist klar: Compliance ist Chefsache! Damit das Instrument Compliance überhaupt zum Instrument der Geschäftsleitung werden kann, bedarf es eines intensiven Austauschs. Ein übliches „Reporting“ würde zu kurz greifen, da dieser Austausch Informationen in beide Richtungen ermöglichen müsste. Auch wenn die Unterrichtung vom Compliance-Beauftragten zum Vorstand den Schwerpunkt setzen dürfte, so erwartet der Compliance-Beauftragte doch eine begründete Weisung, zu der er Rat bereithalten sollte. Über diese regelmäßigen Besprechungen, aber insbesondere über die anlassbezogenen, sollten unbedingt Protokolle geführt werden. Zentrales Dokument ist jedoch der Compliance-Bericht, der mindestens jährlich, besser aber vierteljährlich an die Geschäftsleitung erstattet wird. Der Jahresbericht sollte mehr als eine Zusammenfassung sein und zeitnah nach dem Ende des Geschäftsjahres, aber unbedingt deutlich vor dem Beginn der Berichtssaison abgeliefert werden. In ihm finden sich zu allen Compliance betreffenden Tätigkeitsfeldern, Aufgaben und Erkenntnissen unverzichtbare Risikobewertungen. Die Bewertungsstufen sollten von „informell“ über „erheblich“ bis „bedrohlich“ deutlich abgehoben, aber auch begründet sein.

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Inhaltlich sollten folgende Punkte abgehandelt werden: – Fortentwicklung der Compliance Kultur (Zusammenarbeit, auch mit der GL; Vertrauen; Konfliktkultur etc.) – Gesetzliche und regulatorische Veränderungen mit Compliance-Bezug in der Berichtsperiode – Aufgaben, Maßnahmen, Kontrollen, Ressourcenbereitstellung und -Verbrauch, organisatorische Aspekte der Organisationseinheit Compliance; Erfolge – Bewertete Risiken (Risikoanalysebericht) einschließlich ergriffener Maßnahmen; wesentliche Vorfälle; Beschwerden; entschiedene und rechtshängige Fälle mit Erfolgseinschätzung – Statistiken; Verknüpfung zu anderen Berichten (Geldwäschebericht, Know-yourCustomer Risikoberichte, Analysen zu Finanzbetrug (Financial Fraud), Revisionsbericht, Risk Controlling-Risikobericht). Der Compliance-Bericht wird dem zuständigen Mitglied der Geschäftsleitung übergeben mit dem auch die Besprechungen stattgefunden haben. Ganz überrascht sollte der von den Berichtsinhalten nicht sein, spiegeln sie doch die Besprechungsinhalte wider. Diese sind jedoch mit Risikobewertungen in Stufen unterlegt und schon dadurch „ungeschminkt“. Die Praxis zeigt jedoch, dass so mancher Compliance-Beauftragter, befördert durch die disziplinarische Unterstellung die Deutlichkeit und die Härte der einzuleitenden Maßnahmen (einschließlich Ressourcen) gern mildert und dadurch „verträglicher“ macht. Dieser Mechanismus wird im Fall von Finanzdienstleistern durchbrochen, indem der Aufsichtsrat eine ihm zugewiesenen Rolle im inneren Informationskreis einnimmt. 2. Aufsichtsrat/Verwaltungsrat Das Verhältnis der Compliance-Funktion zum Aufsichtsrat/Verwaltungsrat berührt zwei Pflichtenkreise: Art. 25 Abs. 3 der Del. Verordnung 2017/565 weist in Erweiterung des § 90 AktG der Finanzdienstleistungsunternehmen die Pflicht zu sicherzustellen, dass das Aufsichtsorgan regelmäßig schriftliche Berichte erhält. Gemeint sind dabei allgemein Risikoberichte, in die die Compliance-Berichte einfließen können, um schließlich eine Gesamtrisikodarstellung zu erhalten. Eine besondere Stellung der Compliance-Funktion oder des Beauftragten gegenüber dem Aufsichtsorgan ergibt sich daraus allerdings nicht. Der Compliance-Beauftragte hat dann seine Pflicht erfüllt, wenn er seinen Bericht an die Geschäftsleiter übergibt. Und diese haben ihre Pflicht erfüllt, wenn sie quasi als „Bote“ des Compliance-Beauftragten den Bericht an das Aufsichtsorgan weiterleiten. Ob die Aufsichtsräte den Bericht ohne Hintergrundinformationen und Zusammenhänge verstehen, darf bezweifelt werden. In umgekehrter Richtung hat die Einfügung des § 25d in das KWG eine aktive Einbindung des Aufsichtsorgans in die Überwachung des Risikomanagements bewirkt. Da, wie oben beschreiben, Compliance Teil des IKS im Risikomanagement ist, er60

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streckt sich die Einbindung des Aufsichtsorgans auch auf Compliance. Allerdings handelt es sich dabei nur um einen Auskunftsanspruch des Aufsichtsorgans gegenüber der Compliance-Funktion, nicht um ein Recht der Compliance-Funktion gegenüber dem Aufsichtsorgan. Dieses Auskunftsrecht von „oben nach unten“ bezieht sich nicht nur auf eine vergangenheitsbezogene Überwachung, sondern auch präventiv in Form der Überwachung durch Einflussnahme auf die Geschäftsleiter. Hier ist insbesondere an die Einsichtnahme in die Risikoanalyse der Compliance-Funktion zu denken. Eine besondere Ausprägung der Zusammenarbeit von Compliance (-Beauftragtem) und Aufsichtsorgan ergibt sich jedoch aus MaComp BT 1.2.2.4 Satz 1, dass nämlich Änderungen des Compliance-Berichts, die durch die Geschäftsleiter verursacht wurden, durch die Compliance-Funktion gesondert dokumentiert werden müssen. Das Aufsichtsorgan ist über diese Änderungen zu informieren (Satz 2). Es erhält also in diesem Fall einen „Dissens-Bericht“. Soweit die Theorie. Praktisch gerät der Compliance-Beauftragte in die Mühlen von Machtinterressen und Rücksichtnahmen, aus denen es kein Entrinnen gibt. Eine weitere Verkomplizierung erfährt das Berichtswesen des Compliance-Beauftragten durch das Tätigwerden der Wirtschaftsprüfer: 3. Wirtschaftsprüfer Die Compliance-Funktion bei Finanzdienstleistern wird jährlich mindestens in doppelter Weise von den externen Wirtschaftsprüfern geprüft: Über die Geldwäsche- und Finanzbetrugspräventionstätigkeit und über die Wertpapierüberwachungstätigkeit; (zusätzlich gegebenenfalls auch über deren MaRisk-Zuständigkeit). Die Prüfer haben daher einen tiefen Einblick in die Tätigkeiten, Erkenntnisse, Analysen, Risikobewertungen und Statistiken von Compliance. Zusätzlich haben sie Einsicht in die Berichte, die zu den Vorlagedokumenten der Geschäftsleitung gehören. Diese werden von den Wirtschaftsprüfern „ausgewertet“ und finden Eingang in die „Erkenntnisse“ der WPPrüfberichte an den Aufsichtsrat. Das führt in der Konsequenz dazu, dass der Aufsichtsrat diesen Bericht abwartet und nicht in den detaillierten Fachbericht der Compliance einsteigt. Sie verlieren dadurch Wochen und vergrößern ihre Abhängigkeiten von den Wirtschaftsprüfern.

V. Lösung Die Ausgangsfragen waren: – Was veranlasst ein Mitglied des Aufsichtsrats die Quelle der Erkenntnis anzuzapfen und – wer hält sie bereit?

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Die Compliance-Funktion oder auch nur den Compliance-Beauftragten dem Organ Aufsichtsrat zu unterstellen, um direkten Zugriff auf die Präventionsinformationen zu bekommen, scheidet aus. Zum einen benötigt die Geschäftsleitung die Compliance zu Erfüllung ihrer Risikomanagementpflichten und zum anderen wäre dies eine Ausweitung der Aufsichtsratspflichten auf die Organisations- und Direktionsebene der Geschäftsleiter, was dem deutschen Rechtsverständnis widersprechen würde. (Etwas anderes könnte in Jurisdiktionen gelten, in denen ein Verwaltungsrat direkte Einflussnahme in den Pflichtenkreis der Geschäftsleiter nehmen darf). Der Aufsichtsrat (oder das einzelne Mitglied oder der Risikoausschuss) müsste lediglich den Auskunftsanspruch (s.o.) periodisch, aber auch anlasslos, wahrnehmen. Dies gilt es zu instrumentalisieren, indem dieser Anspruch in die Geschäftsordnung aufgenommen wird. Rechtssetzende Initiativen würden darüber hinaus den Aufsichtsrat deutlich kräftiger in die Pflicht nehmen. Das wäre der Impuls, der den Aufsichtsrat veranlassen könnte, bei den Geschäftsleitern oder den Wirtschaftsprüfern gezielt nachzuhaken. Was die Compliance-Berichte betrifft, so sollten diese keine Erkenntnisquellen der Wirtschaftsprüfer darstellen dürfen, denn dies würde den Erkenntnisgewinn des Aufsichtsrats schmälern. Der WP-Bericht sollte neben den Compliance Bericht treten und gegebenenfalls ein Korrelat darstellen. Auch die Geschäftsleitung benötigt die Compliance-Berichte nicht notwendigerweise. Ihre Erkenntnisse stammen aus den dicht getakteten Besprechungen mit dem Compliance-Beauftragten und den Protokollen, die allen Geschäftsleitern zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus verfügt die Geschäftsleitung über die Möglichkeit, den Compliance-Beauftragten ad-hoc zum mündlichen Bericht in die Leitersitzungen einzuladen. Hingegen benötigt der Aufsichtsrat die originären periodischen Compliance-Berichte. Beinhalten diese doch vieles zeitlich weit vorgelagert, wirken also präventiv. Und, was nicht zu vernachlässigen ist: sie entspringen aus der Arbeitsebene ohne Machtinteressen berücksichtigen zu müssen. So eingebunden kann mancher Aufsichtsrat zu einem Mephisto werden: „Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewusst.“ (Goethe, Faust I, Vers 1582).

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Der Konzernumsatz taugt nicht zur Bemessung von Unternehmenssanktionen Christian Bürger

Inhaltsübersicht I. Der Bußgeldrahmen nach dem Verbandssanktionsgesetz II. Vergleich mit dem europäischen Kartellrecht III. Funktion des Bußgeldrahmens IV. Probleme der Orientierung am Konzernumsatz

1. Umsatz ist kein taugliches Kriterium 2. Konzernumsatz ist erst recht kein taugliches Kriterium 3. Die Anknüpfung an die Zeit vor Verurteilung macht es nicht besser 4. Fehlende Vorhersehbarkeit V. Zusammenfassung und Ausblick

Die hohen Geldbußen gegen Unternehmen treffen den Falschen. Denn sie treffen nicht die Manager, sondern die Anteilseigner des Unternehmens. Die Anteilseigner können aber die Verstöße aus den Unternehmen heraus in aller Regel nicht verhindern. Herr Professor Reuter vertritt diese These mit großem Engagement und Verve in zahlreichen Veröffentlichungen und Diskussionen.1 Ist der Jubilar von einer Sache überzeugt, verfolgt er sie mit großer Hartnäckigkeit, sei es im Dienst für den Mandanten oder im Dienst für die Wissenschaft. Es liegt daher nahe, dem Jubilar einen Beitrag zu einem Thema zu widmen, das den Bereich der Unternehmenssanktionen betrifft und auch für den Verfasser eine Herzensangelegenheit ist. Die Ausrichtung der Unternehmenssanktionen am Konzernumsatz ist ein solches Thema. Denn die Bestimmung der Sanktionshöhe anhand des Konzernumsatzes ist verfassungsrechtlich fragwürdig und rechtspolitisch verfehlt. Dieses soll am Beispiel des viel diskutierten Gesetzesentwurfs der Bundesregierung für das Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft2 (RE-VerSanG) dargelegt werden. Nach einer kurzen Darstellung des Bußgeldrahmens nach dem RE-VerSanG (siehe I.) ziehe ich einen Vergleich mit der Systematik des europäischen Kartellrechts (siehe II.). Anschließend soll die Funktion des Bußgeldrahmens nach der Rechtsprechung des BGH erörtert werden (siehe III.), um anhand von Beispielen wesentliche Probleme bei einer Ausrichtung der Sanktion am Konzernumsatz aufzuzeigen (siehe IV.).

1 Professor Dr. Alexander Reuter in: BB 2016, 1283; ZIP 2018, 2298; NZG 2019, 321; ZIP 2019, 1157; ZIP 2020, 1160; EuCLR European Criminal Law Review 2020, 365. 2 Siehe: Deutscher Bundestag, Drucksache v. 21.10.2020, Nr. 19/23568, 19. Wahlperiode.

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I. Der Bußgeldrahmen nach dem Verbandssanktionsgesetz Nach § 3 des RE-VerSanG kann eine Verbandssanktion gegen einen Verband verhängt werden. Verband im Sinne des RE-VerSanG ist die juristische Person, der nicht rechtsfähige Verein oder eine rechtsfähige Personengesellschaft. Die Sanktion setzt voraus, dass jemand (i) als Leitungsperson dieses Verbandes eine Verbandstat begangen hat oder (ii) sonst in Wahrnehmung der Angelegenheiten des Verbandes eine Verbandstat begangen hat, wenn Leitungspersonen des Verbandes die Straftat durch angemessene Vorkehrungen zur Vermeidung von Verbandstaten hätten verhindern oder wesentlich erschweren können. Der RE-VerSanG knüpft damit immer an den konkreten Rechtsträger (also den Verband) an, für den der Täter gehandelt hat. Dies entspricht auch der Regelung des § 30 OWiG. Die Systematik, dass an den Verband und nicht an den Konzern angeknüpft wird, ist Ausfluss des gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzips. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 RE-VerSanG beträgt bei einem Verband mit einem durchschnittlichen Jahresumsatz von mehr als 100 Mio. Euro bei einer vorsätzlichen Verbandstat die Verbandssanktion mindestens 10.000 Euro und höchstens 10 % des durchschnittlichen Jahresumsatzes (bei einer fahrlässigen Verbandstat die Hälfte). In Satz 2 des § 9 Abs. 2 RE-VerSanG wird dann ausgeführt, dass bei der Ermittlung des durchschnittlichen Jahresumsatzes der weltweite Umsatz aller natürlichen Personen und Verbände der letzten drei Geschäftsjahre, die der Verurteilung vorausgehen, zugrunde zu legen sind, soweit diese Personen und Verbände mit dem Verband als wirtschaftliche Einheit operieren. Ist der Verband Teil einer wirtschaftlichen Einheit, wird für die Höchstgrenze der Verbandsgeldsanktion somit nicht auf den Verband, sondern auf die wirtschaftliche Einheit abgestellt. Relevant soll der durchschnittliche Jahresumsatz in den letzten drei Jahren vor Verurteilung sein und nicht der Umsatz bei Begehung der Tat. Bei der Bemessung der Verbandsgeldsanktion innerhalb dieses Rahmens wird dann wiederum nicht mehr auf die wirtschaftliche Einheit, sondern auf den Verband abgestellt. So sind nach § 15 Abs. 2 RE-VerSanG bei der Bemessung der Verbandsgeldsanktion die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verbandes zu berücksichtigen. Nach der Regierungsbegründung sind wirtschaftliche Verhältnisse der gegebenenfalls vorhandenen Konzernmutter nur dann mit zu berücksichtigen, wenn eine konzernrechtliche Verlustübernahmepflicht besteht.3 Vereinfachend kann festgehalten werden: Der RE-VerSanG stellt grundsätzlich auf den Verband und nicht auf die wirtschaftliche Einheit ab. Nur bei der Bestimmung der Obergrenze für die Verbandsgeldsanktion wird auf die wirtschaftliche Einheit abgestellt.

3 Regierungsbegründung, Drucksache 19/23568, Seite 74.

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Der Konzernumsatz taugt nicht zur Bemessung von Unternehmenssanktionen

II. Vergleich mit dem europäischen Kartellrecht Das Höchstmaß der Sanktion von 10 % des Umsatzes der wirtschaftlichen Einheit ist nach der Regierungsbegründung an die Regelung des § 81 Abs. 4 Satz 3 GWB angelehnt.4 Diese hatte wiederum die Regelung des Europäischen Kartellrechts zum Vorbild.5 Auch wenn die Vorschriften des RE-VerSanG das Europäische Kartellrecht zum Vorbild haben, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Systeme grundverschieden sind. Verbotsadressat des Europäischen Kartellrechts ist das Unternehmen. Das Unternehmen wird durch die Rechtsprechung definiert als jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.6 Diese wirtschaftliche Einheit kann rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen (sprich Verbänden) bestehen.7 Es ist diese wirtschaftliche Einheit (und nicht der Verband) die den Verstoß begeht und für diesen verantwortlich ist.8 Bei der Bemessung der Geldbuße wird daher auch allein auf die wirtschaftliche Einheit abgestellt. Für welchen Verband innerhalb der wirtschaftlichen Einheit die gegen das europäische Kartellrecht handelnden Personen tätig waren, ist grundsätzlich unerheblich. Der Verband enthält nur insoweit eine Bedeutung, da die Bußgeldentscheidung nicht an eine „wirtschaftliche Einheit“, sondern immer an einen Rechtsträger gerichtet sein muss. Auch die Vollstreckung kann nur in einen bestimmten Rechtsträger erfolgen. Dieses Europäische System hat in der Literatur deutliche Kritik erfahren, da es das Trennungsprinzip verletze.9 Ob diese Kritik berechtigt ist oder nicht, soll hier nicht diskutiert werden. Festzuhalten ist aber, dass das System in sich geschlossen und kongruent ist. Relevant ist immer die wirtschaftliche Einheit und nicht der einzelne Verband. Ein weiterer zentraler Unterschied ist die Bedeutung der 10 % Obergrenze. Im europäischen Kartellrecht ist dieses eine Kappungsgrenze. Dies bedeutet, dass die 10 %-Grenze bei der Bemessung der Höhe der Sanktion zunächst keine Rolle spielt. Nur wenn sich nach den Bemessungskriterien eine Geldbuße von über 10 % des Gesamtumsatzes ergeben würde, kommt die 10 % Grenze ins Spiel. Dann wird die höhere Geldbuße bei 10 % des Gesamtumsatzes gekappt. Das Verständnis der 10 %-Obergrenze im deutschen Recht ist ein komplett anderes. Dies liegt an dem Grauzement-Beschluss des BGH. 4 Regierungsbegründung, Drucksache 19/23568, Seite 74. 5 Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit, Drucksache 15/5049, Seite 50. 6 EuGH v. 14.12.2006 – C-217/05, Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servicio; EuGH v. 11.7.2006 – C-205/03, P FENIN/Kommission u.a; EuG v. 15.9.2005 – T-325/01, DaimlerChrysler/Kommission; EuGH v. 23.4.1991 – C-41/90, Höfner und Elser, Rz. 21. 7 EuGH v. 14.3.2019 – C-724/17, Skanska, Rz. 37. 8 EuGH v. 14.3.2019 – C-724/17, Skanska, Rz. 37. 9 Gehring/Kasten/Mäger, CCZ 2013, 1, 5 f.; Voet van Vormizeele, WuW 2010, 1008, 1018 f.; Suchsland/Rossmann, NZKart 2016, 342.

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III. Funktion des Bußgeldrahmens Die umsatzbezogene Bußgeldobergrenze hat der deutsche Gesetzgeber mit der 7. GWB Novelle 2005 ins Kartellrecht eingeführt. Mit Einführung der Regelung wollte der Gesetzgeber eine Angleichung an den europäischen Rechtszustand erreichen.10 Der neue § 81 Abs. 4 GWB (2005) lautete: Wird in diesen Fällen eine Geldbuße gegen ein Unternehmen oder eine Unternehmensvereinigung verhängt, so darf die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung über Satz 1 hinaus 10 vom Hundert seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen. In seinem Grauzement-Beschluss stellte der BGH fest, es könne dahinstehen, ob der Gesetzgeber auch für das deutsche GWB nach dem europäischen Vorbild eine Kappungsgrenze einführen wollte. Denn jedenfalls ergebe eine verfassungskonforme Auslegung, dass § 81 Abs. 4 Satz 2 GWB nicht als Kappungsgrenze, sondern als Obergrenze eines Bußgeldrahmens zu verstehen sei.11 Der BGH begründete die Auffassung letztlich damit, dass die Festlegung einer Unterund Obergrenze des Sanktionsrahmens erst die Fixpunkte für die tatrichterliche Entscheidung im konkreten Einzelfall schaffe. Sie stelle den unverzichtbaren Orientierungsrahmen für die richterliche Abwägung dar. Dieses Erfordernis erfülle eine bloße Kappungsgrenze nicht.12 Daraus lässt sich nur der Schluss ziehen, dass der BGH eine Kappungsgrenze als verfassungswidrig ansehen würde. Grund dafür ist, dass dem Richter ein Orientierungsrahmen gegeben werden muss. Die Richter und die Behörden müssen sich somit an der Bußgeldobergrenze orientieren. Das Problem der auf den Konzernumsatz bezogenen Bußgeldobergrenze besteht jedoch darin, dass sie diese Orientierung schlicht nicht bieten kann.

IV. Probleme der Orientierung am Konzernumsatz 1. Umsatz ist kein taugliches Kriterium Die Anknüpfung an den Konzernumsatz wird damit begründet, dass so bei umsatzstarken Unternehmen eine ausreichend empfindliche Geldsanktion verhängt werden kann. Dieses sei Ausdruck der allgemeinen Gerechtigkeitserwägung, dass das Sanktionsübel die Verantwortlichen in vergleichbarer Weise treffen muss.13 Das Problem ist jedoch, dass der Konzernumsatz kein sachgerechtes Kriterium ist, um die Ahndungsempfindlichkeit festzustellen. Der Umsatz sagt nichts darüber aus, wie profitabel ein Unternehmen ist oder welche Zahlung es noch leisten kann. Aussagekräftiger wäre 10 Regierungsbegründung, Drucksache 15/3604, S. 66 f. 11 BGH v. 26.2.2013 – KRB 20/12, Grauzement, Rz. 55. 12 BGH v. 26.2.2013 – KRB 20/12, Grauzement, Rz. 55 unter Berufung auf BVerfG v. 20.3.2002 – 2 BvR 794/95; ebenso: OLG Düsseldorf v. 26.6.2009 – VI-2a Kart 2 – 6/08. 13 RE-VerSanG, Begründung zu § 9 Abs. 2.

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Der Konzernumsatz taugt nicht zur Bemessung von Unternehmenssanktionen

der Gewinn, der Cashflow oder auch der Unternehmenswert.14 Der Richter ist daher gezwungen, sich bei der Festsetzung der Sanktionshöhe an einem Kriterium zu orientieren, das im Einzelfall nichts über die Ahndungsempfindlichkeit des Verbandes aussagt. Dies führt zu unauflösbaren Widersprüchen. Angenommen ein Handelsunternehmen X erzielte zwar hohe Umsätze von 1,5 Mrd. Euro, aber schon seit Jahren keine nachhaltigen Gewinne. Ein kleines, hochprofitables Unternehmen Y erzielt dagegen eine viel größere Marge und auch deutliche höhere Gewinne als X, aber Umsatzerlöse von nur 250 Mio. Euro. Der gesetzgeberische Grund, weshalb sich der Richter bei einem Verstoß des Unternehmen X an einem sechsmal so hohen Bußgeldrahmen orientieren soll als bei einem identischen Verstoß des Unternehmens Y, ist, dass das Unternehmen X ahndungsunempfindlicher sein soll und daher eine höhere Sanktion notwendig ist, um denselben Effekt zu erzielen. In unserem Beispiel besteht dieser Grund für den höheren Bußgeldrahmen aber offensichtlich nicht. Bei der Bemessung der Sanktion muss die Vorgabe durch die Bußgeldobergrenze, die ja als Orientierung dienen soll, wieder korrigiert werden. Dies mag unter Heranziehung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Verbandes eventuell noch gelingen. Dies wird auch in der Regierungsbegründung vorgeschlagen. Danach kommt der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Verbandes zugleich die Funktion eines Korrektivs zu, wenn das nach dem Konzernumsatz bemessene Höchstmaß der Verbandsgeldsanktion in den Fällen des § 9 Abs. 2 die wirtschaftlichen Verhältnisse des betroffenen Verbands übersteigt.15 2. Konzernumsatz ist erst recht kein taugliches Kriterium Bei Verbänden, die zu einem Konzern gehören, wird diese Korrektur jedoch schwieriger. Verband X und Y sind profitable Unternehmen mit einem Umsatz von 250 Mio. Euro. Verband Y wird aber von keinem Gesellschafter kontrolliert, während Verband X Teil eines Konzerns mit einem Umsatz von 1,5 Mrd. Euro ist. Obwohl X profitabel ist, geht es dem Konzern finanziell schlecht, da die umsatzstarke Handelssparte Verluste verursacht, die von Verband X querfinanziert werden. Auch in diesem zweiten Beispielsfall muss der Richter bei der Bemessung des Bußgeldes für X sich an einem sechsmal höheren Betrag als bei Y orientieren. Auch hier fordert aber die Ahndungsempfindlichkeit nicht für den Verband X ein höheres Bußgeld. Die Frage ist nur, kann der Richter auch hier bei der Bemessung der Höhe der Sanktion dies korrigieren? Als Korrektiv kommt hier wieder das Kriterium der wirtschaftlichen Verhältnisse des Verbandes in Betracht. Stellt man auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Verbandes ab, sind diese in unserem zweiten Beispielsfall bei X und Y zunächst einmal gleich. Der Grund für den sechsmal höheren Orientierungspunkt ist ja gerade allein, dass X zu einem Konzern gehört und Y nicht. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des 14 Stellungnahme des Deutschen Anwaltsvereins zum RE-VerSanG S. 13, der den Gewinn als Beispiel nennt. 15 RE-VerSanG, Begründung zu § 15 Abs. 2.

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Verbandes taugen hier nur als Korrektiv, wenn auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Konzerns berücksichtigt werden können. Nach der Begründung des Regierungsentwurfes sollen die wirtschaftlichen Verhältnisse der Konzernmutter (und Schwestergesellschaften) allerdings nur dann berücksichtigungsfähig sein, wenn eine konzernrechtliche Verlustübernahmepflicht besteht, also namentlich, wenn Beherrschungs- oder Gewinnabführungsverträge bestehen.16 Letztlich wird hier der Richter von dem Gesetzgeber im Regen stehen gelassen. Der Richter muss sich entscheiden, ob er einfach dem Orientierungsmaßstab folgt und für X eine deutlich höhere Sanktion verhängt als gegen Y, oder ob er eine kreative Begründung findet, X und Y gleich zu behandeln. 3. Die Anknüpfung an die Zeit vor Verurteilung macht es nicht besser Relevant ist der durchschnittliche Jahresumsatz vor der Verurteilung und nicht zum Zeitpunkt der Tat. Der BGH hat in seinem Grauzement-Beschluss zum Kartellrecht ausgeführt, dass die Zulässigkeit einer solchen Regelung sich schon aus dem allgemeinen Grundsatz ergebe, dass für die Ahndung die der Entscheidung sachnächsten Zahlen zu Grunde zu legen sind.17 Dieses Argument würde überzeugen, wenn der Konzernumsatz tatsächlich für die Ahndungsempfindlichkeit und die wirtschaftliche Lage des Verbandes die korrekte und alleineige Größe wäre. Da dies aber wie oben ausgeführt gerade nicht der Fall ist, führt das Abstellen auf die Zeit vor Verurteilung zu absurden Ergebnissen. Dies soll anhand eines dritten Beispiels verdeutlicht werden: Wenn die Konzernmutter des Täterverbandes X eine Schwestergesellschaft Y mit einem Umsatz von 250 Mio. Euro verkauft und hierfür einen angemessene Kaufpreis erzielt, den sie zur Begleichung der Schulden nutzt, so hat dieses Nachtatverhalten zur Folge, dass die Sanktionsobergrenze um 25 Mio. Euro sinkt. Da die Sanktionsobergrenze keine Kappungsgrenze ist und sich der Richter an dieser Obergrenze zu orientieren hat, muss dieses zunächst dazu führen, dass die Geldbuße niedriger ausfällt als ohne den Verkauf. An den wirtschaftlichen Verhältnissen der wirtschaftlichen Einheit hat sich durch das Nachtatverhalten der Konzernmutter jedoch nichts geändert – von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täterverbandes ganz zu schweigen. Für den Täterverband hängt somit die Höhe der Geldsanktion davon ab, ob die Konzernmutter nach der Tat Unternehmen kauft (dann geht sie hoch) oder Unternehmen verkauft (dann geht sie runter). 4. Fehlende Vorhersehbarkeit Das Auseinanderfallen von Normadressat (Verband) und Orientierungsmaßstab bei Bemessung der Sanktion (Konzern) führt auch dazu, dass die Höhe der Sanktion für den Verband nicht vorhersehbar ist. Für den Verband ist es bei Begehung der Tat völ16 RE-VerSanG, Begründung zu § 15 Abs. 2. 17 BGH v. 26.2.2013 – KRB 20/12, Grauzement, Rz. 65.

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Der Konzernumsatz taugt nicht zur Bemessung von Unternehmenssanktionen

lig unvorhersehbar, wie hoch der Bußgeldrahmen ist. Denn woher soll der Verband wissen, wie hoch der Konzernumsatz in der Zeit vor der Verurteilung ist? Ein Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft weiß nicht, ob seine Konzernmutter oder Konzernurgroßmutter in Zukunft Unternehmensteile verkaufen oder kaufen wird. Auch bei der Bestimmung von Bußgeldern hat der Gesetzgeber jedoch dem Präzisierungsgebot zu folgen.18 Hierbei muss auf Tatbestands- als auch auf Strafzumessungsebene sowohl für den Täter zum Zeitpunkt der Tat als auch für den Richter zum Zeitpunkt der Strafzumessung ausreichend Klarheit bestehen.19 Ein Bußgeldrahmen, der vom zukünftigen Verhalten eines Dritten (Konzernmutter) abhängig ist, erfüllt diese Voraussetzungen nicht.

V. Zusammenfassung und Ausblick Anhand der Beispiele ist deutlich geworden, dass der Konzernumsatz nicht zur Orientierung bei der Bemessung der Geldbuße taugt. Dies liegt zum einen daran, dass allein der Umsatz kein zuverlässiger Indikator für die wirtschaftlichen Verhältnisse und der Ahndungsempfindlichkeit des Verbandes ist. Zum anderen liegt dies daran, dass nach dem RE-VerSanG grundsätzlich nur der Verband und seine wirtschaftlichen Verhältnisse relevant sind und allein bei der Frage der Sanktionsobergrenze auf die wirtschaftliche Einheit abgestellt wird. Eine Kehrtwende des Gesetzgebers ist leider unrealistisch. Dazu ist die Anknüpfung an den Konzernumsatz mittlerweile in zu vielen Bereichen vom Datenschutz bis zum Versicherungsvertrieb eingeführt worden.20 Eine mögliche Änderung, mit der zumindest die gröbsten Auswüchse des derzeitig angedachten Systems beseitigt werden könnte, wäre, dass nur der Umsatz bei der Berechnung der Sanktionsobergrenze berücksichtigt wird, der von den Gesellschaften erzielt wird, die der Täterverband kontrolliert. Denn nur auf diese Gesellschaften kann der Täterverband Einfluss nehmen und nur diese sollten ihm daher bei der Berechnung der Bußgeldobergrenze zugerechnet werden. Der Einwand, dass mit dieser Beschränkung bei großen Konzernen keine ausreichend hohen Sanktionen verhängt werden könnten, überzeugt nicht. Denn es soll nach der Systematik des RE-VerSanG nicht der Konzern sanktioniert werden, sondern der Verband. Kann der Konzernmutter kein Verstoß über § 3 RE-VerSanG zugrechnet werden, gibt es keinen Grund diese zu ahnden oder abzuschrecken – weder unmittelbar 18 Zur Anwendbarkeit des Art 103 Abs. 2 GG auf Bußgelder: BVerfG v. 11.2.1976 – 2 BvL 2/73; BVerfG v. 30.6.1976 – 2 BvR 435/76; BVerfG v. 1.12.1992 – 1 BvR 88, 576/91; BVerfG v. 15.9.2011 – 1 BvR 519/10. 19 Radtke in BeckOK Grundgesetz, 45. Edition, Stand: 15.11.2020, Art. 103, Rz. 18; Remmert in Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Werkstand: 92. EL, August 2020, Art. 103 Abs. 2 GG, Rz. 53 f., 55 f. 20 Vgl. Art. 83 Abs. 4, 5, 6 Datenschutz-Grundverordnung; Art. 33 Abs. 2 e) i) Richtlinie (EU) 2016/97 über Versicherungsvertrieb; außerdem: Art. 30 Abs. 2 j) Marktmissbrauchsverordnung.

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durch die Verhängung einer Sanktion gegen sie selbst noch mittelbar durch die Verhängung einer Sanktion gegen ihre Tochter. Dem Jubilar würde diese moderate Beschränkung der Sanktionsobergrenze sicherlich nicht ausreichen. Denn seine Kritik beschränkt sich nicht auf den Sanktionsrahmen, sondern ist radikaler: Die Verbandssanktionen treffen im Ergebnis die Anteilseigner und damit die Falschen.

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„Falsche Freunde“ – terminologische Missverständnisse und andere Fußangeln bei Haftungsbegrenzungen in internationalen Anlagenbauverträgen Ralph Busch

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Hinführung zum Thema III. Anwendungsbeispiele 1. Zeitliche Limitierungen – warranty period a) Herleitung des Begriffs b) Rechtliche Einordnung und Gefahren c) Lösungsansätze

2. Consequential damage und die Tücken des Folgeschadensausschlusses a) Relevanz b) Rechtliche Einordnung und Gefahren c) Lösungsansätze 3. Die Erstreckung der Haftungsbegrenzung auf negligence

I. Einleitung Wer gebeten wird, einen Beitrag für eine Festschrift zu schreiben, wird, nachdem die erste Schockstarre gewichen ist, sich unweigerlich die Frage stellen, welches Thema diesem Anlass gerecht werden könnte. Geht es doch um nichts weniger, als ein langes und erfülltes Berufsleben (und nur ein solches rechtfertigt ja eine Festschrift) zu würdigen, das sich nun seinem Ende zuneigt. Dies gilt in besonderem Maße für Alexander Reuter, dem diese Festschrift gewidmet ist. Kann er doch auf vier erfüllte Jahrzehnte – zunächst bei thyssenkrupp und dann in zwei großen Wirtschaftskanzleien – zurückblicken, in denen er nicht nur an vielen bedeutenden Mandaten mitgewirkt hat, sondern auch stets Zeit und Muße gefunden hat, den juristischen Diskurs mit stets geistreichen Veröffentlichungen zu bereichern. Man müsste schon neue Rechtsgebiete, wie das Europäische Wasserleichenrecht, ersinnen, um auch nur einen Bereich nennen zu können, den Alexander Reuter nicht bereichert hat. Einige Themen, die sein Berufsleben geprägt haben, schieden bei der Themenwahl schon aus naheliegenden Gründen aus. Das Gesellschaftsrecht, das Alexander Reuter gleichsam als Konstante in seinem ganzen Berufsleben begleitet hat, mangels eigener Sachkunde des Autors. Andere naheliegende Themen, wie der Nutzwert militärischer Metaphern in der juristischen Arbeit („Herr Busch, bevor wir die Flak einsetzen, sollten wir erst einmal prüfen, ob Flugzeuge am Himmel sind“) oder das Stehpult und die Europäische Menschenrechtskonvention (wer jemals für den Jubilar gearbeitet hat, weiß wovon hier die Rede ist) wären wahrscheinlich nur für eine Minderheit der Leser von Interesse gewesen. Für das vom Jubilar als Verlegenheitslösung für alle Fälle ins Spiel gebrachte Thema, „Die Trocknung von Lacken auf Holz“ konnte wiederum ich mich nicht erwärmen. 71

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Letztlich ist die Wahl dann aber doch leichtgefallen. Als mich mein Berufsweg im Oktober 2002 zu White & Case, der damaligen Wirkungsstätte des Jubilars, führte, war ich zwar kein Berufsanfänger mehr (in den Worten des Jubilars „kein heuriger Hase“), hatte aber bis dato nur wenig berufliche Berührungspunkte mit grenzüberschreitenden Verträgen und der englischen Rechtssprache gehabt. Beides änderte der Jubilar dann innerhalb kürzester Zeit („thrown in at the deep end“, wie man so schön sagt). Er zeigte dabei stets große Geduld und erwies sich als guter Lehrmeister, der alle Feinheiten der englischen Rechtssprache souverän beherrscht. Einen großen Beitrag beim Erwerb dieser Fertigkeiten leistete wohl sein „New Yorker Zimmergenosse“ in der Studienzeit in den USA. Dieser wurde bei allen Zweifelsfragen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zitiert, nein, als quasi höchste Instanz angerufen, deren Verdikte unangreifbar waren. Da die Identität dieses großen Lehrmeisters leider nie offengelegt wurde, wird es ein Manko der nachfolgenden Ausführungen bleiben, dass sie am Ende ohne sein höchstinstanzliches Urteil werden auskommen müssen.

II. Hinführung zum Thema Wer eine fremde Sprache erlernt hat, dürfte schon einmal über sogenannte „falsche Freunde“ gestolpert sein. Dies sind Wörter oder Redewendungen, die vermeintliche Entsprechungen in der eigenen Sprache haben und den Verwender so in die Irre führen. Ein bekanntes Beispiel, das alle zwei Jahre aktuell wird, ist der Begriff „public viewing“, der in Deutschland seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 für das gemeinsame Anschauen von Fußballspielen1 in einer mehr oder weniger großen Menschenmenge steht, während es in den USA die öffentliche Aufbahrung Verstorbener meint. Mit Blick auf die Leistungen der deutschen Nationalmannschaft in jüngster Zeit, könnten sich in diesem Falle die jeweiligen Bedeutungen allerdings einander angenähert haben. Auch bei internationaler Anlagenbauverträge, bei denen Juristen zusammenwirken, die in unterschiedlichen Rechtsordnungen beheimatet sind und sich zumeist der englischen Sprache als kleinstem gemeinsamen Nenner bedienen, ist ein ähnliches Phänomen zu beobachten: Ein im Vertrag verwandter Rechtsbegriff kann in den einzelnen Rechtsordnungen unterschiedliche Bedeutungen oder erst gar keine Entsprechung haben. Es besteht dann die Gefahr, dass er – im Lichte der eigenen, vertrauten Rechtsordnung – falsche Assoziationen erweckt und im Ergebnis unzutreffend interpretiert und verwendet wird. Solche Missverständnisse führen dann leider nicht nur zu Strinrunzeln auf der einen und Beschämung auf der anderen Seite, wie sie der Gebrauch falscher Freunde in der Konversation zuweilen nach sich ziehen, sondern können sich wirtschaftlich als sehr nachteilig erweisen. Denn ist ein Vertrag erst einmal von beiden Parteien unterschrieben, sind Korrekturen regelmäßig nicht mehr möglich oder können meist nur mit Zugeständnissen an anderer Stelle erkauft werden. 1 Ein Hinweis für den Jubilar: Fußball, nicht zu verwechseln mit seinem „falschen Freund“ dem „American Football“, ist ein in Deutschland populärer Sport, bei dem 22 Männer oder Frauen, zumeist ohne juristische Ausbildung, einem Ball hinterherjagen und dabei nicht immer eindeutig erkennbare Ziele verfolgen.

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Bei der Verwendung von englischen Rechtsbegriffen lauern Gefahren dabei aus zwei Richtungen, die man sich stets vor Augen halten muss: – Zum einen ist natürlich, sofern der Vertrag englischem Recht unterliegt, die Auslegung des Begriffs nach diesem Recht maßgeblich. Bei seiner Verwendung sollte man sich daher über die Bedeutung sicher sein. Nicht zuletzt auch deshalb, weil im englischen Recht dem Wortlaut eine größere Bedeutung zukommt als beispielsweise im deutschen Recht, in dem aus Haifischfleisch („Haakjöringsköd“) auch schon mal Walfleisch werden kann, wenn es nur dies war, was die Parteien bei der irrtümlichen Verwendung im Sinn hatten2. – Zum anderen, und das wird häufig übersehen, kann sich auch bei Vereinbarung deutschen Rechts und damit auch deutschrechtlicher Auslegungsregeln die Wortbedeutung nach englischem Recht durchsetzen. Nach den gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 BGB) ist nämlich stets der objektive Empfängerhorizont maßgeblich, mithin wie eine Person in der Lage des Erklärungsempfängers die Erklärung verstehen konnte. Zu den dabei zu berücksichtigenden Umständen kann auch das spezifische Verständnis eines englischen Rechtsbegriffs sein, das vom deutschen Recht abweicht3. Diese Fallstricke sollen nachfolgend anhand zweier Begriffe verdeutlicht werden, die in den Haftungsbegrenzungsklauseln internationalen Anlagenbauverträgen gleichsam Dauergäste sind und die Haftung des Auftragnehmers zeitlich und inhaltlich begrenzen sollen: Die warranty period und consequential damage – wobei es sich im erstgenannten Fall, wie nachfolgend ausgeführt wird, nur scheinbar um einen englischen Rechtsbegriff handelt. Abschließend sollen dann noch die Besonderheiten erörtert werden, die zu beachten sind, wenn Haftungsbegrenzungen auch auf negligence nach englischem Recht erstreckt werden sollen.

III. Anwendungsbeispiele 1. Zeitliche Limitierungen – warranty period In nationalen und internationalen Anlagenbauverträgen ist es üblich und aus Sicht des Auftragnehmers geradezu ein zentrales Anliegen, die Haftung insbesondere für Mängel in zeitlicher Hinsicht zu begrenzen. Solche Verjährungsregeln verfolgen dabei den Zweck, Streitigkeiten der Vertragsparteien zu einem Zeitpunkt zu vermeiden, in dem die Ursache für die Beeinträchtigung des Werks nicht mehr oder nur unter Schwierigkeiten festgestellt werden kann4. Dem Auftragnehmer soll daher nach einer gewissen Zeit die Abwehr unbegründeter Ansprüche erleichtert werden. Hinzu kommt, dass Auftragnehmer sich intern regelmäßig gegen Mangelfolgen versichern, entsprechende Versicherungsschutz aber nur zeitlich begrenzt zur Verfügung steht – im Regelfall für nicht mehr als fünf Jahre nach Gefahrübergang. Eine Haftung für 2 So das legendäre Urteil des RG v. 8.6.1920 – II 549/19, RGZ 99, 147. 3 Vgl. hierzu Maier-Reimer, NJW 2010, 2545 mit diversen Beispielen. 4 Kniffka, Bauvertragsrecht, 3. Aufl. 2018, § 634a Rz. 1.

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sechs oder gar zwölf Jahre ist daher – mit Ausnahme einzelner Anlagenteile – für Auftragnehmer eine geradezu grauenhafte Vorstellung. Eine unbedachte Wortwahl kann aber gerade dieses zur Folge haben. Wer regelmäßig mit internationalen Anlagenbauverträgen befasst ist, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit schon einmal der folgenden oder ähnlichen Regelungen begegnet sein: „The warranty period shall be (a) 12 months from practical completion, or (b) 18 months from last major delivery or warehousing if delivery is delayed for reasons attributable to the Buyer, whichever ends first. The Seller shall remedy, either by repair or replacement, any defect of which it has been notified before the expiry of the warranty period.“

Man tut vielen Lesern, die ihren Hintergrund im deutschen Recht haben, wohl kein Unrecht, wenn man annimmt, dass sie solche Regelungen in dem Sinne verstehen werden, dass sie die Haftung des Auftragnehmers im eingangs erwähnten Sinne zeitlich begrenzen, die „waranty period“ somit als Verjährungsfrist verstehen. Nach deren Ablauf wäre es dem Auftraggeber daher verwehrt, Ansprüche durchzusetzen, soweit diese nicht vor Ablauf der Frist in verjährungsunterbrechender oder hemmender Weise geltend gemacht wurden. Wenn der Vertrag englischem Recht oder einer anderen sog. common law Jurisdiktion unterliegt, wie z.B. der Mehrheit der kanadischen Provinzen, den USA, Südafrika oder Australien, um nur einige Beispiele zu nennen, ergibt sich allerdings ein aus Sicht des Auftragnehmers dramatisch anderes Bild. a) Herleitung des Begriffs Insoweit ist es zunächst hilfreich, den Begriff „warranty period“ etwas näher zu untersuchen. Der Begriff „warranty“ wird im Standardwerk von Treitel zum englischen Vertragsrecht in Anlehnung an den Sale of Goods Act 1979 wie folgt definiert: „A warranty […] is a term ‚the breach of which gives rise to a claim for damages but not to a right … to treat the contract as repudiated.‘“5 Es handelt sich gleichsam um den Gegenbegriff zu einer condition, deren Verletzung unmittelbar ein Kündigungsrecht generiert6. Schon dies lässt erahnen, was die sogenannte warranty period mit einer Verjährungsfrist nach deutschem Recht zu tun hat, nämlich rein gar nichts. Auch in Kombination mit dem Begriff period handelt es nicht um einen englischen Rechtsbegriff, den man in den einschlägigen Rechtswörterbüchern oder auch nur in Verträgen finden würde, an denen ausschließlich englische Juristen mitgewirkt haben. Die vergleichsweise 5 Treitel, The Law of Contract, 15. Aufl. 2020, Rz. 18–043. 6 Ein bekanntes Beispiel für eine condition ist die Formulierung time is of the essence, die in ihrer rechtlichen Wirkung einem absoluten Fixgeschäft nach deutschem Recht nahekommt.

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häufige Verwendung in international Anlagenbauverträgen erinnert daher an das Handy, das ebenfalls nur scheinbar der englischen Sprache entstammt und knüpft an die Erfolgsgeschichte deutscher Begriffe wie „kindergarden“, „blitzkrieg“ oder „schadenfreude“ an. Auch wenn es sich bei der warranty period somit nicht um einen englischen Rechtsbegriff handelt, besteht doch – ohne eindeutige Regelung zur begrifflichen Einordnung – die Gefahr, dass er im gleichen Sinne ausgelegt wird, wie z.B. die Begriffe defects notification period oder defects liability period, die in der englischen Rechtspraxis und in international gängigen Standards wie den FIDIC Büchern verwandt werden. b) Rechtliche Einordnung und Gefahren Die Gefahren, die bei Verwendung dieser Begriffe bestehen, erschließen sich, wenn man sich den rechtlichen Kontext vor Augen führt, in dem diese stehen: Im deutschen Werkvertragsrecht ergeben sich die Rechte des Auftraggebers bei mangelhafter Leistung nach erfolgter Abnahme aus § 634 BGB. Im Zentrum steht dabei der Nacherfüllungsanspruch (§ 634 Nr. 1 BGB). Nicht deshalb, weil er an erster Stelle genannt wird, sondern weil die Geltendmachung der weiter genannten Rechte des Auftraggebers (Selbstvornahme, Rücktritt, Minderung und Schadensersatz) an weitere Voraussetzungen geknüpft werden, während der Nacherfüllungsanspruch, der in § 635 BGB näher ausgestaltet ist, sich unmittelbar aus § 634 Nr. 1 BGB ergibt. Darüber hinaus korrespondiert der Nacherfüllungsanspruch des Auftraggebers mit einem Nacherfüllungsrecht des Auftragnehmers7. Dem Auftragnehmer muss zunächst die Gelegenheit gegeben werden, Mängel selbst zu beseitigen. Erst wenn der Auftragnehmer eine ihm gesetzte Gelegenheit zur Nachbesserung nicht genutzt hat – oder diese in Ausnahmefällen entbehrlich war –, kann der Auftraggeber die weiteren in § 634 BGB genannten Rechte geltend machen. Schadensersatz kann der Besteller dabei nur verlangen, wenn der Auftragnehmer den Mangel nach der allgemeinen Regelung des § 276 BGB zu vertreten hat. Noch weiter eingeschränkt wird der Schadensersatzanspruch in § 13 Abs. 7 VOB/B: Jenseits der schuldhaften Verletzung des Lebens, des Körpers und der Gesundheit (§ 13 Abs. 7 Nr. 1) sowie vorsätzlich oder grob fahrlässig verursachter Mängel (§ 13 Abs. 7 Nr. 2) haftet der Unternehmer nur für Schäden an der baulichen Anlage, wenn ein wesentlicher Mangel vorliegt (§ 13 Abs. 7 Nr. 3 Satz 1) und für darüber hinausgehende Schäden nur, wenn der Mangel auf einem Verstoß gegen die anerkannten Regeln der Technik beruht (lit. a), der Mangel in dem Fehlen einer vertraglich vereinbarten Beschaffenheit besteht (lit. b) oder der Schaden durch die gesetzliche Haftpflichtversicherung gedeckt hat oder hätte decken müssen (lit. c)8. 7 Kniffka, Bauvertragsrecht, 3. Aufl. 2018, § 634 Rz. 3. 8 Durch die Ersetzung der „zugesicherten Eigenschaften“ in § 13 Abs. 7 Nr. 3 lit. b) durch die „vertragliche Beschaffenheit“ wurde die Begrenzungswirkung des § 13 Abs. 7 VOB/NB allerdings weitgehend aufgehoben, vgl. dazu Kniffka, Bauvertragsrecht, 3. Aufl. 2018, § 636 Rz. 131.

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Im englischen Vertragsrecht kehrt sich demgegenüber das Verhältnis zwischen dem Nacherfüllungsanspruch und den anderen Rechten des Auftraggebers um9: Bei einem Mangel handelt es sich um eine nicht vertragsgerechte Erfüllung und somit um einen breach of contract10, der vorrangig zu einem Schadensersatzanspruch führt11. Ein Anspruch auf Nacherfüllung (sog. specific performance12) besteht demgegenüber nur in Ausnahmefällen. Es handelt sich – in Abgrenzung zum common law – um eine equitable remedy. Dies sind Rechtsgrundsätze, die von sog. courts of equity entwickelt wurden, um andernfalls bestehende Härten des common law abzumildern13. Auch wenn die Trennung der Gerichtssysteme schon lange aufgehoben wurde, wirkt der rechtliche Ursprung noch fort. Zum einen gibt es keinen Anspruch auf specific performance; sie wird vielmehr vom Gericht nach eigenem Ermessen zuerkannt, allerdings nach Maßgabe der einschlägigen Präzedenzfälle und damit nicht gänzlich unvorhersehbar14. Zum anderen ist specific performance, wie bereits erörtert, nachrangig gegenüber Schadensersatz und wird nur zuerkannt, wenn Schadensersatz als nicht ausreichend angesehen wird. Hierzu sollen stellvertretend die folgenden Ausführungen aus einem Werk zur Rechtsvergleichung in Europa zitiert werden: „English courts will not usually grant specific performance of other kinds of building contract; apart for anything else damages are treated as providing an adequate remedy. The employer is expected to terminate the contract, get the work put right by another builder and sue the first builder for any extra cost incurred as a result.“15

Um diesen Unwägbarkeiten zu entgehen, ist es in Anlagenbauverträgen üblich, eine Frist zu vereinbaren, in der der Besteller einen vertraglichen Anspruch auf Mängelbeseitigung hat, der mit Ausnahme einer entsprechenden Aufforderung an keine weiteren Voraussetzungen geknüpft ist, die andernfalls für specific performance erfüllt 9 Das französische Recht bewegt sich quasi in der Mitte zwischen dem deutschen und dem englischen Recht, indem es dem Gläubiger ein Wahlrecht zwischen Erfüllung und Schadensersatz einräumt (vgl. hierzu: Ulrich Magnus in: Di Matteo/Janssen/Magnus/Schulze, International Sales Law, 2016, S. 489 Rz. 69). 10 Ulrich Magnus in: Di Matteo/Janssen/Magnus/Schulze, International Sales Law, 2016, S. 488, Rz. 64. 11 Die Kritik an der entsprechenden Doktrin nach US-Recht hat D. Friedman wie folgt treffsicher auf den Punkt gebracht: „[…] the interest of a person who made a payment in order to get a house, a car or even a pizza is to get the house, the car or the pizza. Such a person will be greatly surprised to learn that upon contracting to purchase a house, he acquired an interest in getting his payment back (restitution interest)). In all probability he is likely to protest that this is not what he wanted. Had he preferred the money to the house he would not have made the contract in the first place. He would need a lot of coaching in an American course on contracts to learn that his interest in getting his payment back ranks higher in the hierarchy than his interest in getting the house“ (zitiert nach McKendrick, Contract Law, 7. Aufl. 2016, S. 813). 12 Specific performance meint im englischen Recht „the remedy available in equity to compel a person actually to perform a contractual obligation“, McKendrick, Contract Law, 7. Aufl. 2016, S. 919. 13 Bugg, Contracts in English, 1. Aufl. 2010, S. 11. 14 McKendrick, Contract Law, 7. Aufl. 2016, S. 920. 15 Beale/Fauvarque-Cosson/Rutgers/Vogenauer, Cases, Materials and Text on Contract Law, 3. Aufl. 2019, S. 917.

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sein müssten16. Für diese Frist haben sich die Bezeichnungen „Defects Liability period“, „Defects Notification Period“ und eben auch „Warranty Period“ eingebürgert17. Der Fristablauf führt daher nicht etwa dazu, dass dem Auftraggeber keine Ansprüche mehr wegen Mängeln des Werks zustehen, sondern schließt vielmehr nur den Anspruch des Auftraggebers auf Nacherfüllung aus. Schadensersatzansprüche stehen dem Auftraggeber sehr wohl noch zu und zwar solange, bis diese nach den allgemeinen Regeln verjährt sind. Unabhängig von ihrer Bezeichnung hat die Frist somit keinerlei Relevanz für die Verjährung der Mängelansprüche. Diese richtet sich vielmehr ausschließlich nach der jeweils einschlägigen Gesetzgebung. Im Englischen Recht sind dies vor allem der Limitation Act und der Latent Damage Act 1986. Danach verjähren Ansprüche grundsätzlich binnen sechs Jahren bzw. binnen zwölf Jahren, wenn der Vertrag als sog. deed18 geschlossen wurde19. c) Lösungsansätze Glücklicherweise erlaubt es das englische Recht wie das deutsche Recht, die gesetzliche Verjährungsfrist vertraglich zu verkürzen. Die direkteste und sicherste Lösung aus Sicht des Auftragnehmers ist daher eine ausdrückliche Klarstellung, dass die vertraglich vereinbarte Frist an die Stelle der gesetzlichen Verjährungsfrist tritt und dementsprechend nach deren Ablauf alle Ansprüche des Auftraggebers wegen Mängeln verjähren, sofern diese nicht innerhalb der Frist geltend gemacht wurden. Eine solche Regelung kann wie folgt formuliert werden: The Seller’s liability for defects (whether patent or latent) on whatever legal basis (whether by way of indemnity or warranty or by reason of any breach of contract or of statutory duty or by reason of tort, including negligence, or under common law or equity) shall cease upon the expiry of the warranty period and the Buyer hereby waives any right to take legal action in respect of defects unless and only to the extent the respective defect has been notified in writing to the Seller prior to the expiry of the warranty period and the Buyer has filed the action within sixth months from such date of expiry.

Auftragnehmer, die dieses Thema nicht so explizit ansprechen möchten, können versuchen, die Ansprüche des Auftraggebers auf Schadensersatz über eine sog. sole remedy Klausel auszuschließen, in der die Rechte des Auftraggebers auf solche beschränkt werden, die im Vertrag explizit genannt sind. 16 Bailey, Construction Law, 3. Aufl. 2020, S. 1296 hierzu: „A defects liability period is a creature of contract.“ 17 Zur Terminologie und deren nachrangiger Bedeutung, vgl. Bailey, Construction Law, 3. Aufl. 2020, S. 1296, Fußnote 118. 18 Eine deed, nicht zu verwechseln mit einer notariellen Urkunde, ist ein Vertrag, der anders als ein simple contract bestimmte Formerfordernisse erfüllt, wie insbesondere die Hinzuziehung von Zeugen (witnesses), vgl. im Einzelnen: Bugg, Contracts in English, 1. Aufl. 2010, S. 16. 19 Weitergehende Ausführungen zur Verjährung nach englischem Recht würden den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Interessierte Leser finden solche z.B. bei Bailey, Construction Law, 3. Aufl. S. 2139 ff.

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2. Consequential damage und die Tücken des Folgeschadensausschlusses a) Relevanz Zentraler Bestandteil einer jeden vertraglichen Haftungsbeschränkung ist – jedenfalls aus Sicht des Auftragnehmers – das, was gemeinhin als ein Folgeschadenausschluss bezeichnet wird. Im Mittelpunkt des Interesses steht hierbei insbesondere eine etwaige Haftung des Unternehmers für Gewinn, der dem Auftraggeber aufgrund einer Vertragsverletzung des Auftragnehmers, wie z.B. Verzug oder das Nichterreichen vereinbarter Leistungsparameter, entgeht und vergleichbare Schäden wie Produktionsausfall oder erhöhte Kapitalkosten. Es liegt auf der Hand, dass es hierbei um erhebliche Summen gehen kann. Ein Ausschluss der Haftung ist auch deshalb geboten, weil solche reinen Vermögensschäden regelmäßig von der Betriebshaftpflicht- und Produkthaftpflichtversicherung des Auftragnehmers ausgeschlossen sind und folglich ein zumeist unkalkulierbares Haftungsrisiko darstellen20. Die Formulierung solcher Haftungsbeschränkungen ist in nahezu allen für den Anlagenbau relevanten Rechtsordnungen problematisch21. Häufig werden, auch wegen der zumeist beschränkten Verhandlungsmacht des Auftragnehmers, nicht alle aus dessen Sicht relevanten Schadenspositionen aufgeführt und ausgeschlossen, sondern (zumindest auch) mit Obergriffen, wie „Folgeschaden“, „consequential damage“ oder „indirect damage“ gearbeitet. Dabei wird oft verkannt, dass diese Begriffe in vielen Rechtsordnungen keine juristisch klar umrissene oder eine andere als die ihnen vermeintlich zugeordnete Bedeutung haben. So hat sich unter Praktikern in Deutschland – und im Sachverzeichnis des Standardkommentars zum BGB, dem Palandt – der Begriff des „Mangelfolgeschadens“ gehalten, bei dem früher weiter zwischen dem sogenannten „engen Mangelfolgeschaden“ und dem „entfernten Mangelfolgeschaden“ differenziert wurde, dem aber seit der Schuldrechtsreform keine rechtliche Bedeutung mehr zukommt22. Dem im Einzelnen nachzugehen, würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Nachfolgend sollen daher allein die folgenden Formulierungen, die in internationalen Anlagenbauverträgen häufig anzutreffen sind, aus Sicht des englischen Rechts untersucht werden: „Neither party shall be liable for indirect or consequential damage.“ (Nachfolgend als „Klausel A“ bezeichnet.) „Neither party shall be liable for indirect or consequential damage, including but not limited to loss of profit, loss of product, or loss of contract.“ (Nachfolgend als „Klausel B“ bezeichnet.)

Diese Regelungen sind, wie im Folgende auszuführen sein wird, aus Sicht des Auftragnehmers wenig hilfreich und bleiben in ihrer Schutzwirkung weit hinter dem zurück, was sich ihre Verwender davon versprechen. Wird es doch häufig deren Verständnis 20 Ostendorf/Kluth, RIW 2009, 428. 21 Siehe dazu beispielsweise Ostendorf/Kluth, RIW 2009, 428 und Bock/Zons, Rechtshandbuch Anlagenbau, 2015, S. 371. 22 Vgl. hierzu Kniffka, Bauvertragsrecht, 3. Aufl. 2018, § 631 Rz. 287 f.

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sein, dass es sich bei entgangenem Gewinn und vergleichbare Schadenspositionen genuin um consequential oder indirect damage handelt. Dies trifft, wie der geneigte Leser bereits ahnt, nicht zu. b) Rechtliche Einordnung und Gefahren Nach englischem Recht ist der Geschädigte zwar grundsätzlich berechtigt, so gestellt zu werden, wie er ohne das schädigende Ereignis stünde, dies gilt aber nicht für sog. consequential damage. Im Kern geht es darum, den Ersatz solcher Schäden auszuschließen, die eine zu entfernte Folge der schädigenden Handlungen sind. Die Grenze ist dabei naturgemäß nur schwer zu ziehen, so dass es eine Reihe von Entscheidungen gibt, die auch nicht immer konsistent erscheinen23. Grundlegend ist aber immer noch die Entscheidung in der Sache Hadley vs. Baxendale24. Dieses Urteil stammt zwar aus dem Postkutschenzeitalter ist aber unter Juristen noch ebenso präsent wie das sog. Wembley „Tor“ von 1966 unter Fußballfreunden. Der Kläger, ein Mühlenbetreiber, hatte eine Kurbelwelle zur Reparatur gegeben. Er bediente sich dabei des Beklagten, der die Kurbelwelle zur Werkstatt und wieder zurücktransportieren sollte. Der Beklagte verzögerte vertragswidrig die Rückgabe und verursachte so einen Stillstand der Mühle von fünf Tagen und damit einen kompletten Verdienstausfall für den Kläger. Diesen machte der Kläger – im Ergebnis ohne Erfolg – geltend. Die wegweisenden Ausführungen des Richters sollen hier wörtlich widergegeben werden: „Now we think the proper rule in such a case as the present is this: Where two parties have made a contract which one of them has broken, the damages which the other party ought to receive in respect of such breach of contract should be such as may fairly and reasonably be considered either arising naturally, i.e., according to the usual course of things, from such breach of contract itself, or such as may reasonably be supposed to have been in the contemplation of both parties, at the time they made the contract, as the probable result of the breach of it. Now, if the special circumstances under which the contract was actually made were communicated by the plaintiffs to the defendants, and thus known to both parties, the damages resulting from the breach of such a contract, which they would reasonably contemplate, would be the amount of injury which would ordinarily follow from a breach of contract under these special circumstances so known and communicated. But, on the other hand, if these special circumstances were wholly unknown to the party breaking the contract, he, at the most, could only be supposed to have had in his contemplation the amount of injury which would arise generally, and in the great multitude of cases not affected by any special circumstances, from such a breach of contract. For, had the special circumstances been known, the parties might have specially provided for the breach of contract by special terms as to the damages in that case, and of this advantage it would be very unjust to deprive them.“

Festzuhalten ist somit, dass die Qualifizierung eines Schadens als consequential damage weder von der Art der Vertragsverletzung noch von der Art des Schadens

23 Vgl. zu den Grundsätzen des englischen Schadensersatzrechts bspw. die erschöpfende Darstellung bei Treitel, The Law of Contract, 15. Aufl. 2020, Rz. 20–004 ff. 24 Hadley v. Baxendale (1854) 156 E.R. 145.

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abhängig ist. Entscheidend ist vielmehr allein, ob der jeweilige Schaden zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vernünftigerweise vorhersehbar war. Für die eingangs zitiere Klausel A bedeutet dies, dass die Haftung des Auftragnehmers z.B. für entgangenen Gewinn und Produktionsausfall nur dann ausgeschlossen ist, wenn diese zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vernünftigerweise nicht vorhersehbar war. Auch wenn dies in der Sache Hadley vs. Baxandale für den entgangenen Gewinn des Müllers verneint wurde, dürfte es doch in den meisten hier interessierenden Fällen aus dem Anlagenbau auf der Hand liegen, dass z.B. die verzögerte Fertigstellung einer Anlage oder die Ablieferung einer Anlage, die nicht die vertraglich geforderte Leistung bringt, zu einem Gewinnausfall des Auftraggebers führen wird, der dann folgerichtig als grundsätzlich zu erstattende direct damage zu qualifizieren ist. Wenn, wie häufig, bekannt ist, dass der Besteller für die Errichtung der Anlage Fremdkapital in Anspruch nimmt, z.B. weil der Auftragnehmer an einer ECADeckung mitwirkt, können auch dem Auftraggeber hieraus entstehende finanzielle Nachteile, wie höhere Bereitstellungszinsen für die verlängerte Bauzeit, als direct damage zu qualifizieren sein, obwohl solche Schäden aus Sicht des Auftragnehmers eigentlich unbedingt von der Haftung auszunehmen sind. Klausel B, in der der entgangene Gewinn immerhin ausdrücklich erwähnt wird, führt aus Sicht des Unternehmers zu keinem günstigeren Ergebnis. Das Problem ist hier die Auslegung des Wortes „including“. Dieses ist in der einschlägigen englischen Judikatur zum Teil so verstanden worden, dass entgangener Gewinn nur als Unterfall von consequential damage aufzufassen ist und die Haftung somit nur dann ausgeschlossen ist, wenn der entgangene Gewinn im Einzelfall nach den oben erörterten Grundsätzen auch tatsächlich als consequential damage zu qualifizieren ist, was wie gesehen, häufig nicht der Fall sein wird25. c) Lösungsansätze Zunächst sei erwähnt, dass auch dann, wenn entgangener Gewinn und andere Schadensarten wie Produktionsausfall oder höhere Finanzierungskosten nicht umfänglich von der Haftung ausgenommen wurden, andere in internationalen Anlagenbauverträgen übliche Regelungen, die Haftung des Auftragnehmers mit gleichem oder zumindest ähnlichen Ergebnis beschränken können. Für den Verzug und die Nichterreichung vertraglich zugesicherter Leistungsparameter werden üblicherweise Schadenspauschalen (liquidated damages) vereinbart, die abschließend sind und damit weitergehende Schadensersatzansprüche ausschließen, und zwar unabhängig davon, ob es sich dabei um direct oder consequential damage handelt26. Dies setzt aber voraus, dass diese Vereinbarung auch wirksam ist und den jeweiligen Schaden erfasst. Hinsichtlich des letztgenannten Punktes gilt es aber einen Fallstrick zu meiden, der 25 Siehe hierzu die Beispiele aus der Rechtsprechung in Bock/Zons, Rechtshandbuch Anlagenbau, 2015, S. 373 (Fußnote 44). 26 Vgl. hierzu die gute Darstellung in Bock/Zons, Rechtshandbuch Anlagenbau, 2015, S. 366 ff. sowie aus Sicht von Auftraggebern in Steinberg, Understanding and Negotiating EPC Contracts, 2017, S. 146.

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anhand des folgenden Beispiels aus der Praxis des Autors veranschaulicht werden soll: Ein Vertrag enthält die mit pauschaliertem Schadensersatz belegten Verpflichtung, die Anlage bis zum vereinbarten Fertigstellungsdatum abnahmereif (definiert als practical completion) fertigzustellen und folgende Regelung zur Exklusivität der Verpflichtung zur Zahlung pauschalieren Schadensersatzes: „The Delay Liquidated Damages payable shall be the only damages for delay due from the Contractor for any failure by the Works to achieve Practical Completion by the Scheduled Practical Completion Date and their payment or allowance shall be in full satisfaction of the Contractor’s liability as a result of such delay.“

Der Auftragnehmer erscheint damit ausreichend gegen weitergehende Ansprüche geschützt – jedenfalls solange der Maximalbetrag der Schadenspauschale nicht erreicht ist27. Nach feststehenden Judikatur der englischen Gerichte gilt diese Exklusivität unabhängig von der Ursache der Verzögerung, also nicht nur dann wenn die Verspätung schlicht auf langsame Ausführung zurückzuführen ist, sondern auch dann, wenn die Verzögerung durch einen Vertragsbruch verursacht wurde28. Problematisch wird es aber dann, wenn der Vertrag eine weitere Verpflichtung wie die folgende enthält: „The Contractor shall procure that (subject to the terms of this Contract) the Works are carried out in compliance with the Works Programme.“

Solche Regelungen sind insbesondere dann häufig anzutreffen, wenn der Auftraggeber ein besonderes Interesse an der Einhaltung auch von Zwischenterminen hat, z.B. für die Koordination mit weiteren Unternehmern oder für die Erlangung von Genehmigungen oder Fördergeldern. Die Gefahr für den Auftragnehmer ist, dass ein Verstoß gegen diese Verpflichtung, was insbesondere dann, wenn der Zeitplan, wie häufig bei großen Projekten, dutzende, wenn nicht gar hunderte von Terminen enthält, kaum zu vermeiden sein dürfte, jeweils gesonderte Schadenersatzansprüche des Auftraggebers auslöst. Diese werden dann nicht von der oben zitierten Exklusivitätsregelung erfasst, weil sich diese ja allein auf die Nichteinhaltung des Fertigstellungstermins bezieht. Aus Sicht des Auftragnehmers ist daher sicherzustellen, dass – nur ausgewählte Termine, deren Einhaltung aus Sicht des Auftraggebers zwingend ist, als Vertragstermine definiert werden und – diese jeweils mit pauschaliertem Schadensersatz belegt oder zumindest die Regelung zur Exklusivität auf alle Verzögerungen unter dem Vertrag erstreckt wird. Doch zurück zum eigentlichen Thema. Der sicherste Weg, die hier aufgezeigten Probleme zu vermeiden, ist es, sich nicht auf Oberbegriffe zu verlassen, sondern entweder die Haftung auf solche Schäden zu beschränken, die am Liefergegenstand selbst eintreten oder die Schadenspositionen, für die die Haftung ausgeschlossen werden soll,

27 Dann greift üblicherweise in Kündigungsrecht des Auftraggebers. 28 Vgl. hierzu die Übersicht in Knowles, 200 Contractual Problems and their Solutions, 3. Aufl. 2012, Rz. 8.16 ff.

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ausdrücklich im Vertrag aufzuführen. Eine solche Regelung könnte beispielsweise wir folgt formuliert werden: „Save for the payment or deduction of any delay liquidated damages and performance liquidated damages, the Contractor shall not be liable by way of indemnity or warranty or by reason of any breach of the Contract or of statutory duty or by reason of tort (including negligence) or under common law or equity arising by reason of or in connection with the Contract or the carrying out and the execution of the Works for any loss of profit, loss of income, loss of turnover, loss of use, loss of reputation, loss of production, loss of opportunity, loss of business continuity, loss of contracts or for any financial or economic loss or for any special, penal, contingent or indirect or consequential loss, damage, cost expense or liability whatsoever that may be suffered by the Employer (whether or not the preceding heads of loss set out in this clause are direct or indirect).“

3. Die Erstreckung der Haftungsbegrenzung auf negligence Aufmerksame Leser ohne einschlägige Erfahrungen im englischen Vertragsrecht mögen sich bei den oben aufgeführten Klauselbeispielen über die etwas umständliche Aufzählung der Haftungsgründe gewundert haben, für die Haftungsbeschränkungen jeweils gelten sollen und sich gefragt haben, ob es nicht auch eine etwas generellere Regelung getan hätte, wie z.B. die Formulierungen „on whatever legal basis“ oder „damage howsoever caused“. Diese scheinen nicht nur aus Sicht des juristischen Laien alle Eventualitäten abzudecken. Auch hier lauern aber Tücken des englischen Vertragsrechts, die es zur Vermeidung ungewollter Risiken zu beachten gilt. Worin diese bestehen, soll beispielhaft am Haftungsgrund der negligence (die in etwa der schuldhaften Verletzung von Sorgfaltspflichten im deutschen Recht entspricht)29 dargestellt werden. Der Grund dafür, dass dieser Haftungsgrund regelmäßig in englischen Vertragstexten zu finden ist, findet sich wie so häufig im englischen Recht in der Vergangenheit, diesmal allerdings in der nicht allzu fernen. Bis zum Unfair Contract Terms Act 1977 war es den englischen Gerichten – anders als in Deutschland, wo § 307 BGB den Gerichten ein in der Wirtschaft häufig kritisches weitgehendes Recht einräumt, auch in Verträge zwischen Unternehmen „herein zu regieren“ – verwehrt, Haftungsbegrenzungsklauseln auf ihre Angemessenheit (reasonableness) zu überprüfen. Hierüber konnten sich die Verwender aber nur scheinbar freuen, weil die Gerichte einen anderen Weg gefunden haben: Bei Haftungsbegrenzungsklauseln, die als unangemessen angesehen wurden, wurde entweder bereits deren Einbeziehung in den Vertrag verneint oder die diese äußerst restriktiv ausgelegt, zuweilen auch gegen ihren Wortlaut30. Gegenüber einer direkten Inhaltskontrolle birgt dieser Ansatz ein erhöhtes Risiko für unberechenbare Entscheidungen. Dies mag insbesondere diejenigen Leser überraschen, die schon einmal die international weit verbreitete These gehört haben, dass das englische Recht besonders flexibel sei und im Wesentlichen dem Willen der Parteien folge, wie er im Vertrag manifestiert wurde. 29 Siehe hierzu Bailey, Construction Law, 3. Aufl. 2020, S. 856 Rz. 10.10 und die Definition des Begriffs „negligence“ in Art. 1 des Unfair Contract Terms Act 1977. 30 Vgl. hierzu McKendrick, The Law of Contract, 15. Aufl. 2016, S. 409 ff.

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Missverständnisse in internationalen Anlagebauverträgen

In der Praxis funktioniert das dann so: In der wegweisenden Entscheidung in der Sache Canada Steamship Lines Ltd. v. The King aus dem Jahr 195231 stellte Lord Morton of Henryton folgende Regeln dafür auf, wann die Haftung für negligence auch dann ausgeschlossen ist, wenn diese in der Klausel nicht ausdrücklich genannt ist. Zunächst muss seitens des Gerichts beurteilt werden, ob der Wortlaut weit genug gefasst ist, um negligence zu erfassen, wobei im Zweifelsfall zu Lasten des Verwenders entschieden wird (contra preferentem). Ist dies der Fall, so kommt es entscheidend darauf an, ob die Haftung – unter Außerachtlassung allzu fernliegender Umstände – auch anders als durch negligence begründet werden kann. Wenn dies der Fall ist, soll die Haftungsbeschränkung sich nicht auf negligence erstrecken. Diese Regelung wurde beispielsweise in dem Fall Hollier v. Rambler Motors (AMC) Ltd.32 im Ergebnis zu Lasten des Klauselverwenders angewendet. Der Kläger hatte sein Auto in eine Autowerkstatt gebracht, wo es durch ein vom Beklagten fahrlässig verursachtes Feuer zerstört wurde. Die Beklagte weigerte sich den Schaden zu ersetzen und berief sich dabei auf einen Haftungsausschluss mit folgendem Wortlaut: „The company is not responsible for damage caused by fire to customers’ cars on the premises“. Aus Sicht des Beklagten scheinbar ein Volltreffer hatte er doch Haftung ausdrücklich für die tatsächliche Schadensursache ausgeschlossen. Im Ergebnis wurde dem Beklagten die Berufung auf den Haftungsausschluss aber verwehrt. Das Gericht hatte u.a. argumentiert, dass der Beklagte sich einer klareren Sprache hätte bedienen können – durch die ausdrückliche Nennung von negligence. Auch die oben zitierten Regeln hätten aber zum gleichen Ergebnis geführt, da ohne Weiteres Fälle denkbar sind, in denen ein Feuer nicht auf Fahrlässigkeit beruht. Die vorstehende skizzierte Rechtsprechung ist nicht ohne Kritik geblieben. So wird zum Beispiel angeführt, dass sie sich über die natürliche Auslegung von Regelungen wie „damage howsoever arising“ hinwegsetze, die ohne Weiteres solche Schäden einschließe, die fahrlässig verursacht wurden. Zudem sei die Notwendigkeit einer so engen Auslegung durch die nunmehr zulässige Inhaltskontrolle nach dem Unfair Contract Terms Act 1977 nicht länger gerechtfertigt33. Allen Klauselverwendern kann aber aus Gründen der Vorsicht nur geraten werden, die vereinbarten Haftungsbeschränkungen, wie in den oben aufgeführten Beispielen, ausdrücklich auf negligence zu erstrecken und sich auch im Übrigen nicht auf ihre Intuition zu verlassen.

31 AC 192, 208. 32 2 QB 71, Court of Appeal. 33 Vgl. zur Kritik McKendrick, The Law of Contract, 15. Aufl. 2016, S. 413 ff.

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Haftung ohne Verantwortung: Der Wertungswiderspruch zwischen Verbandssanktionengesetz und Aktionärsstellung im Lichte von Art. 14 Abs. 1 GG Marco Buschmann

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Zum Aktieneigentum im Lichte von Art. 14 GG

III. Wertungswiderspruch zum Verbandssanktionengesetz IV. Resumee

I. Einleitung Am 16.6.2020 verabschiedete die Bundesregierung den Entwurf für ein Gesetz zur Stärkung der Integrität der Wirtschaft.1 Seinen Kern bildete ein Unternehmensstrafrecht. Die Kritik daran war immens.2 Genauso immens war die Uneinigkeit zwischen den Koalitionspartnern, sodass das Gesetzesvorhaben in der 19. Legislaturperiode letztlich auf Eis gelegt wurde. Vorbei ist die Diskussion um ein Unternehmensstrafrecht damit jedoch noch lange nicht. Einen Schwerpunkt der Kritik bildete damals der Widerspruch zur Dogmatik des deutschen Strafrechts.3 Sie rankte sich um den Begriff der Schuld, die sich ausschließlich auf schuldfähige natürliche Personen bezieht. Das Unternehmensstrafrecht dagegen wendet sich an juristische Personen oder gar Gesellschaften ganz ohne Rechtspersönlichkeit. Indes existierte noch ein weiterer Widerspruch. Er betraf die Rolle des Aktionärs. Im Ergebnis haftete er finanziell wie jemand, der für Unrecht Verantwortung trägt. Denn das Unternehmensstrafrecht sollte seinem Entwurf nach ausschließlich finanziell sanktionieren. Das wiederum mindert die Ausschüttungsfähigkeit der Aktiengesellschaft und senkt somit potenziell die Dividende. Das geht zulasten der Aktionäre. Das ist auch kein bloßer Rechtsreflex des Unternehmensstrafrechts. Es setzt intentional auf diese Sanktionswirkung. Denn über die Hauptversammlung sollen die Aktionäre in Sorge um geringere Ausschüttungen Druck in Richtung hoher ComplianceStandards aufbauen. Sie werden wie unternehmerisch agierende Akteure behandelt, die bestimmenden Einfluss auf die Standards der Unternehmensführung ausüben sollen. Zugleich behandelt die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 14 Abs. 1 GG je1 BT.-Drs. 19/23568. 2 Überblick der Stellungnahmen bei: https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfah ren/DE/Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.html;jsessionid=34409AA273A4BF1EA37C6FCC3 F5E8895.2_cid324, zuletzt aufgerufen am 16.11.2020. 3 Für Details: Rostalski, NJW 2020, 2087, 2088 ff.

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Marco Buschmann

denfalls den Minderheitenaktionär wie einen reinen Kapitalanleger ohne realen Einfluss auf den Kurs der Gesellschaft. Der folgende Aufsatz arbeitet diesen Widerspruch heraus. Sollte der Gesetzgeber in der nächsten Legislaturperiode einen neuen Anlauf wagen, sollte er nicht die gleichen Fehler begehen.

II. Zum Aktieneigentum im Lichte von Art. 14 GG Der Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG sichert einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich.4 Dazu gehört auch alles, was man nach den Regeln des Marktes erwerben kann.5 Mithin sind auch Aktien als handelbare Mitgliedschaftsrechte unstreitig von der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG erfasst.6 Eigentum ist nicht gleich Eigentum. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts staffelt das Schutzniveau einer konkreten Eigentumsposition umfangreich nach seinen personalen und sozialen Bezügen. So ergibt sich etwa die begriffliche Differenzierung von wirtschaftlichem und persönlichem Eigentum. Sie wirkt sich auch auf das Schutzniveau aus: Ist die Eigentumsposition Ausdruck der Persönlichkeit des Grundrechtsinhabers, steht sie näher an seiner personalen Würde und ist mithin stärker geschützt.7 Zum persönlichen Eigentum zählen beispielsweise die Früchte eigener Arbeit, selbst geschaffene Kunstwerke, aber auch das eigene Tagebuch. Demgegenüber ist der Abstand von Eigentumspositionen, deren Gegenstand mehr oder weniger bloß der Wertaufbewahrung dient, wie beispielsweise Goldbarren oder andere Anlagegüter, und personaler Würde größer. Ihr Schutzniveau ist mithin niedriger. Worunter fällt nun das Aktieneigentum? Prinzipiell kann es beides sein. Eine unternehmerische Beteiligung kann auch unmittelbare Frucht der eigenen Arbeit und Ausdruck einer persönlichen Vision sein, die sich in der Tätigkeit des betriebenen Unternehmens ausdrückt. Insbesondere eine Aktie einer großen börsennotierten Gesellschaft wird jedoch häufig bloße Finanzanlage sein. Demgemäß ordnete das Bundesverfassungsgericht jedenfalls das Anteilseigentum des Minderheitenaktionärs dem rein anlagebezogenen Eigentumsbegriff zu. Das zeigt sich beispielhaft an seiner sogenannten Squeeze-Out-Rechtsprechung.8 Bei einem Squeeze-Out überträgt die Hauptversammlung einer Aktiengesellschaft auf Verlangen des Hauptaktionärs die Aktien der Minderheitsaktionäre auf den Hauptaktionär gegen Gewährung einer angemessenen Barabfindung (siehe § 327a AktG). Ziel eines Squeeze-Out ist vor allem die Reduzierung von Verwaltungsaufwand und Vermeidung von Anfechtungsklagen durch Minderheitsaktionäre. Das Bundesverfassungs4 BVerfG v. 18.12.1968 – 1 BvR 638/64, 1 BvR 673/64, 1 BvR 200/65, 1 BvR 238/65, 1 BvR 249/65, BVerfGE 24, 367, 389. 5 Gilt jurisdiktionsübergreifend: Buschmann, EuGH und Eigentumsgarantie – Eine Analyse zu Ursprung und Inhalt des Eigentumsrechts der Europäischen Union, 2017, S. 93 ff. 6 BVerfG v. 7.8.1962 – 1 BvL 16/60, BVerfGE 14, 263, 276 f. 7 BVerfG v. 1.3.1979 – 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78, BVerfGE 50, 290, 340. 8 BVerfG v. 30.5.2007 – 1 BvR 390/04, NJW 2007, 3268.

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Wertungswiderspruch zwischen Verbandssanktionengesetz und Aktionärsstellung

gericht sah die §§ 327a ff. AktG dabei als zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG an. So liege die Einschätzung des Gesetzgebers nicht fern, dass „Minderheitsaktionäre verschiedentlich Kleinstbeteiligungen ausnutzen, um den Hauptaktionär bei der Unternehmensführung zu behindern und ihn zu finanziellen Zugeständnissen zu veranlassen“9. Bei einem Squeeze-Out wird der Minderheitenaktionär also nur in der vermögensrechtlichen Komponente der Anlage als bloßer Kapitalanleger geschützt.10 Gleiches gilt beispielsweise bei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen11 sowie Mehrheitsumwandlungen12. Der Schutz des Eigentums beschränkt sich hier auf eine Zeitwertstabilität. Die Finanzanlage Aktie wird durch einen entsprechenden Geldbetrag ersetzt. Der Aktionär ist nicht verantwortlicher Unternehmer, sondern bloßer Anleger. Seine Verantwortung wird derart gering eingeschätzt, dass er – aus seiner Sicht – jederzeit auch gegen seinen Willen aus dem Unternehmen gegen Geld gedrängt werden kann.

III. Wertungswiderspruch zum Verbandssanktionengesetz Im Widerspruch dazu stand das Bild des Minderheitenaktionärs nach dem Verbandssanktionengesetz. Es setzte de facto auf die formale Stellung als Gesellschafter und behandelte ihn, als trüge er volle unternehmerische Verantwortung. Anders ließ es sich nicht erklären, warum ein Minderheitenaktionär die finanzielle Last der Verbandssanktion mittragen muss. Zwar besitzt jeder Aktionär diverse Kontroll- und Informationsrechte. So kann er bei Erfüllung eines entsprechenden Quorums nicht nur eine Hauptversammlung einberufen (§ 122 AktG). Er kann in dieser Hauptversammlung zudem vom Vorstand Auskunft über die Angelegenheiten der Gesellschaft verlangen, soweit sie zur sachgemäßen Beurteilung des Gegenstands der Tagesordnung erforderlich ist (§ 131 AktG). Auch kann der Aktionär Hauptversammlungsbeschlüsse anfechten (§ 243 AktG). Gleichzeitig ernennt er den Aufsichtsrat, welcher für die Überwachung des Vorstands zuständig ist. Darüber hinaus haben die Anteilseigner ein Recht auf Einsichtnahme in das Generalversammlungsprotokoll und auf Bekanntgabe des Geschäfts- und Revisionsberichts. Durch derartige Informations- und Kontrollrechte sollen Anreize gesetzt werden, um in der Hauptverhandlung mit vielen anderen Aktionären gemeinsam für strenge Compliance-Regeln Druck zu machen. Nichtsdestotrotz haben Minderheitsaktionäre de facto kaum Einflussmöglichkeiten. Der Vorstand wird zwar vom Aufsichtsrat überwacht, dessen Mitglieder die Aktionäre bestellen, § 119 Abs. 1 Nr. 1 AktG. Er ist jedoch weisungsunabhängig (§ 76 Abs. 1 AktG) und unterliegt im Ergebnis nur einer indirekten Kontrolle durch die Aktionä9 10 11 12

BVerfG v. 30.5.2007 – 1 BvR 390/04, NJW 2007, 3268, 3270. BVerfG v. 30.5.2007 – 1 BvR 390/04, NJW 2007, 3268, 3270. BGH v. 20.5.1997 – II ZB 9/96, NJW 1997, 2242. BVerfG v. 7.8.1962 – 1 BvL 16/60, NJW 1962, 1667.

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re. Aktionäre können den Aufsichtsorganen weder verordnen, Compliance-Maßnahmen zu ergreifen noch sorgen die Einsichtsrechte für die nötigen internen Informationen. Durch fehlende effektive Stimmverbote kann ein Großaktionär beispielsweise Sonderprüfungen ablehnen. Eine anschließende gerichtliche Sonderprüferbestellung der Minderheitenaktionäre nach § 142 Abs. 2 AktG läuft ins Leere, da dazu Verdachtstatsachen erforderlich sind, die die Sonderprüfung erst ans Licht bringen sollte. An diesem fehlenden Informationszugang ist bislang meist auch die Durchsetzung eines Schadensersatzanspruchs nach § 148 AktG gescheitert. Erfahrungen aus der Anwaltspraxis zeigen, dass „Finanz- und sonstige Gesellschaftsberichte, ad-hoc-Mitteilungen [und] gemäß § 131 AktG in der Hauptversammlung gegebene Auskünfte und Presseberichte“ unzureichend zur Erfüllung dieser prozessualen Anforderungen sind.13 Dennoch wurde der Aktionär nach dem Gesetzentwurf als Eigentümer des Unternehmens finanziell für ein Verhalten in Haftung genommen, das er nicht kontrollieren kann. Dass sich das Verbandssanktionengesetz, anders als ursprünglich geplant, allein auf die finanzielle Sanktion durch die Verbandsgeldsanktion stützte, kam phänomenologisch einer strafrechtlichen Sanktionierung nahe. Mitunter ist der Aktionär, der die finanzielle Last der Verbandssanktion mittragen muss, ein anderer als der Aktionär, der zum Begehungszeitpunkt der Verbandsstraftat Gesellschafter war. Denn jedenfalls Aktien börsennotierter Gesellschaften sind quasi werktäglich liquide veräußerbar. Demgemäß schützt Dummheit weiterhin vor Strafe nicht, doch Anteilsveräußerung sehr wohl. Der Zusammenhang von personaler Verantwortung und finanziellem Risiko würde es zumindest verlangen, dass der durch die finanzielle Sanktion geschädigte Aktionär die Möglichkeit haben müsste, mittels Regressansprüchen gegen die individuell verantwortlichen Organmitglieder vorzugehen. Hierfür müsste wenigstens der Ahndungsteil der Verbandsgeldbuße einen ersatzfähigen Schaden iSd § 93 Abs. 2 AktG darstellen. Derartige Regressansprüche sind allerdings umstritten. Das LAG Düsseldorf verneinte 2015 einen Bußgeldregressanspruch einer GmbH mit der Begründung, dass die Rechtsordnung sich selbst in Widerspruch setze, wenn die Zivilgerichte „die ordnungsrechtliche Entscheidung korrigieren“ würden.14 Die Zivilgerichte könnten nicht das wiedergeben, was sie zuvor wegen individuellen Fehlverhaltens als Sanktion genommen hätten. Diese Entscheidung, die sich in der Sache auf die Aktiengesellschaft übertragen lässt, ist in Teilen der Literatur15 zu Recht auf Kritik gestoßen.

13 Daniel Lochner, Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktion der AfD zur Änderung des Aktiengesetzes – persönliche Vorstandshaftung mit Managergehältern bei pflichtwidrigem Vorverhalten, S. 6. 14 LAG Düsseldorf v. 20.1.2015 – 16 Sa 459/14, CCZ 2015, 185. 15 Bspw. Pant, CCZ 2015, 224.

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Wertungswiderspruch zwischen Verbandssanktionengesetz und Aktionärsstellung

Von einer Korrektur der ordnungsrechtlichen Entscheidung kann dann nicht gesprochen werden, wenn die Auferlegung des Bußgeldes nichtsdestotrotz zu einem Reputationsschaden beim Verband führt und dieser das Prozess- und Insolvenzrisiko des Regressschuldners trägt.16 Bei einer Verbandsgeldbuße handelt es sich zudem um keine höchstpersönliche Strafe. Indiz dafür ist, dass nach höchstrichterlicher Rechtsprechung die Zahlung eines Dritten selbst auf eine Geldstrafe nicht als Begünstigung oder Strafvereitelung angesehen wird.17 Der Verbandssanktionsregress weist vielmehr Parallelen zu den Beraterhaftungsfällen auf.18 Der BGH führte in diesen Fällen aus, dass ein Rückgriff einer Strafe jedenfalls dann zu bejahen sei, „wenn ein Dritter den Täter zu seiner Straftat nicht nur durch einen unverbindlichen Rat oder durch eine unerlaubte Handlung veranlasst hat, sondern durch schuldhafte Verletzung einer vertraglichen Verpflichtung, deren Inhalt dahin ging, den Täter vor der Begehung einer solchen Straftat durch Warnungen oder ähnliche Hinweise zu schützen.“19 Da das Vorstandsmitglied gegenüber der Gesellschaft eine „Legalitäts- und Legalitätskontrollpflicht des Vorstandsmitglieds“20 aufweist, gibt es einen vergleichbaren Rechtsgrund für einen Rückgriff. Von einer Verbandsgeldbuße ging nach dem Verbandssanktionengesetzentwurf eine zweifelhafte Präventionswirkung aus – denn die Verbandsgeldbuße kann gegenüber juristischen Personen, die es „nur auf dem Papier“ gibt, gar nicht präventiv wirken, sondern nur gegenüber den für sie handelnden Personen.21 Ein Sanktionsregress könnte überhaupt erst dann einen präventiven Effekt erzielen, wenn die individuell verantwortlichen Organmitglieder potentiell mit einem Rückgriff rechnen müssen. Gleichzeitig kann die rechtsstaatswidrige Inanspruchnahme der Aktionäre für Fehlverhalten anderer abgeschwächt werden. Dass der Gesetzentwurf sich mit der Möglichkeit eines Verbandssanktionenregresses nicht im Sinne einer abschließenden Klärung auseinandergesetzt hat, zeugt von fehlendem Problembewusstsein.

IV. Resumee Das Verbandssanktionengesetz hätte in seiner vorgelegten Form zu einem verfassungspolitischen Wertungswiderspruch zum grundrechtlichen Schutz des Aktieneigentums geführt. Dieser Fehler darf nicht wiederholt werden. Eine Stärkung der Aktionärsrechte ist gerade in Zeiten von Null- und Negativzinsen angebracht. Denn viele Bürger legen ihr Vermögen nach wie vor auf das Sparbuch oder investieren es 16 Grau/Dust, ZRP 2020, 134, 136. 17 BGH v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, NZG 2014, 1058, 1059. 18 So Hauff, Der Regress von Verbandsgeldbußen im Kapitalgesellschaftsrecht, 2019, S. 117 ff.; Grau/Dust, ZRP 2020, 134, 137 mit Verweis auf BGH v. 31.1.1957 – II ZR 41/56, NJW 1957, 586; BGH v. 14.11.1996 – IX ZR 215/95 (Hamm), NJW 1997, 519; Pant, CCZ 2015, 226, 227. 19 BGH v. 31.1.1957 – II ZR 41/56, NJW 1957, 586, 586. 20 Hauff, Der Regress von Verbandsgeldbußen im Kapitalgesellschaftsrecht, 2019, S. 126. 21 Reuter, BB 2016, 1283, 1291.

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direkt oder mittelbar in festverzinsliche Wertpapiere. Aktien sind hingegen langfristig gesehen die mit Abstand erfolgreichste Anlageklasse. Sie sichern Altersvorsorge und Investitionen für die Privatwirtschaft ab. Dass Deutsche im internationalen Vergleich immer noch zu wenig Vermögen aufbauen, liegt auch an einer fehlenden Aktienkultur. Das Verbandssanktionengesetz hätte diese Aktienkultur nicht gestärkt. Der Aktionär wäre stattdessen zur Zielscheibe eines fehlgeleiteten Anreizsystems aus Unternehmenssanktion und Kollektivschuld geworden. All dies ändert nichts an einer zivilrechtlichen Verantwortlichkeit des Unternehmens. Bei strafrechtsähnlichen Sanktionen darf jedoch auch zukünftig von einer individuellen Ermittlung der Schuld nicht abgewichen werden.

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Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren (eWpG-E) – Sachfiktion versus Wertrecht? – Hans-Georg Heesen

Inhaltsübersicht I. Einführung II. (Vor-)Geschichte und Ziele des Gesetzesentwurfs 1. (Vor-)Geschichte des Gesetzesentwurfs 2. Ziele des Gesetzesentwurfs III. Regelungsinhalte des Gesetzesentwurfs 1. Grundlegende Parameter des Gesetzesentwurfs a) Erfasste Wertpapiere b) Wahlrecht der Begebungsform c) Arten der Wertpapierregister d) Arten der Eintragung

e) Elektronische Wertpapiere als „Sachen“ 2. Darstellung ausgewählter Regelungen des Gesetzesentwurfs a) Entstehung und Rechtsnatur des elektronischen Wertpapiers b) Inhaber und Berechtigter c) Verfügungen d) Gutgläubiger Erwerb IV. Kritische Würdigung des Gesetzesentwurfs

I. Einführung Obwohl der Anlass einer Festschrift wie dieser häufig eine ehrenvoll erreichte Altersetappe im Leben des bzw. der – wie im vorliegenden Fall jung gebliebenen – Jubilars bzw. Jubilarin markiert und ihr deshalb mitunter vorzugsweise der Charakter des Rückblicks innewohnt, wirft der nachstehende Beitrag einen Blick auf die gesetzgeberische Zukunft. Dies im wahrsten Sinne des Wortes, da er sich einem rechtlichen Aspekt eines noch im Status eines Gesetzesprojektes1 befindlichen Gesetzesentwurfs mit dem Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren“ widmet. Der in Rede stehende Gesetzesentwurf wurde zuerst als gemeinsamer Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und des Bundesministeriums der Finanzen am 11.8.2020 der Öffentlichkeit vor-

1 Das bei Beendigung der Arbeiten an diesem Festschriftbeitrag noch im Gesetzgebungsverfahren befindliche Gesetz vom 3.6.2021 wurde zwischenzeitlich im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2021 Teil 1 Nr. 29, ausgegeben zu Bonn am 9.6.2021, verkündet. Gegenüber dem als Referenztext für diesen Festschriftbeitrag dienenden Regierungsentwurf vom Januar 2021 enthält der Gesetzestext erwartungsgemäß wenige Veränderungen und Ergänzungen. Diese wiederum machen aus Sicht des Autoren keine Änderungen an den im Beitrag getroffenen Erläuterungen und grundsätzlichen Aussagen erforderlich. Letztere lassen sich vielmehr eins zu eins auch in Ansehung des verabschiedeten Gesetzes aufrechterhalten.

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gestellt.2 Nach Erhalt diverser Stellungnahmen der vom Gesetzesinhalt betroffenen Verbände und der Finanzindustrie i.w.S. sowie von Beraterseite wurde der Referentenentwurf interministeriell überarbeitet. Am 16.12.2020 erfolgte dann die Veröffentlichung des Gesetzes als Regierungsentwurf, am 1.1.2021 als Drucksache des Bundesrats.3 Warum, so mag der Leser fragen, das „Wagnis“, sich mit einem noch nicht finalisierten Gesetzesprojekt zu beschäftigen? Denn dieses könnte noch diverse Änderungen erfahren und damit unter Umständen in diesem Beitrag gemachte Aussagen obsolet werden lassen oder – schlimmstenfalls – gar nicht das Gesetzgebungsverfahren erfolgreich bis zum Ende durchlaufen. Dem lässt sich entgegnen, dass schon die Änderungen, die aufgrund der verschiedenen Einlassungen und erwähnten Stellungnahmen zum Referentenentwurf vorgenommen wurden, nicht das eher grundsätzlichtheoretische Thema dieses Festschriftbeitrags berührt haben. Zudem besteht seitens der beteiligten Bundesministerien das erklärte Ziel, das entsprechende Gesetz in der laufenden Legislaturperiode, d.h. noch in 2021, vom Gesetzgeber verabschieden zu lassen. Eine Änderung an der dem Thema dieses Festschriftbeitrags zugrundeliegenden dogmatischen Festlegung ist nicht zu erwarten. Denn das allgemeine Interesse, so ist unisono zu lesen, an der Stärkung des Finanzplatzes Deutschlands, dem mit dem baldigen Erlass dieses Gesetz der dringend erforderliche Vorschub geleistet werden soll, ist sehr groß und von erheblichem ökonomischem Gewicht.4 Wieso kam es zu diesem Gesetzesprojekt, was wird mit ihm konkret bezweckt und welche Inhalte hat es? Drei Fragen, auf die im Folgenden in den Abschnitten II. und III. näher eingegangen werden soll. Zum Abschluss dieses Beitrags werden wir uns dann in Abschnitt IV. noch der weiteren Frage kritisch widmen, ob die rechtlich-dogmatische Einordnung und Bezeichnung der zukünftig alternativ zur bisherigen Papierform (auch) in elektronischer Form begebenen Wertpapiere als „Wertpapiere“ zutreffend ist oder nicht doch die Schaffung einer eigenständigen Kategorie von

2 Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und des Bundesministeriums der Finanzen, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren vom 11.8.2020, https://www.bundesfinanzministerium.de/Con tent/DE/Pressemitteilungen/Finanzpolitik/2020/12/2020-12-16-gesetz-zur-einfuehrungvon-elektronischen-wertpapieren.html. 3 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21. 4 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 1; Bankenverband: Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren vom 14.9.2020, S. 22 f., https://ban kenverband.de/themen/stellungnahme-zum-referentenentwurf-eines-gesetzes-zureinfuhrung-von-elektronischen-wertpapieren/; Beitrag der Rechtsanwaltskanzlei honert + partner, 30.9.2020, ENTWURF EINES GESETZES ZUR EINFÜHRUNG VON ELEKTRONISCHEN WERTPAPIEREN, Abschnitt VII. Fazit, https://honert.de/entwurf-eines-geset zes-zur-einfuehrung-von-elektronischen-wertpapieren/; Beitrag der Rechtsanwaltskanzlei Noerr, 17.8.2020, Digitalisierung des Wertpapiers – Referentenentwurf vorgestellt, https:// www.noerr.com/de/newsroom/news/digitalisierung-des-wertpapiers.

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Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren

„Wertrechten sui generis“ der zukünftigen Natur der körperlosen Registereintragung zielführend(er) gewesen, ihr zumindest aber besser gerecht geworden wäre.

II. (Vor-)Geschichte und Ziele des Gesetzesentwurfs 1. (Vor-)Geschichte des Gesetzesentwurfs Kern des Gesetzesentwurfs ist die Schaffung eines völlig neuen Gesetzes über elektronische Wertpapiere („eWpG“). Die Bundesregierung antwortet damit auf das langjährige, immer intensiver werdende Drängen von Unternehmen und Finanzindustrie5, insbesondere bei der Unternehmensfinanzierung die rapide technische Entwicklung zu nutzen und „Wertpapiere“ zuzulassen, die elektronisch und mittels der sog. Blockchain-Technologie6 begeben werden (können). Die Blockchain-Technologie wird hierbei als eine der meistdiskutierten Innovationen der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft empfunden, deren Relevanz die Bundesregierung schon im September 2019 zur Entwicklung und Präsentation einer umfassenden Blockchain-Strategie veranlasst hatte7. Dem vorgegangen war am 7.3.2019 bereits die Veröffentlichung eines vielbeachteten Eckpunktepapiers des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz mit dem Titel „Eckpunkte für die regulatorische Behandlung von elektronischen Wertpapieren und Krypto-Token – Digitale Innovationen ermöglichen – Anlegerschutz gewährleisten –“. Das Eckpunktepapier schattierte den Regelungsumfang des eWpG schon umfänglich vor und postulierte das Ziel, „das Potenzial der BlockchainTechnologie zu erschließen, Missbrauchsmöglichkeiten zu verhindern und die Rolle 5 Der Beitrag der Rechtsanwaltskanzlei SMP vom 18.8.2020 spricht nach Veröffentlichung des Referentenentwurfs von „Der in der Praxis lang herbeigesehnte Referentenentwurf …“, SMP Briefing: Referentenentwurf zur Einführung von elektronischen Wertpapieren – Überblick und erste Bewertung, https://smp.law/DE/Briefing/SMP_Briefing_Elektroni sche_Wertpapiere.php. 6 Zur Begrifflichkeit vgl. „Blockchain-Strategie der Bundesregierung“, Gemeinsames Strategiepapier des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie des Bundesministeriums der Finanzen vom 18.9.2019, S. 3, Fn. 1, Zitat: „Der Begriff Blockchain wird in der vorliegenden Strategie synonym für Distributed-Ledger-Technologien verwendet. Die Bundesregierung versteht unter Distributed-Ledger-Technologien allgemein dezentral geführte informationstechnische Systeme, wie Register oder Kontobücher, bei denen Werte (beispielsweise Währungen oder Informationen) direkt zwischen den Teilnehmern ausgetauscht werden können. Die Verifizierung erfolgt zumeist durch systemweit festgelegte dezentrale Prozesse (Konsensusprotokolle) und nicht durch eine zentrale Instanz. Die Systeme ermöglichen allen Teilnehmern Zugriff auf den Status und auf eine überprüfbare Historie der vorgenommenen Transaktionen, versehen mit einem Zeitstempel. Ein Teilnehmer muss dabei nicht aktiver Teil des Systems (Knoten) sein. Die Besonderheit der Blockchain-Technologie ist, dass die Transaktionen zu Blöcken zusammengefasst und diese miteinander verknüpft werden.“ 7 „Blockchain-Strategie der Bundesregierung“, Gemeinsames Strategiepapier des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie sowie des Bundesministeriums der Finanzen vom 18.9.2019, S. 1.

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der Bundesrepublik als eine der führenden Digitalisierungs- und FinTech-Standorte zu stärken“.8 Mit dem Entwurf zum eWpG hat die Bundesregierung nun rund anderthalb Jahre nach der Ankündigung den entsprechenden Gesetzesentwurf geliefert. Getrieben wurde sie dabei augenscheinlich auch durch die Entwicklung in anderen Industriestaaten. Denn diese ermöglichen bereits die elektronische Begebung von Wertpapieren und sehen teilweise auch Regelungen über Blockchain-Wertpapiere vor. Die Bundesregierung sah und sieht die konkrete Gefahr, dass „die Attraktivität des Finanzplatzes Deutschland verringert werden könnte, wenn es in Deutschland keine entsprechenden Regelungen gibt“.9 Diesem Umstand wird offensichtlich eine sehr hohe Priorität eingeräumt. Denn die Bundesregierung sieht keine Alternative zur Umsetzung des Gesetzesprojekts und möchte aufgrund der bereits vorhandenen Regelungen in anderen EU-Mitgliedstaaten insbesondere nicht auf eine EU-weite Harmonisierung warten.10 2. Ziele des Gesetzesentwurfs Entsprechend zielt der Gesetzesentwurf darauf ab, das deutsche Wertpapierrecht zu modernisieren und hierdurch den Finanzplatz Deutschland zu stärken. Unternehmensfinanzierungen sollen zukünftig auch durch Wertpapiere möglich sein, die elektronisch und ggf. mittels der Blockchain-Technologie begeben werden.11 Hierfür muss aber eine zwingende Vorgabe des deutschen zivilrechtlichen Wertpapierrechts aufgegeben werden: die physische Verkörperung des Rechts in Form einer Urkunde, dem „Wertpapier“ im bisherigen Verständnis. Das ambitionierte Gesetzesprojekt soll neben dem Anlegerschutz zugleich durch „das Schaffen rechtssicherer Rahmenbedingungen und Aufsichtsstrukturen die Integrität, die Transparenz und die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte schützen und verbessern. Ebenso soll durch das Kreieren rechtssicherer Lösungen die Sicherheit von technologischen Neuerungen erhöht werden und die Voraussetzungen für Innovationen im Finanzsektor verbessert werden“.12 Erklärte Intention der Verfasser des Gesetzesentwurfs ist es auch, der Finanzindustrie zu ermöglichen, die Vorteile elektronischer Wertpapiere ohne großen Umstellungsaufwand nutzen zu können. Die neu zu schaffenden Regelungen sollen sich möglichst reibungslos in das bestehende Zivil8 Eckpunkte für die regulatorische Behandlung von elektronischen Wertpapieren und Krypto-Token – Digitale Innovationen ermöglichen – Anlegerschutz gewährleisten –, Gemeinsames Eckpunktepapier des Bundesministeriums der Finanzen und des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz vom 7.3.2019, S. 1. 9 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 1. 10 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 2. 11 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 1, 27. 12 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 1, 27.

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und Aufsichtsrecht einordnen und dabei möglichst technikneutral erfolgen. So soll wohl in Ansehung der zu erwartenden zukünftigen technischen (Weiter-)Entwicklung eine regelungstechnische Kompatibilität und Sicherheit auch für die Zukunft erreicht werden.13 Ob diese hehren Ziele ganz oder auch nur annähernd nach dem entsprechenden gesetzgeberischen Akt in diesem Jahr zukünftig verwirklicht werden, lässt sich derzeit weder ermessen noch absehen, ist aber dem grundsätzlich sowohl von der Finanzwie Fachwelt gleichermaßen sehr positiv aufgenommenen Gesetzesprojekt14 zu wünschen. Mit welchen Regelungsinhalten beabsichtigt der Gesetzesentwurf, die vorgenannten Ziele zu erreichen?

III. Regelungsinhalte des Gesetzesentwurfs 1. Grundlegende Parameter des Gesetzesentwurfs a) Erfasste Wertpapiere Dreh- und Angelpunkt der gesetzlichen Neuregelung ist die Öffnung des deutschen Rechts für elektronische Wertpapiere. Damit wird das derzeitige Erfordernis der zwingenden urkundlichen Verkörperung von Wertpapieren aufgegeben. Zwar kennt das deutsche Recht auch heute bereits dematerialisierte Wertpapiere im Bereich der Wertpapiere des Bundes und der Bundesländer nach dem Bundesschuldenwesengesetz (BSchuWG vom 12.7.2006) bzw. den entsprechenden Ländergesetzen. Diese Regelungen sind aber ausschließlich den sog. Schuldbuchforderungen des Bundes bzw. der Bundesländer vorbehalten. Hierbei handelt es sich um bestimmte, eintragungsfähige Staatsschulden wie z.B. Bundes-/Landesanleihen, Bundes-/Landesobligationen 13 Der Gesetzesentwurf spricht in diesem Zusammenhang von „der weiteren technischen Entwicklung gerecht werden können“. Auch ist vorgesehen, die Einzelheiten der Registerführung sowie der technischen Anforderungen der Regelung durch Rechtsverordnungen zu überlassen, da sich diese als von der Exekutive gesetzte Rechtsnormen schneller an technische Weiterentwicklungen anpassen lassen; vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 27. 14 S. stellvertretend für viele Bankenverband: Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren vom 14.9.2020, S. 2, https:// bankenverband.de/themen/stellungnahme-zum-referentenentwurf-eines-gesetzes-zur-ein fuhrung-von-elektronischen-wertpapieren/; Stellungnahme des Bundesverbands Investment und Asset Management e.V. (BVI) zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren (eWpG) vom 14.9.2020, S. 1, https://www. bvi.de/fileadmin/user_upload/200914_BVI_Stellungnahme_eWpG.pdf; Ausarbeitung der Rechtsanwaltskanzlei Mayer/Brown (Autoren: Dr. Berthold Kusserow und Dr. Patrick Scholl) unter dem Titel „Fragen und Antworten zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren“ aus September 2020, S. 1, https://www.mayer brown.com/de/perspectives-events/publications/2020/09/fragen-und-antworten-zum-ent wurf-eines-gesetzes-zur-einfuhrung-von-elektronischen-wertpapieren.

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und Bundes-/Landesschatzanweisungen, die am Börsenhandel teilnehmen können. Dieser enge Anwendungsbereich wird nunmehr aufgegeben. Zu einer vollständigen, alle Arten von (handelbaren) Wertpapieren erfassenden elektronischen Öffnung haben sich die Verfasser des Gesetzesentwurfs jedoch (noch?) nicht durchringen können. So soll die Regelung zunächst nur auf Inhaber-Schuldverschreibungen (§ 1 Anwendungsbereich eWpG-E) sowie teilweise auf Inhaber-Anteilscheine15 beschränkt bleiben. Die Öffnung für weitere Inhaberpapiere, insbesondere elektronische Aktien, soll zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.16 Ein Bedürfnis des Finanzmarkts nach Einbeziehung auch von Order- oder Rektapapieren sei derzeit – so die Einschätzung der Verfasser des Gesetzesentwurfs –, auch in Ansehung der Nutzung der Blockchain-Technologie, nicht ersichtlich.17 b) Wahlrecht der Begebungsform Auch an anderer markanter Stelle bricht der Gesetzesentwurf nicht abrupt und vollständig mit vertraut Bestehendem, sondern wandelt auf einem eher evolutionären Regelungspfad18: Es erfolgt keine Festlegung auf eine einzige, künftig nur noch aus15 Während der Referentenentwurf noch eine Beschränkung ausschließlich auf Inhaberschuldverschreibungen vorgesehen hatte, erfasst der Regierungsentwurf nunmehr teilweise auch ausdrücklich Inhaber-Anteilsscheine, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 27. Hier hat offensichtlich die zwischenzeitliche Stellungnahme des Bundesverbands Investment und Asset Management e.V. (BVI) gefruchtet, die bei Beibehaltung von papierhaften Fondsanteilsscheinen auf den großen Wettbewerbs- und Innovationsnachteil der deutschen Fondswirtschaft, die 23 Prozent des EU-Fondsmarktes ausmacht, hingewiesen hatte, vgl. Stellungnahme des Bundesverbands Investment und Asset Management e.V. (BVI) zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren (eWpG) vom 14.9.2020, S. 1 f., https://www.bvi.de/fileadmin/user_upload/200914_BVI_Stellungnah me_eWpG.pdf. Die Einbeziehung von Fondsanteilsscheinen befürwortet auch mit ausführlicher Begründung der Bankenverband: Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren vom 14.9.2020, S. 22 f., https://bankenverband.de/themen/stellungnahme-zum-referentenentwurf-eines-gesetzeszur-einfuhrung-von-elektronischen-wertpapieren/. 16 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 27. Ausdrücklich erwähnt der Gesetzesentwurf die Regulierung von elektronischen Aktien, die einem nächsten gesetzgeberischen Schritt vorbehalten bleiben soll. Zur Begründung für diese Zurückhaltung verweist er auf die erheblichen gesellschaftsrechtlichen Auswirkungen einer solchen Regelung. Die im Unterschied hierzu vorzunehmenden verweistechnisch ausgestatteten Änderungen des Kapitalanlagegesetzbuchs (KAGB) erschien angesichts der nur vermögens- und nicht gesellschaftsrechtlichen Beteiligung von Inhabern von Fondsanteilsscheinen am jeweiligen Sondervermögen offensichtlich kurzfristig und minimalinvasiv umsetzbar, vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 38. 17 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 41. 18 Der Beitrag der Rechtsanwaltskanzlei KING&WOOD MALLESONS vom 10.9.2020 spricht in der Gesamtbewertung von „nicht ganz so revolutionär, wie es auf den ersten

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schließlich mögliche Begebungsart von Wertpapieren (vorliegend: Inhaberpapiere) in elektronischer Form. Vielmehr soll auch zukünftig für die Emittenten ein Wahlrecht bestehen, Wertpapiere mittels Urkunde oder auf elektronischem Wege zu emittieren. Sogar eine einmal getroffene Entscheidung für die eine oder andere Begebungsart und deren faktischer Vollzug sind bei Einhaltung bestimmter Bedingungen wieder vollständig umkehrbar (vgl. § 6 Verhältnis zu Wertpapierurkunden, Abs. 2 eWpG-E). c) Arten der Wertpapierregister Das elektronische Wertpapier entbehrt naturgemäß der bisher zur Begebung eines herkömmlichen Wertpapiers notwendigen Wertpapier-Urkunde. Seine Begebung erfährt das elektronische Wertpapier vielmehr durch Eintragung in einem elektronischen Wertpapierregister. Hierbei entscheidet sich der Gesetzgeber für zwei verschiedene Arten von Registern: Einmal und wohl als grundsätzliche Lösung soll es zentrale elektronische Wertpapierregister geben, die von einer zugelassenen Wertpapiersammelbank oder ggf. einer Depotbank geführt werden. Zum zweiten soll bei unter Nutzung der Blockchain-Technologie oder vergleichbarer Technologien emittierten elektronischen Wertpapieren eine Eintragung auf einem dezentralen Kryptowertpapierregister möglich sein (s. § 2 Elektronisches Wertpapier, Abs. 1, und § 4 Begriffsbestimmungen, Abs. 1 eWpG-E).19 d) Arten der Eintragung § 8 Sammeleintragung; Einzeleintragung eWpG-E sieht die beiden grundlegenden Formen der Inhaberschaft vor. So können bei Emissionen elektronischer Wertpapiere in den zentralen Wertpapierregistern wie den dezentralen Kryptowertpapierregistern sowohl Einzel- als auch Sammeleintragungen vorgenommen werden. Bei Sammelverwahrung20, wohl dem Regelfall, werden bis zur Höhe des Nennbetrages einer jeweiBlick erscheinen mag“, Referentenentwurf zur Einführung elektronischer Wertpapiere, Abschnitt: Ein kleiner Schritt oder eine neue Welt? (Beides), https://www.kwm.com/de/ de/knowledge/insights/securities-electronic-form-germany-elektronische-wertpapiere20200910. 19 Da insbesondere Kryptowertpapierregister faktisch und regelungstechnisch Neuland bedeuten, werden hierbei aus Gründen des Anlegerschutzes, der Marktintegrität und der Sicherstellung eines funktionierenden und transparenten Marktaustausches die Stellen, die ein dezentrales Kryptowertpapierregister führen, unter die Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gestellt. Hierzu wird die Kryptowertpapier-Registerführung als Finanzdienstleistung ausgestaltet; vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 27. 20 § 9 Sondervorschrift für Sammeleintragungen eWpG-E stellt in Ansehung von Sammeleintragungen konsequenterweise und in Einklang mit den Regelungen im BSchuWG mit Hilfe zweier gesetzlicher Fiktionen klar, dass elektronische Wertpapiere in Sammeleintragung als Wertpapiersammelbestand und die Berechtigten der eingetragenen inhaltsgleichen Rechte als Miteigentümer nach Bruchteilen an dem eingetragenen elektronischen Wertpapier gelten. So schreitet der Gesetzesentwurf auch hier wieder auf altbewährten

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ligen Emission eine Wertpapiersammelbank oder ein Verwahrer, bei einer Einzeleintragung die natürliche oder juristisch Person, die das elektronische Wertpapier für sich selbst hält, als Inhaber eingetragen. e) Elektronische Wertpapiere als „Sachen“ Inhaber verbriefter Wertpapiere genießen unter geltendem Recht einen umfassenden Schutz. Um die Berechtigten elektronischer Wertpapiere in Genuss des gleichen Schutzumfangs kommen zu lassen, sieht der Gesetzesentwurf vor, dass elektronische Wertpapiere als Sachen im Sinne des § 90 des Bürgerlichen Gesetzbuches gelten (§ 2 Elektronisches Wertpapier, Abs. 3 eWpG-E). So wird ein umfassender Eigentumsschutz sichergestellt, insbesondere in Fällen von Insolvenz und Zwangsvollstreckung. 2. Darstellung ausgewählter Regelungen des Gesetzesentwurfs a) Entstehung und Rechtsnatur des elektronischen Wertpapiers Nachdem der Gesetzesentwurf in § 1 Anwendungsbereich eWpG-E, wie unter Abschnitt III 1. a) bereits behandelt, den Geltungsbereich des Gesetzes in einem ersten gesetzgeberischen Schritt auf Schuldverschreibungen auf den Inhaber beschränkt hat, folgt in § 2 Elektronisches Wertpapier eWpG-E das namensgebende, gesetzgeberische Kernstück: Die Ermöglichung der Begebung eines Wertpapiers als elektronisches Wertpapier durch Eintragung in ein elektronisches Wertpapierregister, wobei die Registereintragung an die Stelle der Ausstellung einer Wertpapierurkunde tritt. Demgegenüber wird „Wertpapier“ und seine Entstehung herkömmlich als Verbindung eines „Wertes“, d.h. eines Vermögensrechts (z.B. einer Forderung) mit einem „Papier“, d.h. einer Urkunde, verstanden. Die Forderung wird zur Urkunde verbrieft und so gemeinsam mit ihr zu einer Einheit, dem Wertpapier. Als Folge dieses Aktes treffen die Grundsätze des Schuldrechts (§§ 398 ff. BGB), denen die Forderung eigentlich unterliegt, auf die sachenrechtliche Regelungen der §§ 854 ff., 929 ff. BGB, da die neu geschaffene Urkunde als Papier und damit körperlicher Gegenstand „Sache“ i.S. des § 90 BGB ist.21 Nach der für die rechtssystematische Herleitung der Entstehung von Wertpapieren vorherrschenden modifizierten Vertragstheorie entstehen das herkömmliche, d.h. Pfaden und gelangt zur Anwendung von sachenrechtlichen Grundsätzen (hier: die Übertragung von Anteilen am Sammelbestand geschieht zwischen Berechtigten durch Geheißerwerb nach § 929 BGB durch Umstellung des Besitzmittlungswillens auf die Wertpapiersammelbank bzw. den Verwahrer; vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 52 f. 21 S. zu den vorstehenden Definitionen und Erläuterungen: Brox/Henssler, Handelsrecht, 22. Aufl. 2018, Rz. 502.

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mittels Urkunde begebene Wertpapier und das resultierende, da in ihm verbriefte Vermögensrecht durch 1. Einigung des Wertpapieremittenten mit dem Wertpapierinhaber, dem sog. „Begebungsvertrag“, und 2. dem sog. „Skripturakt“, d.h. der Erstellung der Wertpapierurkunde.22 Zugrunde liegen wird dieser Begebung eine schuldrechtliche Vereinbarung zwischen dem Emittenten und ersten Wertpapiernehmer (z.B. Kaufvertrag, Zeichnungsvertrag, Übernahmevertrag). In dieser verpflichtet sich der Emittent zur Ausgabe und der erste Nehmer zur Übernahme des Wertpapiers. Üblicherweise enthält die Vereinbarung die wirtschaftlichen Parameter der Einigung und sämtliche erforderlichen rechtlichen Regelungen zur papierenen Emission.23 Bei der durch das Gesetzesprojekt neu geschaffenen, rein elektronischen Realität greifen jedoch zumindest prima facie die vorstehenden Begrifflichkeiten und die hergebrachte rechtliche, an die physische Existenz einer Wertpapierurkunde anknüpfende Dogmatik nicht mehr. Mit der Entscheidung, die Möglichkeit zu schaffen, auch rein elektronische, registerbasierte „Wertpapiere“ zu begeben, traf den Gesetzgeber deshalb auch gleichzeitig die Pflicht, diese neue Rechtswirklichkeit in die Nomenklatura und Systematik des herkömmlichen Wertpapierrechts zu integrieren oder aber alternativ eine neue rechtsdogmatisch schlüssige und umfassende neue Systematik zu schaffen. Der Gesetzesentwurf beschreitet den ersteren Weg und stellt mit großem sprachlichem und argumentativem Aufwand in seiner Begründung (Besonderer Teil) zu § 2 Elektronisches Wertpapier eWpG-E von Anfang an klar, was er nicht beabsichtigt: Der Gesetzestext soll weder eine originäre Definition der Entstehung von elektronischen Wertpapieren darstellen noch normative Festlegungen zu den Theorien über die Begebung von Wertpapieren treffen. Eine Begebungstheorie „sui generis“ für elektronische Wertpapiere will der Gesetzesentwurf explizit vermeiden. Ebenso will er keine neue Bezeichnung wie z.B. „Wertrecht“ einführen. Stattdessen soll es auch für die elektronischen und damit papierlosen Registereintragungen bei der historisch gewachsenen Bezeichnung „Wertpapier“ bleiben. Denn es ist keine Erweiterung des sog. „numerus clausus“ der Wertpapiere gewollt, allein eine Erweiterung der nutzbaren Formen.24 Folglich stellt er das elektronische Wertpapier dem mittels Urkunde begebenen Wertpapier gleichberechtigt und – so werden wir gleich sehen – dogmatisch 22 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 39; s. für eine sehr kurze Darstellung der verschiedenen Theorien den Link beim lexeakt.de Rechtslexikon: http://www.lexexakt.de/index.php/glossar/wertpa pierrechtstheorien.php. 23 Ausarbeitung der Rechtsanwaltskanzlei Mayer/Brown (Autoren: Dr. Berthold Kusserow und Dr. Patrick Scholl) unter dem Titel „Fragen und Antworten zum Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren“ aus September 2020, S. 5, https:// www.mayerbrown.com/de/perspectives-events/publications/2020/09/fragen-und-antwor ten-zum-entwurf-eines-gesetzes-zur-einfuhrung-von-elektronischen-wertpapieren. 24 Vgl. zum Vorstehenden: Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 39.

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unterschiedslos an die Seite. Der Gesetzgeber schafft einzig eine Unterscheidung beim elektronischen Wertpapier, in dem er zwei Unterformen25 normiert: Je nach Eintragung in das betreffende Register unterscheidet er zwischen Zentralregisterwertpapier und Kryptowertpapier (vgl. § 4 Begriffsbestimmungen, Abs. 2 und 3 eWpG-E). Um den vollständigen Verzicht auf die Schaffung eines neuen dogmatischen Konzepts zu manifestieren und etwaigen Missverständnissen vorzubeugen26, enthält § 2 Elektronisches Wertpapier, Abs. 2 eWpG-E die explizite Klarstellung, dass ein elektronisches Wertpapier dieselbe Rechtswirkung wie ein mittels Urkunde begebenes entfaltet, „soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt“. Im Folgenden werden wir aber sehen, dass die andere Begebungsform beim elektronischen Wertpapier – auch und gerade nach Ansicht der Verfasser des Gesetzesentwurfs – solche „andere Bestimmungen“ im Gesetz an vielen entscheidenden Stellen erforderlich macht. Denn die Begebungsform in Form der Registereintragung stellt im Vergleich zur Schaffung einer Wertpapierurkunde einen völlig anderen Skripturakt dar (zu den Voraussetzungen der Registereintragung s. sogleich). Die elektronische Skriptur ändert das Bezugsobjekt.27 Während das papierene Wertpapier aufgrund seiner physischen Existenz als Sache wahrgenommen und verstanden wird, ist dies bei einer elektronischen Registereintragung nicht der Fall. Die sprichwörtliche Verkörperung des Vermögensrechts im Papier, d.h. die Verdinglichung, findet ja gerade nicht statt. Folglich musste in Bezug auf und quasi als Ausgleich für diesen evidenten Mangel an Physis eine gesetzliche Fiktion geschaffen werden, um sich auch weiterhin auf altbewährten rechtlichen Pfaden bewegen zu können: Entsprechend erklärt, wie bereits gesehen, § 2 Elektronisches Wertpapier, Abs. 3 eWpG-E das elektronische Wertpapier zur Sache i.S. des § 90 BGB. Mit Hilfe dieser sachenrechtlichen Fiktion wird der gewünschte Gleichlauf mit den herkömmlichen mittels Urkunde begebenen Wertpapieren erreicht. So sollen alle dinglichen Rechtswirkungen auch bei elektronischen Wertpapieren gelten. Zuvorderst weist der Regierungsentwurf in seiner Begründung hierzu auf die Rechtsfolgen im Insolvenzfall und auf das Vertrauen des Rechtsverkehrs auf die bewährten dinglichen Rechtswirkungen, die bei mittels Urkunde begebenen Wertpapieren vorherrschen.28 Aber auch die Begebung gestaltet sich bei einem elektronischen Wertpapier auf eine eigene Art. Wie beim mittels Urkunde begebenen Wertpapier ist eine Einigung zwischen dem Emittenten und dem zukünftigen Inhaber (Begebungsvertrag) erforderlich. Die Einigung bezieht sich auf die Begebung der näher spezifizierten elektronischen Wertpapiere und – anstelle der Ausgabe und Übergabe der Wertpapier25 Entwurf eines Gesetzes Drucksache 8/21, S. 39. 26 Entwurf eines Gesetzes Drucksache 8/21, S. 40. 27 Entwurf eines Gesetzes Drucksache 8/21, S. 40. 28 Entwurf eines Gesetzes Drucksache 8/21, S. 40.

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zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat

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urkunde wie bei herkömmlichen Wertpapieren – auf die Eintragung im spezifischen Wertpapierregister (Skripturakt). Da die Eintragung den Entstehungsakt des elektronischen Wertpapiers markiert, sind gemäß § 4 Begriffsbestimmungen, Abs. 4 eWpG-E entsprechend der Wichtigkeit drei kumulative Voraussetzungen an ihre rechtliche Wirksamkeit geknüpft:29 1. Aufnahme des Wertpapiers in ein elektronisches Wertpapierregister Je nach gewählter Registerart müssen die gesetzlich erforderlichen Registerangaben erfolgen (vgl. § 13 Registerangaben in zentralen Registern eWpG-E bzw. § 17 Registerangaben im Kryptowertpapierregister eWpG-E). Der Registerinhalt stellt einen bedeutenden Schritt bei der Erschaffung des elektronischen Wertpapiers dar. Die in das jeweilige Register aufzunehmenden Angaben enthalten u.a. den wesentlichen Inhalt des Rechts einschließlich einer eindeutigen Wertpapierkennnummer, das Emissionsvolumen, den Nennbetrag, eine Kennzeichnung (ob Einzeloder Sammeleintragung) sowie den Inhaber und – bei Einzeleintragungen – etwaige Verfügungshindernisse und Rechte Dritter. Die individuelle Wertpapierkennnummer dient hierbei der sachenrechtlichen Bestimmbarkeit des elektronischen Wertpapiers; sie ermöglicht die Identifizierung im Rechtsverkehr. Mit der Eintragung wird das elektronische Wertpapier wie eine Wertpapierurkunde für den beteiligten Rechtsverkehr jederzeit visuell unmittelbar wahrnehmbar und unterscheidbar. 2. Niederlegung der Emissionsbedingungen Hierbei handelt es sich um die eigentliche (elektronische) Verkörperung des Rechts.30 Als weiterer Bestandteil der Skriptur wird mit der Niederlegung die Bestimmbarkeit des Inhalts des elektronischen Wertpapiers sichergestellt. Die Niederlegung selbst ist in § 5 Niederlegung eWpG-E geregelt. In der Legaldefinition in Abs. 1 heißt es „… die Emissionsbedingungen bei der registerführenden Stelle als beständiges elektronisches Dokument jedermann zur beliebig wiederholbaren unmittelbaren Kenntnisnahme zugänglich zu machen (Niederlegung)“. 3. Bezugnahme auf die Emissionsbedingungen Die Bezugnahme auf die bei der registerführenden Stelle niedergelegten Emissionsbedingungen leistet die typische und erforderliche Beweisfunktion des Wertpapiers. Denn sie stellt sicher, dass das im Register eingetragene elektronische Wertpapier jederzeit aus dem Register heraus zum Beweis des eingetragenen Rechtsverhältnisses im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist.31 Die zugrunde

29 Janert, Kapitalmarktrecht.online, Das elektronische Wertpapier – die kleine Revolution des deutschen Kapitalmarktrechts, Stand: 20.8.2020, https://www.kapitalmarktrecht.on line/2020/08/20/das-elektronische-wertpapier-die-kleine-revolution-des-deutschen-kapital marktrechts/. 30 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 43. 31 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 43 f.

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liegende elektronische Verknüpfung muss, so die Erwartungshaltung, „leicht … von jedermann erkannt, nachverfolgt und gelesen werden können“.32 b) Inhaber und Berechtigter Der Gesetzesentwurf selbst bezeichnet im Begründungsteil die Skriptur des elektronischen Wertpapiers als „eine feststehende Abfolge elektronischer Sequenzen“, als „einen Zustand“.33 Trotz dieses Mangels an Körperlichkeit wird, wie bereits beschrieben, vorliegend ja aber gerade die Sacheigenschaft von elektronischen Wertpapieren gesetzlich festgelegt. Damit geht dann zwangsläufig die Erforderlichkeit einer sachenrechtlichen Übereignung vom Aussteller auf den ersten Inhaber des elektronischen Wertpapiers als Teil des Begebungsvertrages einher. Für mittels Urkunde begebener Wertpapiere erfolgt diese durch Übertragung des unmittelbaren Besitzes am körperlichen Gegenstand. Die sich hierbei am gegenständlichen Wertpapier manifestierende sichtbare Sachherrschaft ist eine für den Verkehrsschutz unerlässliche Voraussetzung. Sie erzeugt die so imminent wichtige Publizitätsfunktion der Inhaberschaft am Wertpapier.34 Im Unterschied hierzu erzeugt die gesetzliche Fiktion der Sacheigenschaft beim elektronischen Wertpapier diese Publizitätsfunktion allein noch nicht. Der Gesetzesentwurf sieht deshalb in § 3 Inhaber und Berechtigter Abs. 1 eWpG-E vor, dass derjenige Inhaber eines elektronischen Wertpapiers ist, der als Inhaber eines elektronischen Wertpapiers oder eines Anteils an einer Gesamtemission in einem Wertpapierregister eingetragen ist. Die durch die Eintragung dokumentierte Inhaberschaft erfüllt in Ansehung der elektronischen Wertpapiere die Rolle des Besitzes, den der Inhaber bei mittels Urkunde begebenen Wertpapieren innehat. Hieran knüpft sich die formale Legitimation. Selbst wenn Inhaberschaft und Berechtigung auseinanderfallen können (zu Verfügungen/Übertragungen und gutgläubigem Erwerb s. sogleich Abschnitte III. 2. c) und d)), ordnet das Register die Inhaberschaft der eingetragenen Person eindeutig zu.35 Dies ist unabhängig davon, ob der Eingetragene von der Eintragung weiß, berechtigt ist oder tatsächlich über das elektronische Wertpapier verfügen kann. Der Gesetzesentwurf konstatiert deshalb selbst in seiner Begründung, dass sich der Inhaberbegriff bei elektronischen Wertpapieren von dem bei herkömmlichen, mittels Urkunde begebener Wertpapiere unterscheidet.36 32 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 44. 33 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 40. 34 So gilt für den Besitzer einer Wertpapierurkunde die Eigentumsvermutung des § 1006 BGB, Sprau in Palandt, 21. Aufl. 2020, § 793 BGB Rz. 10. 35 Entsprechend sieht der Gesetzesentwurf in § 27 Eigentumsvermutung eWpG-E für den Inhaber eines elektronischen Wertpapiers, d.h. die eingetragene Person, vor, dass er Eigentümer des Wertpapiers ist. 36 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 41.

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So regelt § 3 Inhaber und Berechtigter, Abs. 2 eWpG-E dann auch, dass Berechtigter im Sinne dieses Gesetzes ist, wer das Recht aus einem Wertpapier innehat, d.h., wer unabhängig von der Eintragung die Inhaberschaft des im Wertpapier verkörperten Rechtes innehat. c) Verfügungen Der Gesetzesentwurf widmet sich in den §§ 24–27 ausschließlich Verfügungen von elektronischen Wertpapieren in Einzeleintragung. Sammeleingetragene elektronische Wertpapiere unterfallen nach § 9 Sondervorschriften für Sammeleintragungen eWpG-E den sachenrechtlichen Regelungen über den Wertpapiersammelbestand und bedürfen aussagegemäß keiner weiteren eigenständigen Regelung. Bei den einzeleingetragenen elektronischen Wertpapieren sieht der Gesetzesentwurf dagegen erneut Bedarf an „Sonderregelungen, die auf den Verfügungstatbeständen des allgemeinen Zivilrechts aufbauen und diese ergänzen“37. Hierbei ist der Gesetzesentwurf sehr darauf bedacht, die Möglichkeiten eines elektronischen Registers und damit zuvorderst seine Transparenz über den gesamten Lebenszyklus eines elektronischen Wertpapiers rechtlich und tatsächlich nutzbar zu machen – und dies in absoluter Striktheit: § 24 Verfügungstransparenz eWpG wohnt der Grundsatz inne, dass es außerhalb des Registers keine Verfügung gibt. So sind vorbehaltlich sonstiger gesetzlicher Anforderungen jedwede denkbaren Formen einer Verfügung 1. über ein elektronisches Wertpapier, 2. über ein Recht aus einem elektronischen Wertpapier oder über ein Recht an einem solchen Recht oder 3. über ein Recht an einem elektronischen Wertpapier oder über ein Recht an einem solchen Recht nur wirksam, wenn eine Ein- oder Umtragung im elektronischen Wertpapierregister stattgefunden hat. Im Umkehrschluss ist jedwede Verfügung, die nicht im Register eingetragen ist, unwirksam. So wird die Rechtswirklichkeit mit der im Register publizierten Realität in strikte Übereinstimmung gebracht.38 Wo das Sachenrecht bei Verfügungen die Übergabe der Urkunde verlangt, ersetzt die Umtragung die Übergabe. Wo es dagegen wie bei einer Rechteabtretung gemäß § 398 BGB zur Wirksamkeit der Verfügung nicht auf die Übergabe der Urkunde ankommt, greift § 24 eWpG-E und ergänzt zukünftig das Wertpapierrecht bei elektronischen Wertpapieren um die Wirksamkeitsvoraussetzung einer Registereintragung. Ganz in diesem Sinne regelt § 25 Übereignung Abs. 1 eWpG-E die dingliche Übertragung des Eigentums an einem elektronischen Wertpapier: Neben der Einigkeit über den Eigentumsübergang zwischen den beiden Kontrahenten des Wertpapiergeschäfts 37 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 71. 38 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 71.

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bedarf es zur Eigentumsübertragung der Umtragung im Register auf den Erwerber.39 Der zweite Absatz des Paragraphen regelt dann noch die sogenannte Transportfunktion, die bei Inhaberpapieren in der Rechtslehre allgemein angenommen wird40: Das Recht aus dem Wertpapier wird mit der Übereignung des elektronischen Wertpapiers (die sich in der Umtragung manifestiert) übertragen, d.h. die Übereignung „transportiert“ das Recht aus dem Papier.41 d) Gutgläubiger Erwerb Auch bei der für die Sicherheit und die Funktionsfähigkeit des Rechtsverkehrs so wichtigen Frage nach der Ausgestaltung eines gutgläubigen Erwerbs knüpft der Gesetzesentwurf konsequenterweise an die Publizitätswirkung der elektronischen Wertpapierregister an. Diese genießen öffentlichen Glauben, der auch in nachvollziehbarer Weise aufgrund der hohen gesetzlichen Anforderungen an die Register und ihre Betreiber sachlich gerechtfertigt erscheint.42 § 26 Gutgläubiger Erwerb eWpG-E normiert – wiederum in Form einer gesetzlichen Fiktion – die Richtigkeit und Vollständigkeit des Wertpapierregisters sowie die materielle Rechtsinhaberschaft des eingetragenen Veräußerers. In Einklang mit den Vorschriften § 932 Abs. 2 BGB und § 16 Abs. 3, Satz 3 GmbHG schließen allerdings Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von der Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Registerinhalts die Gutglaubenswirkung zu Recht aus.

IV. Kritische Würdigung des Gesetzesentwurfs In Einklang mit der – wie eingangs bereits beschrieben – durchgängig positiven Rezeption des Gesetzesentwurfs in der Finanzwirtschaft i.w.S. und in Beraterkreisen kann man wohl mit Fug und Recht behaupten, dass der Gesetzgeber im Begriff steht, einen wichtigen und sinnhaften Schritt nach vorn zu machen. Das vorgeschlagene, registerbasierte Konstrukt elektronischer Wertpapiere ist zukunftsgerichtet, da technikneutral und damit in einer sich beständig auch auf technischem Gebiet weiter entwickelnden Finanzlandschaft klugerweise offen gestaltet. Mit der Entscheidung, die Regelung der vielen Details für die Registerführung und die technischen Anforderungen auf Ebene von Rechtsverordnungen erfolgen zu las39 Andere Formen der Verfügungen über das Wertpapier werden von § 25 eWpG-E nicht erfasst, sind aber nicht ausgeschlossen. Die Abtretung von Rechten aus dem Wertpapier, z.B. der Zinsanspruch, gemäß § 398 BGB bleibt weiter möglich; vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 71 f. 40 Sprau in Palandt, 21. Aufl. 2020, Einf. v. § 793 BGB Rz. 3. 41 Dies geschieht aber nicht aus dem Verständnis einer notwendigen eigenständigen Regelung oder zur Ergänzung, sondern ausschließlich zur Klarstellung, vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 73. 42 So die Einschätzung im Gesetzesentwurf, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 73.

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sen, sorgt der Gesetzgeber auch für das normative Rüstzeug, die erforderliche Flexibilität und Geschwindigkeit bei zukünftig erforderlich werdenden Anpassungen an die technische Entwicklung darstellen zu können.43 Trotz in anderen Industriestaaten bereits existierender, auf die Dematerialisierung von Wertpapieren gerichteter Regelungen dürfte das Gesetz, sofern noch in der laufenden Legislaturperiode vom Gesetzgeber verabschiedet, wohl auch so ausreichend zeitig seine Wirkung entfalten können, dass der Finanzplatz Deutschland zukünftig der zunehmend härter werdenden internationalen Konkurrenz effizienter und in modernerem Gewand begegnen wird. Aber nicht nur die Öffnung für technische Innovationen, sondern auch die ganz praktische Ersparnis durch den Verzicht auf Wertpapierurkunden und ihre kostenträchtige Schaffung sowie physische Verwahrung über ihren gesamten Lebenszyklus ist von beträchtlicher ökonomischer Bedeutung. Denn die Verwahrung der seit 1972 durch das „Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Verwahrung und Anschaffung von Wertpapieren“ rechtlich verankerte44 und im Wirtschaftsverkehr allgemein für eine Wertpapieremission üblich gewordene globale Sammelurkunde45 bei einem zentralen Wertpapierverwahrer46 entfällt zukünftig ersatzlos, sofern sich Emittenten für elektronische Wertpapiere entscheiden. Obsolet werden in Ansehung sämtlicher Wertpapierurkunden somit auch Druck, Ausfertigung, Ein- und Auslieferung, Ersetzung, Vernichtung usw., mithin sämtliche in Zusammenhang mit herkömmlichen Wertpapieren erforderlich werdenden physischen Handlungen. Um welches immenses Einsparungspotenzial es sich hierbei handeln dürfte, wird klar, wenn man sich vor Augen führt, dass laut einer Information der Deutschen Börse AG im November 2020 noch immer über 25 Millionen Wertpapiere in den Tresoren der Clearstream AG verwahrt wurden. Und das enorme Tempo, mit dem sich eine elektronische Erfassung von Wertpapieren Bahn bricht, wird deutlich, wenn man sich zusätzlich vor Augen führt, dass im Jahr 2001 noch achtmal so viele Wertpapiere verwahrt werden mussten.47 Die kurze Analyse des Gesetzesentwurfs im Rahmen dieses Beitrags kommt in Übereinstimmung mit dem Tenor der zahlreichen Beiträge und Stellungnahmen aus der Finanzwirtschaft und Beraterkreisen ebenfalls zu dem Schluss, dass der Gesetzesentwurf mit dem gewählten Ansatz einer Sachfiktion in sich rechtsdogmatisch schlüssig 43 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 27 unten. 44 Scherer/Martin in Scherer, 2012, § 9a DepotG Rz. 2. 45 Definiert gemäß § 9 a Abs. 1 DepotG als „ein Wertpapier, das mehrere Rechte verbrieft, die jedes für sich in vertretbaren Wertpapieren einer und derselben Art verbrieft sein könnten (Sammelurkunde)“. 46 Als Wertpapiersammelbank und Zentralverwahrerin fungiert in Deutschland die Deutsche Clearstream Banking AG, eine Tochter der Deutsche Börse AG. 47 Beitrag auf der Website der Deutsche Börse AG vom 10.11.2020 mit dem Titel: Wie wir Vermögenswerte sicher verwahren: von der physischen zur digitalen Verwahrung, https:// www.deutsche-boerse.com/dbg-de/produkte-services/insights-200-jahre-wp/Wie-wirVerm-genswerte-sicher-verwahren-von-der-physischen-zur-digitalen-Verwahrung-231 0078.

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ist und in praxi funktionieren und viele der an ihn gerichteten Erwartungen erfüllen dürfte.48 Dennoch bleibt ein grundlegender Kritikpunkt. Denn der Gesetzesentwurf ist rechtsdogmatisch eben leider kein „großer Wurf“, sondern wandelt auf altbekannten sachenrechtlichen Pfaden, die dort, wo sie klarerweise nach herkömmlichem Verständnis nicht beschritten werden könnten, mit Hilfe von Fiktionen doch begehbar gemacht werden: Ein mittels Urkunde begebenes Wertpapier, das in seiner Körperlichkeit visuell und haptisch eindeutig wahrgenommen und damit auch begrifflich zweifelsfrei als „Sache“ qualifiziert werden kann, unterscheidet sich grundlegend von der dematerialisierten und vom Gesetzesentwurf als „elektronisches Wertpapier“ bezeichneten, neu geschaffenen (Rechts-)Wirklichkeit. Hier wird nach Ansicht des Verfassers unnötigerweise eine begriffliche und sprachliche Nähe zum herkömmlichen Wertpapier begründet, die unnatürlich und künstlich wirkt49 und gegen die Begriffslogik der deutschen Sprache verstößt.50 Es liegt der Verdacht nahe, dass mit diesem durch dieselbe Bezeichnung erzeugten sprachlichen Gleichlauf der Weg zum Kunstgriff der Sachfiktion geebnet werden und weniger fremd wirken soll. Hier hätten sich die Verfasser des Gesetzesentwurfs einen Gefallen getan, den manifesten Unterschied im Erscheinungsbild auch durch eine neue Begrifflichkeit wie z.B. „Wertrecht“ zum Ausdruck zu bringen. Denn mit einer solchen neuen Bezeichnung wäre nicht per se ein „Recht sui generis“ geschaffen worden, wie die Verfasser in der Gesetzesentwurfsbegründung befürchten.51 Die in diesem Beitrag beschriebene Vielzahl von an diversen rechtlich entscheidenden Stellen verwandten Rechtsfiktionen zeugt vielmehr davon, dass bereits mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf nicht unerheblich lenkend angesichts der neuen körperlosen Realität eingegriffen werden muss, um die gewünschten rechtlichen (und wirtschaftlichen) Ergebnisse zu erzielen. Hätte es da nicht angesichts der neuen Technik dem Gesetzgeber besser zu Gesicht gestanden, auch ein völlig neues rechtliches Konzept vorzustellen, das ohne Fiktionen auskommt, aber ebenso umfassend, begriffsschlüssig und passgenau alle gewünschten Rechtsfolgen nachvollziehbar normiert?52 Mit der Registereintragung, ihrer Pu48 S. stellvertretend: Bankenverband: Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren vom 14.9.2020, S. 2 f, https://bankenver band.de/themen/stellungnahme-zum-referentenentwurf-eines-gesetzes-zur-einfuhrungvon-elektronischen-wertpapieren/. 49 So auch Claudia Otto (COT Legal), Der Referentenentwurf zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, 22.9.2020, S. 4 f., https://cot.legal/der-referentenentwurf-zur-einfuh rung-von-elektronischen-wertpapieren. 50 Die in diesem Zusammenhang im Gesetzesentwurf gegebenen Erklärungen, dass es sich nur um eine „Erweiterung der nutzbaren Formen“ von Wertpapieren handele und sich nur der Skripturakt unterscheide, vermögen nicht zu überzeugen; so: Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 38. 51 Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 39. 52 So hat bspw. der spanische Gesetzgeber den Weg der Einführung von „Wertrechten“ bereits im Jahr 1988 mit der Schaffung der „Ley del Mercado de Valores“ (zu Deutsch: „Gesetz über den Effektenmarkt“), der schweizerische Gesetzgeber im Jahr 2008 mit dem

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blizität und dem ihr verliehenen öffentlichen Glauben rekurriert der Gesetzesentwurf ja bereits auf den entscheidenden und sicherlich als dogmatischer Nukleolus einer eigenständigen, schlüssigen neuen Wertrechtsdoktrin verwendbaren Ansatzpunkt.53 Mit Blick auf die vielen betroffenen Regelungswerke54 hätte ein solcher Schritt sicherlich einen sehr großen Einzelnormierungs- und Gesetzesänderungsaufwand mit sich gebracht. Angesichts der bereits seit mehreren Jahrzehnten auf diesem Gebiet immer stärker und schneller um sich greifenden und Fakten schaffenden Technisierung war und ist es jedoch die wohlverstandene Aufgabe des Gesetzgebers, rechtzeitig auf diese Entwicklungen und Herausforderungen zu reagieren. Ausreichend Zeit für diese Pionier- und Fleißaufgabe wäre sicher gewesen. Der Gesetzesentwurf leistet sie auf diesem Gebiet leider nur begrenzt. Hier wäre ein Mehr an gesetzgeberischem Reformeifer sicherlich wünschenswert gewesen. Die sich im Gesetzesentwurf an vielen Stellen manifestierende, freiwillige Selbstbeschränkung und das Festhalten an Altbewährtem hinterlässt daher beim Verfasser bei allen positiven Aspekten des Gesetzesentwurfs das Gefühl, dass eine gute Gelegenheit vergeben wurde, dem technischen Fortschritt auch ein eigenständiges rechtliches Konzept an die Seite zu stellen. Der Gesetzesentwurf weist in seiner Begründung allerdings mehrfach darauf hin, dass er weder Diskussionen beenden noch einer umfassenden Reform vorgreifen möchte, sondern letztere für durchaus möglich hält55. Das gibt Hoffnung, dass der gesetzgeberische Weg noch andauert und nicht zu Ende ist.

„Bundesgesetz über die Bucheffekten“ erfolgreich beschritten, ohne über Fiktionen auf das jeweilige Sachenrecht zurückzugreifen. Zu Reformüberlegungen in Deutschland s. Scherer/Martin in Scherer, 2012, Vor § 1 DepotG Rz. 9 mit weiteren Nachweisen. 53 Dem Gesetzesentwurf gebührt daher auch Anerkennung dafür, dass die seit Einführung der Effektensammelverwahrung bemühte Rechtsfortbildung zukünftig obsolet wird: Diese fußt auf der sachenrechtlichen Lehre von Bruchteilsmiteigentum an den Wertpapiersammelurkunden, das den Inhabern durch die Zentralverwahrer und Depotbanken gemittelt wird, obwohl die Urkunden für die Dauer ihrer Gültigkeit unbewegt in Tresoren liegen und allein die Buchungen (Bestands- und Transaktionsvermerke) in den Verwahrbüchern der Banken den im Rechtsverkehr ausschlaggebenden Rechtsschein erzeugen (s. hierzu ausführliche Darstellung in Scherer/Martin in Scherer, 2012, § 5 DepotG Rz. 82). 54 Der vorliegende Gesetzesentwurf erfordert bereits die Änderung der BörsenzulassungsVerordnung, des Wertpapierprospektgesetzes, des Depotgesetzes, des Schuldverschreibungsgesetzes, des Kreditwesengesetzes, der Prüfungsberichtsverordnung, des Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetzes, der Verordnung über die Erhebung von Gebühren und die Umlegung nach dem Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz, des Kapitalanlagegesetzbuches und des Pfandbriefgesetzes. 55 Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von elektronischen Wertpapieren, Bundesrat Drucksache 8/21, S. 40.

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Grüner Stahl: Offshore-Windenergie und Wasserstoff als Wegbereiter Thoralf Herbold / Julia Huth

Inhaltsübersicht I. Offshore-Windenergie 1. WindSeeG 2017 a) Inbetriebnahme vor dem 31.12.2020 b) Inbetriebnahme vor dem 31.12.2025 c) Inbetriebnahme ab dem 1.1.2026 2. WindSeeG 2020 a) Flexiblere Ausschreibungsmengen b) Verändertes Ausschreibesystem aa) Anzulegender Wert bb) Zweite Gebotskomponente cc) Losverfahren c) Prüfung der rechtzeitigen Netzanbindung d) Anpassung der Realisierungsfristen e) Kostenerstattung für Untersuchungen

f) Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts II. Wasserstoff 1. Erstmalig Regelungen im WindSeeG 2020 a) Ausschreibung von sonstigen Energiegewinnungsbereichen b) Flächenausweisung 2. Pilotprojekt H2Mare III. Der Weg zum „grünen“ Stahl 1. Wasserstoff in der Stahlindustrie 2. Pilotprojekte IV. Fazit

Deutschland hat seit 1990 seinen Treibhausgasausstoß um 35,7 Prozent verringert.1 Doch das langfristige Ziel ist die Treibhausgasneutralität. Schon durch Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens hat sich Deutschland verpflichtet, die Erderwärmung deutlich unter 2 Grad zu halten und möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen.2 Auch die Europäische Union erkennt den Handlungsbedarf. Mit dem Green Deal legt sie fest: Bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 sinken. Spätestens 2050 soll Europa der erste klimaneutrale Kontinent sein.3 Grundlage für die Erreichung dieser Ziele ist, dass der Ausstoß von Kohlenstoffdioxid reduziert wird. Gerade im Bereich der Schwerindustrie – wie bei der Produktion von Stahl – entsteht viel CO2. Langfristig soll die Stahlindustrie deswegen „grüner“ werden. In diesem Beitrag beleuchten wir, welches Potenzial Windenergie auf See einerseits und Wasserstoff andererseits bieten, um die Klimaziele zu erreichen. Dabei zeigen wir auf, welchem regulatorischen Rahmen die Produktion von Offshore-Windenergie unterliegt und thematisieren die zum 10.12.2020 in Kraft getretene Änderung des Windenergie-auf-See-Gesetzes (WindSeeG). Mit dieser Geset1 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/bundesregierung-klimapoli tik-1637146, abgerufen am 14.1.2021. 2 https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Artikel/Industrie/klimaschutz-abkommen-von-paris. html, abgerufen am 14.1.2021. 3 Der europäische Grüne Deal, COM(2019) 640 final, S. 5.

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zesnovelle setzt der Gesetzgeber auch erste Impulse für die Produktion von Wasserstoff auf hoher See. Diese Aspekte greifen wir auf und stellen dar, weswegen die Produktion von nachhaltigem Wasserstoff gleichzeitig Grundlage für eine nachhaltige Stahlproduktion sein kann. Noch kann man sich schwer vorstellen, dass die Schwerindustrie emissionsfrei wird. Doch schon heute gibt es erste Pilotprojekte in der Stahlindustrie, die wir für wegweisend erachten. Und so bleibt die Hoffnung, dass Stahl irgendwann nicht mehr grau, sondern grün ist.

I. Offshore-Windenergie Ein wichtiger Baustein für eine erfolgreiche Klimawende ist die Windenergie auf See. Aus diesem Grund hält die Europäische Kommission einen weiteren Ausbau der Offshore-Windindustrie zur Erreichung der Klimaziele für notwendig.4 Sie schätzt, dass zur Erreichung ihrer Ziele bis 2030 eine Offshore-Windenergieleistung von 60 GW installiert werden muss. Bis 2050 strebt sie in der EU sogar eine installierte Leistung von 300 GW an.5 Auch auf nationaler Ebene hat Deutschland erkannt, dass Offshore-Windenergie ein zentraler Baustein ist, um die Klimaziele zu erreichen und die Energiewende voranzutreiben. Schon jetzt nimmt Deutschland im internationalen Vergleich eine Vorreiterposition ein. Zwar ist Großbritannien im Bereich der Windenergie auf See mit einer installierten Gesamtkapazität von rund 10.000 MW im europäischen Raum führend.6 Aber Deutschland belegt mit rund 7.660 MW installierter Leistung immerhin den zweiten Platz.7 Dennoch begann die Erfolgsgeschichte der deutschen Offshore-Branche klein: 2010 wurde der erste Offshore-Windpark „alpha ventus“ mit 12 Windenergieanlagen und einer installierten Leistung von insgesamt 60 MW an das Netz angeschlossen. Er liefert durchschnittlich Strom für etwa 57.000 Haushalte.8 Inzwischen ist die Technologie deutlich ausgereifter. So produziert der 2019 in Betrieb genommene Windpark „Borkum Riffgrund 2“ mit einer installierten Leistung von 450 MW bereits Strom für 460.000 Haushalte.9 Mit den neueren Anlagen lässt sich ein hoher Ausnutzungsgrad der Nennleistung erreichen und die Technologiekosten sinken stetig. Außerdem weisen Nord- und Ostsee gute Standortbedingungen auf. Vor allem aber genießen

4 Strategie zur Nutzung des Potenzials der erneuerbaren Offshore-Energie für eine klimaneutrale Zukunft vor allem eine Expansion der Offshore-Industrie, COM(2020) 741 final, S. 1. 5 Strategie zur Nutzung des Potenzials der erneuerbaren Offshore-Energie für eine klimaneutrale Zukunft vor allem eine Expansion der Offshore-Industrie, COM(2020) 741 final, S. 5. 6 https://www.offshore-windindustrie.de/windparks/europa, abgerufen am 13.1.2021. 7 https://www.offshore-windindustrie.de/windparks/deutschland, abgerufen am 13.1.2021. 8 https://www.alpha-ventus.de/fileadmin/Dateien/publikationen/av_Factsheet_de_2020.pdf, abgerufen am 13.1.2021. 9 https://orsted.de/presse-media/news/2019/05/orsted-borkum-riffgrund-2-betrieb, abgerufen am 13.1.2021.

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Windenergieanlagen auf See – anders als an Land – eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz.10 Um diese Vorteile für die Erreichung der Klimaziele zu nutzen, hat die Bundesregierung sich im Klimaschutzprogramm 2030 vorgenommen, die installierte Leistung von Windenergieanlagen auf See bis 2030 auf 20 GW auszubauen.11 Zur Umsetzung dieses ambitionierten Ausbauziels haben der Bund, die Küstenländer sowie die Übertragungsnetzbetreiber eine Vereinbarung geschlossen, in der sie verschiedene Maßnahmen vorsehen, die die internationale Führungsposition Deutschlands in der Windindustrie sichern und den Ausbau vorantreiben sollen.12 Ein zentraler Punkt ist die Ausweisung zusätzlicher Flächen auf See, um weitere Offshore-Windparks in der Nord- und Ostsee zu realisieren. Außerdem soll die Übertragungsleistung erhöht werden. Dafür soll zum einen die neue 525-kV-Technologie zum Einsatz kommen. Dabei handelt es sich um ein einzelnes Kabelsystem, das die doppelte Leistung im Vergleich zum üblichen Kabelsystem transportieren kann. Zum anderen sollen konkrete Zeitpläne festgelegt werden, um bis 2030 insgesamt 14 neue Offshore-Anbindungsleitungen in Betrieb zu nehmen. Erforderlich war aber nach Ansicht aller Beteiligten auch, dass das WindSeeG geändert wird. Nur so könne der Bund verlässliche und unterstützende Rahmenbedingungen schaffen.13 1. WindSeeG 2017 Das erste WindSeeG trat mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) am 1.1.2017 in Kraft. Darin wurde der rechtliche Rahmen für Offshore-Windparks neu gestaltet und in einem separaten Gesetz für die Zukunft umfassend geregelt.14 Das neue Gesetz zielte darauf ab, die installierte Leistung von Windenergieanlagen auf See auf insgesamt 15 GW bis zum Jahr 2030 zu steigern. Der Gesetzgeber legte außerdem fest, dass die Höhe der Förderung von Offshore-Windenergieanlagen in wettbewerblichen Ausschreibungen ermittelt werden soll. Darüber hinaus umfasste das WindSeeG Regelungen zur Flächenplanung und Raumordnung, Anlagengenehmigung, Vergütung und Netzanbindung. a) Inbetriebnahme vor dem 31.12.2020 Windenergieanlagen auf See, die bis Ende 2020 in Betrieb genommen wurden, waren nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 WindSeeG 2017 nicht vom Anwendungsbereich des Gesetzes umfasst. Für solche Offshore-Projekte, die zwischen dem 1.1.2017 und dem 10 Mehr Strom vom Meer, Vereinbarung zwischen dem Bund, den Küstenländern und den Übertragungsnetzbetreibern v. 11.5.2020, S. 1. 11 Klimaschutzprogramm 2030 der Bundesregierung zur Umsetzung des Klimaschutzplans 2050, S. 38. 12 Mehr Strom vom Meer, Vereinbarung zwischen dem Bund, den Küstenländern und den Übertragungsnetzbetreibern v. 11.5.2020, S. 1. 13 Mehr Strom vom Meer, Vereinbarung zwischen dem Bund, den Küstenländern und den Übertragungsnetzbetreibern v. 11.5.2020, S. 2. 14 Uibeleisen, NVwZ 2017, 7, 7.

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31.12.2020 in Betrieb genommen wurden und die weiteren Voraussetzungen nach § 22 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 EEG 2017 erfüllten, blieben die Vergütungsregelungen gleich. Windparkbetreiber behielten ihren Anspruch auf die Marktprämie oder die Einspeisevergütung nach § 19 Abs. 1 EEG 2017. Auch die Höhe der Vergütung blieb gesetzlich festgelegt. Der anzulegende Wert für die Vergütung bestimmte sich nach § 47 Abs. 1 EEG 2017 und betrug 3,90 ct/kWh. Dieser Wert erhöhte sich nach Abs. 2 in den ersten zwölf Jahren ab der Inbetriebnahme der Windenergieanlage auf See auf 15,40 ct/kWh (Anfangswert). Wahlweise konnte der Anlagenbetreiber auch nach Abs. 3 verlangen, dass in den ersten acht Jahren ab der Inbetriebnahme der Anlage 19,40 ct/kWh als anzulegender Wert für die Vergütung zugrunde gelegt wurden. b) Inbetriebnahme vor dem 31.12.2025 Durch das WindSeeG sollte die Förderung von Offshore-Windenergie auf Ausschreibungen umgestellt werden. Doch da ein solcher Systemwechsel erst nach und nach eingeführt werden konnte, wurde eine Übergangsphase für die Jahre 2021 bis 2025 bestimmt.15 In der Übergangsphase wurde erstmalig ein Bieterwettbewerb durchgeführt, um den anzulegenden Wert zu ermitteln. An den Ausschreibungen der Bundesnetzagentur (BNetzA) konnten sich diejenigen Projekte beteiligen, die sich bereits in einem fortgeschrittenen Genehmigungsstadium befanden.16 Nur Projekte, die einen Zuschlag in der Ausschreibung erhalten haben, können gemäß § 14 Abs. 1 WindSeeG 2017 eine Vergütung nach § 19 EEG 2017 erhalten. Für die Ausschreibungen fanden zwei Gebotsrunden statt. Die Gebotstermine für die Übergangsausschreibungen wurden nach § 26 Abs. 1 WindSeeG 2017 auf den 1.4.2017 und den 1.4.2018 festgelegt. Als „bestehende Projekte“ galten Offshore-Windparks, die bereits vor dem 1.8.2016 genehmigt oder planfestgestellt wurden oder für die zumindest ein Erörterungstermin durchgeführt wurde. Das Ausschreibungsvolumen betrug pro Gebotstermin jeweils 1.550 MW. Im ersten Gebotstermin 2017 lagen die bezuschlagten Gebote zwischen 0,00 ct/kWh und 6,00 ct/kWh. Im zweiten Gebotstermin erhielten Gebote zwischen 0,00 ct/kWh und 9,83 Cent/kWh einen Zuschlag. Damit lagen die Zuschlagspreise deutlich unter den Erwartungen und wurden vom Gesetzgeber als Erfolg gewertet.17 Solche Projekte, die mit 0,00 ct/kWh bezuschlagt wurden, erhalten keine Förderung mehr nach dem EEG. c) Inbetriebnahme ab dem 1.1.2026 Für Windenergieanlagen auf See, die ab 2026 in Betrieb genommen werden, soll der anzulegende Wert künftig im Rahmen des sog. zentralen Modells ermittelt werden.18 Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) legt im Einvernehmen 15 Lutz-Bachmann/Huebler in Spieth/Lutz-Bachmann, Offshore-Windenergierecht, 2018, vor § 26 WindSeeG Rz. 3. 16 Uibeleisen, NVwZ 2017, 7, 7. 17 Spieth/Lutz-Bachmann, EnWZ 2020, 243, 243. 18 Lutz-Bachmann/Huebler in Spieth/Lutz-Bachmann, Offshore-Windenergierecht, 2018, vor § 14 WindSeeG Rz. 2.

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mit der BNetzA in einem Flächenentwicklungsplan die Flächen fest, auf denen künftig Offshore-Windparks errichtet werden können. Darüber hinaus wird bestimmt, wie und wann diese Flächen von den Übertragungsnetzbetreibern an das Netz angebunden werden. In den jeweiligen Ausschreibungen konkurrieren die Bieter um die Errichtung eines Offshore-Windparks auf einer voruntersuchten und ausgeschriebenen Fläche.19 Außerdem sollte nach § 22 Abs. 1 WindSeeG 2017 künftig der Höchstwert in den Ausschreibungen dem niedrigsten Gebotswert zum Gebotstermin am 1.4.2018 entsprechen. Dadurch sollte für Kosteneffizienz beim Ausbau von Windenergieanlagen auf See gesorgt werden.20 Der Gesetzgeber ging dabei allerdings nicht davon aus, dass es bereits 2018 in den Ausschreibungen zu Geboten von 0,00 ct/kWh kommen und der Höchstwert in Zukunft deswegen bei 0,00 Cent liegen würde. 2. WindSeeG 2020 Um zu verhindern, dass bei den kommenden Ausschreibungen ausschließlich sogenannte 0-Cent-Gebote abgegeben werden können, musste der Gesetzgeber tätig werden.21 Schon weil die künftig auszuschreibenden Flächen sehr unterschiedlich sind und nicht bei allen Flächen garantiert werden kann, dass die jeweiligen Windparks ohne Förderleistungen realisiert werden können, wurde das WindSeeG 2017 überarbeitet.22 Zudem trägt die Gesetzesnovelle zur Umsetzung des Klimaschutzprogramms 2030 bei, weil die Ausbauziele erhöht wurden. Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 WindSeeG 2020 ist es Ziel des Gesetzes, die installierte Leistung von Windenergieanlagen auf See, die an das Netz angeschlossen werden, ab dem Jahr 2021 auf insgesamt 20 GW bis zum Jahr 2030 zu steigern. Darüber hinaus ist ein langfristiges Ausbauziel auf insgesamt 40 GW bis zum Jahr 2040 vorgesehen. Hierfür sollen die Ausschreibungsvolumina erheblich steigen.23 a) Flexiblere Ausschreibungsmengen Während zunächst in § 17 WindSeeG 2017 vorgesehen war, dass jährlich zum Gebotstermin am 1. September entsprechend den Festlegungen des Flächenentwicklungsplans jeweils ein Ausschreibungsvolumen von 700 bis 900 MW durch die BNetzA ausgeschrieben wird, sieht die neue Regelung keinen festen Ausbaukorridor mehr vor. Dadurch soll die jährliche Ausbaumenge flexibler gestaltet werden. Diese Flexibilisierung erleichtert es auch, Ausschreibungsmengen in das nächste Jahr zu verschieben, wenn vor der Bekanntmachung der Ausschreibung feststeht, dass die erforderliche Netzanbindung zum geplanten Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Wind19 Lutz-Bachmann/Huebler in Spieth/Lutz-Bachmann, Offshore-Windenergierecht, 2018, vor § 16 WindSeeG Rz. 2. 20 Lutz-Bachmann in Spieth/Lutz-Bachmann, Offshore-Windenergierecht, 2018, § 22 WindSeeG Rz. 1. 21 Uibeleisen/Mlynek in Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 4. Aufl. 2018, § 22 WindSeeG Rz. 7. 22 BT-Drs. 19/20429, S. 1 f. 23 BT-Drs. 19/20429, S. 46.

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energieanlagen auf See nicht betriebsbereit sein wird.24 Weiterhin wird dem Ziel von Bund, Küstenländern und Übertragungsnetzbetreibern Rechnung getragen, die gesetzlichen Neuregelung so anzupassen, dass der Ausbau der Offshore-Windenergie effizienter und netzsynchroner erfolgt.25 Nach § 5 Abs. 5 Satz 1 WindSeeG 2020 werden im Flächenentwicklungsplan die Flächen und die zeitliche Reihenfolge festgelegt. Künftig werden zum Gebotstermin am 1. September in den Jahren 2021 bis 2023 voraussichtlich Flächen mit einer zu installierenden Leistung von etwa 1 GW pro Jahr ausgeschrieben werden können. Im Jahr 2024 soll die Ausschreibungsmenge auf etwa 3 GW ansteigen und im Jahr 2025 mit etwa 4 GW den Höchststand erreichen. Diese Angaben decken sich mit den bisher veröffentlichten Festlegungen im Flächenentwicklungsplan 2020.26 Um das langfristige Ausbauziel von 40 GW bis zum Jahr 2040 zu erreichen, müssten ab dem Jahr 2026 durchschnittlich weitere 2 GW ausgeschrieben werden.27 b) Verändertes Ausschreibesystem Da sich bereits in den Ausschreibungen 2017 und 2018 abzeichnete, dass einzelne Bieter nicht mehr auf eine staatliche Förderung angewiesen sind oder jedenfalls sein wollen, um ihren Offshore-Windpark wirtschaftlich zu betreiben, ist auch in weiteren Ausschreibungen mit 0-Cent-Geboten zu rechnen. Um für diesen Fall ein Differenzierungskriterium zwischen ihren Geboten zu schaffen und gleichzeitig die Möglichkeit zu erhalten, für einzelne Flächen weiterhin eine Vergütung zu zahlen, musste das Ausschreibungssystem geändert werden. aa) Anzulegender Wert Durch die Bestimmung des Höchstwerts soll verhindert werden, dass die Realisierungswahrscheinlichkeit einzelner Projekte sinkt, weil sie keine Förderung mehr erhalten können.28 Die Festlegung des Höchstwertes erfolgte auf der Grundlage ökonomischer Berechnungen anhand der Technologiekosten sowie unter Berücksichtigung der kostenrelevanten Eigenschaften der auszuschreibenden Flächen.29 Künftig beträgt der Höchstwert für Ausschreibungen im Jahr 2021 7,3 ct/kWh, für Ausschreibungen im Jahr 2022 6,4 ct/kWh und für Ausschreibungen ab dem Jahr 2023 6,2 ct/ kWh.

24 BT-Drs. 19/20429, S. 46. 25 Mehr Strom vom Meer, Vereinbarung zwischen dem Bund, den Küstenländern und den Übertragungsnetzbetreibern v. 11.5.2020, S. 2. 26 BSH, Flächenentwicklungsplan 2020 für die deutsche Nord- und Ostsee, S. 95. 27 BT-Drs. 19/20429, S. 44. 28 BT-Drs. 19/20429, S. 3. 29 BT-Drs. 19/20429, S. 3.

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bb) Zweite Gebotskomponente Um bei mehreren 0-Cent-Geboten eine Differenzierung anhand von wettbewerblichen Kriterien vornehmen zu können, beabsichtigte der Gesetzgeber zusätzlich die Einführung einer zweiten Gebotskomponente.30 Die BNetzA sollte bei mehreren 0-Cent-Geboten ein sogenanntes dynamisches Gebotsverfahren durchführen. Dafür sollten weitere Gebotsrunden stattfinden. Der Gesetzgeber wollte den Bietern so ermöglichen, die Zahlungsbereitschaft ihrer Wettbewerber wahrzunehmen und mit dem Verfahren bewirken, dass das erfolgreiche Gebot nicht höher als notwendig ausfällt.31 In jeder Gebotsrunde sollte die BNetzA die Gebotsstufe vorgeben. Um in die nächste Runde zu gelangen, hätten die Bieter der Gebotsstufe zustimmen müssen. Das Gebotsverfahren wäre erst beendet worden, wenn nur noch ein Bieter der Gebotsstufe zugestimmt hätte. Wäre ein Bieter auf der Grundlage dieser zweiten Gebotskomponente bezuschlagt worden, hätte er keine Vergütung für seine produzierten Strommengen erhalten. Stattdessen war angedacht, dass er über 15 Jahre verteilt in jährlichen Raten einen sogenannten „Offshore-Netzausbaubeitrag“ leistet. Dieser sollte sich nach dem negativen Zuschlagswert der zweiten Gebotskomponente multipliziert mit dem Ausschreibungsvolumen für die Projektfläche berechnen.32 Dieses angedachte dynamische Gebotsverfahren stieß in der Offshore-Branche auf erhebliche Kritik.33 Auch der Bundesrat forderte eine Streichung des Verfahrens, um zusätzliche Investitions- und Realisierungsrisiken zu verhindern.34 Stattdessen schlugen er und Branchenvertreter vor, das aus anderen europäischen Ländern bekannte Modell der „Contracts of Difference“ (Differenzvertragsmodell) einzuführen.35 Dabei handelt es sich um eine symmetrische Marktprämie. Vorteil ist, dass nur Mehrerlöse, die über den Zuschlagswert hinausgehen, abgeführt werden müssen. Fällt der Strompreis hingegen unter den in der Ausschreibung ermittelten Wert, müsste der Bieter keine Zahlungen leisten. Er erhielte stattdessen die Differenz zwischen dem tatsächlichen Marktpreis und dem anzulegenden Wert.36 Dadurch könnte eine Überförderung verhindert und der Anlagenbetreiber gleichzeitig gegen die Risiken niedriger Strompreise abgesichert werden.

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BT-Drs. 19/20429, S. 3. BT-Drs. 19/20429, S. 3. Ursprüngliche Regelungen §§ 23a–23c WindSeeG-E in BT-Drs. 19/20429, S. 20 ff. Vgl. bspw. Stellungnahme vom Bundesverband der Windparkbetreiber Offshore e.V. (BWO), Zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, WindSeeG-GesEntw, 4.9.2020, Ausschuss-Drs. 19(9)739, S. 2. 34 BT-Drs. 19/22081, S. 2. 35 Stellungnahme vom Bundesverband der Windparkbetreiber Offshore e.V. (BWO), Zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, WindSeeG-GesEntw, 4.9.2020, Ausschuss-Drs. 19(9)739, S. 10 f.; BT-Drs. 19/22081, S. 2. 36 Spieth/Lutz-Bachmann, EnWZ 2020, 243, 245 f.

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cc) Losverfahren Aufgrund des Widerstands entschied der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren, das dynamische Gebotsverfahren nicht einzuführen. Aus diesem Grund wurden die ursprünglich in §§ 23a bis c WindSeeG-E gestrichen. Aber eine Einigung auf die Einführung des Differenzvertragsmodells konnte auch nicht erzielt werden. Stattdessen wurde in § 23 Abs. 1 Satz 2 WindSeeG 2020 festgelegt, dass das Los über den Zuschlag entscheidet, wenn mehrere 0-Cent-Gebote für dieselbe ausgeschriebene Fläche abgegeben werden. Diese Regelung ist angelehnt an die bereits geltende Regelung über die Zuschlagserteilung durch Los in § 32 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 EEG 2017.37 Allerdings hat diese Regelung zunächst nur Übergangscharakter. Nach § 23a Satz 1 WindSeeG 2020 ist die Bundesregierung im Jahr 2022 verpflichtet, den gesetzlichen Anpassungsbedarf bei der Differenzierung von mehreren 0-Cent-Geboten zu prüfen. Darüber hinaus ist die Bundesregierung gesetzlich verpflichtet, die Ausschreibungsmodelle für Windenergie auf See in anderen europäischen Ländern zu beobachten. Dadurch soll sie möglichen Anpassungsbedarf identifizieren. Da andere europäische Länder wie Dänemark, Großbritannien und Frankreich die Differenzverträge bereits eingeführt haben,38 könnte die Einführung dieses Modells noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. c) Prüfung der rechtzeitigen Netzanbindung Ein weiterer wichtiger Baustein für den schnelle und reibungslosen Ausbau der Windenergie auf See ist die bessere Synchronisierung der Errichtung der OffshoreWindparks mit dem Netzausbau. Um sicherzustellen, dass die für die Abnahme, Übertragung und Verteilung des Stroms erforderlichen Netzkapazitäten rechtzeitig geschaffen werden, wird in § 18 Abs. 2 WindSeeG ein zusätzlicher Prüfungsschritt eingeführt. Vor der Bekanntmachung der Ausschreibung der Flächen muss die BNetzA künftig prüfen, ob eine Netzanbindung rechtzeitig erfolgen kann.39 Konkret überprüft sie, ob der anbindungsverpflichtete Übertragungsnetzbetreiber den voraussichtlichen Fertigstellungstermin der Offshore-Anbindungsleitung nach § 17d Abs. 2 Satz 4 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) bekannt gemacht und auf seiner Internetseite veröffentlicht hat. Weiterhin stellt sie sicher, dass der Übertragungsnetzbetreiber nicht bekanntgegeben hat, dass die landseitige Anbindung zum voraussichtlichen Fertigstellungstermin der Offshore-Anbindungsleitung nicht in Betrieb gehen wird und keine geeigneten Alternativen umsetzbar sind. Mit diesem Prüfungsschritt wird nach Auffassung des Gesetzgebers insbesondere das Risiko minimiert, dass ein bereits fertiggestellter Offshore-Windpark wegen fehlender Netzkapazität nicht in Betrieb genommen werden kann. Dadurch soll das Kostenrisiko für Verbraucherinnen und Verbraucher gesenkt werden. Bei Verzögerungen hat der Betreiber der 37 BT-Drs. 19/24039, S. 29. 38 Stellungnahme vom Bundesverband der Windparkbetreiber Offshore e.V. (BWO), Zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, WindSeeG-GesEntw, 4.9.2020, Ausschuss-Drs. 19(9)739, S. 8. 39 BT-Drs. 19/20429, S. 3.

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Windenergieanlagen auf See einen Anspruch auf Entschädigungszahlungen. Die Entschädigung finanziert sich größtenteils über die Offshore-Netzumlage, die der Stromverbraucher zahlt. Wird der Netzausbau besser mit der Errichtung des Windparks koordiniert, führt dies schlussendlich zu sinkenden Strompreisen.40 Sofern die BNetzA im Rahmen der Prüfung absehen kann, dass eine Netzanbindung nicht rechtzeitig hergestellt sein wird, wird die Fläche in diesem Kalenderjahr entsprechend § 18 Abs. 2 Satz 2 WindSeeG 2020 nicht ausgeschrieben. Die Gründe für die Verzögerung der Herstellung der Offshore-Anbindungsleitung legt die BNetzA unverzüglich in einem Bericht an die Bundesregierung dar. Gleichzeitig erarbeiten der Bund, die Küstenländer und die Übertragungsnetzbetreiber im Rahmen des sogenannten Offshore-Controllings Maßnahmen, um künftig Verzögerungen auszuschließen und die Ausschreibung der betroffenen Fläche nachzuholen. Die Ausschreibung der betroffenen Fläche, die in einem Kalenderjahr nicht ausgeschrieben werden konnte, soll nach § 18 Abs. 3 Satz 3 WindSeeG im darauffolgenden Kalenderjahr nachgeholt werden, sofern in diesem Jahr die Verzögerungen behoben sind und die Netzanbindung erfolgen kann. d) Anpassung der Realisierungsfristen Durch die Anpassung der Realisierungsfristen soll ein schneller Ausbau der Windenergie begünstigt werden.41 Grundsätzlich müssen der Übertragungsnetzbetreiber und der bezuschlagte Windparkbetreiber nach § 17 Abs. 2 Satz 6 EnWG einen Realisierungsfahrplan abstimmen, der die zeitliche Abfolge für die einzelnen Schritte zur Errichtung der Windenergieanlage auf See und zur Herstellung des Netzanschlusses enthält. Dabei haben sie die Realisierungsfristen in § 59 WindSeeG 2020 zu beachten. Die Nichteinhaltung der Realisierungsfristen hat für den Windparkbetreiber weitreichende Folgen. Einerseits kann sie die Pflicht zur Zahlung von Pönalen nach sich ziehen. Andererseits kann sie auch dazu führen, dass der Windparkbetreiber seinen Zuschlag verliert. Konkret muss der Windparkbetreiber künftig spätestens sechs Monate vor dem verbindlichen Fertigstellungstermin der Netzanbindung mit der Errichtung der Anlagen beginnen und gegenüber der BNetzA einen entsprechenden Nachweis erbringen. Weiterhin muss er spätestens zum verbindlichen Fertigstellungstermin gegenüber der BNetzA nachweisen, dass die technische Betriebsbereitschaft mindestens einer Windenergieanlage auf See einschließlich der zugehörigen parkinternen Verkabelung hergestellt worden ist. Die wohl gravierendste Änderung nimmt der Gesetzgeber aber in § 59 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 WindSeeG 2020 vor: Zukünftig muss der Anlagenbetreiber bereits nach sechs Monaten – zuvor 18 Monaten – den Nachweis darüber erbringen, dass die technische Betriebsbereitschaft der Windenergieanlagen auf See insgesamt hergestellt worden ist. Allerdings wird auch die Option der Verlängerung der Realisierungsfristen in § 59 Abs. 2a WindSeeG 2020 eingeführt. Falls der Anlagenhersteller insolvent ist, kann der Windparkbetreiber eine Verlängerung um bis zu 18 Monate er40 BT-Drs. 19/20429, S. 47. 41 BT-Drs. 19/20429, S. 56.

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halten. In diesem Fall kann die Realisierungsfrist oftmals nicht eingehalten werden, da die Bieter sich um einen anderen Hersteller bemühen müssen.42 e) Kostenerstattung für Untersuchungen Weiterhin führt der Gesetzgeber durch § 10a WindSeeG 2020 die Möglichkeit ein, dass Inhaber von nicht realisierten Projekten unter bestimmten Voraussetzungen die Erstattung notwendiger Kosten für von ihnen durchgeführte Untersuchungen erhalten. Dabei kommt er der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts nach, eine rechtliche Grundlage für einen solchen Ausgleichsanspruch bis spätestens zum 30.6.2021 zu schaffen. Grundlage dieser Entscheidung sind die Verfassungsbeschwerden mehrerer Projektentwickler von Offshore-Windparks, über die das BVerfG in seinem Beschluss vom 30.6.2020 zu entscheiden hatte.43 Die Projektentwickler hatten die Zulassung von Offshore-Windparks in der Nordsee nach der bis Ende 2016 geltenden Seeanlagenverordnung (SeeAnlV) beantragt. Zu diesem Zeitpunkt erfolgte die Zulassung von Offshore-Windparks ohne förmliche planerische Grundlage und ohne systematische Koordination mit der Errichtung der Netzanbindung. Die für ihre Projekte notwendigen Planungen und Untersuchungen führten die Projektentwickler auf eigene Kosten durch. Erst durch die Einführung des zentralen Modells wurde die Flächenentwicklung auf das BSH übertragen. Das neu eingeführte Ausschreibungsverfahren dient dazu, Anlagenerrichtung und Netzanbindung aufeinander abzustimmen. Damit dieses neue System umgesetzt werden konnte, wurden die laufenden Planfeststellungsverfahren beendet und einer schon erteilten Genehmigung die Wirkung genommen. Der Erste Senat des BVerfG hält das WindSeeG zwar grundsätzlich für verfassungsgemäß. Allerdings entfaltet es aus seiner Sicht für die Projektentwickler eine unechte Rückwirkung, die verfassungsrechtlich nicht vollständig gerechtfertigt ist. Das WindSeeG sei mit dem allgemeinen Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz insoweit unvereinbar, weil dem Gesetzgeber ein milderes, ebenso geeignetes Mittel zur Verfügung gestanden habe. Sofern die Planungen und Untersuchungen für die staatliche Voruntersuchung der Flächen nach §§ 9 ff. WindSeeG weiter verwertet werden könnten, müsste den Betroffenen ein finanzieller Ausgleich gewährt werden.44 Diese Möglichkeit wird durch die Einführung von § 10a WindSeeG 2020 geschaffen. Die Regelung sieht einen Ausgleich jedoch nur insoweit vor, wie dieser verfassungsrechtlich geboten ist. Eine darüberhinausgehende Kostenerstattung ist nicht beabsichtigt.45 Auch ist der Kreis der Anspruchsberechtigten nach § 10a Abs. 1 WindSeeG 2020 auf bestimmte Projekte begrenzt und eine Erstattung setzt den Nachweis über 42 43 44 45

BT-Drs. 19/20429, S. 56. BVerfG v. 30.6.2020 – 1 BvR 1679/17, 1 BvR 2190/17. Pressemitteilung des BVerfG Nr. 78/2020 v. 20.8.2020. BT-Drs. 19/24039, S. 27.

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die entstandenen Kosten voraus. Nur Berechtigte, die bis zum 30.6.2021 einen Antrag beim BSH gestellt haben, können eine Kostenerstattung verlangen. Weiter müssen die Untersuchungen für die Planfeststellung oder Genehmigung des Vorhabens nach der SeeAnlV notwendig gewesen sein. Außerdem müssen die Ergebnisse und Unterlagen in der Zukunft verwertet werden können. Nur wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind, stellt das BSH im Rahmen eines Verwaltungsakts fest, dass die Untersuchungsergebnisse und Unterlagen zum Zeitpunkt der Voruntersuchung noch verwertbar sein werden. Dafür trifft das BSH spätestens zwei Jahre vor Ausschreibung der betreffenden Fläche eine Prognoseentscheidung.46 Erst nach positiver Entscheidung kann der Projektinhaber die Kostenerstattung verlangen. f) Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts Eine weitere Änderung, die im Gesetzesentwurf zunächst nicht vorgesehen war, betrifft die Zuständigkeit für Klagen gegen die Planfeststellung von Offshore-Anbindungsleitungen nach dem WindSeeG und damit zusammenhängende Entscheidungen. Nach § 54a Abs. 1 WindSeeG 2020 in Verbindung mit § 50 Abs. 1 Nr. 6 Verwaltungsgerichtsordnung ist für solche Klagen in Zukunft das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) erstinstanzlich zuständig. Diese Ausnahme soll eine erhebliche Verfahrensbeschleunigung erzielen. Der Gesetzgeber führt an, dass die durchschnittliche Verfahrensdauer bei Klageverfahren über Infrastrukturvorhaben, die dem BVerwG erstinstanzlich zugewiesen sind, im Zeitraum 2015 bis 2019 durchschnittlich weniger als ein Jahr betrug.47 Anders als vor einem Oberverwaltungsgericht entfällt außerdem die Möglichkeit eines anschließenden Revisionsverfahrens beim BVerwG.48 Dies sorgt dafür, dass schnell eine rechtsverbindliche Entscheidung herbeigeführt wird und somit Klagen gegen Offshore-Anbindungsleitungen nicht zur Verzögerung des Ausbaus führen.

II. Wasserstoff Ein weiterer wichtiger Bestandteil, um Deutschland, Europa und die Welt langfristig klimaneutral zu machen, ist der Einsatz von Wasserstoff. In der Wasserstoffstrategie der EU wird als Ziel festgelegt, dass bis 2030 in der EU eine Elektrolyseleistung von 40 GW in Verbindung mit erneuerbaren Energien erreicht werden soll.49 Auch die Bundesregierung hält Wasserstoff für einen integralen Bestandteil der Energiewende. Deswegen sollen laut der nationalen Wasserstoffstrategie in Deutschland bis zum Jahr 2030 Erzeugungsanlagen von bis zu 5 GW Gesamtleistung einschließlich der dafür er-

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BT-Drs. 19/24039, S. 28. Pressemitteilung des BVerwG, Nr. 15/2020 v. 17.3.2020. BT-Drs. 19/24039, S. 30. Strategie zur Nutzung des Potenzials der erneuerbaren Offshore-Energie für eine klimaneutrale Zukunft vor allem eine Expansion der Offshore-Industrie, COM(2020) 741 final, S. 2.

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forderlichen Offshore- und Onshore-Energiegewinnung entstehen.50 Die Küstenländer Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein gehen noch einen Schritt weiter: Bis zum Jahr 2025 sollen allein in Norddeutschland mindestens 500 MW und bis zum Jahre 2030 mindestens 5 GW Elektrolyseleistung zur Erzeugung von grünem Wasserstoff installiert sein.51 Damit Wasserstoff zur Erreichung der Klimaziele beitragen kann, muss er nachhaltig produziert werden. Denn nur sogenannter grüner Wasserstoff ist klimaneutral.52 Grundsätzlich ist Wasserstoff ein natürliches Element, welches nur in gebundener Form – beispielsweise in Wasser oder Methan – vorkommt. Um Wasserstoff herzustellen, muss er deswegen mit Hilfe von Energie aus einem wasserstoffreichen Ausgangsstoff abgespalten werden. Dafür können sogenannte Elektrolyseure zum Einsatz kommen. Bei der Wasserelektrolyse wird Wasser unter Einsatz von Strom in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt. Dabei wandert der Wasserstoff zum negativ geladenen und der Sauerstoff zum positiv geladenen Pol. Die eingesetzte elektrische Energie wird in chemische Energie umgewandelt und im Wasserstoff gespeichert.53 Um grünen Wasserstoff herzustellen, darf für die Elektrolyse ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien zum Einsatz kommen.54 Dabei gilt die Offshore-Windenergie als eine der Technologien mit dem höchsten Expansionspotenzial.55 Wegen der hohen Volllaststunden ist Windenergie auf See attraktiv zur Erzeugung erneuerbaren Stroms, welcher für die Produktion von grünem Wasserstoff genutzt werden kann.56 So erzeugen Windenergieanlagen auf See mehr und regelmäßiger Strom als Windenergieanlagen an Land. Auch steht auf hoher See potenziell mehr nutzbare Fläche für die Erzeugung erneuerbarer Energien zur Verfügung.57 Gerade im Hinblick auf die begrenzte Netzkapazität könnte die Wasserstoffproduktion auf hoher See außerdem weitere Vorteile bringen. Wasserstoff kann leicht transportiert werden und ist ein leistungsfähiger Speicher. Für den Transport könnte bereits vorhandene Infrastruktur aus Gasleitungen und Speicheranlagen, wie untertägige Kavernen, genutzt werden. Auch können Schiffe für den weltweiten Trans-

50 Die Nationale Wasserstoffstrategie von Deutschland, S. 5. 51 Wirtschafts- und Verkehrsministerien der norddeutschen Küstenländer, Norddeutsche Wasserstoffstrategie, 7.11.2019, S. 1. 52 Die Nationale Wasserstoffstrategie von Deutschland, S. 3 Fn. 1. 53 https://www.bdew.de/energie/wasserstoff/flexible-herstellung-was-ist-wasserstoff-undwie-wird-er-erzeugt/, abgerufen am 20.1.2021. 54 Die Nationale Wasserstoffstrategie von Deutschland, S. 29. 55 Strategie zur Nutzung des Potenzials der erneuerbaren Offshore-Energie für eine klimaneutrale Zukunft vor allem eine Expansion der Offshore-Industrie, COM(2020) 741 final, S. 2. 56 Die Nationale Wasserstoffstrategie von Deutschland, S. 18. 57 Steckbrief H2Mare, https://www.bmbf.de/files/Steckbrief%20H2Mare.pdf, abgerufen am 20.1.2021.

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port genutzt werden. Gerade in der Industrie ist Wasserstoff zudem ein wichtiger Rohstoff und Ausgangsstoff beispielsweise für die Herstellung anderer Stoffe.58 1. Erstmalig Regelungen im WindSeeG 2020 Um die richtigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Deutschland eine globale Führungsrolle in der Produktion von grünem Wasserstoff einnimmt, musste der Gesetzgeber tätig werden. Mit der Novellierung des WindSeeG 2020 wurde der Rechtsrahmen für Windenergieanlagen auf See ohne Netzanschluss und sogenannte „sonstige Energiegewinnungsanlagen“ geändert. Nach § 3 Nr. 7 WindSeeG 2020 umfasst dieser Begriff jede Anlage zur Erzeugung von Strom auf See aus anderen erneuerbaren Energien als Wind, insbesondere aus Wasserkraft einschließlich der Wellen-, Gezeiten-, Salzgradienten- und Strömungsenergie, oder zur Erzeugung anderer Energieträger, insbesondere Gas, oder anderer Energieformen, insbesondere thermischer Energie. Auch Anlagen zur Produktion von Wasserstoff auf See (Power-to-Gas Anlagen) sind in diese Kategorie einzuordnen. a) Ausschreibung von sonstigen Energiegewinnungsbereichen Bisher war jedoch die Vergabe der dafür erforderlichen Flächen im Seeanlagengesetz (SeeAnlG) geregelt. Durch die Gesetzesnovelle soll die Gewinnung von Energie aus Windenergieanlagen auf See ohne Netzanschluss und sonstige Energiegewinnungsanlagen künftig nur noch dem WindSeeG 2020 unterfallen.59 Vor allem soll verhindert werden, dass die Flächenvergabe nach § 3 Abs. 1 Satz 1 SeeAnlG erfolgt.60 Darin ist das sogenannte Windhund-Prinzip geregelt, was festlegt, dass die Bearbeitung der Planfeststellungs- oder Genehmigungsanträge in der Reihenfolge ihres Eingangs erfolgt. Vereinfacht ausgedrückt, gilt das Prinzip: Wer zuerst einen formgemäßen Antrag stellt, erhält auch den Zuschlag. Um diesen Wettlauf zu verhindern, soll die Vergabe der Flächen in Zukunft anhand objektiver, nachvollziehbarer, diskriminierungsfreier und effizienter Kriterien erfolgen.61 Dafür wird in § 67a WindSeeG 2020 geregelt, dass die Antragsberechtigten innerhalb von im Flächenentwicklungsplan festgelegten Bereichen zur sonstigen Energiegewinnung vom BSH durch Ausschreibung gemäß der Kriterien der Rechtsverordnung nach § 71 Nr. 5 WindSeeG ermittelt werden. Eine entsprechende Verordnung ist jedoch noch nicht erlassen. Dies begründet der Gesetzgeber damit, dass sich die technologischen Konzepte der seeseitigen Erzeugung, des Transports an Land und der Zuführung zur landseitigen Nutzung, etwa in der Industrie, noch in einem frühen Stadium der Entwicklung befinden und die Festlegung eines entsprechenden Zuteilungsmechanismus der Bereiche derzeit noch nicht belastbar möglich 58 https://www.windkraft-journal.de/2019/10/02/offshore-wasserstoff-produktionsplattfor men-koennen-heute-schon-realisiert-werden/140382, abgerufen am 20.1.2021. 59 BT-Drs. 19/20429, S. 58 f. 60 BT-Drs. 19/20429, S. 29. 61 BT-Drs. 19/20429, S. 3 f.

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ist.62 Jedoch wird hervorgehoben, dass im bestehenden Rahmen bereits die Realisierung von landseitigen Elektrolyseanlagen in Verknüpfung mit an das öffentliche Stromnetz angeschlossenen Windenergieanlagen auf See möglich ist. Hierfür ist keine Ausweisung von sonstigen Energiegewinnungsbereichen notwendig.63 Künftig kann nur wer im Rahmen der Ausschreibung nach § 67a WindSeeG 2020 einen Zuschlag erhalten hat, nach § 46 Abs. 1 Satz 2 WindSeeG 2020 einen Antrag auf Durchführung des Planfeststellungsverfahrens zur Errichtung und zum Betrieb von Windenergieanlagen auf See und sonstigen Energiegewinnungsanlagen, die jeweils nicht an das Netz angeschlossen werden, stellen. Dabei darf der Plan nur festgestellt werden, wenn der Antragsteller über einen Zuschlag für den Bereich verfügt, auf den sich der Plan bezieht. b) Flächenausweisung Zwar ermöglichte § 4 Abs. 3 WindSeeG 2017 dem BSH bereits zuvor, für Windenergieanlagen auf See und sonstige Energiegewinnungsanlagen, die jeweils nicht an das Netz angeschlossen werden, Festlegungen im Flächenentwicklungsplan mit dem Ziel zu treffen, die praktische Erprobung und Umsetzung von innovativen Konzepten für nicht an das Netz angeschlossene Energiegewinnung räumlich geordnet und flächensparsam zu ermöglichen.64 Auch konnte das BSH schon nach bestehender Rechtslage sonstige Energiegewinnungsbereiche nach § 5 Abs. 2a Satz 1 WindSeeG 2017 im Flächenentwicklungsplan außerhalb von Gebieten für insgesamt 40 bis 70 Quadratkilometer festlegen. Durch die Gesetzesnovelle wird die Mindestgröße jedoch auf 25 Quadratkilometer verringert. Dadurch soll die Auswahl der sonstigen Energiegewinnungsbereiche möglichst groß gehalten werden.65 Für diese Flächen wird künftig eine Ausschreibung durchgeführt. Im Küstenmeer können sonstige Energiegewinnungsbereiche hingegen nur bestimmt werden, wenn das zuständige Bundesland die sonstigen Energiegewinnungsbereiche als möglichen Gegenstand des Flächenentwicklungsplans ausgewiesen hat.66 Der Flächenentwicklungsplan 2020 legt derzeit zwei sonstige Energiegewinnungsbereiche fest. Bei diesen handelt es sich um Bereiche, die für eine eigene Netzanbindung zu klein sind.67 Der größere Teil mit einer Fläche von etwa 27,5 Quadratkilometern liegt in der Nordsee. Für diesen ist ein Kabel oder eine Pipeline an Land nicht vorgesehen.68 Für den kleineren Teil mit einer Fläche von 7,6 Quadratkilo-

62 63 64 65 66

BT-Drs. 19/20429, S. 57. BT-Drs. 19/20429, S. 57. BT-Drs. 19/20429, S. 2. BT-Drs. 19/20429, S. 44. Bisher wurde eine entsprechende Verwaltungsvereinbarung über die Festlegungen für das Küstenmeer im Flächenentwicklungsplan am 27.5.2019 nur zwischen dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem BSH geschlossen. 67 BSH, Flächenentwicklungsplan 2020 für die deutsche Nord- und Ostsee, S. 124. 68 BSH, Flächenentwicklungsplan 2020 für die deutsche Nord- und Ostsee, S. 125.

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meter in der Ostsee ist hingegen eine Trasse grundsätzlich möglich.69 Damit wird dem Betreiber jedoch kein Anschluss an das Netz gewährt. Ihm wird nur ermöglicht, in der Trasse eine eigene Stromleitung zu errichten und zu betreiben. Dadurch könnte eine Elektrolyseanlage an Land angeschlossen werden. 2. Pilotprojekt H2Mare Noch befinden sich die meisten Wasserstoff-Projekte in der Planungsphase. Um diese Planungen voranzutreiben, wird im Hinblick auf die Gewinnung von Wasserstoff in den nächsten Jahren viel investiert: So sollen rund sieben Milliarden Euro für die Förderung von Wasserstofftechnologien in Deutschland eingesetzt werden.70 Beispielsweise 700 Millionen Euro plant die Bundesregierung bis zum Jahr 2025 in drei Wasserstoff-Projekte zu investieren. Eines davon ist das Projekt H2Mare. Dabei geht es um die Bündelung von Offshore-Windanlagen und die Produktion von Wasserstoff. Idealerweise in einem Modul könnte die Windenergie auf See zur Herstellung von grünem Wasserstoff genutzt werden, ohne dass es eines Netzanschlusses bedarf.71 Dafür soll der Wasser-Elektrolyseur direkt in die Windenergieanlage integriert werden. Dies hätte entscheidende Vorteile: Die direkte Kopplung von Windenergieanlage und Elektrolyseur minimiert die Kosten der Wasserstoffproduktion. Weil die Anlage nicht an das Stromnetz angeschlossen werden muss, können Infrastrukturkosten gesenkt werden. Außerdem führt die Entkopplung von Elektrolyse und Netz zu einer Entlastung für örtliche Netzstrukturen. Zusätzlich ist beabsichtigt, testweise auch Wasserstoff-Folgeprodukte wie grünes Methan, grünes Methanol, grünes Ammoniak sowie grünen Kraftstoffe zu produzieren. Dafür soll die sogenannte Powerto-X-Technologie genutzt werden. Die Bundesregierung sieht in dem Projekt viel Potential und erhofft sich, Deutschland damit in eine Vorreiterrolle zu bringen. Der Erfolg der Technologie würde neue Exportmöglichkeiten eröffnen. Allerdings ist es das erste Projekt seiner Art und birgt Herausforderungen. Der Betrieb einer solchen Anlage auf hoher See erfordert beständiges Material und eine ausgereifte Konstruktion.72

III. Der Weg zum „grünen“ Stahl Von einer grünen Wasserstoffproduktion auf dem Meer könnte letztendlich besonders die deutsche Industrie profitieren. Aktuell wird in Deutschland jährlich Wasserstoff im Umfang von rund 55 TWh für stoffliche Anwendungen genutzt, der zu großen Teilen auf Basis fossiler Energieträger erzeugt wird.

69 BSH, Flächenentwicklungsplan 2020 für die deutsche Nord- und Ostsee, S. 126. 70 https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/wasserstoffstrategie-kabi nett-1758824, abgerufen am 14.1.2021. 71 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/wachstumsmotor-wasserstoff-1836288, abgerufen am 14.1.2021. 72 https://www.bmbf.de/files/Steckbrief%20H2Mare.pdf, abgerufen am 20.1.2021.

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1. Wasserstoff in der Stahlindustrie Schätzungen zufolge würde die Transformation der heimischen Stahlproduktion hin zu einer treibhausgasneutralen Produktion bis 2050 über 80 TWh Wasserstoff benötigen.73 Denn gerade die traditionelle Stahlproduktion setzt auf Hochöfen, die mit Kohle betrieben werden und dadurch erhebliche Mengen CO2 verursachen.74 Zwar wird angenommen, dass die maßgeblich auf dem Einsatz von Schrott und Strom basierende Elektrostahlerzeugung in Lichtbogenöfen bis zum Jahr 2050 auf etwa 27 Millionen Tonnen Rohstahl pro Jahr gesteigert werden kann. Aber diese Art der Stahlherstellung benötigt viel Strom.75 Der verbleibende Bedarf an Rohstahl in Höhe von 18 Millionen Tonnen muss weiterhin durch die Reduktion von Eisenerz gedeckt werden.76 Damit bleibt ein Teil des in Deutschland produzierten Stahls aus Eisenerz hergestellter Primärstahl. Das mit Abstand aussichtsreichste Verfahren für eine klimafreundliche Primärstahlproduktion ist die sogenannte Wasserstoffdirektreduktion. Hierbei wird zur Reduktion des Eisenerzes Wasserstoff statt Koks und Einblaskohle verwendet – so entsteht bei der Herstellung kein CO2. Durch die Wasserstoffdirektreduktion wird fester Eisenschwamm erzeugt, der anschließend in Elektrolichtbogenöfen zu Rohstahl weiterverarbeitet werden kann.77 2. Pilotprojekte Thyssenkrupp Steel strebt langfristig eine nahezu klimaneutrale Stahlproduktion an.78 Dafür hat das Unternehmen ein Pilotprojekt gestartet. Im bestehenden Hochofenprozess soll im Stahlwerk in Duisburg die traditionelle Einblaskohle durch Wasserstoff als Reduktionsmittel ersetzt werden. Das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen (MWIDE) fördert das Projekt innerhalb des Programms IN4climate.NRW. Fortgesetzt wird das Projekt in dem vom Bund geförderten Reallabor H2Stahl: Bis Ende 2021 sollen dabei alle 28 Blasformen eines Hochofens auf den anteiligen Einsatz von Wasserstoff umgestellt werden.79 Die Salzgitter AG hingegen plant mit dem Sektorkopplungsprojekt „Windwasserstoff Salzgitter“ eine eigene Wasserstoffproduktion für die Stahlherstellung. Im Rah73 Die Nationale Wasserstoffstrategie von Deutschland, S. 6. 74 https://www.bdew.de/verband/magazin-2050/wasserstoff-statt-kohle-der-stahl-der-zu kunft-ist-klimafreundlich/, abgerufen am 20.1.2021. 75 Wasserstoffstudie Nordrhein-Westfalen. Eine Expertise für das Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. LBST. 2019. https://www.wirtschaft.nrw/sites/default/files/asset/document/bericht_wasserstoffstu die_nrw-2019-04-09_komp.pdf, abgerufen am 20.1.2021. 76 Den Weg zu einem treibhausgasneutralen Deutschland ressourcenschonend gestalten. UBA. 2019. https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/den-weg-zu-einem-treibhaus gasneutralen-deutschland, abgerufen am 20.1.2021. 77 Wasserstoff Roadmap NRW 2020, S. 43. 78 https://www.thyssenkrupp-steel.com/de/newsroom/pressemitteilungen/wasserstoff-stattkohle.html, abgerufen am 20.1.2021. 79 Wasserstoff Roadmap NRW 2020, S. 43.

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men des Projekts soll Wasserstoff mittels Elektrolyse und Strom aus Windkraft erzeugt werden.80 Dadurch soll eine wichtige Grundlage für den zukünftigen Einsatz größerer Mengen an Wasserstoff zur Verringerung direkter CO2-Emissionen bei der Stahlherstellung geschaffen werden. Beabsichtigt ist, auf dem Gelände des Konzerns sieben Windkraftanlagen mit einer Leistung von 30 MW zu errichten und zu betreiben. Drei der Anlagen werden sich auf dem Areal des Hüttenwerks befinden. Der so produzierte Strom soll im eigenen Elektrolyseur in Wasserstoff umgewandelt werden. Zunächst ist eine Nutzung des Wasserstoffs als Schutzgas, zum Beispiel beim Verzinken, geplant.81 Langfristig soll der Wasserstoff hingegen den bislang für die Verhüttung von Eisenerzen erforderlichen Kohlenstoff ersetzen.82 Ein weiteres Projekt, das die Produktion von grünem Stahl ermöglichen soll, verknüpft Wasserstoff und Offshore-Windenergie. Dafür soll Strom aus Offshore-Windenergieanlagen zur Erzeugung von Wasserstoff genutzt werden, um damit Stahl zu produzieren. So unterzeichneten das Energieunternehmen EWE und seine Tochter SWB sowie der Stahlbauer ArcelorMittal eine Absichtserklärung zur Zusammenarbeit. Im Mittelpunkt der Vereinbarung steht die grüne Wasserstoffproduktion in Bremen. Am Kraftwerkstandort Mittelsbüren soll eine Elektrolyse-Anlage im ersten Schritt mit bis zu 24 MW Leistung entstehen, die das Stahlwerk von ArcelorMittal mit grünem Wasserstoff versorgt.83 Nutzen will die SWB für die Wasserstoffproduktion laut eigenen Angaben vor allem Grünstrom aus den eigenen On- und OffshoreWindparks der EWE.84

IV. Fazit Es bleibt abzuwarten, ob die vorgenannten Vorhaben lediglich Pilotprojekte und Absichtserklärungen bleiben. Für die ersehnte Klimaneutralität sind solche Konzepte aber ein echter Hoffnungsschimmer. Zumindest werden in der Industrie und der Politik die richtigen Weichen gestellt, um grünen Wasserstoff künftig wirtschaftlich nutzbar zu machen. Dazu kann auch der Ausbau der Offshore-Windenergie einen Beitrag leisten. Mit den Änderungen im WindSeeG wurden erste Impulse gesetzt, um den erhöhten Bedarf an Strom aus erneuerbaren Energien für die Herstellung von Wasserstoff zu decken. In den nächsten Ausschreibungsrunden der Offshore-Windenergie wird sich zeigen, ob sich das Losverfahren als Kriterium zur Differenzierung von 0-Cent-Geboten durchsetzt. Die Diskussion über die Einführung des Differenzverfahrens ist damit jedoch noch nicht abgeschlossen. Es besteht die Möglichkeit, dass sich der Gesetzgeber langfristig an dem System anderer EU-Staaten orientiert. 80 https://www.windh2.de/, abgerufen am 20.1.2021. 81 https://www.kfw.de/stories/umwelt/erneuerbare-energien/salzgitter-ag/, abgerufen am 20.1.2021. 82 https://www.windh2.de/, abgerufen am 20.1.2021. 83 https://www.ewe.com/de/presse/pressemitteilungen/2020/07/ewe-mit-tochter-swb-undarcelormittal-kooperieren-bei-grner-stahlerzeugung-ewe-ag, abgerufen am 20.1.2021. 84 https://www.energate-messenger.de/news/203947/ewe-swb-und-arcelor-mittal-kooperie ren-bei-gruenem-wasserstoff, abgerufen am 20.1.2021.

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Auch die Überführung der Windenergieanlagen auf See ohne Netzanschluss und sonstiger Energiegewinnungsanlagen in das WindSeeG wird in der Offshore-Branche als richtiger Schritt angesehen.85 Zum Teil wird jedoch kritisiert, dass bereits eine Überlastung der zuständigen Behörden mit den bestehenden Ausschreibungs- und Planfeststellungsverfahren gegeben sei.86 Die Einführung eines zusätzlichen Ausschreibungsregimes würde daher die Erschließung entsprechender Potenziale sonstiger Energiegewinnungsbereiche weiter verzögern. Außerdem sei bisher die Finanzierung von Anlagen in sonstigen Energiegewinnungsbereichen ungeklärt. Bislang sei keine dauerhafte Förderung für diese Konzepte in Aussicht gestellt worden. Aus diesem Grund halten Branchenvertreter die wettbewerblichen Ausschreibungen für verfrüht. Zunächst müsste die Gesamtwirtschaftlichkeit der Projekte sichergestellt werden.87 Insbesondere die Wirtschaftlichkeit einer grünen Wasserstoffproduktion wird in den nächsten Jahren entscheidend für den Erfolg der Technologie insgesamt sein. Nur wenn die Industrie mit grünem Wasserstoff wirtschaftlich produzieren kann, wird er sich langfristig durchsetzen. Im Ergebnis bleibt zu hoffen, dass der erwünschte Wasserstoff-Boom zur Realität wird. Denn dann erscheint auch das Ziel möglich: Stahl wird grün und klimaneutral.

85 Kurzstellungnahme der Verbände zum Entwurf (Referentenentwurf der Bundesregierung) eines Gesetzes zur Änderung des Windenergie-auf-See-Gesetzes und anderer Vorschriften v. 28.5.2020, https://www.offshore-stiftung.de/sites/offshorelink.de/files/docu ments/WindSeeG%20RefE%202020-05-26_Kurz-Verba%CC%88nde-SN_0.PDF, abgerufen am 20.1.2021. 86 Stellungnahme der DIHK zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Windenergieauf-See-Gesetzes und anderer Vorschriften, https://www.dihk.de/resource/blob/24566/ 823384f9622389032eb503041b195346/dihk-stellungnahme-wind-auf-see-gesetz-data.pdf, abgerufen am 20.1.2021. 87 Stellungnahme vom Bundesverband der Windparkbetreiber Offshore e.V. (BWO), Zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, WindSeeG-GesEntw, 4.9.2020, Ausschuss-Drs. 19(9)739, S. 15.

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KI am Steuer der Aktiengesellschaft? Christiane Hoerdemann-Napp / Laura Katharina Pauli

Inhaltsübersicht I. Einführung in die Problemstellung II. Status quo der technischen Möglichkeiten 1. Begriff der künstlichen Intelligenz 2. Erscheinungsformen III. KI als Führungskraft? 1. KI als Vorstandsmitglied? 2. KI als Aufsichtsratsmitglied?

IV. Supportiver KI-Einsatz bei der Unternehmensführung 1. KI als Expertenrat 2. KI als Entscheidungshilfe V. Haftungsfragen 1. Haftung des Vorstands 2. Haftung des Aufsichtsrats VI. Fazit und Ausblick

I. Einführung in die Problemstellung Unternehmerisches Handeln erfordert eine Bewertung verschiedenster Optionen anhand bestimmter Entscheidungsparameter. Künstlich-intelligente Systeme (KI-Systeme) sind dazu in der Lage, aus einer Vielzahl von Daten Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, Prognosen zu erstellen und auf diese Weise hochkomplexe Entscheidungen zu treffen. Warum sollten KI-Systeme dann nicht Organmitglied einer Aktiengesellschaft sein können? Dieser Beitrag geht der Frage nach, ob das geltende Aktienrecht den Einsatz von KISystemen als (oder in der) Unternehmensleitung und als Kontrolleur (oder im Kontrollgremium) gestattet. Falls nicht: Ist es erstrebenswert, das eine oder das andere de lege ferenda zu ermöglichen?

II. Status quo der technischen Möglichkeiten 1. Begriff der künstlichen Intelligenz Der Begriff der künstlichen Intelligenz wird uneinheitlich definiert.1 In Anlehnung an den Definitionsansatz, der von der Europäischen Kommission eingesetzten Expertengruppe entwickelt worden ist,2 ist ein KI-System eine Software, die zielgerich1 Herberger, NJW 2018, 2825, 2825 f. 2 Independent High-Level Expert Group on Artificial Intelligence, A Definition of AI, Main Capabilities and Disciplines, S. 6: „Artificial intelligence (AI) systems are software (and possibly also hardware) systems designed by humans that, given a complex goal, act in the physical or digital dimension by perceiving their environment through data acquisition, interpreting the collected structured or unstructured data, reasoning on the knowledge, or processing

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tet Daten aus der Umwelt wahrnimmt, auswertet und sich auf dieser Grundlage für diejenige Handlungsoption entscheidet, die am effizientesten das vorgegebene Ziel erreichen kann. Das System ist hierbei in der Lage, sein Verhalten selbstständig – basierend auf Umweltreizen – zu adaptieren. 2. Erscheinungsformen KI-Systeme beruhen regelmäßig auf maschinellen Lernverfahren (machine learning).3 Dabei werden in erster Linie selbstlernende Algorithmen mit Beispielsdatensätzen „gefüttert“, auf deren Grundlage der Algorithmus mathematische Muster, Beziehungen und Gesetzmäßigkeiten aufstellt.4 Zu differenzieren ist hierbei zwischen unterschiedlichen Lernvarianten. So kann der Trainingsprozess überwacht, nicht überwacht, verstärkend oder semi-überwacht erfolgen.5 Dies hängt von der Qualität des zugrunde liegenden Datensatzes ab. Im Hinblick darauf, dass das System mithilfe des Datensatzes eine mathematische Funktion ermitteln soll, sind sog. gelabelte Daten, bei denen eine klare Beziehung zwischen der Input- und der Output-Seite besteht, besonders zielführend, da hieraus umgehend eine korrekte mathematische Funktion abgeleitet werden kann.6 Wenn gelabelte Daten dem Steuerungsalgorithmus zur Verfügung gestellt werden können und die intendierten Output-Werte feststehen, kann der Lernprozess überwacht erfolgen, d.h. dass der Algorithmus lediglich bereits erkennbare Strukturen aufdecken muss.7 Dieses Lernverfahren wird mit Abstand am häufigsten in der Praxis angewandt.8 Wenn aber keine gelabelten Daten verfügbar sind und dem Algorithmus damit keine Zielwerte vorgegeben werden können oder sollen, kommt die Variante des nicht überwachten Lernens in Betracht.9 Hierbei muss der Algorithmus selbstständig unbekannte Strukturen in den Daten finden, ohne dass er von außen einen Impuls erhält, ob sein gefundenes Ergebnis richtig oder falsch ist.10 Das Lernverfahren verläuft damit nicht überwacht. Sofern der Programmierer auf das gefundene Ergebnis hingegen reagiert und dem Algorithmus ein positives oder negatives Feedback gibt, spricht man von einem verstärkenden Lernen.11 Verfügt der Programmierer nur

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the information, derived from this data and deciding the best action(s) to take to achieve the given goal. AI systems […] can also adapt their behaviour by analysing how the environment is affected by their previous actions.“, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/digitalsingle-market/en/news/definition-artificial-intelligence-main-capabilities-and-scientificdisciplines (zuletzt aufgerufen am 16.12.2020). Instruktiv Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 3. Aufl. 2012, S. 809 ff. Bilski/Schmid, NJOZ 2019, 657; Yuan, RW 2018, 477, 484. Yuan, RW 2018, 477, 485. Frochte, Maschinelles Lernen, 2. Aufl. 2019, S. 20. Ashley, Artificial Intelligence and Legal Analytics, 2017, S. 109; Bilski/Schmid, NJOZ 2019, 657; Yuan, RW 2018, 477, 485. Armour/Eidenmüller, ZHR 183 (2019), 169, 174 mwN. Bilski/Schmid, NJOZ 2019, 657, 658 mwN; Yuan, RW 2018, 477, 486. Yuan, RW 2018, 477, 486. Frochte, Maschinelles Lernen, 2. Aufl. 2019, S. 23; Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 3. Aufl. 2012, S. 960 ff.; Yuan, RW 2018, 477, 487.

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zum Teil über gelabelte Daten, kommt schließlich das semi-überwachte Lernen12 in Betracht. Allen Lernvarianten ist gemein, dass aus ex post-Perspektive kaum oder nur diffizil beurteilt werden kann, auf Grundlage welcher Reize der selbstlernende Algorithmus sein Verhalten angepasst und die jeweilige Entscheidung gefällt hat.13 Neben der Möglichkeit der Implementierung selbstlernender Algorithmen können KI-Systeme architektonisch auch auf künstlichen neuronalen Netzen beruhen. Die dargestellten Lernmethoden finden insoweit ebenfalls Anwendung.14 Künstliche neuronale Netze basieren auf Neuronen und Verknüpfungen, die durch die Überschreitung bestimmter Schwellenwerte aktiviert werden.15 Mithilfe von gewichteten Synapsen werden die Neuronen zu einem Netzwerk verbunden, welches in seiner Gesamtheit wiederum eine mathematische Funktion abbildet.16 Die Neuronen sind üblicherweise über Schichten (layer) miteinander verknüpft.17 Sobald mehr als eine Schicht (single-layer18 bzw. Perzeptron-Netz19) vorhanden ist, spricht man von einem tiefgehenden Lernen (deep learning).20 Hierbei existiert neben dem Inputund dem Output-Layer mindestens noch eine dazwischenliegende Schicht (sog. hidden-layer).21 Künstliche neuronale Netze sollen die Verarbeitungsprozesse des menschlichen Gehirns simulieren und sind deshalb besonders dazu geeignet, auch unternehmerisches Denken nachzuahmen.22 Aufgrund der Komplexität der hierbei entstehenden Netzstrukturen gilt der Entscheidungsfindungsprozess eines künstlichen neuronalen Netzes als nicht oder jedenfalls als kaum mehr rekonstruierbar.23 Letzteres gilt umso mehr, je mehr Schichten das Gesamtnetz aufweist.24

III. KI als Führungskraft? 1. KI als Vorstandsmitglied? Widmet man sich nun der Frage, ob der Einsatz von KI für eine (kluge oder gar richtigere) unternehmerische Entscheidung so wertvoll ist, dass ein KI-System sogar als Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft fungieren sollte, so ist festzuhalten: De lege lata ist das zumindest in Deutschland nicht möglich. Dem steht nämlich bereits die 12 Dazu Yuan, RW 2018, 477, 485. 13 Zech, ZfPW 2019, 198, 217. 14 Siehe Bilski/Schmid, NJOZ 2019, 657, 658, wonach künstliche neuronale Netze auch überwacht trainiert werden können. 15 Frochte, Maschinelles Lernen, 2. Aufl. 2019, S. 162; Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 3. Aufl. 2012, S. 846 f.; Yuan, RW 2018, 477, 489 f. 16 Bilski/Schmid, NJOZ 2019, 657, 658. 17 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 3. Aufl. 2012, S. 847 ff. 18 Yuan, RW 2018, 477, 490. 19 Russell/Norvig, Künstliche Intelligenz, 3. Aufl. 2012, S. 848. 20 Yuan, RW 2018, 477, 490. 21 Frochte, Maschinelles Lernen, 2. Aufl. 2019, S. 172; Yuan, RW 2018, 477, 490. 22 Vgl. Hoch, AcP 219 (2019), 646, 654 ff. 23 Hoch, AcP 219 (2019), 646, 656. 24 Vgl. Frochte, Maschinelles Lernen, 2. Aufl. 2019, S. 172.

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Vorschrift des § 76 Abs. 3 Satz 1 AktG entgegen. Danach dürfen nur natürliche und unbeschränkt geschäftsfähige Personen Vorstandsmitglied sein. KI-Systeme sind aber nicht-lebendige Systeme, die nach derzeitigem Stand auch nicht voll geschäftsfähig sein können, auch wenn bereits über eine gegenständlich begrenzte partielle Rechtsund Geschäftsfähigkeit nachgedacht wird.25 Im Übrigen sind bereits die anerkannten rechtlichen Konstrukte juristischer Personen nicht organfähig. Dies muss dann wohl erst recht für KI-Systeme gelten, deren Rechtssubjektivität26 zwar diskutiert, aber als „e-Person“ bei weitem noch nicht anerkannt wird. Ferner können KI-Systeme nicht ausreichend mit anderen (menschlichen) Vorstandsmitgliedern interagieren. Letzteres kollidiert mit § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG, denn eine anstehende Entscheidung des Vorstands kann wohl kaum mit einer KI gemeinschaftlich diskutiert und abgestimmt werden.27 Womöglich muss man aber zukunftsgerichtet umdenken, weil man anderenorts der Auffassung ist, dass KI-Systeme sehr wohl Vorstandsaufgaben erfüllen können. Immerhin scheint es bereits Praxisbeispiele wie etwa in Hongkong zu geben. Aber das täuscht: Der dort von der Venture-Capital-Gesellschaft „Deep Knowledge Ventures“ in den Vorstand berufene Algorithmus „VITAL“28 ist zwar publizistisch als Vorstandsmitglied zelebriert worden,29 das KI-System ist in Wahrheit aber nur als eine Art Beobachter („member of [the] board with observer status“30) miteinbezogen worden und war daher kein echtes Vorstandsmitglied.31 Es bleibt also die Frage, wie man damit umgehen soll, dass KI-Systeme gerade bei solchen Entscheidungen dem Menschen überlegen sind, die ein Höchstmaß an Komplexität hinsichtlich des zu evaluierenden Datenumfangs aufweisen.32 Die Antwort ist nicht leicht, weil sie in den innersten Kern einer unternehmerischen Entscheidung 25 Für eine partielle Rechtsfähigkeit Schirmer, JZ 2019, 711, 716 f.; gegen eine Übertragbarkeit des Modells der Geschäftsfähigkeit Kluge/Müller, InTeR 2017, 24, 25 f. 26 Zur Diskussion siehe Beck in Hilgendorf/Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung, 2013, S. 239 ff.; Erhardt/Mona in Gless/Seelmann (Hrsg.), Intelligente Agenten und das Recht, 2016, S. 61 ff.; Gruber in Gruber/Bung/Ziemann (Hrsg.), Autonome Automaten, 2014, S. 191 ff.; Günther, Roboter und rechtliche Verantwortung, 2016, S. 251 ff.; Kersten, JZ 2015, 1 ff.; Kluge/Müller, InTeR 2017, 24, 29 f.; Martini, Blackbox Algorithmus, 2019, S. 290 ff.; Schirmer, JZ 2019, 711 ff.; Schirmer, JZ 2016, 660 ff.; Solum, North Carolina Law Review 70 (1992), 1231 ff.; aus rechtsphilosophischer Perspektive befürwortend Teubner, ZfRSoz 27 (2006), 5 ff.; aus philosophischer Sicht begrüßend Matthias, Automaten als Träger von Rechten, 2008, S. 85 ff. 27 Zetzsche, AG 2019, 1, 10. 28 VITAL steht für „Validating Investment Tool for Advancing Life Sciences“, siehe https:// asia.nikkei.com/Business/Artificial-intelligence-gets-a-seat-in-the-boardroom (zuletzt aufgerufen am 16.12.2020). 29 Siehe https://asia.nikkei.com/Business/Artificial-intelligence-gets-a-seat-in-the-boardroom (zuletzt aufgerufen am 16.12.2020). 30 Siehe https://asia.nikkei.com/Business/Artificial-intelligence-gets-a-seat-in-the-boardroom (zuletzt aufgerufen am 16.12.2020). 31 Möslein, ZIP 2018, 204, 206 mwN; Strohn, ZHR 182 (2018), 371; Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1136. 32 Möslein, ZIP 2018, 204, 206.

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führt. Darüber ist viel geschrieben worden,33 Einigkeit besteht jedenfalls dahingehend, dass eine solche Entscheidung regelmäßig eine wertende Betrachtung erfordert, welche Option den wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens und damit seiner Aktionäre, aber auch den Interessen seiner Mitarbeiter und letztlich auch der Öffentlichkeit (also der „Gesellschaft“ im weiteren Sinne, einschließlich des wechselnden politischen Umfelds) am besten entspricht.34 Ein derartiger Abwägungsvorgang ist durch ein KI-System nach hier vertretener Auffassung nicht zu leisten, weil hierbei nicht nur die menschliche Intuition, sondern auch die Einbeziehung eines Wertekataloges von Ethik bis Umwelt eine wichtige Rolle spielt; ergänzend seien die Grundsätze der Corporate Governance und der Corporate Social Responsibility angeführt. KISystemen ist es lediglich möglich, messbare Faktoren, die einer logischen Größe zugänglich sind, zu berücksichtigen, ihnen fehlt hingegen ein „ethischer Kompass“35. Moralische Aspekte oder andere situativ sowie empathisch36 ein Ermessen prägende Gesichtspunkte kann ein dem Rationalen verhaftetes KI-System gerade nicht abwägen. Das lässt uns die eingangs gestellte Frage auch für die Zukunft mit „nein“ beantworten: Als Vorstandsmitglied kann, darf und sollte ein KI-System nicht operieren. 2. KI als Aufsichtsratsmitglied? Auf der Ebene des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft mag dies anders aussehen: Schon vor Jahren wurde die Frage nach einer „Kontrolle der Kontrolleure“ gestellt, nachdem nicht nur in der (früheren) „Deutschland-AG“ so manches „danebenging“, was Aufsichtsräte bei pflichtgemäßer Ausübung der ihnen gesetzlich zugedachten Pflichten und Kompetenzen hätten verhindern können und sollen.37 Das legt die Überlegung nahe, dass KI womöglich besser geeignet ist, die Überwachungsfunktion des Aufsichtsrats nach § 111 AktG wahrzunehmen, die Prüfung des Rechnungswesens nach § 171 AktG durchzuführen und ggf. sogar die Auswahlkriterien im Rahmen der Personalkompetenz38 nach § 84 AktG vorzugeben.

33 Siehe z.B. Lohse, Unternehmerisches Ermessen, 2005; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002; Peus, Die Haftung des Vorstands der Aktiengesellschaft zwischen unternehmerischer Freiheit und sozialer Pflicht, 2015; Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, 2001. 34 Zu den Kriterien unternehmerischer Entscheidungen siehe Pfertner, Unternehmerische Entscheidungen des Vorstands, 2017, S. 97 ff. 35 Martini, JZ 2017, 1017, 1018; zu den ersten Versuchen, Algorithmen moralisches Denken beizubringen, siehe aber Misselhorn, Grundfragen der Maschinenethik, 4. Aufl. 2019, S. 115 ff. 36 Zur fehlenden Empathie von KI-Systemen siehe Hoffmann-Riem, AöR 142 (2017), 1, 30; Martini/Nink, DVBl 2018, 1128, 1136 f. 37 Hoerdemann, ZRP 1997, 44 ff. 38 So existiert z.B. das Produkt „Ideal“ zur Personalauswahl, siehe https://ideal.com/ (zuletzt aufgerufen am 16.12.2020); zu dem Einsatz von KI im Personalwesen siehe Joos, NZA 2020, 1216 ff.

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De lege lata ist auch das nicht möglich: Ebenso wie beim Vorstand sieht § 100 Abs. 1 Satz 1 AktG vor, dass Mitglied des Aufsichtsrats nur eine natürliche und unbeschränkt geschäftsfähige Person sein kann. Wollte man das für die Zukunft zugunsten von KI ändern, so ist zu bedenken, dass die Pflichten und Rechte des Aufsichtsrats mit denjenigen des Vorstands korrelieren.39 Während der Aufsichtsrat einerseits bereits getroffene Entscheidungen des Vorstands überwacht, berät er diesen andererseits in zukunftsgerichteten Angelegenheiten.40 Damit steht zwar fest, dass die unternehmerische Ausrichtung auf Digitalisierung und die digitale Transformation in das Pflichtenprogramm des Aufsichtsrats gehören.41 Das bedeutet aber nicht, dass die Erledigung von Aufsichtsratsaufgaben durch KI überhaupt oder gar besser erfolgen kann. Denn auch die vorstehend erwähnten Aufgaben des Aufsichtsrats, insbesondere Beschlüsse des Aufsichtsrats zur Vorstandsbestellung oder -abberufung oder zu seinen Vertragskonditionen, aber auch Zustimmungsvorbehalte oder Vorschläge für die Jahreshauptversammlung der Aktionäre erfordern die wertende Betrachtung verschiedenster Kriterien, die durch einen Algorithmus nicht zu leisten sind.42 Dies gilt erst recht für die Frage, ob der Aufsichtsrat als gesetzlicher Vertreter der Aktiengesellschaft ein Vorstandsmitglied für eine (angenommene) Pflichtverletzung (gerichtlich) nach § 112 Satz 1 AktG in Anspruch nehmen sollte oder nicht. Bei der Antwort auf diese Frage steht dem Aufsichtsrat ein weiter Ermessensspielraum zu. Den Maßstab bildet das bereits oben in seiner Vielschichtigkeit beschriebene Unternehmensinteresse.43 Hinzu kommt ein weiteres Kriterium, das gegen den Einsatz von KI als Aufsichtsrat spricht: Die Aufsichtsratsmitglieder werden von den Aktionären in der Hauptversammlung gewählt. Bei Unternehmen, die dem MitbestG unterliegen, bestimmen auch die Arbeitnehmervertreter über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats. Will oder soll man also zugunsten eines Algorithmus in die Grundsätze der Gewaltenteilung in der Aktiengesellschaft ebenso wie in das MitbestG und die unlängst für börsennotierte Gesellschaften eingeführte Geschlechterquote eingreifen? Dies erscheint schon aus gesellschaftspolitischen Gründen als nicht machbar, aber auch nicht als sinnvoll. Ob in fernerer Zukunft ein grundlegendes Umdenken erforderlich wird, weil sich Tendenzen zur Änderung der Verfassung der deutschen Aktiengesellschaft in Richtung des anglo-amerikanischen Board-Systems dualistischer Prägung verdichten, wird sich zeigen. Vorstellbar erschiene dabei auch ein Algorithmus als Mitglied zwar nicht der Geschäftsleitung (Executive Board), aber immerhin des kontrollierenden Board of Directors, und zwar nicht nur in der Funktion als „Observer“, sondern womöglich auch als „Supervisor“.

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Linardatos, ZIP 2019, 504, 507. Linardatos, ZIP 2019, 504, 507. Noack in FS Vetter, 2019, S. 500. Noack in FS Vetter, 2019, S. 506. Vgl. dazu die grundlegende Entscheidung des BGH in Sachen „ARAG/Garmenbeck“ v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, NJW 1997, 1926 ff.

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IV. Supportiver KI-Einsatz bei der Unternehmensführung 1. KI als Expertenrat Einen „Expertenrat“ als gesondertes Gremium innerhalb der Verfassung der Aktiengesellschaft kennt das Gesetz nicht. Sollte man die Einrichtung eines solchen aber im Hinblick auf die Überlegenheit von KI in etlichen Feldern einerseits und die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat andererseits, sich bei fehlender eigener Sachkunde von einem unabhängigen, für die zu klärende Frage fachlich qualifizierten Berufsträger beraten zu lassen, befürworten?44 KI-Systeme werden bereits heute u.a. zur Prognose und Analyse der finanziellen Unternehmensentwicklung, Umsatzmaximierung oder Kostenoptimierung eingesetzt. Legal Tech ist dabei, das Arbeiten an juristischen Fragestellungen grundlegend zu verändern. Die Ision-Entscheidung45 des BGH könnte einen zukunftsweisenden gedanklichen Ansatz liefern: Auch wenn dort die Einsatzmöglichkeiten von KI nicht berücksichtigt worden sind, so lassen sich doch die darin niedergelegten Grundsätze dem Grunde nach auf einen KI-basierten Rechtsrat (mit gewissen Modifikationen) übertragen.46 Nach den Ision-Grundsätzen ist eine Enthaftung des Vorstands dann möglich, wenn bei fehlender eigener Sachkunde unter umfassender Darlegung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der insoweit erforderlichen Unterlagen Rechtsrat durch einen unabhängigen, fachlich qualifizierten Berufsträger eingeholt worden ist und dieser Rechtsrat einer sorgfältigen Plausibilitätskontrolle des Vorstands Stand halten konnte.47 Ein KI-System selbst ist zwar kein fachlich qualifizierter Berufsträger. Allerdings ist es möglich, ein KI-System zur Erteilung eines spezifischen Rechtsrates zu programmieren und zu trainieren. Unter der Voraussetzung, dass das KI-System mithilfe des hierfür erforderlichen juristischen Sachverstandes in enger Kooperation zwischen dem Programmierer, Systemtrainer und dem fachlich qualifizierten Berufsträger entwickelt worden ist und es sich in der Trainingsphase als zuverlässig erwiesen hat, kommt die Erteilung eines Rechtsrates durch ein KI-System in Betracht. Das muss aus unserer Sicht auch für andere – z.B. mathematisch/naturwissenschaftliche – Fachbereiche gelten, in denen der Vorstand eines fachspezifischen Rates bedarf und in denen ein KI-System so programmiert und trainiert werden kann, dass es solchen Rat leisten kann. Dennoch wird man KI – selbst bei Fortentwicklung der Gedanken zur Rechtssubjektivität – 44 Zur Pflicht der Einholung von Rechtsrat bei fehlender eigener Sachkunde siehe die IsionEntscheidung des BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, NGZ 2011, 1271 ff.; siehe ferner BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NGZ 2015, 792 ff.; eingehend hierzu Berger, Vorstandshaftung und Beratung, 2015. 45 BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, NGZ 2011, 1271 ff. 46 So Wagner, BB 2018, 1097, 1102 f. mit Blick auf algorithmenbasierte Legal-Tech-Systeme im Allgemeinen. 47 BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, NGZ 2011, 1271 ff.; BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NGZ 2015, 792 ff.

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nicht als eigenständiges Gremium („Expertenrat“) installieren dürfen. Ebenso wenig kommt KI als Aufsichtsrats-Ausschuss mit Beschlussvorbereitungs- oder Beschlussüberwachungsfunktion gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG in Betracht. Denn der Vorstand oder Aufsichtsrat wird sich nicht gleichsam blind auf das von einem Algorithmus gefundene rechtliche oder anderweitig fachspezifische Ergebnis verlassen dürfen, ohne es durch eine fachlich qualifizierte Person überprüfen zu lassen. Ein Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglied kann im Zweifel eine KI-basierte Empfehlung eines Fachmanns oder einer Fachfrau weitaus eher einer eigenen Kontrolle unterziehen, als das von der KI geleistete Beratungsergebnis selbst. So gilt es zu überprüfen, ob die Fragestellung als solche „KI-tauglich“ gewesen ist, ob das KISystem in der Trainingsphase angemessen überwacht worden ist und ob das Ergebnis für den konkreten Anwendungsfall plausibel erscheint. Es mag zwar in Zukunft vielleicht Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglieder geben, die einen so hohen Grad an fachspezifischem Know-how mit einem so tiefen Verständnis der Wirkungsweise von KI verbinden, dass kein „Dritter“ zwischengeschaltet werden müsste, aber allein die Beweislastumkehr bei der Enthaftung wird weiterhin für die Hinzuziehung von und die Diskussion mit Experten „aus Fleisch und Blut“ sorgen. 2. KI als Entscheidungshilfe Jedenfalls aber können KI-Systeme als Entscheidungshilfe auf Vorstands- und Aufsichtsratsebene fungieren. Im Rahmen des oben bereits erwähnten weiten unternehmerischen Ermessensspielraums, der es Vorstand und Aufsichtsrat ermöglicht, Entscheidungen im Unternehmensinteresse zu treffen, dürfen beide Gremien bestimmte Aufgaben auf ein KI-System übertragen, soweit es sich nicht um eine delegationsfeindliche höchstpersönlich wahrzunehmende Leitungs- oder Überwachungsaufgabe handelt. Im Vordergrund steht die Leitungsmacht des Vorstands: In deren Kernbereich hält die h.M. eine Delegation von Entscheidungskompetenzen für unzulässig.48 In diesem Fall ist der Einsatz eines KI-Systems von vornherein ausgeschlossen. Indes ist in den Randbereichen der Unternehmensleitung die Delegation bestimmter Entscheidungen an ein KI-System durchaus zulässig. Zu differenzieren ist dabei zwischen der strategischen Unternehmensleitung und operativen Funktionen nebst des internen Kontrollsystems.49 Bei der strategischen Leitung kann z.B. die Frage aufkommen, ob ein bestimmtes Unternehmen erworben werden soll. Hier ließe sich eine umfassende Due Diligence an ein KI-System durchaus delegieren, zumal das KI-System auf die Überprüfung bestimmter Konstellationen und Klauseln gezielt programmiert und trainiert werden kann, wobei derartige Prüfungen meist die Evaluation immens vieler Daten voraussetzen. Letztlich muss aber der Vorstand entscheiden, ob der Empfehlung des KI-Systems als Ergebnis der Due Diligence nachgekommen werden soll. Ferner können KI-Systeme auch zum Zwecke der Risikofrüherkennung eingesetzt werden. KI-Systeme sind geradezu prädestiniert dafür, dem Vorstand bei der Früherkennung von den Fortbestand des Un48 Zetzsche, AG 2019, 1, 7. 49 Zetzsche, AG 2019, 1, 6.

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ternehmens gefährdenden Entwicklungen zu helfen und auf diese Weise ein effektives Überwachungssystem i.S.d. § 91 Abs. 2 AktG darzustellen. Auch für Compliance-Management-Systeme, die für die Legalitätskontrolle und -durchsetzung auf einer umfassenden Datenerhebung aufbauen, erscheint der Einsatz von KI als kaum noch verzichtbar. KI wird sich also mehr und mehr zu einer wesentlichen Entscheidungshilfe für die am Steuer der Aktiengesellschaft stehenden Verantwortlichen entwickeln.

V. Haftungsfragen 1. Haftung des Vorstands Nicht zu unterschätzen ist die Komplexität der Haftungsfragen, die sich im Rahmen des Einsatzes von KI bei der Unternehmensleitung stellen. Die in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG verankerte „Business Judgement Rule“50 verpflichtet den Vorstand, die Grundlagen seiner Entscheidungen sorgfältig zu ermitteln, wenn er der Beweislast dafür genügen will, dass ein etwaiger wirtschaftlicher oder sonstiger Schaden nicht auf einer ihm vorzuwerfenden Sorgfaltspflichtverletzung beruht. Solange er sein Ermessen „zum Wohle der Gesellschaft“ ausübt, darf er in den Schranken der Legalitätspflicht auch bewusst geschäftliche Risiken eingehen.51 Dass das KI-System selbst als Haftungssubjekt nicht in Betracht kommt, liegt auf der Hand. Nach den Grundsätzen zum sog. faktischen Organmitglied52 genügt zwar bereits die faktische Ausübung von organschaftlichen Befugnissen in Kenntnis des Aufsichtsrats, um die Haftung nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG auszulösen; ein tatsächlicher Bestellungsakt ist hierfür nicht erforderlich.53 Aber das greift schon nicht für eine juristische Person, weil sie nicht organfähig ist,54 und damit erst recht nicht für ein KI-System. Es erscheint bislang auch (noch) nicht vorstellbar, dass ein KI-System selbst und unmittelbar über eine D&O-Versicherung für der Aktiengesellschaft oder Dritten zugefügte Schäden versicherbar ist. Eine Fehlentscheidung oder ein falscher Rat einer KI lässt sich aber womöglich dem Vorstand als eigener Fehler entsprechend § 278 Satz 1 BGB oder § 831 BGB zurechnen. Eine Zurechnung analog § 278 Satz 1 BGB scheitert jedoch bereits daran, dass KI-Systeme mangels ethischer und moralischer Vorstellungen keine Einsicht in das Unrecht ihrer Handlungen entwickeln und aus diesem Grunde auch nicht als schuldfähig angesehen werden können.55 § 831 BGB setzt zwar nach h.M. nicht die Ver-

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Siehe nur Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 43 ff. Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 43, 52 u. 63. Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 18 ff. Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 18 mwN. Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 20 mwN. So auch Möslein, ZIP 2018, 204, 210 mwN; siehe ferner Horner/Kaulartz, CR 2016, 7.

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schuldensfähigkeit des Verrichtungsgehilfen voraus,56 allerdings erfolgt eine Zurechnung nur zum Geschäftsherrn, also der Aktiengesellschaft selbst, und nicht zum Vorstand.57 Nachgedacht wird deshalb über eine Gefährdungshaftung, ähnlich wie im Straßenverkehr oder bei der Tierhalterhaftung.58 Allerdings ist bei einer durch den Vorstand eröffneten Gefahrenquelle wiederum die Aktiengesellschaft selbst verantwortlich (§ 31 BGB) und nur in seltenen Fällen der Vorstand persönlich.59 Zur Diskussion stehen also (nur) unmittelbar eigene Pflichten des Vorstands. Setzt er das KI-System als rein supportive Entscheidungshilfe ein, so kann dies bereits im Rahmen der Informationsgewinnung von grundlegender Bedeutung für seine Haftung sein. Denn Grundbedingung für eine den Anforderungen eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters genügende Sorgfalt ist die Schaffung einer „angemessenen Informationsgrundlage“.60 Was in der konkreten Entscheidungssituation angemessen ist, bemisst sich danach, ob die aus ex ante-Perspektive vernünftigerweise zu beachtenden Informationen eingeholt wurden, hierbei alle verfügbaren Informationsquellen ausgeschöpft und auf dieser Grundlage die Vor- und Nachteile der bestehenden Handlungsoptionen sorgfältig abgeschätzt worden sind.61 Das bedeutet für die Sorgfaltspflicht des Vorstands: Sofern die unternehmerische Entscheidung von einer umfassenden Datenanalyse abhängt, welche durch einen selbstlernenden Algorithmus besser als durch einen Menschen vorgenommen werden kann, kann der Einsatz eines KI-Systems sogar geboten sein, weil andernfalls die Angemessenheit der Informationsgrundlage nicht gewährleistet werden könnte.62 Eine Verpflichtung zum Einsatz eines KI-Systems kann sich weiterhin daraus ergeben, dass dessen Einsatz branchenüblich geworden und erforderlich ist, um mit dem verdrängenden Wettbewerb standhalten zu können.63 Allerdings darf der Vorstand – wie oben bereits erwähnt – nicht gleichsam blind auf die Richtigkeit der Entscheidung des KI-Systems vertrauen.64 Vielmehr muss er diese einer Plausibilitätskontrolle unterziehen, die für ihn nicht unproblematisch ist. Es müsste nämlich kontrolliert werden können, ob das KI-System auf Grundlage sachgerechter Informationen die für das Unternehmen beste Entscheidung gefunden hat. Dabei besteht die Gefahr, dass sich das KI-System von den implementierten Zielvor56 Lorenz, JuS 2020, 821; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 831 BGB Rz. 34 a.E. mwN.; siehe ferner Hacker, RW 2018, 243, 267, der die Frage der Verrichtungsgehilfeneigenschaft in Bezug auf ein KI-System eines zumindest signifikant mittelstarken Autonomiegrades bejaht. 57 Möslein, ZIP 2018, 204, 210. 58 Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1136 mwN. 59 Weber/Kiefner/Jobst, NZG 2018, 1131, 1136 mwN. 60 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 55. 61 So BGH v. 14.7.2008 – II ZR 202/07, NGZ 2008, 751 (Ls. 1), allerdings mit Bezug zur GmbH. 62 Linardatos, ZIP 2019, 504, 508; Möslein, ZIP 2018, 204, 209 f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 56. 63 Strohn, ZHR 182 (2018), 371, 377. 64 Spindler, CR 2017, 715, 723.

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gaben entfernt. Zwar kann der Programmierer das Ziel des Systems im Code definieren und sog. High-Level-Spezifikationen65 integrieren, um den Lernvorgang des KISystems ein Stück weit einzugrenzen. Allerdings ist es schwierig, dies hinreichend konkret festzulegen. Zudem ist KI-Systemen gerade immanent, dass ihr Entscheidungsfindungsprozess aus ex post-Perspektive kaum zurückverfolgt werden kann. Dies führt zu einer erheblichen Erschwernis bei der Überprüfung einer KI-Entscheidung. Kann dieser Intransparenz überhaupt kompensatorisch begegnet werden, d.h. gibt es Maßnahmen, die vom Vorstand zur Erklärbarkeit des Entscheidungsverhaltens des KI-Systems ergriffen werden können? Die sog. explainable AI66 (Artificial Intelligence), die versucht, den Lernvorgang und das Entscheidungsverhalten eines KI-Systems verständlich zu machen, befindet sich noch im Anfangsstadium.67 Dennoch – oder gerade deshalb – sollte deren Implementierung im Unternehmensbereich gefördert werden, um so zukünftig eine transparente und damit vertrauenswürdige KI68 zu schaffen. Darüber hinaus muss sich das KI-System in der Trainingsphase als zuverlässig erwiesen haben.69 Um eine hinreichende Kontrolle über das KI-System auch in der Anwendungsphase zu behalten, muss es ferner möglich sein, den gewollten erlernten Trainingszustand „einzufrieren“.70 Für die Haftung des Vorstands sollten daher KI-spezifische Sorgfaltspflichten gelten, die freilich noch nicht in der Rechtsprechung und bislang allenfalls unvollkommen in der Literatur entwickelt worden sind. Es kann und darf jedenfalls nicht vom Vorstand erwartet werden, dass er jeden Einzelschritt des KI-Systems überprüft. Dies kann selbst ein Informatiker nicht leisten. Zudem würde dadurch der Nutzen des KI-Systems gänzlich infrage gestellt. Jedenfalls ist der Vorstand aber gehalten, das KI-System auf seine „generelle Systemfunktionalität“71 hin zu überprüfen. Dafür könnten dann doch wieder sinngemäß die in § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB geregelten Grundsätze des Auswahl- und Überwachungsverschuldens herangezogen werden: Bei der Auswahl und Überwachung des KI-Systems, des Programmierers und des Trainers sowie der Trainingsdaten ist mithin die Sorgfalt anzuwenden, die der Verkehr an ein ordentliches und gewissenhaftes Vorstandsmitglied stellt. Der Vorstand handelt dann sorgfaltsgemäß, wenn er das KI-System sorgfältig ausgewählt und dessen Einsatz hinreichend überwacht hat. Das KI-System muss für die konkrete Einzelfallentscheidung dem Grunde nach geeignet sein, d.h. es muss möglich sein, die Ent65 66 67 68

Zech, Gutachten 73. DJT, 2020, Bd. 1, A 35. Deeks, Columbia Law Review 119 (2019), 1829 ff.; Waltl/Vogl, DuD 42 (2018), 613 ff. Linardatos, ZIP 2019, 504, 505. Zu den Anforderungen an eine vertrauenswürdige KI siehe Europäische Kommission, High-Level Expert Group on Artificial Intelligence, Draft Ethics Guidelines for Trustworthy AI, abrufbar unter: https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/news/draftethics-guidelines-trustworthy-ai (zuletzt aufgerufen am 16.12.2020); siehe hierzu auch Dettling/Krüger, MMR 2019, 211 ff. 69 Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 56. 70 So Zech, Gutachten 73. DJT, 2020, Bd. 1, A 37. 71 Linardatos, ZIP 2019, 504, 508 Fn. 58.

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scheidung anhand von statistischen Wahrscheinlichkeiten zu treffen. Darüber hinaus müssen die dem KI-System zugrunde liegenden Trainingsdaten sorgfältig ausgewählt worden sein, auch sollten sie auf ein mögliches Diskriminierungspotential72 untersucht worden sein. Zudem ist der Vorstand gehalten, erkennbare Fehlerquellen unverzüglich zu beseitigen und – falls notwendig – den Einsatz des KI-Systems umgehend zu beenden. Als Ergebnis ist an dieser Stelle festzuhalten: Der Einsatz eines KI-Systems kann sich für den Vorstand sowohl haftungsprivilegierend als auch haftungsbegründend auswirken. Den damit verbundenen Erleichterungen bei der Leitung des Unternehmens stehen auch Risiken gegenüber, deren Einschätzung eine nicht geringe Herausforderung für ein Vorstandsmitglied aktueller Prägung darstellt. 2. Haftung des Aufsichtsrats Die „Business Judgement Rule“ gilt nach § 116 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG sinngemäß auch für die Sorgfaltspflicht von Aufsichtsräten. Deshalb ist es nicht überraschend, dass für den Aufsichtsrat ebenso wie für den Vorstand der Einsatz von KI als Entscheidungshilfe sowohl haftungsbegründende als auch haftungsprivilegierende Auswirkungen haben kann. Jenseits der Parallelität zur Vorstandshaftung ist zu berücksichtigen: Sofern ein Sachverhalt durch das eingesetzte KI-System als risikobehaftet eingestuft wird und der Aufsichtsrat in Kenntnis dieser Einstufung nicht tätig wird, dürfte die KI-Risikobewertung jedenfalls eine indizielle Wirkung mit Blick auf einen Sorgfaltspflichtverstoß i.S.d. § 116 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG haben, d.h. den Aufsichtsrat trifft eine gesteigerte Begründungspflicht, wenn er von einer KI-Empfehlung abweichen möchte. Umgekehrt kann der Einsatz eines KI-Systems aber auch eine haftungsprivilegierende Wirkung entfalten, so etwa dann, wenn ein Risiko schlagend wird, obwohl das KI-System beispielsweise im Zusammenhang mit Compliance alle Fragestellungen ausgewertet, aber für den konkret analysierten Sachverhalt nichts als riskant erkannt hat. Allerdings muss der Einsatz eines KI-Systems auch vom Aufsichtsrat regelmäßig daraufhin kontrolliert werden, ob die Programmier- und Trainingsgrundlagen den Fragestellungen im Rahmen der Überwachungs- und Beratungsfunktion des Aufsichtsrats gerecht werden. Des Weiteren ist der Aufsichtsrat verpflichtet, sofern eine Fragestellung – erst recht eine Risikobewertung – durch ein KI-System nicht eindeutig positiv oder negativ ausfällt, den Sachverhalt erneut zu überprüfen. Zu diesem Zweck wäre es wünschenswert, dass KI-Systeme zu jedem Sachverhalt eine Wahrscheinlichkeitsprognose hinsichtlich der Risikorelevanz anstellen und diese dokumentieren. Die Dokumentation wird jedoch erst dann von Nutzen sein, wenn das KISystem in der Lage ist, sein eigenes Entscheidungsverhalten mithilfe von explainable AI für den Nutzer zu begründen. 72 Hierzu Martini, Blackbox Algorithmus, 2019, S. 334 ff.; Zweig, Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl, 4. Aufl. 2019, S. 205 ff.

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KI am Steuer der Aktiengesellschaft?

Ferner stellt sich die Frage, ob der Aufsichtsrat zur Wahrnehmung seiner Überwachungsaufgabe Zugang zu dem vom Vorstand eingesetzten KI-System erhalten sollte, oder ob der Aufsichtsrat (ggf. zusätzlich) ein eigenes KI-System betreiben sollte.73 Prima facie spricht gerade die gewollte „Gewalten“-Trennung zwischen den Organen der Aktiengesellschaft dafür, dass Vorstand und Aufsichtsrat voneinander losgelöste KI-Systeme einsetzen. Angesichts des für eine effektive Überwachung und Beratung des Vorstands durch den Aufsichtsrat vorauszusetzenden Kooperationsund Vertrauensverhältnisses74 ist daran zu denken, dass der Aufsichtsrat auf Nachfrage berechtigt sein sollte, die Vorstands-KI einzusehen und zu überprüfen. Hierfür sollte er ggf. neben seinem eigenen KI-System auch dasjenige des Vorstands zur Auswertung einsetzen dürfen.75 Ein permanenter Direktzugriff auf das Vorstands-System würde hingegen einen unverhältnismäßigen Eingriff in dessen Geschäftsleitung mit sich bringen.76 Aber ein Recht auf temporären, anlassbezogenen Zugriff zur Ausübung seiner Prüfungskompetenz könnte sinnvoll erscheinen. Auch könnte der Aufsichtsrat dazu ermächtigt werden, die zugrunde liegenden Programmier- und Trainingsdaten der Vorstands-KI anzufordern, damit er die Entscheidungsgrundlagen des Systems verifizieren kann. Um dem Aufsichtsrat derartige Befugnisse einzuräumen, sollte der bereits heute nicht mehr zeitgemäße77 Katalog der Einsichts- und Prüfungsrechte in § 111 Abs. 2 Satz 1 AktG (Gesellschaftskasse, Bestände an Waren) de lege ferenda hinsichtlich des Zugriffs auf das KI-System des Vorstands sowie die systemimmanenten Daten geändert bzw. ergänzt werden. Für eine darüber hinausgehende Implementierung eines eigenen KI-Systems auf Aufsichtsratsebene spricht, dass der Aufsichtsrat auf diese Weise unabhängig vom KI-System des Vorstands eigene spezielle „Prüfungstools“ entwickeln kann. So kann es gelingen, die Effektivität der Kontrolle und die Qualität der Beratung des Vorstands in KI-Fragen zu steigern. Allerdings setzt dies voraus, dass ein KI-versiertes Aufsichtsratsmitglied mit hinreichender technischer Expertise einen solchen KI-Integrationsprozess anstößt und begleitet. Hieran wird es derzeit noch fehlen, was wiederum eine Herausforderung für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und die Wahlvorschläge gemäß § 124 Abs. 3 Satz 1 AktG mit sich bringt:78 Neben Arbeitnehmervertretern, Geschlechtern (nach Quote), Unabhängigen, Fachkundigen, Internationalen müsste nach vertiefter digitaler Kompetenz Ausschau gehalten werden. Noack weist zu Recht darauf hin, dass das die Besetzung des Aufsichtsrats zu einer „Matrixaufgabe“ macht, die wiederum nur durch eine spezielle KI bewältigt werden kann.79

73 74 75 76 77 78 79

Diese Frage wirft auch Noack, ZHR 183 (2019), 105, 140 f. auf. Zetzsche, AG 2019, 1, 11. Noack, ZHR 183 (2019), 105, 140. Vgl. Noack in FS Vetter, 2019, S. 507 mwN. Noack, ZHR 183 (2019), 105, 140 mwN. Noack, ZHR 183 (2019), 105, 140 mwN. Noack, ZHR 183 (2019), 105, 140.

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VI. Fazit und Ausblick Insgesamt zeigt sich, dass de lege lata KI-Systeme weder als Vorstands- noch als Aufsichtsratsmitglied in Deutschland operieren dürfen. Das erscheint auch de lege ferenda nicht als erstrebenswert. Es gibt zwar gute Gründe, KI-Systeme allmählich näher an das Steuer der Aktiengesellschaft heranzuführen. Auch werden sich die Aufgaben der Organe der Aktiengesellschaft mit dem Fortschritt von künstlicher Intelligenz verändern, aber die KI sollte nach unserer Ansicht stets das Mittel zum Zweck bleiben. Der Kapitän am Steuer der Aktiengesellschaft sollte deshalb immer der Mensch bleiben. Dabei ist die Corporate Digital Responsibility (CDR) ein Thema, dem vertieft nachzugehen ist – die Unternehmensleitung mit Hilfe unterstützender KI-Systeme ist immerhin unbedenklich. Insoweit werden der Vorstand und Aufsichtsrat von morgen zunehmend gefordert sein, sich mit der generellen Funktionalität von KI-Systemen vertraut zu machen, um über ihren Einsatz adäquat entscheiden zu können. Der Umgang mit KI wird künftig Standard sein müssen, nicht nur menschliche Kreativität, sondern auch menschliches Wissen um die Programmierung selbstlernender Algorithmen und künstlicher neuronaler Netze wird erforderlich sein, um eine Aktiengesellschaft erfolgreich und zukunftsgerichtet zu steuern. Für gesetzgeberischen Handlungsbedarf sind derzeit aber noch nicht genügend Ansatzpunkte zu erkennen. Das liegt daran, dass KI noch nicht so vertrauenswürdig ist, als dass man ihr bestimmte autonome Leitungs- und Überwachungsfunktionen übertragen könnte, und dass wir – Juristen, Fachleute und (mit Verlaub) erst recht Parlamentarier – noch nicht so weit sind, alle Aspekte, die mit KI und ihren Möglichkeiten zusammenhängen, überhaupt einschätzen zu können. Wegen der bislang zu verzeichnenden weitgehenden Intransparenz von KI-Systemen können deren Entscheidungsgrundlagen kaum nachvollzogen werden, hier müssen die Ansätze der explainable AI weiter reifen. Hinzu kommt der richtige Ansatz der EU-Kommission zu ethischen Leitlinien für eine vertrauenswürdige KI: Dabei geht es um Robustheit und Sicherheit, Privatsphäre und Datenqualität, Transparenz, Vielfalt, Nichtdiskriminierung und Fairness, gesellschaftliches und ökologisches Wohlergehen, Rechenschaftspflicht und – nicht zuletzt – den Vorrang menschlichen Handelns und menschlicher Aufsicht. Die Herausforderung für den Gesetzgeber wird darin bestehen, all dies abzuwägen, um einen sachgerechten Ausgleich zwischen der rechtlichen Behandlung von KISystemen im Rahmen der Unternehmensführung und der Zuweisung von Verantwortlichkeiten beim Einsatz dieser Systeme sowie der Vermeidung unangemessener Haftungsrisiken für Unternehmensleiter zu finden. Gewarnt sei auch vor einer innovationshemmenden Überregulierung. In diesem Spannungsfeld bleibt zu hoffen, dass die Fortbildung des Rechts mit der Entwicklungsdynamik von KI-Systemen mithalten kann.

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Die Wahrung der Kompetenzgrundlagen der Europäischen Union Adrian Eugen Hollaender

Die Gründung der Europäischen Union und ihrer Vorgängerformen1 erfolgte durch freiwilligen Zusammenschluss autonomer, souveräner Staaten. Dieser wurde mittels völkerrechtlicher Verträge2 sowie Vertragsergänzungen3 vorgenommen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind daher die „Herren der Verträge“, oder auch, um es geschlechtsausgewogen zu formulieren, die „Herrinnen der Verträge“, jedenfalls aber diejenigen, die Kompetenzen an die (nunmehrige) Europäische Union übertragen haben. Dies wird in der englischsprachigen Fassung des EUV treffend als „principle of conferral of powers“ genannt.4 Die EU ist insofern Staatenbund mit supranationalen Elementen, nicht aber ein Bundesstaat.5 Die Disposition über die vertragliche Grundlage der EU ist somit (auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon) nicht den Unionsorganen überantwortet, sondern – aus deutscher Perspektive – vom Bundesverfassungsgericht überprüfbar.6 Dieses kann feststellen, ob die Unionsorgane ihre vertraglichen Kompetenzen einhalten oder überschreiten. Letzteres nennt sich „Ultra-vires“-Handeln und führt zur Nichtigkeit(sfeststellung) der solcherart in Kompetenzüberschreitung ergangenen Rechtsakte. Bereits im sogenannten Maastricht-Urteil7 prüfte das deutsche BVerfG Kompetenzüberschreitungen der europäischen Organe, verbunden mit dem Recht, diese allenfalls als „Ultra-vires“-Akte für unanwendbar zu erklären. Man könnte darin ein Spannungsverhältnis zu der dem Europäischen Gerichtshof übertragenen Aufgabe, die Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei die Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren8, erblicken und die Befürchtung hegen, dass der Anwendungsvorrang des EU-Rechts und das EU-Rechtsauslegungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs unterlaufen sowie in der Folge dadurch auch die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährdet würde, wenn jeder Mit1 EG, EWG, EGKS, Montanunion. 2 Sog. Römische Verträge, Montanunion-Abkommen, EGKS-Vertrag, EWG-Vertrag, Euratom-Vertrag, später EG-Vertag, EU-Vertrag, Vertrag über die Arbeitsweise der EU. 3 Z.B. durch den Vertrag von Amsterdam und den Vertrag von Lissabon, auch EU-Reformvertrag genannt. 4 Art. 5 Abs. 2 EUV. 5 Vgl. BVerfG v. 30.6.2009 – 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09, BVerfGE 123, 267, 370 f. 6 Vgl. BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 302 ff.; BVerfG v. 14.1.2014 – 2 BvR 2728/13, BVerfGE 134, 366, 382 ff. Rz. 22 ff.; BVerfG v. 21.6.2016 – 2 BvR 2728 bis 2731/13, 2 BvE 13/13, BVerfGE 142, 123, 198 ff. Rz. 143 ff.; BVerfG v. 30.7.2019 – 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14, Rz. 140 ff. 7 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06. 8 Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV.

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gliedstaat durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union entscheiden könnte. In der Honeywell-Entscheidung9 meinte das BVerfG, dass die Ultravires-Kontrolle „europarechtsfreundlich“ erfolgen solle und nur in Betracht komme, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert sei, was voraussetze, dass die Kompetenzwidrigkeit offensichtlich sei und der Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führe. Aber der Einwand, dass der Anwendungsvorrang des EU-Rechts und das EU-Rechtsauslegungsmonopol des Europäischen Gerichtshofs unterlaufen sowie die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefährdet würde, wenn jeder Mitgliedstaat durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten befände, geht bereits aus grundsätzlichen Erwägungen fehl, denn es handelt sich bei der Überprüfung der Kompetenzgemäßheit nicht um die Auslegung des EU-Rechts im engeren Sinne, sondern vielmehr um die Feststellung, ob überhaupt eine Zuständigkeit der EU, also eine Kompetenzgrundlage, besteht. Außerdem ist der vom Europäischen Gerichtshof in Anspruch genommene Anwendungsvorrang des EU-Rechts in keinem der EU-Verträge erwähnt, sondern eine Eigenrechtsschöpfung des Gerichtshofes selbst. Wer anders als die Höchstgerichte der Mitgliedstaaten sollte zur Überprüfung berufen sein, ob die von den Mitgliedstaaten übertragenen Kompetenzen von den Organen – und auch vom Gerichtshof – der EU wahrgenommen oder ob sich diese außerhalb von deren Grenzen bewegen? Die Wahrung der Kompetenzgrundlagen der Europäischen Union erfolgt somit zu Recht durch das Bundesverfassungsgericht, soweit es um Deutschland geht, und durch die jeweiligen Höchstgerichte, soweit es um die anderen Mitgliedstaaten geht. Solcherart sind die obersten Rechtsprechungsorgane der EU-Mitgliedstaaten dazu berufen, die Einhaltung der Kompetenzgrundlagen durch die EU-Organe zu überprüfen und allfällige Kompetenzüberschreitungen der EU-Organe festzustellen, wobei mit Kompetenzüberschreitung ein überhaupt kompetenzgrundlagenloses Handeln gemeint ist, also ein Handeln „ultra vires“. Mitunter wird ein solches Handeln auch als absolut nichtiger Rechtsakt angesehen, der – weil er eben ohne Kompetenzgrundlage erfolgt – überhaupt keine Rechtswirkung zu entfalten vermag, sodass seine Nichtigkeit nur noch deklarativ festgestellt, nicht aber konstitutiv verfügt werden muss. Ultra-vires-Akte werden somit, genau genommen, nicht durch ein Gerichtsurteil vernichtet, sondern sind per se nichtig. Das Gericht stellt lediglich diese Nichtigkeit (deklarativ) fest. Das Ergebnis ist, dass derartige Ultra-vires-Akte rechtsunwirksam und nicht verbindlich sind. Niemand muss sich daran halten, auf ihrer Grundlage irrig erbrachte Leistungen sind rückforderbar und innerstaatliche Behörden dürfen weder am Zustandekommen noch an der Umsetzung oder Vollziehung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Ein anschauliches Bespiel dafür liefert beispielsweise das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 5.5.2020.10 Mit diesem stufte das Bundesverfassungs9 BVerfG v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92. 10 BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 1651/15.

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gericht den Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 4.3.2015 (EU) 2015/774 sowie die hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702 und (EU) 2017/100 – trotz des anderslautenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs (der Europäischen Union) – mit Blick auf Art. 119 und Art. 127 ff. AEUV sowie Art. 17 ff. EZB-Satzung als Ultra-vires-Maßnahmen ein. Dabei ging es um die Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank und das dazu ergangene Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Das BVerfG kam zum Ergebnis, dass Organe bzw. Institutionen der EU (nämlich EuGH und EZB) ihre Kompetenzen überschritten hatten. Die Befugnisse der EU-Organe sind nämlich keineswegs schrankenlos und die Rechtsfindung darf nicht willkürlich-subjektiv, sondern muss sachlich-objektiv sein.11 Der deutschen Bundesbank war es infolgedessen untersagt, nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der Rat der Europäischen Zentralbank in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlege, dass die von ihr angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung war die Bundesbank verpflichtet, für eine Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen. Das BVerfG wollte damit erreichen, dass die Bundesregierung und der Bundestag aufgrund ihrer Integrationsverantwortung auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinwirken. Dies ist auch mittlerweile geschehen. Freilich waren all das keine sehr harten Konsequenzen, aber Aufsehen erregte diese Entscheidung des BVerG allemal, versagte es doch nicht nur der EZB als Organ der EU, sondern auch dem Europäischen Gerichtshof die Gefolgschaft. Das war notwendig, weil die Beschlüsse der EZB eben ohne Kompetenzgrundlage ergangen waren. Dies zeigt uns, dass zwar nicht die Auslegung des EU-Rechts im engeren Sinne, wohl aber die dem vorgelagerte Prämisse des Bestehens einer adäquaten Kompetenzgrundlage durch die nationalstaatlichen Gerichte überprüfbar ist. Diese Abgrenzung ist wesentlich. Es geht dabei (oder sollte dabei) ausschließlich um die Frage (gehen), ob das betreffende Entscheidungsorgan überhaupt zur Entscheidung befugt ist, nicht aber um die Frage, wie die Entscheidung inhaltlich ausfällt. Oft wird dies verwischt, richtigerweise ist das eine aber streng vom anderen zu trennen. Ersteres ist die Überprüfung der Kompetenzgrundlage, zweiteres die Auslegung der Rechtsanwendung im engeren Sinne. Freilich ist letztlich alles Rechtsanwendung, aber es besteht gleichwohl ein qualitativer und nicht nur ein quantitativer Unterschied, ist doch die Frage nach der Kompetenzgrundlage auf Zuständigkeitsebene, die Frage nach der Entscheidungsgestaltung hingegen auf Inhaltsebene angesiedelt. Es ist nicht anders als wenn ein erstinstanzliches Zivilgericht ein Strafurteil fällte, für 11 Vgl. näherhin: Hilpold, Ein EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen des PSPP-Urteils? Eine Abwägung von Für und Wider, EWS, Heft 4, August 2020, S. 181 ff.; Haltern, Ultra-vires-Kontrolle im Dienst europäischer Demokratie, NVwZ 2020, 817 ff.

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das es ab ovo nicht zuständig war und ist. Wenn dann das Instanzgericht dieses Urteil wegen absoluter Unzuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts aufhebt, spricht es sich nicht darüber aus, ob die verhängte Strafe inhaltlich begründet sei oder nicht, sondern es spricht sich nur darüber aus, dass das erstinstanzliche Gericht gar nicht zuständig war, überhaupt eine Strafe zu verhängen oder genauer noch: ein Strafurteil zu fällen. Es gibt für Ultra-vires-Akte noch extremere Beispiele: Etwa, dass ein Hausmeister eines Gerichts ein „Urteil“ fällt und ausfertigt. Ein solches ist (absolut) nichtig, weil der Hausmeister zur Fällung eines Urteils niemals berechtigt war. Manche stufen nur solche Fälle als absolute Nichtigkeit ein, während sie die vorerwähnten nur als Unzuständigkeit ansehen. Aber das Ergebnis ist ähnlich: In beiden Fällen wurde „ultra vires“, also über die eigenen Kompetenzen hinaus, gehandelt. Diese Kompetenzüberschreitung bewirkt bei konsequenter Betrachtung die Nichtigkeit, zumindest aber die Rechtswidrigkeit des kompetenzwidrig gesetzten Rechtsakts. Bei Nichtigkeit im Sinne absoluter Nichtigkeit ist der Akt von vornherein wirkungslos. Bei Rechtswidrigkeit oder sog. Vernichtbarkeit ist der Akt aufhebbar (und vorerst in Geltung, bis er aufgehoben wird). Aber das ändert nichts am Grundkonzept der Ultra-vires-Lehre, die im Kern besagt, dass kein Organ einen Rechtsakt setzen darf, der außerhalb ihrer Kompetenzen ist. Ein Polizist darf kein Gesetz erlassen, um wieder ein anschauliches Beispiel zur Abrundung zu bringen. Aber auch umgekehrt darf der Nationalrat (in Österreich) oder der Bundestag (in Deutschland) zwar Gesetze erlassen, aber keine Autofahrer wegen Geschwindigkeitsüberschreitung bestrafen, dafür ist wiederum der Polizist zuständig. So hat eben jedes staatliche Organ seine Kompetenzen, die es nicht überschreiten darf. Gleiches ist auch in der EU der Fall: Der Rat hat (teils alleine und teils zusammen mit dem Parlament) Gesetzgebungskompetenzen, die Kommission hat exekutive Kompetenzen. Das darf nicht vergessen werden, denn diese Kompetenzverteilung ist die Grundlage des (rechtmäßigen und rechtswirksamen) Handelns der jeweiligen Organe. Dabei geht es um eine Art Vorfrage (nicht im rechtstechnischen Sinne, aber zur besseren Verdeutlichung), nämlich darum, ob die Entscheidung vom zuständigen und zur Entscheidung berufenen Organ gefällt wurde. Es geht hingegen nicht um die Hauptfrage, ob die getroffene Entscheidung inhaltlich richtig ist oder nicht. Beim Widerstreit zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den nationalen Höchstgerichten ist diese Unterscheidung besonders bedeutsam, denn die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts einschließlich der Bestimmung der dabei anzuwendenden Methode ist zuvörderst Aufgabe des Gerichtshofs, dem es gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV obliegt, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren. Die vom Europäischen Gerichtshof entwickelten Methoden richterlicher Rechtskonkretisierung beruhen dabei auf den gemeinsamen (Verfassungs-)Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten12, wie sie sich nicht zuletzt in der Rechtsprechung ihrer Verfassungs- und Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte niedergeschlagen haben Die Handhabung dieser Me12 Vgl. auch Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 340 Abs. 2 AEUV.

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thoden und Grundsätze kann – und muss – derjenigen durch innerstaatliche Gerichte nicht vollständig entsprechen, sie kann sich über diese aber auch nicht ohne weiteres hinwegsetzen. Die Eigentümlichkeiten des Unionsrechts bedingen allerdings nicht unbeträchtliche Abweichungen hinsichtlich der Bedeutung und Gewichtung der unterschiedlichen Interpretationsmittel. Eine offenkundige Außerachtlassung der im europäischen Rechtsraum überkommenen Auslegungsmethoden oder allgemeiner, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsätze ist vom Mandat des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV nicht umfasst. Es ist vor diesem Hintergrund nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen im Unionsrecht, die auch bei methodengerechter Bewältigung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen.13 Es muss die Entscheidung des Gerichtshofs vielmehr auch dann respektieren, wenn dieser zu einer Auffassung gelangt, der sich mit gewichtigen Argumenten entgegentreten ließe, solange sie sich auf anerkannte methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint. Wenn aber der Europäische Gerichtshof etwa urteilt, ein bestimmter Beschluss eines Organs sei kompetenzgemäß, und dabei die Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit14 verkennt, so ist dies methodisch nicht mehr vertretbar. Bei dieser Handhabung kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die ihm zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht erfüllen, was das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung15 im Grunde leerlaufen lässt.16 Das sogenannte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EUV) ist ein wichtiger Grundsatz des EU-Rechts, der die Verbandskompetenz der EU begrenzt. Voraussetzung für ein Tätigwerden der EU ist demnach, dass die Mitgliedstaaten in den Verträgen zur Verwirklichung der darin festgehaltenen Ziele entsprechende Zuständigkeiten übertragen haben, während alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Dieses grundlegende Prinzip, dessen deutsche Bezeichnung weit weniger passend ist als etwa die englische („principle of conferral of powers“) stellt klar, dass die einzelnen Staaten die Herren (oder Herrinnen) der Verträge sind, sowie dass das Vorliegen eines Ziels der Union nicht für deren Tätigwerden genügt, denn dazu bedarf es einer konkreten Befugniserteilung durch die Mitgliedstaaten. Dementsprechend ist auch die Wahl der richtigen Rechtsgrundlage häufig Gegenstand der Rechtmäßigkeitskontrolle von Handlungen der Unionsorgane durch den EuGH, um die Grenzen der Zuständigkeit der Union insgesamt, aber auch der Zuständigkeiten ihrer Organe zu wahren. Dieser Grundsatz stellt zusammen mit dem Subsidiaritätsprinzip eine der wichtigsten Basisnormen der EU dar!

13 14 15 16

BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, BVerfGE 126, 286, 307. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV. BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 1651/15.

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Und gleichsam das Pendant zur nunmehr positivrechtlich verankerten, jedoch auch bereits völkerrechtlich und staatstheoretisch ableitbaren Erkenntnis, dass die Einzelstaaten der EU ihre „powers“ übertragen haben und diese nur aufgrund solcher Befugnisübertragungen tätig werden kann und darf, stellt nunmehr die Regelung in Art. 50 EUV dar, dass jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen kann, aus der Union auszutreten. Dieser – wie man derzeit am Beispiel Großbritanniens sieht: hochaktuellen – Artikel des EUV beendet einen langen Meinungsstreit: So verneinte man früher weithin ein Austrittsrecht, weil die Verträge auf unbestimmte Zeit abgeschlossen seien. Das war ein verbreitetes, wenngleich ein irriges Argument, denn das Völkerrecht kennt keine ewigen Verträge und die Staaten haben immer das Recht, durch einen actus contrarius wieder auszutreten, so wie sie zuvor eintraten, denn die Mitgliedschaft in der EU verkörpert rechtlich betrachtet eine vertragliche Selbstbindung, die – gleich ob mit oder ohne Befristung – umkehrbar ist. Nunmehr ist das Recht zum Austritt aber positivrechtlich verankert, zumal die Mitgliedstaaten selbst den Anschein von Staatlichkeit der Union oder gar den Eindruck eines unwiderruflichen Staatenbundes im Sinne eines „Völkergefängnisses“ vermeiden und das Argument des dauerhaften Souveränitätsverlusts entkräften wollten. Die bei Einführung der in Art. 50 EUV geregelten Möglichkeit des Austritts aus der EU vertretene Einschätzung mancher, dass dies ein primär symbolisches Instrument sei, dessen praktische Relevanz gegen Null tendieren werde, und dass angesichts der ungebrochenen Attraktivität der EU ein Austritt eine rein theoretische Option bleiben“ werde, hat sich bereits am Beispiel Großbritanniens der Sache nach (auch wenn der Austritt bisher nur beschlossen, aber nicht vollzogen wurde) widerlegt. Ein Austritt schließt aber freilich nicht aus, dass der sogenannte „acquis de l’Union“ etwa durch ein Austrittsabkommen gem. Art. 50 Abs. 2 EUV oder ein Assoziierungsabkommen gem. Art. 218 Abs. 8/2 AEUV für den austretenden Staat weiterhin relevant bleiben kann. Allerdings ist die gelegentlich vertretene Auffassung, dass austretende Staaten zum Abschluss eines Austrittsabkommens und überdies zur Nennung von Austrittsgründen und zur Inanspruchnahme von Schlichtungen verpflichtet seien, falsch, da sie dem klaren Wortlaut des Art. 50 EUV widerspricht, nach dem der Austritt ein einseitiges Recht darstellt. Bedingungen, die der austrittswillige Staat erfüllen müsste, um dieses Recht in Anspruch zu nehmen, lassen sich aus dem Wortlaut der zitierten Norm nicht ableiten und würden letztlich die Rolle der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge in Frage stellen. Damit schließt sich der Kreis zum erwähnten „principle of conferral of powers“ gem. Art. 5 Abs. 2 EUV und rückt die oftmals kontrovers diskutierte Staatlichkeitstheorie der EU ins adäquate Licht, weshalb gerade diesem – hier exemplarisch herausgegriffenen – Aspekt fundamentale Bedeutung für die EU insgesamt zukommt. Aus dem „principle of conferral of powers“ folgt unmittelbar die Berechtigung der Herren und Herrinnen der Verträge die Einhaltung der Kompetenzgrundlage seitens der EU-Organe durch die eigenen innerstaatlichen (Höchst-)Gerichte zu überprüfen und bei Kompetenzüberschreitung für nichtig zu erklären. Insofern bietet das „principle of conferral of powers“ eine besondere Grundlage für die Anwendung der Ultravires-Lehre auf kompetenzwidrige Rechtsakte der EU-Organe und ist die Nichtig-

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Die Wahrung der Kompetenzgrundlagen der Europäischen Union

erklärung derartiger Rechtsakte das den einzelnen Mitgliedstaaten obliegende Mittel zur Wahrung der Kompetenzgrundlagen der Europäischen Union! Die EU-Kommission sah das allerdings anders und strengte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ein, weil aus ihrer Sicht EU-Recht immer dem nationalen Recht vorgehe und es weder einen sogenannten integrationsfesten Verfassungskern der Mitgliedstaaten gebe noch eine Kompetenz der Höchstgerichte der Mitgliedstaaten auf Überprüfung der Rechtsakte der EU-Organe auf allfällige Kompetenzüberschreitungen. Ein Ultra-vires-Handeln der EU wäre damit nicht durch die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten wahrnehmbar. Dem steht aber die Tatsache entgegen, dass die Europäische Union durch völkerrechtliche Verträge zwischen souveränen Nationalstaaten entstanden und damit keine aus sich selbst hervorgegangene, sondern eine ihre Legitimation aus den Gründungsverträgen ableitende Institution ist. In concreto ist die Reichweite des europarechtlichen Anwendungsvorrangs strittig, da ja bekanntlich der Europäische Gerichtshof das Prinzip entwickelte, dass EURecht generell über nationalem Recht stehe und die Rechtsprechung des EuGH bindend für alle nationalen Gerichte sei, was auch von den Mitgliedsstaaten grundsätzlich akzeptiert wird, und zwar nicht nur im einfachgesetzlichen Bereich, sondern selbst da, wo mitgliedstaatlichen Verfassungsbestimmungen durch EU-Recht derogiert wird. Die Grenzlinie liegt allerdings beim sogenannten integrationsfesten Verfassungskern bzw. in Deutschland mitunter auch beim sogenannten Identitätskern des Grundgesetzes. Dazu zählen beispielsweise die Menschenwürde (Artikel 1 GG), das Demokratieprinzip, das Sozialstaatsprinzip und die föderale Ordnung (alles Artikel 20 GG). Denn für Artikel 1 und 20 GG gilt die in Artikel 79 Absatz 3 leg cit festgelegte sogenannte Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes. Demnach dürfen selbst Bundestag und Bundesrat diese Verfassungsgrundsätze nicht ändern. Somit gibt es einen unveräußerlichen Identitätskern des deutschen Staates, der folglich auch nicht der Entscheidungsgewalt von EU-Organen preisgegeben sein kann. In konsequenter Anwendung dieser Grundsätze kam das Bundesverfassungsgericht – wie eingangs dargestellt – zum Urteil, dass die Europäische Zentralbank durch die Staatsanleihenkäufe ihr Mandat überschritten und somit eine EU-Institution ihre Kompetenzen exzediert und daher ultra vires gehandelt habe, wodurch eine Verletzung des Identitätskerns des Grundgesetzes vorliege, was zugleich auch für das vorangegangene Urteil des EuGH, das die Anleihenkäufe für rechtmäßig erklärt hatte, ohne das Problem der Mandatsüberschreitung näher zu prüfen, gelte. Darin erblickte wiederum die EUKommission ihrerseits (von ihrem Standpunkt ebenso konsequent) eine Nichtbeachtung des (von ihr als absolut angenommenen) Anwendungsvorrangs des EU-Rechts und der Rechtsprechung des EuGH und leitete daher ein Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland ein. Dessen Ausgang wird mit Spannung entgegenzusehen sein, denn es geht dabei letztlich um die Kernfrage, ob die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten den Identitätskern ihrer Verfassungen hüten können, dürfen und müssen, oder ob die Auslegungskompetenz des EuGH gleichsam unbeschränkt ist. Dann nämlich wären zwei Konsequenzen daraus zu ziehen: In praktischer Hinsicht könnten Rechtsakte der EU 147

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nicht mehr von den Höchstgerichten ihrer Mitgliedstaaten daraufhin überprüft werden, ob sie mit deren grundlegenden Verfassungsprinzipien übereinstimmen. Und in theoretischer Hinsicht wäre dann die EU mit ihren Rechtsakten wohl nicht mehr als auf abgeleiteter Legitimation beruhend anzusehen, sondern als sich selbst legitimierende Institution, was eine dem überwiegenden Schrifttum widerstreitende Auffassung wäre. Somit kommt gerade diesem Vertragsverletzungsverfahren besondere Bedeutung zu, auch wenn der eigentliche Anlassfall kaum mehr konkrete Aktualität aufweist. Es geht hier vielmehr um die europarechtliche Essenz und zugleich auch um grundlegende verfassungsrechtliche Gesichtspunkte aus der Perspektive der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten der EU. Und in rechtsphilosophischer Hinsicht geht es um die Legitimation des Rechts, um den zentralen Rechtsgeltungsaspekt schlechthin, was uns letztlich zu den Überlegungen von Hobbes, Locke und Montesquieu zurückführt, deren Grundfragen an Aktualität offenbar nichts eingebüßt haben. Es wird daher interessant sein, die von ihnen dereinst aufgestellten Grundsätze staatlicher Legitimation auf die konkreten Entwicklungen in der Gegenwart anzuwenden und letztere daran zu messen!

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Ausgewählte Problemkreise zu Wettbewerbsverboten im Rahmen von Gemeinschaftsunternehmen – Hinweise zur Vertragsgestaltung und zur Vertragsanwendung Christian Jostes

Inhaltsübersicht I. Problemkreis 1: Vertragsgestaltung/ Inhalt des Wettbewerbsverbots 1. Zeitliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes 2. Aus dem Wettbewerbsverbot Verpflichtete 3. Räumliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes 4. Gegenständliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes 5. Konkurrenztätigkeit

II. Problemkreis 2: Vertragsanwendung/ Inhalt des Wettbewerbsverbots 1. Zeitliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes 2. Aus dem Wettbewerbsverbot Verpflichtete 3. Räumliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes 4. Gegenständliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes 5. Konkurrenztätigkeit III. Zusammenfassung

Gerne erinnere ich mich an die Zeit der Zusammenarbeit mit dem Jubilar der Festschrift, Alexander Reuter zurück. Als ich bei White & Case in Düsseldorf als junger Rechtsanwalt anfing, hatte ich zwar manches theoretische Wissen, aber keine gescheite Idee davon, dieses auch ganz praktisch umzusetzen. Dass nun „Training on the job“ anstand, wie man in Großkanzleien so sagt, war klar. Dass es so ein intensives Training werden würde, das mich in den kommenden Jahren dann durch nahezu jedes Rechtsgebiet führen würde, war mir nicht klar. Schon gar nicht, dass der Weg zu tiefgreifenden juristischen Erkenntnissen (selbstredend) mit einem Stehpult und einem unerschöpflichen Reservoir an Weisheiten, Zitaten, Redewendungen und historischen Einordnungen gepflastert sein würde. Immer galt das Interesse des Jubilars der vollkommenen, allseitigen Durchdringung des Falles, dem Kampf um jede Einzelheit. Wenn man seine Kritik an Formulierungen in Vertragsentwürfen mit dem Hinweis konterte, die Formulierung habe er in einem ähnlichen Fall in der Vergangenheit schließlich selber benutzt, dann stieß man auf Verständnislosigkeit. Für ihn war heute ein anderer Tag und eine gute Vorlage von gestern nur die Chance, es heute besser zu machen. Das war nicht immer leicht und manche Nacht lang. Rückblickend wollte ich es aber nicht anders und bin ihm dankbar für die Ausbildung und die Zeit, die er sich dabei genommen hat. Natürlich steht ein bau- und farbgleiches Stehpult heute in meinem Arbeitszimmer. Ein wiederkehrendes Thema der Tätigkeit des Jubilars ist die umfassende Auseinandersetzung mit Wettbewerbsverboten in unterschiedlichsten Konstellationen. Gegenstand dieses Beitrags sollen Wettbewerbsverbote sein, die sich die Gesellschafter von 149

Christian Jostes

einem Gemeinschaftsunternehmen gegenseitig auferlegen. Gesellschaftern, die keine kontrollierende Beteiligung am Gemeinschaftsunternehmen haben, wird man regelmäßig kein Wettbewerbsverbot auferlegen können. Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen soll daher ein Gemeinschaftsunternehmen sein, an dem beide Gesellschafter zu je 50 % beteiligt sind und auf dessen Geschäftsaktivitäten sie jeweils kontrollierenden Einfluss ausüben (z.B. über das Recht, Geschäftsführer zu bestellen, Mitbestimmungsrechte). Die Motive für die Gründung eines solchen Gemeinschaftsunternehmens sind vielfältig: Teilweise geht es darum, die Chancen und insbesondere die Risiken einer Unternehmung auf zwei Schultern zu verteilen, teilweise darum, Stärken des einen Gesellschafters mit Stärken des anderen Gesellschafters in einer Unternehmung zu bündeln und dadurch einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Auch die Sicherung der Rohstoffbasis und Kostenersparnisse sind nicht selten Treiber für die Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens. Manchmal erwächst ein Gemeinschaftsunternehmen auch aus der Not konkurrierender Unternehmen, z.B. wenn ein Zusammenschluss die Antwort auf Überkapazitäten im Markt darstellt. Allen diesen Konstellationen ist gemein, dass sie die Hoffnung der Gesellschafter auf bestimmte aus dem Zusammenschluss resultierende Vorteile in sich tragen. Dem stehen jedoch Risiken gegenüber, die daraus erwachsen, dass die Gesellschafter ihre gesamten Aktivitäten eines Geschäftsbereichs in einem Gemeinschaftsunternehmen konzentrieren. Dies birgt die zumindest latente Gefahr, dass ein Gesellschafter Knowhow, sei es technisches, betriebswirtschaftliches, produktionsspezifisches oder sonstiges Know-how, aus dem Gemeinschaftsunternehmen absaugt und während des Bestehens des Gemeinschaftsunternehmens oder zu einem Zeitpunkt nach seinem Ausscheiden in einer anderen (eigenen) Unternehmung nutzt. Die Parteien sind sich dieser Gefahr regelmäßig bewusst und vereinbaren für solche Fälle üblicherweise ein Wettbewerbsverbot (in eine8r Gesellschaftervereinbarung, einem Kooperationsvertrag oder einer ähnlichen schuldrechtlichen Vereinbarung, gegebenenfalls auch in einer Satzung des Gemeinschaftsunternehmens). Ziel eines solchen Verbotes ist es, dass kein Gesellschafter diejenigen Aktivitäten, die im Gemeinschaftsunternehmen zusammengeführt werden, für eine gewisse Zeit in anderen Unternehmungen zum Nachteil des Gemeinschaftsunternehmens betreibt. Dabei ist sowohl bei der Vertragsgestaltung als auch bei der Vertragsanwendung einiges zu beachten:

I. Problemkreis 1: Vertragsgestaltung/Inhalt des Wettbewerbsverbots Wird man als Rechtsanwalt eingeschaltet, um bei der Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens ein Wettbewerbsverbot aufzusetzen, so hat man bei der Vertragsgestaltung ganz unterschiedliche Sachverhalte in den Blick zu nehmen: Bringen die Gesellschafter jeweils ihre gesamten Aktivitäten eines bestimmten Geschäftsbereichs, die klar abgrenzbar von anderen Aktivitäten der jeweiligen Gesellschafter sind, in ein Gemeinschaftsunternehmen ein, stellt dies andere Herausforderungen an die Vertragsgestaltung, als wenn der zusammenzuführende Geschäftsbereich Über150

Ausgewählte Problemkreise zu Wettbewerbsverboten

lappungen mit anderen Geschäftsbereichen eines oder gar beider Gesellschafter aufweist. Bei der Vertragsgestaltung sind daher die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Natürlich gilt hier der Grundsatz: Schematische Lösungen verbieten sich. Ein Wettbewerbsverbot beinhaltet typischerweise folgende Tatbestandsmerkmale: 1. Für einen gewissen Zeitraum (zeitliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes) 2. werden die Gesellschafter und gegebenenfalls weitere Dritte (aus dem Wettbewerbsverbot Verpflichtete) 3. örtlich begrenzt (räumliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes) 4. im Geschäftsbereich des Gemeinschaftsunternehmens (gegenständliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes) 5. nicht in Konkurrenz zum Gemeinschaftsunternehmens tätig werden. Im Einzelnen: 1. Zeitliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes Die Dauer des Wettbewerbsverbotes ist zwingend zeitlich zu begrenzen, damit das Wettbewerbsverbot Wirksamkeit erlangt. Sie umfasst standardmäßig zunächst den Zeitraum, in dem die jeweilige Partei Gesellschafter des Gemeinschaftsunternehmens ist und gestaltet somit individualvertraglich ein gesetzlich ohnehin geltendes Wettbewerbsverbot aus. Diese Praxis hat die Europäische Kommission jüngst bestätigt1 und ist unstreitig. Schwieriger ist die Lage bezüglich der Frage, ob das Wettbewerbsverbot auch einen gewissen Zeitraum nach dem Ausscheiden eines Gesellschafters aus der Position des Gesellschafters erfassen kann. Die Europäische Kommission sieht dies kritisch, weil sich ein solches Wettbewerbsverbot nicht mehr mit dem Zusammenschluss zum Gemeinschaftsunternehmen begründen lässt2. Das mag mit dieser Begründung richtig sein. Allerdings ist das Ausscheiden eines Gesellschafters aus dem Gemeinschaftsunternehmen ein neuer Rechtsakt, der eine eigenständigen Rechtfertigung für die Vereinbarung eines Wettbewerbsverbotes darstellt3. Das gilt unabhängig davon, in welcher Weise das Ausscheiden erfolgt (z.B. Verkauf der Beteiligung an den verbleibenden Gesellschafter, Dritte oder das Gemeinschaftsunternehmen, Einziehung). In jedem Fall besteht für einen Übergangszeitraum ein spezifisches Schutzbedürfnis des Invests des verbleibenden Gesellschafters in das Gemeinschaftsunternehmen. Da die Ausgangslage bereits bei Begründung des Gemeinschaftsunternehmens gegeben ist und ihre Regelungsbedürftigkeit auf der Hand liegt, insbesondere weil sich 1 Bekanntmachung der Europäischen Kommission ABl. EU 2005 C 56, S. 24, Rz. 36. 2 Bekanntmachung der Europäischen Kommission ABl. EU 2001 C 188, S. 5, Rz. 368. 3 Wirbel in Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, Band 1, 5. Aufl. 2019, § 28 Rz. 73; Busch, Joint Ventures in der notariellen Praxis, RNotZ 2020, 249, 267.

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eine freiwillige Vereinbarung über ein Wettbewerbsverbot sich bei Ausscheiden eines Gesellschafters nicht erzielen lassen wird, es sei denn, der ausscheidende Gesellschafter verkaufte seine Anteile an den verbleibenden Gesellschafter, kann und sollte eine solche Vereinbarung sinnvollerweise bereits bei Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens getroffen werden. Eine solche Vereinbarung ist nach richtiger Auffassung zulässig4. Die Richtigkeit dieses Angangs verdeutlicht folgendes Beispiel: Wäre es unzulässig, bereits bei Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens ein Wettbewerbsverbot für die Zeit nach dem Ausscheiden eines Gesellschafters zu vereinbaren und verkaufte ein Gesellschafter sodann seine Beteiligung an einen Dritten, so hinge der Schutz des Invests vom verbleibenden Gesellschafter in das Gemeinschaftsunternehmen davon ab, ob der Dritte dem ausscheidenden Gesellschafter ein Wettbewerbsverbot aufzuerlegen versucht und ob es ihm dann auch gelingt. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, so erwüchsen dem verbleibenden Gesellschafter aus dem Anteilskaufvertrag zwischen dem ausscheidenden Gesellschafter und dem Dritten doch keinerlei Rechte; er könnte ein – etwaig vereinbartes – Wettbewerbsverbot also gar nicht durchsetzen und bliebe auch insoweit wieder von dem Dritten abhängig. In dieser Situation wird es dem verbleibenden Gesellschafter des Gemeinschaftsunternehmens mangels Verhandlungsmasse nicht gelingen, ein Wettbewerbsverbot mit dem ausscheidenden Gesellschafter zu vereinbaren. Erst recht gelten die vorstehenden Ausführungen, wenn es im Gemeinschaftsunternehmen zu einer Zwangseinziehung von Geschäftsanteilen aufgrund des Verhaltens eines Gesellschafters kommt. Wie sollte in einer solchen konfrontativen Lage eine Einigung über ein Wettbewerbsverbot gelingen? Es ist daher wichtig, bereits bei Begründung des Gemeinschaftsunternehmens auch für die Zeit nach dem Ausscheiden eines Gesellschafters ein Wettbewerbsverbot zu vereinbaren. Für die Dauer des Wettbewerbsverbots nach dem Ausscheiden eines Gesellschafters gelten die allgemeinen Regeln für Unternehmenskäufe5. Welcher Zeitraum insoweit als zulässig gilt, ist Gegenstand umfangreicher Diskussionen. Als Richtschnur lässt sich zusammenfassen, dass (i) zwei Jahre immer zulässig sind, wenn nicht nur materielle Vermögensgegenstände, sondern auch der Geschäftswert übertragen werden, (ii) drei Jahre dann, wenn nicht nur der Geschäftswert, sondern auch noch das Know-how übertragen werden, und (iii) eine längere Zeit nur in seltenen Ausnahmefällen6. 4 So auch im Ergebnis Meßmer/Bernhard/Heuchert, Praxishandbuch Kartellrecht im Unternehmen, 2. Aufl. 2018, Kap. 7, Rz. 105. 5 Vgl. Rudersdorf, Wettbewerbsverbote in Gesellschafts- und Unternehmenskaufverträgen, RNotZ 2011, 509, 525. 6 Vgl. zu alledem Bernhard, Grenzen vertraglicher Wettbewerbsverbote zwischen Unternehmen, NJW 2013, 2785, 2787.

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Ausgewählte Problemkreise zu Wettbewerbsverboten

Da mit dem Verkauf der Beteiligung am Gemeinschaftsunternehmen üblicherweise der anteilige Geschäftswert und das Know-how auf den Erwerber übergehen, sollte in den meisten Fällen eine dreijährige Laufzeit des Wettbewerbsverbots nach dem Ausscheiden eines Gesellschafters zulässig sein. Dies ist aber in jedem Einzelfall zu prüfen. Unklar ist, was gilt, wenn ein Wettbewerbsverbot über das zulässige Maß hinausgeht. Im Grundsatz ist ein solches Wettbewerbsverbot erst einmal nichtig7. Teilweise wird aber angenommen, dass in solcher Situation eine geltungserhaltende Reduktion zulässig sein soll, d.h. das Wettbewerbsverbot könnte auf diese Weise auf das gerade noch zulässige Maß zurückgeführt werden. Insoweit sind aber noch viele Details umstritten. Zudem ist Voraussetzung für eine geltungserhaltende Reduktion des Wettbewerbsverbots, dass die Vereinbarung, in der das Wettbewerbsverbot enthalten ist, eine salvatorische Klausel vorsieht8. Diese salvatorische Klausel sollte sich aus einer Erhaltungs- und einer Ersetzungsklausel zusammensetzen: (i) Die Erhaltungsklausel hat zum Inhalt, dass die Unwirksamkeit einer Klausel nicht zur Unwirksamkeit des Gesamtvertrages führt. (ii) Bei Vereinbarung einer Ersetzungsklausel kann jeder Vertragspartner im Falle der Unwirksamkeit einer Klausel verlangen, dass sie durch eine Regelung ersetzt wird, die ein gerade noch zulässiges Wettbewerbsverbot begründet. Auf die Aufnahme einer entsprechenden Regelung in die vertragliche Vereinbarung hat der beratende Rechtsanwalt hinzuwirken. 2. Aus dem Wettbewerbsverbot Verpflichtete Es versteht sich von selbst, dass das Wettbewerbsverbot die beiden Gesellschafter und deren unmittelbare Aktivitäten erfassen muss. Bliebe es aber darauf beschränkt, würde es zu kurz greifen. Die Gesellschafter könnten dann das Know-how aus dem Gemeinschaftsunternehmen herausziehen und Aktivitäten, die in Konkurrenz zu denen des Gemeinschaftsunternehmens stehen, über andere Gruppengesellschaften (z.B. Tochtergesellschaften) entfalten. Um dies zu verhindern, ist das Wettbewerbsverbot auch auf direkte und indirekte Tochtergesellschaften des Gesellschafters zu erstrecken. Ist der Gesellschafter seinerseits nicht die Gruppenobergesellschaft, sollte das Wettbewerbsverbot zur Vermeidung von Unklarheiten nicht nur die Aktivitäten von direkten und indirekten Tochtergesellschaften des Gesellschafters erfassen, sondern darüber hinaus auch jedes mit dem Gesellschafter verbundene Unternehmen i.S.d. §§ 15 ff. AktG. Das Wettbewerbsverbot bindet in diesem Fall die betreffenden verbundenen Unternehmen nicht unmittelbar, sondern verpflichtet den Gesellschafter nur, – gegebenenfalls unter Auferlegung einer Vertragsstrafe – für die Beachtung des

7 Weitnauer/Grob, Gesellschaftsrechtliche Wettbewerbsverbote, GWR 2014, 185, 188. 8 Weitnauer/Grob, GWR 2014, 185, 189; Busch, RNotZ 2020, 249, 267.

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Wettbewerbsverbotes durch die verbundenen Unternehmen Sorge zu tragen. Auf diese Weise können die Parteien Umgehungsanreize im Keim ersticken. 3. Räumliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes Wichtig ist eine räumliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes, um nicht dessen Unwirksamkeit zu riskieren. So darf sich das Wettbewerbsverbot räumlich nur auf solche Gebiete erstrecken, in denen das Gemeinschaftsunternehmen aktuell oder potentiell tätig ist9. Wenn jeweils aktive Geschäftsbereiche von zwei Gesellschaftern im Gemeinschaftsunternehmen zusammengelegt werden, dann bestehen aufgrund der Daten der Vergangenheit bereits Anhaltspunkte dafür, in welchem räumlichen Umfang das Gemeinschaftsunternehmen tätig sein wird. Anders hingegen ist die Situation zu beurteilen, wenn der Zusammenschluss gerade dazu dienen soll, die Geschäftsaktivitäten des Gemeinschaftsunternehmens über die einzelnen bestehenden Geschäftsaktivitäten der beiden Gesellschafter hinaus auszuweiten (z.B. durch Investitionen oder eine neue Geschäftsstrategie). Soll das Wettbewerbsverbot in diesem Fall daher auch potentielle räumliche Tätigkeitsgebiete erfassen, ist es gut, wenn die Grundlage für eine entsprechende Annahme im Wettbewerbsverbot oder in sonstigen den Zusammenschluss begleitenden Unterlagen dokumentiert und begründet ist. Gleiches gilt für den Fall, dass Geschäftsaktivitäten in einem bestimmten Feld erstmals im Rahmen des Gemeinschaftsunternehmens verwirklicht werden sollen und daher ein aktueller Tätigkeitsbereich nicht existent ist. In all diesen Fällen ist daher darauf zu achten, dass die Absichten der Gesellschafter mit dem Zuschnitt, dem Umfang und der insbesondere finanziellen Ausstattung des Gemeinschaftsunternehmens übereinstimmen10. Wenn ein Gemeinschaftsunternehmen nur national tätig ist und ein internationales Tätigkeitsfeld nicht erkennbar ist und der Betriebsumfang dies auch nicht hergibt, ist ein internationales Wettbewerbsverbot unangemessen, weil es in räumlicher Hinsicht nicht erforderlich ist11. Auch mit Blick auf ein etwaiges, räumlich zu weitreichendes Wettbewerbsverbot empfiehlt sich die Vereinbarung einer salvatorischen Klausel, um die Möglichkeit einer geltungserhaltenden Reduktion offen zu halten12.

9 Vgl. Müller/Thiede, Kartellrechtliche Risiken durch Wettbewerbsverbote in Unternehmenskaufverträgen, EuZW 2017, 246, 247. 10 Vgl. Bekanntmachung der Kommission über Einschränkungen des Wettbewerbs, die mit der Durchführung von Unternehmenszusammenschlüssen unmittelbar verbunden und für diese notwendig sind, ABI EU 2005 C 56, S. 24, Rz. 37 f.; Meßmer/Bernhard/Heuchert, Praxishandbuch Kartellrecht im Unternehmen, 2. Aufl. 2018, Kap. 7, Rz. 106. 11 Vgl. Müller/Thiede, EuZW 2017, 246, 247. 12 Vgl. die Ausführungen unter I.1. a.E.; zum Meinungsstand bezüglich der Frage, ob bei Wettbewerbsverboten, die in räumlicher Hinsicht zu weitgehend sind, eine geltungserhaltende Reduktion in Betracht kommt, vgl. die Ausführungen in Ziff. II.3.

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Ausgewählte Problemkreise zu Wettbewerbsverboten

4. Gegenständliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes Gegenständlich hat sich das Wettbewerbsverbot auf den Geschäftsbereich zu beschränken, der den Gegenstand des Gemeinschaftsunternehmens bildet bzw. bilden soll. Besondere Bedeutung bei der Vertragsgestaltung und der Abfassung des Wettbewerbsverbotes ist daher der Definition des Geschäftsbereiches des Gemeinschaftsunternehmens zu widmen: Unerlässlich ist zunächst, dass der Geschäftsbereich des Gemeinschaftsunternehmens positiv bestimmt wird (positive Bestimmung des Geschäftsbereichs): Dies ist wichtig, damit Klarheit über die Frage herrscht, was Gegenstand des Gemeinschaftsunternehmens sein soll, worauf sich also die gemeinsamen Bestrebungen der Gesellschafter richten sollen. Das kann ein für die Parteien gänzlich neuer Geschäftsbereich sein, der mit dem Gemeinschaftsunternehmen aufgebaut werden soll, oder aber ein Teil ihrer bisherigen Aktivitäten sein, die sie aus ihren jeweiligen Aktivitätenportfolios herausschneiden und dann zusammenlegen. Gerade in letzterem Fall ist besonderes Augenmerk darauf zu legen, dass der Geschäftsbereich/Gegenstand des Gemeinschaftsunternehmens genau definiert wird. Sind, wie vorstehend beschrieben, ein oder mehrere Gesellschafter des Gemeinschaftsunternehmens in angrenzenden Geschäftsbereichen tätig, ist es zu empfehlen, den Geschäftsbereich des Gemeinschaftsunternehmens hiervon klar abzugrenzen (negative Abgrenzung des Geschäftsbereichs). Geschieht dies nicht oder verbleiben Unklarheiten, ist Streit vorprogrammiert. Der betroffene Gesellschafter stünde über kurz oder lang dann regelmäßig vor der Frage, ob er den zu erzielenden Gewinn über das Gemeinschaftsunternehmen zur Hälfte vereinnahmen will oder nicht besser über eine seiner Gruppengesellschaften ganz vereinnahmen kann. Der Erfolg des Gemeinschaftsunternehmens wäre so von Anbeginn an in Frage gestellt. Nicht selten ist es so, dass ein Gesellschafter sich vorbehalten möchte, bestimmte Aktivitäten auch nach Gründung des Gemeinschaftsunternehmens in seiner Gruppe fortführen zu können, obwohl diese Aktivitäten eine Teilmenge der geplanten Geschäftsaktivitäten des Gemeinschaftsunternehmens darstellen (können). Der andere Gesellschafter ist vielfach bereit, sich darauf einzulassen, vielleicht, weil die Aktivitäten wirtschaftlich unbedeutend oder weil sie zeitlich endlich sind. In jedem Fall ist dann sicherzustellen, dass die Ausnahme klar umrissen wird (bestimmter Produktionsort, bestimmter Kundenkreis, bestimmtes Produkt, bestimmte Verwendung etc.) und dem begünstigten Gesellschafter keine Schlupflocher bietet, dem Gemeinschaftsunternehmen über die gewährte, eng begrenzte Ausnahme hinaus Wettbewerb zu machen. Freilich muss es dem ausscheidenden Gesellschafter unbenommen bleiben, zu Investitionszwecken in ein Unternehmen mit gleichem Geschäftsbereich investieren zu können. Unterbunden werden darf durch ein Wettbewerbsverbot nur die unternehmerische Einflussnahmemöglichkeit, nicht aber die reine Finanzbeteiligung13. 13 Vgl. OLG Hamm v. 8.8.2016 – 8 U 23/16, WuW 2017, 95.

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5. Konkurrenztätigkeit Nicht jede Tätigkeit innerhalb des Geschäftsbereichs eines Gemeinschaftsunternehmens muss gegen ein vereinbartes Wettbewerbsverbot verstoßen. Insoweit obliegt es den Gesellschaftern, bei Abfassung des Wettbewerbsverbotes genau zu beschreiben, welche Tätigkeiten vom Wettbewerbsverbot erfasst werden sollen. Soll das Gemeinschaftsunternehmen sich beispielsweise auf die Herstellung eines bestimmten Produktes konzentrieren, kann der Handel mit diesem Produkt den Gesellschaftern und ihren jeweiligen Gruppengesellschaften auch weiterhin erlaubt sein, vielleicht sogar Teil der Gründungsstrategie des Gemeinschaftsunternehmens sein. Die Gesellschafter sind also gehalten, das Wettbewerbsverbot nicht nur sachlich zu begrenzen, sondern auch mit Blick darauf, welche Tätigkeiten innerhalb eines Geschäftsbereichs dem Wettbewerbsverbot unterfallen sollen.

II. Problemkreis 2: Vertragsanwendung/Inhalt des Wettbewerbsverbots Häufig wird man als Anwalt erst eingeschaltet, wenn das Gemeinschaftsunternehmen gegründet ist, ein Wettbewerbsverbot (vor vielen Jahren) vereinbart wurde und sich nun die Frage stellt, ob ein bestimmtes Verhalten eines Gesellschafters mit dem Wettbewerbsverbot vereinbar ist oder einen Verstoß darstellt14. 1. Zeitliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes Die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten in den vereinbarten zeitlichen Geltungsbereich eines Wettbewerbsverbotes fällt oder nicht, ist regelmäßig unproblematisch zu beantworten. Das ist dann der Fall, wenn das Verhalten in einen Zeitraum fällt, in dem er noch Gesellschafter ist oder der Zeitraum für ein über die Gesellschafterstellung hinaus fortdauerndes Wettbewerbsverbot noch läuft. Daher drehen sich die Streitigkeiten insoweit auch eher um die Frage, (i) ob der zeitliche Geltungsbereich des Wettbewerbsverbotes wirksam vereinbart wurde15 und, (ii) wenn dies nicht der Fall ist, was dann die Folge ist. Verstößt ein Wettbewerbsverbot in zeitlicher Hinsicht gegen die § 1 GWB und § 138 BGB und haben die Parteien eine salvatorische Klausel vereinbart, so soll eine geltungserhaltende Reduktion auf das gerade noch zulässige zeitliche Maß vorzunehmen sein16. Dies muss aber nicht zwangsläufig eine Reduktion auf eine Dauer von zwei Jahren bedeuten17. Ergeben die Voraussetzungen, dass auch ein Wettbewerbsverbot 14 Nachfolgend werden allein die zivilrechtlichen Folgen erörtert. Nicht Gegenstand dieses Beitrags sind etwaige kartellrechtliche Folgen (Bußgeldtatbestand). 15 Zur Wirksamkeit der zeitlichen Begrenzung vgl. oben Ziff. I.1. 16 Weitnauer/Grob, GWR 2014, 185, 188. 17 So aber scheinbar Weitnauer/Grob, GWR 2014, 185, 188.

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Ausgewählte Problemkreise zu Wettbewerbsverboten

von drei Jahren zulässig gewesen wäre, dann ist die Dauer des Wettbewerbsverbotes auf drei Jahre zu reduzieren. 2. Aus dem Wettbewerbsverbot Verpflichtete Anwaltliche Hilfestellung wird zu diesem Tatbestandsmerkmal ganz wesentlich zur Frage erwartet, ob bestimmte Gruppengesellschaften eines Gesellschafters vom Wettbewerbsverbot erfasst sind oder nicht, obwohl das Wettbewerbsverbot sie gegebenenfalls nicht ausdrücklich einschließt. Eindeutig sind Konstellationen, in denen die Gesellschafter selbst2 und alle mit ihnen jeweils verbundenen Unternehmen dem Wettbewerbsverbot unterliegen. Hier ist das Wettbewerbsverbot umfassend vereinbart und regelmäßig auch so gemeint. Schwieriger sind Konstellationen, bei denen das Wettbewerbsverbot enger gefasst ist: (i) Das Wettbewerbsverbot erfasst nur die Gesellschafter selbst. (ii) Das Wettbewerbsverbot erfasst die Gesellschafter und Tochtergesellschaften der Gesellschafter. Aufgabe des Anwaltes ist es nun, den Willen der Parteien bei Vertragsschluss zu ermitteln: Hilfreich ist es in solchen Fällen, einen Blick in die übrigen Regelungen des Vertragskonvoluts zu werfen, in der das Wettbewerbsverbot regelmäßig enthalten sein wird, um den Willen der Parteien zu ermitteln. So kann sich aus anderen Regelungszusammenhängen ergeben, dass die Parteien den Wettbewerb durch Gruppengesellschaften der Gesellschafter ganz grundsätzlich ausschließen wollten. Beispielsweise könnten die übrigen (gesellschafts-)vertraglichen Vereinbarungen vorsehen, dass ein Gesellschafter berechtigt ist, die Geschäftsanteile des anderen Gesellschafters einzuziehen, wenn eine Gruppengesellschaft dieses Gesellschafters eine Geschäftstätigkeit ausübt, die in Konkurrenz zur Tätigkeit des Gemeinschaftsunternehmens steht. Aus solcher Regelung würde offenbar, dass die Gesellschafter ein umfassendes Wettbewerbsverbot bei Vertragsschluss vereinbaren wollten und das Wettbewerbsverbot dies nicht hinlänglich zum Ausdruck gebracht hat. Vielleicht gab es auch bei Vertragsschluss spezifische Gründe, einzelne Gesellschaften dem Wettbewerbsverbot zu unterwerfen und andere nicht. Möglicherweise sollten die Geschäftsaktivitäten einer bestimmten Gesellschaft, deren Handeln jetzt in Frage steht, durch die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens unberührt bleiben. Oder es lässt sich aus ähnlich gelagerten Fällen der Vergangenheit und den Umgang der Parteien damit schließen, welchen Willen die Parteien bei Vertragsschluss in Bezug auf die Reichweite des Wettbewerbsverbotes hatten. Auch aus dem Umfang der mit der Gründung des Gemeinschaftsunternehmens verbundenen Investitionen mag sich ein Argument in die eine oder andere Richtung ergeben. Kommt man mit den vorstehenden Überlegungen (und etwaigen anderen zu berücksichtigenden Besonderheiten des zu beurteilenden Sachverhalts) nicht weiter, liegt es 157

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meines Erachtens nahe, im Zweifel davon auszugehen, dass das Wettbewerbsverbot umfassend zu verstehen ist und die Wahrnehmung von Geschäftsaktivitäten, die die Gesellschafter dem Gemeinschaftsunternehmen zugewiesen haben, in einer Gruppengesellschaft eines Gesellschafters dem Sinn und Zweck des Wettbewerbsverbotes widersprächen und als Umgehung gedeutet werden müssen. Die Gesellschafter werden bei der Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens regelmäßig erhebliche Investitionen tätigen und dort das für die Geschäftsaktivitäten erforderliche gesamte Know-how bündeln. Zu diesem Know-how haben die Gesellschafter durch im Gesellschaftsrecht begründete Auskunftsrechte, durch personelle Verflechtungen (Gruppenmitarbeiter übernehmen Funktionen im Gemeinschaftsunternehmen) und rein faktisch durch eine Vielzahl von Kontakten ins Gemeinschaftsunternehmen hinein Zugang. Könnte sich ein Gesellschafter dieses Know-how nun aneignen und in einer mit ihm verbundenen Gruppengesellschaft, die formal nicht dem Wettbewerbsverbot unterliegt, unter Ausschluss des Gemeinschaftsunternehmens und damit des anderen Gesellschafters im direkten Wettbewerb zum Gemeinschaftsunternehmen nutzen, würden die Aktivitäten des Gemeinschaftsunternehmens von innen ausgehöhlt. Es steht zu vermuten, dass das Gemeinschaftsunternehmen unter diesen Bedingungen niemals gegründet worden wäre. Die Wahrnehmung von Geschäftsaktivitäten, die dem Gemeinschaftsunternehmen zugeordnet waren, durch eine Gruppengesellschaft eines Gesellschafters, wäre dann regelmäßig als Umgehung zu werten. 3. Räumliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes Wenn feststeht, dass ein räumlicher Verstoß gegen ein Wettbewerbsverbot vorliegt, wird der Schwerpunkt der Beratung bei diesem Prüfungspunkt – ähnlich wie der zeitlichen Begrenzung des Wettbewerbsverbots – bei der Beantwortung der Frage liegen, ob der räumliche Geltungsbereich des Wettbewerbsverbots wirksam vereinbart wurde18. Ergibt die Prüfung, dass dies nicht der Fall ist und das Wettbewerbsverbot in räumlicher Hinsicht zu weit gefasst ist, so spricht derzeit viel dafür, dass eine geltungserhaltende Reduktion nicht in Betracht kommt. Dies entspricht der vorherrschenden Meinung in der Literatur19. Auch der BGH scheint ihr zuzuneigen, wenn er allein bei einer Überschreitung des zeitlich zulässigen Maßes eine geltungserhaltende Reduktion für zulässig erachtet20. Dies unterstreicht noch einmal die Bedeutung, bei Abfassung der räumlichen Begrenzung des Wettbewerbsverbots die nötige Sorgfalt walten zu lassen. 4. Gegenständliche Begrenzung des Wettbewerbsverbotes Die Frage, ob eine bestimmte Tätigkeit dem Geschäftsbereich eines Gemeinschaftsunternehmens unterfällt, scheint auf den ersten Blick einfach zu beantworten zu sein. In vielen Fällen ist es das auch, weil beispielsweise nicht nur das Produkt selbst, son18 Vgl. hierzu die Ausführungen in Ziff. I.3. 19 Vgl. Weitnauer/Grob, GWR 2014, 185, 188. 20 Vgl. BGH v. 10.12.2008 – KZR 54/08, NJW 2009, 1751, 1753.

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dern zugleich der Einsatzbereich, der Zweck, die Technik oder die Herstellungsweise eines Produktes Gegenstand der Definition des Geschäftsbereiches vom Gemeinschaftsunternehmen sind. Möglicherweise ist dem Geschäftsbereich auch aus sich heraus bereits ein gewisses Maß an Spezialisierung und damit an Einschränkung immanent. In beiden Fällen erfährt das Wettbewerbsverbot jedenfalls eine Begrenzung, die die Bestimmung seiner Reichweite im Einzelfall erleichtern mag. Schwieriger wird es, wenn das Wettbewerbsverbot die Herstellung und den Vertrieb eines nur generisch umschriebenen Produktes erfasst. In solchen Fällen ist unter Heranziehung aller Umstände des Einzelfalls zu ermitteln, was der Wille und das Verständnis der Gesellschafter war, als sie die Herstellung und den Vertrieb eines bestimmten Produktes zum Gegenstand des Gemeinschaftsunternehmens machten. Ist das Wettbewerbsverbot in einer individualvertraglichen Vereinbarungen zwischen den Gesellschaftern enthalten (z.B. in einem Kooperationsvertrag, Gesellschaftervereinbarung), so gelten für solche Vereinbarung die allgemeinen Auslegungsregelungen nach §§ 133, 157 BGB in vollem Umfang21. Ist es in der Satzung des Gemeinschaftsunternehmens enthalten, so gilt jedenfalls dann nichts anderes, wenn es sich um eine Auslegungsproblematik allein unter den Gründungsgesellschaftern handelt22. Eine Auslegung hat vom Wortlaut der Erklärung auszugehen23. Es ist also zunächst der Wortsinn des Begriffs für das Produkt zu ermitteln, das vom Wettbewerbsverbot umfasst ist. Hier sind alle Wortbestandteile des Produkts eigenständig zu untersuchen. Wenn das Produkt beschreibende Adjektivergänzungen enthält, ist solche Ergänzung einer näheren Betrachtung zuzuführen. Eventuell setzt das Produkt selber eine gewisse Herstellungsweise, Materialeinsatz, Größe, Festigkeit oder dergleichen voraus. In dem Fall sind alle diese Erwägungen in die Auslegung einzubeziehen. Regelmäßig wird eine solche Prüfung zu keinem eindeutigen Ergebnis führen, weil die Frage, ob das Wettbewerbsverbot verletzt sein könnte, meist dann aufkommen wird, wenn der Verantwortliche der Gruppengesellschaft aufgrund des Wortsinns eine Verletzung des Wettbewerbsverbots befürchtet oder jedenfalls zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt ist. Sodann sind die Begleitumstände des Erklärungsaktes sowie die Interessenlagen der Parteien zu untersuchen24. Beispielhaft könnten folgende Erwägungen zu berücksichtigen sein: (i) Die Entstehungsgeschichte spielt hierbei eine besondere Rolle. Da das Wettbewerbsverbot regelmäßig im Zusammenhang mit der Gründung des Gemeinschaftsunternehmens vereinbart wird, sind alle Begleitumstände der Gründung, insbesondere der Zweck der Gründung, näher zu betrachten. Insoweit gilt es zu

21 Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 2 Rz. 29. 22 Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 2 Rz. 19; Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 2 Rz. 29. 23 Palandt, BGB, 80. Aufl. 2021, § 133 Rz. 14. 24 Palandt, BGB, 80. Aufl. 2021, § 133 Rz. 15 und 18.

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ergründen, ob sich der Produktbegriff über den von den Gesellschaftern mit der Gründung des Gemeinschaftsunternehmens verfolgten Zweck bestimmen lässt. (ii) Vielleicht sind auch bestimmte Aktivitäten eines oder beider Gesellschafter vom Wettbewerbsverbot ausgenommen worden und dürfen außerhalb des Gemeinschaftsunternehmens fortgeführt werden. Eine entsprechende Regelung mag Rückschlüsse auf die Reichweite des Wettbewerbsverbotes erlauben. (iii) Möglicherweise helfen auch kartellrechtliche Entscheidungen weiter. Wenn das Produkt Gegenstand von Entscheidungen von Fusionskontrollbehörden war (möglicherweise sogar eine Fusionskontrollentscheidung im Zusammenhang mit der Gründung des Gemeinschaftsunternehmens ergangen ist), dann wird durch solche Entscheidungen der Markt definiert und damit das Verständnis der Branche und regelmäßig auch der Parteien vom Produkt und seinem Geschäftsbereich wiedergegeben. (iv) Auch Unterlagen über Vorverhandlungen oder Vorentwürfe, die nicht realisiert worden sind, oder dokumentierte Äußerungen der Parteien vor und nach Vertragsschluss können helfen, den Geschäftsbereich des Gemeinschaftsunternehmens und damit den Umfang des Wettbewerbsverbotes näher zu ergründen. (v) Schließlich mag auch die Antwort auf die Frage, ob es dem Gemeinschaftsunternehmen mit dem vorhandenen Anlagenpark möglich ist, das neue Produkt oder einzelne Produktbestandteile dafür herzustellen, ein Fingerzeig für das Verständnis der Parteien von dem vom Wettbewerbsverbot erfassten Geschäftsbereich bieten. Freilich ist dies mit dem Gegenargument abzuwägen, dass auch bisher vom Gemeinschaftsunternehmen nicht ausgeübte Aktivitäten vom Wettbewerbsverbot geschützt sein können, sofern sie dem im Wettbewerbsverbot definierten Geschäftsbereich unterfallen, selbst wenn für die Ausübung solcher neuen Aktivitäten weitere Investitionen (in den Anlagenpark) erforderlich sein sollten. Gelangt man zu der Ansicht, dass eine Handlung gegenständlich gegen das Wettbewerbsverbot verstößt, ist zu prüfen, ob das Wettbewerbsverbot in gegenständlicher Hinsicht angemessen ist und die schützenswerten Interessen des Verpflichteten nicht übermäßig beschwert. Ergibt die Prüfung, dass das Wettbewerbsverbot insoweit zu weit gefasst ist, so ist es insgesamt nichtig. Eine geltungserhaltende Reduktion kommt in solchem Fall nach ganz überwiegender Auffassung nicht in Betracht25. Begründet wird dies regelmäßig damit, dass ein Gericht sich in solchen Fällen nicht mehr im Bereich der ergänzenden Vertragsauslegung bewegen, sondern anstelle der Parteien vertragsgestaltend tätig würde26.

25 Weitnauer/Grob, GWR 2014, 185, 188. 26 Rudersdorf, RNotZ, 2011, 509, 526.

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Ausgewählte Problemkreise zu Wettbewerbsverboten

5. Konkurrenztätigkeit Fällt die beabsichtigte Tätigkeit/Herstellung eines Produktes grundsätzlich in den Geschäftsbereich des Gemeinschaftsunternehmens, dann muss sie auch in Konkurrenz zum Gemeinschaftsunternehmen stehen, wenn das Wettbewerbsverbot verletzt sein soll. Fraglich könnte das dann sein, wenn das Gemeinschaftsunternehmen das Produkt aktuell nicht herstellt, aber zukünftig herstellen könnte. In solcher Situation spricht regelmäßig viel dafür, dass sich das Wettbewerbsverbot im Rahmen seines Anwendungsbereichs auch auf potentielle neue Tätigkeitsbereiche erstrecken würde: (i) Der Vereinbarung selbst, die das Wettbewerbsverbot enthält, werden regelmäßig keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sein, welche Reichweite (nur gegenwärtiger oder auch potentieller Tätigkeitsbereich) das Wettbewerbsverbot haben soll. (ii) Der BGH stellt zur Bestimmung der Reichweite eines Wettbewerbsverbotes darauf ab, was der Gegenstand der Gesellschaft theoretisch umfasst und erstreckt in dem entschiedenen Fall das gesetzliche Wettbewerbsverbot der Gesellschafter (aus § 112 HGB) auch auf Tätigkeitsbereiche, auf denen die Gesellschaft noch nicht aktiv ist, aber gemäß dem festgelegten Gesellschaftsgegenstand aktiv sein könnte27. Dies entspricht auch regelmäßig der Interessenlage der Gesellschafter eines Gemeinschaftsunternehmens, nämlich der Bündelung der Geschäftsaktivitäten bezüglich des Gesellschaftsgegenstands in einem Unternehmen bei gleichzeitigem Verzicht auf jeglichen Wettbewerb durch die Gesellschafter mittels anderer Gesellschaften. Anderenfalls besteht, so der BGH, immer die Gefahr, dass ein beherrschender Gesellschafter gesellschaftsinterne Informationen erlangt und zu Lasten der Gesellschaft mit Hilfe von anderen Gesellschaften (an denen er in größerem Umfang beteiligt ist) ausbeutet, z.B. indem er Know-how des Gemeinschaftsunternehmens dafür verwendet, Produkte für einen vom Satzungsgegenstand erfassten Tätigkeitsbereich, auf dem die Gesellschaft noch nicht tätig ist, in einer anderen Gesellschaft weiterzuentwickeln und zu vermarkten. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass dies regelmäßig die Erwägungen der Gesellschafter eines Gemeinschaftsunternehmens für die Vereinbarung eines Wettbewerbsverbots sein werden. In vielen Fällen bedarf es für die Erweiterung des Tätigkeitsbereiches des Gemeinschaftsunternehmens der Zustimmung beider Gesellschafter. In solcher Situation kann der Gesellschafter, der außerhalb des Gemeinschaftsunternehmens tätig werden will, nicht erfolgreich einwenden, gesellschaftsintern bedürfe es zur Erweiterung des Tätigkeitsbereichs des Gemeinschaftsunternehmens (innerhalb des Satzungsgegenstandes) oder zur Vornahme der dafür erforderlichen Investitionen aufgrund gesellschaftsrechtlicher Zustimmungsvorbehalte zwingend der eigenen Zustimmung, die er nicht erteilen werde, weswegen das Gemeinschaftsunternehmen dauerhaft daran gehindert sei, den Tätigkeitsbereich so auszuweiten und also die von ihm avisierte Tätigkeit nicht im Wettbewerb zum Gemeinschaftsunternehmen stehen werde:

27 BGH v. 5.12.1983 – II ZR 242/82, BGHZ 89, 162, 170.

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Grundsätzlich ist ein Gesellschafter eines Gemeinschaftsunternehmens frei darin, bei Bestehen entsprechender Zustimmungsvorbehalte eine Zustimmung zu erteilen oder zu versagen. Dies gilt aber nicht, wenn die Zustimmung gerade verweigert wird, weil der Gesellschafter das Geschäft unter Ausschluss des Gemeinschaftsunternehmens in seinen eigenen Beteiligungen betreiben möchte. Ein solches Verhalten würde einen Verstoß gegen die Treuepflichten darstellen: (i) Die gesellschaftliche Treuepflicht umfasst sowohl das Verhältnis der Gesellschafter zum Gemeinschaftsunternehmen als auch dasjenige der Gesellschafter untereinander. Gefordert wird dabei ein redliches und loyales Verhalten, wie es von den Verpflichteten auf Grund seines auf Gegenseitigkeit angelegten Versprechens auf Unternehmenszweckförderung und seiner Teilhabe an dem zur Verfolgung des statuarischen Zwecks bestehenden Gemeinschaftsverhältnisses erwartet werden kann28. Daher wäre es in einer Situation, in der die geplanten Aktivitäten grundsätzlich vom Unternehmensgegenstand erfasst würden, vom Gesellschafter eines Gemeinschaftsunternehmens sicherlich treuwidrig zu argumentieren, man hätte einer Erweiterung des Tätigkeitsbereiches unter keinen Umständen zugestimmt und werde dies auch nicht tun, weswegen das Gemeinschaftsunternehmen dauerhaft daran gehindert sei, die jetzt geplanten Aktivitäten aufzunehmen, und dieses Geschäft habe daher von dem betreffenden Gesellschafter in einer seiner Beteiligungen betrieben werden dürfen. Die Zustimmung würde in solchem Fall ja gerade verweigert, um einen Tätigkeitsbereich, der eigentlich zum Gemeinschaftsunternehmen gehörte, an sich zu ziehen. Solches Verhalten, das dazu dienen würde, gesellschaftsfremde Sondervorteile für sich zum Nachteil der Gesellschaft durchzusetzen, ist mit den Treuepflichten, denen ein Gesellschafter unterliegt, nicht vereinbar29. (ii) Umgekehrt kann hiergegen nicht eingewandt werden, dass es mit der Treuepflicht, denen die Gesellschafter unterliegen, nicht vereinbar wäre, wenn einem Gesellschafter unter Berufung auf einen weit gefassten Unternehmensgegenstand Geschäfte in einem Tätigkeitsbereich verboten würden, in dem die Gesellschaft auf absehbare Zeit nicht selbst tätig werden will30. Insoweit fehlt es nämlich regelmäßig an einem Beschluss der Geschäftsführung des Gemeinschaftsunternehmens, im Bereich der geplanten Aktivitäten nicht selbst tätig werden zu wollen. Die schlichte Nichtbefassung mit einem Thema reicht insofern nicht aus, eine Willensbildung dahingehend zu unterstellen, den Unternehmensgegenstand nicht ausfüllen zu wollen.

28 Vgl. Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 14 Rz. 51. 29 Vgl. Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 14 Rz. 56. 30 Vgl. Münchener Handbuch des Gesellschaftsrechts, GmbH, 5. Aufl. 2018, § 34 Rz. 17.

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Ausgewählte Problemkreise zu Wettbewerbsverboten

III. Zusammenfassung Für Wettbewerbsverbote, die anlässlich der Gründung von Gemeinschaftsunternehmen vereinbart werden, gelten wie zuvor aufgezeigt einige aus der spezifischen Konstellation folgende Besonderheiten, die es insbesondere bei der Vertragsgestaltung und auf der Seite der Vertragsanwendung bei der Auslegung des vereinbarten Verbotes zu beachten gilt. Im Übrigen unterliegen sie aber den allgemein geltenden Regelungen für Wettbewerbsverbote.

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Behandlung von Verlustausgleichansprüchen nach § 302 AktG in der Gestaltungspraxis Alexander Kessler

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Situation vor dem Bilanzstichtag 1. Anrechnung vorausgehender Leistungen 2. Forderungsverzicht III. Situation nach dem Bilanzstichtag 1. Gestaltungsmöglichkeiten auf Seiten der Obergesellschaft

a) Auf- oder Verrechnung b) Abwendungsvergleich 2. Gestaltungsmöglichkeiten auf Seiten der Untergesellschaft a) Umwandlung in ein Darlehen, „Stehenlassen“, Stundung b) Zahlung und Rückzahlung IV. Fazit

Der Jubilar hat sich im Rahmen seiner anwaltlichen Tätigkeit und seinen wissenschaftlichen Publikationen stetig mit Fragen des Aktien- und Konzernrechts befasst. Neben seiner kritischen Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Grenzen von Unternehmenssanktionen, umfassen frühere gesellschaftsrechtliche Publikationen insbesondere auch Rechtsprobleme von Cash Pool-Systemen in der Krise und die Erfüllung eines Verlustausgleichsanspruchs durch Aufrechnung bei fraglicher Werthaltigkeit. Dies ist guter Grund, der Behandlung des Verlustausgleichsanspruchs in der Gestaltungspraxis aktuell nachzugehen, auch weil dieser Rechtsbereich von ungebrochen hoher Praxisrelevanz ist.

I. Einführung Vor allem in Krisen- und Restrukturierungsituationen ist bei konzernierten Gesellschaften die Frage, wie einzelne Verlustausgleichsansprüche (§ 302 Abs. 1 AktG) zu behandeln sind, von großer praktischer Bedeutung. Der Verlustausgleichsanspruch nach § 302 Abs. 1 AktG bezweckt den Schutz der Gläubiger und unterliegt daher einem besonderen gesetzlichen Schutz, der durch Gesetz und Rechtsprechung verschiedene Einzelausprägungen erfährt. Zwar hat der BGH entschieden, dass dieser Schutz nicht so „hart“ ausgeprägt ist wie bei einem Einlageanspruch. Auf der anderen Seite steht fest, dass der Verlustausgleichsanspruch kein gewöhnlicher Zahlungsanspruch ist. Zwischen diesen beiden Seiten des Spektrums bestehen bis heute mehr oder weniger große Rechtsunsicherheiten. Daher bietet es sich in der Beratungspraxis an, im jeweiligen Zusammenhang zunächst zumindest aus Vorsichtsgründen zugrunde zu legen, dass der Verlustausgleichsanspruch denselben Restriktionen wie ein Einlageanspruch unterliegt. Ist das auf dieser Grund165

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lage gefundene Ergebnis aus anderen Perspektiven nicht untragbar oder nicht umsetzbar, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, inwieweit ein weniger strenger Maßstab vertretbar ist. Dies kommt durchaus in Betracht, da der Verlustausgleichsanspruch nach der Rechtsprechung des BGH, weniger stark zugunsten der Gläubiger geschützt ist als der Einlageanspruch. Zu den besonderen Härten des Verlustausgleichsanspruchs gehört es, dass der Anspruch nach der höchstrichterlichen – etwas praxisfernen – Rechtsprechung des BGH mit Ablauf des Bilanzstichtags zivilrechtlich nicht nur entsteht, sondern auch fällig wird, selbst wenn die Höhe des Anspruchs noch nicht endgültig feststeht. Denn die herrschende Gesellschaft könne den zum Jahresende vorläufig errechneten Betrag zahlen und sich einen Überschuss nach Bestimmung der genauen Höhe wieder zurückholen.1 Zudem richtet sich die Höhe des Verlustausgleichsanspruchs nach der Rechtsprechung des BGH nach dem objektiv zutreffenden Ergebnis der Gesellschaft.2 Außerdem ist jeder Verzicht oder Vergleich über den Verlustausgleichsanspruch grundsätzlich unzulässig (§ 302 Abs. 3 AktG). Dieses Vergleichsverbot wird verbreitet auf andere Gestaltungen erstreckt, wie z.B. die Stundung. Abweichungen vom Vergleichsverbot sind nach der gesetzlichen Regelung nur im Rahmen eines sog. Abwendungsvergleichs (hierzu näher unter II. 1. b)) oder in einem Insolvenzplan (§§ 217 ff. InsO) zulässig. Hinsichtlich der Beschränkungen, denen ein entstandener Verlustausgleichsanspruch unterliegt, bestehen Unterschiede dahingehend, ob man sich in der Zeit vor dem relevanten Bilanzstichtag (dazu unten II.) oder in der Zeit nach Ablauf des Bilanzstichtags (dazu unten III.) befindet.3 Hinsichtlich der zugrundeliegenden Abrechnungsperiode wird im Folgenden vereinfachend auf den Bilanzstichtag abgestellt. Die Ausführungen gelten gleichermaßen, wenn der Unternehmensvertrag unterjährig endet und der Verlustausgleichsanspruch daher zum unterjährigen Beendigungszeitpunkt entsteht.

1 BGH v. 16.6.2015 – II ZR 384/13, NZG 2015, 912, mit Verweis auf BGH v. 11.10.1999 – II ZR 120/98, NZG 2000, 139. 2 Erstmals ausgesprochen in BGH v. 5.6.1989 – II ZR 172/88, NJW-RR 1989, 1198. Ferner BGH v. 11.10.1999 – II ZR 120/98, NJW 2000, 210; ausdrücklich bestätigt durch BGH v. 14.2.2005 – II ZR 361/02, AG 2005, 397; ebenso die herrschende Meinung im Schrifttum, siehe etwa Hirte in Großkommentar zum AktG, 4. Aufl., § 302 Rz. 62. 3 Zu der Frage, inwieweit Vereinbarungen über die Art und Weise der Erfüllung des Anspruchs aus § 302 Abs. 1 AktG einer Weisung der Obergesellschaft zugänglich sind, vgl. Tielmann/Wolf, DStR 2006, 1947, 1949.

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Behandlung von Verlustausgleichansprüchen nach § 302 AktG in der Gestaltungspraxis

II. Situation vor dem Bilanzstichtag In der Zeit vor dem maßgeblichen Bilanzstichtag besteht der große Vorteil, dass der Verlustausgleichsanspruch noch nicht entstanden ist. Denn nach der Rechtsprechung des BGH4 und der h.M.5 entsteht der Verlustausgleichsanspruch mit Ablauf des Bilanzstichtags. Nach dieser Rechtsprechung wird er im selben Zeitpunkt auch zivilrechtlich fällig (§ 271 BGB).6 Dabei kommt es weder für die Entstehung oder die Fälligkeit darauf an, ob der Jahresabschluss der Untergesellschaft festgestellt oder auch nur aufgestellt ist. Vielmehr soll sich die Höhe des Anspruchs nach dem objektiv zutreffenden Ergebnis richten. Es soll auch nicht darauf ankommen, ob die Höhe des Verlusts zu diesem Zeitpunkt bereits ermittelt ist. Vor dem Bilanzstichtag stellt sich die Situation also so dar, dass ein Verlust absehbar ist und sich die Frage stellt, wie hiermit umzugehen ist. 1. Anrechnung vorausgehender Leistungen Primäres Mittel zur „Erledigung“ künftiger Verlustausgleichsansprüche ist die sog. Anrechnung, deren Weg durch die Grundsatzentscheidung des BGH zur Erfüllung von Verlustausgleichsansprüchen aus dem Jahre 20067 geebnet und in der weiteren Grundlagenentscheidung aus dem Jahre 20158 bestätigt wurde. Bei ihr führt die Anrechnung von Vorausleistungen der Obergesellschaft, die diese in der Zeit vor Ablauf des Bilanzstichtags erbracht hat, zur Erfüllung des Verlustausgleichsanspruchs. Die Anrechnung ist von der Aufrechnung (und Verrechnung) streng zu unterschieden (hierzu unter III.1.a)), die nach der Rechtsprechung des BGH in jedem Fall ein materielles Werthaltigkeitserfordernis enthalten. Gegenstand einer Anrechnung können insbesondere die etwaigen laufenden Zahlungen – z.B. im Rahmen eines Cash Poolings – sein, die die Obergesellschaft möglicherweise zur Vorfinanzierung des Verlusts an die Untergesellschaft leistet. In diesem Fall hat die Anrechnung den Vorteil, dass ebenso wie beim Forderungsverzicht (nachstehend unter 2.) kein Werthaltigkeitserfordernis gilt. Ist Gegenstand der Anrechnung hingegen eine Sachleistung oder die Befriedigung eines Gläubigers der Untergesellschaft, gilt im Grundsatz auch bei der Anrechnung ein Werthaltigkeitserfordernis. Liegen die Voraussetzungen einer wirksamen Anrechnung vor, wird man die Rechtsprechung des BGH dahin verstehen können, dass die Anrechnung in der juristischen Sekunde nach der Entstehung des Verlustausgleichsanspruchs eingreift und diesen sofort in Höhe der zu berücksichtigenden Leistungen erfüllt. 4 BGH v. 16.6.2015 – II ZR 384/13, NZG 2015, 912 mit Verweis auf BGH v. 11.10.1999 – II ZR 120/98, NZG 2000, 139. 5 Altmeppen in MüKoAktG, 5. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 72 m.w.N. 6 Zustimmend etwa Altmeppen in MüKoAktG, 5. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 73; Koch in Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 13. 7 BGH v. 10.7.2006 – II ZR 238/04, NJW 2006, 3279. 8 BGH v. 16.6.2015 – II ZR 384/13, NZG 2015, 912.

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Für eine wirksame Anrechnung bedarf es zunächst einer im Vorhinein getroffenen und eindeutigen Anrechnungsvereinbarung zwischen den beteiligten Gesellschaften. Der BGH hat dieses Erfordernis bereits in der vorgenannten Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 2006 hervorgehoben.9 Das Erfordernis einer vorherigen Vereinbarung erfordert, dass die Vereinbarung vor der Leistung der Obergesellschaft (und vor dem Bilanzstichtag) vereinbart wurde. Eine Vereinbarung vor oder bei Abschluss des Unternehmensvertrags ist nicht erforderlich. Die obergerichtliche Rechtsprechung hat dieses Erfordernis jüngst nochmals besonders betont.10 Damit dürfte es vorerst ausgeschlossen sein, allein aus dem Umstand eines parallel bestehenden Cash Poolings stets darauf zu schließen, dass zwischen Ober- und Untergesellschaft vereinbart sei, dass die unterjährigen Cash Pool-Zahlungen der Obergesellschaft (bzw. der überschießende Saldo zu ihren Gunsten) auf den Verlustausgleichsanspruch anzurechnen seien.11 Das Erfordernis einer eindeutigen Vereinbarung bedeutet für die Gestaltungspraxis, dass die Vereinbarung aus Vorsichtsgründen – schon zu Beweiszwecken – schriftlich getroffen werden sollte. Dies ist natürlich nicht zwingend, da kein Schriftformerfordernis gilt. Die Vereinbarung kann daher auch mündlich getroffen sein. Das Eindeutigkeitserfordernis schließt es auch nicht aus, dass die Vereinbarung konkludent geschlossen ist. Es bedarf hierfür lediglich – neben der entsprechenden Buchungspraxis – hinreichender Umstände. Im Falle eines Cash Poolings mit laufenden wechselseitigen Zahlungen können die Zahlungen der Obergesellschaft an die Untergesellschaft jedenfalls insoweit Gegenstand einer Anrechnung sein, als die Zahlungen der Obergesellschaft die Zahlungen der Untergesellschaft übersteigen. Es spricht im Ergebnis aber auch nichts dagegen, die Zahlungen der Obergesellschaft unter Ausblendung der Zahlungen der Untergesellschaft zum Gegenstand der Anrechnung zu machen. Für ihre Zahlungen erlangt die Untergesellschaft in diesem Fall einen Darlehensrückzahlungsanspruch gegen die Obergesellschaft, für dessen Geltendmachung die allgemeinen Vorgaben gelten (insb. nach der „MPS-Rechtsprechung“ des BGH)12. Häufig wird eine solche Gestaltung aber wegen der hiermit verbundenen Bilanzverlängerung nicht gewünscht sein. Eine Anrechnung jeder Einzelleistung kann jedoch versagen, wenn die Forderungen der Obergesellschaft wegen der zugrundeliegenden Zahlungen oder sonstigen Leistungen in ein laufendes Kontokorrent eingestellt werden. Hier muss die Anrech9 BGH v. 10.7.2006 – II ZR 238/04, NJW 2006, 3279 („[…] bestehen des Weiteren keine durchgreifenden Bedenken dagegen, dass die Muttergesellschaft ihrer – zum Beispiel in einer Krise befindlichen – Tochtergesellschaft Geldmittel oder entsprechend werthaltige Sachleistungen unter vorher vereinbarter Anrechnung auf eine bestehende (oder künftige) Verlustausgleichsverpflichtung zur Verfügung stellt.“). 10 OLG München v. 20.11.2013 – 7 U 5025/11, ZIP 2014, 1067. Siehe hierzu die Anmerkung von Fröhlich, GWR 2014, 217. 11 So im Ergebnis auch Stephan in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 54 a.E.; Witt, NZG 2006, 735, 737. 12 BGH v. 1.12.2008 – II ZR 102/07, NJW 2009, 850.

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nungsmöglichkeiten im Einzelfall unter Berücksichtigung etwa bestehender Kontokorrentabreden geprüft werden. 2. Forderungsverzicht Ist in der Zeit vor dem Bilanzstichtag mit einem Verlust zu rechnen und bringen die nach Bilanzstichtag möglichen Erfüllungswege (unten III.) erhebliche Unsicherheiten mit sich, stellt sich – häufig als ultima ratio – die Frage, ob bei der Untergesellschaft durch ein Ereignis, dass in die Zeit bis zum Bilanzstichtag fällt, ein Ertrag generiert werden kann. Hierfür genügt ein handelsbilanzieller Ertrag. Wertfragen stellen sich nicht, weil der handelsbilanzielle Ertrag ohne weiteres in die Gewinn- und Verlustrechnung der Untergesellschaft eingeht. Daher mindert sich der am Bilanzstichtag auszugleichende Verlust in Höhe des Ertrags. Bestenfalls vermeidet der Ertrag einen Verlust vollständig. Auf diese Weise wird erreicht, dass schon gar kein Verlustausgleichsanspruch entsteht.13 Häufigstes Mittel ist, dass die Obergesellschaft auf Forderungen, die ihr gegen die Untergesellschaft zustehen, verzichtet (Erlassvertrag). Die Zulässigkeit eines Forderungsverzichts zum Zwecke der Verlustvermeidung steht außer Frage. Auch für die Geschäftsführung der Obergesellschaft ist ein solcher Forderungsverzicht in aller Regel pflichtgemäß. Es bestehen auch keine Bedenken gegen einen abstrakten Forderungsverzicht des Inhalts, dass auf eine Forderung in Höhe des Betrags verzichtet wird, der dem Verlust entspricht, der zum Bilanzstichtag vor Verlustübernahme und vor dem Forderungsverzicht vorhandenen ist. Da es auch hierzu bislang keine Absicherung durch die Rechtsprechung gibt, ist allerdings zu empfehlen, zunächst soweit als möglich mit einem betragsmäßig bestimmten Forderungsverzicht zu arbeiten und nur für eine verbleibende Differenz einen abstrakten Forderungsverzicht auszusprechen. Ein Forderungsverzicht ist naturgemäß nur möglich, wenn und soweit der Obergesellschaft Forderungen gegen die Untergesellschaft zustehen. Normalerweise bestehen solche Forderungen aus Cash Pooling oder vergleichbaren Finanzierungsleistungen, da die meisten Konzerngesellschaften „von oben“ finanziert werden und die operativen Verluste, die die Untergesellschaft während des Geschäftsjahres erzielt hat, auf diese Weise „vorfinanziert“ wurden. Komplizierter wird es, wenn die Obergesellschaft (unmittelbar) über keine Forderungen gegen die Untergesellschaft verfügt. An Finanzierungsforderungen kann es ihr mangeln, weil nicht sie, sondern eine andere Gesellschaft im Konzern die Finanzierungsleistungen durchgeführt hat. In diesen Fällen müsste die Obergesellschaft somit zunächst eine Forderung gegen die Untergesellschaft erwerben, bevor ihr ein Forderungsverzicht möglich wäre. Hier ist zunächst daran zu denken, dass die Obergesell13 Allg. M., vgl. etwa Stephan in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 51.

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schaft die Finanzierungsforderung der Finanzierungsgesellschaft kauft. Das Zustandekommen eines solchen Verkaufs hängt zumeist allein davon ab, dass sich der Geschäftsführer der Finanzierungsgesellschaft fragen muss, ob die Untergesellschaft (Schuldner der Finanzierungsforderung) ein besserer Schuldner ist als die Obergesellschaft (Schuldner der Kaufpreisforderung). Außerdem kann die Abtretung in der späteren Insolvenz der Finanzierungsgesellschaft anfechtbar sein. In anderen Fällen kann das Interesse sein, dass die Obergesellschaft eine konzerninterne Forderung an die Untergesellschaft zum Nominalbetrag verkauft und die sich hieraus ergebende Kaufpreisforderung für den Verzicht verwenden möchte. Dies ist grundsätzlich ebenfalls gangbar, setzt aber voraus, dass die verkaufte Forderung vollwertig ist. Anderenfalls dürfte sie der Geschäftsführer der Untergesellschaft nicht zum Nominalbetrag kaufen. Jedenfalls müsste er sie nach Erwerb bei der Untergesellschaft abschreiben, wodurch sich ein Verlust aus diesem Grunde ergäbe. Diese Zusammenhänge verdeutlichen, dass es sich in aller Regel empfiehlt, ein Cash Pooling entlang der gesellschaftsrechtlichen und damit entlang der EAV-Strukturen auszugestalten. Denn da besteht jeweils Identität zwischen Schuldner bzw. Gläubiger des Cash Pools einerseits und den Schuldner sowie Gläubiger des Verlustausgleichsanspruchs. Der außerordentliche Ertrag, der auf Ebene der Untergesellschaft durch den Forderungsverzicht entsteht, unterliegt grundsätzlich in vollem Umfang der Besteuerung. In Krisenfällen bestehen allerdings nicht selten verrechenbare Verlustvorträge, die die Steuerlast zumindest teilweise mindern. Ferner kann an einen Billigkeitserlass aus Sanierungsgründen zu denken sein.

III. Situation nach dem Bilanzstichtag Prinzipiell anders stellt sich die Lage dar, wenn der Bilanzstichtag verstrichen und der Verlustausgleichsanspruch gemäß der h.M. infolgedessen entstanden ist. Denn ab der Entstehung greifen die Instrumente ein, die den Verlustausgleichsanspruch im Sinne der Gläubiger der Untergesellschaft besonders schützen. Dabei ist zwischen Gestaltungsmöglichkeiten auf Seiten der Obergesellschaft einerseits und der Untergesellschaft andererseits zu unterscheiden. 1. Gestaltungsmöglichkeiten auf Seiten der Obergesellschaft a) Auf- oder Verrechnung Von der Anrechnung (oben unter II.1.) strikt zu unterscheiden ist der Fall, dass die Obergesellschaft mit einer Gegenforderung gegen den Verlustausgleichsanspruch aufrechnet oder eine entsprechende Verrechnung vorgenommen wird. Zumeist stammen solche Gegenforderungen aus vorausgehenden Cash Pool- oder anderen Finanzierungsleistungen.

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Entgegen einer viel beachteten Entscheidung des OLG Jena14 ist eine Aufrechnung nach §§ 387 ff. BGB gegenüber einem Verlustausgleichsanspruch nicht (per se) ausgeschlossen.15 Dies hat der BGH in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 2006 bestätigt.16 Insbesondere gilt § 66 Abs. 1 Satz 2 AktG nicht analog. Auch nach dem BGH ist eine Aufrechnung allerdings auch nicht durchweg zulässig, sondern unterliegt neben den §§ 387 ff. BGB besonderen konzernrechtlichen Voraussetzungen. Materielles Erfordernis ist, dass die zur Aufrechnung verwendete Forderung vollwertig ist. Die Darlegungs- und Beweislast hierfür obliegt der Obergesellschaft. Bei nur teilweiser Werthaltigkeit ist die Aufrechnung nach wohl überwiegender Meinung in voller Höhe unwirksam.17 In der Krise sind konzerninterne Forderungen meist nicht sicher als vollwertig einzustufen. Eine Aufrechnung ist daher in der Krise häufig zumindest mit Unsicherheiten behaftet. Formelle Voraussetzung ist, dass die Aufrechnungserklärung bzw. Verrechnungsvereinbarung bestimmt und eindeutig sein muss. Gestalterisch ist somit Schriftform bzw. Textform zu empfehlen. Das OLG München hat zu § 302 AktG entschieden, dass Buchungsvorgänge alleine nicht geeignet sind, die erforderliche rechtsgeschäftliche Erklärung bzw. Vereinbarung zu belegen.18 Häufig ergibt sich aber im Zusammenhang mit den weiteren Umständen des Falls, dass die erfolgten Buchungen Ausdruck eines zugrunde liegenden Verständnisses der beteiligten Gesellschaften sind. Auch bei der Aufrechnung kann es in Drei-Personen-Verhältnissen zu Problemen kommen, wenn es an klaren Vereinbarungen fehlt. Eine Aufrechnung einer von der Obergesellschaft verschiedenen Cash Pool-Führungsgesellschaft kann grundsätzlich nicht nach § 267 Abs. 1 BGB den Verlustausgleichsanspruch erfüllen, weil § 267 Abs. 1 BGB nach h.M. nur für die „echte“ Erfüllung (§ 362 BGB) gilt.19 Daher bedarf es zunächst einer Abtretung der Forderung der Cash Pool-Führungsgesellschaft an die Obergesellschaft, damit diese im Anschluss gegenüber dem Verlustausgleichsanspruch aufrechnen kann.

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OLG Jena v. 21.9.2004 – 8 U 1187/03, NZG 2005, 716. So im Grundsatz schon Reuter, DB 2005, 2339, 2340 ff. BGH v. 10.7.2006 – II ZR 238/04, NJW 2006, 3279. Altmeppen in MüKoAktG, 5. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 92; Koch in Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 13; a.A. wohl Emmerich in Emmerich/Habersack/Emmerich, 9. Aufl. 2019, § 302 AktG Rz. 40f („[…], soweit die fragliche Forderung nicht werthaltig ist, […]“). 18 OLG München v. 20.11.2013 – 7 U 5025/11, ZIP 2014, 1067-1073 („Insbesondere kann sich die Beklagte nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die tatsächlichen Buchungen das Vorliegen einer entsprechenden Verrechnungsabrede zwingend indizierten. Auch in der Berufungsbegründung bleibt die Beklagte Vortrag dahingehend schuldig, wann zwischen den Beteiligten welche konkrete Verrechnungsvereinbarung getroffen worden sein soll.“). 19 OLG Celle v. 17.1.2001 – 9 U 172/00, NZG 2002, 479; Grüneberg in Palandt, 79. Aufl. 2020, § 267 BGB Rz. 4; vgl. bereits RGZ 78, 382, 384; RGZ 119, 1, 4.

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b) Abwendungsvergleich Der gesetzlich vorgesehene Weg für eine Abweichung von den Beschränkungen des Verzichts- und Vergleichsverbot liegt in einem sog. Abwendungsvergleich (§ 302 Abs. 3 Satz 2 AktG). Wäre die Obergesellschaft wegen des Verlustausgleichsanspruchs anderenfalls zahlungsunfähig, kommt der Abschluss eines Abwendungsvergleichs in Betracht. Die weiteren Voraussetzungen, unter denen ein Abwendungsvergleich zulässig ist, sind in hohem Maße streitig und damit unsicher.20 Nach dem Gesetzeswortlaut setzt ein solcher Abwendungsvergleich zunächst voraus, dass sich die Obergesellschaft zur Abwendung eines Insolvenzverfahrens „mit ihren Gläubigern“ vergleicht. Dieser Wortlaut wird von einer starken Auffassung wesentlich eingeschränkt: Es soll genügen, dass an dem Vergleich so viele Gläubiger beteiligt sind, dass durch die Regelungen des Vergleichs die erforderliche Abwendungswirkung erreicht wird. Dies könne auch bei weiteren vorhandenen Gläubigern bereits der Fall sein, wenn sich die Obergesellschaft nur mit der Untergesellschaft über deren Anspruch aus § 302 Abs. 1 AktG vergleiche.21 Bei unbefangenem Verständnis des Gesetzeswortlauts wäre hingegen eine Vergleichsvereinbarung mit allen übrigen Gläubigern erforderlich, an der sich die Untergesellschaft sodann beteiligen darf. Dies brächte selbst in Fällen, in denen eine Restrukturierung der gesamten Passivseite verfolgt wird, kaum überwindbare Hürden mit sich, weil der Abschluss einer solchen Restrukturierung typischerweise einige Zeit in Anspruch nimmt. Wäre der Verlustausgleichsanspruch weiterhin fällig, bestünde zumindest das Risiko, dass innerhalb von längstens drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bzw. sechs Wochen nach Eintritt der Überschuldung Insolvenzantrag zu stellen ist.22 Neue Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen von § 302 Abs. 3 Satz 2 AktG eröffnen sich seit dem 1.1.2021. Im Rahmen dem Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz (SanInsFoG) hat der Gesetzgeber § 302 Abs. 3 Satz 2 AktG um eine Variante erweitert: Nunmehr ist eine Abweichung vom Verzichts- und Vergleichsverbot auch möglich, wenn die Ersatzpflicht durch einen Restrukturierungsplan geregelt wird. Dieser auffällig weit gefasste Tatbestand ist aus Sicht der Praxis zu begrüßen, da er – in der schwierigen Lage, die häufig zu konstatieren ist – eine weitere Handlungsoption eröffnet.

20 Vgl. näher Kocher, GmbHR 2012, 1221, 1222 ff. 21 Vgl. Kocher, GmbHR 2012, 1221, 1222 m.w.N. 22 Vgl. § 15a Abs. 1 InsO n.F., der durch das zum 1.1.2021 in Kraft getretene Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG, BGBl. 2020, Teil I, S. 3256) geändert wurde und gemäß dem die Frist zur Antragstellung für den Fall der Überschuldung auf sechs Wochen verlängert worden ist.

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2. Gestaltungsmöglichkeiten auf Seiten der Untergesellschaft a) Umwandlung in ein Darlehen, „Stehenlassen“, Stundung Immer wieder kommt die Frage auf, ob ein Verlustausgleichsanspruch nicht ebenso wie gewöhnliche Upstream-Forderungen grundsätzlich „stehengelassen oder in eine Darlehensforderung umgewandelt oder umgeschafft (Novation) werden könne, sei es durch eine gesonderte Vereinbarung oder durch Einstellung in ein Kontokorrentkonto. Die wohl h.M. im Schrifttum stellt das Stehenlassen und die Novation der Stundung gleich, welche sie als verboten ansieht. Dies folge aus dem Verzichts- und Vergleichsverbot des § 302 Abs. 3 Satz 1 AktG. Die Stundungsvereinbarung sei daher gemäß § 134 BGB nichtig. Dies gelte auch für vergleichbare Konstruktionen, insbesondere die Umwandlung des Verlustausgleichsanspruchs in einen Darlehensanspruch sowie die Begründung einer Darlehensforderung, die erfüllungshalber neben den Verlustausgleichsanspruch tritt.23 Nach anderer Auffassung ist eine Umwandlung in ein Darlehen zulässig, sofern im Zeitpunkt der Umwandlung die Forderung der Untergesellschaft vollwertig ist und die weiteren Voraussetzungen gegeben sind, unter denen die Untergesellschaft der Obergesellschaft ein Darlehen gewähren darf.24 Gerichtliche Entscheidungen, die diese Fragen ausdrücklich behandeln, liegen – soweit ersichtlich – bislang nicht vor. Allerdings hat der BGH, wie bereits ausgeführt, entschieden, dass die Geschäftsführung der Untergesellschaft zur Geltendmachung des Verlustausgleichsanspruchs verpflichtet und eine entgegenstehende Weisung nichtig sei. Die entscheidende Frage ist, ob § 302 Abs. 3 Satz 1 AktG ein Stundungsverbot zu entnehmen ist.25 Wenn ja, kann dies seine Rechtfertigung nur darin finden, dass es zeitnah zu einer Barleistung oder einer vergleichbar werthaltigen Leistung an die Untergesellschaft kommt. In diesem Fall läge auch in einer Novation oder in einer erfüllungshalber begebenden Darlehensforderung kein wesentlicher Gewinn. Allerdings lässt sich erwägen, ob die Änderungen im Kapitalschutzrecht durch das MoMiG auch im Rahmen von § 302 AktG Erleichterungen mit sich bringen.26 23 Vgl. etwa Melan/Karrenbrock, FR 2009, 757, 760. 24 Hentzen, AG 2006, 133, 138; Hoffmann/Theusinger, NZG 2014, 1170. Auch im steuerlichen Schrifttum finden sich Stimmen, nach denen die Umwandlung in ein Darlehen zumindest der steuerlichen Durchführung des Vertrags nicht entgegenstehe, etwa Wernicke/Scheunemann, DStR 2006, 1399, 1400 (aber „tatsächlicher Ausgleich innerhalb eines „angemessenen“ Zeitraums“). Vgl. ferner Neyer/Schlepper, BB 2007, 413 m.w.N. in Fn. 45. 25 Dafür etwa Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 302 AktG Rz. 40d. 26 Vgl. zu Umwandlung des Ausgleichsanspruch in ein Darlehen Emmerich in Emmerich/ Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2013, § 302 AktG Rz. 40b („Nach einer im Vordringen begriffenen Meinung bestehen dagegen keine Bedenken, weil nach § 57 Abs. 1 S. 3 AktG und § 30 Abs. 1 S. 2 GmbHG idF des MoMiG von 2009 sog. aufstei-

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b) Zahlung und Rückzahlung Soweit sich der Verlustausgleichsanspruch auf den vorstehenden Wegen nicht erledigen lässt, muss die Gesellschaft an die jeweilige Tochtergesellschaft zahlen, um den Verlustausgleichanspruch zu erfüllen. Ist kein Rückfluss vorgesehen, sondern verwendet die Untergesellschaft die erhaltenen Mittel zur Bedienung ihrer eigenen Verbindlichkeiten gegenüber Dritten oder zur eigenen Vermögensanlage bei Dritten, ist der Verlustausgleichsanspruch – wie im Falle des Einlageanspruchs – zweifelsfrei erfüllt. Ist eine solche Verwendung nicht vorgesehen, fragt sich, ob die Untergesellschaft die erhaltenen Mittel im Anschluss der Obergesellschaft wieder zur Verfügung stellen kann, sei es im Rahmen eines Darlehens oder als Rückzahlung auf eine bestehende Verbindlichkeit, insbesondere im Rahmen eines Cash Pools. Für den Rechtszustand vor Inkrafttreten des MoMiG ist dies ganz überwiegend von denjenigen Stimmen verneint worden, die § 302 Abs. 3 Satz 1 AktG ein Stundungsverbot entnehmen. Dieses werde umgangen, wenn vereinbart sei oder die Obergesellschaft die Untergesellschaft anweise, die erhaltenen Mittel als Darlehen zurückzugewähren. Jedenfalls seit Inkrafttreten des MoMiG gilt dies nicht mehr, da § 19 Abs. 4 und Abs. 5 GmbHG, § 27 Abs. 3 und Abs. 4 AktG selbst beim Einlageanspruch den Rückfluss an den Gesellschafter nicht per se ausschließen. Dies muss erst recht für den Verlustausgleichsanspruch gelten, da dieser anerkanntermaßen, wie eingangs dargelegt, weniger „hart“ ist als der Einlageanspruch.27 Hier eröffnen sich somit Gestaltungsspielräume.28 Beim Einlageanspruch ist der Rückfluss in Form der Darlehensneugewährung materiell zulässig, wenn die Darlehensforderung vollwertig ist (§ 19 Abs. 5 GmbHG). Der Rückfluss auf eine bereits bestehende Verbindlichkeit der Gesellschaft ist eine verdeckte Forderungseinbringung und damit eine verdeckte Sacheinlage (§ 19 Abs. 4 GmbHG). In diesem Fall wird der Einlageanspruch zwar nicht unmittelbar erfüllt. Jedoch ist der Wert der Einlage anzurechnen. Gleichwohl liegt in der behandelten Variante einer Zahlung mit Rückzahlung ein wesentlicher Unterschied gegenüber einer Umwandlung des Anspruchs aus § 302 Abs. 1 AktG in ein Darlehen oder einer Aufrechnung. Zum einen hat die Obergesellschaft durch die Zahlung unter Beweis gestellt, dass sie über die gezahlten Mittel verfügte oder diese aufbringen konnte. Zum anderen treten vor den Rückfluss die Pflichten der Geschäftsführung der Untergesellschaft bei Zahlungen an den Gesellschafter, welche überwiegend zwingend sind und daher auch durch eine Weisung der Obergende Darlehen zulässig sind, sofern nur der Rückforderungsanspruch der abhängigen Gesellschaft vollwertig und ihre Existenz gesichert ist. Diese Voraussetzungen sind ernst zu nehmen.“). 27 BGH v. 10.7.2006 – II ZR 238/04, NJW 2006, 3279. 28 Siehe insb. Hentzen, AG 2017, 885.

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gesellschaft nicht überwunden werden können. Von diesen Pflichten kann in der vorliegenden Konstellation vor allem § 15b Abs. 5 Satz 1 InsO29 einschlägig sein. Sind die insoweit eingreifenden Vorgaben aber gewahrt, ist der Rückfluss der Zahlung, die die Gesellschaft auf ihren Anspruch aus § 302 Abs. 1 AktG erhalten hat, zulässig.

IV. Fazit Der Verlustausgleichsanspruch ist weiterhin ernst zu nehmen. Sowohl vor als auch nach dem Bilanzstichtag kommen aber verschiedene Gestaltungsvarianten in Betracht, um den Verlustausgleichsanspruch rechtssicher zu erledigen. Bei der Gestaltung von Cash-Pool-Systemen ist auf eine hinreichende Verzahnung der Cash-PoolLeistungen mit der EAV-Struktur zu achten, insbesondere wenn das Cash-Pooling – wie häufig – von allen Gesellschaften unmittelbar mit der Cash-Pool-Führungsgesellschaft praktiziert wird, also auf den einzelnen Konzernzwischenstufen kein Zwischenclearing stattfindet.

29 Für die GmbH vormals in § 64 Satz 3 GmbHG a.F. geregelt. § 15b InsO wurde durch das SanInsFoG neu eingeführt. In § 15b InsO wurden die verschiedenen Regelungen z.B. der § 64 GmbHG, § 92 Abs. 2 AktG, §§ 130a, 177a HGB, § 99 GenG nunmehr rechtsformunabhängig mit gewissen Anpassungen zusammengeführt, wohingegen die rechtsformspezifischen Regelungen entfallen sind.

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Inhaltsübersicht I. Einführung 1. Rechtliche Risiken und Bankgeschäft 2. Gang der Untersuchung II. Rechtliche Risiken im Bankaufsichtsrecht 1. Rechtsrisiken als Gegenstand des allgemeinen Risikomanagements 2. Rechtliche Risiken als Gegenstand besonderer Rechtsprüfungspflichten a) Überblick b) Regelungsbestand und Fallgruppen III. Rechtsprüfungspflichten zu Nettingund Sicherheitenvereinbarungen 1. CRR Rechtsprüfungspflichten zu Nettingvereinbarungen a) Hintergrund b) Maßgeblichen Regelungen c) Wesentliche Elemente aa) Begutachtungspflicht und vertraglicher Mindestgehalt (1) Überblick (2) Gutachten-Verständnis (3) Verbands- und individuelle Gutachten

bb) Nettinganzeige (1) Funktion (2) Verfahren cc) Überwachungspflichten 2. CRR-Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen a) Hintergrund b) Maßgebliche Regelungen und Regelungsstruktur aa) Ansatzbezogenheit bb) Gegenüberstellung cc) Inhaltliche Angleichung b) Wesentliche Elemente aa) Begutachtungspflicht (1) Rechtsräume (2) Umsetzung bb) Überwachungspflichten 3. EMIR-Rechtsprüfungspflichten zu Netting- und Besicherungsvereinbarungen a) Hintergrund b) Netting- und Besicherungsfähigkeit c) Nichtnetting- und Nichtbesicherungsfähigkeit IV. Einordnung

Die Wechselwirkungen zwischen Vertragspraxis und bankaufsichtlichen oder auch bilanziellen Anforderungen haben den Jubilar schon immer interessiert. Der nachfolgende Beitrag beschäftigt sich mit einem Teilaspekt, und zwar der aufsichtsrechtlichen Sicht auf rechtliche Risiken im Zusammenhang mit im Bankgeschäft eingesetzten Verträgen.

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I. Einführung 1. Rechtliche Risiken und Bankgeschäft Bankgeschäfte1 sind wie kaum eine andere Form von Handelsgeschäften mit den ihnen zugrundeliegenden Verträgen und dem auf sie anwendbaren Recht verbunden. Grund hierfür ist, dass der Geschäftsgegenstand oder das „Produkt“ im Kern aus Rechten und Pflichten besteht, deren Inhalt und Bestand durch den zugrundeliegenden Vertrag und das auf diesen anzuwendende Recht bestimmt werden.2 Das Risiko, dass Verträge nicht oder nicht in der vorgesehenen Weise wirksam und durchsetzbar sind oder werden können, kann deshalb sehr viel unmittelbarer durchschlagen. Bei Bank- und vor allem bei Kapitalmarktgeschäften kann dies auch aus einem weiteren Grund kritisch sein: Eine Funktion der Geschäfte kann gerade die möglichst präzise Zuordnung wirtschaftlicher Risiken sein. Plastische Beispiele sind etwa Verbriefungstransaktionen und Kreditderivate, deren originärer Zweck der (Kredit)Risikotransfer ist.3 Gleiches gilt für alle Formen von Absicherungsgeschäften.4 Werden die verwendeten Verträge oder einzelne Bestimmungen unwirksam oder gelten diese nicht mehr in der ursprünglich vereinbarten Form, ändert sich auch die ursprünglich vereinbarte Zuordnung der vertragsgegenständlichen Risiken. Vergleichbar ist die Situation bei Verträgen, die die Geschäftsrisiken absichern oder reduzieren sollen, insbesondere Sicherheitenvereinbarungen oder andere vertragliche Risikosteuerungsteuerungsinstrumente, wie etwa Nettingvereinbarungen.5 Bei Verträgen über Bankgeschäfte von Anfang an bestehende oder später entstehende Rechtsunsicherheiten können folglich zu planwidrigen Verlagerungen erheblicher Geschäftsrisiken führen und dies kann – über die hierdurch eintretenden wirtschaftlichen Konsequenzen hinaus – auch Konsequenzen für bankaufsichtliche Wertungen haben, insbesondere für die Eigenmittelunterlegung.6 1 Der Begriff wird hier untechnisch verwendet und steht stellvertretend für alle Formen der Geschäftstätigkeit von Kreditinstituten und ist daher weiter zu verstehen als Bankgeschäfte im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2 KWG. 2 Vgl. Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG/CRR-VO, 5. Aufl. 2016, § 25a KWG Rz. 368 allerdings bezogen auf Rechtsrisiken als Bestandteil operationellen Risiken und Gegenstand des allgemeinen Risikomanagements (siehe hierzu unten Ziff. II.1). 3 Näher zur Funktion und den vertraglichen und aufsichtsrechtlichen Rahmenbedingungen, Kölbl-Vogt in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 10 Rz. 1 ff. 4 Zur Bedeutung von Derivaten als Risikominderungs- und -steuerungs-Instrumente, siehe Lange in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 32 Rz. 1. 5 Auch Vertragsbestimmungen in Kreditfinanzierungen können eine Risikosteuerungsfunktion haben. Zur entsprechenden Funktion von Klauseln in Konsortialkreditverträgen, siehe Castor/Walgenbach in Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2020, 16. Kapitel, Rz. 18. 6 Ein Beispiel wären Rechtsänderungen (durch Gesetzesänderungen oder auch neue Rechtsprechung), die die weitere Wirksamkeit eines Vertragstyps bzw. zentraler Vertragsbestimmungen in Frage stellen, so wie etwa in Folge des BGH-Urteils v. 9.6.2020 – IX ZR 314/14 zum Netting gemäß § 104 InsO (in bis Ende 2016 geltenden Fassung) die Unwirksamkeit der marktüblichen vertraglichen Nettingbestimmungen im Raume stand. Die potentiellen

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Die Identifizierung, Reduzierung und Steuerung rechtliche Risiken7 aus und im Zusammenhang mit Verträgen ist deshalb für Kreditinstitute schon immer eine Kernaufgabe gewesen. 2. Gang der Untersuchung Abschnitt II. gibt zunächst einen Überblick über die bankaufsichtliche Regelungssystematik und den Regelungsrahmen für die Adressierung rechtlicher Risiken im Bankaufsichtsrecht. Abschnitt III. beleuchtet mit den Rechtsprüfungspflichten zu Nettingund Sicherheitenvereinbarungen der CRR sowie der EMIR drei praktisch besonders relevante Beispiele aufsichtlicher Rechtsprüfungspflichten. Abschnitt IV. nimmt zum Abschluss eine kurze Einordung vor.

II. Rechtliche Risiken im Bankaufsichtsrecht Die fundamentale Bedeutung rechtlichen Risiken im Bankgeschäft wird im Bankenaufsichtsregime durchaus reflektiert. Allerdings geschieht dies nicht Form eines einheitlichen, übergreifenden Ansatzes, sondern über ein Geflecht aus Anforderungen im Rahmen des allgemeinen Risikomanagements und daneben stehenden besonderen Prüfungspflichten im Hinblick auf bestimmte Ausprägungen rechtlicher Risiken. Das Verhältnis zwischen diesen besonderen Prüfungspflichten einerseits und Rechtsrisiken als Gegenstand des allgemeinen Risikomanagements andererseits, und die sich hieraus ergebende aufsichtsrechtliche Systematik lässt sich vielleicht am ehesten als zwei getrennte Regelungskreise zu unterschiedlichen Dimensionen aufsichtsrechtlicher Pflichten begreifen. Das Nebeneinander der Regelungskreise spiegelt dabei auch die Aufteilung der wesentlichen bankaufsichtsrechtlichen Regelungen auf die zwei europäische Basis-Rechtsinstrumente, die CRR-Verordnung (CRR)8 und die CRD IV-Richtlinie (CRD-IV)9 wider.10

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aufsichtsrechtlichen Konsequenzen, vor allem für Eigenmittelunterlegung, werden in der am Tag der Urteilsverkündung veröffentlichten Allgemeinverfügung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) beschrieben (siehe dort Ziff. II.2 a) dd) und ee)). Sie ist auf der BaFin-Internetseite unter folgendem Link abrufbar: https://www.bafin.de/ SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Aufsichtsrecht/Verfuegung/vf_160609_allgvfg_netting vereinbarungen.html. Der Begriff wird hier als Oberbegriff und in Abgrenzung zum „Rechtsrisiko“ im Sinne des Bankaufsichtsrecht verwendet. Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen, auch als Kapitaladäquanzverordnung bekannt. Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen. Zwischen den Dimensionen und auch innerhalb der Dimensionen kommt es zu Überschneidungen. Sie können deshalb nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Oh-

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1. Rechtsrisiken als Gegenstand des allgemeinen Risikomanagements Das Bankenaufsichtsrecht kennt das Rechtsrisiko als eigenständigen Begriff und versteht dieses auch als eigene Risikokategorie. Es wird jedoch als eine Unterkategorie des operationellen Risikos begriffen11 und ist Teil des nach § 25a KWG12 im Rahmen der allgemeinen organisatorischen Anforderungen an die ordnungsgemäße Geschäftsorganisation einzuführenden Risikomanagements.13 Als Gegenstand des Risikomanagements erfasst es vorrangig Rechtsnormen, deren Nichtbeachtung Geldstrafen, Geldbußen oder die Nichtigkeit von Verträgen nach sich zieht, also insbesondere aufsichts- bzw. ordnungsrechtliche Normen,14 und die

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nehin wird bei der Implementierung des institutseigenen Risikomanagements eine Verbindung oder zumindest eine enge Koordination angezeigt sein, allein um Dopplungen oder auch Konflikte zu vermeiden. Dies folgt aus der Definition des operationellen Risikos in Art. 4 Abs. 1 Nr. 52 CRR. Operationelles Risiko ist danach „das Risiko von Verlusten, die durch die Unangemessenheit oder das Versagen von internen Verfahren, Menschen und Systemen oder durch externe Ereignisse verursacht werden, einschließlich Rechtsrisiken“. Sie ist im Übrigen der einzige Ort, an dem in den Basisrechtsakten des europäischen Bankaufsichtsrechts Rechtrisiken ausdrücklich angesprochen werden. § 25a KWG setzt entsprechende Anforderungen der CRD-Richtlinie (Richtlinie 2013/ 36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen) um. Grundlegend zum Risikomanagement im Bankgeschäft: Mülbert/Wilhelm, Risikomanagement und Compliance im Finanzmarktrecht – Entwicklung der aufsichtsrechtlichen Anforderungen, ZHR 178 (2014), 502 ff. So bereits der Baseler Ausschuss für Bankaufsicht in der überarbeiteten Rahmenvereinbarung „International Convergence of Capital Measurement and Capital Standards“ v. 30.6.2006, S. 144, hier Fn. 97: „Legal risk includes, but is not limited to, exposure to fines, penalties, or punitive damages resulting from supervisory actions, as well as private settlements“. Ähnlich auch die Begründung zum mit dem Finanzkonglomeraterichtlinie-Umsetzungsgesetz neu gefassten § 25a KWG, BT-Drucks. 16/3641, S. 47: „Die von den Instituten einzuhaltenden gesetzlichen Bestimmungengen sind in erster Linie die einschlägigen aufsichtsrechtlichen Gesetze, insbesondere das Kreditwesengesetz, das Wertpapierhandelsgesetz, das Investmentgesetz, das Gesetz über Bausparkassen, das Depotgesetz, das Geldwäschegesetz, das Gesetz über die Pfandbriefe und verwandten Schuldverschreibungen öffentlich-rechtlicher Kreditinstitute, das Schiffsbankgesetz, das Hypothekenbankgesetz und die zur Durchführung dieser Gesetze erlassenen Rechtsverordnungen. Darüber hinaus können jedoch weitere gesetzliche (z.B. § 91 Abs. 2 Aktiengesetz, § 34 Genossenschaftsgesetz) oder aus dem Postulat ordnungsgemäßer Geschäftsführung ableitbare organisatorische Pflichten bestehen“. Daran anknüpfend auch das Protokoll der Sitzung des MaRisk-Fachgremiums v. 24.4.2013, dort Ziff. 2 („Gleichwohl lässt sich konstatieren, dass die hier im Fokus stehenden Compliance-Risiken sich insbesondere dadurch „auszeichnen“, dass bei einer Nichtbeachtung von rechtlichen Regelungen und Vorgaben vor allem (Geld-)Strafen/Bußgelder, Schadenersatzansprüche und/ oder die Nichtigkeit von Verträgen drohen, die zu einer Gefährdung des Vermögens des Instituts führen können“). Das Protokoll und Informationen zum Fachgremium sind auf der BaFin-Internetseite unter folgendem Link abrufbar: https://www.bafin.de/DE/Aufsicht/Ban kenFinanzdienstleister/Fachgremien/MaRisk/marisk_node.html. Zur praktischen Bedeutung des Protokolls, vgl. Mülbert/Wilhelm, ZHR 178 (2014), 502, 520.

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direkten wirtschaftlichen Folgen solcher Verstöße. Der im Rahmen des Risikomanagements abzudeckende Normenkreis soll grundsätzlich aber auch Risiken aufgrund bestehender oder künftiger Unsicherheiten über die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Verträgen erfassen können,15 zumindest im Hinblick auf besonders relevante Verträge.16 Als Element des allgemeinen Risikomanagements unterliegen Rechtsrisiken der auf alle übrigen Risikoarten anzuwendenden Risikomanagement-Funktionslogik,17 auch wenn gerade vertragsbezogene rechtliche Risiken deutlich schwerer zu greifen und auch weniger berechenbar sein dürften, als die sonstigen, „klassischen“ Risikoarten wie etwa das Adressenausfall-18 oder Marktpreisrisiko.19 Für den Inhalt und die nähere Ausgestaltung des allgemeinen Risikomanagements sind im deutschen Bankaufsichtsrecht vor allem die Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk)20 maßgeblich. Sie konkretisieren21 als Vorschriften zur Verwaltungs- bzw. Auslegungspraxis22 die gesetzlichen Vorgaben des Kreditwesengesetzes (KWG) und Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) zum allgemeinen Risikomanagement.23 Sie begründen insbesondere die Pflicht zur Einrichtung einer Compliance-Funktion zur Steuerung der Risiken aus der Nichteinhaltung „rechtlicher

15 Vgl. etwa Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG/CRR-VO, 5. Aufl. 2016, § 25a KWG Rz. 37 ff. sowie Rz. 368 (zu den § 25a KWG konkretisierenden MaRisk-Anforderungen); Mülbert/Wilhelm, ZHR 178 (2014), 502, 521 ff. oder auch Schwerdtfeger, Rechtsfunktion der Zukunft: Die künftige Rolle der Rechtsabteilung als Risikomanager und Rechtsdienstleister, in BKR 2018, 6, der das „Vertragsrisiko“ zum Rechtsrisiko als Bestandteil des operationellen Risikos zählt. 16 In diese Richtung weisen bereits die Praxisempfehlungen des Basler Ausschuss für Bankenaufsicht zum Management operationeller Risiken vom Februar 2003 (abrufbar unter folgendem Link: https://www.bis.org/publ/bcbs96de.pdf. Dort werden auch rechtliche Risiken im Zusammenhang mit Risikominderungstechniken, insbesondere Sicherheiten, Kreditderivaten, Nettingvereinbarungen sowie Verbriefungen dem operationellen Rechtsrisiken zugeordnet (S. 1 letzter Aufzählungspunkt). Ähnlich auch Braun in Boos/Fischer/ Schulte-Mattler, KWG/CRR-VO, 5. Aufl. 2016, § 25a KWG Rz. 351. 17 Mülbert/Wilhelm, ZHR 178 (2014), 502, 521. 18 Auch „Gegenparteiausfallrisiko“. 19 Zu den „klassischen“ Risikoarten siehe Mülbert/Wilhelm, ZHR 178 (2014), 502, 509. Zur „Rechenbarmachung“ operationeller Risiken im Risikomanagement, siehe Braun in Boos/ Fischer/Schulte-Mattler, KWG/CRR-VO, 5. Aufl. 2016, § 25a KWG Rz. 351. 20 Derzeit noch gültig ist die Fassung des BaFin-Rundschreibens 09/2017 (BA) v. 27.1.0.2017. Die MaRisk werden derzeit überarbeitet. Bei den für den Umgang mit Rechtsrisiken relevanten Regelungen sind jedoch keine Änderungen zu erwarten. 21 Siehe MaRisk Vorbemerkungen AT 1 Rz. 1 und 2. 22 Zum Rechtscharakter der MaRisk siehe Jahn/Reiner in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 114 Rz. 252 (formale Verwaltungsvorschriften mit nur mittelbarer – über den Gleichbehandlungsgrundsatz erzielter – Außenwirkung). 23 Vgl. MaRisk AT 1 Rz. 1 und 4. Die KWG und WpHG-Vorgaben setzen ihrerseits wiederum Vorgaben der CRD und der Richtlinie 2004/39/EG v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) um.

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Regelungen und Vorgaben“.24 Ein Element soll hier der Aufbau eines Rechtsinventars und geeigneter Verfahren zur Überwachung des darin erfassten Regelungsbestandes sein.25 Die konkrete Ausgestaltung, der Abdeckungsumfang26 und die Koordination dieser Aufgaben mit denen der sonstigen, mit Rechtsfragen befassten Bereichen liegt jedoch im Ermessen des Institutes und hängt von den institutsspezifischen Gegebenheiten ab, vor allem der Geschäftstätigkeit und dem Risikoprofil.27 Einzelne Ausprägungen rechtlicher Risiken sprechen die MaRisk an mehreren Stellen auch noch gesondert an.28 2. Rechtliche Risiken als Gegenstand besonderer Rechtsprüfungspflichten a) Überblick Neben dem Rechtsrisiko als Element des allgemeinen Risikomanagements sieht das Bankaufsichtsrecht ergänzend eine weitere Form regulatorischer Vorgaben zum Umgang mit rechtlichen Risiken vor, die hier zur Abgrenzung als besondere Rechtsprüfungspflichten bezeichnet werden. Es handelt sich dabei um in bestimmten aufsichtsrechtlichen Sachzusammenhängen stehende Regelungen, die spezifische Aus24 Siehe MaRisk AT 4.4.2 Ziff. 1. 25 Siehe hierzu Kotsougianis/Voss, „Bankweites Rechtsmonitoring“, Die Bank, Heft 10/2014, S. 46-50 und Boldt/Büll/Voss, „Implementierung einer Compliance-Funktion in einer mittelständischen Bank unter Berücksichtigung der neuen Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk)“, CCZ 2013, 250. Ähnlich Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG/CRR-VO, 5. Aufl. 2016, § 25a KWG Rz. 368 (laufende Überwachung relevanter Rechtsänderungen). 26 Zwingend sollen hierzu das Kernaufsichtsrecht (CRR, KWG, WphG), die Vorgaben zur Bekämpfung von Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und anderen strafbarer Handlungen, das Datenschutzrecht sowie das Verbraucherschutzrecht (einschließlich des Zahlungsverkehrs- und Verbraucherkreditrechts und die maßgeblichen Bestimmungen des AGBRechts) gehören, siehe etwa Mülbert/Wilhelm, ZHR 178 (2014), 502, 521 f. und das Protokoll zur Sitzung des MaRisk-Fachgremiums v. 24.4.2013 zur Compliance-Funktion (siehe dort Ziff. 3). Als weitere ggf. relevante Rechtsbereiche werden auch das Insolvenzrecht sowie die rechtlichen Rahmenbedingungen für komplexe grenzüberschreitende Geschäftsvorgänge, wie etwa Derivategeschäfte und Projektfinanzierungen genannt (siehe Braun in Boos/Fischer/Schulte-Mattler, KWG/CRR-VO, 5. Aufl. 2016, § 25a KWG Rz. 368). Allein um eine uferlose und nicht beherrschbare Informationsflut zu vermeiden, sollte der Abdeckungsumfang auf ein sinnvolles Maß und wesentliche Regelungen begrenzt werden. 27 Vgl. auch Mülbert/Wilhelm, ZHR 178 (2014), 502, 519 f. oder auch Boldt/Büll/Voss, CCZ 2013, 250 und das Protokoll zur Sitzung des MaRisk-Fachgremiums v. 24.4.2013, Ziff. 3. Insbesondere nicht-branchenspezifische (etwa Steuer- und Arbeitsrecht) oder einem speziellem Risikocontrolling durch die Fachbereiche unterliegende Aspekte (etwa Rechnungslegung und Eigenkapitalunterlegung) können danach ausgeklammert werden. 28 Siehe insbesondere die Risikomanagement-Anforderungen an das Kreditgeschäft (BTO 1.2 Ziff. 5, 11 und 12, 1.2.1 Ziff. 3, 1.2.2 Ziff. 3 und 1.2.5 Ziff. 2, an Handelsgeschäfte (BTO 2.2.1 Ziff. 8), im Hinblick auf Liquiditätsrisiken (BTR 3.1 Ziff. 10 und 3.2 Ziff. 4) und zudem abstrakt die Anforderungen an den Inhalt der Organisationsrichtlinien (AT 5 Ziff. 3 lit. e.) sowie an die Aufbau- und Ablauforganisation (BTO Ziff. 8).

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prägungen rechtlicher Risiken adressieren und eigenständige Pflichten zur Prüfung bestimmter rechtlicher Fragen begründen. In einigen Fällen umfassen diese Anforderungen an die Umsetzung, etwa in Form von Vorgaben, wie die Prüfung durchzuführen und zu dokumentieren ist, beispielsweise mittels Rechtsgutachten,29 oder auch spezielle Überwachungspflichten. b) Regelungsbestand und Fallgruppen Eigenständige Pflichten zur Prüfung bestimmter und vor allem vertragsbezogener rechtlicher Risiken kennt das Bankaufsichtsrecht spätestens seit Umsetzung der Eigenkapitalvereinbarung des Basler Ausschuss für Bankenaufsicht vom Juni 2004 (Basel II).30 Anzahl und Komplexität haben seither im Zuge des durch Basel II initiierten31 und dann noch einmal durch die Finanzkrise von 2007/2008 massiv beschleunigten Regulierungsschubs32 stetig zugenommen. Sie durchziehen inzwischen praktisch alle Bereiche des Bankaufsichtsregimes. Betroffen sind das Eigenkapitalregime der CRR genauso wie zwei weitere wichtige Bausteine des neuen Regulierungsrahmens, die Europäische Marktinfrastrukturverordnung (EMIR)33 sowie die Bankensanierungs- und -abwicklungsrichtlinie (BRRD)34 (umgesetzt durch das SAG).35 Rechtsprüfungspflichten finden sich darüber hinaus aber auch in Spezialgesetzen wie etwa dem Pfandbriefgesetz36 und zunehmend auch in den speziellen Aufsichtsregelungen für andere Finanzmarktteilnehmer.37

29 Näher zu den aufsichtlichen Rechtsgutachten (legal opinions) im Sinne der CRR, siehe unten, Ziff. III.1. aa) (2). 30 Bereits die 2006 eingeführte Solvabilitätsverordnung (SolvV), die im Wesentlichen die Regelungen der ursprünglichen CRD-Verordnungen in deutsches Recht umsetzten, sah spezielle Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen (und Nettingvereinbarungen) vor, siehe hierzu Zoepffel, Auswirkungen der CRR auf das Kreditsicherungsrecht, in WM 2014, 928 f., der hier auch auf das schon immer und unabhängig von aufsichtsrechtlichen Pflichten bestehende Eigeninteresse an einer solchen Rechtsprüfung verweist. 31 Mülbert/Wilhelm, ZHR 178 (2014), 502 zur Ausweitung der regulatorischen Anforderungen an Risikomanagement und Compliance seit 2004. 32 Für einen Überblick zu den Regulierungsinitiativen im Zuge der Finanzkrise: siehe Monatsbericht Deutsche Bundesbank Juni 2019: Das europäische Bankenpaket – Die Überarbeitung der EU-Bankenregulierung. S. 31 ff. 33 Verordnung (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.7.2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister (EMIR). 34 Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen. 35 Gesetz zur Sanierung und Abwicklung von Instituten und Finanzgruppen (Sanierungsund Abwicklungsgesetz – SAG). 36 Siehe etwa § 19 Abs. 1 Nr. 4 Pfandbriefgesetz (Pflicht zur Sicherstellung, dass Derivatgeschäfte „nach Maßgabe des Rahmenvertrags im Falle der Insolvenz der Pfandbriefbank oder der anderen Deckungsmassen nicht beeinträchtigt werden können“). 37 Siehe etwa § 76 Abs. 1 Nr. 4 sowie § 83 Abs. 2 KAGB (Pflicht zur Sicherstellung der rechtswirksamen Bestellung der Sicherheiten bei Wertpapierdarlehen).

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Der Inhalt der Anforderungen ergibt sich in manchen Fällen nicht nur aus dem jeweiligen europäischen Basis-Rechtsinstrumente, sondern den diesen erlassenen regulatorischen Standards (meist in Form Delegierter Verordnungen) oder den die europäischen Vorgaben umsetzenden deutschen Gesetzen. Bei der Anwendung müssen die Institute auch die veröffentlichte Aufsichtspraxis der zuständigen Aufsichtsbehörden berücksichtigen.38 Regelungen zu den besonderen Rechtsprüfungspflichten formulieren den rechtlichen Prüfungsbedarf sehr unterschiedlich: Sie sprechen von möglichen rechtlichen Hindernissen („material legal impediment“), „rechtsverbindlichen“ Festlegungen zur Haftung („legally binding liability“), der „Gewährleistung“ der rechtlichen Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit („valid and enforceable“) oder „Rechtssicherheit“ („legal certainty“) der Verträge oder Vertragsbestimmungen, von einklagbaren Rechten („legally enforceable right“) oder auch vom Risiko erfolgreicher rechtlicher Anfechtungen oder berechtigter Entschädigungsansprüche („material risk of a successful legal challenge or valid compensation claims“). Allein in der CRR enthalten über 40 Artikel39 eine der vorgenannten Formulierungen.40 Hinzu kommen eine Vielzahl von Regelungen, die rechtliche Wertungen voraussetzen und folglich mittelbar Rechtsprüfungen fordern – und sei es in Form einer Überprüfung des Vertragsinhalts (vertraglicher Mindestgehalt).41 Der Versuch einer 38 Etwa Leitlinien oder die formalisierten Frage- und Antworten-Verfahren der europäischen Aufsichtsbehörden wie dem EBA Single Rulebook Q&A (https://www.eba.europa. eu/single-rule-book-qa) oder die ESMA Q&A (https://www.esma.europa.eu/questionsand-answers). Zur Bedeutung der Q&A für die Aufsichtspraxis, siehe BaFin-Internetseite zu den Leitlinien und Q&As der Europäischen Aufsichtsbehörden, abrufbar unter folgendem Link: https://www.bafin.de/DE/RechtRegelungen/Leitlinien_und_Q_and_A_der_ ESAs/Leitlinien_und_Q_and_A_der_ESAs_node.html. 39 Bei Verweisen auf Bestimmungen in EU-Rechtsakten wird die gebräuchlichere Bezifferungsweise der englischsprachigen Fassungen verwendet. 40 Art. 7 (1) (a) und (3) (c), Art. 8 (1) (c) und (d), Art. 9 (2), Art. 18 (2), Art. 38 (3) (a), Art. 52 (1) (q), Art. 63 (1) (o), Art. 129 (1) (f), Art. 166 (2), (3) und (8) (a), Art. 181 (1) (f) Art. 183 (1)(c), Art. 184 (2) und (4), Art. 194 (1) 1. und 2. UAbs., Art. 194 (2) und (6) (b), Art. 205 (a), Art. 206 (a), Art. 207 (3), Art. 208 (2) (a) bis (c), Art. 209 (2) und (3) (b), Art. 210 (a), Art. 211 (c), Art. 212 (1) (a) und (2) (f), Art. 213 (1) und (3), Art. 216 (2), Art. 217 (1) (f), (h) und (j), Art. 243 (1) 3. UAbs. und Art. 243 (2) (a), Art. 244 (4) (h), Art. 245 (4) (d) und (g), Art. 282 (8), Art. 286 (2), Art. 288 (j), Art. 292 (1) (d), (8) und (9), Art. 296, Art. 297, Art. 300 (1), Art. 305, Art. 325b (2), Art. 325p, Art. 346 (5), Art. 416 (2) (b), Art. 417 (b), Art. 429 (8) (b), Art. 436 (c), Art. 439 (e). Aufgeführt sind hier auch Regelungen, die auf Rechtsprüfungspflichten verweisen. 41 Art. 291 (5) fordert etwa die Erkennung „rechtlicher Verbindungen“ zwischen Gegenpartei und Emittenten des Basiswerts. Art. 18 (2) CRR fordert eine „eindeutige und rechtsverbindliche“ Festlegung der Haftung der Anteilseigner oder Gesellschafter. Weitere Beispiele sind die Anforderung an die zeitnahe Verwertung von Sicherheiten in Art. 194 (4) und Art. 207 (4) CRR oder die zusätzlichen Anforderungen an Garantien gemäß Art. 213 (1) (c) und Art. 215 CRR mit detaillierten Vorgaben an die Ausgestaltung von Garantien. Siehe hierzu bereits Reuter, Kreditrisikominderung durch Garantien nach SolvV bei konsortialen Projekt- und anderen Finanzierungen, BKR 2010, 102.

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vollständigen Aufzählung sämtlicher bankaufsichtsrechtlicher Rechtsprüfungspflichten dürfte deshalb scheitern und das Ergebnis wäre wohl auch eher irreführend. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass ein großer Teil der vielen und vielfältigen Regelungen unabhängig vom konkreten regulatorischen Sachzusammenhang im Kern sehr ähnliche oder auch identische Rechtsfragen stellen bzw. den gleichen Prüfungsgegenstand haben. Man kann diese in drei Gruppen aufteilen: – Rechtsprüfungspflichten zu Verträgen oder Vertragsbestimmungen mit risikoreduzierenden oder -steuernden Funktionen, und zwar Sicherheitenvereinbarungen,42 vertragliche Nettingvereinbarungen43 und Verbriefungen.44 – Rechtsprüfungspflichten zu vertraglichen Anerkennungsklauseln im Hinblick auf Abwicklungsmaßnahmen und Herabschreibungs- oder Umwandlungsrechte der zuständigen Abwicklungsbehörden.45 – Rechtsprüfungspflichten zur Übertragbarkeit von Mitteln bzw. Vermögensgegenständen innerhalb einer Institutsgruppe.46 42 In der CRR sind dies: Art. 129 (1) und 166 (3) (Verweis auf die die Anforderungen an die Rechtssicherheit nach Art. 192 ff. für die Berechnung der Risikopositionen), Art. 181 (1) (f) (Anforderungen an die Rechtssicherheit im IRB-Ansatz), Art. 183 (1)(c) (Durchsetzbarkeit von Garantien im maßgeblichen Rechtsraum), Art. 184 (2) und (4) (Sicherstellung des Eigentums an Forderungen), Art. 194 (1), (2) und (6) (allgemeinen Anforderungen an Sicherheitenvereinbarungen), Art. 207 bis 217 (ergänzenden Anforderungen an einzelne Sicherheitsformen), Art. 282 (8) (Verweis auf Art. 192 ff. für die Bildung von Hedging-Sätzen), Art. 288 (j), (Abbildung der Sicherheiten- und Nettingvereinbarungen im CRR-Risikomanagements), Art. 292 (9) (Verfahren zur Sicherstellung der Erfüllung der Anforderungen aus Art. 192 ff.), Art. 300 (1) und 305 (Segregierung von Positionen und Sicherheiten beim Clearing). Unter der EMIR sind dies Regelungen in der Delegierten Verordnung 2016/2251 zur EMIR (EMIR-DVO), hier Art. 2 (3) bis (6) sowie Art. 19 (1) und (3) bis (7) und Art. 31. 43 Die Prüfung von Nettingvereinbarungen wird in der CRR in Art. 205 (a) und Art. 206 (a), Art. 288 (j), Art. 292 (1) (d), (8) sowie Art. 295 und 296 angesprochen. Zudem verweisen Art. 166 (2) für die Berechnung von Risikopositionswerten und Art. 439 (3) hinsichtlich der Offenlegungspflichten abstrakt auf rechtlich wirksame Nettingvereinbarungen. Unter der EMIR begründen die bereits im Zusammenhang mit Sicherheitenvereinbarungen genannten Bestimmungen der EMIR DVO immer auch entsprechende Pflichten im Hinblick auf Nettingvereinbarungen. 44 Maßgebliche Bestimmungen sind die Art. 243 (1) und (2) (a), Art. 244 (4) (h) und Art. 245 (4) (d) und (g) CRR. Zu prüfen sind Rechtsverbindlichkeit der Rückkaufsverpflichtung, der Ausschluss von Rückgriffen und die Durchsetzbarkeit der Besicherung in allen relevanten Rechtsräumen (zum Teil mittels Rechtsgutachten). 45 In der CRR: Art. 52 (1) (q) (Anerkennung von unter dem Recht eines Drittstaates begebenen Kapitalinstrumenten als zusätzliches Kernkapital) sowie in Art. 63 (1) (o) (Anerkennung als Instrumente des Ergänzungskapitals). Vergleichbare Rechtsprüfungspflichten sieht zudem die BRRD bzw. das SAG in Art. 55 BRRD/§ 55 SAG (mit Gutachtenpflicht) und Art. 71a BRRD (ohne Gutachtenpflicht) vor. Siehe hierzu auch Köhling in Jahn/ Schmitt/Geier, Handbuch Bankensanierung u. Abwicklung, 2016, B. VI. Rz. 105, S. 379. 46 Entsprechende Rechtsprüfungspflichten begründen Art. 7 (1) (a) und (3) (c) CRR (gruppenweite statt institutsbezogene Aufsicht), Art. 8 (1) (c) und (d) CRR (gruppenbezogene

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Die ersten beiden Gruppen verbindet, dass nur hier in bestimmten Fällen das Instrument eines (Rechts)Gutachtens ausdrücklich verlangt wird.47 Die Gruppe der Rechtsprüfungspflichten zu Verträgen oder Vertragsbestimmungen mit risikoreduzierender oder -steuernder Funktion umfasst mit Netting- und Sicherungsvereinbarungen die wohl praktisch relevantesten und inhaltlich am weitesten ausgeformten Rechtsprüfungspflichten. Sie sind zudem strukturell ähnlich und die relevanten Verträge sind etwa bei Derivate- und Wertpapierfinanzierungsgeschäften zudem eng miteinander verbunden. Überdies sind sie ein Beispiel für auch außerhalb des Kern-Bankenaufsichtsregimes und für andere regulierte Marktteilnehmer bestehende Rechtsprüfungspflichten. Sie sind daher besonders gut dazu geeignet, einen Eindruck über das aufsichtsrechtliche Verständnis aufsichtlicher Rechtsprüfungspflichten zu vermitteln.

III. Rechtsprüfungspflichten zu Netting- und Sicherheitenvereinbarungen Auch wenn Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen im Bankgeschäft die mit Abstand größte praktische Bedeutung haben, wird zunächst mit den CRRRechtsprüfungspflichten zu Nettingvereinbarungen, und hier konkret den Anforderungen nach Art. 295 ff. CRR begonnen. Denn diese dienten erkennbar als Vorbild für die CRR-Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen sowie wohl auch weitere vertragsbezogene Rechtsprüfungspflichten und sind damit so etwas wie der Prototyp der bankaufsichtlichen Rechtsprüfungspflicht. Im Anschluss folgen die Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen in der CRR. Abschließend werden dann noch die EMIR-Rechtsprüfungspflichten betrachtet, die die Prüfung von Nettingvereinbarungen mit der von den dazugehörigen Sicherheitenvereinbarungen verknüpfen. Bei der Betrachtung wird jeweils auch auf die neben den eigentlichen Rechtsprüfungspflichten bestehenden Anforderungen an begleitende Verfahren und Maßnahmen eingegangen.

Liquiditätsanforderungen) sowie Art. 9 (2) CRR (Konsolidierung) und werden dann noch einmal in Art. 436 (c) CRR als Bestandteil der Offenlegungspflichten aufgegriffen. Die Regelungen werden zudem in der CRR und CRD-Regelengen gespiegelt: Art. 86 (6) CRR spiegelt Art. 8 CRR und Art. 144 CRD spiegelt Art. 7 und 9 CRR. Sehr ähnliche Rechtsprüfungspflichten ergeben sich unter der EMIR aus Art. Art. 11 (5) bis (10). 47 Rechtsgutachten („legal opinions“ oder „opinions) werden nur in Art. 194 CRR (Sicherheitenvereinbarungen), Art. 244 (4) (h) sowie 245 (4) (g) (Verbriefungen), Art. 206 CRR sowie 296 CRR (Nettingvereinbarungen) und Art. 305 (2)(c) CRR (Segregierungsmaßnahmen beim Clearing) gefordert.

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Ausgeblendet werden dabei die zwar eng hiermit verbundenen, aber sehr speziellen und komplexen CRR- und EMIR-Rechtsprüfungspflichten zu Segregierungsvereinbarungen.48 1. CRR Rechtsprüfungspflichten zu Nettingvereinbarungen a) Hintergrund Vertragliche Nettingvereinbarungen werden von Kreditinstituten – und allen sonstigen Marktteilnehmern – seit langem standardmäßig zur Risikosteuerung von Derivate- und Wertpapierfinanzierunggeschäften eingesetzt.49 Sie bilden den Kern der marktüblichen Rahmenverträge.50 Die Begriffe Nettingvereinbarung und Rahmenvertrag werden deshalb auch oft synonym verwendet. Zentrale Elemente jeder Nettingvereinbarung sind die Bestimmungen über die Zusammenfassung aller unter dem Rahmenvertrag abgeschlossenen Einzelgeschäfte zu einem einheitlichen Vertrag („single agreement clause“) sowie Bestimmungen zur Gesamtbeendigung bei Ausfall einer der Vertragsparteien und zur Verrechnung aller Einzelpositionen und Ansprüche zu einer einheitlichen Nettoausgleichsforderung bzw. Forderung wegen Nichterfüllung im Sinne des § 104 InsO.51 Nettingvereinbarungen reduzieren das Adressenausfallrisiko für beide Vertragsparteien auf diesen Nettobetrag. Sie erlauben den

48 Gemeint sind damit Vereinbarungen, durch die geleistete Sicherheiten vor den Folgen eines Ausfalls des Sicherheitennehmers oder -verwahrers oder eines zwischengeschalteten Dritten geschützt werden sollen. Rechtsprüfungspflichten zu Segregierungsvereinbarungen ergeben sich aus Art. 305 CRR (hier zur Segregierung der Sicherheiten bei geclearten Geschäften) und Art. 19 der zu EMIR erlassenen Delegierten Verordnung 2016/2251 (EMIR-DVO – hier zur Segregierung der IM-Sicherheiten bei nicht-geclearten Geschäften). 49 Siehe Bornemann in Frankfurter Kommentar zur Insolvenzordnung, 9. Aufl. 2017, § 104 Rz. 19 (Feststellung, dass „das Liquidationsnetting zum globaler Marktstandard nicht nur auf den Finanzmärkten, sondern auch den Warenterminmärkten, einschließlich des Energiegroßhandels gehört“). 50 Es handelt sich hierbei um umfassend standardisierter Muster-Vertragsdokumentationen, die in der Regel aus dem eigentlichen Rahmenvertrag und modular zu verwenden weiteren Vertragselementen bestehen. Mit Rahmenvertrag („Master Agreements“) ist regelmäßig und auch hier die gesamte Rahmenvertragsdokumentation gemeint. Mit am bekanntesten und auch international am weitesten verbreitet sind die Rahmenverträge der International Swaps and Derivates Association (ISDA). Eine deutschrechtliche und -sprachige Alternative ist der deutsche Rahmenvertrag für Finanzgeschäfte (näher hierzu: Bergfort/Köhling, The „German Master Agreement for Financial Derivatives Transactions (2018), BKR 2019, 12 ff. Rahmenverträge für Finanzgeschäfte werden seit mehr als 30 Jahren verwendet. Siehe hierzu insbesondere Jahn, Vereinheitlichung von Swap-Verträgen, Die Bank, 1987, 197 ff.; Behrends in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 6 Rz. 1 oder Sachsen-Altenburg, ebenfalls in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 7 Rz. 4. 51 Dieser Mechanismus wird auch als „Close-out Netting“ oder „Liquidationsnetting“ bezeichnet. Den rahmenvertraglichen Nettingvereinbarungen inhaltlich entsprechende Regelungen sind auch ein wesentliches Element der Risikosteuerung bei zentralen Gegenparteien (CCPs), vgl. etwa Nrn. 7.2 und 7.3 der Clearing-Bedingungen der Eurex Clearing AG (Kapitel I – Allgemeine Bedingungen).

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Vertragsparteien auch die Besicherung auf dieser Nettobasis – was beide Seiten zusätzlich entlastet.52 Das Bankaufsichtsrecht erkennt die risikoreduzierende Wirkung und die kritische risikosteuernde Funktion der Nettingmechanik („Close-out Netting“) bei Ausfall und vor allem der Insolvenz der Gegenpartei in vielen regulatorischen Zusammenhängen an. In manchen Bereichen wird der Einsatz von Nettingvereinbarungen zur Risikosteuerung inzwischen faktisch vorausgesetzt.53 Das Bankaufsichtsrecht sieht aber genauso die Risiken, die mit unter Nettingvereinbarungen abgeschlossenen Geschäften verbunden sind. Derivate- und Wertpapierfinanzierungsgeschäfte sind deshalb auch wie kaum ein anderer Bereich des Bankgeschäfts seit langem im Blickfeld der Regulierung und inzwischen Gegenstand eines umfassenden Regulierungsrahmens.54 Ein Aspekt sind dabei auch die spezifischen rechtlichen Risiken im Zusammenhang mit Nettingvereinbarungen, die diese Geschäfte umfassen. b) Maßgeblichen Regelungen Spezifische Rechtsprüfungspflichten zu Nettingvereinbarungen begründen die Art. 205, 206 und 295 ff. der CRR.55 Weitgehend inhaltsgleiche Rechtsprüfungspflichten zu Nettingvereinbarungen (verbunden mit vergleichbaren Prüfpflichten auf die hierzu abgeschlossenen Besicherungsvereinbarungen) begründen daneben und mit einem weiteren persönlichen Anwendungsbereich, die zur EMIR erlassene Delegierte Verordnung 2016/2251 (EMIR DVO)56 mit den regulatorischen Standards zu den Besicherungspflichten. Trotz des unterschiedlichen regulatorischen Hinter52 Vgl. auch Bornemann, Frankfurter Kommentar zur InsO, 9. Aufl. 2017, § 104 Rz. 19. 53 Beispiele sind die EMIR-Besicherungspflichten gemäß EMIR DVO, die die Verwendung von Nettingvereinbarungen als Regelfall vorsehen, von dem nur in Ausnahmesituationen abgewichen wird. Ähnliches gilt für das Bankensanierungs- und -abwicklungsregime, dessen Regelungen zum Umgang mit Derivate- und Wertpapierfinanzierungsgeschäften im Abwicklungsfall auf den Einsatz von Nettingvereinbarungen zugeschnitten sind. 54 Siehe hierzu etwa Lange in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 32 Rz. 1 ff. Zu Derivate- und Wertpapierfinanzierungsgeschäften und den hier verwendeten Nettingvereinbarungen als Regelungsobjekt im Bankensanierungs- und -abwicklungsregime, siehe Köhling in Jahn/Schmitt/Geier, Handbuch Bankensanierung und Abwicklung, 2016, B. VI. Rz. 1 ff., S. 336 ff. 55 Art. 288 (j) und Art. 292 (1) (d), (8) sprechen auch die rechtliche Durchsetzbarkeit bzw. die rechtlichen Rahmenbedingungen an, begründen aber vor allem organisatorische Pflichten im Hinblick auf die Erfüllung der nach Art. 205 bzw. 295 ff. CRR bestehenden Rechtsprüfungspflichten. Zudem verweisen Art. 166 (2) für die Berechnung von Risikopositionswerten und Art. 439 (3) hinsichtlich der Offenlegungspflichten auf Art. 295 ff. bzw. – abstrakt – auf rechtlich durchsetzbare Nettingvereinbarungen. 56 Delegierte Verordnung (EU) 2016/2251 der Kommission v. 4.10.2016 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 648/2012 über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister durch technische Regulierungsstandards zu Risikominderungstechniken für nicht durch eine zentrale Gegenpartei geclearte OTC-Derivatekontrakte.

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grunds behandeln diese Vorschriften57 dasselbe rechtliche Risiko bzw. dieselben Rechtsfragen, nämlich die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der verwendeten vertraglichen Nettingvereinbarungen bei Ausfall der Gegenpartei. Es geht hier darum, ob die risikoreduzierende Wirkung der Nettingvereinbarung im Krisenfall tatsächlich erzielt werden kann. Die Frage stellt sich dabei vor allem vor dem Hintergrund der in allen Insolvenzrechtsregimen existierenden Möglichkeiten zur Beschränkung vertraglicher Rechte der Gläubiger.58 Die zentralen CRR-Regelungen zu Nettingvereinbarungen sind die Art. 295 bis 298 CRR.59 Sie gehen auf entsprechende Basel II-Vorgaben zurück60 und regeln die Voraussetzungen für die aufsichtsrechtliche Zulässigkeit der Berücksichtigung der risikoreduzierenden Wirkung von Nettingvereinbarungen bei der Ermittlung der Eigenmittelanforderungen für das Adressenausfallrisiko (regulatorisches Netting). Art. 295 CRR legt dabei fest, welche Formen von Nettingvereinbarungen überhaupt für ein solches regulatorisches Netting in Frage kommen können, nämlich Schuldumwandlungs- bzw. Novationsvereinbarungen,61 sonstige Nettingvereinbarungen und produktübergreifende Nettingvereinbarungen.62 Art. 297 CRR regelt die in diesem Zusammenhang einzurichtenden Verfahren. Art. 298 CRR enthält die Regelungen zur Berechnung des Adressenausfallrisikos auf Nettobasis. Den Kern der eigentlichen Rechtsprüfungspflichten bildet Art. 296 (2) CRR. Nettingvereinbarungen müssen danach die folgenden vier Bedingungen erfüllen, um für das regulatorische Netting anerkannt63 und verwendet werden zu können: 57 Eine Sonderrolle nehmen hier die Rechtsprüfungspflichten aus Art. 31 EMIR DVO ein (siehe hierzu unten Ziff. 3 c). 58 Das Spannungsfeld zwischen vertraglichem Netting und Insolvenzrecht wird deshalb in vielen Rechtsordnungen durch spezialgesetzliche Regelungen (Nettinggesetze) adressiert. Für die EU wird der Rechtsrahmen dabei in Grundzügen durch die FinanzsicherheitenRichtlinie (Richtlinie 2002/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.6.2002 über Finanzsicherheiten) vereinheitlicht. Zentrale Regelung im deutschen Recht ist § 104 InsO. 59 Umfassend zu den aufsichtsrechtlichen Anforderungen an vertragliche Nettingvereinbarungen und die von ihnen abgedeckten Geschäfte, Fried in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 16 Rz. 18 ff. Zu den aufsichtsrechtlichen Anforderungen an Derivate allgemein, siehe Lange in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 32 Rz. 1 ff. 60 Vgl. International Convergence of Capital Measurement and Capital Standards v. 30.6.2006, Annex 4 Tz. 96 (ii) ff., S. 275 f. zum bilateralen Netting und Tz. 11 ff., S. 259 f. zum Cross-product Netting. 61 Gemeint sind Vereinbarung über das Novationsnetting. Sie spielen bislang bei Derivateund Wertpapierfinanzierungsgeschäften keine Rolle. 62 Gemeint sind damit nicht Nettingvereinbarungen, die verschiedene Derivatekategorein abdecken, sondern solche, die Derivate und andere Arten von Finanzgeschäften, etwa Wertpapierfinanzierungsgeschäfte abdecken. Produktübergreifendes Netting wird bislang allenfalls vereinzelt eingesetzt und nur der Europäische Rahmenvertrag (European Master Agreement oder auch EBF-Master Agreement) sieht diese Möglichkeit standardmäßig vor. 63 Siehe auch Fried in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 16 Rz. 21. Nach dem Wortlaut des Art. 296 CRR sind diese vier Bedingungen Voraussetzung für eine „An-

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– Begründung einer Nettoausgleichsforderung bei Ausfall der Gegenpartei – Art. 296 (2) (a) CRR. – Verfügbarkeit „schriftlicher und mit einer Begründung versehener“ Gutachten zur Durchsetzbarkeit und Wirksamkeit der Nettingvereinbarung bei Ausfall, insbesondere Insolvenz64 für alle relevanten Rechtsordnungen – Art. 296 (2) (b) CRR.65 – Zusammenfassung des Kreditrisikos in einer Risikoposition für die Zwecke der Kreditobergrenzen und dem internen Kapital – Art. 296 (2) (c) CRR. – Das Fehlen so genannter „walk-away“ oder auch Ausstiegsklauseln66 zugunsten der nicht-ausgefallenen Partei – Art. 296 (2) (d) CRR). Die Regelung umfasst mithin rein operative Anforderungen für die CRR-konforme Berücksichtigung bei der Eigenmittelberechnung (Zusammenfassung des Kreditrisikos – Buchstabe (c)), Vorgaben zum Mindestgehalt der vertraglichen Nettingvereinbarung (Begründung einer Nettoforderung sowie Fehlen einer Ausstiegsklausel – Buchstaben (a) und (d) und eine Begutachtungspflicht (Buchtstabe (b)). Die sich aus Art. 296 ergebenden Rechtsprüfungspflichten im engeren Sinne bestehen damit formal aus zwei Bestandteilen: der Begutachtungspflicht und der Prüfung des vertraglichen Mindestgehalts. Hinzukommen die im Zusammenhang mit der Begutachtungspflicht stehenden ergänzenden prozessualen Anforderungen. Wichtigste Elemente67 sind hier – die Nettinganzeige im Hinblick auf die Anerkennung einer Nettingvereinbarung nach Art. 296 (1) und

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erkennung“ der Nettingvereinbarung. Tatsächlich handelt es sich hierbei aber nicht um ein förmliches Anmelde- und Anerkennungsverfahren, sondern um ein (qualifiziertes) Anzeigeverfahren, siehe hierzu unten c) bb). Art. 296 (2) (b) CRR spricht hier etwas unspezifisch und untechnisch von der „rechtlichen Anfechtung“. Gemeint ist hier aber die Wirksamkeit der vertraglichen Nettingmechanik im Insolvenzfall oder sonstigem Ausfall im Sinne des Art. 178 CRR. Art. 296 (2) (b) CRR schlüsselt dabei unter (i) bis (iv) im Einzelnen auf, welche Rechtsordnungen dies sind, nämlich die Rechtsordnung des Sitzes des Vertragspartners sowie bei Einbindung von Zweigniederlassungen auch das für diese geltende Recht und die Rechtsordnung deren Recht auf den Vertrag bzw. die Geschäfte anzuwenden ist. Siehe etwa Jahn/Reiner in Schimansky/Bunte/Lwowski, 5. Aufl. 2017, § 114 Rz. 204. Gemeint sind Klauseln, die bei Ausfall einer Partei der anderen, nicht ausgefallenen Partei unabhängig vom Ergebnis der Verrechnung der Positionen gemäß der Nettingvereinbarung von Zahlungspflichten befreit oder diese in der Höhe begrenzt. Sachlich eng mit den hier beschriebenen weiteren Pflichten verbunden sind etwa die organisatorischen Pflichten im Hinblick auf die Berechnung der Risikopositionen aus den Geschäften unter Berücksichtigung der Wirkung der Nettingvereinbarung gemäß Art. 271 ff. (siehe hierzu etwa Lange in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 32 Rz. 55 ff.) sowie etwa auch die nach Art. 292 (8) CRR geforderten internen Verfahren, über die sicherzustellen ist, dass ein in den für die Berechnung der Risikopositionswerte berücksichtigten Netting-Satz aufzunehmendes Geschäft auch von der relevanten (wirksamen und durchsetzbaren) Nettingvereinbarung erfasst ist.

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– die nach Art. 297 einzuführenden Verfahren zur Überwachung der Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit. c) Wesentliche Elemente aa) Begutachtungspflicht und vertraglicher Mindestgehalt (1) Überblick Da die marktüblichen Standard-Vertragsdokumentationen die aufsichtlichen Anforderungen berücksichtigen und abbilden, ist die Überprüfung des vertraglichen Mindestgehalt im Wesentlichen eine Formalie bzw. inzident über die Begutachtungspflicht mit abgedeckt.68 Die Begutachtungspflicht betrifft hingegen die eigentliche rechtliche Kernfrage zur Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Nettingvereinbarung. Eine entsprechende Begutachtungspflicht bei Nettingvereinbarungen bestand im deutschen Bankaufsichtsrecht bereits vor der CRR unter der Solvabilitätsverordnung (SolvV) sowie davor unter der Kreditbestimmungsverordnung.69 (2) Gutachten-Verständnis Zunächst zu klären ist hier das für die CRR geltende Gutachten-Verständnis: Gerade bei den Gutachten zu Nettingvereinbarungen wird dieses zwar erkennbar vom Institut der „legal opinion“ im common law beeinflusst. Als europaweit und rechtsordnungsübergreifend einzusetzendes Element des europäischen Aufsichtsrechts und angesichts der spezifischen und mit der einer common law legal opinion nicht vergleichbaren Funktion70 gilt hier ein eigenes, aufsichtsrechtliches Verständnis. Format, Struktur und Umfang richten sich deshalb nach dem konkreten aufsichtsrechtlichen Zweck und – gerade bei externen Gutachten – auch den in den jeweiligen Rechtsordnungen bestehenden Gewohnheiten. Aufsichtsrechtliche Gutachten müssen insbesondere nicht zwingend externe Gutachten eines Dritten sein: Die Begutachtung muss zwar durch eine unabhängige Stelle er68 Die Begründung einer einheitliche Nettoforderung ist der Sinn und Zweck jeder Nettingvereinbarung. Ausstiegsklauseln gibt es regelmäßig nicht mehr: Der ISDA Rahmenvertrag von 1992 enthielt noch eine Ausstiegsklausel als Wahlmöglichkeit (siehe Jahn/Reiner in Schimansky/Bunte/Lwowski, 5. Aufl. 2017, § 114 Rz. 204, Fn. 4). Besonderer Prüfungsbedarf besteht damit praktisch kaum noch und beschränkt sich auf die Prüfung, ob eine etwaige bestehende Wahlmöglichkeit wahrgenommen wurde oder eine besondere/individuelle Vereinbarung im Ergebnis einer Ausstiegsklausel gleichkommt. 69 Maßgeblich waren hier § 206 Abs. 3 Satz 1 SolvV zw. § 2b Abs. 2 Satz 2 KredBestV. 70 Zur Funktion der legal opinion im common law (vor allem Klärung rechtstatsächlicher Fragen, die etwa aufgrund des Fehlens von Handelsregistern und Grundbüchern aufkommen), siehe Maier-Reimer, Nochmals: Third Party Legal Opinion und das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen, NJW 2014, 2613.

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folgen. Das können aber auch fachlich qualifizierte Mitarbeiter des Instituts sein, jedenfalls soweit diese einer organisatorisch von dem für den Abschluss der Geschäfte verantwortlichen Bereich getrennten Einheit angehören.71 (3) Verbands- und individuelle Gutachten Im Fall der Gutachten zu Nettingvereinbarungen hat sich jedoch bereits im Hinblick auf die unter Solvabilitätsverordnung und zuvor unter der Kreditbestimmungsverordnung bestehende Begutachtungspflicht sehr früh eine Praxis etabliert,72 die weitgehend auf externe Gutachten zurückgreift und an der weiterhin festgehalten wird. Kernelement ist dabei die zentralisierte73 Einholung anwaltlicher Gutachten und deren Aktualisierung in angemessenen Abständen durch die für die Entwicklung der jeweiligen Rahmenvertragsdokumentation verantwortlichen Verbände, wie etwa der ISDA im Fall der ISDA-Rahmenverträge oder die Verbände der Deutschen Kreditwirtschaft im Fall der deutschen Rahmenverträge für Finanzgeschäfte.74 Diese Verbandsgutachten prüfen und bestätigen – vor dem Hintergrund der Anforderungen der Art. 295 ff. CRR – die abstrakte Rechtswirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Nettingvereinbarung des zu begutachtenden Rahmenvertragstyps durch Gutachten zu dem für diesen Rahmenvertragstyp geltenden Rechts (Basisgutachten zum Vertragsrecht) sowie zu weiteren Rechtsordnungen. Die Gutachten zu weiteren Rechtsordnungen prüfen dabei die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Nettingvereinbarung aus der Perspektive ihrer jeweiligen Rechtsordnung und unterstellen insoweit die durch das Basisgutachten bestätigte Rechtswirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Nettingvereinbarung unter dem Vertragsrecht. Den Verbandsgutachten liegen üblicherweise einheitliche Kataloge möglicher Geschäftstypen und Gegenpartei-Typen zugrunde.75 Eine Zusammenschau der Gutachten zu den verschiedenen Rechtsord71 Siehe hierzu Antwort Nr. 2013_23 im EBA-Q&A-Verfahrens: „The requirement in the abovementioned Article does not specify that such opinion needs to be obtained from an external legal counsel. As long as it is „independent, written and reasoned“ it may also be provided by an internal legal counsel.“ 72 Rechtsgutachten werden in Deutschland zentralisiert über die Verbände der Kreditwirtschaft bereits seit 1996 eingeholt. 73 Die Gutachten können auch individuell eingeholt werden. In der Praxis werden individuelle Gutachten vor allem für Rechtsordnungen eingeholt, für die keine Verbandsgutachten vorliegen. 74 Die Gutachtenvergabe und die Fortentwicklung der deutschen Rahmenverträge erfolgt operativ über den beim Bundesverband deutscher Banken e.V. angesiedelten, jedoch verbandsübergreifend besetzten Arbeitskreis Finanztermingeschäfte. Mitgliedsinstitute der Verbände der Deutschen Kreditwirtschaft können die Gutachten über ihre jeweiligen Verbände beziehen. 75 Da es sich um abstrakte Typisierungen handelt, ist es im Gutachten selbst regelmäßig erforderlich, diesen Katalog an die betreffende Rechtsordnung anzupassen bzw. zu erläutern. Zudem kann im Einzelfall von vornherein auf die Abdeckung bestimmter Gegenparteientypen verzichtet werden, etwa weil diese praktisch nicht relevant sind oder es in der fraglichen Rechtsordnung kein Äquivalent gibt. Zur Verwendung von Verbandsgutachten, siehe auch Fried in Zerey, Handbuch Finanzderivate, 4. Aufl. 2016, § 25 Rz. 1 ff.

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nungen erlaubt so eine Beurteilung der Rechtswirksamkeit und Durchsetzbarkeit in den jeweils relevanten Konstellationen.76 Von den Verbandsgutachten nicht erfasste Aspekte, etwa individuelle Änderungen der Nettingvereinbarung oder auch nicht abgedeckte Gegenpartei-Typen oder Geschäftstypen werden bei Bedarf durch auf dem Verbandsgutachten aufbauende Ergänzungsgutachten („top-up opinion“) eines externen Gutachters oder, soweit die fachliche Expertise für die relevanten Rechtsordnung vorhanden ist, durch ergänzende interne rechtliche Prüfung und Dokumentation der rechtlichen Bewertung (Begründung) adressiert. Als abstrakte Gutachten zu einer Standard-Vertragsdokumentation beantworten die Gutachten nicht die Frage der Wirksamkeit im konkreten Einzelfall und auch nicht der einzelnen Geschäfte.77 Sie beantworten ebenso wenig die Frage, ob sämtliche relevanten CRR-Anforderungen erfüllt sind. Beides ist aufsichtsrechtlich nicht gefordert78 und wäre zudem auch faktisch gar nicht möglich. Die Gutachten sollen und können auch nicht die erforderlichen eigenständigen Bewertungen der Institute ersetzen oder vorwegnehmen. Vielmehr stellen sie eine qualifizierte Bewertungs- und Entscheidungsrundlage dar. Daraus folgt aber auch, dass es nicht auf die Verfügbarkeit der Gutachten als solche ankommt, sondern auf deren Auswertung vor dem Hintergrund der institutsspezifischen Gegebenheiten. Die Gutachten dienen damit als Informationsquelle und überprüfbarer Beleg für eine angemessene Durchführung der erforderlichen materiellen Rechtsprüfung. bb) Nettinganzeige (1) Funktion Die Nettinganzeige ist der Formalakt, durch den eine Nettingvereinbarung im vorgesehenen Umfang für die Zwecke des Art. 296 (1) CRR als anerkannt gilt und der es dem anzeigenden Institut erlaubt, die risikomindernde Wirkung im Rahmen des regulatorischen Netting zu berücksichtigen. Entgegen dem sich aus dem Wortlaut der Regelung ergebenden Eindruck handelt es sich hier nicht um ein förmliches Anmelde- und Anerkennungsverfahren mit Erlaubnisvorbehalt, sondern um ein (qualifiziertes) Anzeigeverfahren: Mit Anzeige gilt die Anerkennung als erfolgt, soweit die zuständige Aufsichtsbehörde nichts Gegenteiliges entscheidet.

76 Es gibt inzwischen verschiedene Dienstleistungsangebote, die Institute bei der Aus- und Bewertung der Gutachten unterstützen. Diese Angebote ersetzen jedoch nicht den Bezug der Gutachten und auch nicht die eigenständig vorzunehmende Bewertung. 77 Diese Fragen sind strukturell Teil der organisatorischen Pflichten und des operationellen Rechtsrisikomanagements. 78 Siehe hierzu Antwort Nr. 2013_23 im EBA-Q&A-Verfahren zur Begutachtungspflicht nach Art. 194 (1) CRR.

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Gegenstand der Nettinganzeige ist im Kern die Ankündigung der Absicht, eine bestimmte Form von Nettingvereinbarung für bestimmte Rechtsordnungen79 für die Zwecke des regulatorischen Nettings verwenden zu wollen (Nettingentscheidung), verbunden mit der Übermittlung von Information über das oder die Gutachten, auf dessen oder deren Grundlage diese Nettingentscheidung getroffen worden ist. (2) Verfahren Bis vor kurzem gab es in der EU keine formalen Vorgaben und auch keine einheitliche Praxis für das Anerkennungsverfahren für die Zwecke des Art. 296 (1) CRR.80 Die konkrete Ausgestaltung blieb somit den Aufsichtsbehörden der Mitgliedstaaten und dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Aufsichtsrecht überlassen. In Deutschland hatte sich bereits in der Aufsichtspraxis unter der Solvabilitätsverordnung ein Benachrichtigungsverfahren ohne Erlaubnisvorbehalt etabliert,81 an dem dann nach Inkrafttreten der CRR festgehalten wurde. Auch in den meisten anderen Mitgliedstaaten waren – soweit ersichtlich – vergleichbare Anzeigeverfahren oder informellere Verfahren üblich. Die Aufsichtspraxis im Hinblick auf die Anerkennung von Nettingvereinbarungen für die Zwecke des Art. 296 CRR wurde vor kurzem für alle durch die Europäische Zentralbank (EZB) beaufsichtigten Institute („bedeutende Institute“) sowie für alle von der BaFin beaufsichtigten Institute („weniger bedeutenden Institute“) erstmals formalisiert sowie inhaltlich konkretisiert – und so zumindest für den Kreis der betroffenen Institute auch EU-weit vereinheitlicht.82 In beiden Fällen geschah dies über die Veröffentlichung von Muster-Formularen für die Anzeige und Muster-Schreiben

79 Also nicht jeder einzelne Abschluss einer Nettingvereinbarung mit einem Vertragspartner. 80 Siehe hierzu Antwort Nr. 2014_1424 im EBA-Q&A-Verfahrens: Die Antwort beschränkt sich dabei auf die Aussage, dass sich aus Art. 296 (1) CRR keine Vorgaben für das Verfahren ergeben („Article 296(1) of Regulation (EU) No 575/2013 (CRR) does not prescribe the form of the recognition by the competent authority“). 81 Maßgeblich war hier § 206 ff. SolvV. Das Verfahren basierte auf dem Konzept der „berücksichtigungsfähigen Aufrechnungsvereinbarung“. Das waren nach § 206 Abs. 2 Nr. 2 SolvV „international übliche“ oder „von einem Spitzenverband der Institute zur Verwendung empfohlene“ Nettingvereinbarungen. Entsprechend empfohlene Nettingvereinbarungen waren der BaFin gemäß § 207 Abs. 2 SolvV zu übermitteln. Die SolvV-Bestimmungen waren die Grundlage für die bis zur Einführung der CRR bestehende Praxis der Verbände der Deutschen Kreditwirtschaft (früher „ZKA“), Rahmenverträge für Finanzgeschäfte und auch einzelne Elemente der Vertragsdokumentation den Mitgliedsinstituten ausdrücklich zur Verwendung zu empfehlen. Die bis Ablösung durch die SolvV geltende Kreditbestimmungsverordnung (KredBestV) sah noch ein Antrags- und Anerkennungsverfahren mit förmlichen Anerkennungsbescheiden vor (§ 2b KredBestV). 82 Die EZB-Vorgaben gelten seit dem 31.1.2020, die BaFin-Vorgaben gelten seit dem 1.10.2020.

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für die Übermittlung des Formulars.83 Die EZB hat darüber hinaus zudem auf ihrer Internetseite Fragen und Antworten zum Nettinganzeige-Verfahren veröffentlicht.84 Die sich hieraus ergebenden Anforderungen gleichen sich weitgehend und unterscheiden sich inhaltlich nur in einem Punkt: Die Anzeige besteht in beiden Fällen aus zwei Elementen, – einem Anschreiben, mit dem das anzeigende Institut die Erfüllung der in den Muster-Anschreiben jeweils einzeln wiedergegebenen Anforderungen der Art. 295 bis 297 CRR ausdrücklich bestätigen (unter anderem die Einrichtung der erforderlichen Überwachungsverfahren), und – einem Formular mit den Detailangaben zum konkret anzuzeigenden Sachverhalt. Zum anzuzeigenden Sachverhalt sind im Formular folgende Angaben aufzunehmen: – Angaben zum anzuzeigenden Rahmenvertrags-Typ, also regelmäßig der betreffenden Standard-Vertragsdokumentation (soweit relevant, unter möglichst genauer Bezeichnung der konkreten Version)85 und – Angaben zum vorgesehenen jurisdiktionellen Anwendungsbereich in Form von Angaben zu den Gutachten, die der Nettingentscheidung zugrunde liegen, die Auslöser der konkreten Anzeige ist (Gutachten zum anwendbaren Vertragsrecht und – falls hiervon abweichend – zusätzlich die Gutachten zu den Rechträumen, in denen der betreffende Rahmenvertrags-Typ gegenüber Vertragspartnern eingesetzt wer83 Zum Muster-Anschreiben und Muster-Anzeigeformular der BaFin siehe näher den Fachbeitrag im BaFin-Journal v. 14.8.2020, abrufbar unter folgendem Link: https://www.ba fin.de/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Fachartikel/2020/fa_bj_2008_Nettinganzei gen.html (mit den Links auf die Internetseite zum Abruf der beiden Dokumente). Das EZB-Schreiben an die Institute zu den Anforderungen mit dem Muster-Anschreiben und Muster-Anzeigeformular ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.bankingsu pervision.europa.eu/press/letterstobanks/shared/pdf/2019/ssm.recognition_of_netting_ agreements_201910.de.pdf?157ced1560d2e10ebd43768cb69ce590. Die EZB- und BaFin Vorgaben sind praktisch identisch. Einziger materieller Unterschied ist die nur bei Anzeigen gegenüber der EZB bestehende Pflicht, auch die Vertragspartner-Typen zu benennen (siehe hierzu unten). 84 Abrufbar unter folgendem Link: https://www.bankingsupervision.europa.eu/press/lettersto banks/html/netting_agreement_FAQs.en.html. 85 Bei den ISDA-Rahmenverträgen ist etwa zwischen dem 1992 und dem 2002 ISDA Rahmenvertrag und bei dem deutschen Rahmenvertrag (DRV) zwischen der Version von 1993/2001 oder der von 2018 zu unterscheiden. Die Anzeigeformulare scheinen hier das Bestehen eine einheitliche Nomenklatur zu unterstellen. Das trifft jedoch nur bedingt zu. So ist der Europäische Rahmenvertrag als EMA oder auch als EBF-Rahmenvertrag bekannt. Der (deutsche) Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte ist auch als DRV bzw. DRV 1991/2001 oder DRV 2018 bekannt, wobei die Jahreszahl erst seit Veröffentlichung der Version von 2018 zur Unterscheidung von der Vorversion von 1993 bzw. 2001 (Jahr der Neuveröffentlichung wegen Ersetzung der DM-Bezüge durch EUR-Bezüge) verwendet wird. Eine weitere, hier nicht zu vertiefende Frage ist, ab wann bei Änderungen wesentlicher Bestimmungen („core provisions“) von einer individuellen und damit gesondert anzuzeigenden Version eines Rahmenvertrags-Typs auszugehen ist.

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den soll, sowie bei Einschaltung von Niederlassungen, die für diese maßgeblichen Rechtsordnungen).86 EZB-beaufsichtigte „bedeutenden Institute“ haben darüber hinaus gemäß den EZBVorgaben in dem hier maßgeblichen Formular anzugeben und aufzuschlüsseln, für welche Vertragspartner-Typen die angezeigten Rahmenvertragstypen eingesetzt werden sollen.87 Eine entsprechende Pflicht besteht für von der BaFin beaufsichtigten Institute nicht. Die Anzeigepflicht auf Grundlage dieser neuen BaFin und EZB-Vorgaben besteht nur für neue Sachverhalte. Das ist der Fall, wenn ein Institut beabsichtigt, erstmals regulatorisches Netting anzuwenden oder – wenn es bereits regulatorisches Netting anwendet – einen bereits verwendeten Rahmenvertrags-Typ erstmals in einem neuen Rechtsraum bzw. erstmals einen neuen Rahmenvertrags-Typ einsetzen will. cc) Überwachungspflichten Die Überwachungspflichten im Hinblick auf Nettingvereinbarungen folgen aus Art. 297 (1) CRR und stehen im direkten Zusammenhang mit der Begutachtungspflicht und der Nettinganzeige. Aus diesem Grund erfassen die mit der Nettinganzeige abzugebenden Bestätigungen auch die Überwachungspflichten aus Art. 297 (1) CRR. Konkret gefordert ist die Einrichtung (geeigneter) Verfahren, „die gewährleisten, dass die Rechtsgültigkeit und Durchsetzbarkeit seines vertraglichen Nettings überprüft wird, um Änderungen der Rechtsvorschriften der Länder nach Artikel 296 Absatz 2 Buchstabe b der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 Rechnung zu tragen“. Gemeint ist damit die Implementierung von Prozessen und Maßnahmen, die auf angemessene Weise sicherstellen, dass die auf Grundlage der Gutachten getroffenen rechtlichen Wertungen 86 Anzuzeigen sind die zum Zeitpunkt der Anzeige vorliegenden Gutachten, auf deren Grundlage die Nettingentscheidung getroffen wurde. Eine spätere Aktualisierung des Gutachtens löst keine erneute Anzeigepflicht aus. 87 Hier vermischt das EZB-Formular für die Anzeige der Nettingentscheidung relevante Elemente mit eigentlich der operativen Überwachung der Anwendung des regulatorischen Nettings: Im Rahmen der operativen Überwachung werden Institute vor Einbeziehung von Risikopositionen aus Geschäften mit konkreten Vertragspartnern prüfen müssen, ob die Voraussetzungen für eine Einbeziehung im vorliegenden Fall erfüllt sind. Das umfasst auch die Risikoentscheidung, ob und inwieweit regulatorisches Netting auf den jeweiligen Vertragspartner angewendet werden kann. Die im EZB-Formular verlangte Anzeige der geplanten Vertragspartner-Typen zwingt die Institute dazu, diese Risikoentscheidung grundsätzlich vorwegzunehmen und zu prognostizieren, für welche Vertragspartner-Typen die Nettingvereinbarungen voraussichtlich verwendet und regulatorisch berücksichtigt werden wird. Eine solche Vorwegnahme ändert nichts daran, dass vor einer Einbeziehung der Risikopositionen aus einem bestimmten Vertragsverhältnis in das regulatorische Netting über geeignete operativen Prozesse immer noch sichergestellt werden muss, das die Voraussetzungen für die Einbeziehung im konkreten Fall gegeben sind. Aus diesem Grund verzichtet das BaFin-Formular auf Angaben zu den Vertragspartner-Typen im Zusammenhang mit der Nettinganzeige.

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zur Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit in angemessenen Abständen oder anlassbezogen überprüft bzw. Maßnahmen ergriffen werden, die zu einer Überprüfung führen, wenn es Hinweise auf wesentliche nachteilige Rechtsänderungen in einer relevanten Rechtsordnung gibt. Es gibt bislang keine weiteren konkretisierenden aufsichtlichen Vorgaben zur Ausgestaltung dieser Prozesse und Maßnahmen. Schematische Vorgaben verbieten sich hier aber ohnehin, weil Art und Umfang der Prozesse und Maßnahmen notwendigerweise von den konkreten Gegebenheiten und insbesondere den jeweils relevanten und auch angezeigten Konstellationen abhängen. In jedem Fall wird ein risikobasierter Ansatz geboten sein. Ein wichtiges Element wird hier der Bezug der in angemessenen Abständen aktualisierten Verbandsgutachten sowie die Berücksichtigung verfügbarer Informationen zu Rechtsentwicklungen, insbesondere im Insolvenzrecht oder bei etwaigen speziellen Nettinggesetzen. Nicht geboten und auch nicht leistbar ist eine ständige und flächendeckende Überwachung aller relevanten Rechtsordnungen und sämtlicher potentiell relevanten Rechtsentwicklungen. Grundsätzlich sinnvoll dürfte es sein, die nach Art. 297 CRR geforderten Verfahren in das allgemeine Rechtsrisikomanagement einzubetten oder hiermit zu koordinieren. Gleiches gilt auch für den Nettinganzeige-Prozess. Denn die getroffenen Nettingentscheidungen eines Instituts bestimmen den Umfang der Überwachungspflichten. Umgekehrt können Ergebnisse aus der Überwachung Anpassungen bei getroffenen Nettingentscheidungen erforderlich machen, die dann wiederum sowohl die weiteren operativen Prozesse beim regulatorischen Netting als auch den Umfang der Überwachungspflichten beeinflussen können. Direkte Berührungspunkte zwischen den Überwachungspflichten und den Anforderungen an das allgemeine Rechtsrisikomanagement ergeben sich aufgrund des Sachzusammenhangs dabei insbesondere mit MaRisk-Anforderungen an Handelsgeschäfte und hier konkret mit der nach BTO 2.2.1 Ziff. 1 geforderten möglichst weitgehenden Verwendung standardisierte Vertragstexte, mit der in BTO 2.2.1 Ziff. 8 geregelten Pflicht zur Prüfung der rechtlichen Durchsetzbarkeit der verwendeten Verträge, einschließlich der „Nettingabreden“, und mit den in BTO 2.2.2 Ziff. 2 geregelten Pflichten zur Geschäftsbestätigung. 2. CRR-Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen a) Hintergrund Die CRR-Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen sind aufgrund der zentralen Bedeutung von Sicherheiten als Kreditrisikominderungsinstrument die für die Institute praktisch relevantesten und deshalb auch im Bankaufsichtsregime am dichtesten geregelten Rechtsprüfungspflichten. Sie sind wesentlicher Bestandteil der Regelungen zu den Eigenmittelanforderungen an das Kreditrisiko und hier ein Ele-

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ment der Regelungen zu den Voraussetzungen, unter denen Sicherheiten risikoreduzierend angerechnet werden können. Vergleichbare Rechtsprüfungspflichten gab es – wie im Fall der Rechtsprüfungspflichten zu Nettingvereinbarungen – bereits vor der CRR unter der Solvabilitätsverordnung und sind als solche also nichts Neues.88 Durch die CRR sind diese Pflichten jedoch nicht nur europaweit vereinheitlich, sondern auch erheblich konkretisiert und vor allem formalisiert worden. Dabei wurden sie durch Einführung einer Begutachtungspflicht um ein völlig neues, zuvor nur im Zusammenhang mit Nettingvereinbarungen und Verbriefungen bekanntes Instrument erweitert. Die neuen CRR-Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen und hier insbesondere die neue Begutachtungspflicht sind bereits Gegenstand mehrerer Untersuchungen gewesen.89 Daher – und auch, weil sie sich in zentralen Punkten erkennbar an den bereits erörterten Rechtsprüfungspflichten zu Nettingvereinbarungen orientieren, konzentriert sich die Betrachtung auf zwei zentrale Elemente: die Begutachtungspflicht und die damit verbundenen Überwachungspflichten. Dabei werden auch die Unterschiede gegenüber den parallelen Pflichten bei Nettingvereinbarungen aufgezeigt. b) Maßgebliche Regelungen und Regelungsstruktur aa) Ansatzbezogenheit Als Folge der nach der Systematik der CRR bestehenden Möglichkeit der Wahl verschiedener Ansätze für den Umgang mit Kreditrisiken und der darauf aufbauenden Ansatzbezogenheit der konkreten Anforderungen stehen in der CRR zwei Varianten von Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen nebeneinander. Konkret unterscheidet die CRR zwischen dem fortgeschrittenem IRB-Ansatz (auf internen Beurteilungen beruhendem Ansatz – FIRB-Ansatz) einerseits und dem Standardansatz sowie dem Basis IRB-Ansatz (STA/IRB-Ansatz) andererseits.90 Für ers88 Siehe § 154 Abs. 1 Satz 2 SolvV (Erfordernis der rechtlichen Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit) und § 172 SolvV (Sicherstellung der Rechtswirksamkeit und Durchsetzbarkeit sowie anlassbezogene Überprüfung). Siehe auch Zoepffel, Auswirkungen der CRR auf das Kreditsicherungsrecht, in WM 2014, 529 und Reuter, BKR 2010, 102. 89 Grundlegend hierzu: Zoepffel, WM 2014, 92; Steinhauer, Kreditsicherheiten als Instrumente der Kreditrisikominderung für syndizierte Unternehmensfinanzierungen, WM 2014, 1264; von Oppen, Kreditsicherheiten zur Eigenkapitalminderung, Die Bank, Heft 8/2014, S. 29 und Fiedler, Rechtsgutachten nach Art. 194 CRR zur Rechtswirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Kreditsicherheiten, WM 2019, 2233. 90 Siehe Art. 108 (1) CRR, wonach die CRR- Anforderungen des Kapitel 4 zu den Kreditrisikominderungstechniken, einschließlich der hier begründeten Rechtsprüfungspflichten für Sicherheitenvereinbarungen, für den Standardansatz und den IRB-Ansatz ohne eigene Schätzungen (Basis IRB-Ansatz) gelten, während für den IRB-Ansatz mit eigenen Schätzungen nur Kapitel 3 gelten soll. Zum Unterschied zwischen fortgeschrittenem und Basis IRB-Ansatz siehe Finaler Bericht der EBA v. 6.5.2020 zu den EBA Leitlinien betreffend

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teren folgen die Rechtsprüfungspflichten aus Art. 181 (1) (f), für letztere aus Art. 192 ff. CRR. bb) Gegenüberstellung Trotz identischer Funktion unterscheiden sich Struktur und Umfang der Regelungen zu den Rechtsprüfungspflichten für die beiden Ansätze fundamental: Die Regelungen zu den Rechtsprüfungspflichten im STA/IRB-Ansatz umfassen ein sich über zwanzig Artikel erstreckendes Regelungsapparat aus allgemeinen Anforderungen und Begriffsbestimmungen (Abschnitt 1 – Art. 192 bis 194 CRR), Regelungen zu grundsätzlich zulässigen Formen der Kreditsicherungsminderung (Abschnitt 2 – Art. 195 bis 204a CRR) und ergänzenden Anforderungen im Zusammenhang mit bestimmten Formen von Sicherheiten mit zum Teil speziellen Prüfpflichten im Hinblick auf hier relevante rechtliche Aspekte (Abschnitt 3 – Art. 205 bis 217 CRR).91 Die zentrale Bestimmung ist Art. 194 (1) CRR. Er fordert die Einführung von „Verfahren, Maßnahmen und Grundsätzen“ zur Gewährleistung der Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Besicherung in allen relevanten Rechtsräumen und begründet darüber hinaus auch noch eine Begutachtungspflicht. Inhaltlich praktisch identische Vorgaben zur Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der verwendeten Sicherheitenvereinbarungen werden innerhalb des Art. 194 CRR in den Absätzen (2) und (6) wiederholt, allerdings ohne erneute Erwähnung einer Begutachtungspflicht.92 Die Regelungen Rechtsprüfungspflichten im FIRB-Ansatz nach Art. 181 (1) (f) CRR beschränken sich demgegenüber auf abstrakte Begriffe („interne Anforderungen an Sicherheitenmanagement, Rechtsicherheit und Risikomanagement“). Inhaltlich ausgefüllt werden sie ansonsten nur durch die über einen Verweis erfolgende Einbeziehung der für den STA/IRB-Ansatz geltenden ergänzenden Anforderungen im Zusam-

Kreditrisikominderung für Institute, die den IRB-Ansatz einschließlich eigener LGDSchätzungen anwenden, hier Ziff. 2.1. oder auch Fiedler, WM 2019, 2234. 91 Hier unterscheidet die CRR zwischen zwei Grundformen: der Besicherung durch Sicherheitsleistungen (Sachsicherheiten wie etwa Immobiliensicherheiten oder Forderungen) und der Besicherung ohne Sicherheitsleistungen (Personalsicherheiten wie etwa Garantien). Siehe hierzu auch Fiedler, WM 2019, 2236 sowie Zoepffel, WM 2014, 932 ff. Zu den entsprechenden Vorgaben im Hinblick auf Garantien noch unter der SolvV, siehe Reuter, BKR 2010, 103 f. 92 Diese Dopplungen, insbesondere die praktisch inhaltsgleiche Wiederholung des Wortlauts von Absatz (1) 1. UAbs. – der dem Wortlaut nach für alle in Art. 194 CRR adressierten Sicherheiten, also Sicherheiten mit Sicherheitsleistungen (Sachsicherheiten) und Sicherheiten ohne Sicherheitsleitungen (Personalsicherheiten) gilt – in dem nur für Sicherheiten ohne Sicherheitsleistungen geltenden Absatz (6) könnten auf redaktionelle Versehen zurückzuführen sein. Insbesondere die in Art. 194 (1) 2. UAbs CRR geregelte Begutachtungspflicht ist ein Fremdkörper. Sie ergäbe mehr Sinn, wenn ausschließlich für Sicherheitenvereinbarungen mit Sicherheitsleitungen gelten würde und nicht auch für die in Absatz (6) geregelten Sicherheitenvereinbarungen ohne Sicherheitsleistungen.

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menhang mit bestimmten Formen von Sicherheiten,93 die im FIRB-Ansatz aber auch nur „im Großen und Ganzen“ gelten sollen. Augenfälligster Unterschied zu den Anforderungen an die Rechtsprüfungspflichten im STA/IRB-Ansatz ist das Fehlen einer formalen Begutachtungspflicht. Die entsprechenden Anforderungen aus Art. 194 CRR werden auch nicht über den Verweis in das Regelungssystem für den STA/IRB-Ansatz einbezogen, da dieser Art. 194 CRR und die weiteren allgemeinen Regelungen und Anforderungen gerade nicht erfasst.94 Die Diskrepanz in der Regelungsdichte könnte auf ein redaktionelles Versehen beim Verweis in Art. 181 auf Regelungen zum STA/IRB-Ansatz zurückgehen.95 cc) Inhaltliche Angleichung Seit Veröffentlichung der EBA Leitlinien zur Kreditrisikominderung im FIRB-Ansatz im Mai 2020 (EBA-Leitlinien)96 spielen die Auslegungsfragen und formalen Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen keine Rolle mehr. Denn die Leitlinien erklären im Ergebnis die inhaltlichen Anforderungen aus Art. 194 CRR und ausdrücklich auch die Begutachtungspflicht im Sinne des Art. 194 (1) 2. UAbs. CRR zum Bestandteil der Rechtsprüfungspflichten im FIRB-Ansatz und konkretisieren darüber hinaus die Anforderungen erheblich.97 Die Unterschiede zwischen den Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen unterschiedlichen Ansätzen wurden damit weitgehend nivelliert, so dass Institute im Wesentlichen den gleichen Anforderungen unterliegen.98 Dies gilt umso mehr, als die Konkretisierungen in den EBA-Leitlinien umgekehrt auch eine Ausstrahlungswirkung auf die Auslegung und Anwendung der Anforderungen im STA/IRB-Ansatz haben dürften. Allerdings können die durch die Leitlinien konkretisierten Vorgaben wegen der Ansatzbezogenheit nicht eins zu eins übertragen werden. Insbesondere müsste im STA/IRB-Ansatz grundsätzlich mehr Raum für eine vereinfachte Umsetzung der Anforderungen bestehen. c) Wesentliche Elemente Die Rechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen in beiden Ansätzen bestehen im Wesentlichen aus zwei Elementen: Der Begutachtungspflicht und einer dazugehörigen Überwachungspflicht.

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Verwiesen wird auf Kapitel 4 Abschnitt 3 und damit die Art. 205 bis 217 CRR. Art. 194 CRR befindet sich in Kapitel 4 Abschnitt 2, verwiesen wird auf Abschnitt 3. Siehe hierzu auch Fiedler, WM 2019, 2234. EBA Leitlinien v. 6.5.2020 betreffend Kreditrisikominderung für Institute, die den IRBAnsatz einschließlich eigener LGD-Schätzungen anwenden. 97 Vgl. auch Fiedler, WM 2019, 2234 noch zu dem Entwurf der Leitlinien. 98 Für die Rechtsprüfungspflichten im FIRB Ansatz bestätigt der Finale Bericht der EBA zu Veröffentlichung der EBA-Leitlinien (dort Tz. 16), dass mit Erfüllung der Anforderungen nach Art. 194 CRR die Anforderungen des Art. 181 (1) (f) CRR auch erfüllt sind.

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Nach der zwischenzeitlich erfolgten weitgehenden Angleichung der Anforderungen für beide Ansätze gibt es bei diesen Elementen keine wesentlichen Unterschiede, so dass im Folgenden nicht zwischen den beiden Ansätzen differenziert wird. Ausgeblendet werden hier die für beide Ansätze gleichermaßen geltenden ergänzenden Prüfpflichten im Hinblick auf bestimmte rechtliche Aspekte bei bestimmten Formen von Sicherheiten. aa) Begutachtungspflicht Die Regelung zur Begutachtungspflicht in Art. 194 CRR stimmt im Kern fast wörtlich mit der der parallelen Begutachtungspflicht nach Art. 296 CRR überein. Gefordert wird auch hier ein schriftliches und mit Begründung versehenes Gutachten, das die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der verwendeten Sicherheitenvereinbarungen bestätigt. Das Gutachten-Verständnis entspricht grundsätzlich dem der Begutachtungspflicht bei Nettingvereinbarungen.99 Insoweit kann auf die Ausführungen unter Ziff. 1 c) aa) (2) verwiesen werden. Der aufsichtliche Charakter der Gutachten wird hier aber in besonderem Maße zu berücksichtigen sein. Vor allem Format und Umfang müssen hier im Verhältnis zum Prüfgegenstand und der Komplexität der Rechtsfragen stehen. Gerade bei völlig üblichen und einfachen Instrumenten wird eine nachvollziehbare Dokumentation der rechtlichen Prüfung im Vordergrund stehen und muss die geforderte Begründung auch entsprechend knapp ausfallen können. Unterschiede ergeben sich hier allerdings im Hinblick auf die durch Gutachten abzudeckenden Rechtsräume und auch die sich hier – erst langsam – etablierende Praxis zur Umsetzung der Begutachtungspflicht. Sie sind vor allem in der Natur der betroffenen Sicherheiten und der bei Sicherheitenvereinbarungen bestehenden Vertragspraxis begründet. Zudem gibt es kein Äquivalent zur Nettinganzeige: Die Gutachten zu den zu regulatorischen Zwecken verwendeten Sicherheiten sind lediglich auf Anforderung der zuständigen Aufsicht vorzulegen. Es entfällt hierdurch aber nur der Formalakt der Anzeige: Die Rechtsprüfung mittels Gutachten muss dennoch vor Verwendung der Sicherheiten für regulatorische Zwecke erfolgen und das Gutachten muss für etwaige Anforderungen vorliegen.100

99 Belegt wird dies auch durch die Antwort Nr. 2013_23 im EBA-Q&A-Verfahren zur Begutachtungspflicht nach Art. 194 CRR: In der Antwort, die Zulässigkeit generischer Gutachten bestätigt, werden ohne weiteres Gutachten zu Nettingvereinbarungen als Beispiel herangezogen und damit unterstellt, dass für beide im Wesentlichen die gleichen Anforderungen gelten. 100 Das folgt auch indirekt aus der Antwort Nr. 2013_23 im EBA-Q&A-Verfahren zur Begutachtungspflicht nach Art. 194 CRR: Danach sind Gutachten unverzichtbar, da die nach Art. 194 (1) 1. UAbs. CRR bestehende Prüfpflicht nur durch ein Gutachten erfüllt werden könne. Das Gutachten müsse allerdings kein externes Gutachten sein. Die Begründung der EBA ist dabei in einem Punkt nicht nachvollziehbar: Die EBA vermischt, indem es davon ausgeht, dass eine Rechtsprüfung nur mittels Gutachten möglich sei, das Produkt

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(1) Rechtsräume Die Gutachten müssen die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der zu prüfenden Sicherheitenvereinbarung „in allen relevanten Rechtsräumen“ bestätigen.101 Welche dies im Fall von Sicherheitenvereinbarungen sein können, wurde erstmals durch die EBA-Leitlinien konkretisiert. Danach wären neben dem für die betreffende Sicherheitenvereinbarung geltenden Vertragsrecht „mindestens“ folgende weitere Rechtsäume abzudecken: – Bei in öffentlichen Registern erfassten Sicherheiten, dass für das Register maßgebliche Recht, – bei nicht registrierten Sicherheiten, das für den Eigentümer maßgebliche Recht (Sitz oder Wohnort), – soweit relevant, dass für das Institut (als Sicherungsnehmer) oder den Schuldner maßgebliche Recht (bei juristischen Personen der Sitz bei natürlichen der Wohnort), und – dass für den Ort maßgebliche Recht, an dem die Sicherheitenverwertung am wahrscheinlichsten zu erwarten ist.102 Diese „Mindest“-Anforderungen sind in der Praxis sehr anspruchsvoll.103 Die EBA hatte sogar ursprünglich deutlich weitergehende Vorstellungen geäußert, die dahin gehend verstanden werden konnten, dass bei beweglichen Sicherheiten wie etwa Schiffen die Rechtswirksamkeit an allen Orten zu überprüfen gewesen wäre, an denen sich diese während der Laufzeit des besicherten Geschäfts vertragsgemäß befinden könnten.104 Von diesem extrem weiten und praxisfernen Ansatz ist die EBA mit den endgültig veröffentlichten Fassung der Leitlinien wieder abgerückt. Wohl als Erleichterung gedacht, erlauben die Leitlinien ausdrücklich die Abdeckung mehrerer Formen von Sicherheitenvereinbarungen in einem Gutachten sowie die Abdeckung mehrerer Rechtsordnungen unter einem Gutachten zu einer Form von Sicherheitenvereinbarung. Für die Praxis sind beide Erleichterungen aber weitgehend irrelevant. Insbesondere letzterer Fall dürfte es allenfalls in sehr begrenzten Ausnah-

101 102 103 104

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bzw. den formalen Beleg der Prüfung (das Gutachten) mit der eigentlichen materiellen Prüfung. Insoweit wortgleich Art. 194 (1) 2 UAbs. CRR sowie – im Hinblick auf die Auslegung des Art. 181 (1) (f) CRR – die EBA-Leitlinien Tz. 20. Vgl. EBA-Leitlinien Tz. 23. Die Aufzählung endet zudem mit einer Auffangregelung, wonach alle sonstigen relevanten Rechtsordnungen abzudecken sind. Zu den praktischen Herausforderungen und der Komplexität der Anforderungen, siehe auch Fiedler, WM 2019, 2234. Der konsultierte Entwurf der Leitlinien forderte noch die Abdeckung der Rechtsräume (set of jurisdictions) „where the collateral could move during the lifetime of the loan according to the collateral agreement“, siehe Tz. 20 des Konsultationspapiers (abrufbar unter folgendem Link https://www.eba.europa.eu/sites/default/documents/files/documents/ 10180/2616311/dfce8a5c-655f-457a-9bc0-edbf325be497/CP%20GL%20on%20CRM. pdf).

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mefällen in Frage kommen. Vielmehr wird man einen vergleichbaren Ansatz wie bei den Nettinggutachten wählen und mit rechtsordnungsspezifischen Gutachten arbeiten, die durch entsprechende Annahmen und Fragestellungen soweit wie möglich ineinandergreifen. (2) Umsetzung Eine einheitliche Praxis zur Umsetzung der Begutachtungspflichten wird sich angesichts der Vielzahl der betroffenen Formen von Sicherheitenvereinbarungen, des deutliche geringeren Standardisierungsgrades und der vielfältigen möglichen Konstellationen nicht etablieren können. Allenfalls für Teilbereiche kommen einheitliche Herangehensweisen und zentralisierte Lösungen in Frage. Für den überwiegenden Teil der Sicherheitenvereinbarungen werden die Institute auf individuelle Rechtsprüfungen der verwendeten institutseigenen Standardvereinbarungen oder auch einzelner Verträge zurückgreifen müssen. Der ohnehin bestehende Standardisierungsdruck bei Prozessen und vor allem den Vertragsdokumentationen dürfte hierdurch noch einmal verstärkt werden. Für ausgewählte Formen von Sicherheiten werden bereits Gutachten – vergleichbar den Verbandsgutachten für Nettingvereinbarungen – zentralisiert zur Verfügung gestellt. Beispielsweise stellen Verbände der Kreditwirtschaft mehrerer EU-Mitgliedstaaten Gutachten zu den Exportkreditsicherungsinstrumenten der jeweiligen Exportkreditagenturen zur Verfügung.105 bb) Überwachungspflichten Ähnlich wie die Rechtsprüfungspflichten zu Nettinggutachten umfassen die CRRRechtsprüfungspflichten zu Sicherheitenvereinbarungen auch gewisse Überwachungsmaßnahmen. Es fehlt in den Art. 194 CRR zwar eine dem Art. 297 CRR vergleichbare ausdrückliche Regelung. Aus dem Umstand, dass Art. 194 (1) 2. UAbs. CRR die Vorlage der jüngsten Fassung des Gutachtens fordert und zudem Art. 194 (2) CRR Maßnahmen zur Gewährleistung der Wirksamkeit fordert, folgt aber, dass auch die (weitere) Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit in geeigneter Weise risikobasiert zu überwachen ist und die Gutachten in angemessenen zeitlichen Abständen oder anlassbezogen zu aktualisieren sind.106 Zu berücksichtigen ist hier, dass die zu prüfenden Sicherheiten und Verträge in der Regel marktüblich und erprobt sind und sich in der Praxis bewährt haben. Das Risiko der abstrakten Unwirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Sicherheitenvereinbarung wird deshalb bei diesen Instrumen105 Weitere Beispiele sind die über die Bank-Verlag GmbH verfügbaren Gutachten zu den vom Verlag herausgegebenen Formularen für Kreditsicherungsverträge sowie die Gutachten der Bankers Association for Finance and Trade (BAFT) zu dem Master Participation Agreement (vgl. Mitteilung auf der BAFT-Internetseite, abrufbar unter folgendem Link: https://www.baft.org/about-baft/news-and-press-releases/2019/12/13/baft-pub lishes-three-article-194-legal-opinions-for-the-baft-master-participation-agreements. Auch Kanzleien bieten für bestimmte Sicherheitenformen Gutachtenprogramme an. 106 Siehe auch Fiedler, WM 2019, 2237.

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ten eine eher untergeordnete Rolle spielen. Unwägbarkeiten ergeben sich eher auf der rechtspraktischen Ebene.107 Bei den Überwachungspflichten ergeben sich – wie im Fall der parallelen Pflichten bei Nettingvereinbarungen – Berührungspunkt mit MaRisk-Anforderungen an das Kredit- und das Handelsgeschäft.108 3. EMIR-Rechtsprüfungspflichten zu Netting- und Besicherungsvereinbarungen a) Hintergrund Die EMIR-Rechtsprüfungspflichten zu Netting- und Besicherungsvereinbarungen basieren zwar auf den Anforderungen an die Risikominderungstechniken gemäß Art. 11 EMIR. Ihr Inhalt ergibt sich aber aus der hierzu erlassenen EMIR DVO. Gegenstand der EMIR-DVO sind die Pflichten zur Besicherung von nicht-geclearten Derivategeschäften durch Leistung der Variation Margin sowie – bei Überschreitung bestimmter Schwellenwerte – auch durch zusätzliche Leistung der Initial Margin.109 Sie begründet dabei im Hinblick auf Besicherungs- und Nettingvereinbarungen zwei gegenläufige Rechtsprüfungspflichten: Die nach Art. 2 (3) EMIR-DVO bestehende Pflicht zur Prüfung der Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Besicherungsvereinbarung zur Leistung der Variation und Initial Margin sowie der dazugehörigen Nettingvereinbarungen (Rechtsprüfungspflichten zur Netting- und Besicherungsfähigkeit), und die nach Art. 31 EMIR-DVO bestehenden Prüfpflichten hinsichtlich einer potentiellen Nichtwirksamkeit und Nichtdurchsetzbarkeit der verwendeten Nettingund Besicherungsvereinbarungen (Nichtnetting- und Nichtbesicherungsfähigkeit). b) Netting- und Besicherungsfähigkeit Die EMIR-Rechtsprüfungspflichten zur Netting- und Besicherungsfähigkeit spiegeln, soweit sie Nettingvereinbarungen betreffen, in allen wesentlichen Punkten die parallelen Rechtsprüfungspflichten nach Art. 295 ff. CRR: Sie fordern die rechtliche Über107 Ein plastisches Beispiel sind Exportkreditdeckungen: Die zivilrechtliche Wirksamkeit des Instruments steht hier nicht ernsthaft in Frage. 108 Etwa BTO 1.2 Ziff. 5, 10 und 11, BTO 1.2.1/1.2.2 Ziff. 3 und BTO 2.2.1 Ziff. 8. 109 Die in der deutschen Fassung verwendeten Begriffe der „Nachschusszahlung“ und „Vorschusszahlung“ sind irreführend und auch ungebräuchlich. In der Praxis spricht man von Variation Margin (kurz VM) bzw. von Initial Margin (kurz IM). Mit Variation Margin ist die tägliche Leistung von Sicherheiten (meist Barsicherheiten) zum Ausgleich der Marktpreisschwankungen in Höhe der Differenz zwischen dem jeweiligen aktuellen Marktpreis und der bei einer Beendigung fälligen Ausgleichsforderung gemeint. Die Variation Margin wird daher immer nur von einer Partei gestellt. Die Initial Margin meint demgegenüber eine zusätzliche, von beiden Parteien zu leistende Sicherheit, die das jeweilige Wiedereindeckungsrisiko aufgrund von Marktpreisschwankungen nach Beendigung und Verrechnung der Positionen (einschließlich geleisteter Variation Margin) abdecken soll.

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prüfung der Nettingvereinbarung durch eine unabhängige Stelle oder einen unabhängigen Dritten (Art. 2 (3) 1. UAbs.) und entsprechend zu den Überwachungspflichten nach Art. 297 (1) CRR die Einführung von „Strategien“ zur fortlaufenden Überwachung der Rechtsgültigkeit (Art. 2 (4) EMIR DVO). Sie unterschieden sich nur in zwei Punkten von den parallelen CRR-Rechtsprüfungspflichten: Zum einen wird – wie im Fall des Art. 194 CRR – auf ein Anzeigeverfahren verzichtet. Zum anderen bedarf es keines förmlichen Rechtsgutachtens zur Dokumentation der rechtlichen Prüfung. Aufgrund der inhaltlichen Deckungsgleichheit ist die EMIR-Rechtsprüfungspflicht hinsichtlich Nettingvereinbarungen immer auch erfüllt, wenn die parallele Begutachtungspflicht aus Art. 296 CRR erfüllt ist. Art. 2 (3) 2. UAbs. der EMIR DVO bestätigt diesen Gleichlauf auch ausdrücklich. Eine gesonderte Regelung und eine entsprechende Klarstellung zum Verhältnis zu den parallelen CRR-Anforderungen in der EMIR ist erforderlich, weil der persönlichen Anwendungsbereich der EMIR-Besicherungspflichten gemäß EMIR DVO über den der CRR hinausgeht und neben den von der CRR erfassten Instituten auch andere, nicht der CRR unterliegende Marktteilnehmer wie etwa Versicherungen, Kapitalanlagegesellschaften, Pensionsfonds und unter bestimmten Voraussetzungen auch „nichtfinanzielle“ Gegenparteien (etwa Industrieunternehmen) erfasst. Dieser Umstand wird bei der Umsetzung der Anforderungen zu berücksichtigen sein. Insbesondere muss dies bedeuten, dass die parallelen CRR-Anforderungen zwar zur Orientierung heranzuziehen sind, gerade aber für Adressaten, die nicht auch den CRR-Anforderungen unterliegen, vereinfachte Anforderungen gelten können. In der Praxis nutzen die Marktteilnehmer aber weitgehend ähnliche oder auch die gleichen Instrumente als Grundlage für die Prüfung der Rechtswirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Nettingvereinbarungen und orientieren sich auch bei der Ausgestaltung der Überwachungspflichten an den etablierten Praktiken. Das gilt entsprechend auch für die zu den Nettingvereinbarungen abgeschlossenen Besicherungsvereinbarungen: Zwar greift hier die Bestätigung zum Gleichlauf der EMIR-Anforderungen mit Art. 296 CRR nicht direkt, da sich diese nur auf Art. 296 CRR und damit nur auf Nettingvereinbarungen bezieht. In der Praxis werden Besicherungsvereinbarungen zu Nettingvereinbarungen aber auch für die Zwecke der CRR im Wesentlichen gleich behandelt – und insbesondere zusammen mit den Nettingvereinbarungen begutachtet. Dementsprechend decken die Verbandsgutachten auch die zu den Nettingvereinbarungen gehörenden Besicherungsvereinbarungen ab. c) Nichtnetting- und Nichtbesicherungsfähigkeit Die EMIR-Rechtsprüfungspflichten zur Nichtnetting- und Nichtbesicherungsfähigkeit sind mit keiner anderen Rechtsprüfungspflicht vergleichbar und insoweit ein Fremdkörper. Es gibt bislang auch keine konkretisierenden aufsichtlichen Vorgaben zur Anwendung und Umsetzung.

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Die Regelung besteht, um eine ungewollte Konsequenz der EMIR-Besicherungspflichten zu vermeiden: Ziel der EMIR-Besicherungspflichten ist die Reduzierung der Risiken aus Derivategeschäften durch obligatorische Besicherung. Wenn ein Adressat der EMIR-Besicherungspflichten aber verpflichtet wäre, Sicherheiten zu stellen, obwohl die eingesetzten Netting- oder Sicherheitenvereinbarungen gegenüber der Gegenpartei nicht wirksam sind, würde dies die Risiken für die Sicherheiten-stellende Partei tatsächlich erhöhen. In diesen Fällen soll daher eine Besicherung auf Bruttobasis vorgenommen werden und nur, wenn diese auch nicht möglich ist, ganz auf die Besicherung verzichtet werden können. Die Verzichtsmöglichkeit besteht unter sehr engen Voraussetzungen: Zunächst sind nur Sachverhalte mit Bezug zu einer Drittstaaten-Rechtsordnung erfasst. Für Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der EU wird damit stillschweigend die Wirksamkeit Durchsetzbarkeit von Netting- und Besicherungsvereinbarungen unterstellt. Die Entscheidung, auf eine Besicherung zu verzichten, soll zudem nur dann zulässig sein, wenn die Rechtsprüfung die Unwirksamkeit und Nichtdurchsetzbarkeit bestätigt. Gefordert ist also das spiegelbildliche Gegenstück der Rechtsprüfung zur Netting- und Besicherungsfähigkeit mit diametral entgegengesetzter Zielrichtung. Dabei wird offenbar angenommen, dass die Prüfung der Netting- oder Besicherungsfähigkeit entweder ein klares Positiv- oder Negativurteil zum Ergebnis hat. Das ist nicht der Fall und auch kein praktikabler Ansatz für einen konsistenten und übergreifenden Umgang mit rechtlichen Risiken: Nur in den seltensten Fällen wird eine eindeutige Wertung getroffen werden können, dass eine bestimmte Form von Netting- oder Besicherungsvereinbarung in einer Rechtsordnung per se nicht wirksam und durchsetzbar ist. Vielmehr dürften im Rahmen der Prüfung Rechtsunsicherheiten identifiziert und bewertet werden.110 Die zu treffenden Entscheidungen sind Risikoentscheidungen und beinhalten deshalb immer Wertungselemente und erfordern zudem eine Gesamtschau der Risiken. Um nicht in eine nicht gewollte Übernahme von Rechtsrisiken gedrängt zu werden, muss von einer Nichtnetting- oder Nichtbesicherungsfähigkeit bereits dann ausgegangen werden können, wenn aus Sicht des Instituts erhebliche, nicht angemessen eingrenzbare Rechtsrisiken festgestellt werden, und nicht erst, wenn die Unwirksamkeit und Nichtdurchsetzbarkeit unzweifelhaft gegeben ist.

IV. Einordnung Das System der aufsichtlichen Rechtsprüfungspflichten entwickelt sich ständig weiter, und die Anforderungen werden immer detaillierter und komplexer. Das stellt die Verpflichteten – und das sind zunehmend nicht nur Kreditinstitute, sondern auch viele andere Finanzmarktteilnehmer – vor erhebliche Herausforderungen. Die deutliche Tendenz zur Formalisierung erfordert immer aufwendigere Prozesse und erhöht 110 Die identifizierten Rechtsunsicherheiten können dabei nicht die Vereinbarung als solche betreffen, sondern bestimmte Anwendungsfälle, etwa bei Geschäften mit bestimmten Gegenparteien.

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den ohnehin schon bestehenden Standardisierungsdruck bei den Abläufen und den Vertragsdokumentationen. Ziel ist offenbar, als besonders relevant erkannte rechtlichen Risiken möglichst vollständig zu erfassen und dann mit den Mitteln des Risikomanagements möglichst greifbar und auch berechenbar zu machen. Gerade letzteres wird aber nur sehr bedingt erreichbar sein: Rechtliche Risiken sind besonders schlecht prognostizierbar und messbar. Kalkulierbar ist allenfalls der wirtschaftliche Schaden bei Eintritt eines bestimmten Risikos, nicht aber die Wahrscheinlichkeit ungünstiger Rechtsentwicklungen. Die Rechtsgutachten zugewiesene Bedeutung und Funktion steht hier exemplarisch für ein eher schematisches Rechts- und Rechtsrisikoverständnis: Rechtsgutachten sind ein sehr nützliches Instrument zur Identifizierung und Bewertung rechtlicher Risiken – und deshalb zurecht ein wichtiges Werkzeug im Rechtsrisikomanagement. Sie sind aber vor allem eine Entscheidungsgrundlage für die zu treffenden Risikoentscheidungen. Bestehende Rechtsunsicherheiten können sie nicht beheben und noch weniger können sie Rechtsrisiken wirksam ausschalten. Begutachtungspflichten sollten deshalb auf besonders kritische Risikosteuerungsinstrumente und komplexen Rechtsfragen beschränkt werden. Ähnliches gilt für Überwachungsmaßnahen: Auch das engmaschigste Überwachungssystem wird nie alle relevanten Rechtsentwicklungen erkennen und nachteilige Folgen verhindern können. Es besteht sogar die Gefahr, dass die Aufmerksamkeit zu sehr auf die Erfüllung der formalen Anforderungen gelenkt wird. Hier ist eine Eingrenzung auf wesentliche Aspekte und auf das mach- und zumutbare geboten. Das gilt erst recht, wenn aufsichtliche Rechtsprüfungspflichten rechtliche Risiken beherrschbar machen sollen, die erst durch regulatorische Vorgaben entstehen. Beispiele sind die Rechtsprüfungspflichten zur Nichtnetting- und Nichtbesicherungsfähigkeit sowie hinsichtlich der in Erfüllung aufsichtlicher Vorgaben in Verträgen aufgenommen Klauseln zur Anerkennung von Abwicklungsmaßnahmen.

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Die prozessuale Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit der Gesellschaft im Managerhaftungsprozess Oliver Lange

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Sachverhaltsaufklärung als Hauptpflicht des defense counsel III. Keine Entpflichtung des Anwalts durch Deckung gewährenden Versicherer IV. Darlegungs- und Beweislast im Innenhaftungsprozess V. Umfang der prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit 1. Entstehung der Obliegenheit 2. Gegenstand der Obliegenheit 3. Weitere Erfüllungsmodalitäten VI. Grenzen der prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit 1. Keine Aufklärungsobliegenheit bei Unzumutbarkeit

2. Keine Aufklärungsobliegenheit bzgl. Tatsachen im Wahrnehmungsbereich des Geschäftsleiters 3. Keine Aufklärungsobliegenheit für Tatsachen, hinsichtlich derer die Gesellschaft beweisbelastet ist 4. Keine Obliegenheit zum Hinweis auf verteidigungsrelevante Information VII. Kosten der Erfüllung der prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit VIII. Rechtsfolgen einer Nichterfüllung der prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit IX. Zusammenfassung

I. Einleitung Wer als früherer Geschäftsleiter einer Gesellschaft, namentlich einer GmbH oder einer AG, von dieser wegen einer angeblichen Pflichtverletzung auf Schadenersatz in Anspruch genommen wird, steht häufig vor dem Problem, dass der von der Gesellschaft als haftungsbegründend bezeichnete Sachverhalt älteren Datums, also nicht lückenlos erinnerbar ist und dem weiteren Problem, dass sich in seinen privaten Unterlagen keine (oder nur rudimentäre) Dokumente finden, die eine eigenständige Rekonstruktion des Sachverhalts ermöglichen.1 Eine solche Rekonstruktion, und 1 Ruchatz, AG 2015, 1 f.; dazu, dass privat archivierte dienstliche Dokumente bei Beschäftigungsende grundsätzlich an die Gesellschaft herauszugeben sind, siehe BGH v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, DStR 2008, 2075, 2076; BGH WM 1963, 161 f.; Böttcher/Kunze, PHi 2016, 164; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1292; Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 224; Grooterhorst, AG 2011, 389, 390; Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 93 Rz. 56; Meckbach, NZG 2015, 580, 582; Werner, GmbHR 2013, 68, 73; einschränkend unter dem Gesichtspunkt des „dolo facit, qui petit, quod redditurus est“ (§ 242 BGB) soweit bei Beschäftigungsende bereits konkret absehbar ist, dass Gesellschaft und Geschäftsleiter sich haftungsrechtlich auseinandersetzen werden, Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1292; Freund, GmbHR 2009, 1185, 1186 f.; Freund, NZG 2015, 1419, 1420; Heider/Hirte, CCZ 2009, 106, 108; und Ruchatz, AG 2015, 1, 2 f.; in

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zwar bis in Details des seinerzeit Geschehenen, ist aber erforderlich, um dem Anwalt des Betroffenen („defense counsel“) eine verlässliche rechtliche Einschätzung der Verteidigungsoptionen und -aussichten sowie die Verteidigung selbst zu ermöglichen.2 Folglich stellt sich dem in Anspruch Genommenen, der eine optimale Verteidigung anstrebt, vorrangig die Frage, ob und inwieweit die Gesellschaft ihm zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet ist, soweit er selbst dazu nicht in der Lage ist. Dieser – in der Praxis enorm relevanten“3 – Frage geht der Autor nach,4 um hierdurch, sehr gerne, den Jubilar zu ehren, der zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten neben dem Gesellschaftsrecht auch „Compliance einschließlich aller D&O-Haftungsaspekte“ zählt,5 weshalb das Thema sein Interesse finden wird.

II. Sachverhaltsaufklärung als Hauptpflicht des defense counsel Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, sei vorausgeschickt, dass die Sachverhaltsaufklärung zwar im Interesse des früheren Geschäftsleiters liegt, jedoch nicht von diesem, sondern von seinem defense counsel zu betreiben ist. Der Mandant muss sich – etwas überspitzt formuliert – aus eigenem Antrieb keine Gedanken darüber machen, welche Tatsachen er im Haftungsprozess wie substantiiert darzulegen hat und wie die Gesellschaft zur Aufklärung verteidigungsrelevanter Tatsachen veranlasst werden kann. Vielmehr schuldet der defense counsel die Sachverhaltsaufklärung als Hauptpflicht aus dem Mandatsverhältnis. Überspitzt ist diese Feststellung insoweit, als der Anwalt (natürlich) nicht eigenhändige Informationsermittlung, etwa wie ein Detektiv, schuldet. Er hat aber die zur Aufklärung relevanten Fragen an den Mandanten zu richten, ggf. Nachfragen zu stellen, wenn der geschilderte Sachverhalt lückenhaft oder nicht plausibel erscheint und nicht nachzulassen, bis alle verteidigungsrelevanten Informationen „auf dem Tisch liegen“.6 Der BGH hat das erst jüngst wieder

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diese Richtung auch BGH v. 21.12.1989 – X ZR 30/89, NJW 1990, 1289, 1290, wonach ein Geschäftsleiter wegen seines Anspruchs auf Arbeitnehmererfindervergütung sich dagegen wehren kann, dass die Gesellschaft ihm „den Zugriff auf präsentes Wissen [entzieht], auf das dieser Anspruch hat und das zu seiner Verfügung zu bleiben hat, damit er seinen Anspruch auf Arbeitnehmererfindervergütung durchzusetzen vermag. Die [Gesellschaft ist] verpflichtet, dem Kl. die zur Berechnung dieses Anspruchs notwendigen Auskünfte zu erteilen und ihm die Unterlagen zur Einsicht zur Verfügung zu stellen, die erforderlich sind, damit er die Richtigkeit der ihm gegebenen Auskünfte überprüfen kann. Sie [verstößt] gegen Treu und Glauben, wenn sie unter Berufung auf den (…) Geschäftsführervertrag (…) dem Kl. das zu entziehen [sucht], was sie ihm zur Verfügung zu stellen [hätte].“ Grooterhorst, AG 2011, 389, 391; siehe auch Schneider, NJW 1986, 971: „Hauptursache aller falschen Urteile ist mangelhafte Sachverhaltsaufklärung.“ Freund, NZG 2015, 1419, 1421; Groh, ZIP 2021, 724. Außer Betracht bleiben Sachverhaltsaufklärungsansprüche, die sich aus einer eventuellen Gesellschafterstellung des früheren Geschäftsleiters ergeben (hierzu siehe Dißars, DStR 2020, 1514). Siehe https://goerg-compliance.de/team-contacts/ (letzter Abruf am 19.6.2021). Siehe BGH v. 7.2.2002 – IX ZR 209/00, NJW 2002, 1413, wonach der Anwalt „sich nicht ohne weiteres mit dem begnügen [darf], was sein Auftraggeber ihm an Informationen liefert, sondern (…) um zusätzliche Aufklärung bemüht sein [muss], wenn den Umständen

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prägnant zusammengefasst: „a) Die Pflicht des Rechtsanwalts zur richtigen und vollständigen Beratung des Mandanten setzt voraus, dass er zunächst durch Befragung seines Auftraggebers den Sachverhalt klärt, auf den es für die rechtliche Beurteilung ankommen kann. Ist der mitgeteilte Sachverhalt unklar oder unvollständig, darf der Rechtsanwalt sich nicht mit der rechtlichen Würdigung des ihm Vorgetragenen begnügen, sondern muss sich bemühen, durch Befragung des Ratsuchenden ein möglichst vollständiges und objektives Bild der Sachlage zu gewinnen (…). Auf die Richtigkeit tatsächlicher Angaben seines Mandanten darf der Rechtsanwalt dabei so lange vertrauen und braucht insoweit keine eigenen Nachforschungen anzustellen, als er die Unrichtigkeit der Angaben weder kennt noch erkennen muss (…). Dies gilt jedoch nur für Informationen tatsächlicher Art, nicht für die rechtliche Beurteilung eines tatsächlichen Geschehens. Bei rechtlichen Angaben des Mandanten muss der Anwalt damit rechnen, dass der Mandant die damit verbundenen Beurteilungen nicht verlässlich genug allein vornehmen kann, weil ihm entsprechende Erfahrungen und Kenntnisse fehlen (…). Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts dient in der Regel gerade dem Zweck, die rechtliche Beurteilung eines Sachverhalts in fachkundige Hände zu legen. Die Ausnahme, dass sich ein Rechtsanwalt grundsätzlich auf tatsächliche Angaben seines Mandanten verlassen darf, gilt deshalb nicht in Bezug auf Informationen, die nur scheinbar tatsächlicher Natur sind (…). Teilt der Mandant insbesondere so genannte Rechtstatsachen7 mit, hat der Anwalt sie durch Rückfragen in die zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände und Vorgänge aufzulösen oder, sofern dies keine zuverlässige Klärung erwarten lässt, weitere Ermittlungen anzustellen (…).“8

III. Keine Entpflichtung des Anwalts durch Deckung gewährenden Versicherer Ebenfalls vorsorglich sei bemerkt, dass die anwaltliche Verantwortung für eine verteidigungsgerechte Sachverhaltsaufklärung nicht im Geringsten relativiert wird, wenn nach für eine zutreffende rechtliche Einordnung die Kenntnis weiterer Tatsachen erforderlich und deren Bedeutung für den Mandanten nicht ohne weiteres ersichtlich ist“; OLG Köln v. 3.3.2020 – 9 U 77/19, NJW-RR 2020, 673 Rz. 32, wonach der Anwalt „sich bemühen [muss], durch Befragung des Ratsuchenden ein möglichst vollständiges und objektives Bild der Sachlage zu gewinnen“; OLG Saarbrücken v. 14.8.2014 – 4 U 146/13, NJOZ 2015, 64 Rz. 16, wonach der Anwalt „seinem Mandanten gegenüber verpflichtet [ist] dafür einzutreten, dass die zu Gunsten des Mandanten sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich ermittelt und bei der Entscheidung des Gerichts berücksichtigt werden“; ferner BGH v. 15.10.2009 – IX ZR 232/08, NJOZ 2010, 234 Rz. 4, wonach der Anwalt von seinem Mandanten in einem in tatsächlicher Hinsicht komplexen Sachverhalt, angesichts dessen der Mandant zu einer „umfassenden mündlichen Informationserteilung außer Stande“ ist, nicht nur eine mündliche, sondern auch „ergänzende schriftliche Angaben zu verlangen“ hat. 7 Im Streitfall ging es um die Rechtstatsache des „Zugangs“ einer Willenserklärung, nämlich einer arbeitgeberseitigen Kündigung; der Zugang(szeitpunkt) war relevant für die Bestimmung der Frist zur Erhebung einer Kündigungsschutzklage gem. § 4 Abs. 1 S. 1 KSchG. 8 BGH v. 14.2.2019 – IX ZR 181/17, NJW 2019, 1151 Rz. 9.

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ein D&O-Versicherer an der Verteidigung des früheren Geschäftsleiters mitwirkt. Die Rechtsprechung hat das schon wiederholt für den rechtsschutzversicherten Mandanten festgestellt9 und für den haftpflichtversicherten Mandanten gilt nichts anderes. Die Rechtsschutzzusage begründet zwar ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis des Versicherers gegenüber dem Versicherten,10 nicht aber gegenüber dem defense counsel und sie beeinflusst das Mandatsverhältnis zwischen Versichertem und Anwalt auch sonst nicht,11 insbesondere nicht im Sinne eines Vertrags mit Schutzwirkung zu dessen Gunsten. Ebenso wenig sind die Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung oder die Risikobelehrung des Mandanten durch den defense counsel geringer, wenn der Mandant versichert ist.12 Denn der Schutzzweck der (im Fall einer persönlichen D&O-Versicherung) vom Mandanten oder (im Fall einer D&O-Fremdversicherung) von einem Dritten13 für ihn genommenen Versicherung besteht nicht darin, einen beliebigen Anwalt davor zu bewahren, für die Haftungsfolgen einer Verletzung der Pflichten aus dem Mandatsvertrag einstehen zu müssen.14 Vor allem ergeben sich weder aus dem Versicherungsvertrag noch aus der Rechtsschutzzusage irgendwelche Obliegenheiten des Versicherers gegenüber dem defense counsel, namentlich keine Obliegenheit zur Prüfung der Verteidigungsmöglichkeiten des Mandanten oder der Sachgerechtigkeit und Pflichtgemäßheit des anwaltlichen Vorgehens.15 Selbst der eigene Sachverhaltsaufklärungsanspruch des D&O-Versicherers aus einem D&OFremdversicherungsvertrag – in Gestalt der Auskunfts- und Belegobliegenheit der versicherungsnehmenden Gesellschaft (§ 31 Abs. 1 VVG)16 – ändert daran nichts.

9 OLG Hamburg v. 7.2.2020 – 9 U 202/19, BeckRS 2020, 16998 Rz. 35 ff.; OLG Nürnberg v. 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 4 ff.; OLG Köln v. 3.3.2020 – 9 U 77/19, NJW-RR 2020, 673 Rz. 44 f.; OLG Bamberg v. 20.11.2018 – 6 U 19/18, NJW-RR 2019, 443, 444; OLG Dresden v. 10.10.2018 – 13 U 750/18, BeckRS 2018, 39834 Rz. 9; OLG Celle v. 18.9.2018 – 4 U 104/18, BeckRS 2018, 28338; OLG Hamm v. 23.8.2016 – 28 U 57/15, BeckRS 2016, 16118 Rz. 57; OLG Düsseldorf v. 3.6.2013 – I-9 U 147/12, NJW 2014, 399, 400 f.; OLG Koblenz v. 16.2.2011 – 1 U 358/10, NJW-RR 2011, 761, 762; LG Flensburg v. 30.4.2013 – 1 S 158/12, NJW-RR 2013, 1331 f. 10 BGH v. 16.7.2014 – IV ZR 88/13, r+s 2014, 454 Rz. 20 ff.; OLG Braunschweig v. 4.3.2013 – 3 U 89/12, r+s 2013, 435; OLG Koblenz v. 16.2.2011 – 1 U 358/10, VersR 2011, 791; OLG Düsseldorf v. 26.6.2001 – 4 U 205/00, NVersZ 2002, 190 f.; KG v. 12.7.1996 – 6 U 1977/95, r+s 1996, 492; Felsch, r+s 2016, 321, 328 f.; Spies, r+s 2019, 70, 71. 11 OLG Hamburg v. 7.2.2020 – 9 U 202/19, BeckRS 2020, 16998 Rz. 35; OLG Nürnberg 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 10. 12 OLG Nürnberg v. 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 10; OLG Bamberg v. 20.11.2018 – 6 U 19/18, NJW-RR 2019, 443 Rz. 37; OLG Hamm v. 18.2.2016 – 28 U 73/15, BeckRS 2016, 16257 Rz. 66. 13 Dies kann insbesondere die anspruchstellende Gesellschaft oder eine Muttergesellschaft sein. 14 OLG Nürnberg v. 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 13; OLG Köln v. 3.3.2020 – 9 U 77/19, NJW-RR 2020, 673 Rz. 45; OLG Hamburg v. 27.9.2018 – 1 U 2/18, r+s 2019, 120 Rz. 29; OLG Düsseldorf v. 3.6.2013 – I-9 U 147/12, NJW 2014, 399, 400 f. 15 OLG Köln v. 3.3.2020 – 9 U 77/19, NJW-RR 2020, 673 Rz. 45. 16 Hierzu siehe Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, 1. Aufl. 2014, § 12 Rz. 118 ff.

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Denn hiervon kann der Versicherer Gebrauch machen, er muss es jedoch nicht.17 Wenn das schon im Verhältnis zur Versicherungsnehmerin und dem Versicherten gilt, muss es erst recht im Verhältnis zu einem Dritten gelten, der nicht in den Versicherungsvertrag einbezogen ist. Die Mitwirkung eines D&O-Versicherers (oder eines Rechtsschutzversicherers) enthaftet den Anwalt nicht nur nicht gegenüber seinem Mandanten; sie hat überdies zur Folge, dass ein eventueller Anwaltshaftungsanspruch des Mandanten, bspw. ein Schadenersatzanspruch wegen Prozessverlusts durch unzureichenden Sach- oder Rechtsvortrag,18 dem Versicherer zugutekommt. Denn durch Freistellung des Mandanten von der Vergütungsforderung des Anwalts sowie – im Unterliegensfall – von der rechtskräftig ausgeurteilten Haftpflichtforderung geht, im Umfang der Freistellung, der Anwaltshaftungsanspruch gem. § 86 Abs. 1 S. 1 VVG (analog) auf den freistellenden Versicherer über.19 Dem aus übergegangenem Recht Ersatz verlangenden Versicherer kann der defense counsel nach dem oben Gesagten grundsätzlich kein Mitverschulden entgegenhalten.20 Der Versicherer verhält sich grundsätzlich auch nicht widersprüchlich und damit nicht treuwidrig (§ 242 BGB), wenn er dem Versicherten Rechtsschutz gewährt, dessen defense counsel dann gewähren lässt und erst nach Pro-

17 A.A. Freund, NZG 2015, 1419, 1421, unter Hinweis auf Rechtsprechung des BGH, wonach „der Versicherer die Pflicht [hat], die Interessen der versicherten Organmitglieder wie ein beauftragter Rechtsanwalt wahrzunehmen. Vor diesem Hintergrund kann ein betroffenes Organmitglied in Zusammenarbeit mit der Versicherung darauf hinwirken, dass diese auf der Grundlage des § 31 VVG vorgeht und Kopien von denjenigen Unterlagen anfordert, die zu der Feststellung des Versicherungsfalls bzw. zu der Feststellung des Umfangs einer etwaigen Leistungspflicht erforderlich sind.“ 18 Zur Anwaltshaftung wegen fehlerhafter rechtlicher Würdigung, selbst wenn das Gericht demselben Rechtsirrtum erliegt, siehe OLG Saarbrücken v. 14.8.2014 – 4 U 146/13, NJOZ 2015, 64 Rz. 16, wonach es „der rechtlichen und tatsächlichen Stellung der Prozessbevollmächtigten in den Tatsacheninstanzen [widerspräche], würde man ihre Aufgabe allein in der Beibringung des Tatsachenmaterials sehen. Der Möglichkeit, auf die rechtliche Beurteilung des Gerichts Einfluss zu nehmen, entspricht im Verhältnis zum Mandanten die Pflicht, diese Möglichkeit zu nutzen […]. Mit Rücksicht auf das auch bei Richtern nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit eines Irrtums ist es Pflicht des Rechtsanwalts, nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken […]. Dies entspricht gem. § 1 III BORA auch dem Selbstverständnis der Anwaltschaft […].“; ferner BGH v. 17.9.2009 – IX ZR 74/08, NJW 2010, 73 Rz. 15, wonach „der Anwalt verpflichtet [ist], seinen Mandanten vor Fehlentscheidungen der Gerichte zu bewahren“. 19 OLG Nürnberg v. 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 4 f.; OLG Koblenz v. 16.2.2006 – 5 U 271/05, NJW 2006, 3150; OLG Köln v. 29.6.1993 – 9 U 237/92, NJWRR 1994, 27; LG Flensburg v. 30.4.2013 – 1 S 158/12, NJW-RR 2013, 1331. 20 OLG Hamburg v. 7.2.2020 – 9 U 202/19, BeckRS 2020, 16998 Rz. 35; OLG Köln v. 3.3.2020 – 9 U 77/19, NJW-RR 2020, 673 Rz. 44; OLG Celle v. 18.9.2018 – 4 U 104/18, BeckRS 2018, 28338; OLG Koblenz v. 16.2.2006 – 5 U 271/05, NJW 2006, 3150; LG Flensburg v. 30.4.2013 – 1 S 158/12, NJW-RR 2013, 1331 f.

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zessverlust im Detail untersucht, ob der Anwalt den Prozess fehlerhaft geführt hat.21 Denn die Prozessführung schuldet nur der Anwalt (aus dem Anwaltsvertrag), während der Versicherer (aus dem Versicherungsvertrag) lediglich die Finanzierung der anwaltlichen prozessualen Vertretung schuldet. Gleiches gilt, wenn der Versicherer prozessbegleitend Schriftsatzentwürfe des defense counsel gegengelesen und freigegeben oder wenn er in Ansehung eines gegen den Versicherten ergangenen erst- oder zweitinstanzlichen Urteils der Berufung oder Revision zugestimmt hat. Derartige Hilfestellungen leistet der Versicherer im eigenen Interesse an einem für den Versicherten erfolgreichen Prozessergebnis, nicht aber zu dem Zweck, den anwaltlichen Sorgfaltsmaßstab oder die anwaltliche Haftung zu verringern. Dessen ist sich der defense counsel auch bewusst, zumal er weiß, dass der Versicherer eine geringere Sachverhalts- und Rechtskenntnis als der von seinem Mandanten unter dem Siegel des Anwaltsgeheimnisses instruierte und zur umfassenden Rechtsprüfung verpflichtete Anwalt hat. Vor diesem Hintergrund begründet die Erteilung einer Deckungszusage des Versicherers an den Versicherten für den defense counsel „keinen Vertrauenstatbestand dahin, dass er von dem Versicherer nicht wegen Verletzung seiner Pflichten aus dem Anwaltsvertrag in Anspruch genommen wird“.22 Im Übrigen gilt auch hier, dass weder der Versicherungsvertrag noch die dem Versicherten gewährte (erst- oder zweitinstanzliche) Deckungszusage darauf angelegt sind, Schutzwirkung für den Anwalt zu entfalten.23 Allenfalls unter besonderen Umständen mag es denkbar sein, dass der defense counsel dem regressierenden Versicherer widersprüchliches und damit treuwidriges Verhalten (§ 242 BGB) entgegenhalten kann.24 In Betracht kommt bspw., dass der Versicherer den Anwalt zu einem bestimmten Verteidigungsverhalten angewiesen und die Weisung selbst nach einer umfassend begründeten Bedenkenäußerung25 durch den Anwalt aufrechterhalten hat. Gerade D&O-Versicherer steuern die defense counsel mehrerer von einem Versicherungsfall betroffener Versicherter oft im Wege einer sog. „Sockelverteidigung“.26 Wird zu eng gesteuert und berechtigten sowie ausführlich begründeten Warnungen eines defense counsel kein Gehör geschenkt, weil es der vom Versicherten mandatierte monitoring counsel besser zu wissen meint, haftet dem Versicherer gem. § 242 BGB nicht der defense, sondern nur der

21 OLG Hamburg v. 7.2.2020 – 9 U 202/19, BeckRS 2020, 16998 Rz. 36; OLG Nürnberg v. 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 9 ff. 22 So ausdrücklich OLG Köln v. 3.3.2020 – 9 U 77/19, NJW-RR 2020, 673 Rz. 45. 23 OLG Hamburg v. 7.2.2020 – 9 U 202/19, BeckRS 2020, 16998 Rz. 36; OLG Nürnberg v. 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 13; OLG Köln v. 3.3.2020 – 9 U 77/19, NJW-RR 2020, 673 Rz. 45. 24 OLG Nürnberg v. 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 14. 25 Siehe OLG Nürnberg v. 28.4.2020 – 8 U 3839/19, NJW-RR 2020, 1185 Rz. 14, wonach der Anwalt den Versicherer „vollständig und wahrheitsgemäß mit allen erforderlichen Informationen versehen“ und die für und gegen die streitige Rechtsposition sprechenden Argumente umfassend darstellen muss; ähnlich OLG Jena v. 5.7.2019 – 4 U 359/18, BeckRS 2019, 24215 Rz. 101 ff. 26 Hierzu siehe Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, 1. Aufl. 2014, § 14 Rz. 59.

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monitoring counsel, selbst wenn ersterer sich dem auf ihn ausgeübten Druck gebeugt hat, obwohl er hätte standhaft bleiben müssen.

IV. Darlegungs- und Beweislast im Innenhaftungsprozess Die eingangs27 erwähnte enorme praktische Bedeutung der Sachverhaltsaufklärung für den im Wege der Innenhaftung in Anspruch genommenen früheren Geschäftsleiter ergibt sich aus der Darlegungs- und Beweislast im Innenhaftungsprozess, wie sie in § 93 Abs. 2 S. 2 AktG für die AG und in § 34 Abs. 2 S. 2 GenG für die Genossenschaft (mit analoger Wirkung für die GmbH28, die GmbH & Co. KG29 und andere Gesellschaften30) formuliert ist.31 Hiernach32 hat der Geschäftsleiter33 darzulegen und zu beweisen, dass er seine Pflichten nicht verletzt oder jedenfalls schuldlos gehandelt hat, wenn die Gesellschaft ein Verhalten des Geschäftsleiters in seinem Pflichten-

27 Siehe I. 28 BGH v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, NJW 2003, 358 f.; OLG Koblenz v. 24.9.2007 – 12 U 1437/04, BeckRS 2008, 2728 Rz. 101; Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.24; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291; Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 225 ff. 29 BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, NZG 2013, 1021 Rz. 22. 30 Siehe Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 222 f. 31 Zur Rechtsgeschichte der Beweislastregel des § 93 Abs. 2 S. 2 AktG und zur Rechtsvergleichung siehe Fleischer in FS Thümmel, 2020, S. 158. Zu der – umstrittenen – Frage, ob die Beweislastregel im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und einem Rechtsnachfolger eines Geschäftsleiters gilt, siehe OLG Köln v. 1.10.2019 – 18 U 34/18, NZG 2020, 110 Rz. 72; Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 38 ff.; Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.21; Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 56. Zu der – ebenfalls umstrittenen – Frage, ob die Beweislastregel im Verhältnis zwischen der Gesellschaft und einem D&O-Versicherer (nach Abtretung des versicherungsvertraglichen Freistellungsanspruchs durch den Geschäftsleiter an die Gesellschaft) gilt, siehe Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.25; Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 58e; Lange, r+s 2019, 613, 621 f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 214. 32 Für spezielle Innenhaftungsprozesse gelten andere Regeln, bspw. für eine Inanspruchnahme durch den Insolvenzverwalter wegen Zahlungen nach Insolvenzreife gem. § 15b InsO n.F., § 64 GmbHG a.F. oder § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG a.F. (siehe Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.29 ff.). 33 Zum Stand des Meinungsstreits über die vom BGH (BGH v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, NZG 2014, 1058 Rz. 33; zustimmend bspw. Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.20; Groh, ZIP 2021, 724, 726 f.; Hüffer/ Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 56) verneinte Frage, ob für den früheren Geschäftsleiter andere Maßstäbe gelten als für noch amtierende Geschäftsleiter, siehe Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 30 f. und Meckbach NZG 2015, 580, 583 f.; zum Ansatz einer „teleologischen Reduktion der Regelungen der Beweislastumkehr gegenüber ausgeschiedenen Organmitgliedern“ siehe bspw. Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 224 ff. und Grooterhorst, AG 2011, 389, 392.

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kreis darlegt, das möglicherweise pflichtwidrig war.34 Im Übrigen hat die Gesellschaft einen durch die Pflichtwidrigkeit verursachten Schaden darzulegen und zu beweisen, während der Geschäftsleiter ggf. darlegen und beweisen muss, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Alternativverhalten eingetreten wäre.35 Knackpunkt ist in der Praxis, dass der Geschäftsleiter sich vom Vorwurf der Pflichtverletzung entlasten muss, indem er Tatsachen vorträgt (und im Bestreitensfall beweist), die das Gericht zu der Überzeugung bringen, dass er sich – entgegen dem ersten Anschein – nicht sorgfaltspflichtwidrig verhalten hat.36 Gelingt ihm das nicht und bleibt das Gericht deshalb bei seiner (aufgrund der von der Gesellschaft dargelegten und ggf. bewiesenen Tatsachen gewonnenen) Überzeugung, dass jedenfalls die Möglichkeit einer Pflichtverletzung besteht, verliert der Geschäftsleiter (in diesem Punkt37) den Haftungsprozess.38 Gelingt es hingegen der Gesellschaft noch nicht einmal, das Gericht von der Möglichkeit einer Pflichtverletzung – und zwar der

34 BGH v. 8.7.2014 – II ZR 174/13, NZG 2014, 1058 Rz. 33; BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, NZG 2013, 1021 Rz. 22; BGH v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, NZG 2011, 549 Rz. 17; BGH v. 6.3.2009 – II ZR 280/07, NJW 2009, 2454 Rz. 4; BGH v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, NJW 2003, 358; OLG München v. 9.8.2018 – 23 U 2936/17, BeckRS 2018, 20350 Rz. 30; OLG Brandenburg v. 7.2.2018 – 7 U 132/16, BeckRS 2018, 3731 Rz. 41; OLG Nürnberg v. 28.10.2014 – 12 U 567/13, NZG 2015, 555 Rz 11; OLG Koblenz v. 24.9.2007 – 12 U 1437/04, BeckRS 2008, 2728 Rz. 101; Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 76; Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.7 und 14.9; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291; Goette/Goette, Die GmbH, 3. Aufl. 2019, § 8 Rz. 292; Grooterhorst, AG 2011, 389; Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 53; Meckbach, NZG 2015, 580, 581; Roth/Altmeppen, 9. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 112; Werner, GmbHR 2013, 68; Ziemons in Oppenländer/Trölitzsch, Praxishandbuch der GmbH-Geschäftsführung, 3. Aufl. 2020, § 21 Rz. 12. 35 BGH v. 18.6.2013 – II ZR 86/11, NZG 2013, 1021 Rz. 22; BGH v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, NZG 2011, 549 Rz. 17; BGH v. 16.3.2009 - II ZR 280/07, NJW 2009, 2454 Rz. 42; BGH v. 4.11.2002 - II ZR 224/00, NJW 2003, 358; OLG München v. 9.8.2018 – 23 U 2936/17, BeckRS 2018, 20350 Rz. 30; OLG Brandenburg v. 7.2.2018 – 7 U 132/16, BeckRS 2018, 3731 Rz. 41; OLG Koblenz v. 24.9.2007 – 12 U 1437/04, BeckRS 2008, 2728 Rz. 101; Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 76; Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.7 und 14.9; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291; Goette/Goette, Die GmbH, 3. Aufl. 2019, § 8 Rz. 292; Grooterhorst, AG 2011, 389; Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 53; Meckbach, NZG 2015, 580, 581; Werner, GmbHR 2013, 68; Ziemons in Oppenländer/Trölitzsch, Praxishandbuch der GmbH-Geschäftsführung, 3. Aufl. 2020, § 21 Rz. 12. 36 Zu Anforderungen an die Substantiierung der primären Darlegung des Geschäftsleiters siehe bspw. BGH v. 22.2.2011 – II ZR 146/09, NZG 2011, 549 Rz. 20 ff. und – allgemein zur Substantiierungslast – BGH v. 28.7.2020 – VI ZR 300/18, NJW-RR 2020, 1320 Rz. 7 ff.; BGH v. 17.10.1996 – IX ZR 293/95, NJW 1997, 128; OLG Hamburg v. 1.9.1989 – 14 U 221/88, NJW-RR 1990, 63. 37 Zu anderen für die Haftung relevanten Gesichtspunkten siehe Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, 1. Aufl. 2014, § 2 Rz. 183 ff. 38 Siehe bspw. OLG München v. 9.8.2018 – 23 U 2936/17, BeckRS 2018, 20350 Rz. 29; OLG Koblenz v. 24.9.2007 – 12 U 1437/04, BeckRS 2008, 2728 Rz. 102; LG München I v. 10.12.2013 – 5 HK O 1387/10, NZG 2014, 345, 347.

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Verletzung einer gerade gegenüber der Gesellschaft (und nicht gegenüber einem Dritten, bspw. einer anderen Konzerngesellschaft39 oder einem Kunden40) bestehenden Pflicht – zu überzeugen, verliert die Gesellschaft.41 Die Darlegung entlastender Tatsachen ist für den früheren Geschäftsleiter oft schwierig – sprich: nicht möglich oder nicht zumutbar –, wenn der (angeblich) haftungsbegründende Sachverhalt länger zurückliegt und das Gedächtnis nicht ausreicht, seinerzeit relevante Tatsachen hinreichend detailliert zu erinnern. Wie dem Geschäftsleiter in dieser Situation rechtlich geholfen werden kann, ist in vielerlei Hinsicht umstritten. Einigkeit besteht lediglich darin, dass ihm ein gewisser Sachverhaltsaufklärungsanspruch gegen die Gesellschaft zustehen soll. Schon insoweit werden aber unterschiedliche Rechtsgrundlagen genannt, namentlich § 810 BGB (analog), die nachwirkende Treuepflicht der Gesellschaft (§ 242 BGB) und deren sekundäre Darlegungslast. Meistens ist davon die Rede, dass der Anspruch des Geschäftsleiters entweder aus der nachwirkenden Treuepflicht der Gesellschaft (§ 242 BGB) oder aus § 810 BGB (analog)42 oder aus beiden Rechtsgründen43 oder aus einem von beiden44 39 Hierzu siehe OLG München v. 8.7.2015 – 7 U 3130/14, BeckRS 2015, 16492 Rz. 53 ff. 40 Hierzu siehe BGH v. 21.3.1994 – II ZR 260/92, NJW-RR 1994, 806. 41 Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 29; Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, § 43 GmbHG Rz. 76; Goette, ZGR 1995, 648, 674; Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 53; Werner, GmbHR 2013, 68, 69. Zu einem solchen Fall siehe OLG Nürnberg v. 28.10.2014 – 12 U 567/13, NZG 2015, 555 Rz. 11 ff., insb. Rz. 14: „2. Die Kl. hat im Streitfall nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen des Erstgerichts jedoch keine Tatsachen ausreichend dargetan und nachgewiesen, die zumindest den Anschein begründen, dass die Beantragung der Reisekostenerstattungen für die unternommenen Asienreisen möglicherweise pflichtwidrig gewesen sein könnte. Die Geltendmachung von Reisekostenerstattungen ist ein gewöhnlicher Vorgang im Geschäftsleben und wertneutral. Der Aufsichtsrat der Kl. hatte die Strategie, eine Vertriebsstruktur in Asien aufzubauen, zuvor gebilligt. Bei dieser Sachlage hätte die Kl. darlegen und nachweisen müssen, dass der Bekl. bei den unternommenen Asienreisen – zumindest auch – gesellschaftswidrige Zwecke verfolgt hat. Nur dann bestünde ein Anschein dafür, dass der Bekl. die Kl. bei der Geltendmachung der aufgewandten Reisekosten über den Zweck der Reise getäuscht haben könnte. Dies ist ihr jedoch nach den getroffenen Feststellungen nicht gelungen.“; ferner OLG Oldenburg v. 13.7.2000 – 1 U 35/00, BeckRS 2000, 30471456 und OLG Stuttgart v. 30.5.2000 – 20 W 1/2000, 20 W 1/00, BeckRS 2000, 17111 Rz. 26 ff. 42 So bspw. OLG Köln v. 1.10.2019 – 18 U 34/18, NZG 2020, 110 Rz. 74 („[…] gestützt auf nachwirkende Treupflichten aus dem beendeten Organverhältnis und/oder unter Berufung auf § 810 BGB […].)“; Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 33. 43 So bspw. OLG Frankfurt v. 25.9.1979 – 5 U 210/78, BeckRS 1979, 01334 Rz. 22; Freund, NZG 2015, 1419, 1421; Grooterhorst, AG 2011, 389, 395; Habersack in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 810 Rz. 2 und 7; Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 56; Korch/Chatard, NZG 2020, 893, 894; Meckbach, NZG 2015, 580, 582; Ruchatz, AG 2015, 1, 2; Werner, GmbHR 2013, 68, 70 f.; wohl auch Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 233, wonach die „korporationsrechtliche Stellung (…) die materiellrechtliche Unterlage für ein Einsichtsrecht aus § 810 BGB“ ist. 44 So bspw. Altmeppen, 10. Aufl. 2021, § 43 GmbHG Rz. 112 („Wird ein Geschäftsleiter nach seinem Ausscheiden in Anspruch genommen, kann er in die zu seiner Verteidigung erforderlichen Unterlagen Einsicht nehmen, § 810 BGB“).

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folgt.45 Neuerdings wird zusätzlich ein Anspruch aus Art. 15 Abs. 3 DSGVO diskutiert.46 Der BGH stellt indes auf einen ganz anderen Gesichtspunkt ab, nämlich auf die sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft, bspw. in BGH v. 20.11.2018 – II ZR 132/1747, wonach der Gesellschaft „gegenüber den Beklagten als ausgeschiedenen Geschäftsführern eine sekundäre Darlegungslast obliegt, im Rahmen derer sie nicht nur die diesen vorgeworfene Pflichtverletzung näher zu bezeichnen, sondern ihnen auch48 – soweit zu ihrer Verteidigung erforderlich – Einsicht in die dafür erforderlichen Unterlagen zu gewähren hat (…).“49 Ähnlich, wenn auch noch nicht so stringent, bereits BGH v. 4.11.2002 – II ZR 224/0050: „Vor einer Überspannung seiner Darlegungs- und Beweislast ist [der ausgeschiedene Geschäftsführer] dadurch geschützt, dass die Gesellschaft die angebliche Pflichtverletzung im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast näher zu bezeichnen hat. Soweit zu seiner Verteidigung erforderlich, hat die Gesellschaft ihm Einsicht in die dafür maßgeblichen Unterlagen zu gewäh-

45 Ergänzend wird von Meckbach, NZG 2015, 580, 582, darauf hingewiesen, dass diese „materiellen Ansprüche (…) nicht durch eine Herausgabeklage durchgesetzt [werden], sondern durch Antrag des Organmitglieds, der Gesellschaft die Vorlage der betreffenden Unterlagen aufzugeben (§§ 421 f. ZPO). Der Antrag ist begründet, wenn die Gesellschaft nach allgemeinem Zivilrecht (insbesondere § 810 BGB) eine Pflicht zur Herausgabe oder zur Vorlage der entsprechenden Urkunden trifft (§ 422 ZPO). Darüber hinaus kann das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen der Gesellschaft die Vorlage von Urkunden aufgeben, die sich in ihrem Besitz befinden (§ 142 I ZPO).“; ebenso Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 237 ff.; Grooterhorst, AG 2011, 389, 390 f. und 397; Werner, GmbHR 2013, 68, 70 und 73; zu einem entsprechenden Praxisfall siehe OLG Frankfurt v. 25.9.1979 – 5 U 210/78, BeckRS 1979, 01334 Rz. 20 ff. 46 Hierzu siehe OLG Köln v. 26.7.2019 – 20 U 75/18, CR 2019, 654, 655; LAG Baden-Württemberg v. 20.12.2018 – 17 Sa 11/18, NZA-RR 2019, 242 Rz. 170 ff.; LG Heidelberg v. 21.2.2020 – 4 O 6/19, BeckRS 2020, 3071; LG Köln v. 19.6.2019 – 26 S 13/18, r+s 2019, 450 Rz. 23; ArbG Bonn v. 16.7.2020 – 3 Ca 2026/19, BeckRS 2020, 22546 Rz. 8 ff.; ArbG Düsseldorf v. 5.3.2020 – 9 Ca 6557/18, NZA-RR 2020, 409 Rz. 71 ff.; Böhm/Brams, NZARR 2020, 449; Hamann/Wegmann, BB 2019, 1347, 1350; Korch/Chatard, NZG 2020, 893, 894 ff.; Lembke NJW 2020, 1841, 1843 f. 47 BeckRS 2018, 32052 Rz. 18. 48 Hieraus ergibt sich die Antwort auf die von Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 231, aufgeworfene Frage, „ob sich die Gesellschaft durch Erfüllung des Einsichtsrechts ihrer sekundären Darlegungslast entledigen kann“; mit der Gewährung von Einsicht erfüllt die Gesellschaft ihre sekundäre Darlegungslast nur teilweise, übrig bleibt die Obliegenheit, die angebliche Pflichtverletzung des Geschäftsleiters näher zu bezeichnen. 49 In der Literatur wird eine identische Pflichtenlage aus § 242 BGB abgeleitet, siehe Dißars, DStR 2020, 1514, 1516, wonach sich aus § 242 BGB „eine Auskunftspflicht [ergibt], wenn die zwischen den Parteien bestehende Rechtsbeziehung es mit sich bringt, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über Bestehen oder Umfang seines Rechts im Ungewissen ist und der Verpflichtete die zur Beseitigung der Ungewissheit erforderliche Auskunft unschwer geben kann. Es handelt sich nach richtiger Auffassung um einen Rechtsgrundsatz, der mittlerweile zu Gewohnheitsrecht erstarkt ist.“; ebenso Grooterhorst, AG 2011, 389, 395. 50 NZG 2003, 81, 82.

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ren.“ Hier fehlte im zweiten Satz noch die ausdrückliche Bezugnahme auf die sekundäre Darlegungslast als Rechtsgrundlage.51 Im Einzelnen bedeutet die sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft, bei der es sich um eine prozessuale Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit handelt,52 folgendes: Zwar muss eigentlich der frühere Geschäftsleiter – aufgrund seiner (primären) Darlegungslast – Tatsachen darlegen, die die richterliche Überzeugungsbildung zulassen, dass er sich sorgfältig verhalten hat. Erfordert seine Darlegung aber die Schilderung von Tatsachen, die ihm nicht (mehr) bekannt sind und unzumutbare Aufklärungsanstrengungen, während die Gesellschaft zu solchen Tatsachen zumutbar Auskunft geben kann, muss sie dies tun, kann sich also nicht darauf berufen, dass sie nicht darlegungsbelastet sei.53 Die Gesellschaft darf sich insoweit54 insb. nicht darauf beschränken, einem verteidigenden Tatsachenvortrag des Geschäftsleiters mangelnde Substantiierung entgegenzuhalten, oder darauf, dass sie den Vortrag mit Nichtwissen bestreitet. Vielmehr muss sie selbst substantiiert Tatsachen vortragen, aus denen sich ergibt, dass das Wenige, was der Geschäftsleiter aus seiner (lückenhaften) Erinnerung nach zumutbarer Gedächtnisanspannung zur Verteidigung vorbringt, so nicht gewesen ist, will sie die Geständnisfiktion des 138 Abs. 3 ZPO55 vermeiden.56 Die sekundäre Darlegungslast „findet ihre Rechtfertigung darin, dass der primär darlegungsbelastete [Geschäftsleiter] außerhalb des von ihm vorzutragenden Geschehensablaufs steht und keine nähere Kenntnis der maßgebenden Umstände besitzt, während der Anspruchsgegner [die Gesellschaft] die wesentlichen Tatsachen kennt oder unschwer in Erfahrung bringen kann und es ihm zumutbar ist, nähere Angaben zu machen“,57 beruht also letztlich auf Treu und Glauben (§ 242 BGB).58 Außerdem beruht sie auf 51 Ebenso bspw. bei OLG Koblenz v. 24.9.2007 – 12 U 1437/04, BeckRS 2008, 2728 Rz. 101, wonach der ausgeschiedene Geschäftsleiter vor „einer Überspannung seiner Darlegungsund Beweislast (…) dadurch geschützt [ist], dass die Gesellschaft die angebliche Pflichtverletzung im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast näher zu bezeichnen hat; das ist durch die Klägerin geschehen. Soweit zur Verteidigung des Beklagten erforderlich, hat die Gesellschaft ihm außerdem Einsicht in die maßgeblichen Unterlagen zu gewähren; seinen Einsichtsanspruch hat er aber nicht ausgeschöpft.“; ebenso Drescher, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers, 8. Aufl. 2019, Rz. 372. 52 So ausdrücklich BGH v. 1.3.2016 – VI ZR 34/15, NJW 2016, 2106 Rz. 48 f., der von einer im Rahmen der sekundären Darlegungslast „in prozessualer Hinsicht“ bestehenden „Obliegenheit“ spricht. 53 Habbe/Gieseler, NZG 2016, 454, 455; Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 231. 54 Zur Rechtsstellung der Gesellschaft im Bereich von Tatsachen, die dem Geschäftsleiter durch eigene zumutbare Aufklärungsanstrengungen bekannt werden können, siehe unter VI. 4. 55 Die Vorschrift lautet: „Tatsachen, die nicht ausdrücklich bestritten werden, sind als zugestanden anzusehen, wenn nicht die Absicht, sie bestreiten zu wollen, aus den übrigen Erklärungen der Partei hervorgeht.“ 56 Habbe/Gieseler, NZG 2016, 454, 455. 57 BGH v. 3.5.2016 – II ZR 311/14, NZG 2016, 783 Rz. 19. 58 Siehe BGH v. 11.4.2013 – I ZR 61/12, VersR 2014, 726 Rz. 31, wonach die einer Partei „obliegende Darlegungs- und Beweislast (…) jedoch dadurch gemildert werden [kann], dass [die andere Partei] angesichts des unterschiedlichen Informationsstands (…) nach Treu und Glauben gehalten ist, zu den näheren Umständen des Schadensfalls – soweit

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§ 138 Abs. 2 ZPO, wonach sich jede Partei „über die von dem Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären“ hat.59 Von ihrer prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit kann sich die Gesellschaft befreien, indem sie dem früheren Geschäftsleiter Einsicht in die zur Verteidigung notwendigen Unterlagen verschafft. Denn die sekundäre Darlegungslast besteht nach Treu und Glauben „nicht, soweit für die primär darlegungsbelastete Partei eine weitere Sachverhaltsaufklärung möglich und zumutbar ist“60 und eine solche zumutbare Möglichkeit besteht ab dem Zeitpunkt und in dem Umfang, in dem die Gesellschaft die Unterlagen, auf die sie ihren Haftpflichtanspruch stützt und alle weiteren verteidigungsrelevanten Unterlagen dem Geschäftsleiter zugänglich macht. Ob das Verhalten der Gesellschaft ihrer „sekundären Darlegungslast genügt, hat der Tatrichter im Einzelfall zu beurteilen. Dabei ist zu beachten, dass sich der Umfang der sekundären Darlegungslast einerseits nach der Intensität des Sachvortrags der beweisbelasteten Partei [hier: des Geschäftsleiters] richtet und er andererseits seine Grenze in der Zumutbarkeit der den Prozessgegner [hier: die Gesellschaft] treffenden Offenbarungspflicht findet.“61 Der Vollständigkeit halber: Die sekundäre Darlegungslast lässt die Beweislast unberührt,62 ändert also nichts daran, dass der frühere Geschäftsleiter – im Bestreitensfall – die Tatsachen beweisen muss,63 aus denen das Gericht die Überzeugung gewinnen soll, dass er seinerzeit sorgfaltsgemäß gehandelt hat, und also auch nichts daran, dass im Fall einer Nichterweislichkeit der umstrittenen Tatsachen (non liquet) das Gericht eine Pflichtverletzung anzunehmen hat.

V. Umfang der prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit Orientiert man sich nun einmal – was der defense counsel des in Anspruch genommenen früheren Geschäftsleiters in Ansehung seiner anwaltlichen Pflichten gewiss tun sollte64 – an der Vorgabe des BGH, dass der Sachverhaltsaufklärungsanspruch

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möglich und zumutbar – eingehend vorzutragen.“; ebenso BGH v. 13.6.2012 – I ZR 87/11, VersR 2013, 475 Rz. 17. BGH v. 25.5.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rz. 36; BGH v. 10.2.2015 – VI ZR 343/13, ZIP 2015, 790. BGH v. 3.5.2016 – II ZR 311/14, NZG 2016, 783 Rz. 19. BGH v. 3.5.2016 – II ZR 311/14, NZG 2016, 783 Rz. 20. BGH v. 25.5.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rz. 37; Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 231. Dazu, dass das Gericht ein Beweisangebot grundsätzlich nicht allein deshalb zurückweisen darf, weil es sich auf eine nur vermutete Tatsache bezieht, die das Gericht für nicht wahrscheinlich hält, siehe BGH v. 16.4.2015 – IX ZR 195/14, NJW-RR 2015, 829 Rz. 13 f.; Gehrlein, DStR 2016, 434, 440. Siehe BGH v. 17.3.2016 – IX ZR 142/14, NJOZ 2016, 1042 Rz. 9, wonach der Mandant vom Anwalt „die Kenntnis der einschlägigen Rechtsnormen erwarten [kann], bei deren Auslegung er sich grundsätzlich an der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu orientieren hat. Hinweise, Belehrungen und Empfehlungen sind in der Regel an der höchstrichterli-

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des Geschäftsleiters im Kern nicht auf materiellem Recht, also § 810 BGB oder der nachwirkenden Treuepflicht der Gesellschaft (§ 242 BGB) beruht, sondern einen rein prozessrechtlichen Hintergrund hat, nämlich Effekt einer durch eine sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft entstehenden prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit ist,65 gilt im Einzelnen Folgendes: 1. Entstehung der Obliegenheit In der Praxis geschieht es häufig, dass einem früheren Geschäftsleiter eine Haftung aufgrund eines Sachverhalts vorgeworfen wird, der so lange zurückliegt, dass er sich plausiblerweise66 nicht oder nicht im Detail erinnern kann oder der ihm nichts oder fast nichts sagt, weil der Vorgang bspw. in das Ressort eines Mitgeschäftsführers fiel oder weil das Thema seinerzeit so wenig Bedeutung zu haben schien, dass es zur selbständigen Erledigung an Mitarbeiter delegiert war. In derartigen Fällen, die sich aktuell außerhalb des zumutbaren Erinnerungsvermögens befinden oder die sich seinerzeit außerhalb des Wahrnehmungsbereichs abgespielt haben,67 ist es dem Geschäftsleiter von vornherein unmöglich, seinen Sachverhaltsaufklärungsanspruch hinsichtlich verteidigungsrelevanter Information, insb. einzusehender Unterlagen zu spezifizieren. Er weiß aktuell schlicht gar nicht, ob es überhaupt verteidigungsrelevante Unterlagen gibt und erst recht nicht, wer welches papierne oder elektronische Dokument wann mit welchem Inhalt verfasst oder auch nicht verfasst hat. In solchen Fällen obliegt es der Gesellschaft aufgrund ihrer sekundären Darlegungslast, dem Geschäftsleiter in Erfüllung ihrer prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit sämtliche verteidigungsrelevante Information zur Verfügung zu stellen,68 ohne dass der Geschäftsleiter mehr tun muss, als den Pflichtverletzungs-

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chen Rechtsprechung auszurichten (…).“ und BGH v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, NJW 2018, 2476 Rz. 17, wonach der Rechtsanwalt „die rechtlichen Grundlagen des Falls kennen [muss], insbesondere (…) die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung“. A.A. Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 242 („Die Grundsätze der sekundären Darlegungslast allein lösen die Problematik des Verlusts der Beweis- und Sachnähe ausgeschiedener Organmitglieder nicht.“) und Werner, GmbHR 2013, 68, 70, wonach das „Zivilprozessrecht (…) keine Ansprüche einer Prozesspartei gegen eine andere Prozesspartei auf Erteilung von Auskünften, Herausgabe von Unterlagen und ähnlichen Dingen [begründet]. Ein solches Recht kann sich vielmehr ausschließlich aus dem materiellen Recht ergeben.“ Für die Plausibilitätsbeurteilung kommt es auf die Umstände des Einzelfalls an, bspw. darauf, wie lange das streitgegenständliche Geschehen zurückliegt, ob es sich um einen Vorgang untergeordneter Bedeutung aus einer Fülle damals wichtigerer Vorgänge handelte, ob es um eine komplexe Angelegenheit ging, die zwar in ihren Grundzügen, nicht aber in für die rechtliche Beurteilung relevanten Details erinnerlich ist usw. Zu Fällen innerhalb des aktuell zumutbaren Erinnerungsvermögens oder des seinerzeitigen „Wahrnehmungsbereichs“ siehe VI.4. Ebenso BGH v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, NZG 2003, 81, 82 („Soweit zu seiner Verteidigung erforderlich, hat die Gesellschaft ihm Einsicht in die dafür maßgeblichen Unterlagen zu gewähren.“); OLG Köln v. 1.10.2019 – 18 U 34/18, NZG 2020, 110 Rz. 74; OLG Stuttgart v. 25.11.2009 – 20 U 5/09, AG 2010, 133, 134; OLG Koblenz v. 24.9.2007 – 12 U 1437/04, BeckRS 2008, 2728; OLG Frankfurt v. 25.9.1979 – 5 U 210/78, BeckRS 1979,

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vorwurf zu bestreiten und das Wenige vorzutragen, was er überhaupt dazu sagen kann. Er muss seinen Aufklärungsanspruch noch nicht einmal ausdrücklich geltend machen,69 indem er bspw. Unterlageneinsicht von der Gesellschaft verlangt, weil deren sekundäre Darlegungslast bereits durch die bloße Darlegung solcher Tatsachen entsteht, aus denen sich ergibt, dass der Geschäftsleiter (etwa mangels früherer Ressortzuständigkeit, wegen seinerzeitiger Delegation oder aufgrund heutiger plausibler Nichterinnerbarkeit) zum Sachverhalt nichts oder nicht viel sagen kann. 2. Gegenstand der Obliegenheit Die Gesellschaft handelt also auf eigenes prozessuales Risiko, wenn sie dem Geschäftsleiter verteidigungsrelevante Information vorenthält, obwohl aus dessen Vortrag erkennbar ist, dass er nicht darüber verfügt. Sanktionslos kann sie lediglich die Zurverfügungstellung solcher Unterlagen verweigern, die offenkundig keinerlei Zusammenhang70 mit dem Pflichtverletzungsvorwurf haben können, weil sie bspw. aus der Zeit vor dem streitgegenständlichen Geschehen stammen oder von ausländischen Unternehmensteilen, die in das Geschehen nicht involviert waren. Hiervon abgesehen muss sich der Geschäftsleiter nicht darauf verweisen lassen, dass er nur Anspruch auf Zurverfügungstellung solcher Information, insb. urkundlich verkörperter, habe, die er konkret bezeichnet71 und deren Inhalt und Verteidigungsrelevanz er skizzieren kann.72 Denn die sekundäre Darlegungslast begründet ihrem Zweck nach eine prozessuale Aufklärungsobliegenheit der Gesellschaft gerade für solche verteidigungs-

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01334 Rz. 22; Altmeppen, 10. Aufl. 2021, § 43 GmbHG Rz. 112; Bachmann in FS Thümmel, 2020, 27, 35; Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293; Fleischer, NZG 2010, 121, 122; Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 235; Freund, GmbHR 2009, 1185, 1187; Freund, NZG 2015, 1419, 1421; Grooterhorst, AG 2011, 389, 396; Lutter, ZIP 2007, 841, 846; Rieger in FS Peltzer, 2001, 339, 352; Ruchatz, AG 2015, 1, 4. Dazu, dass die Zurverfügungstellung in solchen Fällen nicht über § 810 BGB iVm. § 422 ZPO oder § 142 ZPO erreicht werden kann, siehe BGH v. 27.5.2014 – XI ZR 264/13, NJW 2014, 3312 Rz. 23 ff. A.A. Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293 (wonach „zumindest eine ungefähre Bestimmung der Unterlagen erforderlich“ sein soll). Ebenso auf den „Zusammenhang“ abstellend OLG Köln v. 1.10.2019 – 18 U 34/18, NZG 2020, 110 Rz. 74 („[…] kann der Bekl. […] Einsicht in alle in diesem Zusammenhang stehenden Geschäftsunterlagen verlangen, um so seiner Darlegungspflicht nachzukommen […].“); ferner Freund, NZG 2015, 1419, 1421 und Grooterhorst, AG 2011, 389, 396; geringfügig anders Ruchatz, AG 2015, 1, 3, wonach nur die in Zusammenhang stehenden Unterlagen zugänglich zu machen sind, die bis zum Ausscheiden des Geschäftsleiters entstanden waren; weitergehend demgegenüber Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 34, wonach diese Informationen „mindestens“ zur Verfügung gestellt werden müssen. So aber Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.27 („Der Beklagte muss die begehrten Geschäftsunterlagen im Einzelnen bezeichnen.“). Im Ergebnis ebenso Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293; Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 235; in der Praxis wird bisweilen eine Darlegung der Verteidigungsrelevanz verlangt, wie Ruchatz, AG 2015, 1, 3, schildert; Korch/Chatard, NZG 2020, 893, 894, beschreiben das sogar als Regelfall; ausdrücklich verlangen dergleichen Krieger in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 717, 726, und Werner, GmbHR 2013, 68, 71.

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relevante Information, die der in Anspruch genommene Geschäftsleiter nicht präzise benennen oder beschreiben kann oder von deren Existenz er überhaupt nichts weiß. Ist aus Sicht der Gesellschaft zweifelhaft, ob eine Information Verteidigungsrelevanz hat, liegt es hiernach in ihrem prozessualen Eigeninteresse, sie dem Geschäftsleiter zur Kenntnisnahme anzubieten. Erweist sich die Information nämlich als verteidigungsrelevant, ohne dass die Zurverfügungstellung zumindest angeboten wurde, steht eine Verletzung der Prozessobliegenheit fest.73 Dementsprechend ist es Sache der Gesellschaft, im Streitfall darzulegen und zu beweisen, dass eine existierende, aber dennoch nicht zugänglich gemachte Information keine Verteidigungsrelevanz hat.74 Auf den „Aggregatzustand“ einer Information kommt es für die Frage, ob die Gesellschaft dem Geschäftsleiter die Zurverfügungstellung schuldet, nicht an. Es ist also völlig gleichgültig, ob eine Information in einer Urkunde, auf einem Tonband, elektronisch oder sonst wie verkörpert ist. Jedenfalls besteht kein Grund dafür, die prozessuale Verwertbarkeit einer Information von der Art ihrer Speicherung abhängig zu machen. Gerade angesichts des Umstands, dass der elektronische Schrift- und Geschäftsverkehr nebst elektronischer Aufbewahrung den papiernen (urkundlichen) Schrift- und Geschäftsverkehr mittlerweile weitgehend abgelöst hat, erscheint das selbstverständlich.75 Deshalb hat die Gesellschaft dem Geschäftsleiter bspw. auch (möglicherweise) verteidigungsrelevanten Emailverkehr, Email-Postfächer,76 Powerpoint-Präsentationen, die elektronische Buchführung, elektronische Lagerhaltungsoder andere Verwaltungssysteme, elektronische Verzeichnisse (bspw. den seinerzeitigen Outlook-Kalender des Geschäftsleiters, Aufstellungen über dessen Transaktionen mit einer Firmenkreditkarte, Verzeichnisse über besuchte Webseiten oder Internetsuchen nebst Suchbegriffen, angelegte elektronische Ordner nebst Inhalt usw.) sowie auf dem ehemaligen Firmenhandy oder Laptop des Geschäftsleiters gespeicherte Daten zugänglich zu machen.77 Dass die Gesellschaft hierbei eventuelle Datenschutzrechte Dritter beachten muss,78 ist selbstverständlich; allerdings obliegt es ihr, im Einzelfall darzutun, aus welchem Rechtsgrund sie an der Zurverfügungstellung einer Information gehindert ist und warum keine (zumutbare) Möglichkeit besteht, die Einwilligung des geschützten Dritten einzuholen oder eine erklärte Nichteinwilligung rechtlich zu überwinden. Die prozessuale Aufklärungsobliegenheit erstreckt sich auch auf (angeblich) geheime Information, weshalb die Gesellschaft das Überlassen einer Information nicht davon abhängig machen kann, dass der Geschäftsleiter eine Verschwiegenheitserklärung abgibt.79 Insoweit kann sich die Gesellschaft auch nicht auf Unzumutbarkeit berufen, weil selbst der ausgeschiedene Geschäftsleiter weiterhin straf- und zivilrechtlich zum 73 Im Ergebnis ebenso (unter dem Aspekt einer Einschätzungsprärogative des Geschäftsleiters) Ruchatz, AG 2015, 1, 2. 74 Ebenso Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 236 (in Anlehnung an § 166 Abs. 1 HGB) und Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 35. 75 Ebenso Grooterhorst, AG 2011, 389, 397. 76 Grooterhorst, AG 2011, 389, 397; Ruchatz, AG 2015, 1, 5. 77 Ebenso Grooterhorst, AG 2011, 389, 397 („EDV-gespeicherte Daten“). 78 Hierzu siehe Ruchatz, AG 2015, 1, 5. 79 Im Ergebnis ebenso Groh, ZIP 2021, 724, 728; Ruchatz, AG 2015, 1, 5.

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Geheimnisschutz verpflichtet ist (§ 93 Abs. 1 S. 3 AktG).80 Geht es um Geheimnisse Dritter, gilt das zu Daten Dritter Gesagte entsprechend. Zu offenbaren ist unter Umständen sogar eine Information, die der Gesellschaft nicht mehr oder noch nicht vorliegt. Eine Aufklärungsobliegenheit umfasst nämlich typischerweise die Pflicht zur Nachforschung nach Tatsachen, die momentan zwar noch nicht bekannt sind,81 durch (zumutbare) Anstrengung aber möglicherweise in Erfahrung gebracht werden können. Wäre es anders, könnte sich der Verpflichtete – hier: die Gesellschaft – zu leicht entpflichten, indem sie einfach behauptet, eine zu verschaffende Information derzeit nicht zu besitzen. Das Bestehen einer Nachforschungspflicht im Rahmen der sekundären Darlegungslast ist vom BGH anerkannt.82 Die Gesellschaft schuldet also zumutbare Suchanstrengungen, deren Intensität von den Umständen des Einzelfalls abhängt, insb. von der Verteidigungsrelevanz der fehlenden Information. Allerdings schuldet sie nicht bloß das Suchen, sondern das Verschaffen. Deshalb trägt sie das Risiko, wenn die Suche bspw. ergibt, dass ein früher vorhandenes verteidigungsrelevantes Dokument nicht mehr auffindbar ist;83 insoweit bleibt ihre prozessuale Aufklärungsobliegenheit unerfüllt.84 Beruht die Unauffindbarkeit auf einem Verschulden des früheren Geschäftsleiters, bspw. darauf, dass er nicht für eine sorgfaltsgemäße Buchführung gesorgt hat, kann er sich gem. § 242 BGB (insoweit) aber natürlich nicht auf die sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft berufen.

80 Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 34 f.; Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 240; Ruchatz, AG 2015, 1, 5; Werner, GmbHR 2013, 68, 72. 81 Insoweit beschreibt Ziemons in Oppenländer/Trölitzsch, Praxishandbuch der GmbH-Geschäftsführung, 3. Aufl. 2020, § 21 Rz. 13, die Praxis dahin, „nur allzu oft [seien] Unterlagen, mit denen der Geschäftsführer den Entlastungsbeweis führen könnte, nicht mehr „auffindbar“.“ 82 BGH v. 30.7.2020 – VI ZR 367/19, NJW 2020, 2804 Rz. 16; BGH v. 25.5.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rz. 36; BGH v. 28.6.2016 – VI ZR 559/14, NJW 2016, 3244 Rz. 18; BGH v. 1.3.2016 – VI ZR 34/15, NJW 2016, 2106 Rz. 48; BGH v. 8.1.2014 – I ZR 169/12, NJW 2014, 2360 Rz. 18; BGH v. 11.4.2013 – I ZR 61/12, VersR 2014, 726 Rz. 31. 83 Im Ergebnis ebenso: Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 237; a.A. (nämlich unter Verweis auf die Regeln der Beweisvereitelung differenzierend) Grooterhorst, AG 2011, 389, 391; wiederum a.A. Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 56 (mit dem Vorschlag einer „dynamischen Handhabung der Beweislastregel“ und dem Ergebnis, dass namentlich eine Unterlagenvernichtung nach Ablauf „handels- und steuerrechtl. Aufbewahrungsfristen (§ 257 IV HGB, § 147 III AO) (…) nicht zu Lasten des Vorstandsmitglieds gehen (RegBegr. RestrukturierungsG BT-Drs. 17/3024, 81)“ soll. Zur Problematik einer einerseits unter Umständen recht langen Verjährung der Innenhaftung eines Geschäftsleiters und andererseits möglicherweise kürzerer handels- oder steuerrechtlicher Aufbewahrungsfristen siehe Meckbach, NZG 2015, 580, 583. 84 A.A. (auf der Basis der Annahme einer nachwirkenden Treuepflicht der Gesellschaft zur Verschaffung von Unterlageneinsicht) Werner, GmbHR 2013, 68, 73, wonach eine Schadenersatzhaftung der Gesellschaft gem. § 280 Abs. 1 BGB bestehen soll und der Schaden „in der gleichen Höhe wie der gegen den Geschäftsführer erhobene Schadensersatzanspruch“ zu beziffern sei.

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Die prozessuale Aufklärungsobliegenheit der Gesellschaft im Managerprozess

Wenn ihre Prozessobliegenheit die Gesellschaft sogar zur Nachforschung verpflichtet, obliegt es ihr erst recht, dem Geschäftsleiter diejenige verteidigungsrelevante Information zur Verfügung zu stellen, die sich im Besitz Dritter befindet, bspw. eines Anwalts der Gesellschaft oder der Polizei oder Staatsanwaltschaft. Der Anwalt ist anzuweisen, die in seinem Besitz befindlichen verteidigungsrelevanten Unterlagen zugänglich zu machen. Hinsichtlich beschlagnahmter Unterlagen hat die Gesellschaft dem Geschäftsleiter „in die beim Ermittlungsvorgang befindlichen (…) Unterlagen Einsicht gewähren zu lassen, da dadurch der Sicherungszweck der Beschlagnahme nicht gefährdet wird.“85 Befindet sich eine verteidigungsrelevante Information nicht im Besitz, sondern im Wissen eines Dritten, schuldet die Gesellschaft – im Rahmen des Zumutbaren – auch insoweit Informationsverschaffung. Das gilt bspw. für relevantes Wissen von gegenwärtigen oder ehemaligen Mitarbeitern der Gesellschaft. Insoweit bestehende Auskunftsansprüche86 muss die Gesellschaft geltend machen,87 will sie ihrer sekundären Darlegungslast genügen.88 Zwecks Erfüllung ihrer Obliegenheit kann (und muss89) sie dem früheren Geschäftsleiter Gesprächsprotokolle oder schriftliche Stellungnahmen der Wissensträger zur Verfügung stellen.90 Einen eigenen Befragungsanspruch hat der Geschäftsleiter nicht,91 dafür ist kein Rechtsgrund ersichtlich,92 ihm bleibt aber die Möglichkeit, den Wissensträger als Zeugen zu benennen. Lässt die Gesellschaft die Möglichkeit, Auskunft einzuholen, ungenutzt verstreichen und verflüchtigt sich infolgedessen das verteidigungsrelevante Wissen des Betroffenen (bspw. durch Erinnerungsverlust oder Tod), gilt das Gleiche wie im Fall nicht mehr auffindbarer verteidigungsrelevanter Unterlagen: Insoweit bleibt die Prozessobliegenheit der Gesellschaft unerfüllt.

85 LG Göttingen v. 16.11.1978 – 2 O 152/78, NJW 1979, 601, 602. 86 Zu Inhalt und Umfang des Rechts des Arbeitgebers, seine Arbeitnehmer zu befragen, siehe Herrmann/Zeidler, NZA 2017, 1499, 1501; Schrader/Thoms/Mahler, NZA 2018, 965; Mengel, NZA 2017, 1494, 1498; zur Auskunftspflicht des Arbeitnehmers bei Gefahr einer (strafrechtlichen) Selbstbelastung siehe Mengel, NZA 2017, 1494, 1498 f.; Schrader/ Thoms/Mahler, NZA 2018, 965, 968 ff. 87 Eine vergleichbare Obliegenheit der Gesellschaft besteht in deckungsrechtlicher Hinsicht gegenüber dem D&O-Versicherer gem. § 31 Abs. 1 VVG (BGH v. 22.10.2014 – IV ZR 243/13, r+s 2015, 600 Rz. 14 ff.). 88 BGH v. 22.4.2016 – V ZR 256/14, NJW-RR 2016, 1251 Rz. 19; OLG Koblenz v. 12.6.2019 – 5 U 1318/18, NJW 2019, 2237 Rz. 55 f. 89 A.A. Ruchatz, AG 2015, 1, 3. 90 Ebenso Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 34 f. und 37; a.A. Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293. 91 A.A. Rieger in FS Peltzer, 2001, 339, 352; wiederum a.A. Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 37 (nur ausnahmsweise, „wenn das Organmitglied plausibel machen kann, dass und warum es aus einer neuerlichen Befragung abweichende Erkenntnisse gewinnen will“). 92 Ebenso Werner, GmbHR 2013, 68, 72.

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3. Weitere Erfüllungsmodalitäten Grundsätzlich hat die Gesellschaft dem früheren Geschäftsleiter Originaldokumente zur Verfügung zu stellen. Denn eine geschuldete Information ist stets grundsätzlich im Original zu übermitteln.93 Eine Ausnahme kommt in Betracht, wenn der Geschäftsleiter zustimmt, sich also mit papiernen oder elektronischen Kopien zufrieden gibt, oder – unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB – wenn die Zurverfügungstellung von Originalen nicht mehr möglich ist. Rechtsmissbräuchlich in diesem Sinne kann das Verlangen nach Originalen bspw. sein, wenn die Gesellschaft die Originale gescannt und (nach Ablauf evtl. Aufbewahrungsfristen) vernichtet hat und kein Anhaltspunkt dafür besteht, dass irgendein gescanntes Dokument vom Original abweicht. Da die sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft es dem früheren Geschäftsleiter ermöglichen soll, sich effektiv zu verteidigen, ist dieser berechtigt, von den ihm zur Einsicht angebotenen Unterlagen (papierne oder elektronische) Kopien anzufertigen.94 Zu diesem Zweck kann er von der Gesellschaft die zeitweise Übersendung der (nachvollziehbar geordneten, § 242 BGB95) Originalakten verlangen.96 Will die Gesellschaft das vermeiden, muss sie papierne oder elektronische Kopien übersenden.97 Jedenfalls muss sich der Geschäftsleiter nicht damit „abspeisen“ lassen, dass ihm nur einmalig nach Terminierung Einsicht in eine Fülle von Aktenordnern in einem „Datenraum“ ohne umfassende Kopiermöglichkeit angeboten wird.98 Gleiches gilt für befristet in 93 Ebenso (unter Bezug auf § 809 BGB) Habersack in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 810 BGB Rz. 13. 94 Ebenso Habersack in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 810 BGB Rz. 13 (zu § 810 BGB); weitergehend Grooterhorst, AG 2011, 389, 397, wonach jedenfalls dann, „wenn dem ehemaligen Vorstandsmitglied vor Ort kein Kopiergerät oder Scanner zur Verfügung gestellt werden kann“ ein „Verlangen nach Herstellung von Kopien durch die Gesellschaft (…) berechtigt“ sei; noch weitergehend Werner, GmbHR 2013, 68, 72, wonach „bei umfangreicheren Dokumenten (…) der ehemalige Geschäftsführer auch Kopien verlangen“ dürfe. 95 Ebenso Ruchatz, AG 2015, 1, 3. 96 Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1294; a.A. Werner, GmbHR 2013, 68, 72 (nur Anspruch auf Übersendung von Kopien). Zum Anspruch auf vorübergehende Überlassung von Unterlagen (statt nur auf Einsicht in den Geschäftsräumen der Gegenpartei) zwecks sachgerechter Vorbereitung eigener Meinungsbildung siehe auch BAG NZA 1985, 432; zur Entkräftung typischer Einwendungen gegen die Aushändigung von Originalen (bspw. Verlust-, Veränderungs- und Beschädigungsgefahr, Vertraulichkeit etc.) siehe OLG München v. 19.4.2001 – 1 U 6107/00, NJW 2001, 2806, 2807. 97 Ähnlich OLG Köln v. 11.11.2009 – 5 U 77/09, VersR 2010, 1504, 1506 (zur Überlassung von Kopien statt originaler Röntgenbilder an einen Patienten); Groh, ZIP 2021, 724, 729 f. 98 Siehe auch § 811 Abs. 1 S. 2 BGB, wonach die Vorlegung einer vorzulegenden Sache an einem anderen Ort als an dem, an dem sie sich befindet, verlangt werden kann, „wenn ein wichtiger Grund vorliegt“; nach OLG Köln v. 11.11.2009 – 5 U 77/09, VersR 2010, 1504, 1506, verkörpert die Vorschrift einen über den Anwendungsbereich der §§ 810, 811 BGB hinausgehenden Rechtsgedanken; deshalb könne generell ein wichtiger Grund zur Überlassung zumindest von Kopien in der „eingehenden Begutachtung (…) zur

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einem elektronischen Datenraum zur Verfügung gestellte Unterlagen, die nicht heruntergeladen werden können.99 Denn bei größeren Informationsmengen ermöglicht eine einmalige Durchsicht keine effektive Verteidigung,100 weil die Verteidigungsrelevanz einzelner Informationen sich im Prozessverlauf – je nach Vortrag der Gegenseite und Einschätzung des Gerichts zum Streitstoff – ändern kann.101 Auch insoweit ist angeblich entgegenstehender Geheimnisschutz wegen der nachwirkenden Verschwiegenheitspflicht des Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1 S. 3 AktG) kein Verweigerungsargument. Ebenfalls zur Ermöglichung effektiver Verteidigung muss die Gesellschaft es dem früheren Geschäftsleiter gestatten, dass er sich anwaltlich (oder durch einen anderen zur Verschwiegenheit verpflichteten Berufsträger, etwa einen Steuerberater) bei der Informationssichtung und -auswertung begleiten oder vertreten lässt.102 Wäre der Geschäftsleiter auf sich allein gestellt, liefe die prozessuale Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit der Gesellschaft ins Leere. Ein (steuer)rechtlich Unkundiger kann die Verteidigungsrelevanz einer Information nämlich kaum beurteilen, weshalb ein

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Überprüfung einer möglichen Pflichtverletzung (…) nebst Abgleich mit den übrigen [Unterlagen]“ bestehen; ebenso Habersack in: MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 811 BGB Rz. 3 Fn. 7. Ruchatz, AG 2015, 1, 4, schildert dies als übliche Praxis und ergänzt, dass „die Daten später über einen Datenträger zugänglich gemacht [werden]; dies hat für die Gesellschaft den Vorteil, dass sie einen Überblick über die Daten erlangt, die der Betroffene für relevant hält.“ Ebenso Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1294; ähnlich OLG Köln v. 21.9.1995 – 18 W 33/95, NJW-RR 1996, 382 („Ein Anspruch (…) auf Einsicht an anderen Orten kommt, wie sich aus dem Rechtsgedanken des § 811 I 2 BGB ergibt, insbesondere dann in Betracht, wenn ein wichtiger Grund dafür vorliegt. So verhält es sich hier. Die vorzulegenden Unterlagen sind umfangreich. Sie müssen gesichtet, aufgelistet, mit anderen verglichen und auch kopiert werden können. Das alles ist in den Geschäftsräumen des Schuldners nicht in hinreichendem Maße möglich. Auf der anderen Seite ist es dem Schuldner zumutbar, die Belege vorübergehend aus der Hand zu geben. Eine Notwendigkeit, sie jederzeit zur Verfügung zu haben, ist nicht ersichtlich (…). Ebensowenig besteht ein Anhalt dafür, daß der Gläubiger die ihm ausgehändigten Urkunden nicht wieder ordnungsgemäß zurückgeben würde. Die zwischen den Parteien über Abrechnungsfragen bestehenden Differenzen reichen dafür nicht aus. Zudem hat der Schuldner auch die Möglichkeit, die Unterlagen lediglich den Verfahrensbevollmächtigten des Gläubigers zu treuen Händen auszuhändigen, womit sich der Gläubiger ausdrücklich einverstanden erklärt hat.“). Ebenso Freund, NZG 2015, 1419, 1421 und Werner, GmbHR 2013, 68, 72; siehe auch OLG München v. 19.4.2001 – 1 U 6107/00, NJW 2001, 2806, 2807, zur Erstellung eines medizinischen Gutachtens („Es wäre aber auch einem vom Kl. beauftragten medizinischen Privatsachverständigen nicht zumutbar, die 82 Aufnahmen in den Räumen der Klinik zu begutachten, zumal zu erwarten ist, dass die Aufnahmen im Rahmen einer Gutachtenerstellung immer wieder betrachtet und verglichen werden müssten.“). Ebenso Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 240 (in Anlehnung an § 166 Abs. 1 HGB); Grooterhorst, AG 2011, 389, 397; Rieger in FS Peltzer, 2001, S. 339, 352; Ruchatz, AG 2015, 1, 6; Werner, GmbHR 2013, 68, 72.

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unkundiger Geschäftsleiter verteidigungsrelevante Aspekte einer Information oft entweder nicht erkennen oder den Verteidigungswert falsch gewichten wird.

VI. Grenzen der prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit Wenngleich die sekundäre Darlegungslast die Gesellschaft zu sehr weitreichender Sachverhaltsaufklärung verpflichtet, ist die prozessuale Aufklärungsobliegenheit doch nicht grenzenlos. Wie bereits gesagt, führt sie auch nicht zu einer Umkehr der Beweislast103 und ebenso wenig zu einer über die prozessuale Wahrheitspflicht und Erklärungslast (§ 138 Abs. 1 und 2 ZPO) hinausgehenden Verpflichtung der Gesellschaft, dem Geschäftsleiter alle für seinen Prozesserfolg benötigten Informationen zu verschaffen.104 Dies bedeutet insbesondere viererlei: 1. Keine Aufklärungsobliegenheit bei Unzumutbarkeit Unzumutbaren Aufklärungsaufwand kann die Gesellschaft ohne Verletzung ihrer Prozessobliegenheit verweigern.105 Denkbar ist bspw., dass der frühere Geschäftsleiter die Abwehrstrategie verfolgt, Information in schikanösem Umfang anzufordern, um die Gesellschaft zu einem Vergleich zu bewegen106 oder dass er völlig unsubstantiiert die angebliche Existenz weiterer verteidigungsrelevanter Unterlagen im Besitz der Gesellschaft behauptet.107 Denkbar ist ferner, dass ein als Wissensträger in Betracht 103 Siehe IV. 104 So ausdrücklich BGH v. 25.5.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rz. 37 und BGH v. 8.1.2014 – I ZR 169/12, NJW 2014, 2360 Rz. 18; hierzu weist Stadler in Musielak/Voit, 17. Aufl. 2020, § 138 ZPO Rz. 11, zu Recht darauf hin, dass angesichts der Grundsätze der sekundären Darlegungslast (und derjenigen der Beweisvereitelung) „die oft anzutreffende Behauptung, keine Partei müsse dem Gegner das Material für dessen Prozesssieg liefern, (…) in ihrer Pauschalität (…) nicht richtig“ ist. 105 Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.2; ähnlich Werner, GmbHR 2013, 68, 71, wonach im Hinblick auf den der Gesellschaft entstehenden Aufwand „der Informationsanspruch des ausgeschiedenen Geschäftsführers (…) von vornherein nur innerhalb bestimmter Grenzen“ besteht; so auch Groh, ZIP 2021, 724, 728. 106 Zu „exzessiven“ Auskunftsverlangen unter dem Gesichtspunkt des datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs aus Art. 15 Abs. 3 S. 1 DSGVO siehe Böhm/Brams, NZA-RR 2020, 449, 451 f. und Korch/Chatard, NZG 2020, 893, 897. 107 Zu einem solchen Fall siehe OLG Koblenz v. 24.9.2007 – 12 U 1437/04, BeckRS 2008, 2728 Rz. 102 („Der Beklagte hat nicht ausreichend dargelegt, dass ihm keine Pflichtverletzung zur Last fällt. Er kann dagegen nicht erfolgreich einwenden, dass die Klägerin im Prozess nicht sämtliche verfügbaren Unterlagen vorgelegt habe und er dadurch, dass er im Jahre 2001 aus deren Diensten ausgeschieden sei, in Beweisnot gerate. Einerseits sind zentrale Sachverhaltsteile unstreitig und andererseits hat die Klägerin tatsächlich eine große Vielzahl relevanter Unterlagen vorgelegt. Die Existenz und Relevanz weiterer Unterlagen ist vor dem Hintergrund der näheren Erläuterung der Pflichtverletzungen des Beklagten durch die Klägerin nicht ausreichend dargetan, zumal dieser von einem falschen Beurteilungsmaßstab für seine Pflichten und für deren Darlegung im Prozess

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kommender ehemaliger Mitarbeiter, trotz frühzeitiger Bemühungen der Gesellschaft, ihn zu erreichen, nicht mehr greifbar ist, weil er zwischenzeitlich ausgewandert ist und sich seine Spur im Ausland verliert.108 Allerdings ist die Zumutbarkeit stets eine Frage der individuellen Umstände des konkreten Einzelfalls, so dass abstrakt pauschalierende Wertungen sich verbieten. 2. Keine Aufklärungsobliegenheit bzgl. Tatsachen im Wahrnehmungsbereich des Geschäftsleiters Die sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft ändert nichts daran, dass primär der frühere Geschäftsleiter dafür zuständig ist, die Tatsachen darzulegen, die sich in seinem „Wahrnehmungsbereich“ ereignet haben und an die er sich bei zumutbarer Anstrengung erinnern können muss. Hinsichtlich des eigenen zumutbaren „Wahrnehmungsbereichs“ bleibt es also bei der alleinigen Darlegungslast des Geschäftsleiters, so dass (insoweit) keine sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft entsteht.109 Hat der Geschäftsleiter bspw. vor nicht allzu langer Zeit110 an einer Gesellschafterversammlung teilgenommen, die ein für die Gesellschaft wichtiges Thema zum Gegenstand hatte, obliegt es zunächst ihm, Vorbereitung, Ablauf und Inhalt der Versammlung im Prozess substantiiert darzutun, wenn er meint, dass die Versammlung verteidigungsrelevant gewesen sei. Ein Protokoll der Versammlung muss die Gesellschaft dem Geschäftsleiter aufgrund ihrer prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit folglich erst zugänglich machen, wenn dieser das ihm zumutbar Erinnerbare geschildert hat und dann noch verteidigungsrelevante Details streitig sind, an die ein Erinnern nicht ohne weiteres zu erwarten ist. Soweit der Geschäftsleiter zu Tatsachen aus seinem Wahrnehmungsbereich trotz Zumutbarkeit nicht oder nicht substantiiert vorträgt, trifft die Gesellschaft hingegen keine sekundäre Darlegungslast und damit auch keine Aufklärungsobliegenheit, so dass sie „einfach“ bestreiten darf.

ausgeht. Schließlich stehen vorwiegend Unterlassungen des Beklagten in Rede, die sich aus den Unterlagen der Klägerin weder beweisen noch widerlegen lassen.“). 108 Ähnlich Stadler in Musielak/Voit, 17. Aufl. 2020, § 138 ZPO Rz. 10a Fn. 82, wonach „die Unerreichbarkeit eines früheren Mitarbeiters auch für die sekundärbelastete Partei zur Unzumutbarkeit weiterer Aufklärungsbeiträge (zB prozessuales Vorgehen gegen den früheren Mitarbeiter) führen“ könne. 109 BGH v. 3.5.2016 – II ZR 311/14, GmbHR 2016, 806 Rz. 19; BGH v. 7.12.1998 – II ZR 266/97, NJW 1999, 579, 580; Born in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 14 Rz. 14.2. 110 Die Länge dieses Zeitraums ist eine Frage der Zumutbarkeit des Erinnerns des primär darlegungspflichtigen Geschäftsleiters. Insoweit gilt das soeben zur Zumutbarkeit Gesagte: Die Bewertung ist stets eine Frage der individuellen Umstände des konkreten Einzelfalls, so dass abstrakt pauschalierende Wertungen sich verbieten.

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3. Keine Aufklärungsobliegenheit für Tatsachen, hinsichtlich derer die Gesellschaft beweisbelastet ist Da die sekundäre Darlegungslast der Gesellschaft an die primäre Darlegungs- und damit an die Beweislast des früheren Geschäftsleiters anknüpft, nämlich insbesondere an dessen Beweislast für die Pflichtgemäßheit seines vergangenen Tuns oder Unterlassens (§ 93 Abs. 2 S. 2 AktG),111 erstreckt sie sich nicht auf haftungsbegründende Tatsachen, für die die Gesellschaft beweisbelastet ist.112 Das betrifft namentlich den Schaden und die Kausalität der Pflichtverletzung für den Schaden,113 aber bspw. auch die Frage, ob und wie lange der in Anspruch Genommene überhaupt Geschäftsleiter, ggf. auch nur faktischer,114 war. Anderes gilt für doppelt relevante Information, also solche, die sowohl über von der Gesellschaft wie vom Geschäftsleiter zu beweisende Haftungsmerkmale Aussagen trifft. Derartige Information fällt ohne weiteres unter die Aufklärungsobliegenheit der Gesellschaft. Gleiches gilt für die Schadensberechnung, soweit der Geschäftsleiter sich auf Vorteilsausgleichung beruft.115 Denn insoweit ist wiederum er beweis- und damit primär darlegungsbelastet, woraus sich für die Gesellschaft eine sekundäre Darlegungslast und damit ihre prozessuale Aufklärungsobliegenheit ergibt. 4. Keine Obliegenheit zum Hinweis auf verteidigungsrelevante Information Erlangt die Gesellschaft im Zuge der Klagevorbereitung oder im Laufe des Haftungsprozesses eine Information, die den früheren Geschäftsleiter möglicherweise enthaftet, ist sie aufgrund ihrer prozessualen Aufklärungsobliegenheit zwar verpflichtet, ihm diese zugänglich zu machen (soweit er die Information nicht hat und sich auch nicht mit zumutbarer Anstrengung verschaffen kann). Sie ist jedoch nicht verpflichtet, ihn auf die Verteidigungsrelevanz der Information oder auch nur auf diese selbst besonders hinzuweisen.116 Deshalb obliegt es ihr nicht, dem Geschäftsleiter ein even111 Siehe IV. 112 Werner, GmbHR 2013, 68, 71; a.A. Bachmann in FS Thümmel, 2020, S. 27, 36 (mit der Begründung, es komme „hier der Umstand zum Tragen, dass zwischen Gesellschaft und Organ eine Treuebindung besteht, die es gestattet, der Gesellschaft eine größere Beibringungslast aufzuerlegen, als man sie den Parteien eines beliebigen Austauschverhältnisses zumuten würde. Im Ergebnis wird man dem ausgeschiedenen Organmitglied daher eine umfangreichere Einsichtnahme gestatten, als es die derzeit h.M. zulässt. Eingesehen werden dürfen danach grundsätzlich auch Unterlagen zu Punkten, für welche nicht das Organmitglied, sondern die Gesellschaft beweisbelastet ist.“); ähnlich Ruchatz, AG 2015, 1, 3. 113 Werner, GmbHR 2013, 68, 71. 114 Zur (auch strafrechtlichen) Haftung des faktischen Geschäftsleiters siehe BGH v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, NJW 2002, 1803; BGH v. 21.3.1988 – II ZR 194/87, GmbHR 1988, 299, 300; OLG München v. 17.7.2019 – 7 U 2463/18, NJW-RR 2019, 1326 Rz. 53 ff.; OLG München v. 23.1.2019 – 7 U 2822/17, BeckRS 2019, 552 Rz. 26 ff.; LG Hannover v. 8.2.2016 – 1 O 169/13, BeckRS 2016, 07417; Fleischer, GmbHR 2011, 337, 345; Strohn, DB 2011, 158, 165. 115 Ebenso Werner, GmbHR 2013, 68, 71. 116 Meckbach, NZG 2015, 580, 583.

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tuell verfasstes Rechtsgutachten zu überlassen, in dem die Gesellschaft oder ihr Anwalt die Sach- und Rechtslage darstellt und würdigt.117 Ein Rechtsgutachten zählt Information nämlich gerade nicht wertungsfrei auf, sondern weist sie schon durch ihre bloße Erwähnung als rechtlich relevant aus. Darüber hinaus verbindet ein Gutachten die begutachtete Information mit bestimmten rechtlichen Wertungen, deren Offenbarung die Gesellschaft aufgrund ihrer sekundären Darlegungslast schon deshalb nicht schuldet, weil diese nur für Tatsachen und nicht für rechtliche Schlussfolgerungen besteht. Anders verhält es sich mit reinen Tatsachengutachten im Sinne von Sachverständigengutachten bspw. zu einem Schadenshergang; solche Gutachten sind dem Geschäftsleiter aufgrund der prozessualen Aufklärungsobliegenheit der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen.118

VII. Kosten der Erfüllung der prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit In der Praxis ist es bisweilen so, dass die Gesellschaft das Zusammensuchen und Zurverfügungstellen verteidigungsrelevanter Information von einer vorherigen Kostenübernahmeerklärung des früheren Geschäftsleiters abhängig machen will.119 Ein dahingehender Anspruch besteht – abgesehen von eventuellen speziellen (damit zugleich aber auch begrenzten) – materiell-rechtlichen Ansprüchen wie bspw. § 811 117 Im Ergebnis ebenso Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1292 (ohne Begründung); Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 237 (mit der Begründung, der Sachverhaltsaufklärungsanspruch des Geschäftsleiters erstrecke sich nur „auf die Unterlagen, die bei Ausscheiden des Organmitglieds in der Gesellschaft vorhanden gewesen sind“); ebenso Ruchatz, AG 2015, 1, 3 und Werner, GmbHR 2013, 68, 71 f. (dieser unter Berufung auf den „Grundsatz, dass keine Partei gehalten ist, dem Gegner das Material für dessen Prozesserfolg selbst zu liefern“); Groh, ZIP 2021, 724, 729, argumentiert, dass Gutachten nicht eingesehen werden können, weil der Geschäftsleiter auch vor seinem Ausscheiden keinen Anspruch darauf gehabt hätte („Sie waren zu keinem Zeitpunkt für seine Augen bestimmt.“). 118 Im Ergebnis ebenso OLG Karlsruhe v. 26.4.2005 – 12 W 32/05, r+s 2005, 385; LG Oldenburg v. 9.12.2011 – 13 O 1604/11, r+s 2012, 343 (jeweils zur Vorlage eines von einem Versicherer eingeholten Schadengutachtens an den Versicherungsnehmer). 119 Ruchatz, AG 2015, 1, 5, schildert die teilweise Praxis wie folgt: „Im Hinblick auf die Kosten wird mitunter versucht, den gesamten finanziellen Aufwand der Zusammenstellung und der Durchsetzung des Auskunftsanspruchs auf den Betroffenen abzuwälzen. In der Praxis kommen hierbei auch Fälle vor, in denen etwa ein Insolvenzverwalter von einem Vorstandsmitglied eine anteilige Kostenübernahme für die Aufbereitung der Unterlagen im Rahmen der Verwaltungstätigkeit fordert, dem Vorstandsmitglied mitgeteilt wird, dass er sich einen Kopierer unmittelbar selbst zur Einsichtnahme mitzubringen hat, oder gar eine Kostentragung des Vorstandsmitglieds für seine eigene Überwachung bei der Einsichtnahme verlangt wird.“ Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293, berichten (unter Bezug auf FAZ v. 9.3.2011, Nr. 57, S. 14), dass im Fall der „Schadensersatzklage des Insolvenzverwalters Görg gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Arcandor AG, Thomas Middelhoff, (…) der Insolvenzverwalter Görg [verlangt habe], dass die Durchsicht der Unterlagen nur unter Aufsicht erfolgen dürfe, für die er Euro 300 pro Stunde berechnen würde.“

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Abs. 2 BGB120 oder Art. 15 Abs. 3 S. 2 DSGVO121 – allerdings nicht.122 Jede Partei hat die Kosten, die ihr zur Erfüllung ihrer prozessualen Darlegungspflichten entstehen, grundsätzlich selbst zu tragen. Das gilt sowohl in kostenrechtlicher als auch in schadenersatzrechtlicher Hinsicht.123 Die Rechtsordnung grenze „aus Gründen der Interessenbewertung, aber auch der Praktikabilität, diesen Aufwand von anderen erstattungsfähigen Kosten der Rechtsverfolgung ab“ und weise „solche Mühewaltung einem Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich des Geschädigten zu, der außerhalb des Schutzzwecks der Haftung des Schädigers liegt.“124 Auf dieser wertenden Abgrenzung beruhe es, „dass § 91 ZPO solchen Aufwand nicht in den Katalog erstattungsfähiger Rechtsverfolgungskosten aufgenommen hat. Diese Regelung ist jedoch nicht auf die prozessuale Kostenerstattung beschränkt, sondern Ausdruck eines auch für das Schadensrecht geltenden Prinzips.“125 Eine Ausnahme von dem Grundsatz der Nichtregressierbarkeit interner Untersuchungskosten kommt lediglich für Personalkosten in Betracht, die wegen des Umfangs der notwendigen Aufklärung deutlich über Maß des üblicherweise von der Gesellschaft zu tragenden Personalaufwands hinausgehen. Ein derart ungewöhnlicher Aufwand ist anzunehmen, wenn über längere Zeit Mitarbeiter von ihrer eigentlichen Tätigkeit freigestellt oder sogar zusätzliche Mitarbeiter eingestellt werden müssen.126

VIII. Rechtsfolgen einer Nichterfüllung der prozessualen Sachverhaltsaufklärungsobliegenheit Zunächst ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass die Gesellschaft ihre Aufklärungsobliegenheit gegenüber dem in Anspruch genommenen früheren Geschäftsleiter auch dadurch erfüllen kann, dass sie die verteidigungsrelevante Informa-

120 Hierzu LG Göttingen v. 16.11.1978 – 2 O 152/78, NJW 1979, 601, 602. 121 Art. 15 Abs. 3 S. 1 und 2 DSGVO lauten: „Der Verantwortliche stellt eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung. Für alle weiteren Kopien, die die betroffene Person beantragt, kann der Verantwortliche ein angemessenes Entgelt auf der Grundlage der Verwaltungskosten verlangen.“ 122 Deilmann/Otte, BB 2011, 1291, 1293; Werner, GmbHR 2013, 68, 73; a.A. Ruchatz, AG 2015, 1, 4, wonach „an dem Maßstab der Treuepflichten zu messen“ sei, „inwieweit Belastungen des Auskunftsberechtigten zulässig sind“; allerdings erklärt Ruchatz wenig später (aaO.) selbst: „Vertretbar scheint es jedoch auch, mangels einer Rechtsgrundlage für die Kostentragung durch den Auskunftsberechtigten eine volle Kostentragung des Auskunftsverpflichteten anzunehmen.“ 123 BGH v. 31.5.1983 – VI ZR 241/79, NJW 1983, 2815, 2816; BGH v. 6.11.1979 – VI ZR 254/77, NJW 1980, 119; BGH v. 6.10.1976 – VIII ZR 66/75, NJW 1977, 35; BGH v. 9.3.1976 – VI ZR 98/75, NJW 1976, 1256, 1257 f.; BGH v. 28.2.1969 – II ZR 154/67, NJW 1969, 1109; OLG Frankfurt a.M. v. 30.9.2013 – 4 U 145/13, r+s 2014, 204; Armbrüster, Jus 2007, 508, 511. 124 BGH v. 6.11.1979 – VI ZR 254/77, NJW 1980, 119. 125 BGH v. 6.11.1979 – VI ZR 254/77, NJW 1980, 119. 126 BGH v. 31.5.1983 – VI ZR 241/79, NJW 1983, 2815, 2816; BGH v. 31.5.1976 – II ZR 133/74, NJW 1977, 35; OLG Frankfurt a.M. v. 30.9.2013 – 4 U 145/13, r+s 2014, 204.

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Die prozessuale Aufklärungsobliegenheit der Gesellschaft im Managerprozess

tion dessen D&O-Versicherer zur Verfügung stellt.127 Dieser ist nämlich aufgrund der versicherungsvertraglich vereinbarten Regulierungsvollmacht spätestens128 ab Eintritt des Versicherungsfalls, also ab Erhebung des Haftpflichtanspruchs gegen den Geschäftsleiter, dessen Vertreter.129 Im Übrigen ergibt sich die Rechtsfolge einer Verletzung der Prozessobliegenheit daraus, dass die Gesellschaft ihrer sekundären Darlegungslast nicht nachkommt; derartige Nachlässigkeit sanktioniert die Rechtsprechung seit jeher damit, dass die Darlegung der Gegenpartei – hier also des Geschäftsleiters (insb. zur Pflichtgemäßheit seines klagegegenständlichen früheren Verhaltens) – gem. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden gilt.130 Eine Ausnahme ist lediglich geboten, wenn die Ursache dafür, dass die Gesellschaft ihrer Aufklärungsobliegenheit nicht genügen kann, in den Verantwortungsbereich des Geschäftsleiters fällt, weil er seinerzeit pflichtwidrig nicht für eine ordnungsgemäße Dokumentierung und Archivierung der nunmehr fehlenden Information gesorgt hat. Unter solchen Umständen kann er sich wegen Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) nicht auf § 138 Abs. 3 ZPO berufen.131 127 BGH v. 20.11.2018 – II ZR 132/17, BeckRS 2018, 32052 Rz. 20. 128 Unter Umständen schon früher, nämlich wenn der Versicherungsvertrag bereits ein früheres Leistungs- (und damit Vertretungs-)verhältnis zwischen Versicherer und Geschäftsleiter begründet, bspw. durch Gewährung vorbeugenden Rechtsschutzes bereits bei ernsthaft drohender Haftungsinanspruchnahme. 129 Hierzu siehe Lange, D&O-Versicherung und Managerhaftung, 1. Aufl. 2014, § 14 Rz. 7 ff. und 14 ff. 130 BGH v. 30.7.2020 – VI ZR 367/19, NJW 2020, 2804 Rz. 16; BGH v. 25.5.2020 – VI ZR 252/19, NJW 2020, 1962 Rz. 37; BGH v. 18.1.2018 – I ZR 150/15, NJW 2018, 2412 Rz. 30; BGH v. 1.3.2016 – VI ZR 34/15, NJW 2016, 2106 Rz. 49; BGH v. 13.6.2012 – I ZR 87/11, VersR 2013, 475 Rz. 20; BGH v. 14.6.2005 – VI ZR 179/04, VersR 2005, 1238, 1239; Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 231; Krieger in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 717, 734; weitergehend Meckbach, NZG 2015, 580, 582 („sekundäre Darlegungs- und Beweislasterleichterung“); noch weitergehend Freund, NZG 2015, 1419, 1421, wonach eine unzureichende Informationsgewährung „vernünftigerweise nur mit strengen Rechtsfolgen sanktioniert werden [könne], die im Einzelfall bis hin zum zumindest teilweisen Verlust des Privilegs der Beweislastumkehr reichen müssten.“; ebenso Ruchatz, AG 2015, 1, 7 f. Grooterhorst, AG 2011, 389, 398, meint, dem Geschäftsleiter stehe ein Schadenersatzanspruch gegen die Gesellschaft zu, wenn er wegen absichtlichen Vorenthaltens bestimmter Geschäftsunterlagen von der Gesellschaft erfolgreich in Haftung genommen werde; der „Schaden bestünde betragsmäßig in der gleichen Höhe wie der gegen ihn geltend gemachte Schadensersatzanspruch wegen angeblicher Organhaftung. Das Vorstandsmitglied müsste die Aufrechnung mit dem eigenen Schadensersatzanspruch gem. § 388 Satz 1 BGB gegen den geltend gemachten Schadensersatzanspruch der Gesellschaft erklären.“; ebenso Werner, GmbHR 2013, 68, 73. Groh, ZIP 2021, 724, 733 f., argumentiert mit einer Vorleistungspflicht der Gesellschaft zur Einsichtgewährung und einem Zurückbehaltungsrecht des Geschäftsleiters, solange die Einsicht nicht gewährt ist, ferner mit einem Mitverschulden der Gesellschaft, das sich gem. § 254 BGB anspruchskürzend auswirken soll. 131 Im Ergebnis ebenso Foerster, ZHR 176 (2012), 221, 243; in ähnliche Richtung BGH v. 24.1.2012 – II ZR 119/10, DB 2012, 794, wonach „die Voraussetzungen der Insolvenzreife nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung als bewiesen [gelten], wenn der Geschäftsführer die ihm obliegende Pflicht zur Führung und Aufbewahrung von Belegen

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IX. Zusammenfassung Nimmt eine Gesellschaft einen früheren Geschäftsleiter im Wege der allgemeinen Innenhaftung (insb. gem. § 43 Abs. 2 GmbHG oder gem. § 93 Abs. 2 S. 1 AktG) auf Schadenersatz in Anspruch, schuldet sie ihm in dem Umfang, in dem er gem. § 93 Abs. 2 S. 2 AktG (analog) die Darlegungs- und Beweislast trägt, sich mangels detaillierter Sachverhaltskenntnis trotz zumutbaren Erinnerungsbemühens aber nicht substantiiert verteidigen kann, aufgrund einer sekundären Darlegungslast Sachverhaltsaufklärung. Erfüllt die Gesellschaft ihre prozessuale Sachverhaltsaufsklärungsobliegenheit nicht, gilt selbst unsubstantiierter Sachvortrag des Geschäftsleiters als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO). Das allein entspricht ständiger Rechtsprechung des BGH. Aus dieser Erkenntnis ergeben sich Antworten auf zahlreiche in der Praxis dauernd erörterte angebliche Unklarheiten hinsichtlich Inhalt und Umfang des Aufklärungsanspruchs des Geschäftsleiters, ohne dass es komplizierter, oft willkürlich anmutender Abwägungen unter Heranziehung materiell-rechtlicher Gesichtspunkte, namentlich eines Anspruchs aus § 810 BGB (analog) oder aus einer nachvertraglichen Treuepflicht der Gesellschaft bedarf.132

nach §§ 238, 257 HGB, § 41 GmbHG verletzt hat und dem Gläubiger deshalb die Darlegung näherer Einzelheiten nicht möglich ist“. 132 Auf anstellungsvertragliche vorbeugende Gestaltungsmöglichkeiten sei der Vollständigkeit halber verwiesen; hierzu siehe bspw. Meckbach, NZG 2015, 580, 584.

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Die Auswirkungen von Krise und Insolvenz auf den Unternehmensvertrag Sascha Lehmann / Claus Christopher Schiller

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Krise 1. Verschlechterung der Vermögenslage ohne Insolvenzreife a) Krise der Obergesellschaft b) Krise der Untergesellschaft 2. Insolvenzreife a) Insolvenzreife der Obergesellschaft b) Insolvenzreife der Untergesellschaft aa) (Kein) Ausschluss der Insolvenzreife durch den Unternehmensvertrag bb) Recht zur außerordentlichen Kündigung 3. Vorläufiges Insolvenzverfahren III. Insolvenz 1. Eröffnung des Insolvenzverfahrens a) Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Untergesellschaft aa) Rechtslage vor Inkrafttreten der InsO bb) Rechtslage nach Inkrafttreten der Insolvenzordnung (1) Automatische Beendigung des Vertrags

(2) Fortbestehen des Vertrags bei unternehmensvertraglichem Regime (3) Fortbestehen des Vertrags bei insolvenzrechtlichem Regime b) Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Obergesellschaft c) Stellungnahme 2. Abweisung des Eröffnungsantrags mangels Masse IV. Folgen einer Beendigung 1. Beendigung der steuerlichen Organschaft 2. Entstehung eines letzten Verlustausgleichs- und Gewinnabführungsanspruchs 3. Ansprüche von Gläubiger der Untergesellschaft a) Anspruch auf Sicherheitsleistungen gegen die Obergesellschaft b) Auslösen weiterer Ansprüche von Gläubigern der Untergesellschaft 4. Anwendbarkeit des allgemeinen Kapitalschutzrechts

I. Einleitung Die sog. Unternehmensverträge sind in den §§ 291 f. AktG geregelt, wobei Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge1 in der Praxis sicherlich am weitesten verbreitet sind. Der Abschluss eines Unternehmensvertrags hat regelmäßig weitreichende Auswirkungen auf die Unternehmensstruktur insbesondere der abhängigen

1 Der Gewinnabführungsvertrag wurde insbesondere in der Vergangenheit oft auch als Ergebnisabführungsvertrag bezeichnet, weshalb auch heute noch die gängige Abkürzung „EAV“ Verwendung findet.

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Sascha Lehmann / Claus Christopher Schiller

Gesellschaft („Untergesellschaft“). Ihr Unternehmensinteresse bestimmt sich mit Abschluss eines Unternehmensvertrags (insbesondere im Falle eines Beherrschungsund/oder Gewinnabführungsvertrags, § 291 AktG) nicht mehr nur durch das eigene Gesellschaftsinteresse und das ihrer Gesellschafter. Stattdessen tritt primär das Interesse der beherrschenden Gesellschaft („Obergesellschaft“) an diese Stelle. In der Krise und insbesondere in der Insolvenz einer der Vertragsparteien sind zudem die Interessen der Gläubiger der Untergesellschaft besonders zu berücksichtigen, die in §§ 302, 303 AktG einen besonders normierten Schutz erfahren. Die schutzwürdigen Interessen der Gläubiger in Krise und Insolvenz wirken sich dabei auch in besonderem Maße auf die jeweiligen Interessen der Vertragsparteien in Bezug auf die geschlossenen Unternehmensverträge aus, die je nach Vertragspartei und nach dem Grad der Krise und Insolvenz differieren. Im Folgenden wird zunächst dargestellt, wie sich Krise (hierzu unter II.) und Insolvenz (hierzu unter III.) auf den Unternehmensvertrag auswirken und welche Gestaltungsmaßnahmen in diesem Zusammenhang in Betracht kommen. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf den Beherrschungsvertrag und den Gewinnabführungsvertrag als die praktisch wichtigsten Unternehmensverträge. Abschließend werden die Folgen einer Beendigung von Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträgen beleuchtet (hierzu unter IV.).

II. Krise In der Krise ist zwischen (1.) der Verschlechterung der Vermögenslage ohne Insolvenzreife, (2.) der Zeit nach Eintritt der Insolvenzreife sowie (3.) dem vorläufigen Insolvenzverfahren zu unterscheiden. 1. Verschlechterung der Vermögenslage ohne Insolvenzreife Hat sich die Vermögenslage einer Vertragspartei wesentlich verschlechtert, ist die Gesellschaft aber noch nicht insolvenzreif, d.h. überschuldet oder (drohend) zahlungsunfähig, ergeben sich durchaus Unterschiede abhängig davon, bei welcher Vertragspartei die Krise eintritt. Es entspricht der h.M., dass die Krise allein auf den Bestand des Unternehmensvertrags keine Auswirkung hat.2 a) Krise der Obergesellschaft Befindet sich die Obergesellschaft in der Krise, kann die Untergesellschaft gemäß § 297 Abs. 1 Satz 1 AktG berechtigt sein, den Unternehmensvertrag aus wichtigem Grund außerordentlich zu kündigen. Nach § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG liegt ein wichtiger Grund darin, dass der andere Vertragsteil (d.h. die Obergesellschaft) voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, seine vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Dies kann bereits vor Insolvenzreife der Fall sein. Damit die Untergesellschaft prüfen kann, 2 Etwa Altmeppen in Altmeppen, 10. Aufl. 2021, Anh. § 13 GmbHG Rz. 93; Berthold, Unternehmensverträge in der Insolvenz, 2004, Rz. 342 ff.

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Die Auswirkungen von Krise und Insolvenz auf den Unternehmensvertrag

ob ein Kündigungsgrund gegeben ist, hat sie gegen die Obergesellschaft einen Anspruch auf Auskunft über deren Vermögens- und Liquiditätslage.3 Liegen die Voraussetzungen des § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG vor, soll bei der GmbH4 nach nicht unumstrittener aber weit verbreiteter Meinung für die Kündigung der Untergesellschaft ein notariell zu beurkundender Gesellschafterbeschluss erforderlich sein.5 Regelmäßig wird (alleiniger) Gesellschafter der Untergesellschaft ausschließlich die Obergesellschaft sein, die nach h.M. aber mangels Anwendbarkeit des § 47 Abs. 4 Satz 2 GmbHG stimmberechtigt ist.6 Das Erfordernis eines zustimmenden Gesellschafterbeschlusses wird vielfach auf die undifferenzierten Aussagen in einem Urteil des BGH aus 2011 zu einer ordentlichen Kündigung gestützt.7 Diese Auffassung wird diesseits nicht geteilt; weder der Wortlaut von § 297 AktG noch Sinn und Zweck der Vorschrift bieten Raum für einen Gesellschafterbeschluss. Um es mit den Worten von Altmeppen zu sagen: „Das herrschende Unternehmen wäre also in krasser Form „Richter in eigener Sache“, wenn es mit seiner Mehrheit die Kündigung verhindern könnte“.8 Dies kann schlicht nicht sein. Gleichwohl ist mit Blick auf die weiterhin nicht abschließend geklärte Rechtslage und die hiermit verbundene erhebliche Unsicherheit für die Praxis zu empfehlen, vorsorglich einen beurkundeten Beschluss einzuholen. Neben der Untergesellschaft ist nach der h.M. auch die Obergesellschaft zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, sie kann also wegen ihrer eigenen voraussichtlichen Leistungsunfähigkeit kündigen.9 Ob insoweit ein Gesellschafterbeschluss erforderlich ist, ist

3 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 308 AktG Rz. 127; Philippi/Neveling, BB 2003, 1685, 1687; Nodoushani, DStR 2017, 403. 4 Bei der AG ist die außerordentliche Kündigung unbestritten Geschäftsführungsmaßnahme, für des allein einer Erklärung des Vorstands bedarf. 5 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 63 unter Verweis auf BGH v. 31.5.2011 – II ZR 109/10, NZG 2011, 902; Schnorbus in Rowedder/Schmidt-Leithoff, 6. Aufl. 2017, Anhang zu § 52 GmbHG Rz. 125; Müller-Eising/Schmitt, NZG 2011, 1100, 1101; a.A.: Altmeppen in Altmeppen, 10. Aufl. 2021, Anh. § 13 GmbHG Rz. 103; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anhang zu § 13 GmbHG Rz. 1030. 6 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 59; BGH v. 31.5.2011 – II ZR 109/10, NZG 2011, 902 für den Fall der ordentlichen Kündigung; Hillmann in Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 47 GmbHG Rz. 76; a.A.: Drescher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 47 GmbHG Rz. 171; differenzierend: Römermann in Michalski/Heidinger/Leible/Schmidt, 3. Aufl. 2017, § 47 GmbHG Rz. 285. 7 BGH v. 31.5.2011 – II ZR 109/10, NZG 2011, 902. 8 Altmeppen in Altmeppen, 10. Aufl. 2021, Anh. § 13 GmbHG Rz. 103. 9 Koch in Hüffer/Koch, 15. Aufl. 2021, § 297 AktG Rz. 5 m.w.N.; Koppensteiner in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2004, § 297 AktG Rz. 18 m.w.N.; Krieger in Münch. Handbuch zur AG, 5. Aufl. 2020, § 71 Rz. 202; enger Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktienund GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 22; differenzierend Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 34 ff.; a.A. Langenbucher in Schmidt/ Lutter, 4. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 5; Trendelenburg, NJW 2002, 647, 650; zweifelnd auch

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umstritten.10 Jedenfalls soll dieser aber, ebenso wie der Beschluss zur Begründung des Beherrschungsvertrags,11 nicht notariell beurkundungsbedürftig sein.12 Die Kündigung ist schriftlich und gemäß § 314 Abs. 3 BGB, der neben § 297 Abs. 1 AktG Anwendung findet,13 innerhalb einer angemessenen, im Einzelfall zu bestimmenden Frist zu erklären. Nach h.M. steht das beherrschungsvertragliche Weisungsrecht unter dem Vorbehalt, dass die Obergesellschaft in der Lage ist, einen Verlustausgleichsanspruch zu erfüllen bzw. keine Zweifel an der Werthaltigkeit des Verlustausgleichsanspruchs bestehen.14 Folglich kann die Obergesellschaft das Weisungsrecht nicht ausüben, wenn in ihrer Person die Voraussetzungen des § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG vorliegen. Entsprechendes dürfte für die Geltendmachung eines Anspruchs der Obergesellschaft auf Gewinnabführung gelten. b) Krise der Untergesellschaft Befindet sich die Untergesellschaft in der Krise, berechtigt dies die Obergesellschaft nach h.M. grundsätzlich nicht zur außerordentlichen Kündigung, da ein solches Risiko mit dem Abschluss des Unternehmensvertrags gerade von der Obergesellschaft übernommen worden ist.15 Nach wohl h.M. ist die Obergesellschaft jedoch ausnahmsweise zur Kündigung berechtigt, wenn weitere Umstände hinzutreten. Dies soll etwa dann gelten, wenn (i) die Risiken aus dem Unternehmensvertrag für die Obergesellschaft „untragbar“ werden und (ii) sie diese Situation nicht zu vertreten hat, es sich also um „höhere Gewalt“ handelt.16

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Veil/Walla in BeckOGK AktG, Stand: 1.2.2021, § 297 AktG Rz. 17; angesprochen ist die Frage auch von BGH v. 2.11.1987 – II ZR 50/87, NJW 1988, 1326, 1327. Dafür: Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 60; Deilmann, NZG 2015, 460, 463; dagegen: Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anhang zu § 13 GmbHG Rz. 1008; Servatius in Grigoleit, 2. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 31. BGH v. 24.10.1988 – II ZB 7/88, NJW 1989, 295. Peters/Hecker, DStR 2012, 86, 89. OLG München v. 21.3.2011 – 31 Wx 80/11, NZG 2011, 1183; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anhang zu § 13 GmbHG Rz. 1013. Altmeppen in Altmeppen, 10. Aufl. 2021, Anh. § 13 GmbHG Rz. 61; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 41; Veil/Walla in BeckOGK AktG, Stand: 1.2.2021, § 308 AktG Rz. 36. Siehe etwa FG Berlin-Brandenburg v. 19.10.2011 – 12 K 12078/08, GmbHR 2012, 413; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 20, 22 m.w.N. Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 22; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 31; weitere Nachweise bei Philippi/Neveling, BB 2003, 1685, 1688; wohl auch Veil/Walla in BeckOGK AktG, Stand: 1.2.2021, § 297 AktG Rz. 16.

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Die Auswirkungen von Krise und Insolvenz auf den Unternehmensvertrag

Dabei dürfte die erste der vorgenannten Voraussetzungen so zu verstehen sein, dass es gerade die weitere Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Unternehmensvertrag sein muss, die die Obergesellschaft unmittelbar in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. Bei der Prüfung des Vertretenmüssens ist zu berücksichtigen, dass der der Obergesellschaft zuzurechnende Risikobereich in dem Maße als erweitert anzusehen sein dürfte, in dem sie Einfluss auf die Untergesellschaft genommen hat.17 Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen. 2. Insolvenzreife Auch die Insolvenzreife einer Partei führt nach h.M. nicht zur automatischen Beendigung des Vertrags.18 a) Insolvenzreife der Obergesellschaft Ist die Obergesellschaft insolvenzreif, liegen die Voraussetzungen des § 297 Abs. 1 Satz 2 AktG vor. Die Untergesellschaft kann folglich nach § 297 Abs. 1 Satz 1 AktG außerordentlich kündigen. b) Insolvenzreife der Untergesellschaft aa) (Kein) Ausschluss der Insolvenzreife durch den Unternehmensvertrag Bei der Untergesellschaft stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt zu einer Insolvenzreife kommen kann, solange ein Unternehmensvertrag mit der Obergesellschaft besteht und jedenfalls die Obergesellschaft solvent ist. Dies wird von einer verbreiteten Auffassung verneint.19 Diese Auffassung ist ausgesprochen fraglich. Zwar mag der Verlustausgleichsanspruch, die Werthaltigkeit vorausgesetzt, eine rechnerische Überschuldung ausschließen (sofern die Gesellschaft nicht bereits bei Begründung des Vertrags überschuldet war). Er ist jedoch, jedenfalls grundsätzlich, nicht geeignet, die Zahlungsfähigkeit der Gesellschaft laufend zu sichern. Dies folgt bereits daraus, dass § 302 AktG (bzw. der Unternehmensvertrag) der Untergesellschaft nach h.M. keinen Anspruch gegen die Obergesellschaft auf laufende, also auch unterjährige Liquiditätsunterstützung gibt.20 17 So Wilken/Ziems in FS Metzeler, 2003, S. 153, 159; Philippi/Neveling, BB 2003, 1685, 1688. 18 Insoweit gilt das unter II. 1. Gesagte entsprechend. 19 Insbesondere Altmeppen in MünchKomm. AktG. 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 117 f. m.w.N.; Koch in Hüffer/Koch, 15. Aufl. 2021, § 297 AktG Rz. 22a. 20 BGH v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, NJW 1988, 3143, 3147; OLG Hamburg v. 24.7.1987 – 11 U 182/86, NJW-RR 1988, 46; KG Berlin v. 28.10.1997 – 7 U 5718/96, GmbHR 1998, 938; aus der Literatur etwa Koppensteiner in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2004, § 302 AktG Rz. 57 m.w.N.; Stephan in K. Schmidt/Lutter, 4. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 49 f.

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Anderes gilt nur, wenn der Unternehmensvertrag in einer gesonderten Regelung eine Verpflichtung der Obergesellschaft zur Liquiditätsausstattung begründet oder sich eine solche Verpflichtung aus einer gesonderten Erklärung (z.B. durch interne „harte“ Patronatserklärung21) ergibt. Unternehmensverträge sehen gelegentlichen solche Regelungen vor; üblich ist dies indes nicht. Selbst wenn man dem Unternehmensvertrag entgegen der h.M. einen Anspruch auf unterjährige Liquiditätsausstattung entnehmen wollte, ergäben sich hieraus für die Praxis der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit nach § 17 Abs. 2 InsO keine nennenswerten Änderungen. Vielmehr ist zumeist allein entscheidend, ob die Obergesellschaft eine solche Verpflichtung anerkennt und entsprechende Zahlungen erbringt. Anderenfalls wird der Untergesellschaft typischerweise die nötige Liquidität fehlen, um ihre fälligen Verbindlichkeiten zu bezahlen mit der Folge, dass jedenfalls eine Zahlungseinstellung vorliegt. Zudem wird ein etwaiger Anspruch auf weitere Mittel keinesfalls mehr berücksichtigt werden können, nachdem die Obergesellschaft eine solche Verpflichtung ausdrücklich abgelehnt hat oder trotz Aufforderung nicht zahlt. bb) Recht zur außerordentlichen Kündigung Ob die Insolvenzreife der Untergesellschaft die Obergesellschaft zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, bemisst sich nach den oben dargestellten Grundsätzen (siehe II.1. b)). 3. Vorläufiges Insolvenzverfahren Eine Insolvenzantragstellung und die Anordnung von Maßnahmen nach § 21 InsO durch das Insolvenzgericht lassen den Unternehmensvertrag ebenfalls unberührt.22 Im Hinblick auf Kündigungs- und sonstigen Rechte gelten auch in dieser Phase die oben dargelegten Grundsätze. Ein Insolvenzantrag ist allerdings ein starkes Indiz für eine schwere wirtschaftliche Krise.23 Steuerlich führt die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters bei der Untergesellschaft nach der Rechtsprechung des BFH zur Beendigung der umsatzsteuerlichen Organschaft, wenn der vorläufige Insolvenzver-

m.w.N.; Servatius in Michalski, 3. Aufl. 2017, systematische Darstellung 4 Rz. 183; Witt, NZG 2006, 735, 736. 21 Bei einer sog. harten Patronatserklärung (oftmals als „Comfort Letter“ bezeichnet) übernimmt der Patron die Verpflichtung, einen Dritten (i.d.R. eine Konzerngesellschaft) mit ausreichender Liquidität auszustatten und damit dessen Erfüllung von Forderungen zu gewährleisten, oftmals zur Vermeidung einer Insolvenzreife. Die interne Patronatserklärung hat den Charakter einer Liquiditäts- oder Verlustdeckungszusage gegenüber dem Dritten zu dessen Gunsten die Patronatserklärung abgegeben wird. 22 Etwa Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 398; Vgl. Kessler in Saenger/Inhester, 4. Aufl. 2020, Anhang § 13 GmbHG Rz. 260; a.A., soweit ersichtlich, allein Kahlert, DStR 2014, 73. 23 Vgl. Wilken/Ziems in FS Metzeler, 2003, S. 153, 157.

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walter nur mit allgemeinem Zustimmungsvorbehalt ausgestattet ist (sog. vorläufiger „schwacher“ Insolvenzverwalter).24

III. Insolvenz 1. Eröffnung des Insolvenzverfahrens Wird das Insolvenzverfahren über das Vermögen einer der Vertragsparteien eröffnet, ergeben sich auch mit Blick auf den Unternehmensvertrag Unterschiede abhängig davon, über das Vermögen welcher Vertragspartei das Insolvenzverfahren eröffnet wird: a) Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Untergesellschaft aa) Rechtslage vor Inkrafttreten der InsO Vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung zum 1.1.1999, d.h. unter Geltung der Konkurs- und der Vergleichsordnung, führte nach seinerzeit h.M. die Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der Untergesellschaft zur automatischen Beendigung des Unternehmensvertrags; es bedurfte also keiner gesonderten Kündigung. Teils wurde diese Folge gesetzlichen Bestimmungen entnommen, teils aus einer ergänzenden Auslegung des Vertrags abgeleitet.25 Andere Auffassungen haben jedenfalls für isolierte Gewinnabführungsverträge vertreten, dass diese nicht automatisch enden.26 Die Eröffnung eines Vergleichsverfahrens hingegen führte nach h.M. nicht zur automatischen Beendigung des Unternehmensvertrags.27 Vielmehr bestehe der Vertrag grundsätzlich fort; allerdings unterliege das Weisungsrecht der Obergesellschaft

24 BFH v. 3.7.2014 – V R 32/13, DStR 2014, 2020 m. Anm. Möller, GWR 2014, 469; BFH v. 8.8.2013 – V R 18/13, BB 2013, 2595 m. Anm. Kerst, GWR 2013, 430, m. Anm. de Weerth, NZI 2013, 857. Hiermit hat der BFH seine frühere gegenteilige Rechtsprechung (BFH v. 1.4.2004 – V R 29/03, DStR 2004, 951 m. Anm. Blank, EWIR 2004, 1095) aufgegeben. Gegen die frühere Rechtsprechung des BFH bereits Hölzle, DStR 2006, 1210. 25 BGH v. 14.12.1987 – II ZR 170/87, NJW 1988, 1326, 1327; BayObLG v. 29.9.1998 – 3Z BR 159-94, NJW-RR 1999, 109 (obiter dictum); zahlreiche weitere Nachweise zur früheren Rechtslage bei Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 103 Fn. 185; ebenso BFH v. 28.1.1999 – V R 32/98, NZG 1999, 570. Bereits unter Geltung der KO wurde aber auch die Gegenauffassung vertreten, nach der die Insolvenzeröffnung lediglich ein Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund gebe, etwa BFH v. 18.10.1967 – I 262/63, BFHE 90, 370. 26 Vgl. Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 104. 27 BGH, v. 14.12.1987 – II ZR 170/87; Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 397 m.w.N.; Emmerich/Habersack in Emmerich/Habersack, Konzernrecht, 11. Aufl. 2020, § 19 Rz. 72 f.

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gewissen Beschränkungen. Ferner seien Rechte der beiden Vertragsparteien zur außerordentlichen Kündigung möglich.28 bb) Rechtslage nach Inkrafttreten der Insolvenzordnung Durch die InsO hat die Frage der Auswirkungen der Insolvenzeröffnung auf den Bestand des Unternehmensvertrags neue Bedeutung erlangt, weil das Insolvenzverfahren nicht mehr zwingend auf die Liquidation ausgerichtet, sondern eine Fortführung der Gesellschaft möglich ist (vgl. § 1 Satz 1 InsO). Die Auswirkungen der Insolvenz der Untergesellschaft auf den Bestand des Unternehmensvertrags sind gesetzlich nicht – weder im AktG noch in der InsO – geregelt. Allerdings sah der erste Bericht der Insolvenzrechtskommission im Rahmen der Beratungen zur InsO vor, dass Unternehmensverträge durch die Insolvenzeröffnung bei einem Beteiligten nicht automatisch enden sollten, um so eine Sanierung von Konzernen nicht unnötig zu erschweren.29 Die Frage des Schicksals des Unternehmensvertrags ist – soweit ersichtlich – gerichtlich bisher nicht geklärt. Im Schrifttum ergibt sich folgendes Bild: (1) Automatische Beendigung des Vertrags Die wohl h.M. in der Literatur geht weiterhin davon aus, dass die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Untergesellschaft zur automatischen Beendigung des Unternehmensvertrags führt. Als Begründung wird überwiegend die Änderung des Gesellschaftszwecks angeführt, die mit der Insolvenzeröffnung und der damit einhergehenden Auflösung der Gesellschaft verbunden sei.30 Dies solle allenfalls dann nicht gelten, wenn das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung (§§ 270 ff. InsO) eröffnet werde.31 Teilweise solle dies davon abhängen, ob zeitnah mit einer Sanierung zu rechnen sei.

28 BGH v. 14.12.1987 – II ZR 170/87, NJW 1988, 1326, 1327. 29 Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, 1985, S. 290–293, Leitsatz 2.4.9.13., vgl. Zeidler, NZG 1999, 692 (696). Einschränkend Acher, Vertragskonzern und Insolvenz, 1987, S. 172 ff. 30 Koch in Hüffer/Koch, 15. Aufl. 2021, § 297 AktG Rz. 22a; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 52b; Krieger in Münch. Handbuch zur AG, 5. Aufl. 2020, § 71 Rz. 207; Krieger in FS Metzeler, 2003, S. 139; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anhang zu § 13 GmbHG Rz. 1043; Veil/Walla in BeckOGK AktG, Stand: 1.2.2021, § 297 AktG Rz. 39. 31 U.a. Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 52b; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anhang zu § 13 GmbHG Rz. 1044; Servatius in Grigoleit, 2. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 46; Trendelenburg, NJW 2002, 647, 648 f.

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(2) Fortbestehen des Vertrags bei unternehmensvertraglichem Regime Nach der Gegenauffassung soll der Unternehmensvertrag trotz Eröffnung des Insolvenzverfahren fortbestehen; beide Vertragsteile sollen aber nach § 297 AktG zur außerordentlich Kündigung berechtigt sein.32 § 103 InsO sei in diesem Zusammenhang nicht erheblich, weil dieser für Organisationsverträge wie einen Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrag nicht gelte.33 Dies wird vor allem darauf gestützt, dass gemäß § 1 Satz 1 InsO der Unternehmenserhalt neben der sonstigen Vermögensverwertung gleichwertiges Ziel des Insolvenzverfahrens sei. Ferner soll dieses Ziel durch das Fortführungsgebot des § 158 InsO abgesichert werden. Hiermit sei es nicht vereinbar, einen bestehenden Unternehmensvertrag ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände mit Insolvenzeröffnung enden zu lassen. Auch nach dieser Auffassung besteht der Vertrag aber nicht unverändert fort. Vielmehr soll die Insolvenzeröffnung die „Suspendierung“ des Vertrags zur Folge haben. So ruhe insbesondere das beherrschungsvertragliche Weisungsrecht ab Insolvenzeröffnung, da dieses mit der Stellung des Insolvenzverwalters der Untergesellschaft nicht vereinbar sei.34 Selbst dies solle allerdings nicht gelten, wenn die Untergesellschaft im Rahmen der Eigenverwaltung oder einem Insolvenzplanverfahren fortgeführt werde.35 Dementsprechend sei auch der aus einem Gewinnabführungsvertrag folgende Anspruch auf Gewinnabführung suspendiert.36 Dies dürfte angesichts der Insolvenz der Untergesellschaft praktisch kaum relevant sein. Von entscheidender Bedeutung ist, ob von der vorgenannten Suspensionswirkung auch etwaige Verlustausgleichsansprüche der Untergesellschaft erfasst sind oder ob solche weiterhin entstehen können. Nach Hirte sind Verlustausgleichsansprüche ebenfalls suspendiert.37

32 Koppensteiner in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2004, § 297 AktG Rz. 47; Zeidler, NZG 1999, 692, 696 f.; K. Schmidt, ZGR 1983, 513, 530; Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 398 m.w.N.; Tintelnot in Kübler/Prütting/Bork, 88. EL. 2021, § 103 InsO Rz. 134; Neumann in Gosch, 4. Aufl. 2020, § 14 KStG Rz. 296 f., wohl OLG Zweibrücken v. 29.10.2013 – III W 82/13, ZIP 2014, 1020; vgl. hierzu Beck, EWiR 2014, 619, 620. 33 Vgl. Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 398. 34 Koppensteiner in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2004, § 297 AktG Rz. 47 m.w.N.; Specovius/v. Wilcken in Gottwald/Haas, Insolvenzrechts-Handbuch, 6. Aufl. 2020, § 95 Rz. 88 ff.; Zeidler, NZG 1999, 692, 697. 35 Zeidler, NZG 1999, 692, 697. 36 Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 398; vgl. auch BFH v. 18.10.1967 – I 262/63, BFHE 90, 370. 37 Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 398, 401; anders Zeidler, NZG 1999, 692, 697, demzufolge Verlustausgleichansprüche weiter entstehen, solange die Obergesellschaft nicht von ihrem Kündigungsrecht Gebrauch macht.

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Überraschend wenig Stellungnahmen gibt es zu der Frage, ob mit dem Fortbestand und der bloßen Suspendierung des Vertrags auch einhergeht, dass ein Auslösen von § 303 Abs. 1 AktG vermieden wird. Dies liegt an sich in der Konsequenz dieser Auffassung, da der Vertrag gerade nicht endet, wie § 303 AktG dies voraussetzt.38 Dies ist jedoch keineswegs gesichert, da nicht wenige Stimmen § 303 AktG analog anwenden möchten, wenn der Vertrag ausgesetzt wird.39 Die Suspendierung soll mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens enden. Zu einer Neubegründung komme es nicht; ein Neuabschluss sei nicht erforderlich.40 Weisungsrechte und – wenig praxisnah – zwischenzeitlich entstandene Gewinnabführungsansprüche seien ab Verfahrensaufhebung wieder durchsetzbar (vorbehaltlich einer Umgestaltung solcher Ansprüche durch Insolvenzplan oder im Regelinsolvenzverfahren). Die Obergesellschaft solle jedenfalls den im Zeitraum zwischen Beginn des Geschäftsjahres und Insolvenzeröffnung entstandenen Verlust ausgleichen.41 (3) Fortbestehen des Vertrags bei insolvenzrechtlichem Regime Weitere Stimmen bejahen ebenfalls einen Fortbestand des Unternehmensvertrags, möchten ihn aber § 103 InsO unterwerfen und die Folgen somit insolvenzrechtlich regeln.42 Der praktisch relevante Unterschied zur vorgenannten Auffassung besteht vor allem darin, dass dem anderen Vertragsteil grundsätzlich kein Kündigungsrecht zusteht, sondern zunächst der Insolvenzverwalter des insolventen Vertragsteils nach Maßgabe von § 103 InsO über das weitere Schicksal des Vertrags entscheidet. b) Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Obergesellschaft Das Meinungsbild zu den Folgen der Insolvenzeröffnung bei der Obergesellschaft deckt sich im Grundsatz mit demjenigen für die Insolvenzeröffnung bei der Untergesellschaft (hierzu oben III.1.a)). In Einzelfragen ergeben sich aber Besonderheiten: Vor Inkrafttreten der InsO führte auch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Obergesellschaft regelmäßig zur automatischen Beendigung des

38 Dementsprechend ein Eingreifen von § 303 AktG ausdrücklich ablehnend Zeidler, NZG 1999, 692, 697. 39 Vgl. Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 303 AktG Rz. 36 m.w.N. 40 Vgl. Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 398 („Die Parteien des Unternehmensvertrags haben es in der Hand, diesen auch ohne Neuabschluss über eine Krise zu retten.“). 41 Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 398, 401. 42 Bultmann, ZinsO 2007, 785; Freudenberg, ZIP 2009, 2037; Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz. 32.09.

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Unternehmensvertrags, bestand der Vertrag hingegen im Falle der Eröffnung eines Vergleichsverfahrens fort.43 Welche Folgen die Insolvenzeröffnung bei der Obergesellschaft seit Inkrafttreten der InsO hat, ist – soweit ersichtlich – gerichtlich bislang nicht abschließend geklärt. Insbesondere ist bisher nicht ausdrücklich entschieden, dass der Vertrag mit Eröffnung automatisch endet.44 Im Schrifttum finden sich wiederum Stimmen, nach denen die Insolvenzeröffnung auch bei der Obergesellschaft ausnahmslos zur automatischen Beendigung des Vertrags führen soll.45 Zur Begründung wird auch hier zumeist die mit der Insolvenzeröffnung verbundene Änderung des Gesellschaftszwecks angeführt. Ferner wird angeführt, die Leitungsgewalt des Insolvenzverwalters der Obergesellschaft beschränke sich auf das Vermögen der Obergesellschaft und umfasse nicht die Befugnis zur Konzernleitung. Manche folgern die automatische Beendigung aus einer analogen Anwendung von § 115 Abs. 1 InsO. Gerade im Falle der Insolvenz der Obergesellschaft gibt es jedoch eine starke Auffassung, nach der die Insolvenzeröffnung ausnahmsweise nicht zur Beendigung führt, wenn die Insolvenz in Eigenverwaltung eröffnet wird (§ 270 Abs. 1 Satz 1 InsO) oder wenn ein Insolvenzplanverfahren zum Erhalt des Unternehmens (§ 1 Satz 1 2. Fall InsO) vorgesehen ist.46 Zudem finden sich auch für den Fall der Insolvenzeröffnung bei der Obergesellschaft verschiedene Stimmen, nach denen der Unternehmensvertrag allgemein fortbesteht.47 Bei isolierten Gewinnabführungsverträgen wird zuweilen lediglich ein Recht beider Parteien zur außerordentlichen Kündigung angenommen.48 43 Mues, RNotZ 2005, 2, 30; Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 407 m.w.N.; dies sollte jedenfalls für den Beherrschungsvertrag gelten, beim isolierten Gewinnabführungsvertrag war dies umstritten. 44 OLG Hamburg v. 31.7.2001 – 11 W 29/94, NZG 2002, 189 (für Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag) scheint im Rahmen eines obiter dictums der Auffassung zuzuneigen, dass der Vertrag automatisch endet („regelmäßig“); offen OLG Frankfurt a.M. v. 11.11.2003 – 11 U 40/03, ZIP 2004, 777 m. Anm. Ferslev, EWiR 2004, 679; offen auch OLG Brandenburg, v. 9.9.2005 – 4 U 60/05, BeckRS 2005, 30362348 (unter Ziffer II. 1. a) der Entscheidungsgründe); offen ferner AG Duisburg v. 1.9.2002 – 62 IN 167/02, NZI 2002, 556, 559 („Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens […] kommen alle konzernrechtlichen Weisungsbefugnisse des herrschenden Unternehmens gegenüber dem beherrschten Unternehmen zumindest zum Ruhen […].“). 45 Etwa Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 106 m.w.N.; Bultmann, ZinsO 2007, 785; Liebscher in MünchKomm. GmbHG, 3. Aufl. 2018, Anhang zu § 13 GmbHG Rz. 1043; wohl auch Beurskens in Baumbach/Hueck, 22. Aufl. 2019, Anhang KonzernR Rz. 135; Berthold, Unternehmensverträge in der Insolvenz, 2004, Rz. 213 ff. 46 Etwa Böcker, GmbHR 2004, 1314. 47 Etwa Zeidler, NZG 1999, 692, 697; Trendelenburg, NJW 2002, 647, 649; Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 407. 48 Vgl. Koppensteiner in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2004, § 297 AktG Rz. 48 m.w.N.; dagegen Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 111.

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c) Stellungnahme Die dargestellten Streitfragen zeugen von einem nicht unerheblichen Maß an Rechtsunsicherheit. Wegen der zahlreichen Unsicherheiten verbieten sich schematische Lösungen. Vielmehr muss im konkreten Einzelfall ermittelt werden, welche Ziele im Vordergrund stehen, welche Gestaltungen möglich sind und welche Rechtsauffassungen tragfähig vertreten werden können. Dies gilt auch für die steuerlichen Wirkungen des Unternehmensvertrags für eine Organschaft. Wenn bei Insolvenzeröffnung bereits feststeht, dass es zu einer Zerschlagung des Unternehmens der Untergesellschaft kommt, ergibt es keinen Sinn, den Unternehmensvertrag bestehen zu lassen. In diesem Fall sollte der Unternehmensvertrag vorsorglich zeitgleich aus wichtigem Grunde gekündigt werden. Hiermit werden Zweifelsfragen vermieden, die sich daraus ergeben, dass angesichts des dargestellten Meinungsbilds ein Fortbestand des Vertrags nicht ausgeschlossen werden kann. Dabei sollten die Abläufe so aufeinander abgestimmt werden, dass das Wirksamwerden der Kündigung mit der Insolvenzeröffnung zusammenfällt. Bei beabsichtigter Unternehmensfortführung lässt sich vertreten, dass der Unternehmensvertrag unter bestimmten Voraussetzungen trotz Insolvenzeröffnung fortbesteht. Unter Berücksichtigung des Fortführungsgebots in § 158 InsO ist es schwerlich vereinbar, pauschal eine Beendigung des Unternehmensvertrags anzunehmen; z.B. im Falle der Eigenverwaltung49 unabhängig davon ob bei Ober- oder Untergesellschaft. Ein wichtiges Argument zu Gunsten des Fortbestands im Falle der Insolvenz der Untergesellschaft ist, dass der Gesetzgeber bei der Eingliederung die Auflösung der Untergesellschaft, mit der die Konkurseröffnung nach alter Konkursöffnung einherging, als Beendigungsgrund ausgestaltet hat (§ 327 Abs. 1 Nr. 4 AktG), beim Unternehmensvertrag jedoch nicht. Es muss hinreichend sicher und rechtzeitig bis zur Insolvenzeröffnung nachgewiesen sein, dass eine Sanierung im vorgenannten Sinne angestrebt und möglich ist. Dies setzt zumindest eine ordnungsgemäße Sanierungsfähigkeitsbescheinigung nach Maßgabe von § 270b Abs. 1 InsO voraus. In allen Fällen ist der jeweils andere Teil berechtigt, den Vertrag aus wichtigem Grunde mit sofortiger Wirkung zu kündigen. Ob das Vertretungsorgan der kündigungsberechtigten Gesellschaft gehalten ist, von dem Kündigungsrecht Gebrauch zu machen, bedarf der Abwägung im Einzelfall. Die Geschäftsführung einer solventen Untergesellschaft ist nicht zwingend gehalten, den Vertrag wegen Insolvenz der Obergesellschaft zu kündigen. Gegen Weisungen und Gewinnabführungen trotz ungewissem Verlustausgleich ist die Untergesellschaft bereits dadurch geschützt, dass sie die Ausführung einer Weisung und die Erfüllung eines Gewinnabführungsanspruchs mit der Begründung verweigern kann, die Erfüllung zukünftiger Verlustausgleichsan49 Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 297 AktG Rz. 52b.

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sprüche sei ungewiss. Die Geschäftsführung der Untergesellschaft kann daher insgesamt abwägen, insbesondere unter Berücksichtigung der etwaigen Vorteile, die ihr Unternehmensvertrag und der damit eingehergehende Konzernverbund bringen.50 Nimmt man unter den genannten Voraussetzungen einen Fortbestand des Vertrags an, fehlt es gleichzeitig an einer Vertragsbeendigung, die Ansprüche der Gläubiger der Untergesellschaft nach § 303 Abs. 1 AktG auslösen könnte. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass nach vielvertretener Auffassung § 303 Abs. 1 AktG in diesem Fall analoge Anwendung finden soll.51 Da auch hierzu bislang, soweit ersichtlich, keine gerichtliche Entscheidung vorliegt, verbleibt ein ganz erhebliches Risiko, dass auch die bloße Suspendierung aufgrund der Insolvenzeröffnung Ansprüche nach § 303 Abs. 1 AktG begründen könnte. Um ein etwaiges Haftungsrisiko der Obergesellschaft angemessen zu begrenzen, sollte vorsorglich auch aufgrund der bloßen Suspendierung eine Bekanntmachung erfolgen, um so zumindest die sechsmonatige Ausschlussfrist des § 303 Abs. 1 Satz 1 AktG auszulösen. Wird von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, wird die Obergesellschaft später allerdings schwerlich einwenden können, § 303 Abs. 1 AktG sei mangels Vertragsbeendigung nicht anwendbar. Besteht der Vertrag fort, entstehen auch weiter Verlustausgleichsansprüche, wenn die Untergesellschaft zu Bilanzstichtagen Verluste erzielt hat. Diese dürften in der Insolvenz der Obergesellschaft keine Masseforderungen, sondern Insolvenzforderungen sein, weil der Unternehmensvertrag als Rechtsgrund vor Verfahrenseröffnung gelegt wurde, mag der einzelne Anspruch auch erst im weiteren Verlauf entstehen. Daher ist es grundsätzlich möglich, diese Ansprüche in einem Insolvenzplan zu regeln (§ 302 Abs. 3 Satz 2 2. Fall AktG). Sofern der Vertrag fortbesteht, ist ein Insolvenzverwalter der Obergesellschaft berechtigt, gegenüber einer Untergesellschaft, die ihrerseits nicht insolvent ist, ein beherrschungsvertragliches Weisungsrecht auszuüben und einen Gewinnabführungsanspruch geltend zu machen. 2. Abweisung des Eröffnungsantrags mangels Masse Weist das Insolvenzgericht den Eröffnungsantrag mangels Masse ab, führt das nach h.M. zur automatischen Beendigung des Vertrags.52

50 Vgl. etwa Hirte in Uhlenbruck, 15. Aufl. 2019, § 11 InsO Rz. 407. 51 Etwa Koppensteiner in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2004, § 303 AktG Rz. 10; Koch in Hüffer/Koch, 15. Aufl. 2021, § 303 AktG Rz. 2; Emmerich in Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-Konzernrecht, 9. Aufl. 2019, § 303 AktG Rz. 5; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 303 AktG Rz. 36 m.w.N. 52 Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 106; Peres in Heidel, Aktienrecht und Kapitalmarktrecht, 5. Aufl. 2020, § 297 AktG Rz. 34; sogar Koppensteiner in Kölner Kommentar zum AktG, 3. Aufl. 2004, § 297 Rz. 47; Berthold, Unternehmensverträge in der Insolvenz, 2004, Rz. 382.

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IV. Folgen einer Beendigung Kommt es nach alledem zu einer Beendigung des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags – sei es durch Aufhebung (§ 296 AktG) zum Ende des Geschäftsjahres oder unterjährig durch außerordentliche Kündigung oder Insolvenz –, so löst dies unterschiedliche und oftmals gravierende Rechtsfolgen aus, auf die im Folgenden näher einzugehen ist. 1. Beendigung der steuerlichen Organschaft Ein Gewinnabführungsvertrag ist erforderlich, um eine körperschaftsteuerliche Organschaft zu begründen (§§ 14, 17 KStG). Gemäß § 14 Abs. 1 KStG bewirkt die Organschaft, dass der Obergesellschaft das Einkommen der Untergesellschaft zugerechnet wird. Auch die gewerbesteuerliche Organschaft setzt nach § 2 Abs. 2 Satz 2 GewStG das Bestehen eines Gewinnabführungsvertrags voraus. Allein bei der umsatzsteuerlichen Organschaft kommt es nicht auf das Bestehen eines Unternehmensvertrags an (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG). Wird der Gewinnabführungsvertrag beendet, entfallen die steuerlichen Wirkungen der körperschaftsteuerlichen und gewerbesteuerlichen Organschaft. Dies gilt zunächst für die Zukunft einschließlich des Wirtschaftsjahres, in das die Beendigung fällt (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Satz 3 KStG). Allerdings können die steuerlichen Wirkungen zugleich auch für die Vergangenheit entfallen, wenn der Vertrag nicht für eine Zeit von mindestens fünf Jahren abgeschlossen und durchgeführt worden ist (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KStG). In diesem Fall kommt es darauf an, ob ein steuerrechtlich anerkannter wichtiger Grund für eine vorzeitige Beendigung gegeben ist.53 Damit die Wirkungen der Organschaft in der Vergangenheit bestehen bleiben, muss allerdings hinzukommen, dass der Gewinnabführungsvertrag ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Dies umfasst auch den letzten Verlustausgleichsanspruch. Zu beachten ist, dass der BFH hinsichtlich der umsatzsteuerlichen Organschaft dazu zu neigen scheint, die Organschaft ab Insolvenzeröffnung entfallen zu lassen, und zwar auch dann, wenn sie in Eigenverwaltung erfolgt und unabhängig davon, welcher Vertragsteil betroffen ist.54 Kommt es insolvenzbedingt zur Beendigung der Organschaft, kann zudem eine Haftung der Beteiligten nach § 73 AO in Betracht kommen.55 53 Entgegen des – zu eng geratenen – Wortlauts von § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 KStG kommt es auf die Art der Beendigung nicht an, vgl. FG Berlin-Brandenburg v. 19.10.2011 – 12 K 12078/08, GmbHR 2012, 413; dazu Walter, GmbHR 2012, 670; Hentzen, NZG 2008, 201. 54 BFH v. 18.12.2013 – I B 85/13, DStR 2014, 793 m. Anm. Martin, SteuK 2014, 237; Kessler, GWR 2014, 249; a.A. die Vorinstanz Hessisches FG v. 6.11.2014 – 6 V 2469/12 m. Anm. Kahlert/Schmidt, DStR 2014, 419. 55 Vgl. hierzu etwa Schimmele/Weber, BB 2013, 2263.

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2. Entstehung eines letzten Verlustausgleichs- und Gewinnabführungsanspruchs Die Obergesellschaft bleibt nach der Rechtsprechung des BGH verpflichtet, Verluste der Untergesellschaft – letztmalig – nach § 302 Abs. 1 AktG auf den Beendigungszeitpunkt auszugleichen. Maßgeblich ist der Verlust, der sich bei objektiv zutreffender Bilanzierung ergibt.56 Die Verlustausgleichsverpflichtung besteht nach heute allgemeiner Auffassung auch, wenn der Beendigungszeitpunkt in den Lauf des Geschäftsjahres der Untergesellschaft fällt (sog. unterjährige Beendigung).57 Dies gilt auch bei einer Beendigung aufgrund Insolvenzeröffnung.58 Endet der Unternehmensvertrag unterjährig, stellt sich spiegelbildlich die Frage, ob der Obergesellschaft für die Zeit ab Beginn des Geschäftsjahres bis zur unterjährigen Beendigung ein anteiliger Gewinnabführungsanspruch zusteht, falls die Untergesellschaft in dieser Zeit einen Gewinn erzielt hat. Diese Frage kann auch im Insolvenzzusammenhang Bedeutung gewinnen, nämlich wenn die Untergesellschaft von einer Insolvenz der Konzernobergesellschaft oder des Restkonzerns nicht in einer Weise betroffen wird, dass sie selbst insolvent wird. Hierzu existieren nur wenige ausdrückliche Stellungnahmen59. So soll etwa § 301 Satz 1 AktG einem anteiligen Gewinnabführungsanspruch ggfs. entgegenstehen. Jedenfalls wird man § 301 Satz 1 AktG zu entnehmen haben, dass ein anteiliger Gewinnabführungsanspruch nur unter dem Vorbehalt besteht, dass das Ergebnis der Gesellschaft im verbleibenden Teil des Geschäftsjahres mindestens ausgeglichen ist. 3. Ansprüche von Gläubiger der Untergesellschaft a) Anspruch auf Sicherheitsleistungen gegen die Obergesellschaft Die Beendigung des Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags löst die Verpflichtung der Obergesellschaft nach § 303 AktG aus, den Gläubigern der Untergesellschaft Sicherheit zu leisten. Der Anspruch setzt die Begründung der Forderung des Gläubigers vor dem Zeitpunkt der Eintragung der Beendigung des Vertrags im Handelsregister voraus. In der Insolvenz kommt es häufig vor, dass eine Anmeldung nach § 298 AktG versäumt wird oder jedenfalls verspätet erfolgt. Eine rechtzeige Forderungsbegründung im Sinne von § 303 AktG setzt jedenfalls voraus, dass der Rechtsgrund der Forderung vor der Bekanntmachung begründet wur-

56 BGH v. 14.2.2005 – II ZR 361/02, DStR 2005, 750; Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 27. 57 Etwa Altmeppen in MünchKomm. AktG, 5. Aufl. 2020, § 302 AktG Rz. 25; im Insolvenzfall gilt nichts anderes, vgl. Bultmann, ZinsO 2007, 785, 789. 58 Etwa Bultmann, ZinsO 2007, 785, 789. 59 Etwa Gelhausen, NZG 2005, 775; Philippi/Neveling, BB 2003, 1685, 1691 die einen anteiligen Gewinnabführungsanspruch bejahen.

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de.60 Für den Anspruch gilt die fünfjährige Nachhaftungsbegrenzung der §§ 25, 160 HGB, § 327 Abs. 4 AktG analog.61 Ausnahmsweise folgt aus § 303 Abs. 1 AktG nicht nur ein Anspruch auf Sicherheitsleistung, sondern ein Anspruch des Gläubigers gegen die Obergesellschaft auf Zahlung, wenn feststeht, dass der Gläubiger mit seiner Forderung gegen die Untergesellschaft ausfällt (sog. Ausfallhaftung).62 Dies ist nach verbreiteter Auffassung bereits anzunehmen, wenn über das Vermögen der Untergesellschaft das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.63 Im Übrigen wirft § 303 AktG in der Insolvenz zahlreiche und zum Teil unbehandelte Fragen auf, denen an dieser Stelle nicht näher nachgegangen werden kann.64 b) Auslösen weiterer Ansprüche von Gläubigern der Untergesellschaft Soweit die Untergesellschaft Arbeitnehmer oder Versorgungsberechtigte hat, kann die Obergesellschaft eine besondere arbeitsrechtliche Haftung für Ansprüche dieser Personengruppen treffen.65 Die mögliche Haftung der Obergesellschaft gegenüber diesen Gläubigern der Untergesellschaft ist zwar mit § 303 AktG in Teilen verwandt, von § 303 AktG jedoch streng zu unterscheiden. Im Unterschied zu der Haftung nach § 303 AktG unterliegt diese Haftung keiner kurzen Ausschlussfrist, sondern nur der allgemeinen Verjährung (§§ 195, 199 BGB). Die dogmatischen Grundlagen und weiteren Voraussetzungen dieser Haftung sind ausgesprochen unklar und streitig. Diese Haftung kommt in Betracht, wenn die Obergesellschaft die Untergesellschaft bei Beendigung des Unternehmensvertrags in einem Zustand zurücklässt, der die Erfüllung der Ansprüche der Arbeitnehmer und Versorgungsberechtigten gefährdet. Die Haftung dürfte allerdings voraussetzen, dass die Obergesellschaft durch Einwirkungen auf die Untergesellschaft während der Laufzeit des Vertrags die Vermögenslage der Untergesellschaft verschlechtert hat. Dass dieses Erfordernis besteht, ist jedoch keinesfalls gesichert. Es könnte bereits ausreichen, dass der Zustand der Untergesellschaft bei Beendigung hinreichend schlecht ist. 4. Anwendbarkeit des allgemeinen Kapitalschutzrechts Mit der Beendigung des Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags entfällt die (teilweise) Suspendierung des allgemeinen Kapitalschutzrechts mit der Folge, dass 60 Etwa OLG Köln v. 26.2.2008 – 15 U 147/07, OLGR 2008, 387 m. Anm. Schuback, BB 08, 1141; vgl. OLG Frankfurt a.M. v. 16.2.2000 – 19 U 226/98, NZG 2000, 933, 934 m. Anm. Hoffmann, NZG 2000, 935. 61 BGH v. 7.10.2014 – II ZR 361/13, NZG 2014, 1340. 62 BGH v. 16.9.1985 – II ZR 275/84, NJW 1986, 188; BGH v. 23.9.1991 – II ZR 135/90, BGHZ 115, 187. 63 Altmeppen in Altmeppen, 10. Aufl. 2021, Anh. § 13 Rz. 74; a.A. OLG Frankfurt a.M. v. 16.2.2000 – 19 U 226/98, NZG 2000, 933, 934. 64 Weiterführend z.B. Klöckner, ZIP 2011, 1454. 65 U.a. BAG, v. 26.5.2009 – 3 AZR 369/07, NZA 2010, 641, 644 Rz. 33 ff.

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Die Auswirkungen von Krise und Insolvenz auf den Unternehmensvertrag

dieses zum Schutz der Untergesellschaft wieder uneingeschränkt Anwendung findet. Dies betrifft vor allem das Verbot der Einlagenrückgewähr (§ 30 Abs. 1 Satz 2 1. Fall GmbHG, § 57 Abs. 1 Satz 3 1. Fall AktG). Vor diesem Hintergrund kann der Geschäftsführer der Untergesellschaft im Einzelfall gehalten sein, den Unternehmensvertrag mit sofortiger Wirkung zu kündigen, um hierdurch das Verbot der Einlagenrückgewähr wieder uneingeschränkt zur Anwendung kommen zu lassen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn man es mit dem OLG Frankfurt am Main ablehnt, in § 30 Abs. 1 Satz 2 1. Fall GmbHG und § 57 Abs. 1 Satz 3 1. Fall AktG das Erfordernis hineinzulesen, dass im Zeitpunkt der Leistung ein (ggf. gedachter) Verlustausgleichsanspruch vollwertig sein muss.66

66 OLG Frankfurt a.M. v. 8.11.2013 – 24 U 80/13, NZI 2014, 363 m. Anm. Lange, GWR 2014, 376.

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Mehr Gesetzesqualität durch Folgekostenberechnungen auf Bundes- und Länderebene Gisela Meister-Scheufelen

Inhaltsübersicht I. Einführung der Folgekostenberechnung bei neuen Regelungen des Bundes II. Ziele der Folgekostenberechnung III. Folgekosten bei der öffentlichen Verwaltung IV. Kostenarten und Normadressaten nach dem Standard-Kosten-Modell V. Beschluss der Landesregierung BadenWürttemberg zur Berechnung der Folgekosten

VI. Landesspezifische Aspekte bei der Anwendung des Standard-KostenModells VII. Ausnahmen von der Berechnung der Folgekosten nach dem StandardKosten-Modell VIII. Länderspezifische Weiterentwicklung des Standard-Kosten-Modells bei den Folgekosten der öffentlichen Verwaltung IX. Resümee

Die Qualität eines Gesetzes zeichnet sich neben der erforderlichen Verfassungsmäßigkeit u.a. dadurch aus, dass sich der Gesetzgeber eingehend mit den zu erwartenden Regelungsfolgen beschäftigt und sie transparent macht. Dazu gehört, dass er sich mit den Folgekosten befasst und sie darstellt. Der Bund berechnet seit 2006 die Folgekosten nach einer international anerkannten Methodik, Sachsen seit 2016 und Baden-Württemberg seit 2018. Auf der Ebene der Bundesländer zeigt sich, dass es einer methodischen Anpassung der Berechnungsmethodik für die Folgekosten, und zwar insbesondere für diejenigen der Verwaltung, bedarf. Die Bundesländer haben immer weniger Gesetzgebungskompetenzen, vollziehen aber mit ihren Landes- und Kommunalverwaltungen die Regelungen der EU und des Bundes. Hinzu kommt, dass das Rechtsetzungsgeschehen der Länder vorrangig institutionelle Fragen der eigenen Fachverwaltungen (z.B. Bau eines Polizeipräsidiums) sowie Qualifizierungsmaßnahmen im Bereich der Schule und Hochschule betreffen, die wesentliche Auswirkungen auf Personal- und damit Verwaltungskosten haben (z.B. neue Unterrichtsfächer). Der Beitrag befasst sich mit der länderspezifischen Weiterentwicklung dieser Berechnungsmethodik.

I. Einführung der Folgekostenberechnung bei neuen Regelungen des Bundes Der Bund hat 2006 ein Maßnahmenprogramm zur Vermeidung und zum Abbau unnötiger Bürokratie eingeführt. Gegenstand waren zunächst die Bürokratiekosten, 253

Gisela Meister-Scheufelen

d.h. der Aufwand zur Befolgung von rechtlich vorgeschriebenen Informationspflichten, also für Antragstellungen, Dokumentationen, Nachweise etc. für Wirtschaft, Bürgerinnen und Bürger sowie die Verwaltung. Zentraler methodischer Baustein dieses Programms war die Anwendung des international anerkannten Standard-Kosten-Modells, womit die Folgekosten einer Regelung (Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift) für die Normadressaten berechnet und transparent gemacht werden können. Bezüglich der Informationspflichten für die Wirtschaft wurde zudem eine Bestandsmessung durchgeführt. Die Kosten für die Verwaltungen konnten häufig nur schwer oder gar nicht beziffert werden, da der Bund die Mehrzahl seiner Rechtsetzungen nicht selbst mit seiner eigenen Verwaltung vollzieht. 2011 erweiterte der Bund das Standard-Kosten-Modell und führte den Begriff „Erfüllungsaufwand“ ein. „Der Erfüllungsaufwand umfasst gem. § 2 Abs. 1 Normenkontrollratsgesetz (NKRG) den gesamten messbaren Zeitaufwand und die Kosten, die durch die Befolgung einer bundesrechtlichen Vorschrift bei Bürgerinnen und Bürgern, der Wirtschaft sowie der öffentlichen Verwaltung entstehen“. Mit der Erweiterung wurden also auch die sog. „weiteren Regelungskosten“ erfasst, wie z.B. der Zeit- und Kostenaufwand, der durch Verpflichtungen zu Winterreifen, das Tragen von Helmen, das Anbringen von Rauchmeldern, den Einbau von Filteranlagen oder die Einstellung von betrieblichen Beauftragten entsteht. Grund für die Erweiterung war die Kritik der Wirtschaft, dass die Bürokratiekosten im Vergleich zu den weiteren bis dahin nicht erfassten Kosten, die ein Gesetz bei ihnen auslöse, nicht selten den geringeren Teil der Folgekosten ausmachen würden.

II. Ziele der Folgekostenberechnung Die Berechnung von Folgekosten ist ein wesentlicher Teil der Gesetzesfolgenabschätzung. Diese wiederum ist ein Qualitätsmerkmal guter Rechtsetzung. Sie ist wichtig für die politische Steuerung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse. Durch Gesetzesfolgenabschätzungen sollen die Notwendigkeit und die möglichen Auswirkungen einer neuen Norm bereits in der Entstehungsphase geprüft und bewertet werden. Ziel ist es, durch die frühzeitige Prüfung alternativer Regelungsmöglichkeiten durch Fachleute und Betroffene die Qualität staatlicher Regelungen weiter zu verbessern und sie zugleich auf das erforderliche Maß zu beschränken. Auf diese Weise wird zum einen die demokratische Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern ausgebaut und zum anderen erhält der Gesetzgeber eine bessere Grundlage für seine Entscheidungen.1

1 Bundesregierung: https://www.verwaltung-innovativ.de/DE/Gesetzgebung/Bessere_Rechtset zung/bessere_rechtsetzung_node.html.

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Mehr Gesetzesqualität durch Folgekostenberechnungen auf Bundes- und Länderebene

Hinzu kommt, dass mithilfe der Darstellung der jährlichen Entwicklungen der Erfüllungsaufwände der Politik und der Öffentlichkeit eine faktenbasierte und damit bessere Bewertungsmöglichkeit der mittel- und langfristigen Entwicklung gegeben wird. Von Anfang an hat der Bund, ebenso wie andere EU-Länder oder die USA, die Berechnung der Folgekosten für die Wirtschaft als besonders wichtig angesehen. Dies liegt daran, dass die Wirtschaft wesentlich stärker von Folgekosten der Regelungen des Bundes und der EU betroffen ist als die Bürgerinnen und Bürger und gerade sie auch die Überbürokratisierung besonders stark kritisiert. Im Zuge der Entwicklung des Standard-Kosten-Modells hat der Bund die ex ante Ermittlung der Folgekosten auch auf die Normadressatengruppe der Bürgerinnen und Bürger erweitert.

III. Folgekosten bei der öffentlichen Verwaltung Die Anwendung der Folgekostenberechnung auf die öffentliche Verwaltung diente in erster Linie dem Ziel, bereits im Rechtsetzungsverfahren feststellen zu können, ob die Entlastung der Wirtschaft durch Vorgaben des Gesetzgebers bzw. der Regierung gleichzeitig zu einer Mehrbelastung der Verwaltung führt und umgekehrt. Außerdem sollte für den Gesetzgeber transparent werden, welche Kosten durch den Verwaltungsvollzug neuer Regelungen ausgelöst werden, zumal dies häufig nicht in Form neuer Personalstellen oder neu zugewiesener Haushaltsmittel deutlich wird, sondern als sog. „Die-sind-eh-da-Kosten“ von den zuständigen Behörden zu tragen sind. Die Verpflichtung zur Folgekostenberechnung sollte in den Ministerien, in denen Regelungen ausgearbeitet werden, während sie zum kleineren Teil in bundeseigenen Behörden und zum größeren Teil auf anderen Verwaltungsebenen vollzogen werden, das Bewusstsein schärfen, auch im Interesse der Verwaltung selbst möglichst aufwandsschonende Vollzugslösungen zu suchen. Schließlich sah der Bundesgesetzgeber ein besonderes Interesse darin, nicht nur den Vollzugsaufwand, sondern insbesondere auch den Aufwand für das fiskalische Handeln der Verwaltung als Normadressatin (z.B. als Halter von Kfz oder als Bauherr) auszuweisen.

IV. Kostenarten und Normadressaten nach dem Standard-Kosten-Modell In Folgenden wird ausgehend von der Definition des Erfüllungsaufwands dargestellt, für welche Kosten und Normadressaten Berechnungsergebnisse dargestellt werden sollen und worauf sich die weitere Überprüfung im Wesentlichen konzentriert.

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Gisela Meister-Scheufelen

Erfüllungsaufwand Der Erfüllungsaufwand umfasst den gesamten messbaren Zeitaufwand und die Kosten, die durch die Befolgung einer Vorschrift bei Bürgerinnen und Bürgern, der Wirtschaft sowie der öffentlichen Verwaltung entstehen.

Wirtschaftt

Bürgerinnen und Bürgerr

Bürokratiekosten

Laufende Kosten

Einmalige Kosten

Öffentliche Verwaltung

weitere Regelungskosten

Laufende Kosten

Einmalige Kosten

Bei der Berechnung wird geprüft, welche Vorgaben die Regelung (Gesetz, Verordnung, Verwaltungsvorschrift) enthält. Vorgaben sind Einzelregelungen, die bei den Normadressaten unmittelbar zur Änderung von Kosten, Zeitaufwand oder beidem führen. Um eine „Vorgabe“ handelt es sich dann, wenn Bürgerinnen und Bürger, die Wirtschaft sowie die öffentliche Verwaltung ihnen Folge leisten müssen, um nicht gegen Rechtsvorschriften zu verstoßen oder etwaige Ansprüche auf staatliche Leistungen, wie z.B. Zuschüsse, zu verlieren. Unter Bürokratiekosten werden Folgekosten verstanden, die durch die Erfüllung von Informationspflichten verursacht werden. Sie sind Teil des Erfüllungsaufwands. Informationspflichten sind alle Vorgaben, nach denen Daten und sonstige Informationen für Behörden oder Dritte zu beschaffen, verfügbar zu halten oder zu übermitteln sind. Dies sind z.B. die Beantragung von Genehmigungen, das Erstellen und Vorlegen von Dokumentationen, die Mitwirkung bei Prüfungen durch die Verwaltung, Preisauszeichnungen oder das Aufbewahren von Rechnungen.

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Mehr Gesetzesqualität durch Folgekostenberechnungen auf Bundes- und Länderebene

Der Erfüllungsaufwand umfasst dann außerdem „weitere Regelungskosten“, die keine Bürokratiekosten sind, wie z.B. Kosten aufgrund einer Helmpflicht oder der Verpflichtung, eine Filteranlage einzubauen. Es kann indes nicht übersehen werden, dass auch solche weiteren Regelungskosten von der Wirtschaft und Bürgerinnen und Bürgern als Bürokratie empfunden werden. Zudem entsteht hier häufig komplementärer Vollzugsaufwand in den öffentlichen Verwaltungen, welche die Einhaltung der Vorschriften überwachen müssen. Nicht als Erfüllungsaufwand wird dagegen gewertet: – Der unmittelbare Haushaltsaufwand, wie z.B. der Ausgleich für Steuerausfälle, Transferausgaben wie Eltern- oder Kindergeld, staatliche Zuschüsse oder gezahlte Unternehmenssubventionen, – der Aufwand an Personal- und Sachkosten zur Erfüllung von sog. Kernaufgaben des Staates (Strafermittlung und -verfolgung durch Polizei und Staatsanwaltschaft sowie die Tätigkeit der Richterinnen und Richter zur Klärung der Rechtslage einschließlich der Ausübung der Strafgerichtsbarkeit), – Steuern, Sozialabgaben, sonstige Abgaben (z.B. Ausgleichsabgaben), – Kosten, die vom Bund als „Weitere Kosten“, vom Land als „sonstige Kosten für Private“ (D) bezeichnet werden, wie z.B. Kosten für soziale Sicherungssysteme, Auswirkungen auf Einzelpreise und das Preisniveau, – entgangener Gewinn sowie – Kosten des Regierungshandelns selbst, wie die Kosten für das Erarbeiten neuer Gesetze, Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften.

V. Beschluss der Landesregierung Baden-Württemberg zur Berechnung der Folgekosten Die Landesregierung Baden-Württemberg beschloss 2017, für Landesregelungen ab 2018 eine Verpflichtung zur Berechnung und Darstellung der Folgekosten einzuführen und dabei die Methodik des Bundes anzuwenden. Diese Verpflichtung wurde in die Verwaltungsvorschrift „Regelungen“ aufgenommen. Um den zusätzlichen Aufwand für die Berechnung der Folgekosten leisten zu können, wurde zur Unterstützung der Ministerien eine Stabsstelle im Statistischen Landesamt mit einem Kompetenz-Center eingerichtet. Im Zuge dessen wurde ein unabhängiges Expertengremium, der Normenkontrollrat Baden-Württemberg, eingesetzt, um die Landesregierung bei der Umsetzung ihrer Maßnahmen auf den Gebieten der Bürokratievermeidung, des Bürokratieabbaus und der besseren Rechtsetzung zu beraten und zu unterstützen. Die Berechnung und Darstellung von Folgekosten dienen als wichtiger Teil der Gesetzesfolgenabschätzung der besseren Rechtsetzung und, soweit auf diese Weise aufwandsschonende Vollzugsalternativen entschieden werden, der Bürokratievermeidung.

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Gisela Meister-Scheufelen

VI. Landesspezifische Aspekte bei der Anwendung des Standard-Kosten-Modells Das Standard-Kosten-Modell wirft insbesondere bei der Regelungsfolgenabschätzung für die Verwaltung die Frage der landesspezifischen Kompatibilität auf, wenn es um Regelungsvorhaben im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz eines Bundeslandes geht. Dies betrifft z.B. Bildungsmaßnahmen, Infrastrukturprojekte, Sicherheitsmaßnahmen oder Fragen der Haushaltsführung. Es handelt sich um Politikbereiche, in denen Bundesländer über – teilweise umfangreiche – Fachverwaltungen verfügen. Vorrangig in diesen Politikbereichen enthalten die entsprechenden Regelungsvorhaben landespolitische Kernaufgaben, d.h. originäre landespolitische Aufgaben. Ihre Kostenfolgen für den Landeshaushalt werden bereits in der Öffentlichkeit diskutiert. Es besteht insoweit kein gesondertes Transparenzbedürfnis, dem im Interesse der politischen Entscheidungsträger oder der Öffentlichkeit Rechnung getragen werden müsste. Zudem eröffnen sich bei diesen originären landespolitischen Aufgaben auch keine oder kaum Steuerungsmöglichkeiten, um den Haushaltsaufwand der Verwaltung zu senken, weil dieser politisch bestimmt ist wie z.B. beim zusätzlichen Informatikunterricht an Schulen. Anders ist dies, wenn die Landesverwaltung als Fiskalverwaltung handelt: Wenn das Land im Rechtsverkehr als ein dem Bürger und der Bürgerin gleichgestelltes Rechtssubjekt auftritt und daher keine öffentlichen Aufgaben erfüllt, handelt die Verwaltung fiskalisch, so z.B. beim Kauf eines Kfz, beim Bau eines Gebäudes oder beim Abschluss eines Stromlieferungsvertrags. Der dabei für die Verwaltung entstehende Erfüllungsaufwand wird berechnet und dargestellt. Anders ist dies auch bei „Bürokratiekosten“ der Verwaltung, den Verfahrensvorgaben und Informationspflichten, die es auch innerhalb der Verwaltung gibt. Hier bestehen in der Regel Vollzugsalternativen, allein schon durch Digitalisierungsmöglichkeiten. Derartige Folgekosten, die durch landespolitisch bestimmte Regelungen über Vollzugswege und -verfahren ausgelöst werden, sind in der Regel nicht Gegenstand der politischen Debatte. Wenn nach intensiver politischer Diskussion, Kompromissfindung und Abwägung schließlich eine Entscheidung getroffen wird, die zum Regelungsinhalt führt, geht der Gesetzgeber davon aus, dass die Details des Verwaltungsvollzugs von der Ministerialverwaltung zweckgerecht festgelegt werden. Dies findet im Übrigen auch häufig nicht im Gesetz selbst, sondern in den nachfolgenden Verordnungen und Verwaltungsvorschriften statt.

VII. Ausnahmen von der Berechnung der Folgekosten nach dem Standard-Kosten-Modell Aufgrund definitorischer Festlegungen des Bundes sowie vor dem Hintergrund der zuletzt ausgeführten landesspezifischen Besonderheiten ergeben sich aus Ländersicht folgende sinnvolle Ausnahmen von der Pflicht zur Quantifizierung des Erfüllungsaufwands: 258

Mehr Gesetzesqualität durch Folgekostenberechnungen auf Bundes- und Länderebene

Finanzverwaltung: Die Vielzahl rein haushaltsrechtlicher Regelungen, die den Vollzug haushaltsrechtlicher Vorschriften betreffen und bei der Finanzverwaltung sowie der gesamten Landesverwaltung erhebliche Aufwände auslösen, sind von der Anwendung der Erfüllungsaufwands-Berechnung ausgenommen (Nr. 4.3.2 VwV Regelungen). Dies gilt nicht für Regelungen, wie z.B. Förderprogrammen, die auf Vorschriften der Landeshaushaltsordnung Bezug nehmen. Justizverwaltung: Die Vielzahl der die Rechtsprechung betreffenden Regelungen ist bereits vom Bund unter Hinweis auf den justiziellen Kernbereich ausgenommen. Die Landesregierung Baden-Württemberg hat sich dieser Festlegung angeschlossen. Der Aufwand wird vom Bund allerdings als „sonstige Kosten“ im Gesetzesvorblatt gesondert ausgewiesen. Dies könnte auch für das Land erwogen werden, wenn der Aufwand nicht bereits bei den budgetären Folgen ausgewiesen wird. Soweit die Regelung jedoch administrative Vorgaben zur Tätigkeit von Richterinnen und Richtern macht, die Bürokratiekosten, insb. Informationspflichten und Verwaltungsverfahren wie z.B. die Führung von e-Akten betreffen, werden sie von der Definition des Erfüllungsaufwands erfasst. Innenverwaltung: Tätigkeiten der Polizei, die der Strafermittlung und der Strafverfolgung dienen, sind von der Anwendung der Erfüllungsaufwands-Berechnung ausgenommen. Auch wenn der Bund dies nicht ausdrücklich in dem von BadenWürttemberg übernommenen Leitfaden zur Berechnung des Erfüllungsaufwands erwähnt, muss dies sinngemäß auch für präventive Polizeiarbeit gelten, da es sich bei Regelungen, die diesen Inhalt betreffen, a) um landespolitische originäre Aufgaben handelt, die Gegenstand der politischen Debatte sind, b) für die über das Prinzip der Öffentlichkeit von Plenarentscheidungen hinaus kein Transparenzinteresse an den Folgekosten besteht und c) für die aufgrund der politischen Entscheidungen keine oder zumindest kaum Steuerungsmöglichkeiten im Rechtsetzungsverfahren bestehen, um Effizienzgewinne im Vollzugswege zu erzielen. Kultus- und Wissenschaftsverwaltung: Der Bund wendet den Begriff des Erfüllungsaufwands auch bei Qualifizierungsmaßnahmen, wie z.B. der Zahnärzteausbildung an. Für ihn haben sich insoweit bislang keine grundlegenden methodischen Fragen ergeben. Der staatliche Dienstleistungsbereich von Bildung und Forschung liegt im Wesentlichen in der Regelungskompetenz der Länder. Aus der Sicht der Länder stellt sich deshalb die Frage, ob der Zeitaufwand von Bürgerinnen und Bürgern (u.a. Schüler, Studierende, Auszubildende) sowie für Lehrende in Schulen, Hochschulen und Ausbildungsstätten für die Ausbildung als Erfüllungsaufwand erfasst werden soll. Der Zeit- und Kostenaufwand für die Qualifizierungsmaßnahmen insbesondere zur Erreichung allgemeiner Schul- und (Aus-)Bildungsabschlüsse (z.B. Schulunterricht, Vorlesungen, Gesellenausbildung, Meisterkurse) ist Gegenstand originärer landespolitischer Aufgaben, bei denen wie bei der Justiz und der Polizei auch aus demokra259

Gisela Meister-Scheufelen

tiepolitischen Gründen kein gesondertes Transparenzinteresse der Öffentlichkeit erfüllt werden muss, das über die ohnehin stattfindende öffentliche Debatte hinausgeht. Dies gilt auch für die Lehrkräfteaus- und -fortbildung. Es bestehen keine oder kaum Steuerungsmöglichkeiten des Ministeriums, um Effizienzgewinne mithilfe eines aufwandsschonenderen Verwaltungsvollzugs für Bürgerinnen und Bürger oder die Schulen und das Lehrpersonal zu erreichen. Anders verhält es sich, wenn es sich bei den rechtlichen Vorgaben um „Bürokratiekosten“ handelt, also z.B. um Anträge auf Zulassung zu einer weiterführenden Schule oder zum Studium, Anträge auf Teilnahme an einer Lehrerfortbildung, Anträge auf Anerkennung von Bildungsabschlüssen, Statistik- und Dokumentationspflichten oder Pflichten zur Akkreditierung von Studiengängen. Diese gehören unstrittig zum Erfüllungsaufwand und sind zu quantifizieren. Der Aufwand von privaten Bildungsträgern, der durch rechtliche Vorgaben des Landes in Form von Informationspflichten (Anträge, Dokumentationen, Berichte, Nachweise) entsteht, löst Erfüllungsaufwand aus. Vorgaben, die verpflichtende Qualifizierungsmaßnahmen betreffen, lösen nach der beschriebenen Logik keinen Erfüllungsaufwand aus. Landwirtschaftsverwaltung: Von der Ermittlungs- und Darstellungspflicht des Erfüllungsaufwands sind Regelungen ausgenommen, mit denen 1:1 EU-Recht und insbesondere Struktur- und Investitionsfonds der EU umgesetzt werden. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass bei Maßnahmen, die von der EU genehmigt werden müssen, bereits umfangreiche Prüfungen stattfinden und die landesrechtlichen Inhalte, die unter Effizienzgesichtspunkten eine Rolle spielen könnten, in der Regel auf Vorgaben der EU beruhen. Soweit die EU keine konkreten Vorgaben macht und das Land einen Spielraum bei der Wahl der Vollzugsmassnahmen hat, ist der Erfüllungsaufwand zu berechnen. Wirtschafts-, Sozial-, Verkehrs- und Umweltverwaltung: Regelungen, mit denen Inhalte von Qualifizierungsmaßnahmen getroffen werden, beschränken sich nicht auf das Kultusressort. So ist z.B. das Sozialministerium für die Qualifizierung in Kindergärten, das Ministerium Ländlicher Raum und Verbraucherschutz für die Waldpädagogik zuständig. Nicht ausgenommen von der Folgekostenberechnung sind Qualifizierungsmaßnahmen, die nicht im Rahmen eines Bildungsangebots im Kernbereich staatlicher Bildungspolitik, sondern unter gewerberechtlichen Aspekten und als staatliche Vorgabe erfolgen. Der Zeit- und Kostenaufwand, der z.B. durch die Verpflichtung von Wohnimmobilienverwaltern entsteht, die sich bei einer IHK fortbilden und ein Zertifikat erwerben müssen, um ihren Beruf ausüben zu können, ist als Folgekosten der Wirtschaft darzustellen. Nicht ausgenommen von der Folgekostenberechnung sind z.B. auch Erste-Hilfe-Kurse, die von Beschäftigten einer Verwaltung oder eines Unternehmens durchgeführt werden müssen, wenn sie gesetzlich vorgeschrieben sind.

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Mehr Gesetzesqualität durch Folgekostenberechnungen auf Bundes- und Länderebene

Die Landesbauverwaltung und die Aufbauorganisation der Landesverwaltung betreffende Entscheidungen: Der Zeitaufwand der Landesbauverwaltung sowie die Kosten für den Neu- oder Umbau einer Behörde fallen ebenfalls nicht unter den Begriff des Erfüllungsaufwands. Regelungen, die z.B. den Neubau oder Umbau einer Behörde vorsehen, betreffen institutionelle Entscheidungen und werden im Gesetzgebungsverfahren intensiv debattiert. Hinzu kommt, dass sie hinsichtlich ihrer haushälterischen Auswirkungen im Regelungsentwurf dokumentiert werden. Die unter Kostengesichtspunkten zentrale Frage, ob ein Neubau kostengünstiger ist oder die Anmietung von Gebäuden, ist bereits Gegenstand eines intensiven Entscheidungsprozesses im Finanzministerium und zwischen den Ressorts. Kostenfolgen aus Entscheidungen der Landesregierung bzgl. des landeseigenen Behördenaufbaus sind ebenfalls kein Erfüllungsaufwand, zumal die budgetären Folgen im Landeshaushalt ebenfalls ausreichend transparent ausgewiesen sind. Durchführung von Förderprogrammen: Das Fördervolumen bei Regelungen, die Förderprogramme betreffen, stellt unstrittig keinen Erfüllungsaufwand dar. Es ist eine landespolitische originäre Aufgabe zu entscheiden, wie hoch bestimmte Bereiche oder Zielgruppen mit Haushaltsmitteln gefördert werden sollen. Dies wird unter Haushaltsaufwand dokumentiert und zudem im Landeshaushalt ausgewiesen. Es besteht kein darüberhinausgehendes Transparenzinteresse der Öffentlichkeit. Erfüllungsaufwand ist jedoch regelmäßig der Aufwand zur Verwaltung der Förderprogramme: U.a. Antragstellung, Abwicklung, Verwendungsnachweise und -kontrollen. Insb. in der Digitalisierung der Antrags-, Genehmigungs- und Zuwendungsverfahren liegt für begünstigte Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger, Vereine sowie die Landes- und Kommunalverwaltungen selbst ein erhebliches Potential zur Einsparung von unnötigen Bürokratiekosten.

VIII. Länderspezifische Weiterentwicklung des Standard-KostenModells bei den Folgekosten der öffentlichen Verwaltung Unter Berücksichtigung der Ausführungen in den vorangegangenen Abschnitten erscheint es sachgerecht, sich bei der Ermittlung des Erfüllungsaufwandes bei der Verwaltung auf Be- und Entlastungen zu konzentrieren, die durch Vorgaben entstehen, die die Bürokratiekosten betreffen. Bei den weiteren Regelungskosten ist es ausreichend, aber auch angezeigt, die bei der Fiskalverwaltung entstehenden Be- und Entlastungen zu berechnen und darzustellen.

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Gisela Meister-Scheufelen Verwaltungskosten

Weitere Regelungskosten

Bürokratiekosten

o

o

o

im Rahmen öffentlich-rechtlichen Handelns (z.B. Land oder Kommunen als Adressaten von Förderprogrammen), korrespondierend zu Informations- und anderen Erfüllungsauffwand auslösenden rechtlichen Pflichten anderer Normadressaten (z.B. Verwaltung bearbeitet Anträge) oder ein verwaltungsinterner Vorgang (z.B. Leistungsprämien, Festsetzung und Auszahlung von Besoldungserhöhungen)

Im Rahmen der Fiskalverwaltung (z.B. Bauauflage, die von Behörde erfüllt werden muss)

institutionelle Kosten des Landes (z.B. Land errichtet einen Neubau, Umzugskosten, Mietkosten)

Erfüllung von originären Aufgaben des Landes (z.B. Lehre, Schulunterricht, Rechtsprechung, Strafverfolgung, polizeiliche Prävention)

Zu berechnender und darzustellender Erfüllungsaufwand

Kein Erfüllungsaufwand

IX. Resümee Über 70 % des EU- und Bundesrechts wird von den Landes- und Kommunalverwaltungen vollzogen. Dies bedeutet, dass die Landes- und Kommunalverwaltungen überproportional von dem Regelungsgeschehen betroffen sind. Die Rechtsetzung eines Bundeslandes aufgrund eigener Regelungskompetenz betrifft u.a. Bildungsmaßnahmen, Infrastrukturprojekte, Sicherheitsmaßnahmen oder Fragen der Haushaltsführung. Es handelt sich um Politikbereiche, in denen Bundesländer über teilweise umfangreiche Fachverwaltungen verfügen. Vorrangig in diesen Politikbereichen enthalten die entsprechenden Regelungsvorhaben landespolitische Kernaufgaben. Für deren Kostenfolgen besteht i.d.R. kein gesondertes Transparenzbedürfnis, da sie bereits Gegenstand der politischen Debatte sind oder als Haushaltsfolgen ausgewiesen werden. Hinzu kommt, dass sich bei diesen originären landespolitischen Aufgaben auch keine oder kaum Steuerungsmöglichkeiten ergeben, um den Aufwand der Verwaltung zu senken. Aus diesem Grund sollte die Folgekostenberechnung auf Landesebene insbesondere bei den Verwaltungskosten auf die Bürokratiekosten beschränkt werden. 262

Das Duell Hans-Jürgen Meyer

Inhaltsübersicht I. Szenen der Kaiserzeit II. Form, Inhalt und Zwang III. Ursprung und Entwicklung

IV. Das Gesetz V. Der politische Streit – die „Duellfrage“ VI. Nachspiel

I. Szenen der Kaiserzeit „‚Er hat Sie gefordert‘ sagte Hans Castorp beklommen. ‚Allerdings‘ antwortete Settembrini […] ‚mit solchen Zwischenfällen muss jeder Mann im Leben rechnen. Ich missbillige theoretisch das Duell, ich denke gesetzlich. Mit der Praxis jedoch ist es eine andere Sache.‘ […] Hans Castorp hatte Augenblicke, […] wo ihm vor der Ungeheuerlichkeit des Bevorstehenden schwindelte […]: ‚Eine Beschimpfung bürgerlicher, gesellschaftlicher Art! Wenn einer des anderen ehrlichen Namen in den Schmutz gezogen hätte, wenn es sich um eine Frau handelte, um irgendein solches handgreifliches Lebensverhängnis, bei dem man keine Möglichkeit des Ausgleichs sieht! Gut, für solche Fälle ist das Duell als letzter Ausweg da, und wenn dann der Ehre Genüge geschehen und die Sache glimpflich abgegangen ist, und es heißt: Die Gegner schieden versöhnt, so kann man sogar finden, dass es eine gute Einrichtung ist, heilsam und praktikabel in gewissen Verwicklungsfällen. Aber was hat er getan?‘“1 Das Duell: Der tödliche Zweikampf des „Zivilisationsliteraten“, Aufklärers, Humanisten und Freimaurers Lodovico Settembrini mit Leo Naphta, jüdischer Herkunft, Jesuit und verkappter Bolschewist, der dem „heiligen Terror“ das Wort redet, in Thomas Manns großem Zeitroman „Der Zauberberg“. Die Repräsentanten antagonistischer geistiger Strömungen der Zeit, die sich von überkommenen Konventionen zu befreien trachteten und doch ihren persönlichen Konflikt nicht anders als innerhalb eines archaischen Rituals meinten lösen zu können. Von Rechts wegen war das Duell verboten. Aber die Gesellschaft, der man sich zugehörig fühlte und deren sittliche Normen und Konventionen das Leben bestimmten, schien kaum eine Wahl zu lassen und verlangte Unterwerfung. Im Bewusstsein einer unausweichlichen Standespflicht handelt auch Geert v. Innstetten in Theodor Fontanes „Effi Briest“, als er Major v. Crampas, den früheren Geliebten seiner Frau mit Rücksicht auf den „Comment“ zum Duell fordert und dadurch sehenden Auges sein Lebensglück und das seiner Familie zerstört: 1 Th. Mann, Zauberberg, Große Frankfurter Ausgabe 2002, S. 1055 ff., 1058.

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Hans-Jürgen Meyer

„‚Innstetten, so frage ich, wozu die ganze Geschichte?‘ ‚Weil es trotzdem sein muss. Ich habe mirs hin und her überlegt. Man ist nicht bloß ein einzelner Mensch, man gehört einem Ganzen an, und auf das Ganze haben wir beständig Rücksicht zu nehmen, wir sind durchaus abhängig von ihm. […] Im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas ausgebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die andern und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf.‘ […] Wüllersdorf war aufgestanden. ‚Ich finde es furchtbar, dass Sie recht haben, aber Sie haben recht. […] Die Welt ist nun mal, wie sie ist, und die Dinge verlaufen nicht, wie wir wollen, sondern wie die andern wollen. Das mit dem ‚Gottesgericht‘, wie manche hochtrabend versichern, ist freilich ein Unsinn, nichts davon, umgekehrt, unser Ehrenkultus ist ein Götzendienst, aber wir müssen uns ihm unterwerfen, solange der Götze gilt.‘“2 Wer sich dem Ehrenkodex widersetzte und der Duellpflicht entzog, setzte sein Ansehen auf ’s Spiel und riskierte die soziale Ächtung und, war er Offizier, die Entlassung aus dem so überaus renommierten Dienst. In Heinrich Manns berühmtem Roman der Kaiserzeit, „Der Untertan“, erweist sich die charakterliche und moralische Ehrlosigkeit seines Protagonisten Diederich Hessling vollends, als dieser sich einem Duell mit dem Verführer seiner Schwester, einem Leutnant v. Brietzen, schmählich verweigert3. Ob Heinrich Mann dabei auch an das Schicksal seines Bruders Thomas dachte, welcher sich im Jahr 1910 einer Duellforderung des ihm verhassten Journalisten und Literaten Theodor Lessing entzog, ist nicht bekannt4. Literarische Zeugnisse des deutschen Kaiserreiches, jeweils ein Duell als herausragendes Ereignis der Romanhandlung. Ein Ereignis, das mehr ist als bloß Mittel der Dramaturgie, nämlich ein Ereignis von essentieller Bedeutung für die Charakterisierung der handelnden Personen und ihrer Zeit. Das Duell war Ritual, anerkannt, kulturprägend und identitätsstiftend für weite Teile der herrschenden Kreise. Die Bereitschaft, sich diesem Ritual zu unterwerfen und sich selbst sowie den Gegner einer Todesgefahr auszusetzen, war in bestimmten Gesellschaftskreisen durchaus verbreitet und nicht auf einen Teil des geistig-politischen Spektrums beschränkt: Auch Heinrich Heine, Ferdinand Lassalle, Karl Marx, Friedrich Engels und Max Weber, beispielsweise, waren Duellanten5. Was also hatte es mit dem Duell auf sich und warum war man bereit oder sah sich gezwungen, sich diesem lebensgefährlichen Ritual zu unterwerfen?

2 Fontane, Effi Briest, Nymphenburger TB-Ausgabe, 1969, S. 240. 3 Th. Mann, Untertan, 11. Auflage 1974, S. 304 f. 4 Kurzke, Thomas Mann – Das Leben als Kunstwerk, 5. Auflage 2013, S. 224 ff., 227; Mann berief sich offenbar auf „gravierende Formfehler“, so Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 192. 5 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 12, 166, 174, 186 f., 194 f., 223 f.; Schmiedel, Berüchtigte Duelle, 1992, u.a. zu Heine und Lassalle.

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Das Duell

II. Form, Inhalt und Zwang Wie es sich für ein Ritual gehört, war das Duell in starkem Maße formalisiert. Unter einem Duell verstand man einen von zwei Männern verabredeten ernstlichen Kampf mit tödlichen Waffen nach vereinbarten oder hergebrachten Regeln6. Die „hergebrachten Regeln“ waren seit Jahrhunderten überliefert und in einschlägigen Duellhandbüchern niedergelegt7. Die Schilderung im „Zauberberg“ befolgt sie genau: Das Duell-Ritual begann mit der Forderung (Leo Naphta), die von einem dazu auserkorenen Vertrauten des Fordernden (Ferdinand Wehsal), dem sogenannten Kartellträger, zu überbringen war. Der Geforderte hatte die Forderung anzunehmen und bestimmte seinen Sekundanten (Anton Karlowitsch Ferge). Der Fordernde wiederum hatte das Recht, die Austragungsbedingungen festzulegen („Pistolen, fünf Schritte Distanz und dreimaliger Kugelwechsel“). Im Verhandlungswege konnten Modifikationen erreicht werden. Üblich war außerdem die Anwesenheit eines Unparteiischen (Hans Castorp) und möglichst eines Arztes. Weil Duelle verboten waren, pflegte man abgelegene Orte zu wählen. Deshalb auch verwarf man die Beteiligung von Hofrat Behrens, ärztlicher Leiter des Davoser Sanatoriums „Berghof“, obwohl dieser doch als ehemaliger „Korpsstudent“ mit dem Comment zweifellos vertraut war: „Unmöglich konnte man den Chef der Anstalt um Unterstützung einer solchen Ungesetzlichkeit angehen.“8 Zwischen Forderung und Ausführung konnten mehrere Tage liegen. Dieses ebenso wie die Vermittlung des Parteiverkehrs durch Kartellträger und Sekundanten sollte einer Versachlichung der Auseinandersetzung dienen. Das fein geregelte Verfahren sollte dem rohen körperlichen Kampf einen zivilisierten Anschein geben; Thomas Mann spricht von den „ritterlichen Milderungen des Tierischen“.9 Es mag darin die Hoffnung eingeschlossen gewesen sein, die Parteien könnten den tödlichen Ausgang des Duells schließlich doch vermeiden wollen. „Es war nicht ganz unvernünftig, zu hoffen, die Gegner möchten im Grunde einig sein in dem Vorsatz, es zu keinem Blutvergießen kommen zu lassen. Man hatte zweimal geschlafen seit jenem Wortwechsel und würde es ein drittes Mal tun. Das kühlt, das klärt, dem Zuge der Stunden hält eine bestimmte Gemütsverfassung nicht ungewandelt stand“.10 Settembrinis absichtlicher Schuss „in die Luft“ war übrigens eine klare Regelverletzung; Naphtas Suizid desgleichen. Die Beteiligung am Duell beschränkte sich nach den „hergebrachten Regeln“ auf Männer, denen die Gesellschaft „Satisfaktionsfähigkeit“ zubilligte. Das galt ursprünglich für den Adel allein, im Laufe des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße auch für die Angehörigen des höheren Bürgertums, Offiziere oder Reserveoffiziere, höhere Beamte und Akademiker, die einer schlagenden Verbindung (Corps oder Burschenschaft) angehörten, später auch für angesehene Kaufleute oder Unternehmer. Die Sa6 So das Reichsgericht, RGSt 52, 64 (65); Ebermayer/Lobe/Rosenberg, Leipziger Kommentar, StGB, 4. Auflage 1929, Abschnitt 15, Einf., Anm. 1. 7 Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 71 ff. (für den militärischen Bereich). 8 Th. Mann, Zauberberg, Große Frankfurter Ausgabe 2002, S. 1058 ff., 1063 f. 9 Th. Mann, Zauberberg, Große Frankfurter Ausgabe 2002, S. 1062. 10 Th. Mann, Zauberberg, Große Frankfurter Ausgabe 2002, S. 1064.

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tisfaktionsfähigkeit spiegelte den sozialen Rang im kaiserlichen Deutschland, der umso höher war, je näher jemand dem Monarchen und der traditionellen Führungsschicht von Adel, Militär und höherem Beamtentum stand, welche sich durch ihre Konventionen und Korporationen von den niederen Schichten und neureichen Aufsteigern deutlich abzugrenzen wünschte11. Anlass eines Duells war eine vermeintliche Ehrverletzung oder Beleidigung12. Durch die Teilnahme bewies man Mannesmut und die Bereitschaft, unter Aufbietung seines Lebens das gestörte Gleichgewicht der gesellschaftlichen Verhältnisse wiederherzustellen. Manche sprachen sogar von einem Gottesgericht. Was die persönliche Ehre ausmachte, war nicht definiert und naturgemäß subjektiv: So wird denn auch Castorps naiver Einwand, „das Geistige kann niemals persönlich sein“, von Settembrini entschieden zurückgewiesen: „Das Abstrakte, das Gereinigte, das Ideelle ist zugleich auch das Absolute, es ist damit das eigentlich Strenge, und es birgt viel tiefere und radikalere Möglichkeiten des Hasses, der unbedingten und unversöhnlichen Gegnerschaft, als das soziale Leben.“13 Unverkennbar erklingt damit der Cantus firmus des 20. Jahrhunderts: Der unerbittliche Kampf verfeindeter Weltanschauungen um die Vorherrschaft. Nach den „hergebrachten Regeln“ hatte der Geforderte keine Wahl, als dem Fordernden für die gezeigte Ehrverletzung Genugtuung zu geben. Die Verweigerung galt als inakzeptabler Ausdruck von Feigheit und Ehrlosigkeit und führte zur gesellschaftlichen Ächtung. Ebenso verhielt es sich im umgekehrten Fall: Hatte jemand einen anderen beleidigt und ihm anschließend Genugtuung angeboten und weigerte sich der Beleidigte, dem Beleidiger im Duell gegenüberzutreten, so beging er seinerseits eine Verletzung des „Comments“ mit den entsprechenden Folgen. Handelte es sich um einen Offizier, wäre er in dem einen wie dem anderen Fall aus der Armee entlassen worden. Also gab es im Verständnis der Standesgenossen einen gesellschaftlichen Zwang zum Duell. Der Ehrenkultus war, im Zitat von Theodor Fontane, ein „Götzendienst, dem wir uns unterwerfen müssen“. Das Duell war ein archaisches Ritual, in dem sich der wahre Mann bewies14. In den Worten von Settembrini: „Es ist das Letzte, die Rückkehr zum Urstande der Natur, nur leicht gemildert durch eine gewisse Regelung ritterlicher Art, die sehr oberflächlich ist. […] Wer für das Ideelle nicht mit seiner Person, seinem Arm, seinem Blute einzutreten vermag, der ist seiner nicht wert, und es kommt darauf an, in aller Vergeistigung ein Mann zu bleiben.“ […] „Hans Castorp lehnte sich dagegen 11 Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 62 ff., 74 ff., 118 f.; Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993, S. 302 f., 312, 314, 323 f. passim. 12 Zum Ehrbegriff im 19. Jahrhundert Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, 2010, S. 142 ff., 160 ff.; allgemein Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993, S. 44 ff. passim. 13 Th. Mann, Zauberberg, Große Frankfurter Ausgabe 2002, S. 1060. 14 Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 27 f., sieht im Duell sogar ein „gesellschaftlich sanktioniertes Modell der Gewalttätigkeit und sozialen Ungleichheit“, das sich im „sozialen Habitus“ der Deutschen niedergeschlagen und so zu den Voraussetzungen von Hitlers Erfolg gehört habe; zur Symptomatik des Duells außerdem ebda. S. 98.

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auf, oder er versuchte doch, es zu tun, – um zu seinem Schrecken zu finden, dass er es auch nicht konnte. Sie waren stark auch in ihm, die inneren Umstände, er war nicht der Mann, er auch nicht, sich ihnen zu entwinden.“15 So hielt eine gesellschaftliche Konvention die Zeitgenossen im Griff, die wider ihre Vernunft und häufig wider bessere Einsicht taten, was von ihnen erwartet wurde und damit – auch im vermeintlichen Interesse des Ideellen, ihrer Weltanschauung – der Katastrophe den Weg bereiteten: „Er [Castorp] begriff mit Grauen, dass am Ende aller Dinge nur das Körperliche blieb, die Nägel, die Zähne“16 – und schließlich die Stahlgewitter des „Großen Krieges“17.

III. Ursprung und Entwicklung Das Duell wurde im Laufe der Jahrhunderte überall in Europa praktiziert. Seine Ursprünge liegen in den Zweikampfritualen des Mittelalters (Fehden, gerichtliche Austragungskämpfe, ritterliche Turniere)18. Später fand der Ehrenzweikampf Eingang in die höfische Kultur Frankreichs („Point d’Honneur“), die ihrerseits Einfluss auf die von Adel und Militär gelebte Tradition in Deutschland erlangte19. Die privilegierte Stellung des Adels beruhte auf der Teilhabe an Herrschaft, militärischer Gewalt und der Verfügung über Grund und Boden und unterlag dabei zahlreichen Normen der Lebensführung und „Ritterlichkeit“, deren Sinn darin bestand, das Identitätsbewusstsein zu festigen, das Ansehen innerhalb der höfischen Gesellschaft zu schützen und die Standesgrenzen zu behaupten20. Im Zeitalter des Absolutismus geriet indes die Duellsitte mit dem Gewaltmonopol des Königs in Konflikt. Selbiges war ein wesentliches Merkmal souveräner Herrschaft, die sich von äußeren und inneren Beschränkungen ihrer Handlungsfähigkeit zu befreien suchte, um im Wettbewerb der europäischen Mächte zu bestehen21. Autonome Verfahren des Adels zur Sühne von Verletzungen gesellschaftlicher Regeln bis hin zur Todesfolge vertrugen sich nicht mit dem umfassenden Herrschaftsanspruch des Mo15 Th. Mann, Zauberberg, Große Frankfurter Ausgabe 2002, S. 1060 f. 16 Th. Mann, Zauberberg, Große Frankfurter Ausgabe 2002, S. 1061. 17 Vgl. Neumann, Der Zauberberg – Kommentar, Große Frankfurter Ausgabe, 2002, Anm. zu S. 1055 Z32 (das Duell als Vorverweis auf den Krieg). 18 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 19 ff.; Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993, S. 201 ff., 238 ff. (zur Soziologie); Jescheck, Die Behandlung des Zweikampfs in der Strafrechtsreform, JZ 1957, 108 f.; Ludwig, Das Recht als Medium des Transfers – die Ausbreitung des Duells im Alten Reich, in Ludwig/Krug-Richter/Schwerhoff (Hg.), Das Duell, 2012, S. 159 ff.; von Müller, Schauspiele der Gewalt, in Schultz, Uwe (Hg.), Das Duell, 1996, S. 21 f.; Neumann, Sarah, Vom Gottesurteil zur Ehrensache, in Ludwig/Krug-Richter/Schwerhoff (Hg.), Das Duell, Konstanz 2012, S. 93 ff.; Prietzel, Schauspiele von Ehre und Tapferkeit, in Ludwig/Krug-Richter/Schwerhoff (Hg.), Das Duell, 2012, S. 105 ff. 19 Jescheck, ebda.; Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 30 ff. 20 Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993, S. 274, 311; Stollberg-Rilinger, Die Aufklärung – Europa im 18. Jahrhundert, 4. Auflage 2017, S. 76 f. 21 Stollberg-Rilinger, Die Aufklärung – Europa im 18. Jahrhundert, 4. Auflage 2017, S. 29 f., 198 ff.; Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993, S. 186 ff. (Thomas Hobbes), 300 ff. (Souveränität und zugleich Verfestigung der Ständeordnung).

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narchen. Deshalb wurden Duelle zunächst durch „Duellmandate“ und später durch Gesetz verboten22, was allerdings dem Selbstverständnis des Adels, nicht Untertan, sondern selbst Verkörperung des Staates zu sein und über die älteren Rechte zu verfügen, zuwiderlief 23. Hinzu kam, dass Duelle dem Geist der Aufklärung widersprachen24. Ihr Anliegen war, das Dickicht der in Jahrhunderten gewachsenen Rechte, Freiheiten und Privilegien zu lichten und durch eine rationale, systematische Rechtsordnung zu ersetzen. Theoretische Grundlage war das Natur- oder Vernunftrecht mit seiner Prämisse einer vertraglichen Übertragung von Herrschaft auf den Souverän, wodurch dieser ermächtigt ist, allgemeingültige Gesetze zu erlassen und die Sonderrechte der Stände, die dem Fortschritt des Staatswesens im Wege stehen, zurückzudrängen25. Das altertümliche Ritual des körperlichen Zweikampfs aber wurzelte in unvordenklichem Grunde und war offensichtlich nicht Ausdruck vernunftgeleiteten gesetzgeberischen Handelns. Die gesellschaftliche Ordnung sollte jedoch durch Gesetze und staatliche Instanzen gewährleistet werden, auch Ehrverletzungen sollten Gegenstand eines objektivierten Gerichtsverfahrens sein. Darüber hinaus gerieten Sonderrechte des Adels zusehends in Konflikt mit dem allmählich hervortretenden Emanzipationsstreben des Bürgertums. Die bürgerliche Kritik am Duell nahm stetig zu und man pochte auf die Einhaltung gesetzlicher Verbote. Im staatlichen Handeln freilich spiegelte sich dies nur ansatzweise wider. Denn zwar war den absolutistischen Herrschern daran gelegen, ihr Gewaltmonopol auch gegen den Adel zu behaupten; der tatsächlichen Bestrafung adeliger Duellanten wichen sie aber aus, indem sie unter Inanspruchnahme ihres Gnadenrechts die ohnehin seltenen Verurteilungen deutlich abmilderten oder ganz aussetzten, um sich dadurch der anhaltenden Loyalität des Adels zu versichern26. Auch der Absolutismus hatte seine Grenzen und kam nicht gänzlich ohne Zugeständnisse aus. Aber auch der Adel zahlte einen Preis, weil die Verurteilten nicht umhinkamen, die Souveränität des Monarchen anzuerkennen, indem sie hinnahmen, dass nur er allein sie durch höchsten Gnadenerweis vor der Verbüßung ihrer Strafe schützen konnte27. Somit waren die Auswirkungen des Umgangs mit der Duellfrage auf das Verhältnis von Monarch und Adel ambivalent. 22 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 65 ff.; von Müller, Schauspiele der Gewalt, in Schultz, Uwe (Hg.), Das Duell, 1996, S. 13 ff., 29 f.; Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 84 ff. 23 Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 88; Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993, S. 353 ff., 357 f. 24 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 36 ff.; Burkhart, Eine Geschichte der Ehre, 2006, S. 84 ff. 25 Stollberg-Rilinger, Die Aufklärung – Europa im 18. Jahrhundert, 4. Auflage 2017, S. 200 ff., 204 ff., 231. 26 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 68, 80; Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 91. 27 Guttandin spricht von der „Duellfalle“ und der „Paradoxie des Duells“ (Verstoß gegen Gewaltmonopol führt zu Entmachtung des Feudaladels): Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993, S. 350 ff., 366 ff., 374; Guttandin, Das Duell aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, 1992, S. 122 ff., 127.

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Im Ergebnis jedoch erhielt sich der „Comment“ und blieben die gesetzlichen Duellverbote weitgehend unwirksam. Das bestärkte die Oberschicht in ihrer Überzeugung, in Ehrenangelegenheiten an einschlägige Verbotsgesetze nicht gebunden zu sein28. Einer Schätzung von 1819 zufolge soll es in Deutschland jährlich etwa 2000 Duelle gegeben haben29. Dazu die Bemerkung des einflussreichen preußischen Juristen Carl Gottlieb Svarez: „Unter den Verbrechen, welche die Aufmerksamkeit der Gesetzgebung vorzüglich beschäftigt und dennoch bisher die Bemühungen derselben, sie durch Strafgesetze zu verhüten, fast ganz vereitelt haben, behaupten Duelle den ersten Platz.“30 Mit dem von Svarez postulierten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns war das nicht zu vereinbaren31. Die Duellkritik blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts lebendig. Dabei kannte das bürgerliche Emanzipationsstreben zwei Stoßrichtungen: Während es den einen darum ging, die Prinzipien von Gesetzmäßigkeit und Gleichheit der Menschen endlich durchzusetzen und das Duell wirksam zu verbannen, wollten die anderen ein Standesprivileg beseitigen, um dem höheren Bürgertum „auf Augenhöhe“ mit dem Adel ebenfalls Zugang zu diesem Wege elitärer Konfliktbeilegung zu verschaffen32. So wie die Dinge in Deutschland lagen, namentlich nach dem Scheitern der Revolution von 1848, erwies sich die duellkritische liberale Fraktion des Bürgertums letztlich als schwächer als diejenige, die im Bestreben gesellschaftlicher Anerkennung dem Adel nachzueifern gewillt war. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern nahm in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Zahl der Duelle aufgrund zunehmender Beteiligung bürgerlicher Kreise nicht ab, sondern zu33. Das erste Einfallstor der Bürgerlichen in adelige Ehren-Bezirke war der Offiziersstand. Für Offiziere war das Duell die informell verbindliche Art der Bewältigung von Ehrenstreitigkeiten34. Bürgerliche Berufsoffiziere gab es seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Mit der Einführung des sogenannten Einjährig-Freiwilligendienstes durch die 28 29 30 31

Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 95. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 51. Svarez, Über Duelle, S. 411 (zitiert nach Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 66). Svarez, Allgemeine Grundsätze des Rechts (1791/92): „Daher ist es ein ebenso weiser als für die Sicherheit des Eigentums und der Freiheit der preußischen Untertanen höchst wohltätiger Grundsatz, dass die Rechtsangelegenheiten derselben nur nach den Gesetzen des Staats von den vom Staat bestellten Gerichten untersucht und entschieden werden. […] Sollte es je so weit kommen, dass diese Grundsätze in der Regierung des Staats nicht mehr respektiert würden, […] so würde die größte Verwirrung im ganzen Staat, die äußerste Unzufriedenheit der Nation und zuletzt die Zerrüttung aller bürgerlichen Ordnung die gewisse und unvermeidliche Folge davon sein“ (zitiert nach Stollberg-Rilinger, Was ist Aufklärung? Thesen, Definitionen, Dokumente, 2010, S. 95 f.). 32 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 60.; von Müller, Schauspiele der Gewalt, in Schultz, Uwe (Hg.), Das Duell, 1996, S. 30. 33 Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 27, 89 f.; Guttandin, Das paradoxe Schicksal der Ehre, 1993, S. 311 f., 323 f.; Guttandin, Duell aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, 1992, S. 117 f. 34 „Einen Offizier, welcher imstande ist, die Ehre eines Kameraden in frevelhafter Weise zu verletzen, werde Ich ebensowenig in Meinem Heere dulden, wie einen Offizier, welcher seine Ehre nicht zu wahren weiß“, so Wilhelm I., Allerhöchste Verordnung von 1874 betreffend

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preußische Heeresreform (1859 bis 1865) konnten überdies Bürgerliche mit Abitur und entsprechenden Geldmitteln Reserveoffizier werden, was erstmals die Erlangung des Offiziersrangs auch jenseits einer militärischen Laufbahn ermöglichte. In Anbetracht der herausragenden Stellung des Militärs in der Gesellschaft erstaunt nicht, dass von dieser Möglichkeit weidlich Gebrauch gemacht wurde und der Anteil bürgerlicher Offiziere von ca. 10 % (1806) auf 70 % (1913) stieg35. Das zunächst noch überwiegend adelige Offizierscorps reagierte darauf mit der Bekräftigung seines Verständnisses von Offiziersehre (einschließlich Duellpflicht) durch Kodifizierung und Institutionalisierung (Ehrengerichte)36. Die bürgerlichen Reserveoffiziere unterwarfen sich dem überkommenen Ehrbegriff in der Regel bereitwillig. Sie erlangten damit „Satisfaktionsfähigkeit“ und unterlagen fortan der ehrenkonventionellen Duellpflicht auch im Zivilleben37. Ein weiterer Bereich der Gesellschaft, wo das Duell-Ritual Eingang in bürgerliche Wertvorstellungen fand, waren die sogenannten schlagenden Verbindungen (Corps und Burschenschaften) an deutschen Universitäten38. Wer auf sein gesellschaftliches Fortkommen bedacht war, suchte Mitglied einer solchen Verbindung zu werden. Konstitutiv war das Fechten von Mensuren, Zweikämpfen auf dem Fechtboden, nach festen Regeln und mit Verletzungsgefahr („Schmisse“), aber ohne die Absicht, den Gegner schwer zu verwunden oder gar zu töten39. Ähnlich dem Duell ging es darum, Mut zu beweisen und Ehre einzulegen für seine studentische Gemeinschaft und sich selbst. Abgesehen davon, dass die meisten Studenten als Reserveoffiziers-Aspiranten schon dem militärischen Ehrenkodex verpflichtet gewesen sein dürften, war in entsprechenden Situationen der Duellzwang nun ebenso die unvermeidliche Konsequenz des „Verbindungs-Comments“, der Aktive ebenso band wie Alte Herren40. Die Sozialisation in Militär und Studentenverbindung hatte zur Folge, dass vermutlich die meisten Akademiker von vergleichbarer bürgerlicher Rangstellung, also höhere Beamte, Universitätsprofessoren, Rechtsanwälte, Ärzte oder wohlhabendes Wirtschaftsbürgertum41, den von Adel und Militär übernommenen Ehrbegriffen anhingen und meinten, sich einem Duellzwang nicht entziehen zu können. Die Verletzung des gesetzlichen Verbots wurde in Kauf genommen und galt wohl – im wahrsten Sinne des Wortes – als „Kavaliersdelikt“.

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militärische Ehrengerichte (zitiert nach Frevert, S. 113); dazu Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 113, 127 ff.; Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 58 ff. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 121 f. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 122 f., 128 f. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 130 ff. Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 67 ff., 79 f., 119 ff., 125 ff.; KrugRichter, Anmerkungen zum Duell in der studentischen Kultur, in Ludwig/Krug-Richter/ Schwerhoff (Hg.), Das Duell, 2012, S. 275 ff. Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 133 ff., 142 ff. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 133 ff., 148, 153, 159. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 170 ff.

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IV. Das Gesetz Die Gesetzeslage in Preußen und im Kaiserreich angehend, so ist zunächst vom Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (PrALR) zu sprechen, das dem Gesetzmäßigkeitsdenken der Aufklärung Ausdruck gab und von Svarez initiiert war. Dessen Bestimmungen im 2. Theil 20. Titel 10. Abschnitt §§ 666 ff. („Von Beleidigungen der Ehre“) untersagten Selbstjustiz und stellten den „Zweikampf“ unter Strafe42. Das PrALR war ständisch geprägt, so dass beim Ehrenschutz die Ehre von Adel und Militär schwerer wog als die der niederen Stände und Beleidigungen („Injurien“) von Adligen oder Militär gemäß §§ 607, 643 härter bestraft wurden. Die besonderen Vorschriften über die Bestrafung des Zweikampfs bedeuteten eine Privilegierung von Adligen und Offizieren, weil sie ausdrücklich nur für diesen Personenkreis galten, während jedermann sonst im Falle der Beteiligung an einem „Zweikampf mit Seiten- oder Schießgewehr“ nach § 689 wegen Versuchs zum Morde deutlich strenger zu bestrafen war. Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 (PrStGB 1851) und das ihm nachgebildete Reichsstrafgesetzbuch von 1871 (RStGB 1871) sahen für den Zweikampf ebenfalls besondere Strafbestimmungen mit einem gegenüber den allgemeinen Vorschriften zum Schutz von Leib und Leben geringeren Strafmaß und bloßer „Festungshaft“ vor (§§ 164 ff. bzw. §§ 201 ff.)43. Eine ständische Privilegierung von Adel oder Offizieren war im Gesetz nicht vorgesehen; folglich war „Satisfaktionsfähigkeit“ zwar nach dem gesellschaftlichen „Comment“, nicht aber strafrechtlich Voraussetzung der Beteiligung am „Zweikampf“44. Allerdings sahen beide Gesetze eine Bestrafung nach den strengeren Vorschriften über das Verbrechen der Tötung oder Körperverletzung vor, falls ein Beteiligter die „hergebrachten Regeln des Zweikampfs“ vorsätzlich über42 Auszug: „§ 666 Ueberhaupt darf niemand sich für vermeintlich erlittene Beleidigungen eigenmächtig Genugthuung nehmen. § 667 Insonderheit sollen diejenigen, welche dergleichen Genugthuung durch Privatzweykampf selbst zu suchen sich unterfangen, dafür mit der schärfsten Strafe belegt werden. § 668 Wer also einen Andern zum Zweykampfe fordert, hat nach Verhältniß des dazu erhaltenen größern oder geringern Reizes, eine drey- bis sechsjährige Festungsstrafe verwirkt. § 669 Wer die Ausforderung annimmt, und durch sein Betragen seine Bereitwilligkeit zum Zweykampfe zu erkennen giebt, soll nach Verhältniß der ihm zu statten kommenden größern oder geringern Entschuldigungsgründen, ein- bis dreyjährige Festungsstrafe leiden“, siehe https://opinioiuris.de/quelle/1623#Zehnter_Abschnitt._Von_Be leidigungen_der_Ehre [12.11.2020]; Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 91 ff.; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 9 ff. 43 RStGB 1871: „§ 201 Die Herausforderung zum Zweikampf mit tödtlichen Waffen, sowie die Annahme einer solchen Herausforderung wird mit Festungshaft bis zu sechs Monaten bestraft. § 202 Festungshaft von zwei Monaten bis zu zwei Jahren tritt ein, wenn bei der Herausforderung die Absicht, daß einer von beiden Theilen das Leben verlieren soll, entweder ausgesprochen ist oder aus der gewählten Art des Zweikampfs erhellt“, siehe https://de.wiki source.org/wiki/Strafgesetzbuch_f%C3 %BCr_das_Deutsche_Reich_(1871)#Funfzehnter_ Abschnitt._Zweikampf [13.11.2020]; Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 98 ff.; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 76 ff., 97 ff. 44 Ebermayer/Lobe/Rosenberg, Leipziger Kommentar, StGB, 4. Auflage 1929, 15. Abschnitt, Einf. Anm. 4; Ohlshausen, StGB, 11. Auflage, Berlin 1927, § 201 Anm. 5.

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trat; strafverschärfend wirkte, wenn man versäumt hatte, einen Sekundanten zu stellen (§ 170 f. bzw. § 207 f.). Das ist bemerkenswert, weil der Gesetzgeber den Zweikampf durchaus in Gänze als sittenwidrig hätte ansehen und seinen „hergebrachten Regeln“ damit jegliche Anerkennung hätte versagen können. Aber soweit wollte man im Hinblick auf die gesellschaftliche Realität offenbar nicht gehen. So findet sich in den offiziellen „Motiven“ des RStGB 1871 der vielsagende Seufzer: „Die Sitte, oder wenn man lieber will, die Unsitte des Duells, hat sich noch immer stärker erwiesen, als das geschriebene Gesetz, und diesem bleibt somit nichts anderes übrig, als sich gut oder übel mit der Aufgabe abzufinden: Seine Vorschriften über das Duell so einzurichten, dass sie einerseits mit den Geboten der Gerechtigkeit nicht in allzu schroffen Widerspruch treten, und andererseits dem Bedürfnisse des Lebens wenigstens annähernd Genüge leisten.“45 Auch im Kaiserreich kam nur ein sehr geringer Anteil von Duellen zur Anklage46. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts, Schlägermensuren als strafbare Zweikämpfe zu behandeln, blieb folgenlos47. Wiederholte Anläufe im Reichstag, die Strafrechtsbestimmungen für Duelle zu reformieren, waren ohne Ergebnis48. Für den militärischen Bereich galt im Kaiserreich das speziellere Militärstrafgesetzbuch. In der Praxis dürften Duelle dort vorwiegend Angelegenheit der Ehrengerichte gewesen sein, die das Duell als unverzichtbaren Bestandteil des militärischen Ehrenkodex betrachteten49.

V. Der politische Streit – die „Duellfrage“ Der Widerspruch zwischen Gesetz und Praxis, die mangelnde Gesetzestreue und Inanspruchnahme von Sonderrechten durch weite Teile der Oberschicht wurden in einer Zeit dynamischer Veränderung und Modernisierung zu einem unübersehbaren Anachronismus und einer wachsenden Bedrohung der Legitimität des Staatswesens. Die „Duellfrage“, wie nämlich mit diesem Widerspruch umzugehen sei, trat deshalb immer mehr ins Zentrum der innenpolitischen Auseinandersetzung. So war das Duell nicht nur Thema der Romanliteratur, sondern Gegenstand zahlreicher parlamentarischer Anfragen und Debatten, staatspolitischer und kirchlicher Wortmel45 Motive zu §§ 201 ff. StGB, zitiert nach Schwarze, StGB, 3. Auflage 1873, 15. Abschnitt, Einf. 46 Von 1882 bis 1912 wurden 2111 Verfahren gezählt (0,02 % der anhängigen Strafverfahren); die Dunkelziffer war enorm; die Kriminalstatistik galt als wenig aussagefähig (vgl. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 271 f. m.w.N.; für den militärischen Bereich Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 77 ff., 79 ff. m.w.N.); vgl. auch Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 71; Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, 2010, S. 135, 136 f. 47 RGSt (Vereinigter Strafsenat) 60, 257; vgl. Jescheck JZ 1957, 110; dazu auch Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 106 f., 122. 48 Vgl. Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 113 ff., 133, 141 ff.; Jescheck JZ 1957, 109 f. 49 Vgl. Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 154 ff. (Militärgerichtsbarkeit), 207 ff. (Ehrengerichtsbarkeit).

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dungen und Diskussionen, rechtswissenschaftlicher Untersuchungen und vielfältiger Presseartikel50. Die Diskussionen im Reichstag zeigten, dass die Regierung zumindest seit den neunziger Jahren zusehends in die Defensive geriet51. Auf der einen Seite der Auseinandersetzung standen die Sozialdemokraten, das katholische Zentrum und die Freisinnigen sowie die katholische Kirche. Für die Sozialdemokraten war das Duell ein Klassenprivileg und der Umgang damit Klassenjustiz52. August Bebel kritisierte unter Hinweis auf die „moralisch verheerende“ Wirkung des Einjährig-Freiwilligen-Systems, „der Moralkodex des Reserveleutnants“ sei zum Moralkodex der bürgerlichen Klassen geworden53. Die katholische Kirche lehnte nicht nur Duelle kompromisslos ab, sondern verbot auch die Teilnahme an Mensuren. Die protestantische Kirche demgegenüber war gespalten und ohnehin mit den herrschenden Kreisen des Kaiserreichs stärker verwoben54. Selbst die Konservativen und Nationalliberalen konnten nicht übersehen, dass das Duellwesen mit den normativen Grundprinzipien eines liberalen Verfassungsstaates nur schwer in Einklang zu bringen war, und manche waren in Sorge, dass dieser Umstand in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung vom politischen Gegner ausgenutzt werden konnte55. Tatsächlich richtete sich die Duell-Kritik gegen einige fundamentale Legitimitätsdefizite der politischen Ordnung: Die Fortwirkung von Standesprivilegien, die Vorrangstellung des Militärs als Staat im Staate, die Rolle des Monarchen, die mangelhafte Achtung parlamentarischer Gesetze, die Befangenheit der Justiz in gesellschaftlichen Fragen, die Ungleichheit und Undurchlässigkeit der sozialen Schichten („Klassen“) usw.56 Gleichwohl hielten die Konservativen im vollen Einklang mit ihrer Klientel an der Duell-Konvention – zumindest für bestimmte Konstellationen ebenso wie im militärischen Bereich – weiterhin fest57. Vom Kaiser selbst zu schweigen, der etwa anlässlich einer Duellaffäre unter Marineoffizieren durch „Allerhöchste Ordre“ von 1900 verlauten ließ, dass eine ehrengerichtliche Bestimmung „das Recht des Mannes nicht schmälern soll, sich für schwere Beleidigungen, bei denen es einen Ausgleich nicht gibt, ungesäumt Genugtuung zu verschaffen.“58 Trotz massiver Kritik in Parlament und Öf-

50 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 15; Burkhart, Eine Geschichte der Ehre, 2006, S. 102. 51 Dieners, Das Duell und die Sonderrolle des Militärs, 1992, S. 251 ff. 52 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 234 f.; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 125 ff. 53 Bebel, Verhandlungen des Reichstags 1896, zitiert nach Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 120 f. m.w.N., S. 176. 54 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 157 f. 55 Vgl. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 234 Fn. 4 zur Eingabe des Verbands deutscher evangelischer Pfarrvereine an den Kaiser von 1903: „… der Unzufriedenheit mit der bestehenden Gesellschaftsordnung und dem Klassenhass, welche ohnedies genugsam ausgebeutet werden, sehen wir dadurch [sc. durch die Praxis des Ehrenschutzes] Vorschub geleistet“. 56 Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, 2010, S. 138. 57 MdR Bennigsen, MdR Bassermann, Verhandlungen des Reichstags 1895-97, 1900/02, zitiert nach Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 120 f., 234. 58 Zitiert nach Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 116 m.w.N.

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fentlichkeit bestanden Kaiser und Militärführung darauf, dass für einen Offizier, der ein Duell verweigert, in Armee und Marine kein Platz sei59. Obwohl sich die industrielle und soziale Transformation der Gesellschaft ungebremst fortsetzten, die Kritik am Duellwesen sich, zum Teil in organisierter Form, noch verstärkte und die Exklusivität des Duell-Rituals durch schleichende Ausweitung der „Satisfaktionsfähigkeit“ allmählich nachzulassen begann, sollte die politische Debatte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nichts mehr bewirken60. So zeigen sich am Duell-Phänomen in besonders anschaulicher Weise gesellschaftliche Verhältnisse und latente Schwächen des Deutschen Kaiserreiches und seines Bürgertums. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich auch in Deutschland ein aufgeklärtes Bürgertum, welches für die Einheit der Nation und liberalen Konstitutionalismus eintrat. Auf der politischen Agenda des Vormärz und der Revolution von 1848 standen unter anderem die Gleichheit der Bürger, die Abschaffung der Standesprivilegien, der Parlamentarismus und die Gesetzmäßigkeit der Regierung, was allesamt dem überkommenen Duellwesen diametral entgegenstand. Die bürgerliche Revolution sowohl als auch die nationale Einigung scheiterten jedoch und das liberale Bürgertum geriet in die Defensive. So war die Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 kein Erfolg des Bürgertums, sondern in erster Linie das Ergebnis der Politik des preußischen „Establishments“, welchem es gelang, die Nationalbewegung zu vereinnahmen und die künftige Unterstützung von Kaiser und Reich durch das Bürgertum sicherzustellen. Begeistert von den militärischen Erfolgen und der Kaiserkrönung und besänftigt durch die politischen Zugeständnisse der Reichsverfassung, verabschiedete sich die Mehrheit des Bürgertums von weitergehenden politischen Zielen und suchte die Nähe zu den seit jeher herrschenden Kreisen. Im Bemühen, sich diesen Kreisen und ihren Wertvorstellungen anzuverwandeln, war das höhere Bürgertum willens und bereit, sich auch der Duell-Konvention zu unterwerfen, bot sie doch die Möglichkeit, die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite zu dokumentieren und sich gegen die niederen Schichten abzugrenzen61. Auch kam sie dem Bedürfnis entgegen, gegenüber der ökonomischen und juristischen Rationalität des Industriezeitalters immaterielle Werte (Ehre, Mut, Männlichkeit, Ritterlichkeit) und vertraute Traditionen zu behaupten62. In Ansehung des Duells war die vom Bürgertum ersehnte Zugehörigkeit zur Elite des Kaiserreiches eine Frage der „Satisfaktionsfähigkeit“, die sich spätestens im Zuge des Gebens und Nehmens nach der Reichsgründung sukzessive im Sinne des höheren Bürgertums klärte. Die Verteidigung des Duellwesens und seiner Exklusivität war eine Art Lackmus-Test der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, wo Adel, Offiziere und höheres Bürgertum an einem Strang zogen. 59 Vgl. Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 117; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 125. 60 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 238 ff. 61 Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 83, 100 f., Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, 2010, S. 130. 62 Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord, 2010, S. 141, 144.

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Zukunftsträchtig war dies ebenso wenig wie andere Elemente des Ständestaates, die aufgrund der Besonderheiten der deutschen Reichsgründung an zahlreichen Stellen noch fortbestanden (z.B. das Preußische Drei-Klassen-Wahlrecht). Denn die fortschreitende Industrialisierung, Urbanisierung und soziale Transformation veränderten die gesellschaftlichen Verhältnisse nachhaltig, ließen die Machtbasis der konservativen Eliten erodieren und brachten die ständischen Institute zum Einsturz63.

VI. Nachspiel Am Ende „erdröhnte“ der „Donnerschlag“ des Attentats von Sarajevo, „diese betäubende Detonation lang angesammelter Unheilsgemenge von Stumpfsinn und Gereiztheit, ein historischer Donnerschlag, der die Grundfesten der Erde erschütterte, der den ‚Zauberberg‘ sprengt und den Siebenschläfer [Hans Castorp] vor seine Tore setzt.“64 Die moribunde Ordnung war an ihr Ende gekommen. Nach dem Verbluten des deutschen Kaiserreiches in den Schützengräben Flanderns und der Gründung der Weimarer Republik war auch die Zeit der Duelle vorbei. „Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes“ waren aufgehoben, so bestimmte es Art. 109 der Weimarer Reichsverfassung (WRV). Abgesehen von den besonders traditionsverhafteten oder reaktionären Kreisen der Gesellschaft schwand das Interesse an dem archaisch-ständischen Ehrenritual unaufhaltsam und bestimmte nunmehr der Geist der Moderne das Zusammenleben. Die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite hing nicht mehr von der Satisfaktionsfähigkeit ab. Auch für Reichswehroffiziere sollte die Verweigerung eines Duells fortan ohne nachteilige Folgen sein65. Versuche der Reichswehrführung, die Kontinuität der militärischen Ehrbegriffe zu wahren und der Duellsitte weiterhin Raum zu lassen, hatten eher symbolische als praktische Bedeutung66 Bestrebungen im Reichstag, die speziellen Duellparagraphen im Strafgesetzbuch zu streichen oder zumindest die Bestrafung den allgemeinen Delikten gegen Leib und Leben anzugleichen, war allerdings noch kein Erfolg beschieden67. Die militärstrafrechtlichen Duellbestimmungen wurden zwar verschärft, doch das Vorhaben, Offiziere im Falle der Teilnahme am Duell aus dem Dienst zu entlassen, scheiterte an Reichspräsident v. Hindenburg68. In Hinsicht auf die seit der Kaiserzeit umstrittene Strafbarkeit der studentischen Schlägermensur, blieb die Lage unverändert69.

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Elias, Studien über die Deutschen, 3. Auflage 1990, S. 115. Th. Mann, Zauberberg, Große Frankfurter Ausgabe 2002, S. 1075. Jescheck JZ 1957, 110 m.w.N. Zum Erlass von Vorschriften zur Wahrung der Ehrenhaftigkeit in der Armee durch den Chef der Heeresleitung v. Seeckt (1926) Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 243 f. 67 Zu den Gesetzentwürfen der Weimarer Zeit Jescheck, JZ 1957, 110; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 180 ff.; Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 240 ff. 68 Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 245; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 203; vgl. auch Jescheck, ebda. 69 Jescheck, ebda.; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 204; Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 247 ff.

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Die Nationalsozialisten änderten die Zweikampfvorschriften bereits wenige Monate nach der Machtergreifung, indem sie die Regelung über den Verlust öffentlicher Ämter als Nebenstrafe abschafften, die Verschärfung des Militärstrafrechts rückgängig machten und die studentische Schlägermensur ausdrücklich freigaben70: Offensichtlich eine Konzession an die Steigbügelhalter der „Harzburger Front“ und den konservativen Nachwuchs an den Universitäten. Mit solchen Rücksichten war es Ende der dreißiger Jahre vorbei, als der oberste Parteirichter ganz im Sinne Hitlers die Abkehr vom Zweikampf verkündete und Zweikämpfe zur Bereinigung von Ehrenhändeln verboten wurden71. Nun galten Duell und Mensur wieder als mit dem Wesen der „Volksgemeinschaft“ unvereinbarer Standesdünkel72. Nach dem 2. Weltkrieg war das Schicksal strafrechtlicher Sonderregeln für Duelle endgültig besiegelt: Die DDR strich die Zweikampfbestimmungen ohne viel Federlesens, während man in der Bundesrepublik noch einige Jahre kontrovers diskutierte, wie insbesondere mit der studentischen Bestimmungsmensur umzugehen sei73. Unterdessen war die Duellsitte völlig bedeutungslos geworden, so dass der Gesetzgeber mit der Streichung der Zweikampfparagraphen im Zuge der großen Strafrechtsreform 1969 nur noch der gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung trug74.

70 Jescheck, JZ 1957, S. 111; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 205 ff.; Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 256 ff. 71 Jescheck ebda. m.w.N. 72 Jescheck, ebda. m.w.N.; Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 218 ff. 73 Jescheck, JZ 1957, 111 f. (im Anschluss an BGHSt 4, 24: kein strafbarer Zweikampf); Baumgarten, S. 222 ff.; Frevert, Ehrenmänner, 1991, S. 263 ff. 74 Baumgarten, Zweikampf – §§ 201–210 a.F. StGB, 2002, S. 230 ff.

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Wieviel Integrität braucht der Aufsichtsrat? Vom ehrbaren Kaufmann bis zum Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität Kathrin J. Niewiarra

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Führungskräfte-Studien III. Der ehrbare Kaufmann und das gesetzliche Regulativ der Gegenwart

1. Der persönliche Compliance-Kompass 2. (Eigen-)Verantwortung 3. Gelebte Integrität und Compliance V. Fazit

IV. Zwischen Legalität und Legitimität

I. Einführung Gerade im geschäftlichen Umfeld und Tagesgeschäft eines jeden Unternehmers, unabhängig von der Größe oder Branche der Gesellschaft, sind der geschäftliche Erfolg und die Rendite das erstrebenswerte Ziel. Und dies gilt auch für das Kontroll- und Überwachungsorgan Aufsichtsrat. Jeder Rückschritt und auch die Stagnation ist oft gleichbedeutend mit Erfolgslosigkeit und Versagen. Das Produkt, die Dienstleistung muss im Wettbewerb reüssieren, den Konkurrenten ausstechen, dabei den gesetzlichen Anforderungen entsprechen und ständig angepasst werden – primär unter dem Gesichtspunkt der Kosten-Nutzen-Analyse. Wichtig ist unter dem Strich, dass das Ergebnis stimmt und die Vorgaben erfüllt werden.1 Aber wo bleiben dabei die Unternehmenskultur und Integrität? Welchen Stellenwert und Einfluss haben die sog. „weichen“ Themen?

II. Führungskräfte-Studien Rochus Mummert hat Aufsichtsräte im Rahmen einer Studie2 zum Thema: „Die Bedeutung von Ethik und Wertschätzungskultur für die Arbeit von Aufsichts- und Beiräten“ befragt. Danach sind 9 von 10 Aufsichtsräten in der DACH-Region davon überzeugt, dass eine Wertschätzungskultur sowie ethische Prinzipien die Profitabilität steigern und die Robustheit des Unternehmens gegen Krisen stärken. Es wird also eine Korrelation zwischen ethischem Verhalten, einer wertschätzenden Unternehmenskultur und dem wirtschaftlichen Erfolg der Gesellschaft gesehen. Trotzdem set1 Niewiarra/Segschneider, Balanceakt Compliance, 2016, S. 36. 2 Döring in Rochus Mummert, Aufsichtsratsstudie 2017: „Die Bedeutung von Ethik und Wertschätzungskultur für die Arbeit von Aufsichts- und Beiräten“.

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zen sich nur 17 % der Aufsichtsgremien mit weichen Themen wie etwa offener Kommunikation, einer angstfreien Unternehmenskultur oder der Vorbildfunktion der Geschäftsleitung und Führungskräfte auseinander. Insoweit verwundert es nicht, dass lediglich 59 % der Interviewten dem Aufsichtsgremium selbst einen starken oder sehr starken Einfluss auf diese Themen attestieren. Teilweise wird dieses allerdings gar nicht als eine Aufgabe des Kontrollorgans gesehen und verstanden. Einen weiteren Puzzlestein zum Stellenwert der „weichen“ Themen liefert eine von Gallup als Teil von „The Real Future of Work“ durchgeführten Studie.3 Diese kommt zu dem Ergebnis, dass 78 % der befragten Führungskräfte der Auffassung sind, ihr jeweiliges Unternehmen stelle Profite über die Moral. Allerdings ändert sich diese Einschätzung drastisch, wenn Führungskräfte regelmäßig das Thema Compliance und angemessenes Verhalten adressieren – dann glauben 43 % an integres Verhalten im Unternehmen. Weitere aufschlussreiche Ergebnisse liefert die Führungskräftebefragung der Wertekommission.4 Die gute Nachricht zuerst: Die Befragten gaben an, dass moralische Eigenschaften für ihr persönliches Selbstbild einen hohen Wert darstellen. Es zeigt sich aber eine Diskrepanz zu dem im beruflichen Alltag gezeigten Verhalten. Hier gaben lediglich rund 25 % der Führungskräfte an, sich regelmäßig mit moralischen Fragen auseinanderzusetzen und Sachverhalte aus diesem Blickwinkel zu beleuchten. Die Befragung ergibt ein Auseinanderklaffen der erlebten Selbstwirksamkeit bezüglich moralischer Überzeugungen der Umsetzung bzw. Möglichkeit der Umsetzung im geschäftlichen Umfeld und Berufsalltag. Diese wird als nur bedingt eingestuft. Erschwerend kommt hinzu, dass fast die Hälfte der Führungskräfte erhebliche Verbesserungspotentiale bei Transparenz und Sanktionen sehen. Auf den Punkt gebracht: „Die Wirksamkeit einer ethischen Unternehmenskultur zeigt sich insbesondere in herausfordernden Situationen und weniger im Alltag. Wenn rund jede vierte Führungskraft bereit ist, im Zweifel Kompromisse bei ihren moralischen Überzeugungen zu machen und gleichzeitig zu wenig Kontrollen und Sanktionen bestehen, gibt dies kein gutes Zeugnis über den Zustand der ethischen Unternehmenskultur in Deutschland ab“.5 Braucht integres Verhalten im Unternehmen demnach eine Lobby oder weitere Regulative durch die Gesetzgebung? Und was ist aus dem ehrbaren Kaufmann geworden? Ist dieses Leitbild nicht bereits die Blaupause für ein werteorientiertes Unternehmertum?

3 Gallup, The Real Future of Work, 2018. 4 Wertekommission – Initiative Werte Bewusste Führung, Führungskräftebefragung 2019, 2019, https://www.wertekommission.de/wp-content/uploads/2019/08/Fuehrungskraeftebe fragung_2019.pdf, abgerufen 25.6.2021. 5 Heidbrink in Pressemitteilung zu Führungskräftebefragung 2019, 2019, https://www.werte kommission.de/wp-content/uploads/2019/08/Pressemitteilung_Fuehrungskraeftebefra gung_2019.pdf, abgerufen 25.06.2021.

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Wieviel Integrität braucht der Aufsichtsrat?

III. Der ehrbare Kaufmann und das gesetzliche Regulativ der Gegenwart Die Wurzeln des ehrbaren Kaufmanns gehen bis in das 12. Jahrhundert zurück. Zu den Zeiten der Hanse und des frühen Mittelalters in Italien wurde ein Kaufmann als ehrbar betrachtet, der seine Handlungen im Wirtschaftsleben an Tugenden wie Integrität, Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit ausrichtete. Er strebt den langfristigen wirtschaftlichen Erfolg an, wobei er gesellschaftliche Interessen berücksichtigt sowie seine sozialen und wirtschaftlichen Ziele ehrlich und fair verfolgt. Das Leitbild orientiert sich am Menschen, stellt ihn und seine Grundbedürfnisse „richtig“ zu handeln sowie wertschätzend behandelt zu werden in den Mittelpunkt. Die Grundausrichtung des ehrbaren Kaufmannes enthält ein ungeschriebenes Wertesystem und damit viele Bausteine für ein werteorientiertes Unternehmertum.6 Dies könnte zur Auffassung führen, dass auf weitere und immer komplexere gesetzliche Regelwerke verzichtet werden könne – die Prinzipien des ehrbaren Kaufmannes sollten doch ausreichen und deren Einhaltung und Umsetzung eine Selbstverständlichkeit sein. Aber leider ist es lebensfremd, ausschließlich auf die Selbstregulierung und Eigenverantwortung der Unternehmen zu setzen und zu vertrauen. Sind aber immer noch mehr und kompliziertere Regelungen der erfolgversprechende Weg, um „richtiges“ und integres Verhalten zu erzielen? Auch als Reaktion und wohl auch Folge von jüngsten Skandalen wie Wirecard beschreitet der Gesetzgeber diesen Weg. So arbeitet er mit Hochdruck an Gesetzen – und Gesetzesvorhaben, um flächendeckend, präventiv und sanktionierend bei Verstößen diesen Vorbildcharakter in Regelungen zu gießen. Es seien hier nur einige der Vorhaben genannt: Gesetz zur Förderung der Integrität in der Wirtschaft mit dem Artikelgesetz Verbandssanktionengesetz, das Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktintegrität und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Auffällig oft findet sich der Begriff „Integrität“ in den Namen dieser Entwürfe. Aber um was geht es denn wirklich: Regeltreue (Compliance) oder doch um Integrität und Werte? Dabei werden verschiedene Ansätze verfolgt: Bei der klassischen und rein regelbasierten Compliance steht die Verhinderung von rechtswidrigem Verhalten im Mittelpunkt. Integrität bzw. Integritätsmanagement dagegen will ethisches Verhalten und Handeln ermöglichen und fördern. Hier wird an der intrinsischen Motivation angesetzt und die Werte für die ethische Entscheidung in den Fokus gestellt. Die aktuellen Gesetze bzw. Gesetzesvorhaben gehen wohl eher vom schlichten Compliance-Verständnis aus und versuchen damit integres Verhalten zu erreichen. Sie zeigen die Erwartung der Regulierer an die Unternehmen auf. Die Ansprache der intrinsischen Motivation oder eines von innen heraus entstandenen Verantwortungsgefühls, wie das des ehrbaren Kaufmannes, ist nicht Kern der Gesetzgebung. Und hier kommt der Aufsichtsrat ins Spiel. Er ist der geborene Integritätsbotschafter und Sparringspartner des Vorstands und des Unternehmens. Er ist dem Wohle des Unternehmens verpflichtet und vertritt damit auch die Eigeninteressen der Gesell-

6 Niewiarra/Segschneider, Balanceakt Compliance, 2016, S. 42 f.

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schaft, sich rechtstreu zu verhalten, Reputationsschäden zu vermeiden und im Wettbewerb um Kunden und Investoren nachhaltig zu bestehen. Was kann der Aufsichtsrat also tun?

IV. Zwischen Legalität und Legitimität 1. Der persönliche Compliance-Kompass Zunächst der einfachste oder vielleicht auch schwierigste Schritt: Das Kennen des eigenen persönlichen Compliance-Kompasses als Ausgangspunkt. Integrität und Compliance sind ein zutiefst menschliches Thema. Die Menschen sind es, die die Regeln aufstellen, befolgen, missachten aber auch aus ihnen lernen können. Deshalb gehört die Auseinandersetzung des Menschen im Aufsichtsrat mit diesen Faktoren und damit sein höchstpersönliches und sehr privates Verständnis von Compliance und seiner Werteorientierung, quasi sein eigener Compliance-Kompass, dazu, um mit diesen Herausforderungen nachhaltig umgehen zu können. Wo liegt seine ComplianceMesslatte, ab wann beginnt seine persönliche „Incompliance“? Diese Frage steht am Anfang und ist der jeweilige persönliche Schlüssel zur Compliance über die Werteorientierung. 2. (Eigen-)Verantwortung Die Verantwortung annehmen und eigenverantwortlich das Management als Sparringpartner bei der Definition und Umsetzung von Werten und Integrität als Teil der Unternehmenskultur zu unterstützen sowie eine an der Strategie ausgerichtete Implementierung zu überwachen, ist eine der zentralen Aufgabe des Aufsichtsrats im Zusammenhang mit „weichen“ Themen. Dazu gehört, um die Risiken des Unternehmens und der Branche zu wissen – und dies auch in Bezug auf unternehmerische Compliance-Risiken wie zum Beispiel Korruption, Wettbewerbsrecht oder auch Interessenkonflikte. Hilfreich ist, Kennzahlen und Daten für die Unternehmenskultur zu kennen und zu hinterfragen. Dies können Ergebnisse von Analysen und Umfragen zu Compliance- und Risikobewusstsein sein oder Daten sowie Informationen, die sich aus dem Hinweisgebersystem oder Entscheidungsstrukturen im Zusammenhang mit CSR-Thematiken ergeben. Ausschlaggebend ist der Schritt raus aus der Checklistenmentalität hin zur Eigenverantwortung und zum wertvollen Ansprechpartner auf Augenhöhe für den Vorstand. Erforderlich ist dafür Grundwissen um und über Compliance- und Governance-Themen, damit der Aufsichtsrat eingreifen kann und nicht dem sog. „Bystander-Effekt“ (Zuschauereffekt) erliegt. Hierbei handelt es sich um ein psychologisches Phänomen, dass wir alle kennen: Je mehr Menschen sich bei einem Unfall oder einem Verbrechen ansammeln, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass jemand eingreift und dem Opfer hilft oder Erste Hilfe leistet. Der Grund für dieses Verhalten liegt laut Wissenschaftlern unter anderem darin, dass die Menschen einerseits Angst haben, sich zu

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Wieviel Integrität braucht der Aufsichtsrat?

blamieren und zum anderen davon ausgehen, dass jemand anderer eingreift und Verantwortung übernimmt. Als verantwortungsvoller Aufsichtsrat ist es außerdem unerlässlich, das „Gras wachsen zu hören“ und nicht nur das operative Geschäft und Finanzkennzahlen zu fokussieren. Vielmehr sollten sie auch dafür Sorge tragen, über Neuerungen bei gesetzlichen Regelungen wie den oben bereits angeführten auf dem Laufenden zu bleiben oder auch aktiv beim Vorstand Maßnahmen im Unternehmen einzufordern in Bezug auf anstehende Umsetzungen von EU-Recht7 in deutsches Recht. 3. Gelebte Integrität und Compliance Die „weichen“ Themen sollten sowohl auf der Agenda des Aufsichtsrats als auch in der Diskussion über Strategie und Risiko einbezogen und regelhaft behandelt werden. Je häufiger die „weichen“ Themen auf der Gremiums-Agenda stehen, umso größer ist die Chance, dass sich Unternehmen nachhaltig besser entwickeln und sich damit einen Wettbewerbsvorteil erarbeiten. Einer der Schlüssel zu einer nachhaltigen Unternehmenskultur ist, dass sowohl der Tone from the Top als auch der Tone at the Top den Werten und der Strategie des Unternehmens entsprechen und keine Worthülsen oder Papiertiger sind. Wer führt, ist kulturprägend. Nur eine authentische Umsetzung kann zum Erfolg führen während ein Auseinanderklaffen von Sagen und Tun in Frustration im Unternehmen resultiert und damit der Schutzschild von Integrität und Compliance nicht greifen kann. Hier lohnt sich auch ein Blick auf das gesamte Governance-System des Unternehmens. Klare gesellschaftsrechtliche und Gesellschafterstrukturen unterstützen hierbei im Gegensatz zu hoch komplexen und diffusen Strukturen ebenso wie die Abkehr von der schlichten „Legal“ Compliance hin zu einem Integritätsmanagement und der Forderung nach einer werteorientierten Corporate Governance. Ein zusätzliches probates Mittel ist die Auswahl der Kandidaten für den Vorstand. Der Aufsichtsrat hat hier die Möglichkeit, auf die Unternehmenskultur nachhaltig Einfluss zu nehmen und diese über die richtige Personalwahl strategisch zu steuern. Ein weiteres Instrument ist naturgemäß die Vergütung des Vorstands. Hier sollten Anreizsysteme für die Umsetzung von Verhaltensweisen geschaffen werden, die eine von Integrität geprägte Unternehmenskultur fördern. Indem (finanziell-getriebene) Unternehmensziele mit Kultur- und Integritätsanforderungen Hand in Hand gehen, kann der Aufsichtsrat Dilemma-Situation vorbeugen. Dies gilt es, für den Vorstand in der Organisation entsprechend umzusetzen und damit einen nachhaltigen Erfolg im gesamten Unternehmen zu ermöglichen.

7 Wie zum Beispiel im Moment die der sog. EU-Whistleblowerrichtlinie (EU) 2018/0106.

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V. Fazit Zum Wohle des Unternehmens tut der Aufsichtsrat gut daran, sich seiner Verantwortung gegenüber seinem Unternehmen, der Umwelt, Kunden, Investoren, Wettbewerbern und der Zivilgesellschaft zu stellen, seine Aufgaben intrinsisch motiviert mit Werteorientierung umzusetzen und gemäß dem Leitbild des ehrbaren Kaufmanns mit Integrität zu leben.

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Zur Ausfallhaftung von GmbH-Gesellschaftern für die Abfindung ausscheidender Mitgesellschafter – dogmatische Grundlage, Voraussetzungen, Anwendungsbereich und kautelarjuristische Gestaltungsfreiheit Walter G. Paefgen

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Von der „Bedingungslösung“ zur Gesellschafterhaftung III. Dogmatische Grundlage der Gesellschafterhaftung 1. Fragwürdige Begründungsansätze a) Haftung kraft konkludenter Verpflichtungserklärung? b) §§ 24 Satz 1, 31 Abs. 3 GmbHG analog? c) Bereicherungsrechtliche Deutung der Ausfallhaftung? d) Anwachsungsprinzip als Haftungsgrundlage? e) Durchgriffshaftung wegen Missbrauchs der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 GmbHG? 2. Treubindung der verbleibenden Gesellschafter als dogmatische Grundlage a) Schadenersatzhaftung wegen Verletzung von gesellschaftsrechtlichen Treubindungen b) Nach dem Ausscheiden fortwirkende Treubindungen c) Konkretisierung von Treubindungen IV. Haftungsvoraussetzungen und Haftungsadressaten 1. Haftungsvoraussetzungen a) Treubindung als allgemeine Verhaltensvorgabe b) Treubindung als Bemühenspflicht c) Anknüpfungspunkte der Bemühenspflicht d) Beweislast und Auskunftsanspruch des Abfindungsberechtigten

e) Haftung der verbleibenden Gesellschafter als Schadenersatzhaftung f) Treupflichtbasierte verschuldensunabhängige Einstandspflicht? 2. Haftungsadressaten a) Konsentierende und dissentierende Gesellschafter b) Ausfallhaftung für ausfallende Mitgesellschafter V. Haftung bei Ausschluss und Austritt 1. Ausschluss durch Gerichtsurteil a) Der hergebrachte Ansatz: Modifizierte Anwendung der „Bedingungslösung“ b) Nach neuer Judikatur: Anwendbarkeit der Gesellschafterhaftung wie bei der Einziehung 2. Erklärung des Austritts aus wichtigem Grund a) Der hergebrachte Ansatz: Modifizierte Anwendung der „Bedingungslösung“ b) Nach neuerer Judikatur: Anwendbarkeit der Gesellschafterhaftung wie bei der Einziehung c) Umsetzung der Gesellschafterhaftung aa) Umsetzung bei Einziehung bb) Anteilsverwertung durch Abtretung an die Gesellschaft cc) Anteilsverwertung durch Abtretung an ehemalige Mitgesellschafter und/oder Dritte VI. Ausschluss und Modifikation der Gesellschafterhaftung 1. Andeutungen des BGH

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Walter G. Paefgen 2. Satzungsgestaltung a) Schranken der Gestaltungsfreiheit aa) § 53 Abs. 3 GmbHG? bb) Unabdingbarkeit der Treubindung cc) Analogieschluss aus den §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG b) Zulässigkeit einzelner Satzungsklauseln aa) Statutarische „Bedingungslösung“

bb) Zwangsabtretungsklauseln cc) Gesamtschuldnerische oder bürgenähnliche Haftung dd) Beschränkung der Haftung auf treuwidrige Gewinnentnahmen? ee) Adressaten der Ausfallhaftung 3. Gesellschaftervereinbarungen VII. Zusammenfassung

I. Einleitung Wenn ein Gesellschafter infolge der Einziehung seines Geschäftsanteils (§ 34 GmbHG) aus einer GmbH ausscheidet, steht diesem gegen die Gesellschaft ein Anspruch auf angemessene Abfindung für den Verkehrswert seines Anteils zu. Dieser Abfindungsanspruch ist im GmbHG nicht ausdrücklich geregelt, er findet seine Grundlage jedoch nach allgemein anerkannter Auffassung in einer analogen Anwendung von § 738 Abs. 1 Satz 2 BGB1. Das darin zum Ausdruck kommender Abfindungsinteresse des ausscheidenden Gesellschafters steht in einem Spannungsverhältnis zu dem in §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Kapitalerhaltung, demzufolge aus Gründen des Gläubigerschutzes im Falle der Einziehung von Geschäftsanteilen die Zahlung einer Abfindung an ausscheidende Gesellschafter zur insoweit zulässig ist, als die Zahlung aus freiem, d.h. die Höhe des Stammkapitals der Gesellschaft übersteigendem Gesellschaftsvermögen geleistet werden kann. In einer Reihe von Entscheidungen hat der BGH nun entschieden, dass i.S. des Gläubigerschutzes über die Schutzwirkung der Auszahlungssperre nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG hinaus unter bestimmten Voraussetzungen auch eine die Haftung der Gesellschaft für die Abfindung ergänzende, an die jeweilige Kapitalbeteiligung geknüpfte pro rata Haftung der in der Gesellschaft verbleibenden Mitgesellschafter für die Abfindung in Frage kommt. Diese Neuausrichtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung begann mit einem Grundsatzurteil vom 24.1.20122. Darauf folgten zwei weitere Entscheidungen, in denen der BGH das neue Modell der Gesellschafterhaftung noch einmal bekräftigt und dessen Voraussetzungen im Einzelnen präzisiert hat. Alle drei Urteile betrafen die Einziehung von Geschäftsanteilen nach § 34 GmbHG, wobei dem Ausscheiden des abfindungsberechtigten Gesellschafters jeweils unterschiedliche Fallkonstellationen zugrunde lagen3. Die dogmatische Fundierung, genauen Voraussetzungen, wie auch die Folgewirkungen des damit auf 1 Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 22. 2 BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 ff. 3 BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 ff. (Einziehung aus wichtigem Grund); BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 286 ff. (Einziehung mit Zustimmung des Betroffenen); BGH v. 26.6.2018 – II ZR 65/16, ZIP 2018, 1540 ff. (Einziehung nach Kündigung mit Dreimonatsfrist).

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Haftung von GmbH-Gesellschaftern für die Abfindung ausscheidender Mitgesellschafter

den Plan tretenden neuen Gläubigerschutzmodells der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die gesellschaftsrechtliche Gestaltungspraxis bilden den Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung. Die in dieser Studie angesprochene Thematik ist in jüngerer Zeit bereits in einer ganzen Reihe von Aufsätzen, Entscheidungsrezensionen, wie auch in der GmbH-rechtlichen Kommentarliteratur recht ausführlich unter die Lupe genommen worden4. Das gilt insbesondere für mehrere neuere Dissertationen, von denen die Düsseldorfer Arbeit von Justus Anacker besonders hervorzuheben ist5. Der Verfasser dieses Beitrags wagt es dennoch, zu hoffen, dass Alexander Reuter, der erfahrene Praktiker des GmbH-Rechts, dem dieser Beitrag mit den besten Wünschen zum 65. Geburtstag zugeeignet ist, in den hier vorgetragenen, zum Teil neu in die Diskussion eingebrachten Überlegungen Inspiration für seine Tätigkeit in der gesellschaftsrechtlichen Praxis finden möge. Im Folgenden wird zunächst die bahnbrechende Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung von der die ältere Judikatur und Praxis beherrschenden sog. „Bedingungslösung“ hin zu einem durch die neuere BGH-Rechtsprechung eingeführten Modell der Gesellschafterhaftung dargestellt, das die verbleibenden ehemaligen Mitgesellschafter eines aus der Gesellschaft ausscheidenden GmbH-Gesellschafters unter bestimmten Voraussetzungen für die Zahlung der dem Ausgeschiedenen von der Gesellschaft geschuldeten Abfindung für seinen Geschäftsanteil in die Pflicht nimmt (II.). Sodann sollen vier im Zentrum des rechtswissenschaftlichen Interesses stehende Problembereiche des neuen Haftungsmodells der Rechtsprechung in den Blick genommen werden. Das betrifft die dogmatische Grundlage der Gesellschafterhaftung (III.), deren konkrete Voraussetzungen und Adressaten (IV.), die Anwendung des neuen Haftungsmodells auf die Fallkonstellationen des gerichtlichen Ausschlusses und Austritts aus der Gesellschaft (V.), sowie die Zulässigkeit des Ausschlusses bzw. der Modifikation der Gesellschafterhaftung im Wege der Satzungsgestaltung bzw. durch schuldrechtliche Nebenabreden zwischen den Gesellschaftern (VI.). Der Beitrag endet mit einer kurzen Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse (VII.).

II. Von der „Bedingungslösung“ zur Gesellschafterhaftung In einem Grundsatzurteil vom 1.4.1953 hat der II. Zivilsenat des BGH unter Bezugnahme auf vorausgehende Entscheidungen des Reichsgerichts erstmals ausgeführt, 4 Vgl. dazu nur die ausführliche Kommentierung von MünchKommGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 75a ff. 5 Anacker, Der Schutz des Abfindungsinteresses des zwangsweise ausscheidenden GmbH-Gesellschafters, 2015; Böhm, Die Sicherung der Abfindung beim Ausscheiden aus der GmbH – Haftung der Mitgesellschafter bei Eingreifen der Kapitalerhaltungsschranke, 2016; Fritz, Die Zwangseinziehung von GmbH-Geschäftsanteilen – eine dogmatische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von BGHZ 192, 236, 2015; Markowsky, Die Einziehung von GmbH-Geschäftsanteilen, 2013; sowie jüngst Quante, Einziehung, Abfindung und Haftung im Rahmen von § 34 GmbHG, 2020; Pfeiffer, Das zwangsweise Entfernen eines Gesellschafters aus der GmbH, 2020.

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ein Einziehungsbeschluss nach § 34 GmbHG stehe unter der „gesetzlichen Bedingung“, dass das Stammkapital der GmbH erhalten bleibe, ein solcher Beschluss könne darum nicht ausgeführt werden, wenn das zur Deckung des Stammkapitals erforderliche Vermögen bei Beschlussfassung fehle oder bis zu dem Zeitpunkt, in dem zu erfüllen sei, verloren gehe. Der Einziehungsbeschluss sei nichtig, wenn er gegen § 34 GmbHG verstoße. Das sei insbesondere dann der Fall, wenn die Gesellschafter das zur Deckung des Stammkapitals erforderliche Vermögen angreifen wollten, ohne zugleich eine Kapitalherabsetzung vorzunehmen. Der „eingezogene“ Geschäftsanteil verbleibe dann dem Anteilsberechtigten6. Diese sog. „Bedingungslösung“ hat der BGH in der Folge noch weiter bekräftigt7. Schon einige Zeit zuvor hatte der II. Zivilsenat jedoch entschieden, die Satzung könne auch bestimmen, dass ein Gesellschafter bereits vor Zahlung der geschuldeten Abfindung aus der Gesellschaft ausscheide8. Das mit der „Bedingungslösung“ etablierte Gläubigerschutzmodell bildete fast sechzig Jahre lang bis zum Grundsatzurteil des BGH vom 24.1.2012 für die obergerichtliche Rechtsprechung und herrschende gesellschaftsrechtliche Doktrin den Grundpfeiler des Schutzes der Gesellschaftsgläubiger gegen eine Auszehrung des Vermögensstocks der GmbH im Wege der Gewährung von Abfindungen an ausscheidende Gesellschafter. Mit seiner durch das Urteil vom 24.1.2012 eingeleiteten geänderten Rechtsprechung hat der BGH den Gläubigerschutz auf eine neue Grundlage gestellt, indem (1) die Voraussetzung des zur Nichtigkeit eines Einziehungsbeschlusses führenden Verstoßes gegen §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG präzisiert wurde und (2) die Rechtsfigur der Haftung der verbleibenden ehemaligen Mitgesellschafter eines ausscheidenden Gesellschafters als zusätzliches Instrument des Gläubigerschutzes eingeführt wurde. Vor allem Letzteres hat eine tiefgreifende Zäsur in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bewirkt. Das Novum dieser Änderung der BGH-Rspr. ist im overruling der „Bedingungslösung“ nach BGHZ 9, 157 und der Ersetzung dieses hergebrachten Gläubigerschutzmodells durch die persönliche Haftung treuwidrig handelnder verbleibender Mitgesellschafter zu erblicken. Nichts Neues ist dagegen in der Klarstellung des BGH zu finden, dass die Folge der Nichtigkeit des Einziehungsbeschlusses analog § 241 Nr. 3 AktG dann zum Tragen kommen soll, wenn bereits zum Zeitpunkt der Beschlussfassung ein mit der Vorgabe der §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG kollidierendes Defizit an freiem Gesellschaftsvermögen auszumachen ist9.

6 BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 173 ff., unter Bezugnahme auf RG v. 24.11.1933 – II 113/33, RGZ 286, 290, sowie RG v. 20.12.1935 – II 113/35, RGZ 150, 28, 34 f. 7 BGH v. 5.4.2011 – II ZR 263/08, NJW 2011, 2294 Rz. 19. 8 BGH v. 30.6.2003 – II ZR 326/01, BB 2003, 1749, 1750. 9 BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 186 Rz. 32; BGH v. 26.6.2018 – II ZR 65/16, ZIP 2018, 1541 Rz. 12; im Ansatz so bereits BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 173 f.

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III. Dogmatische Grundlage der Gesellschafterhaftung Fragt man nach der dogmatischen Grundlage der Haftung verbleibender Gesellschafter für die Abfindungsansprüche von Ausgeschiedenen, so sind zunächst einige fragwürdige Begründungsansätze zurückzuweisen, um dann zu der auf die Verletzung von gesellschaftsrechtlichen Treubindungen gestützten Schadenersatzhaftung als zutreffendem, der Gedankenführung des BGH entsprechenden Begründungsansatz zu gelangen. 1. Fragwürdige Begründungsansätze a) Haftung kraft konkludenter Verpflichtungserklärung? Eine im Beschluss über die Einziehung des Geschäftsanteils eines ausscheidenden Gesellschafters konkludent zum Ausdruck kommende rechtsgeschäftliche Erklärung der verbleibenden Gesellschafter, pro rata ihrer Beteiligung für den gegenüber der GmbH aufgrund der Kapitalbindung nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG nicht durchsetzbaren Abfindungsanspruch des Ausscheidenden einstehen zu wollen, lässt sich, wie Ulmer überzeugend ausgeführt hat, nicht ausmachen. Solche vom jeweiligen Willen der verbleibenden Gesellschafter gedeckte eindeutige Zahlungsverpflichtungen können der Zustimmung zum Einziehungsbeschluss nicht entnommen werden10. Den an der Beschlussfassung beteiligten Dissidenten unter den verbleibenden Gesellschaftern kann ein solcher Verpflichtungswille erst recht nicht unterstellt werden11. b) §§ 24 Satz 1, 31 Abs. 3 GmbHG analog? Auf den ersten Blick mag der Gedanke verlockend erscheinen, die pro rata Haftung der verbleibenden Gesellschafter auf eine Analogie zu den §§ 24 Satz 1, 31 Abs. 3 GmbHG zu stützen, wo eine anteilige Ausfallhaftung von Mitgesellschaftern ausdrücklich im Gesetz geregelt ist. Ein solcher Analogieschluss scheitert jedoch daran, dass der Schutzzweck dieser gesetzlichen Regelungen in der Sicherung der Aufbringung bzw. Wiederherstellung des Stammkapitals durch eine gemeinsame Ausfallhaftung der Mitgesellschafter zu erkennen ist12. Das Gesetz trägt damit der Tatsache Rechnung, dass die Gesellschafter den wirtschaftlichen Risiken der GmbH näherstehen als die Gesellschaftsgläubiger13. Dagegen zielt die BGH-Judikatur zur Ausfallhaftung der verbleibenden Gesellschafter für Abfindungszahlungen darauf ab, das Abfin10 Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261, 1265; Fritz, a.a.O. (Fn. 5), S. 131; Anacker, a.a.O. (Fn. 5), S. 75. 11 Schockenhoff, NZG 2012, 449, 451; Fritz, a.a.O. (Fn. 5), S. 132. 12 Vgl. Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261, 1265; zu § 24 Satz 1 MünchKommGmbH/Schütz, 3. Aufl. 2019, § 24 Rz. 1; zu § 31 Abs. 3 GmbHG MünchKommGmbHG/Ekkenga, 3. Aufl. 2019, § 31 Rz. 1. 13 BGH v. 25.2.2002 – II ZR 196/00, BGHZ 150, 61, 65; MünchKommGmbHG/Ekkenga, 3. Aufl. 2019, § 31 Rz. 52; Habersack/Casper/Löbbe/Leuschner, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 24 Rz. 1.

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dungsinteresse ausscheidender Gesellschafter davor zu schützen, dass die Vermögenbindung nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG der Durchsetzbarkeit von Abfindungsansprüchen entgegensteht. Die darin zum Ausdruck kommende unterschiedliche Teleologie der beiden Haftungsmodelle zeigt sich deutlich bereits daran, dass Gläubigerin der Ausfallhaftungsansprüche nach §§ 24 Satz 1, 31 Abs. 3 GmbHG die Gesellschaft ist, während im Falle der Einziehung nach dem Haftungsmodell der BGH-Rechtsprechung Inhaber der Ausfallhaftungsansprüche der abfindungsberechtigte, in der Folge der Eiziehung ausscheidende Gesellschafter ist14. c) Bereicherungsrechtliche Deutung der Ausfallhaftung? Im Schrifttum finden sich Versuche, die Haftung der verbleibenden Gesellschafter für die Abfindung bereicherungsrechtlich zu interpretieren15. Einen Anhaltspunkt dafür scheint auf den ersten Blick eine Formulierung des BGH im Urteil vom 24.1.2012 zu liefern, wo der II. Zivilsenat ausführt, dass der „Wert des eingezogenen Anteils“ den verbleibenden Gesellschaftern anteilig zuwachse und diese sich den so erhaltenen Wert nicht „auf Kosten des ausgeschiedenen Gesellschafters einverleiben“ dürften, ohne diesem für den verloren „wirtschaftlichen Vorteil“ Ausgleich zu gewähren16. Gegen die Annahme eines Anspruchs aus Leistungskondiktion nach § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB spricht, dass bei der Einziehung keine bewusste Vermögenszuwendung des ausscheidenden Gesellschafters als Entreicherter zugunsten der verbleibenden Mitgesellschafter als Bereicherte erfolgt, soll doch der anteilige Zuwachs an deren Beteiligung nach dem höchstrichterlichen Haftungsmodell ipso iure eintreten17. Der Annahme von Kondiktionsansprüchen nach § 816 Abs. 1 Satz 1 BGB steht entgegen, dass nicht die durch die entschädigungslose Einziehung begünstigten Mitgesellschafter, sondern vielmehr die Gesellschaft selbst im Wege der Einziehung über den Geschäftsanteil des Abfindungsberechtigten verfügt18. Vor allem aber fehlt es im Hinblick auf eine Eingriffskondiktion nach § 812 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. BGB, sowie im Übrigen auch bezüglich der vorstehend erwähnten sonstigen Bereicherungsansprüche, bereits am Merkmal der Rechtsgrundlosigkeit, da als Rechtsgrund für die im Wege der Einziehung ipso iure erfolgende anteilige Erhöhung der Beteiligung der verblei-

14 Vgl. Penz in FS Marsch-Barner, 2018, S. 431, 439; H. F. Müller, Diskussionsbeitrag in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2016, 2017, S. 1, 22; Böhm, a.a.O. (Fn. 5), S. 108. 15 Vgl. Markowsky, a.a.O. (Fn. 5), S. 185 ff.; dies erwägend auch Priester, ZIP 2012, 658, 659; sowie wohl auch S. Schneider/Hoger, NJW 2013, 55, 58 (Vermögensmehrung der verbleibenden Gesellschafter als Rechtsgrund der Haftung). 16 BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 192, 236, Rz. 21, sowie Rz. 23, wo vom „Ausgleich des Mehrwerts“ die Rede ist. 17 Ulmer in FS Hoffmann-Beckíng, 2013, S. 1261, 1267; J. Schmidt, GmbHR 2013, 953, 955; Böhm, a.a.O. (Fn. 5), S. 64; Markowsky, a.a.O. (Fn. 5), S. 153 f. 18 Zum rechtlichen Charakter der Einziehung als dinglich wirkende Verfügung, mittels derer der eingezogene Geschäftsanteil vernichtet wird, MünchKommGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 5; OLG Düsseldorf v. 24.8.1995 – 6 U 124/94, NJW-RR 1996, 607, 611.

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benden Gesellschafter am Stammkapital der GmbH die nach § 34 GmbHG wirksame Einziehung als solche anzusehen ist19. d) Anwachsungsprinzip als Haftungsgrundlage? Altmeppen vertritt die Auffassung, die Haftung der verbleibenden Gesellschafter finde ihre dogmatische Grundlage im Anwachsungsprinzip (§ 738 Abs. 1 Satz 2 BGB), das im GmbH-Recht ebenso Geltung beanspruche wie für die Personengesellschaften. Daraus leitet er ab, die verbleibenden Gesellschafter, deren relative Beteiligung am Stammkapital sich infolge der Einziehung erhöhe, seien als „Profiteure der Anwachsung“ als die originären Abfindungsschuldner anzusehen20. Zur Widerlegung dieser zweifelhaften These, die mit einer nicht gerade leicht nachvollziehbaren rechtshistorischen Argumentation begründet wird, ist auf Folgendes hinzuweisen. (1) Nach ganz überwiegender und zutreffender Ansicht zum Personengesellschaftsrecht richtet der Abfindungsanspruch des ausscheidenden Gesellschafters sich gegen die rechtsfähige Gesellschaft als Primärschuldnerin21. (2) Zudem ergibt sich bei der GmbHG die Schuldnerstellung der Gesellschaft bereits klar aus dem Verweis in § 34 Abs. 3 GmbHG auf § 30 Abs. 1, wo von Zahlungen der GmbH an ihre Gesellschafter die Rede ist. In einem Urteil des Reichsgerichts vom 4.2.1982 heißt es zum Haftungsmodell nach dem ADHGB 1861, auf das Altmeppen sich bei seiner rechtshistorischen Argumentation beruft, klar und deutlich, es gehe bei der Abfindung „nicht um eine Zahlung seitens … der … bisherigen Gesellschafter, sondern seitens der von diesen fortgesetzten … Gesellschaft“22. e) Durchgriffshaftung wegen Missbrauchs der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 GmbHG? Schirrmacher vertritt die Auffassung, die die BGH-Judikatur kennzeichnende Haftung der verbleibenden Gesellschafter für den Abfindungsanspruch des Ausscheidenden sei i.S. einer Art Durchgriffshaftung wegen Missbrauchs der Haftungsbeschränkung nach § 13 Abs. 2 GmbHG zu verstehen23. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Haftungsbeschränkung nur den Schutz der Gesellschafter vor dem Zugriff der allgemeinen Gläubigerschaft der GmbHG auf deren Privatvermögen bezweckt. Bei der Haftung der verbleibenden Gesellschafter für Abfindungsansprüche handelt es sich dagegen um dem Gesellschaftsverhältnis entspringende Sozialansprüche des Ausgeschiedenen gegen seine (ehemaligen) Mitgesellschafter, auf die die Haftungsbe19 So im Ergebnis einhellig, wenn auch mit hier nicht relevanten Differenzierungen in der Begründung Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261, 1267; J. Schmidt, GmbHR 2013, 953, 956; Gubitz/Nikoleyczik, NZG 2013, 727, 730; Böhm, a.a.O. (Fn. 5), S. 65; im Ergebnis so gemeint wohl auch Pentz in FS Marsch-Barner, 2018, S. 431, 438. 20 Altmeppen, ZIP 2016, 1557 ff. 21 Vgl. BGH v. 12.7.2016 – II ZR 74/14, NJW 2016, 3597, Rz. 9 ff.; MünchKommBGB/Schäfer, 8. Aufl. 2020, § 738 Rz. 16 ff. 22 RG v. 4.2.1882 – I 659/81, RGZ 7, 93, 94 f. 23 Schirrmacher, GmbHR 2016, 1080 ff.

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schränkung von vornherein keine Anwendung findet24. Der Versuch, die Gesellschafterhaftung dogmatisch auf die Rechtsfigur eines Missbrauchs der hier schon a priori gar nicht zur Geltung kommenden Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen zu stützen, muss deshalb ins Leere stoßen. 2. Treubindung der verbleibenden Gesellschafter als dogmatische Grundlage a) Schadenersatzhaftung wegen Verletzung von gesellschaftsrechtlichen Treubindungen In den Formulierungen der einschlägigen BGH-Urteile finden sich Anhaltspunkte dafür, dass die Gesellschafterhaftung für Abfindungsansprüche nach den Vorstellungen des II. Zivilsenats auf die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht der verbleibenden Gesellschafter zu stützen ist25. Grundsätzlich spricht für diese dogmatische Einordnung, dass der BGH in mehreren Grundsatzurteilen die Sorge für die gesellschaftsbezogenen Interessen von Mitgesellschaftern als Bestandteil der zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft Geltung erheischenden Treuepflicht gewürdigt hat. Im Schrifttum hat sich eine überwiegende Anzahl von Autoren für eine treupflichtgestützte Verankerung der Haftung ausgesprochen26. Die schuldhafte Verletzung der die verbleibenden Gesellschafter treffenden Treupflichten muss dann zu deren Schadensersatzpflicht nach § 280 Abs. 1 BGB führen27. 24 Vgl. Altmeppen, ZIP 2016, 1557, 1559. 25 Vgl. BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rz. 21, wo vom unredlichen und treuwidrigen Verhalten der verbleibenden Gesellschafter die Rede ist; sodann BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 186 Rz. 23 („Die persönliche Haftung der Gesellschafter entsteht folglich erst, wenn sie sich in der genannten Weise treuwidrig verhalten, also erst in dem Zeitpunkt, ab dem die Fortsetzung der Gesellschaft unter Verzicht auf Maßnahmen zur Befriedigung des Abfindungsanspruchs des ausgeschiedenen Gesellschafters als treuwidrig anzusehen ist.“); sowie dann auch BGH v. 26.6.2018 – II ZR 65/16, ZIP 2018, 1540, Rz. 16 („Bedürfnis für eine persönliche Haftung der anderen Gesellschafter, die nach der Rechtsprechung des Senats unter bestimmten Voraussetzungen, etwa weil sie eine Auflösung stiller Reserven treupflichtwidrig unterlassen, zur anteiligen Zahlung der Abfindung verpflichtet sind“, ebendort Rz. 17 („können die anderen Gesellschafter aber aus Treuepflicht gehalten sein, Maßnahmen zu ergreifen, die ein Ausscheiden ermöglichen; so können sie etwa verpflichtet sein, auf eine Auflösung stiller Reserven hinzuwirken“). 26 MünchKommGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 77 f.; Michalski/Heidinger/Leible/ J. Schmidt/Lieder, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 13 Rz. 204; BeckOKGmbHG/Wilhelmi, § 13 Rz. 187a; Zinger, ZGR 2017, 196, 208 f.; Wicke, DNotZ 2017, 138, 139; Kort, DB 2016, 2098, 2102; Priester, EWiR 2016, 393, 394; F. Schäfer, DStR 2016, 2116, 2117; Weitnauer, GWR 2016, 294; Sosnitza, LMK 2016, 380519; Schockenhoff, NZG 2012, 449; Stump/Müller, GWR 2012, 143, 144. 27 Vgl. MünchKommGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 77 f.; Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt/Lieder, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 13 Rz. 204; BeckOKGmbHG/Wilhelmi, § 13 Rz. 187a; Kort, DB 2016, 2098, 2102; Priester, EWiR 2016, 393, 394; F. Schäfer, DStR 2016, 2116, 2117; Wicke, DNotZ 2017, 138, 139; Schockenhoff, NZG 2012, 449; Stumpf/ Müller, GWR 2012, 143, 144; Gubitz/Nikoleyczik, NZG 2013, 727, 731; Sosnitza, LMK 2016, 380519; Weitnauer, GWR 2016, 294.

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b) Nach dem Ausscheiden fortwirkende Treubindungen Die Annahme einer Haftung der verbleibenden Gesellschafter aus Treupflichtverletzung nach § 280 Abs. 1 BGB setzt voraus, dass Treupflichten grundsätzlich auch noch gegenüber einem Gesellschafter bestehen können, der seinen Geschäftsanteil im Wege der Einziehung bereits verloren hat. Dass ein ausgeschiedener Gesellschafter auch nach seinem Ausscheiden aus einer Kapitalgesellschaft weiterhin dem gesetzlichen Kapitalerhaltungsregime unterliegen kann, entspricht der gängigen Dogmatik zu § 31 GmbHG wie auch zur Parallelvorschrift des § 62 AktG28. Bei der Frage nach der Begründung der Haftung verbleibender Gesellschafter geht es jedoch um deren Treubindung gegenüber dem Ausgeschiedenen und nicht umgekehrt um dessen Treubindung. Die Treubindung der Verbleibenden basiert hier grundsätzlich darauf, dass die Treuepflicht Ausfluss jedweder mitgliedschaftlichen Beteiligung in einer Kapitalgesellschaft ist29. Das muss auch bezüglich der Annahme treupflichtgestützter Verhaltensanforderungen an die in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter gegenüber ausgeschiedenen Gesellschaftern Geltung erheischen. Der II. Zivilsenat des BGH hat dazu in einem zur stillen Gesellschaft ergangenen Urteil passende Formulierungen gefunden30. c) Konkretisierung von Treubindungen In seinem Urteil vom 10.5.2016 hat der BGH auf eine Reihe möglicher Remeduren zur treupflichtgerechten Beseitigung einer der Abfindung des ausgeschiedenen Gesellschafters entgegenstehenden Unterdeckung i.S. v. §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG hingewiesen. Darunter fallen – die Realisierung stiller Reserven; – die Herabsetzung des Stammkapitals; – sowie die Auflösung der Gesellschaft31. Die Eignung dieser Anknüpfungspunkte zur Konkretisierung der die verbleibenden Gesellschafter treffenden Treubindungen wird im Schrifttum unter verschiedenen Gesichtspunkten in Frage gestellt. So wird bezüglich des Abstellens auf das Unterbleiben der Realisierung stiller Reserven geltend gemacht, es sei problematisch, auf wel28 Vgl. nur Baumbach/Hueck/Fastrich, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 31 Rz. 8; Henssler/Strohn/ Paefgen, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 62 AktG Rz. 4. 29 Vgl. BGH v. 5.6.1975 – II ZR 23/74, BGHZ 65, 15 ff. – „ITT“; BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, BGHZ 129, 136, 148 – „Girmes“. 30 Vgl. BGH v. 13.2.2006 – II ZR 62/04, NZG 2006, 341, 344 Rz. 37: „Auf Grund ihrer nachwirkenden gesellschafterlichen Treuepflicht aus den stillen Gesellschaftsverhältnissen ist die Bekl. verpflichtet, alles ihr Zumutbare zu tun, um die Auszahlung der Auseinandersetzungsguthaben an die Kl. zu ermöglichen. Dazu kann auch gehören, Maßnahmen zu ergreifen, um die – in der Handelsbilanz nicht, wohl aber in der Überschuldungsbilanz auszuweisenden – stillen Reserven zu realisieren. Das kann etwa durch eine Teilliquidation des Geschäftsbetriebs erfolgen.“ 31 BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 236, Rz. 67, 72.

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chen Zeitpunkt hier abzustellen sei, was sich insbesondere dann als schwierig erweisen könne, wenn eine zunächst eingetretene Unterdeckung zum Zeitpunkt der Fälligkeit der Abfindung wieder fortgefallen sei32. Eine weitere Schwierigkeit liege darin, dass sich bilanziell unterbewertete Gegenstände des Gesellschaftsvermögens möglicherweise nicht sogleich oder überhaupt nicht veräußern ließen33. Gegen die Anknüpfung an eine Pflicht zur Herabsetzung des Stammkapitals nach § 58 GmbH spreche das Zeitproblem, das sich aus der Pflicht zur Einhaltung der Ausschüttungssperre nach § 58 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG ergebe; auch seien einer Kapitalherabsetzung durch das Verbot der Unterschreitung des gesetzlichen Mindestkapitals nach § 58 Abs. 2 GmbHG Grenzen gesetzt34. Was den in der BGH-Rspr. als ultima ratio angeführten Auflösungsbeschluss betreffe, so erweise sich als problematisch, dass der Auflösungsbeschluss nach § 60 Abs. 1 Nr. 1 GmbHG im Gegensatz zum Einziehungsbeschluss (einfache Mehrheit nach § 47 Abs. 1 GmbHG) eine Dreiviertelmehrheit erfordere35. Der Anknüpfung an eine Pflicht zur Erhebung der Auflösungsklage nach § 61 GmbHG stehe entgegen, dass dafür ein in den Verhältnissen der Gesellschaft liegender wichtiger Grund erforderlich sei, der die Fortführung der Gesellschaft aus der Sicht der verbleibenden Gesellschafter unzumutbar mache und nicht nur aus der Sicht des an der Abfindung interessierten Ausscheidenden36. Die vorstehend kurz resümierte Kritik der fehlenden Konkretisierbarkeit der Treubindung verbleibender Gesellschafter vermag nicht zu überzeugen. Diese Kritik beruht auf einem fehlsamen Verständnis der aus der Treubindung abzuleitenden Anforderungen an das Verhalten der verbleibenden Gesellschafter. Das ist im Folgenden (IV.1.) näher auszuführen.

IV. Haftungsvoraussetzungen und Haftungsadressaten 1. Haftungsvoraussetzungen Die vorstehend (III.2.c)) kurz referierte Kritik am Fehlen überzeugender Anhaltspunkte für die Konkretisierung der haftungsbegründenden Treubindung verbleibender Gesellschafter vermag nicht zu überzeugen. Diese Kritik beruht auf einem

32 Krit. bezüglich des Zeitpunkts der Entstehung von insbesondere Altmeppen, ZIP 2016, 1557, 1562, mit Hinweis auf die Schwierigkeit, an die jeweilige Unterdeckung geschuldeter Ratenzahlungen anzuknüpfen („In der Praxis geht es so gut wie nur um den Fall, dass die Abfindung über mehrere Jahre hinweg in Raten zahlbar ist. Man weiß also gar nicht, ob und wann die Voraussetzungen des § 34 Abs. 3 GmbHG vorliegen oder entfallen werden.“). 33 Vgl. Anacker, a.a.O. (Fn. 5), S. 175 f. 34 Vgl. Böhm, a.a.O. (Fn. 5), S. 76. 35 Vgl. Böhm, a.a.O. (Fn. 5), S. 77; Pentz in FS Marsch-Barner, 2018, S. 431, 438. 36 Krit. gegenüber der Annahme einer auf Treubindung beruhenden Rechtspflicht der verbleibenden Gesellschafter zur Erhebung der Auflösungsklage nach § 61 Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261, 1267, der darauf hinweist, eine entsprechende Pflicht sei vom BGH nicht statuiert worden; Böhm, a.a.O. (Fn. 5), S. 78.

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fehlsamen Verständnis der in der BGH-Rechtsprechung aufgestellten Haftungsvoraussetzungen. a) Treubindung als allgemeine Verhaltensvorgabe Lutz Strohn, der an den einschlägigen Urteilen als Mitglied des II. Zivilsenats beteiligt war, hat zur Erläuterung der Rechtsprechung des BGH ausgeführt, der Senat habe in seiner Entscheidung vom 10.5.2016 (BGHZ 210, 236) „klargestellt, dass die persönliche Haftung der verbleibenden Gesellschafter nicht notwendigerweise schon dann entsteht, wenn sich herausstellt, dass die Abfindung wegen einer drohenden oder bereits eingetretenen Unterbilanz von der Gesellschaft nicht gezahlt werden kann. Nur wenn die Gesellschafter sich nicht um einen Ausweg aus dieser Situation bemühen, etwa indem sie eine Kapitalherabsetzung beschließen, haften sie aufgrund ihrer Treuepflicht und der Billigkeit persönlich. Die Gesellschafter dürfen sich in dieser Lage nicht „wegducken“. Sie haben aber eine angemessene Überlegungsfrist.“ Diese Formulierungen aus der Feder eines spiritus rector der BGH-Rspr. verdeutlichen, dass es sich bei der treupflichtgestützten Haftung der verbleibenden Gesellschafter nicht darum handeln kann, punktgenau, möglicherweise gar abschließend, konkrete Verhaltenspflichten festzulegen, deren Verletzung eine Ausfallhaftung für die Abfindung nach § 280 Abs. 1 BGB zu begründen vermag. Den darin zum Ausdruck kommenden offenen und flexiblen Charakter der mitgliedschaftlichen Treubindung unter den Gesellschaftern hat Th. Raiser mit treffenden Worten beschrieben37. b) Treubindung als Bemühenspflicht Bezieht man die generalisierende Verhaltensvorgabe der Treubindung unter den Gesellschaftern (vgl. vorstehend IV.1.a)) auf die Fallkonstellation der Abfindungshaftung, so liegt es nahe, das an die verbleibenden Gesellschafter gerichtete Gebot, einen Ausweg zu finden und sich nicht „wegzuducken“ (Strohn), i.S. einer Bemühenspflicht nach dem Vorbild der aus dem anglo-amerikanischen Recht bekannten Best EffortsVerpflichtung zu verstehen. Damit wird den Gerichten der Weg zu flexiblen, den jeweiligen Gegebenheiten des Einzelfalls gerecht werdenden Konkretisierungen der Treubindung eröffnet. Das schließt es ein, dass je nach Lage des Einzelfalles durchaus mehrere unterschiedliche, nicht von vornherein sinnvoll kategorisierbare Maßnahmen oder auch Kombinationen von Maßnahmen der den verbleibenden Gesellschaftern abzuverlangenden Pflicht, einen Ausweg zu finden, gerecht werden können. Insofern ist den Gesellschaftern im Rahmen ihrer grundsätzlichen Verpflichtung, einen adäquaten Ausweg zu finden, ein unternehmerischer Ermessenspielraum zuzugeste37 Habersack/Casper/Löbbe/Raiser, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 14 Rz. 78: „Welches Verhalten die Treuepflicht von den Gesellschaftern konkret fordert, muss von den Beteiligten und im Streitfall von den Gerichten unter Abwägung aller Umstände im Einzelfall festgestellt werden. Auch Fallgruppen können nur heuristisch und nicht abschließend gebildet werden. Maßgeblich ist nicht in erster Linie die Rechtsform, sondern die Realstruktur der Gesellschaft.“

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hen (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG analog). Auch wird damit klargestellt, dass den in die Haftung genommenen verbleibenden Gesellschaftern nichts Unmögliches oder Unzumutbares abverlangt werden kann, so wie der oben bereits (III.2.c)) angesprochene Verkauf (zeitweilig) nicht verkaufbarer Gegenstände, eine Kapitalherabsetzung unter das gesetzliche Mindestkapital, die Bewirkung eines Auflösungsbeschlusses, den herbeizuführen sie mangels erforderlicher Mehrheit nicht in der Lage sind, oder die Erhebung einer Auflösungsklage ohne wichtigen Grund (arg. § 275 BGB). c) Weitere Anknüpfungspunkte der Bemühenspflicht Eine offene und flexible Interpretation der Treubindung i.S. einer Bemühenspflicht (vorstehend IV.1.b)) gebietet die Anknüpfung an alle den verbleibenden Gesellschaftern im konkreten Fall zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Schaffung auskehrbaren freien Vermögens. Damit erfasst die Treubindung auch die Pflicht, zu solchen Remeduren zu greifen, die in der BGH-Rechtsprechung nicht ausdrücklich erwähnt werden wie etwa die Möglichkeit einer erleichterten Kapitalherabsetzung nach § 58a GmbHG38 oder auch die Zuführung von Eigenmitteln als Agio (Aufgeld), das zwar gemäß §§ 272 Abs. 2 Nr. 1, 266 Abs. 3 A. II. HGB in der Bilanz als Kapitalrücklage auszuweisen ist, jedoch nicht der gesetzlichen Kapitalbindung nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG unterfällt39. d) Beweislast und Auskunftsanspruch des Abfindungsberechtigten Kritiker des Haftungsmodells des BGH führen an, ein ausgeschiedener Gesellschafter werde Ausfallhaftungsansprüche gegen seine ehemaligen Mitgesellschafter oft nur schwer durchsetzen können, weil er mangels Verfügbarkeit entsprechender Informationen nicht in der Lage sein werde, der ihn nach allgemeinen Grundsätzen treffenden Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer Unterbilanz i.S.v. §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG nachzukommen40. Dem ist entgegenzuhalten, dass der BGH treupflichtgestützte Informationsansprüche innerhalb eines fortbestehenden Mitgliedschaftsverhältnisses durchaus anerkannt hat41. Warum dann nicht auch entsprechende Informationsansprüche eines abfindungsberechtigten ausgeschiedenen Gesellschafters aus dem nachwirkenden Mitgliedschaftsverhältnis anzuerkennen sein sollen, vermag nicht zu überzeugen.

38 Vgl. MünchKommGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 75. 39 Vgl. Habersack/Casper/Löbbe/Ulmer/Löbbe, GmbHG, 3. Aufl. 2019, 3. Aufl. 2019, § 3 Rz. 67. 40 Vgl. BeckOKGmbHG/Schindler, § 34 Rz. 56.2; Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261, 1271; J. Schmidt, GmbHR 2013, 953, 959; Vossius, NotBZ 2016, 412, 414; Fritz, a.a.O. (Fn. 5), S. 153. 41 BGH v. 11.12.2006 – II ZR 166/05, BGH NJW 2007, 917.

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e) Haftung der verbleibenden Gesellschafter als Schadenersatzhaftung Ein kardinaler Einwand gegen die dogmatische Einordnung des Haftungsmodells des BGH als Schadenersatzhaftung wegen Treupflichtverletzung besteht darin, dass die pro rata-Haftung mehrerer verbleibender Gesellschafter nicht der nach § 280 Abs. 1 BGB geschuldeten Schadenersatzhaftung treuwidrig Handelnder wegen Pflichtverletzung entspreche42. Dazu ist zu bemerken, dass eine pro rata-Haftung, wie sie der BGH annimmt, sich dogmatisch durchaus überzeugend als Haftung mehrerer Schuldner auf Schadenersatz nach § 280 Abs. 1 BGB für eine teilbare Leistung i.S.v. § 420 BGB einordnen lässt. Dabei kann die in dieser Vorschrift zum Ausdruck kommende Vermutung der anteiligen Verpflichtung gleichen Maßes dadurch als widerlegt angesehen werden, dass es sich bei der Haftung der verbleibenden Gesellschafter für die Abfindung des Ausgeschiedenen um ein dem Kapitalschutz der GmbH dienendes Rechtsinstitut handelt, und dass dafür jeder einzelne Gesellschafter nach dem in § 19 Abs. 2 GmbHG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken nur pro rata seiner Beteiligung am Stammkapital der Gesellschaft die Verantwortung zu tragen hat. Für diese Einordnung spricht auch, dass es sich bei der Schadenersatzhaftung der verbleibenden Gesellschafter nach dem Modell des BGH um einen Fall des Schuldens einer die verbleibenden Mitgesellschafter treffenden teilbaren Leistung in der Form einer analog § 738 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 BGB geschuldeten Geldleistung handelt43. Dagegen schreibt § 431 BGB allein für unteilbare Leistungen die Gesamtschuldnerschaft zwingend vor44. Für die Annahme einer gesamtschuldnerischen Haftung der verbleibenden Gesellschafter nach § 427 BGB könnte auf den ersten Blick sprechen, dass die Gesellschafter durch den Akt der Gesellschaftsgründung bzw. den späteren Beitritt zu der Gesellschaft eine gesellschaftsrechtliche Sonderverbindung eingehen, die einer vertraglichen Verpflichtung i.S. dieser Vorschrift gleichgestellt werden könnte. Jedoch fehlt es deshalb am Vorliegen einer gemeinschaftlichen Verpflichtung der verbleibenden Gesellschafter i.S. dieser Norm, weil die Gesellschafter sich kraft ihrer Treubindung nicht alle zu ein und derselben Leistung verpflichten45. Das findet seinen Grund darin, dass die jeden einzelnen in die Haftung geratenden Mitgesellschafter kraft seiner Treubindung treffenden Bemühenspflichten (oben IV.1.b)) je nach Lage des Falles immer von dem konkreten Einfluss des jeweiligen Gesellschafters auf die Geschicke der Gesellschaft abhängen müssen (vgl. oben IV.1.c)). So sind an einen Mehrheitsgesellschafter mit Weisungsbefugnis gegenüber der Geschäftsführung (§ 37 Abs. 1 GmbHG) andere Bemühensanforderungen zu stellen als an Minderheitsgesellschafter mit oder auch ohne statutarische Zustimmungsvorbehalte, Minderheitenrechten 42 Vgl. Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261, 1267; Pentz in FS Marsch-Barner, 2018, S. 431, 438 f.; Pentz/Maul in FS Haarmann, 2015, S. 161, 180; J. Schmidt, GmbHR 2013, 953, 955; Fritz, a.a.O. (Fn. 5), S. 137. 43 Vgl. Schulze-Osterloh, NZG 2016, 161, 162: „Mit dem Ausscheiden aus der Gesellschaft erlangt der betroffene Gesellschafter also nach [§ 738 Abs. 1] S. 2 einen Geldanspruch auf der Grundlage einer fiktiven Auseinandersetzung der Gesellschaft.“ 44 Vgl. Schulze, Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Aufl. 2019, § 420 Rz. 29. 45 Vgl. OLG Frankfurt v. 14.5.1998 – 15 U 50-97, NJW-RR 1998, 1515, 1516.

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nach § 50 GmbHG, Sperrminoritäten, oder etwa auch an solche Gesellschafter, die eine Beteiligung oder gar eine Kontrollposition in einem über die Stimmenmehrheit in der GmbH verfügenden Stimmrechtspool halten. Angesichts dieses besonderen, jeweils individuell zu bestimmenden Inhalts der Treubindung liegt hier auch keine gemeinsame vertragliche Verpflichtung zu einer teilbaren Leistung i.S.v. § 427 BGB vor. Diese Vorschrift kommt daher als lex specialis zu § 420 BGB nicht zur Anwendung46. f) Treupflichtbasierte verschuldensunabhängige Einstandspflicht? Von Tröger stammt die Idee, die Haftung der verbleibenden Gesellschafter sei als treupflichtbasierte, verschuldensunabhängige Einstandspflicht einzuordnen, und zwar in dem Sinne, „dass eine von konkretem Verschulden unabhängige Verlustdeckungspflicht auf die pflichtenbegründende Dimension der Treubindung gestützt werden könne“47. Zur Begründung dieser These beruft Tröger sich auf rechtsökonomische Überlegungen zur Schaffung einer effizienten Anreizstruktur, mit der die verbleibenden Gesellschafter davon abgehalten würden, die Gewährung der geschuldeten Abfindung an den Ausscheidenden in missbräuchlicher Weise zu vereiteln. Zur gesellschaftsrechtsdogmatischen Begründung zieht er als Vorbild das im Schrifttum zum Konzernrecht der Personengesellschaften von ihm selbst und einer Reihe weiterer Autoren befürwortete Modell der pauschalen Verlustausgleichspflicht in Personenhandelsgesellschaften mit Minderheitsgesellschaftern heran48. Gegen Trögers rechtsökonomischen Begründungsansatz ist einzuwenden, dass bloße Effizienzerwägungen grundsätzlich nicht geeignet sind, die Anwendung oder Fortbildung des Rechts durch ein Gericht zu legitimieren; dazu ist im deutschen Recht allein der demokratisch legitimierte Gesetzgeber berufen. Das muss auch für die Fortentwicklung der Rechtsprechung hin zur Gesellschafterhaftung für Abfindungsansprüche gelten (vgl. oben II.). Gegen Trögers Argumentation mit dem konzernrechtlichen Haftungsmodell der pauschalen Verlustausgleichspflicht spricht Zweierlei. Zum einen setzt das konzernrechtliche Haftungsmodell der pauschalen Verlustausgleichspflicht ein Verhalten des herrschenden Unternehmens voraus, durch das es zu einer intransparenten Situation i.S. einer qualifiziert faktischen Konzernierung, der sprichwörtlichen „Waschkorblage“, kommt, in der die der beherrschten Gesellschaft zugefügten Nachteile sich im Einzel-

46 Im Ergebnis so wie hier auch Gubitz/Nikoleyczik, NZG 2013, 727, 731 die ohne nähere dogmatische Begründung, in der Sache aber durchaus zutr. damit argumentieren, „dass die Haftung eines einzelnen (z.B.: Klein-) Gesellschafters für den gesamten Betrag keine sachgerechte Risikoallokation im Verhältnis der zustimmenden und des ausscheidenden Gesellschafters darstellen würde.“ 47 Tröger, Anteilseinziehung und Abfindungszahlung, Teleologie und Dogmatik der Folgen sofort wirksamer Einziehungsbeschlüsse, in: VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2013, 2014, S. 23 ff. 48 Vgl. Tröger, a.a.O. (Fn. 47), S. 46 ff., 53 f.

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nen nicht mehr identifizieren lassen49. Dafür, dass der BGH bei seinem Modell der Haftung verbleibender Gesellschafter eine solche restriktive Haftungsvoraussetzung im Auge hatte, spricht nichts, zumal da das Urteil vom 10.5.2016 hinsichtlich der Anknüpfung der Haftung auf konkrete Verhaltensweisen wie die Hebung stiller Reserven etc. abstellt50. Zudem hat der BGH bekanntlich mit dem Urteil „Bremer Vulkan“, was das GmbH-Konzernrecht betrifft, von der Rechtsfigur des qualifiziert faktischen Konzerns Abstand genommen51. Das müsste dann erst recht auch für die abhängige Personengesellschaft gelten52. Das von Tröger propagierte Haftungsmodell passt daher schon nicht für das Konzernrecht der Personengesellschaften und erst recht passt es nicht als gesellschaftsrechtsdogmatische Blaupause für die Haftung verbleibender GmbH-Gesellschafter für die Abfindung ausscheidender Mitgesellschafter nach der Rechtsprechung des BGH. 2. Haftungsadressaten a) Konsentierende und dissentierende Gesellschafter Einem Teil des Schrifttums zufolge sollen solche ehemaligen Mitgesellschafter des Abfindungsberechtigten, die nicht für die Einziehung gestimmt haben, nach dem Haftungsmodell des BGH auch nicht der Ausfallhaftung unterfallen53. Dagegen sind nach der im Schrifttum überwiegenden Meinung alle verbleibenden Gesellschafter einschließlich der Dissidenten in die Haftung einzubeziehen54. Ob sich der Rechtsprechung des BGH eine Beschränkung der Haftung auf die für die Einziehung stimmenden Gesellschafter entnehmen lässt, erscheint äußerst zweifelhaft. Zwar findet sich im Grundsatzurteil vom 24.1.2012 eine Bezugnahme auf die Haftung (nur) derjenigen „Gesellschafter, die den Einziehungsbeschluss gefasst ha-

49 Vgl. Tröger in Westermann/Wertenbruch (Hrsg.), Handbuch der Personengesellschaften, Stand: 10.2020, Rz. I 4071. 50 BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 236, Rz. 22 ff.; vgl. dazu auch oben III.2.c). 51 BGH v. 17.9.2001 – II ZR 178/99, BGHZ 149, 10 ff. – „Bremer Vulkan“. 52 Zutr. Oetker/Lieder, HGB, 6. Aufl. 2019, § 105 Rz. 160. 53 Schockenhoff, NZG 2012, 449, 451; Gubitz/Nikoleyczik, NZG 2013, 727, 729; Schwetlik, GmbH-StB 2012, 109, 110. 54 MünchKommGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 77; BeckOKGmbHG/Schindler, § 34 Rz. 56.1; Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261, 1269; Altmeppen, ZIP 2012, 1685, 1691; Altmeppen, NJW 2013, 1025, 11029; Altmeppen, ZIP 2016, 1557, 1560; Zinger, ZGR 2017, 196, 205; Kort, DB 2016, 2098, 2102; S. Schneider, ZIP 2016, 2141, 2145; Priester, EWiR 2016, 393, 394.; J. Schmidt, GmbHR 2013, 953, 957; S. Schneider/Hoger, NJW 2013, 302, 306; Trölitzsch, KSzW 2013, 55, 58; Winkler, BB 2012, 666, 667; Stumpf/Müller, GWR 2012, 143, 144; Keil, DZWiR 2012, 348, 349; Bisle, NWB 2018, 1765, 1769; Anacker, a.a.O. (Fn. 5), S. 219 f. Nach Grunewald, GmbHR 2012, 769, 771. sollen grundsätzlich auch solche Gesellschafter haften, die gegen die Einziehung gestimmt haben haften, dies allerdings nur mit der Maßgabe, dass ihnen ein Recht zur Auflösung der Gesellschaft unabhängig von dem Mehrheitserfordernissen des § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG zu geben sei.

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ben“55. Dabei handelt es sich jedoch, wie Jessica Schmidt treffend bemerkt hat, um nicht mehr als eine „unglückliche Formulierung“, in der die Stoßrichtung der Rechtsprechung des II. Zivilsenats nicht präzise zum Ausdruck kommt56. Wie der Kreis der haftenden Gesellschafter abzugrenzen ist, hat der ehemalige Vorsitzende des II. Zivilsenats Alfred Bergmann in einem Diskussionsbeitrag zur VGR-Konferenz 2013 auf die kurze und treffende Formel gebracht, es müssten alle die Gesellschafter haften, die zum Handeln verpflichtet seien57. Diese erklärende Stellungnahme verdeutlicht, dass es für die Haftung allein darauf ankommen soll, ob einen Gesellschafter kraft seiner Treubindung gegenüber dem Abfindungsberechtigten eine Bemühenspflicht hinsichtlich der Beseitigung der Auszahlungssperre nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG trifft (vgl. oben IV.1.b)). b) Ausfallhaftung für ausfallende Mitgesellschafter Für den Fall, dass ein verbleibender Gesellschafter seiner anteiligen Ausgleichshaftung nach dem Haftungsmodell des BGH nicht nachzukommen vermag, befürwortet der überwiegende Teil des Schrifttums die Erhöhung des jeweiligen Haftungsanteils der weiteren noch in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter in entsprechender Anwendung der §§ 24 Satz 2, 31 Abs. 3 Satz 2 GmbHG58. Das überzeugt. Die vorstehend näher begründete Ablehnung der Analogie zu §§ 24 Satz 2, 31 Abs. 3 Satz 2 GmbHG als dogmatische Begründung der pro rata Haftung als solcher (vgl. oben III.1.b)), steht dem nicht entgegen, da es in den Sätzen 2 der genannten Vorschriften nicht um die dogmatische Begründung der Haftung als solcher geht, sondern allein darum, systemgerechte Folgen aus der judikativen Etablierung des Prinzips der pro rata Haftung herzuleiten59.

V. Haftung bei Ausschluss und Austritt Das Spannungsverhältnis zwischen dem Vermögensschutz nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG und dem Abfindungsinteresse eines ausscheidenden Gesellschafters (vgl. oben I.) besteht beim Ausschluss eines Gesellschafters aus wichtigem Grund kraft gerichtlichen Gestaltungsurteils ebenso wie im Falle der Einziehung eines Geschäftsanteils durch Gesellschafterbeschluss60. In vergleichbarer Weise entsteht ein solches Spannungsverhältnis auch in dem Fall, dass ein Gesellschafter aus wichtigem 55 56 57 58

BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236, 243 Rz. 21. Vgl. J. Schmidt, GmbHR 2013, 953, 957. Bergmann, in VGR, Gesellschaftsrecht in der Diskussion 2013, 2014, S. 79, 82. Habersack/Casper/Löbbe/Ulmer/Habersack, GmbHG, 3. Aufl. 2020, § 34 Rz. 64a; Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt/Sosnitza, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 34 84; Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261, 1269 f.; Grunewald, GmbHR 2012, 769, 770; Schockenhoff, NZG 2012, 449, 451; J. Schmidt, GmbHR 2013, 953, 958; Trölitzsch, KSzW 2013, 55, 58. 59 Vgl. S. Schneider/Hoger, NJW 2013, 502, 506. 60 Zum Ausschluss durch Gerichtsurteil bei Vorliegen eines wichtigen Grundes BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 162 f.

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Grund seinen Austritt aus der Gesellschaft erklärt. Das führt zu der für die Praxis höchst bedeutsamen Frage, ob sich das durch die Rspr. des BGH eingeführte Modell der pro rata Haftung in der Gesellschaft verbleibender Gesellschafter auf die Abfindungsfälle der Ausschließung und des Austritts übertragen lässt. 1. Ausschluss durch Gerichtsurteil a) Der hergebrachte Ansatz: Modifizierte Anwendung der „Bedingungslösung“ Im Urteil des BGH vom 24.1.2012 ist von der geringeren Schutzwürdigkeit solcher Gesellschafter die Rede, die ihre Zustimmung zur Einziehung ihrer Anteile qua Gesellschafterbeschluss im Wege der Selbstbindung an eine vorab in der Satzung festgelegte Ausschlussklausel antizipativ erteilt haben61. Teile des Schrifttums wollen aus dieser Differenzierung Bedenken gegen die Übertragbarkeit der BGH-Rechtsprechung zur Haftung der verbleibenden Gesellschafter für die Abfindungsansprüche Ausgeschiedener auf den Fall des Ausschlusses durch Gerichtsurteil herleiten62. Das macht deshalb keinen rechten Sinn, weil die höchstrichterliche Berufung auf die größere Schutzwürdigkeit des gerichtlich Ausgeschlossenen, wenn überhaupt, dann allenfalls im Wege eines Erst-recht-Schlusses für und nicht gegen die Anwendung des im Vergleich mit der „Bedingungslösung“ der älteren Rechtsprechung dem Abfindungsgläubiger günstigeren Haftungsmodells des BGH auf den Fall des gerichtlichen Ausschlusses sprechen müsste. b) Nach neuerer Judikatur: Anwendbarkeit der Gesellschafterhaftung wie bei der Einziehung Es muss auch auf Bedenken stoßen, wenn Teile des Schrifttums argumentieren, der BGH habe in seinen drei Urteilen zur Gesellschafterhaftung kein klares Bekenntnis zur Fortgeltung bzw. Aufgabe der „Bedingungslösung“ in der Fallkonstellation des gerichtlichen Ausschusses abgelegt63. Die richtige Fragestellung muss hier vielmehr lauten, ob über die bislang nur die Einziehung durch Gesellschafterbeschluss betreffende aktuelle Rspr. des BGH hinausgreifend das an die Stelle der „Bedingungslösung“ nach BGHZ 9, 157 tretende Modell der subsidiären Gesellschafterhaftung 61 BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rz. 16: „Wegen seiner antizipierten Zustimmung zur Einziehung in der Satzung ist er weniger schutzwürdig als ein Gesellschafter, der ohne eine solche Bestimmung im Gesellschaftsvertrag ausgeschlossen wird. Insoweit unterscheidet sich die Einziehung des Geschäftsanteils mittels Beschluss von der Ausschließung des Gesellschafters durch eine Klage, die ohne seine Zustimmung möglich ist und bei der nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Wirkung des Ausschließungsurteils von der Zahlung des Abfindungsentgelts abhängt (BGH, Urteil vom 1.4.1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 174).“ 62 Blath, GmbHR 2012, 657, 662; Münnich, GmbHR 2012, 390; Trölitzsch, KSzW 2013, 55, 57, 62. 63 Vgl. Schneider/Hoger, NJW 2013, 502, 504; Stumpf/Müller, GWR 2012, 143, 145; Anacker, a.a.O. (Fn. 5), S. 337.

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im Hinblick auf das vergleichbare Schutzbedürfnis ausgeschlossener Gesellschafter auch in Bezug auf die Fallkonstellation des Ausschlusses durch Gerichtsurteil Geltung erheischt. Richtigerweise ist diese Frage uneingeschränkt zu bejahen64. 2. Erklärung des Austritts aus wichtigem Grund a) Der hergebrachte Ansatz: Modifizierte Anwendung der „Bedingungslösung“ Was die Anwendbarkeit der Gesellschafterhaftung nach dem Modell des BGH auf die Fallkonstellation des Austritts eines Gesellschafters aus wichtigem Grund betrifft, so ist zunächst der Klarheit halber darauf hinzuweisen, dass dieses Austrittsrecht seit dem Grundsatzurteil vom 1.4.1953 von der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt und in der Gesellschaftsrechtspraxis wohl bekannt ist65. Auf der Grundlage dieser älteren BGH-Rechtsprechung und bis zum Ergehen der neueren Urteile zur Gesellschafterhaftung sollte die Lösung des Konflikts zwischen dem Abfindungsinteresse des Ausscheidenden und dem Kapitalerhaltungsgrundsatz in der Form einer modifizierten Anwendung der „Bedingungslösung“ (oben II.) erfolgen. So sollte im Falle der Verwertung des Anteils des austretenden Gesellschafters im Wege der Einziehung die Wirksamkeit des Einziehungsbeschlusses unter der aufschiebenden Bedingung vollständiger Zahlung der Abfindung aus ungebundenem Gesellschaftsvermögen stehen66. Bei Verwertung der Anteile durch Abtretung an die GmbH konnte die Abtretung nur Zug um Zug gegen die vollständige Abfindung aus ungebundenem Gesellschaftsvermögen erfolgen, so dass der Austrittswillige erst mit vollständiger Zahlung der Abfindung aus ungebundenem Vermögen aus der Gesellschaft ausscheiden konnte. Die gleiche Bedingung vollständiger Zahlung der Abfindung aus ungebundenem Vermögen sollte auch für den Fall der statutarisch vorgesehenen Zwangsabtretung des Anteils des Austretenden an einen oder mehrere Mitgesellschafter bzw. an einen von der Gesellschaft als Erwerber benannten Dritten gelten. Für den Fall der Verzögerung der Abfindungszahlung aus ungebundenem Vermögen hat der BGH erwogen, dem Austretenden das Recht zuzugestehen, unabhängig vom Vorliegen des Zehn-Prozent-Mindestquorums nach § 61 Abs. 2 Satz 2 GmbHG die Auflösung der Gesellschaft zu verlangen67. b) Nach neuer Judikatur: Anwendbarkeit der Gesellschafterhaftung wie bei der Einziehung Es liegt auf der Hand, dass die Anwendung der vorstehend (V.2.a)) kurz referierten modifizierten „Bedingungslösung“ auf den Fall des Austritts aus wichtigem Grund 64 Zutr. BeckOK GmbHG/Schindler, Stand: 1.5.2021, § 34 Rz. 132. 65 Vgl. BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 162 f.; aus dem Schrifttum Altmeppen, ZIP 2012, 1685, 1692; Goette, DStR 2001, 533, 539. 66 Vgl. OLG München v. 11.12.2007 – 31 Wx 048/07, NZG 2008, 199, 200. 67 BGH v. 26.10.1983 – II ZR 87/83, BGHZ 88, 320, 326, unter Bezugnahme auf BGH v. 25.1.1960 – II ZR 22/59, BGHZ 32, 17, 23.

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die gleichen Schwächen im Hinblick auf das Entstehen eines Schwebezustandes zwischen der Erklärung des Austritts und der vollständigen Zahlung der Abfindung aus ungebundenem Vermögen aufweist, die der BGH bezüglich der Anwendung der „Bedingungslösung“ auf den Fall der Einziehung von Geschäftsanteilen überzeugend angemahnt hat68. Die beiden Fallkonstellationen sind daher, was den Schutz abfindungsberechtigter ausscheidender Gesellschafter anbelangt, durchaus vergleichbar. Das spricht grundsätzlich für die Übertragung der Rechtsprechung zur Abfindungshaftung der verbleibenden Gesellschafter auf die Fallkonstellation des Austritts aus wichtigem Grund69. Im Schrifttum wird vorwiegend geltend gemacht, die Haftung der verbleibenden Gesellschafter könne diesen nicht durch die einseitige Erklärung des Austretenden gegen deren Willen aufgezwungen werden, das sei mit dem Belastungsverbot des § 53 Abs. 3 GmbHG nicht zu vereinbaren70. Dagegen ist zu halten, dass die Anwendung des Haftungsmodells des BGH für die verbleibenden Gesellschafter im Vergleich mit der vormaligen Rechtslage zwar zweifellos eine zusätzliche Belastung darstellt, nicht dagegen aber die Einführung einer auf der Satzung beruhenden Leistungsvermehrung, wie § 53 Abs. 3 GmbHG dies fordert71. Ein weiteres Argument lautet, der BGH habe mit seinem Haftungsmodell ausweislich der Formulierungen im Urteil vom 24.1.2012 nur solche Situationen im Auge gehabt, wo es den Gesellschaftern darum gehe, einen als „Störenfried“ empfundenen Mitgesellschafter aus der Gesellschaft herauszubefördern72. Dagegen spricht, dass der II. Zivilsenat in seinem Urteil vom 10.5.2016 ausdrücklich klargestellt hat, die Rspr. zu Gesellschafterhaftung solle auch den Fall der freiwilligen Einziehung erfassen, was mit dem Bild eines querulatorischen „Störenfrieds“ nicht in Einklang zu bringen ist73.

68 Vgl. BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rz. 15 ff. 69 Im Ergebnis so auch Altmeppen, GmbHG, 10. Aufl. 2021, § 34 Rz. 35, unter Bezugnahme auf Wachter, NZG 2016, 961, 967, der sich auf die Vermeidung von Wertungswidersprüchen beruft. 70 Vgl. Scholz/Seibt, GmbHG, 12. Aufl. 2018, Anh. § 34 Rz. 22; Habersack/Casper/Löbbe/ Ulmer/Habersack, GmbHG, 3. Aufl. 2020, Anh. § 34 Rz. 49; MünchKommGmbHG/ Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 201; Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, 22. Aufl. 2019, Anh. § 34 Rz. 23; Fritz, a.a.O. (Fn. 5), S. 201; ausdrücklich Unvereinbarkeit mit § 53 Abs. 3 GmbHG reklamierend Seibt, a.a.O.; sowie auch Lieder, GmbHR 2014, 232, 237. 71 Vgl. Altmeppen, GmbHG, 10. Aufl. 2021, § 53 Rz. 45 (§ 53 Abs. 3 GmbHG erfordert eine „Satzungsänderung, die auf eine Vermehrung der Leistungen gerichtet ist“); Baumbach/ Hueck/Kersting, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 53 Rz. 32 (§ 53 Abs. 3 GmbHG erfasst nur die „Vermehrung der den Gesellschaftern nach der Satzung obliegenden Leistungen“). 72 Vgl. Trölitzsch, KSzW 2013, 55, 57, unter Bezugnahme auf BGH v. 24.1.2012 – II ZR 109/11, BGHZ 192, 236 Rz. 16. 73 Vgl. BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 186 Rz. 24.

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c) Umsetzung der Gesellschafterhaftung Hinsichtlich der Umsetzung des höchstrichterlichen Modells der Gesellschafterhaftung im Kontext des Austritts eines Gesellschafters aus wichtigem Grund ist zwischen der Verwertung des Geschäftsanteils des Austretenden Gesellschafters im Wege der Einziehung einerseits und im Wege der Abtretung andererseits zu unterscheiden. aa) Umsetzung bei Einziehung Für den Fall, dass die Satzung die Anteilsverwertung im Wege der Einziehung vorsieht, erfordert es die konsequente Anwendung des Haftungsmodells des BGH, die Wirkungen einer vorab statutarisch verfügten Einziehung zwar grundsätzlich mit der Erklärung des Austritts eintreten zu lassen, ihr jedoch von vorn herein analog § 241 Nr. 3 AktG die Wirksamkeit für den Fall zu versagen, dass es der Gesellschaft bereits zum Zeitpunkt der Erklärung des Austritts an ausreichend ungebundenem Vermögen fehlt, um die Abfindung ohne Verletzung der Kapitalbindung nach § 30 Abs. 1 GmbHG zu leisten74. Im Nachgang zu der Entscheidung BGHZ 192, 236 hatten kritische Stimmen im Schrifttum reklamiert, in Anbetracht der mit der neuen Rechtsprechung eingeführten Ausfallhaftung der verbleibenden Gesellschafter bedürfe es dieses von Priester treffend als „Vorneverteidigung“ bezeichneten vorgeschalteten Schutzinstruments nicht mehr75. Gegen diese Argumentation ist einzuwenden, dass der bei Bestehen der Auszahlungssperre nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG gefasste Einziehungsbeschluss nach den zur Zeit der Beschlussfassung obwaltenden und voraussehbaren Umständen auf eine verbotswidrige Auszahlung geradezu abzielt. Bezüglich der Nichtigkeitsfolge analog § 241 Nr. 3 AktG muss daher für einen solchen Einziehungsbeschluss das Gleiche gelten wie für den eine nach § 30 Abs. 1 GmbHG verbotswidrige Auszahlung vorschreibenden Anweisungsbeschluss76. Kersting bemerkt dazu treffend, es könne „ein Beschluss keine Gültigkeit haben, dessen Durchführung von vornherein und auf Dauer in offenem Widerspruch zum Kapitalerhaltungsgrundsatz steht77.

74 Seit BGH v. 1.4.1953 – II ZR 235/52, BGHZ 9, 157, 173 f. bis hin zu seiner neueren Rechtsprechung in BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 210, 186 Rz. 32 und BGH v. 26.6.2018 – II ZR 65/16, BGH ZIP 2018, 1541 Rz. 12 hat der BGH an dem Grundsatz festgehalten, dass ein Einziehungsbeschluss dann analog § 241 Nr. 3 AktG dem Verdikt der Nichtigkeit unterfällt, wenn bereits zum Zeitpunkt der Beschlussfassung ein mit der Vorgabe der §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG kollidierendes Defizit an freiem Gesellschaftsvermögen auszumachen ist. 75 Vgl. Priester, ZIP 2012, 658, 660; sinngleich argumentierend auch Altmeppen ZIP 2012, 1685, 1691. 76 Zur Nichtigkeit solcher Beschlüsse MünchKommGmbHG/Ekkenga, 3. Aufl. 2018, § 39 Rz. 281. 77 Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 34 Rz. 40a.

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bb) Anteilsverwertung durch Abtretung an die Gesellschaft Für den Fall, dass die Satzung die Anteilsverwertung im Wege der Abtretung an die Gesellschaft vorsieht, muss die bislang von der höchstrichterlichen Rechtsprechung stipulierte Voraussetzung wegfallen, dass die Abtretung nur Zug um Zug gegen die vollständige Abfindung des Austretenden aus ungebundenem Gesellschaftsvermögen erfolgen kann (vgl. vorstehend IV.2.a)). Der Schutz des Abfindungsinteresses des Austretenden ist dann dadurch zu gewährleisten, dass die verbleibenden Gesellschafter entsprechend dem Haftungsmodell des BGH die Einstandspflicht für die Zahlung der Abfindung durch die leistungsunfähige Gesellschaft trifft. cc) Anteilsverwertung durch Abtretung an ehemalige Mitgesellschafter und/oder Dritte Bei statutarischer Anordnung der Abtretung an einen, alle oder mehrere ehemalige Mitgesellschafter des Austretenden bzw. von der Gesellschaft designierte Drittpersonen kommt eine Ausfallhaftung der verbleibenden Gesellschafter entsprechend dem auf die Fallkonstellation der Einziehung bezogenen höchstrichterlichen Haftungsmodell nicht in Frage. Denn in dieser Fallkonstellation stellt sich die Frage der Verletzung des Kapitalerhaltungsgebots nach § 30 Abs. 1 GmbH schon von vornherein deshalb nicht, weil die für die Zahlung der Abfindung an den Austretenden verantwortlichen statutarisch designierten Anteilszedenten hier der Vermögensbindung nach § 30 Abs. 1 GmbHG nicht unterliegen78.

VI. Ausschluss und Modifikation der Gesellschafterhaftung Nur wenig wurde bislang die Frage diskutiert, ob die Gesellschafterhaftung nach dem Modell der aktuellen BGH-Rechtsprechung im Wege der Satzungsgestaltung oder auch in schuldrechtlichen Vereinbarungen zwischen den Gesellschaftern modifiziert oder gar gänzlich abbedungen werden kann. 1. Andeutungen des BGH Was die grundsätzliche Zulässigkeit der Abbedingung oder Modifikation der Gesellschafterhaftung durch Regelung in einer Gesellschaftervereinbarung betrifft, so ist im Urteil des BGH vom 10.5.2016 zu lesen: „Eine individuelle Vereinbarung der Gesellschafter hinsichtlich der subsidiären Haftung bei Ausfall der Gesellschaft, die … im Zusammenhang mit der Einziehung getroffen wird, ist zulässig. Die Gesellschafter können nicht nur hinsichtlich der Zahlung der Abfindung abweichende Vereinbarungen treffen, soweit die ansonsten geltenden allgemeinen Grundsätze keine zwingenden Vorgaben enthalten, sondern sie können auch die subsidiäre Haftung der in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter regeln. Danach ist es nicht grundsätzlich geboten, dass die Gesellschafter dafür Sorge tragen, dass der ausgeschiedene Gesell78 Vgl. Grunewald, GmbHR 1991, 185, 187; Böhm, a.a.O. (Fn. 5), S. 194.

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schafter seine Abfindung auch dann in voller Höhe erhält, wenn die Gesellschaft wegen einer Verschlechterung ihrer Vermögenslage gemäß §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG nicht mehr zahlen kann“79. Die Bezugnahme auf eine „individuelle Vereinbarung der Gesellschafter“ in diesen höchstrichterlichen Sätzen macht deutlich, dass es dem BGH dabei offenbar nur um außerhalb der Satzung getroffene schuldrechtliche Nebenabreden zwischen den Gesellschaftern ging; nur mit einer solchen schuldrechtlichen Nebenabrede hatte sich der II. Zivilsenat auch im zu entscheidenden Fall auseinanderzusetzen. Von einer ausdrücklichen Befürwortung der Zulässigkeit statutarischer Regelungen durch den BGH kann daher nicht ausgegangen werden. 2. Satzungsgestaltung a) Schranken der Gestaltungsfreiheit aa) § 53 Abs. 3 GmbHG? Wachter hält die Abbedingung bzw. Modifikation der Gesellschafterhaftung im Wege einer Satzungsregelung für zulässig, solange nur die davon nachteilig betroffenen Gesellschafter der Beeinträchtigung ihrer Rechtsposition entsprechend § 53 Abs. 3 GmbHG zustimmen80. Jedoch kann, was diese Vorschrift betrifft, daraus für die statutarische Disponibilität der der judikativ begründeten Gesellschafterhaftung nach dem Modell des BGH schon deshalb nichts abgeleitet werde, weil es sich dabei nicht um die Einführung einer auf der Satzung beruhenden Leistungsvermehrung handelt, wie § 53 Abs. 3 GmbHG dies fordert81. bb) Unabdingbarkeit der Treubindung Sieht man die mitgliedschaftliche Treubindung der verbleibenden Gesellschafter als die dogmatische Grundlage für deren Haftung nach dem Modell der BGH-Rechtsprechung. an, wie dies oben (III.2.) erläutert wurde, so stellt sich damit zuvorderst die im Schrifttum durchaus umstrittene Frage, ob die Treubindung der Gesellschafter in der GmbH insgesamt oder wenigstens in ihrem speziellen Bezug auf die Gesellschafterhaftung für Abfindungsansprüche einer statutarischen Abbedingung und Modifikation überhaupt zugängig ist. Schon insoweit bestehen gegen die Annahme weitreichender statutarischer Gestaltungsfreiheit gewichtige Bedenken82.

79 80 81 82

BGH v. 10.5.2016 – II ZR 342/14, BGHZ 2010, 186, Rz. 32. Wachter, NZG 2016, 961, 967. Vgl. oben V.2.b) bei Fn. 71. Zu Recht kritisch in Bezug auf die statutarische Disponibilität der Gesellschafterhaftung Stumpf/Müller, GWR 2012, 143, 145; allgemein zur Frage der Disponibilität der Treubindung Fleischer/Harzmeier, NZG 2015, 1289 ff.

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cc) Analogieschluss aus den §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG Unabhängig von möglichen Einwänden bezüglich der fehlenden dispositiven Rechtsnatur der Treubindung (vorstehend VI.2.a)bb)) wären jedenfalls die Schranken zulässiger statutarischer Abbedingung und Modifikation des höchstrichterlichen Haftungsmodells einem Analogieschluss aus den §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG zu entnehmen, die ein entsprechendes Verbot für die gesetzlich geregelten Fälle der kapitalerhaltungsbezogenen Ausfallhaftung nach §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG begründen83. Das muss, dies sei hier nur nebenbei bemerkt, auch dann gelten, wenn man im Anschluss an die Auffassung zweier führender Gesellschaftsrechtler das Haftungsmodell des BGH dogmatisch als richterliche Rechtsfortbildung einordnen will84. b) Zulässigkeit einzelner Satzungsklauseln aa) Statutarische „Bedingungslösung“ Ein Teil des Schrifttums hält die statutarische Festschreibung der „Bedingungslösung“ nach dem Modell von BGHZ 9, 157 für zulässig85. Diese Ansicht muss auf Bedenken stoßen. Denn mit einer die „Bedingungslösung“ festschreibenden und damit die Ausfallhaftung der verbleibenden Gesellschafter nach dem Modell der BGHRechtsprechung aushebelnden Satzungsregelung ginge eine Haftungsfreistellung einher, die mit dem hier analog zur Anwendung zu bringenden kapitalerhaltungsrechtlichen Freistellungsverbot nach §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG nicht in Einklang zu bringen wäre (vgl. vorstehend VI.2.a)cc)). Die genannten Vorschriften lassen nach einhelliger Meinung im Schrifttum zwar statutarische Haftungsverschärfungen, nicht aber Haftungserleichterungen zu86. bb) Zwangsabtretungsklauseln Was die aus der hergebrachten Gestaltungspraxis hinlänglich bekannten statutarischen Zwangsabtretungsklauseln betrifft, so kann das Haftungsmodell des BGH bei 83 Vgl. J. Schmidt, GmbHR 2013, 953, 960, die bemerkt, letztlich entscheidend dürfte sein, dass eine „Dispositivität in evidentem Widerspruch zur Konzeption und Ratio der Ausfallhaftung“ stünde, ohne sich dabei allerdings konkret auf die §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG zu beziehen; siehe dazu auch Henssler/Strohn/Verse, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 14 GmbHG Rz. 96, der in Bezug auf die vorgenannten Bestimmungen treffend von zwingenden Vermögenspflichten spricht. 84 Für die Einordnung der BGH-Rechtsprechung zur Gesellschafterhaftung. als richterliche Rechtsfortbildung Ulmer in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 1261 ff.; Pentz in FS MarschBarner, 2018, S. 431, 441. 85 Rowedder/Schmidt-Leithoff/Görner, GmbHG, 6 Aufl. 2017, § 34 Rz. 68; Wicke, DNotZ 2017, 138, 140; Stumpf/Müller, GmbHR 2012, 143, 145; Fritz, a.a.O. (Fn. 5), S. 181; Markowsky, a.a.O. (Fn. 5), S. 181. 86 Vgl. Baumbach/Hueck/Kersting, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 25 Rz. 1 und Baumbach/ Hueck/Fastrich, § 31 Rz. 26; zur Parallelvorschrift des § 66 AktG Henssler/Strohn/Paefgen, Gesellschaftsrecht, 5. Aufl. 2021, § 66 Rz. 3.

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dieser Gestaltungsvariante seinem Sinn nach nicht zur Anwendung kommen. Gegen eine solche Anwendung spricht, dass der für die höchstrichterliche Judikatur ausschlaggebende, letztlich dem Gläubigerinteresse dienende Kapitalerhaltungsschutz in der Fallkonstellation der Zwangsabtretung deshalb von vornherein nicht tangiert ist, weil Schuldner der Abfindung hier nicht die Gesellschaft ist, sondern vielmehr die statutarisch bestimmten Zedenten zur Befriedigung des abfindungsberechtigten ausscheidenden Gesellschafters herangezogen werden87. cc) Gesamtschuldnerische oder bürgenähnliche Haftung Unter die Kategorie einer analog §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG zulässigen Haftungsverschärfung (vgl. VI.2.a)cc)) fallen auch Satzungsregelungen, die statt der pro rata Haftung der verbleibenden Gesellschafter deren gesamtschuldnerische Haftung stipulieren88. Gleiches gilt für Klauseln, nach denen die verbleibenden Gesellschafter so wie selbstschuldnerische Bürgen haften sollen89. Zulässig ist auch die statutarische Anordnung einer Haftung wie bei der Bürgschaft auf erstes Anfordern90. dd) Beschränkung der Haftung auf treuwidrige Gewinnentnahmen? Auf Bedenken muss der Vorschlag von Wicke stoßen, die Haftung der verbleibenden Gesellschafter qua Satzungsreglung auf den Fall zu beschränken, dass nach dem Ausscheiden Gewinnentnahmen erfolgen, die das für die Zahlung der Abfindung verfügbare ungebundene Gesellschaftsvermögen tangieren91. Darin ist eine analog §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG unzulässige Haftungserleichterung zu erblicken. ee) Adressaten der Ausfallhaftung Was die Bestimmung der Adressaten der Ausfallhaftung betrifft, so sind Bedenken gegen eine Satzungsreglung anzumelden, nach der nur die der Einziehung zustimmenden Gesellschafter haften sollen. Nimmt man das Haftungsmodell des BGH tel quel, so unterfallen, wie oben (IV.2.a)) ausgeführt wurde, sowohl die zustimmenden als auch die dissentierenden Gesellschafter grundsätzlich der Ausfallhaftung. Eine nur die zustimmenden Gesellschafter in die Haft nehmende Satzungsregelung beinhaltet daher bezüglich der Ausklammerung der dissentierenden Gesellschafter eine unzulässige Haftungserleichterung. Das muss im Hinblick die analog §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG zur Anwendung gelangenden Gestaltungsverbote auf Bedenken stoßen.

87 Habersack/Casper/Löbbe/Ulmer/Habersack, GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 34 Rz. 119, 124; MünchKommGmbHG/Strohn, 3. Aufl. 2018, § 34 Rz. 99; Ulmer in FS Priester, 2007, S. 775, 797; Böhm, a.a.O. (Fn. 5), S. 207. 88 Vgl. Lutter/Hommelhoff/Bayer, GmbHG, 20. Aufl. 2020, § 25 Rz. 1; Trölitzsch, KSzW 2013, 55, 64; Fritz, a.a.O. (Fn. 5), S. 184. 89 Vgl. Wachter, NZG 2016, 961, 967. 90 Fritz, a.a.O. (Fn. 5), S. 184. 91 Wicke, DNotZ 2017, 138, 140.

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3. Gesellschaftervereinbarungen Wie oben (VI.2.a)cc)) ausgeführt wurde, folgen aus der analogen Anwendung der §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG Schranken bezüglich des statutarischen Ausschlusses bzw. der Modifikation der Gesellschafterhaftung nach dem Haftungsmodell des BGH. Für die Gestaltungspraxis stellt sich dann in ähnlicher Weise die Frage, ob Abweichungen vom Haftungsmodell der Rechtsprechung in schuldrechtlichen Nebenabreden zwischen den Gesellschaftern stipuliert werden können. Im Schrifttum finden sich Stellungnahmen, die solche Abreden unter Bezugnahme auf die offenherzigen Formulierungen in BGHZ 210, 1186, Rz. 32 für zulässig halten92. So soll eine Gesellschafterabrede zulässig sein, der zufolge der Ausfallhaftungsanspruch dem fiktiven Liquidationsanteil des ausgeschiedenen Gesellschafters entspricht93. Noch weiter geht die Meinung, den Ausführungen des BGH lasse sich die Zulässigkeit vollständiger Abdingbarkeit der pro rata Haftung der verbleibenden Gesellschafter entnehmen94. Derart großzügige Ansichten zur schuldvertraglichen Gestaltungsfreiheit der Gesellschafter müssen auf grundsätzliche Bedenken stoßen. Richtigerweise sind die Schranken der Dispositionsfreiheit der Gesellschafter in Bezug auf die höchstrichterlich vorgegebene Ausfallhaftung in entsprechender Anwendung der für die gesetzlich geregelten Fälle der Ausfallhaftung durch §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG gezogenen Schranken zu bestimmen. Für schuldrechtliche Gesellschaftervereinbarungen hat hier grundsätzlich das Gleiche zu gelten wie für Satzungsregelungen. Demgemäß sind zwar schuldvertraglich stipulierte Haftungsverschärfungen als zulässig anzusehen, nicht dagegen aber Milderungen oder gar die Abbedingung der Haftung (vgl. oben VI.2.b)aa) bei Fn. 86). Das findet seinen Grund darin, dass die genannten Vorschriften nach einhelliger Meinung im Schrifttum extensiv i.d.S. zu verstehen sind, dass sie nicht nur in Bezug auf Satzungsregelungen, sondern auch in Bezug auf schuldrechtliche Abreden zwischen den Gesellschaftern Anwendung erheischen95. Geht man von den durch die Analogie zu §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG gezogenen Schranken der Gestaltungsfreiheit aus, so sind die auf den ersten Blick sehr großzügig erscheinenden Formulierungen in BGHZ 2010, 236 Rz. 32 cum grano salis zu nehmen. Der vollständige Haftungsausschluss wie auch die Beschränkung der grundsätzlich auf den vollen Verkehrswert bezogenen Haftung der Höhe nach sind demgemäß als unzulässig anzusehen. Dass muss dann auch für eine Haftungserleichterung in der Form schuldvertraglich stipulierter Ratenzahlungen, Stundungen oder vergleichbarer

92 Vgl. oben VI.1. bei Fn. 79. 93 Vgl. Zinger, ZGR 2017, 196, 208, der allerdings auf die Schwierigkeiten bei der Ermittlung des fiktiven Liquidationsanteils hinweist. 94 So Görner, DB 2016, 1626, 1627; sowie wohl Weitnauer, GWR 2016, 294, der schuldrechtliche Gesellschafterabreden offenbar generell für zulässig hält; sowie auch F. Schaefer, DStR 2016, 2116, 2118. 95 Vgl. MünchKommGmbHG/Schütz, 3. Aufl. 2019, § 25 Rz. 2; MünchKommGmbHG/Ekkenga, 3. Aufl. 2019, § 31 Rz. 70.

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Modifikationen der Ausfallhaftung gelten, sofern solche Modifikationen nach der Satzung nicht schon für den Abfindungsanspruch gegen die Gesellschaft gelten96.

VII. Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten: 1. Mit den beiden Grundsatzurteilen vom 24.1.2012 (BGHZ 192, 236) und vom 10.5.2016 (BGHZ 210, 186) ist der BGH sich von der seit BGHZ 9, 157 die Rechtsprechung und Gesellschaftsrechtsdoktrin beherrschenden sog. „Bedingungslösung“ abgerückt, der zufolge ein Beschluss über die Einziehung eines Geschäftsanteils unter der „gesetzlichen Bedingung“ stand, dass die dem ausscheidenden Gesellschafter geschuldete Abfindung aus ungebundenem, d.h. nicht durch das Auskehrungsverbot nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG gesperrtem Vermögen der Gesellschaft gezahlt werden konnte. Über das overruling der „Bedingungslösung“ nach BGHZ 9, 157 hinaus, ist das Novum der neuen BGH-Judikatur zuvorderst in der Ersetzung dieses hergebrachten Gläubigerschutzmodells durch die pro rata Haftung der in der Gesellschaft verbleibenden Mitgesellschafter des Ausscheidenden für die Zahlung der Abfindung zu erblicken. Diese Ausfallhaftung kommt dann zum Tragen, wenn die verbleibenden Gesellschafter es versäumen, Maßnahmen zur Ermöglichung der Leistung der Abfindung aus ungebundenem Vermögen einzuleiten bzw.- als ultima ratio – die Gesellschaft aufzulösen (II. und IV.1.). 2. Die dogmatische Grundlage der judikativ begründeten Gesellschafterhaftung bildet die nach § 280 Abs. 1 BGB schadenersatzbewehrte Treubindung der verbliebenden Gesellschafter gegenüber dem abfindungsberechtigten ausscheidenden Gesellschafter (III.2.a)). Dabei handelt es sich um eine auch nach dem Ausscheiden des abfindungsberechtigten Gesellschafters fortwirkende Treubindung (III.2.b)). 3.a) Die treupflichtgestützte Haftung der verbleibenden Gesellschafter ist i.S. der Haftung für die Verletzung von Bemühenspflichten zu verstehen, die sich auf die Einleitung von Maßnahmen beziehen, mit denen die Schaffung des für die Zahlung der von der Gesellschaft zu leistenden Abfindung erforderlichen ungebundenen Gesellschaftsvermögens ermöglicht wird (IV.1.b). b) Die Treubindung der verbleibenden Gesellschafter gebietet die Anknüpfung an alle den ehemaligen Mitgesellschaftern gemäß ihrer jeweiligen Stellung in der Gesellschaft im konkreten Fall zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Schaffung ausreichenden freien Vermögens. Neben den in der BGH-Rechtsprechung ausdrücklich erwähnten Varianten der Auflösung stiller Reserven, der Kapitalherabsetzung und der Auflösung der Gesellschaft (III.2.c) können zur Konkretisierung der Treubindung auch weitere Anknüpfungspunkte herangezogen werden. Darunter fallen insbesonde96 Vgl. zur Unzulässigkeit der Staffelung des Abfindungsanspruchs gegen die Gesellschaft in fünfzehn gleichen Jahresraten BGH NJW 1989, 1685, 1686 (betreffend Kommanditgesellschaftsvertrag).

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re die Möglichkeiten einer erleichterten Kapitalherabsetzung nach § 58a GmbHG oder auch die Zuführung von Eigenmitteln als Agio, das zwar gemäß §§ 272 Abs. 2 Nr. 1, 266 Abs. 3 A. II. HGB in der Bilanz als Kapitalrücklage auszuweisen ist, jedoch nicht der gesetzlichen Kapitalbindung nach §§ 34 Abs. 3, 30 Abs. 1 GmbHG unterfällt (IV.1.c)). c) Zur Ermöglichung der Geltendmachung von Ausfallhaftungsansprüchen stehen dem darlegungs- und beweispflichtigen abfindungsberechtigten Gesellschafter kraft nachwirkender mitgliedschaftlicher Treubindung Informationsansprüche bezüglich der anspruchsbegründenden Tatsachen gegen seine in der Gesellschaft verbleibenden ehemaligen Mitgesellschafter zu (IV.1.d)). d) Die pro rata-Haftung der verbleibenden Gesellschafter nach dem Haftungsmodell des BGH lässt sich dogmatisch überzeugend als Haftung mehrerer Schuldner auf Schadenersatz nach § 280 Abs. 1 BGB für eine teilbare Leistung i.S.v. § 420 BGB einordnen (IV.1.e)). e) Die treupflichtbasierte pro rata Haftung für die Zahlung der Abfindung trifft nach dem Haftungsmodell des BGH nicht nur die dem Einziehungsbeschluss zustimmenden Gesellschafter, sondern alle verbleibenden Mitgesellschafter (IV.2.a)). f) Für den Fall, dass ein verbleibender Gesellschafter seiner anteiligen Ausgleichshaftung nach dem Haftungsmodell des BGH nicht nachkommt, erhöht sich der Haftungsanteil der sonstigen noch in der Gesellschaft verbleibenden Gesellschafter in entsprechender Anwendung der §§ 24 Satz 2, 31 Abs. 3 Satz 2 GmbHG (IV.2.b)). 4. Das Haftungsmodell der neueren BGH-Judikatur ist auf die Fallkonstellation des Ausschlusses aus der Gesellschaft durch Gerichtsurteil wie auch den Fall des Austritts eines Gesellschafters aus wichtigem Grund gegen Abfindung für seinen Geschäftsanteil sinnentsprechend anzuwenden (V.). 5.a) Der Ausschluss oder eine Modifikation der Haftung der verbleibenden Gesellschafter für die Abfindung ist nur innerhalb der Grenzen als zulässig anzusehen, die sich aus einer analogen Anwendung der §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG ergeben, wo entsprechende Verbote für die gesetzlich geregelten Fälle der kapitalerhaltungsbezogenen Ausfallhaftung nach §§ 24, 31 Abs. 3 GmbHG geregelt sind. Dementsprechend sind zwar statutarische Verschärfungen, nicht aber Milderungen oder gar die Beseitigung des höchstrichterlichen Haftungsregimes als zulässig anzusehen. b) In analoger Anwendung der §§ 25, 31 Abs. 4 GmbHG (vgl. VI.2.c)aa)) sind zwar schuldvertraglich in der Form von Nebenabreden zwischen den Gesellschaftern stipulierte Verschärfungen der Einstandspflicht der verbleibenden Gesellschafter nach dem Haftungsmodell des BGH als zulässig anzusehen, nicht dagegen aber Milderungen oder gar die vollständige Abbedingung dieser Haftung.

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Zuständigkeitsprobleme im Rahmen von Konzerninsolvenzen – Ein Überblick unter besonderer Berücksichtigung des StaRUG – Klaus Pannen*

Inhaltsübersicht I. Überblick II. Einleitung III. Problemfelder bei der Zuständigkeit i.R.v. Konzerninsolvenzen 1. Der Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO a) Der Gruppengerichtsstand des § 3a InsO als Wahlgerichtsstand b) Die Voraussetzungen des Antrags auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands gem. §§ 13a, 3a InsO aa) Die Unternehmensgruppe i.S.d. § 3e InsO bb) Keine untergeordnete Bedeutung des antragstellenden Unternehmens c) Das konzerninsolvenzrechtliche Prioritätsprinzip aa) (Loslösung vom) Sitz d. Muttergesellschaft/Vergleich zum COMI bb) Mehrere zeitgleiche Anträge d) Missbrauchsmöglichkeiten aa) Der Gruppen-Gerichtsstand als konzerninternes Druckmittel bb) Nationales forum shopping 2. Die Zuständigkeit bei Verfahrenskonzentration gem. § 2 Abs. 3 InsO/Probleme und Anwendungsfälle bei Konzentrationsgerichten a) Konstellation Nr. 1: Örtlich zuständiges Gericht/örtlich zuständiges Gericht

b) Konstellation Nr. 2: Konzentrationsgericht/Konzentrationsgericht c) Konstellation Nr. 3: Örtlich zuständiges Gericht/Konzentrationsgericht d) Stellungnahme 3. Die Zuständigkeit für Gruppe-Folgeverfahren gem. § 3c InsO 4. Das Koordinationsgericht gem. § 269d InsO a) Das zuständige Gericht bei (noch) keinem zuständigen Gericht für Gruppe-Folgeverfahren b) Das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem GruppenKoordinationsverfahren 5. Sonderproblem: Der Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO bei Kreditinstituten IV. Auswirkungen des StaRUG auf das Konzerninsolvenzrecht 1. Fall 1: Die Insolvenz eines gruppenangehörigen Schuldners bei vorheriger Restrukturierungssache nach StaRUG 2. Fall 2: Fortwirkung des GruppenGerichtsstands bei Übergang in Insolvenzverfahren 3. Fall 3: Grenzen der Fortwirkung des Gruppenrestrukturierungsgerichtsstands nach § 3b InsO 4. Fall 4: Fortwirkung des (Gruppen-)Gerichtsstands durch eigene vorherige Restrukturierungssache

* Der vorliegende Beitrag stellt die persönliche Meinung des Autors zu der Thematik dar und repräsentiert nicht die Auffassung des Insolvenzrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins e.V. (DAV), dessen Vorsitzender der Autor ist.

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Klaus Pannen 5. Fall 5: Drei örtlich zuständige Gerichte für ein Insolvenzverfahren 6. Fall 6: Analoge Anwendung des § 3 Abs. 2 InsO n.F. bei Nicht-Fortwirkung des Gruppen-Gerichtsstands gem. § 3b InsO? 7. Die Regelung des § 3a Abs. 4 InsO n.F. a) Hauptanwendungsfall der Neuregelung

b) Abgrenzung des § 3a Abs. 4 InsO n.F. zu § 37 Abs. 3 StaRUG c) Anderweitige Auslegungsansätze des § 3a Abs. 4 InsO n.F. 8. Anwendungskonflikt zwischen StaRUG und InsO – Welche Regelung hat Vorrang? V. Fazit VI. Ausblick

Das Praxiswissen des Jubilars im Bereich des Konzernrechts, das er durch seine langjährige Tätigkeit im Thyssen Krupp-Konzern und seine anschließende anwaltliche Praxis erlangt hat, sucht ohne jeden Zweifel seinesgleichen. Es dürfte überhaupt nur wenige Juristen geben, die im Laufe ihrer Karriere eine solche Expertise für ihr Fachgebiet entwickeln. Die vorliegende Festschrift bietet insoweit einen willkommenen Anlass, sich mit den Problemfeldern innerhalb der Zuständigkeiten bei Konzerninsolvenzen zu beschäftigen. Ad multos annos!

I. Überblick Zuständigkeitsprobleme beschäftigen Wissenschaft und Praxis bei Konzerninsolvenzen stets aufs Neue. Da das Konzerninsolvenzrecht kein materielles Verfahrensrecht enthält, liegt es in der Natur der Sache, dass schwerpunktmäßig formelle Probleme im Zentrum der konzerninsolvenzrechtlichen Fragestellungen stehen. Zuständigkeitsfragen und -probleme tauchen zudem häufig zu Beginn von Insolvenzverfahren auf, in denen die Verfahrensabwicklung besonders sensibel und zuweilen noch instabil ist. Die noch relativ jungen konzerninsolvenzrechtlichen Bestimmungen sind zudem noch stark auslegungsbedürftig und enthalten diverse Regelungslücken, was zusätzliche Schwierigkeiten birgt. Der nachfolgende Beitrag soll als Leitfaden die wichtigsten konzerninsolvenzrechtlichen Probleme beleuchten und Lösungswege aufzeigen.

II. Einleitung Das nun seit mittlerweile rund zwei Jahren bestehende deutsche Konzerninsolvenzrecht sollte durch seine neuen Regelungen dazu beitragen, die Einzelverfahren bei komplexen Konzerninsolvenzen besser aufeinander abstimmen zu können.1 Durch 1 BT-Drs. 18/407, S. 26.

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die Möglichkeit eines gemeinsamen Gerichtsstandes und eines gemeinsamen Verwalters ist eine Entwicklung hin zum Grundsatz „Ein zuständiges Gericht, ein zuständiger Richter, ein Insolvenzverwalter“ zu beobachten.2 Die neuen Regelungen haben jedoch insbesondere im Bereich der Zuständigkeiten neue Fragen aufgeworfen. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags soll hier ein Überblick über die bisher wichtigsten Probleme gegeben werden. Bei der Betrachtung wird zunächst ein Augenmerk auf eine der Schlüsselnormen des deutschen Konzerninsolvenzrechts gelegt: der Regelung für den Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO. Im Rahmen der Darstellung des § 3a InsO werden zunächst die Voraussetzungen für die Begründung des Gruppen-Gerichtsstands aufgezeigt und sodann die potenziellen Missbrauchsmöglichkeiten, die von dieser Regelung ausgehen, untersucht. Ein weiteres umfassendes Problemfeld stellt sich im Rahmen der Verfahrenskonzentration nach § 2 Abs. 2, 3 InsO. Durch die Möglichkeit, konzentrierte Insolvenzgerichte zu schaffen, ergeben sich Fragen zu den Zuständigkeiten für die unterschiedlichen Anträge bei der Eröffnung des Insolvenzverfahrens sowie der Begründung des Gruppen-Gerichtsstands. Auch stellt sich die Frage, inwieweit konzentrierte Insolvenzgerichte sich auf ein mögliches nationales forum shopping auswirken. Ist ein Gruppen-Gerichtsstand bei einem örtlich zuständigen oder Konzentrationsgericht begründet, ist eine weitere Problematik die Zuständigkeit für Gruppe-Folgeverfahren gem. § 3c InsO, denn diese Norm greift in die Geschäftspläne der Gerichte ein. Im Anschluss wird ein Blick auf die Umstände geworfen, die sich durch die Einführung des Koordinationsverfahrens und dem damit verbundenen Koordinationsgericht gem. §§ 269a ff. InsO ergeben. Zum einen stellt sich die Frage nach dem zuständigen Koordinationsgericht, wenn sich noch kein Gericht für Gruppe-Folgeverfahren für zuständig erklärt hat. Zum anderen stellt sich die Frage nach der Zuständigkeit bei einem parallel laufenden europäischen Koordinationsverfahren i.S.d. der Art. 61–77 EuInsVO. Am Ende der Ausführungen stehen ein Fazit sowie eine abschließende Gesamtbetrachtung der Problemfelder bei Zuständigkeiten im Zusammenhang mit Konzerninsolvenzen. Zusätzlich wird ein perspektivischer Ausblick auf die möglichen Auswirkungen des neuen Gesetzes zur Unternehmensstabilisierung und -restrukturierung (StaRUG) auf das Konzerninsolvenzrecht gegeben.

III. Problemfelder bei der Zuständigkeit i.R.v. Konzerninsolvenzen Das Konzerninsolvenzrecht stellt neue Werkzeuge zur Bewältigung der komplexen Gruppen-Insolvenzverfahren bereit.3 Insbesondere schwierige Konstellation bei Kon2 HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3a InsO Rz. 3. 3 BT-Drs. 18/407, S. 1 f.

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zernen mit mehreren Unternehmensstandorten in ganz Deutschland können nun durch die Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands oder die Einleitung eines Koordinationsverfahrens effizienter durchgeführt werden. Während die neuen Regelungen für Zuständigkeiten einerseits Unklarheiten ausräumen und einen einfacheren Ablauf ermöglichen sollen, eröffnen sie andererseits auch neue Problemfelder. Im Folgenden soll dabei ein Augenmerk auf die nachstehenden Bereiche gelegt werden: – Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO mit seinen Voraussetzungen und Missbrauchsgefahren (1.), – Verfahrenskonzentration gem. § 2 Abs. 3 InsO (2.), – Zuständigkeit bei Gruppen-Folgeverfahren gem. § 3c InsO (3.), – Koordinationsverfahren gem. §§ 269a ff. InsO (4.) und – Sonderproblem der Anwendbarkeit des § 3a InsO auf Kreditinstitute (5.). 1. Der Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO § 3a InsO ist eine Schlüsselnorm des deutschen Konzerninsolvenzrechts.4 Die überragende Bedeutung des § 3a InsO für das Konzerninsolvenzrecht spiegelt sich auch darin wider, dass nahezu jede sich ergebende Zuständigkeitsproblematik mit ihm verknüpft ist oder von ihm ausgeht. Die Regelung ermöglicht die Konzentration sämtlicher Insolvenzverfahren eines Konzerns an einem Gerichtsstand, indem sie neben den für jedes konzernangehörige Unternehmen bereits bestehenden ordentlichen Gerichtsstand einen weiteren, gemeinsamen Gerichtsstand schafft.5 Diese – auf den ersten Blick unproblematisch scheinende – Simplifizierung der Zuständigkeit, birgt jedoch sowohl in der Auslegung als auch in der Anwendung diverse Schwierigkeiten. a) Der Gruppengerichtsstand des § 3a InsO als Wahlgerichtsstand Die erste Besonderheit des § 3a InsO ist die der Art des Gerichtsstandes, die er begründet. Grundsätzlich ist der Insolvenzgerichtsstand des § 3 InsO ausschließlich.6 Der Gruppen-Gerichtsstand des § 3a InsO hingegen stellt einen Wahlgerichtsstand dar.7 Wird er begründet, tritt er neben den (dann nicht mehr) ausschließlichen Gerichtsstand des § 3 Abs. 1 InsO n.F.8

4 HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3a InsO Rz. 3. 5 Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 3a InsO Rz. 7; MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 3; Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 9. 6 Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 3 InsO Rz. 2; Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3 InsO Rz. 3; vgl. auch BT-Drs. 12/2443, S. 109 f. 7 Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 9. 8 Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 9.

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Im Grundsatz9 ändert sich für das antragstellende10 Unternehmen dadurch insoweit zunächst nichts, denn der Gruppen-Gerichtsstand wird an dem für das Unternehmen ohnehin örtlich zuständigen Gericht begründet.11 Die Wirkung betrifft vielmehr die weiteren gruppenangehörigen Unternehmen, für die dann der Gruppen-Gerichtsstand an einem (in der Regel) eigentlich nicht örtlich zuständigen Gericht als (zusätzlicher) Wahlgerichtsstand besteht. Von der Grundkonstellation ist der Fall zu differenzieren, in dem durch Landesverordnung ein Konzentrationsgericht bestimmt wurde.12 Dort fallen auch für das antragstellende Unternehmen der originäre Gerichtsstand und der Gruppen-Gerichtsstand auseinander. Eine Verpflichtung zur Begründung des Gruppen-Gerichtsstands besteht gemeinhin nicht.13 Wird im Rahmen einer Konzerninsolvenz jedoch kein Gruppen-Gerichtsstand begründet, besteht zwischen den Einzelverfahren trotzdem eine Verbindung. Die Kooperationspflichten der beteiligten Gerichte aus § 269b InsO bestehen in diesem Fall gleichwohl und verpflichten zur gemeinschaftlichen und kollegialen Zusammenarbeit.14 Die Regelung des § 269b InsO wird aufgrund der Tatsache, dass sich die Verbindung lediglich lose über die Kooperationspflichten begründet auch als „kleine Variante des Gruppen-Gerichtsstands“ bezeichnet.15 b) Die Voraussetzungen des Antrags auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands gem. §§ 13a, 3a InsO Soll ein Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO begründet werden, muss das antragstellende Unternehmen diverse Voraussetzungen erfüllen. In § 3a Abs. 1 Satz 1 und 2 InsO sind dabei – neben dem erforderlichen Eröffnungsantrag gem. § 13 Abs. 1 InsO – die Anforderungen an das Unternehmen geregelt. Das Unternehmen muss: – einer Unternehmensgruppe im Sinne des § 3e InsO angehören16 – und darf für diese nicht von untergeordneter Bedeutung sein.17 Der Inhalt des Antrags zur Begründung des Gruppengerichtsstands wird durch § 13a InsO bestimmt.

9 Der Grundfall geht von dem Nichtbestehen eines durch Landesverordnung bestimmten Konzentrationsgerichts aus, vgl. dazu Schaaf/Filbinger, BB 2019, 1801. 10 Antragstellend meint insoweit den Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands, nicht den Eröffnungsantrag. 11 HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3a InsO Rz. 3. 12 Dazu unter Punkt „III., 2.“ 13 Nerlich/Römermann/Römermann/Montag, § 3a InsO Rz. 5. 14 Braun/Fendel, 8. Aufl. 2020, § 269b InsO Rz. 1. 15 Webel, NZI-Beilage 2018, 24; so auch Braun/Fendel, 8. Aufl. 2020, § 269b InsO Rz. 1. 16 Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 3a InsO Rz. 10 f.; MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 9 f. 17 Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 3a InsO Rz. 10 f.; MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 12 f.

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Für die Begründung des Gruppen-Gerichtsstands ist zwingend ein zulässiger Eröffnungsantrag gem. § 13 Abs. 1 InsO bei dem gem. § 3 InsO örtlich zuständigen Gericht zu stellen.18 Während der Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands ausschließlich von einem Schuldner gestellt werden kann, ist in Bezug auf den notwendigen Eröffnungsantrag auch ein Gläubigerantrag möglich.19 Der Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands kann im Anschluss an diesen oder zeitgleich gestellt werden.20 Die Anträge sind somit grundsätzlich eigenständig, sind aber insoweit miteinander verbunden, als dass der Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands den Eröffnungsantrag voraussetzt.21 aa) Die Unternehmensgruppe i.S.d. § 3e InsO Die offensichtliche Grundvoraussetzung, die an das antragsstellende Unternehmen gestellt wird, ist die Zugehörigkeit zu einem Konzern. Eine Neuerung im Rahmen des Konzerninsolvenzrechts liegt hier im Begriff der Unternehmensgruppe. Während es im deutschen Recht nach wie vor keinen einheitlichen Konzernbegriff 22 gibt, wurde mit der Einführung des Konzerninsolvenzrechts jedenfalls für das Konzerninsolvenzrecht der Begriff der Unternehmensgruppe in § 3e InsO legaldefiniert. Der antragsstellende Schuldner muss somit einer Unternehmensgruppe i.S.d. § 3e InsO angehören.23 Eine Unternehmensgruppe i.S.d. § 3e InsO liegt vor, wenn mindestens zwei rechtlich selbstständige Unternehmen bestehen, die: – jeweils den Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen, kurz COMI (centre of main interests, vgl. Art. 3 EuInsVO)24, in Deutschland haben müssen und – entweder durch die Möglichkeit der Ausübung eines beherrschenden Einflusses25 oder – eine Zusammenfassung unter einer einheitlichen Leitung26 unmittelbar oder mittelbar miteinander verbunden sind. Bei der Definition der konzerninsolvenzrechtlichen Unternehmensgruppe handelt es sich mithin um eine weitgefasste Kombination der Konzernbegriffe aus dem AktG 18 19 20 21 22

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Vallender, NZI 2020, 761, 767 f. BT-Drs. 18/407, S. 26; dazu auch Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 11. Vallender, NZI 2020, 761, 767 f. Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 3a InsO Rz. 9; MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 8. Vgl. z.B. § 18 AktG, dort Kriterium der „einheitlichen Leitung“ und § 290 HGB, dort Kriterium des „beherrschenden Einflusses“. Dazu MünchKomm/Busse von Colbe/Fehrenbacher, 4. Aufl. 2020, § 290 HGB Rz. 6 ff.; HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3e InsO Rz. 1 ff. Dazu ausführlich HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3e InsO. Vallender/Vallender/Zipperer, 2017, Art. 3 EuInsVO Rz. 10 ff. MünchKomm/Busse von Colbe/Fehrenbacher, 4. Aufl. 2020, § 290 HGB Rz. 6 ff. MünchKomm/Bayer, 5. Aufl. 2019, § 18 AktG Rz. 1 f., 51.

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und HGB.27 Es sind daher sowohl horizontale28 als auch vertikale29 Konzerne erfasst.30 bb) Keine untergeordnete Bedeutung des antragstellenden Unternehmens Sofern das antragstellende Unternehmen einer solchen Unternehmensgruppe i.S.d. § 3e InsO angehört, darf es für diese Unternehmensgruppe nicht offensichtlich von untergeordneter Bedeutung sein. § 3a Abs. 1 Satz 2 InsO gibt zur Bewertung der Bedeutung des Unternehmens Schwellenwerte im Hinblick auf die Beschäftigtenanzahl, Bilanzsumme und der Umsatzerlöse im Verhältnis zur gesamten Unternehmensgruppe vor.31 Überschreitet das antragsstellende Unternehmen diese Werte, liegt in der Regel keine untergeordnete Bedeutung vor. Allerdings hat ein Unterschreiten nicht umgekehrt zwangsläufig zur Folge, dass eine untergeordnete Bedeutung anzunehmen ist.32 Ein entsprechender Umkehrschluss (argumentum e contrario) verbietet sich. So kann es z.B. im Falle einer Holding (Konzernmutter) zutreffen, dass keiner der Parameter der dreifachen 15 %-Regel des § 3a Abs. 1 Satz 2 InsO erreicht wird, die Holding durch ihre funktionale Stellung aber trotzdem nicht von untergeordneter Bedeutung ist.33 Maßgeblich kann zudem sein, inwieweit die organschaftlichen Vertreter der Schuldnerin als Holding befugt sind, den untergeordneten Konzerngesellschaften Weisungen zu erteilen.34 Eine bestehende Weisungsbefugnis unterstreicht tendenziell die operative Relevanz der Holding und schafft damit ein weiteres Indiz für die Bedeutung des Unternehmens innerhalb des Konzerns.35 Insgesamt ist zu resümieren, dass die Zusammensetzung der Schwellenwerte in § 3a Abs. 1 Satz 2 InsO keine abschließende Definition bildet, sondern vielmehr einen Indizienkatalog verkörpert, der im Rahmen der Prüfung der Bedeutung der Schuldnerin herangezogen werden kann. c) Das konzerninsolvenzrechtliche Prioritätsprinzip Soweit ein Unternehmen die Voraussetzungen der §§ 13a, 3a InsO erfüllt, ist es berechtigt, den Antrag auf Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands zu stellen. Die dabei – vermeintlich – naheliegende Lösung, den Konzerngerichtsstand nur am Gerichtsstand des Mutterunternehmens zuzulassen, war indessen nicht Ziel der Reform 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Laroche, ZInsO 2017, 2585; vgl. auch Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3e InsO Rz. 4. MünchKomm/Bayer, 5. Aufl. 2019, § 18 AktG Rz. 3. MünchKomm/Bayer, 5. Aufl. 2019, § 18 AktG Rz. 2. Andres/Leithaus/Andres, 4. Aufl. 2018, §§ 3a-e Rz. 11; Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3e InsO Rz. 4. MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 12 ff.; Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 3a InsO Rz. 14 f.; HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3a InsO Rz. 14 ff. MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 13; HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3a InsO Rz. 18. Vgl. AG Hamburg v. 9.6.2020 – 67g IN 136/20 – Tom Tailor SE. Vgl. dazu HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3a InsO Rz. 18. So auch AG Hamburg v. 9.6.2020 – 67g IN 136/20 – Tom Tailor SE.

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des Konzerninsolvenzrechts.36 Es besteht keine Korrelation zwischen dem Sitz der Konzernleitung und dem Gruppen-Gerichtsstand.37 Die Begründung des GruppenGerichtsstandes unterliegt vielmehr dem Prioritätsprinzip.38 Dieses besagt im Kern, dass der Gruppen-Gerichtsstand, insoweit mehrere konzernangehörige Unternehmen einen Antrag auf Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands stellen, durch den zeitlich erstgestellten Antrag begründet wird.39 Demnach wird, insofern kein Konzentrationsgericht zuständig ist40, der Gruppen-Gerichtsstand an dem für das antragstellende Unternehmen örtlich zuständigen Gericht begründet. aa) (Loslösung vom) Sitz d. Muttergesellschaft/Vergleich zum COMI Der Gesetzgeber hat sich bewusst für die Verwendung des Prioritätsprinzips entschieden und damit darauf Verzichtet, das im Rahmen der EuInsVO etablierte Prinzip des COMI (centre of main interests) auch national zu etablieren.41 Der Gesetzgeber begründet seine Entscheidung für das Prioritätsprinzip damit, dass sich bei einer Anknüpfung an das Mutterunternehmen im Insolvenzfall die wirtschaftlichen Aktivitäten des Gesamtkonzerns zwar am besten koordinieren lassen.42 Eine statische und ausnahmslose Anknüpfung an den Gerichtsstand des Mutterunternehmens aber in den Fällen unangemessen scheint, in denen das Mutterunternehmen nicht selbst in der Insolvenz ist oder den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Ausland hat. Der Begründung des Gesetzgebers ist insoweit zuzustimmen, als dass eine Begründung des Gruppen-Gerichtsstands am Sitz der Konzernmutter nach wie vor möglich ist. Legt man zugrunde, dass konzerninterne Absprachen bezüglich des Gruppen-Gerichtsstands getätigt werden, ist davon auszugehen, dass dabei die beste Lösung für den Konzern gefunden wird. Durch das Prioritätsprinzip stehen dem Konzern dabei mehrere Möglichkeiten zur Verfügung und die Verfahrenskonzentration kann dort stattfinden, wo tatsächlich der Schwerpunkt der Verfahren liegt. Es ist somit eine Loslösung vom Sitz der Muttergesellschaft möglich, wenngleich dies nicht häufig die beste Lösung sein wird. bb) Mehrere zeitgleiche Anträge Durch die Loslösung vom Sitz der Muttergesellschaft hin zum Prioritätsprinzip ist es grundsätzlich möglich, dass zwei oder mehrere antragsberechtigte gruppenangehörige Schuldner zeitgleich einen Antrag auf Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands 36 BT-Drs. 18/407, S. 19. 37 Anders im europäischen Koordinationsverfahren, dazu sogleich unter Punkt „III., 4., c)“. 38 BT-Drs. 18/407, S. 19. 39 Andres/Leithaus/Andres, 4. Aufl. 2018, §§ 3a-e InsO Rz. 20; Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 14. 40 Dazu sogleich unter Punkt „III., 2.“ 41 BT-Drs. 18/407, S. 19. 42 Vgl. BT-Drs. 18/407, S. 19; zur Missbrauchsanfälligkeit sogleich unter Punkt „III., 1., d)“.

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stellen.43 Für diese Konstellation hat der Gesetzgeber den § 3a Abs. 1 Satz 3 InsO eingefügt. Demnach entscheidet bei gleichzeitigem Eingang der Anträge die Anzahl der Beschäftigten im vorigen Geschäftsjahr. Infolgedessen sind die Anträge der weiteren gruppenangehörigen Schuldner unzulässig. Dass es häufig zu einer zeitgleichen Antragsstellung mehrerer gruppenangehöriger Schuldner kommen wird, ist indessen gemeinhin unwahrscheinlich und dürfte die Ausnahme bleiben.44 Der genaue Anknüpfungspunkt für die Zeitgleichheit ist umstritten. So wird teils eine weite Auslegung des Prioritätsprinzips vertreten45, die auf den Eingang am selben Tag abstellt und teils eine etwas engere Ansicht, die auf den Eingang innerhalb derselben Stunde abstellt46. Beide Ansichten laufen aber dem Grundgedanken eines Prioritätsprinzips zuwider. Konsequenter Weise muss daher auf die genaue Uhrzeit des Eingangs abgestellt werden.47 Lässt sich diese, wie es in den meisten Fällen wohl sein wird, nicht mehr eindeutig aufklären, findet der § 3a Abs. 1 Satz 3 InsO entsprechend Anwendung. Der Anwendungsfall des § 3a Abs. 1 Satz 3 InsO liegt dann darin, durch seine Abstellung auf die Arbeitnehmerzahl sowohl Klarheit als auch einen weiteren Anknüpfungspunkt zu schaffen.48 d) Missbrauchsmöglichkeiten Insoweit die Begründung eines Gruppen-Gerichtsstandes zunächst eine Vereinfachung der Verfahrenszuständigkeit mit sich bringt, ergeben sich durch das Prioritätsprinzip auch die Gefahren eines Missbrauchs. Infrage kommen dafür sowohl „Wettläufe“ innerhalb eines Konzerns, die Spannungssituationen entstehen lassen sowie auch die konzernexterne Möglichkeit des nationalen forum shoppings. Obwohl der Gesetzgeber insbesondere das nationale forum shopping nicht als Gefahr eingestuft hat49, zeigen gerade jüngere Ereignisse50, dass auch das nationale forum shopping noch immer eine Problematik darstellt. aa) Der Gruppen-Gerichtsstand als konzerninternes Druckmittel Die neu geschaffenen Regelungen zur Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands folgen dem Prioritätsprinzip. Infolgedessen kann es zu einem Wettlauf der Geschäftsleitungen der gruppenangehörigen Unternehmen in der Krise kommen.51 Dadurch kann durchaus ein gewisses Druckpotenzial gegen die operative Leitung der Unternehmensgruppe entstehen, da sich die Interessen eines gruppenangehörigen Unter43 Wenngleich dies selten der Fall sein wird, da die Insolvenzen i.d.R. durch den Schuldner selbst oder dessen Berater abgestimmt sind. 44 So auch MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 17. 45 HK/Sternal, § 3a InsO Rz. 10. 46 K/P/B/Prütting, § 3a InsO Rz. 10. 47 So auch MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 17. 48 Vgl. dazu MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 17. 49 BT-Drs. 18/407, S. 19. 50 Vgl. INDat Report 09/2020, S. 68 ff. 51 Birnbreier, NZI Beilage 1/2018 11, 12 f.; Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 3a InsO Rz. 19.

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nehmens auch in der Wahl des Gerichtsstandes für ein Insolvenzverfahren niederschlagen können.52 Dem wird nur zu einem gewissen Maß durch § 3a Abs. 2 InsO vorgebeugt, der dem Gericht ermöglicht, einen Antrag auf Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands nach § 3a InsO abzulehnen, wenn die Konzentration der Insolvenzverfahren nicht im gemeinsamen Interesse der Gläubiger liegt.53 bb) Nationales forum shopping Die größere Missbrauchsgefahr geht allerdings vom nationalen forum shopping aus. Wenngleich der Gesetzgeber das Risiko nationalen forum shoppings als vernachlässigungswürdig einstuft54, ist dieses praktisch relevant. Dass der Gesetzgeber die Möglichkeit des forum shoppings offengelassen hat, mag auf den ersten Blick erstaunen und wurde auch zu Recht kritisiert.55 Durch die Regelungen des § 2 Abs. 2, 3 InsO können die Bundesländer durch Bestimmung von Konzentrationsgerichten dem jedoch entgegenwirken. Würde jedes Bundesland von seiner insoweit bestehenden Kompetenz Gebrauch machen, könnte der Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO nur noch bei den durch Landesverordnung bestimmten Konzentrationsgerichten bestimmt werden. Die Möglichkeit des forum shoppings mittels Konzerngerichtsstands wäre dann auf die Konzentrationsgerichtsstände reduziert. Während die Konzentration der Insolvenzgerichte im Rahmen des ESUG von den Ländern abgelehnt wurde56, haben manche Bundesländer in Bezug auf den GruppenGerichtsstand von ihrer Kompetenz Gebrauch gemacht.57 Da es sich dabei jedoch nicht um eine zwingende Regelung handelt, bleibt die Gefahr des nationalen forum shoppings virulent. Zusätzlich kann sich nun die Situation ergeben, dass durch diese uneinheitliche Regelungssituation auf Bundesebene Konzerne vor den Konzentrationsgerichten „fliehen“. Die nicht zwingende Regelung der Schaffung von Konzentrationsgerichten könnte sich somit künftig zum Katalysator des nationalen forum shoppings fortentwickeln. Gerade vor dem Hintergrund jüngerer Erfahrungen58 ist zu sehen, dass das nationale forum shopping ein noch immer präsentes Problem darstellt. 52 So bereits Frind/Pannen, ZIP 2016, 398, 407 ff., zugleich kritisch zu den Gefahren des forum shoppings sowie der Lösung durch Sperrfristen entsprechend Art. 3 Abs. 1 EuInsVO. 53 Vgl. zur Antragsablehnung in diesem Fall auch MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 15; Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3a InsO Rz. 16–17. 54 BT-Drs. 18/407, S. 19. 55 Frind/Pannen, ZIP 2016, 398. 56 Ausführliche Kritik dazu Frind/Pannen, ZIP 2016, 398. 57 § 9b Abs. 1 ZuVOJu BaWü; § 1 Abs. 2 InsGerBestVO Bremen; § 52 Abs. 4 GZVJu Bayern; § 1 NRWKonzVOGGI; § 6 Abs. 2 JuZuV Hessen. 58 Vgl. INDat Report 09/2020, S. 68 ff.: Bei dem Insolvenzgericht Bremen – welches durch Landesverordnung auch für Verfahren nach § 3a InsO zuständig ist (§ 1 Abs. 2 InsGerBestVO Bremen) – erfolgt die Zuteilung an den zuständigen Richter innerhalb des Geschäftsplans anhand des Eingangsbuchstabens. Es wird berichtet, dass ein Insolvenzdienstleister im Vorfeld von Insolvenzverfahren den Sitz von Unternehmen nach Bremen verlegt habe

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2. Die Zuständigkeit bei Verfahrenskonzentration gem. § 2 Abs. 3 InsO/Probleme und Anwendungsfälle bei Konzentrationsgerichten Die Verfahrenskonzentration gem. § 2 Abs. 3 InsO ist geeignet, besondere Auswirkungen für die gerichtliche Zuständigkeit zu entfalten. Durch die Verfahrenskonzentration gem. § 2 Abs. 3 InsO ist es den Landesgesetzgebern ermöglicht worden, für jeden OLG-Bezirk ein zentrales Konzentrationsgericht für Verfahren mit Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO zu bestimmen. Macht ein Bundesland davon Gebrauch, hat dies zur Folge, dass ein Gruppen-Gerichtsstand nur noch an diesem Konzentrationsgericht begründet werden kann Die Konzentration der gerichtlichen Zuständigkeit soll dazu beitragen, dass Richter und Rechtspfleger durch die wiederholte Bearbeitung ähnlich gelagerter Fälle – insbesondere bei Konzern- bzw. Unternehmensinsolvenzen – besondere Erfahrung und Sachkunde erwerben.59 Hat ein Bundesland von seiner durch § 2 Abs. 2, 3 InsO erlangten Kompetenz zur Bestimmung eines Konzentrationsgerichts Gebrauch gemacht, stellt sich im Rahmen dessen ein zweiteiliges Problem. Zwar wird der Gruppen-Gerichtsstand nach § 3a InsO nur (noch) bei dem zentralen, nach der Landesverordnung designierten Gericht begründet. Die jeweilige Zuständigkeit für den Antrag des Eröffnungsverfahrens und für den Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands ist jedoch unklar. Es sind dabei drei „Zuständigkeitsvarianten“ denkbar:60 1. Beide Anträge sind bei dem nach § 3 Abs. 1 InsO örtlich zuständigen Gericht zu stellen, welches im Anschluss den Gruppen-Gerichtsstand dann beim zentralen Konzentrationsgericht begründet. 2. Im Rahmen einer „echten Konzentration“61 sind beide Anträge bei dem zentralen Konzentrationsgericht zu stellen. 3. Der Eröffnungsantrag ist bei dem örtlich zuständigen Gericht zu stellen und der Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands bei dem Konzentrationsgericht. Es ist dadurch eine Aufteilung (Separierung) der Zuständigkeiten gegeben. Bereits erlassene Landesverordnungen zur Festlegung eines Konzentrationsgerichts62 enthalten für die Zuständigkeit der Anträge keine Regelungen. a) Konstellation Nr. 1: Örtlich zuständiges Gericht/örtlich zuständiges Gericht Problematisch bei der ersten Konstellation63 ist, dass das nach § 3 Abs. 1 InsO zuständige Gericht über die Begründung eines Gruppen-Gerichtsstand nach den bei

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und zum anderen, dass bei diversen Unternehmen die Namen entsprechend geändert worden seien. BT-Drs. 18/407, S. 25 f. Dazu ausführlich Blankenburg, ZInsO 2019, 169; siehe auch Schaaf/Filbinger, BB 2019, 1801. So auch Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 2 InsO Rz. 16. Vgl. § 9b Abs. 1 ZuVOJu BaWü. Vgl. Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 2 InsO Rz. 11.

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sich vorliegenden Umständen entscheidet, der Gruppen-Gerichtsstand dann allerdings bei dem zentralen Konzentrationsgericht begründet wird.64 Der Sinn und Zweck der Konzentrationsgerichte liegt aber gerade darin, der Komplexität der Konzerninsolvenzen durch besondere Kompetenz gerecht zu werden. Würde nun ein anderes Gericht über die Begründung des Gruppen-Gerichtsstands entscheiden, unterliefe man diesen Gedanken. b) Konstellation Nr. 2: Konzentrationsgericht/Konzentrationsgericht Die Konstellation um die „echte Konzentration“ wird sowohl der gesetzgeberischen Intention der Verfahrensbündelung als auch der engen Verknüpfung der beiden Anträge gerecht. Vor allem im Hinblick auf die Prozessökonomie scheint es sinnvoll, beide Anträge direkt beim Konzentrationsgericht stellen zu können.65 Im Rahmen der echten Konzentration kann es allerdings zu der Situation kommen, dass das angerufene zentrale Konzentrationsgericht den Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands ablehnt. Die örtliche Zuständigkeit des Konzentrationsgerichts für den Eröffnungsantrag kann dann nur gegeben sein, insoweit es entweder von Anfang an gem. § 3 Abs. 1 InsO örtlich zuständig war, oder der Gruppen-Gerichtsstand durch ein anderes gruppenangehöriges Unternehmen begründet wurde. Ansonsten liegt dem Konzentrationsgericht ein Eröffnungsantrag vor, für welchen es nicht örtlich zuständig ist. Dadurch würden zeitliche Verzögerungen innerhalb des Verfahrens entstehen. c) Konstellation Nr. 3: Örtlich zuständiges Gericht/Konzentrationsgericht Die Aufteilung der Zuständigkeiten scheint naheliegend. Der Wortlaut des § 3a InsO setzt in seinen Voraussetzungen einen zulässigen Eröffnungsantrag des gruppenangehörigen Schuldners voraus. Dieser Antrag für sich betrachtet, ist bei dem nach § 3 Abs. 1 InsO örtlich zuständigen Gericht zu stellen.66 Soll der Eröffnungsantrag direkt bei dem Konzentrationsgericht gestellt werden, müsste die Zuständigkeit des Konzentrationsgerichts zunächst fingiert werden. Zusätzlich handelt es sich bei dem Gruppen-Gerichtsstand des § 3a InsO um einen Wahlgerichtsstand, der neben den ursprünglich ausschließlichen Gerichtsstand tritt. Die Stellung als Wahlgerichtsstand würde leerlaufen, wenn das eigentlich örtlich zuständige Gericht nicht wenigstens für den Eröffnungsantrag zuständig wäre. d) Stellungnahme Während sich sowohl die echte Konzentration als auch die Aufteilung der Zuständigkeiten gut vertreten lassen, kann eine Stellung beider Anträge beim örtlich zu64 Ausführlich Schaaf/Filbinger, BB 2019, 1801. 65 Schaaf/Filbinger, BB 2019, 1801. 66 Braun/Baumert, 8. Aufl. 2020, § 3 InsO Rz. 2; Uhlenbruck/Wegener, 15. Aufl. 2019, § 13 InsO Rz. 76.

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ständigen Gericht nicht im Sinne des Gesetzes sein.67 Die dogmatisch beste Lösung ist wohl in der Aufteilung der Zuständigkeiten zu sehen, wenngleich dies in der Praxis nicht ganz unproblematisch sein mag.68 Denn aufgrund der engen Verknüpfung der beiden Anträge, werden sie in der Regel zeitgleich gestellt werden.69 Ein Auseinanderfallen der Entscheidungen über die Anträge würde wieder zu zeitlichen Verzögerungen führen. Nichtsdestotrotz sieht weder die Gesetzesbegründung noch das Gesetz selbst eine Zuständigkeitsbündelung für die Anträge vor. Es ist somit davon auszugehen, dass eine Aufteilung der Zuständigkeiten gegeben sein muss. Der Eröffnungsantrag ist demnach bei dem nach § 3 Abs. 1 InsO zuständigen Gericht zu stellen und der Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands gem. § 3a InsO bei dem Konzentrationsgericht. Mangels einer eindeutigen Vorgabe des Gesetzgebers, bei welchem Gericht die Anträge zu stellen sind, wird in der Literatur nicht ohne Grund eine Nachbesserung des Gesetzgebers zur Klarstellung gefordert.70 3. Die Zuständigkeit für Gruppe-Folgeverfahren gem. § 3c InsO Die Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands, unabhängig davon ob an einem Konzentrationsgericht oder bei einem „normalen“, d.h. in diesem Zusammenhang originär zuständigen Insolvenzgericht, führt zu einer weiteren Zuständigkeitsproblematik hin. Durch § 3c InsO wird die richterliche Zuständigkeit innerhalb des zuständigen Gerichts festgelegt. Die Zuständigkeit des einzelnen Insolvenzrichters bei Beantragung eines Insolvenzverfahrens bestimmt sich durch den Geschäftsverteilungsplan des jeweiligen Amtsgerichts.71 Für den Geschäftsverteilungsplan als Akt der gerichtlichen Selbstverwaltung sui generis72 ist das Präsidium des jeweiligen Amtsgerichts zuständig, vgl. § 21e Abs. 1 Satz 1 GVG.73 § 3c Abs. 1 InsO bewirkt ipso iure eine Zuständigkeitserstreckung auf denjenigen Richter am Gericht des Gruppen-Gerichtsstands, der für das Verfahren zuständig ist, mit dem der Gruppen-Gerichtsstand begründet wurde.74 Die gesetzliche Anordnung überlagert dabei mögliche entgegenstehende Anordnungen im Geschäftsverteilungs-

67 A.A. Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 2 InsO Rz. 11; mit eingehender Kritik dazu: Schaaf/Filbinger, BB 2019, 1801. 68 Eingehend Blankenburg, ZInsO 2019, 169. 69 Vgl. zum Ablauf Vallender, NZI 2020, 761, 766 f. 70 Fridgen/Geiwitz/Göpfert/Gelbrich/Flöther, § 3a InsO Rz. 26a. 71 Zöller/Lückemann, § 21e GVG Rz. 34; MünchKomm/Zimmermann, 5. Aufl. 2017, § 21e GVG Rz. 6. 72 Zöller/Lückemann, § 21e GVG Rz. 34, ausführlich zum Bestimmtheitsgrundsatz des Geschäftsverteilungsplans Smid, ZInsO 2016, 1277, 1278. 73 Vgl. MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3c InsO Rz. 3 zur Richterzuständigkeit und Rz. 4 zur Richteridentität in Ausgangs- und Gruppen-Folgeverfahren. 74 Vgl. Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3c InsO Rz. 2–4.

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plan.75 Gleichzeitig ist § 3c Abs. 1 InsO eine rechtliche Grundlage, nach der das Präsidium künftige Geschäftsverteilungspläne ausrichten kann.76 Damit greift § 3c InsO in die generell den Präsidien der Gerichte obliegende Gestaltungsfreiheit bei der richterlichen Geschäftsverteilung ein. Deshalb hat der Bundesrat im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens eine Abmilderung dieser zwingenden Regelung in eine Sollvorschrift vorgeschlagen, weil den Gerichten durch diese Regelung jede Möglichkeit genommen werde, eine Geschäftsverteilung vorzunehmen, die sich an den besonderen Gegebenheiten und Umständen des Einzelfalls und der Situation vor Ort orientieren kann.77 Dieser Änderungsvorschlag wurde durch die Bundesregierung nicht übernommen. Denn der mit Zuständigkeitskonzentration verfolgte Zweck, Reibungsverluste durch Abstimmungsbedarf zu vermeiden, würde ohne eine festgeschriebene Zuständigkeit eines Richters für alle Folgeverfahren am GruppenGerichtsstand, nicht erreicht werden. Vielmehr müssten sich die Richter dieses Gerichts nach § 269b InsO in Bezug auf die koordinierte Verfahrensführung in gleicher Weise abstimmen, wie wenn unterschiedliche Gerichte befasst wären. Damit würden sich die Defizite, die vormals auf Abstimmungsebene zwischen den unterschiedlich zuständigen Gerichten entstanden sind, auf die Ebene der am Gruppen-Gerichtsstand zuständigen Insolvenzrichter verlagern.78 Bedenken über eine mangelnde Flexibilität und Handlungsmöglichkeiten des Präsidiums auf die Geschäftsverteilung infolge der Festschreibung der Zuständigkeit eines Richters nach § 3c Abs. 1 InsO dürften zurückzustellen sein.79 Dem Präsidium verbleibt letztlich die Möglichkeit, eine Änderung der richterlichen Geschäftsverteilung zu beschließen, aufgrund dessen sich auch die Zuständigkeit für das Verfahren, in dem der Gruppen-Gerichtsstand begründet worden ist, ändert. Die Änderung der Zuständigkeit für das Ausgangsverfahren bewirkt dann auch eine Änderung der Zuständigkeit für die Gruppen-Folgeverfahren.80 Die gesetzgeberische Intention lag nicht darin, einen Richterwechsel auszuschließen, sondern darin, dass alle Gruppen-Folgeverfahren zusammen mit dem Verfahren, durch welches der Gruppen-Gerichtsstand begründet wurde, von einem Richter beaufsichtigt und geführt werden und somit Koordinations- und Abstimmungsbedarf auf Richterebene zu vermeiden.81 Die gesetzliche Konzentrationswirkung erstreckt sich insoweit nicht nur auf den Gerichtsstand bzw. das sachlich zuständige Gericht, sondern auch auf die Person des Richters. Der Gesetzeswortlaut lässt dabei keinen Raum für eine abweichende Regelung am Insolvenzgericht. Dementsprechend ist aus sachlichen Gründen ein Richterwechsel zulässig, wenn dieser über mehr Erfahrungen mit Konzern- und Großinsolvenzverfahren verfügt oder besondere recht75 „Verdrängt“ so K/P/B-Prütting, § 3c InsO Rz. 2; Harder, NJW-Spezial 2017, 469; Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3c InsO Rz. 3. 76 BT-Drs. 18/407 S. 49; Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3c InsO Rz. 4. 77 BR-Drs. 663/1/13, S. 2; FK-Wimmer/Amend, 9. Aufl. 2018, § 3c InsO Rz. 6. 78 BT-Drs. 18/407, S. 27. 79 So auch FK-Wimmer/Amend, 9. Aufl. 2018, § 3c InsO Rz. 10. 80 BT-Drs. 18/407, S. 49. 81 BT-Drs. 18/407, S. 28; FK-Wimmer/Amend, 9. Aufl. 2018, § 3c InsO Rz. 11.

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liche Umstände vorliegen, in deren Umgang der Richter besonders qualifiziert ist.82 Die Möglichkeit eines zulässigen Richterwechsels müsste dann in den Geschäftsverteilungsplan aufgenommen werden.83 Nicht ausdrücklich geregelt ist, ob sich die Zuständigkeitserstreckung auch auf den zuständigen Rechtspfleger fortwirkt. Ausgehend von der Gesetzesbegründung, in Gruppenverfahren Reibungsverluste durch Kooperations- und Abstimmungsbedarf zu vermeiden, ist es nur konsequent, § 3c Abs. 1 InsO analog auch auf den zuständigen Rechtspfleger anzuwenden.84 Ob aufgrund der Zuständigkeitskonzentration bei mehreren Verfahren nach Möglichkeit auch von größeren Konzernen Probleme mit der zur Verfügung stehenden Infrastruktur kleinerer Gerichte auftreten und dies wiederum befürchten lässt, dass bei Gerichten bzw. konkret bei dem der einzelne Richter durch den plötzlichen und kurzfristigen Anstieg der Arbeitsmenge Überlastungen auftreten, ist derzeit nicht ersichtlich.85 Gleichwohl wäre eine gesetzgeberische Vorsorgeregelung zur Vermeidung oder Bewältigung potenzieller Überlastungssituationen wünschenswert gewesen. Dem betreffenden Gericht verbleibt in solchen außerordentlichen Situationen dann nur der Rückgriff auf die allgemeine Geschäftsverteilung und die jeweils vorgesehenen Vertretungsregelungen.86 4. Das Koordinationsgericht gem. § 269d InsO Das Konzerninsolvenzrecht beinhaltet neben den Regelungen zur Verfahrenskonzentration das Koordinationsverfahren der §§ 269d ff. InsO. Dieses Verfahren kann durch das für die Eröffnung von Gruppen-Folgeverfahren zuständige Gericht auf Antrag eingeleitet werden. Der Zweck des Koordinationsverfahrens liegt in der Abstimmung der Insolvenzverfahren zweier oder mehrerer gruppenangehöriger Schuldner mit unterschiedlichen Insolvenzverwaltern durch einen Verfahrenskoordinator.87 Um das Koordinationsverfahren bzw. das Koordinationsgericht ergeben sich vor allem zwei Zuständigkeitsfragen.

82 Zur Problematik der Spezialisierung von Insolvenzrichtern Beth, ZInsO 2017, 152 ff. 83 So wohl auch FK-Wimmer/Amend, 9. Aufl. 2018, § 3c InsO Rz. 10 f.; Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3c InsO Rz. 4. 84 So auch HK/Sternal, 10. Aufl. 2020, § 3c InsO Rz. 4; K/P/B-Prütting, § 3c InsO Rz. 3; a.A. Laroche, ZInsO 2017, 2585, 2589 „weitreichender Eingriff in die Organisationshoheit des Gerichts“. 85 Dies bejahend Flöther, NZI Beilage 1/2018, 6, 7. 86 So auch K/P/B-Prütting, § 3c InsO Rz. 4; zur Geschäftsverteilung des Gerichts im Zusammenhang mit § 3c s.a. MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3c InsO Rz. 3–5. 87 Braun/Esser, 8. Aufl. 2020, § 269d InsO Rz. 3.

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a) Das zuständige Gericht bei (noch) keinem zuständigen Gericht für Gruppe-Folgeverfahren Im Problemfeld um das Koordinationsgericht stellt sich zunächst eine Zuständigkeitsfrage, insoweit sich noch kein Gericht für die Gruppe-Folgeverfahren für zuständig erklärt hat. Denn eben dieses Gericht ist grundsätzlich auch das zuständige Koordinationsgericht.88 Eine solche Situation kann sich dann ergeben, wenn entweder noch kein Antrag zur Bestimmung des Gruppen-Gerichtsstands gestellt wurde, oder wenn über einen solchen Antrag noch nicht entschieden wurde.89 Der Antrag auf Einleitung des Koordinationsverfahrens sollte dann in Verbindung mit dem Antrag auf Begründung des Gruppen-Gerichtsstands bei demselben Gericht gestellt werden, sodass die Gerichtsstände nicht auseinanderfallen können.90 b) Das Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Gruppen-Koordinationsverfahren Das weitere Problem im Rahmen des Koordinationsverfahrens bzw. des Koordinationsgerichts steht in enger Verbindung mit dem europäischen Koordinationsverfahren. Die EuInsVO91 sieht bei Konzerninsolvenzen keinen einheitlichen (internationalen) Gruppen-Gerichtsstand, sondern nur Kooperationspflichten vor. Die Zuständigkeitsregelung des deutschen Gruppen-Gerichtsstands gem. § 3a InsO besteht nur für inländische Verfahren.92 Problematisch ist das Rangverhältnis der Koordinationsverfahren zueinander – Es gilt dabei zu klären, welches Verfahren Vorrang genießt oder ob beide Verfahren parallel zueinander laufen können. Anknüpfungspunkt ist sowohl in der EuInsVO als auch im nationalen Recht gleichermaßen die „Unternehmensgruppe“. Der Begriff der „Unternehmensgruppe divergiert jedoch in beiden Rechtsordnungen. Dabei sind die vom Begriff der Unternehmensgruppe erfassten Gesellschaften gem. der EuInsVO das Mutterunternehmen und alle seine Tochterunternehmen, vgl. Art. 2 Nr. 13 EuInsVO. Hinsichtlich der Unterordnungskonzerne besteht somit weitgehend Gleichlauf zum deutschen Recht. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass Art. 2 Nr. 13 EuInsVO keine Gleichordnungskonzerne erfasst.93 Zusätzlich gibt in Art. 2 Nr. 13 EuInsVO (anders als bei § 3e Abs. 2 InsO) keine ausdrückliche Einbeziehung der Kapitalgesellschaft & Co. KG, sodass deren Einbeziehung anhand der bilanzrechtlichen Vorschriften zu beurteilen ist.94

88 89 90 91

HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 269d InsO Rz. 2. Dazu auch Braun/Esser, 8. Aufl. 2020, § 269d InsO Rz. 11. Braun/Esser, 8. Aufl. 2020, § 269d InsO Rz. 11. EuInsVO in der Fassung entsprechend der Verordnung (EU) Nr. 2015/848 des EU-Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141 S. 19), im Folgenden stets lediglich als „EuInsVO“ bezeichnet. 92 BT-Drs. 18/407, S. 28; HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 3a InsO Rz. 2. 93 Kritisch Mankowski/Müller/J. Schmidt/Mankowski, EuInsVO 2015, Art. 2 Rz. 73. 94 Uhlenbruck/Pape, 15. Aufl. 2019, § 3e InsO Rz 10.

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Das eigenständige Gruppen-Koordinationsverfahren der EuInsVO ist in den Art. 61– 77 geregelt und gilt für ab dem 27.6.2017 eröffnete grenzüberschreitende Insolvenzverfahren innerhalb der EU. Grundsätzlich genießt das Unionsrecht Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen (deutschen) Recht. Allerdings handelt es sich bei den Regelungen zum Gruppen-Koordinationsverfahren der EuInsVO nicht um supranationale rechtliche Bestimmungen zum deutschen Koordinationsverfahren nach der InsO. Vielmehr handelt es sich um zwei verschiedene Verfahren mit unterschiedlichen Besonderheiten.95 Es stellt sich daher die Frage, ob es möglich ist, dass beide Verfahren zeitgleich anhängig sind und parallel verlaufen oder ob ein pauschaler Vorrang der europäischen Regelungen besteht.96 Der Entscheidung, ob beide Verfahren parallel verlaufen können, sollte Folgendes zu Grunde gelegt werden: Art. 102c § 22 Abs. 2 EGInsO sieht vor, dass die Einleitung eines Koordinationsverfahrens nach den §§ 269d–i InsO ausgeschlossen ist, wenn dessen Durchführung die Wirksamkeit eines Gruppen-Koordinationsverfahrens nach Art. 61–77 EuInsVO 2015 beeinträchtigen würde und kodifiziert damit einen Beeinträchtigungsvorbehalt für den Anwendungsvorrang der Art. 61–77 EuInsVO, sodass jedenfalls für den Fall der tatsächlichen Beeinträchtigung des europäischen Gruppen-Koordinationsverfahrens durch ein nationales Koordinationsverfahren unstreitig von einem Vorrang des europäischen Koordinationsverfahrens auszugehen sein dürfte.97 Zu berücksichtigen ist aber, dass ausweislich der Gesetzesbegründung der EGInsO das deutsche Koordinationsverfahren nicht bereits dann ausgeschlossen sein soll, wenn nur abstrakt die Effektivität eines europäischen Koordinationsverfahrens leiden könnte.98 Um einen tatsächlichen Anwendungsvorrang der Art. 61–77 EuInsVO 2015 gegenüber den §§ 269d–i InsO zu begründen, ist somit mindestens eine konkrete Beeinträchtigung erforderlich. Denkbar verbleibt damit durchaus auch die Konstellation, dass ein nationales Koordinationsverfahren zur Umsetzung eines internationalen Koordinationsverfahrens genutzt wird, sich also das nationale Verfahren gewissermaßen „in den Dienst“ des europäischen Koordinationsverfahrens stellt.99 Ein nationales Koordinationsverfahren, das unter der Fehlannahme eines rein nationalen Bezugs eingeleitet wird, muss daher nicht zwangsläufig beendet werden. Die ist nur dann notwendig, wenn die Fehlannahme die Beeinträchtigung des (ggf. nachträglich aufgrund des nunmehr 95 So auch Braun/Esser, 8. Aufl. 2020, § 269d InsO Rz. 8. 96 Die Möglichkeit einer Parallelität beider Verfahren befürwortet Braun/Esser, 8. Aufl. 2020, § 269d InsO Rz. 8; a.A. K/P/B-Thole, § 269d InsO Rz. 4, 8 sowie Uhlenbruck/Mock, 15. Aufl. 2019, § 269d InsO Rz. 4 f., die eine Spezialität (und damit einen ausdrücklichen Anwendungsvorrang) des europäischen Gruppen-Koordinationsverfahrens zu dem nationalen Koordinationsverfahren befürworten; zum Verhältnis des deutschen Konzerninsolvenzrechts zur EuInsVO siehe auch MünchKomm/Brünkmans, 4. Aufl. 2019, § 269b InsO Rz. 4–5. 97 Vgl. Fridgen/Geiwitz/Gopfert-Gelbrich/Flöther, § 269d InsO Rz. 3; K/P/B-Thole, § 269d InsO Rz. 4; Thole, KTS 2014, 351, 374; Laroche, ZInsO 2017, 2585, 2596. 98 BT-Drs. 18/12154 v. 26.4.2017, S. 34. 99 Diese Möglichkeit erfasst insbesondere auch ausdrücklich: BT-Drs. 18/12154 v. 26.4.2017, S. 34 und auch Braun/Esser, 8. Aufl. 2020, § 269d InsO Rz. 8.

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festgestellten europäischen Bezugs einzuleitenden) Gruppen-Koordinationsverfahrens bewirkt. Das Verfahren ist dann analog Art. 102 § 4 EGInsO einzustellen.100 5. Sonderproblem: Der Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO bei Kreditinstituten Soweit die bisher betrachteten Probleme sich im Umfeld der Voraussetzungen des § 3a InsO wiederfinden, liegt ein weiteres Problem in seinem Anwendungsbereich. Ist auf den ersten Blick zwar kein expliziter Anwendungsbereich definiert, verbietet sich jedoch eine pauschale Anwendung auf alle gruppenangehörige Schuldner. Gerade für Unternehmen unter staatlicher Aufsicht – insbesondere Kreditinstitute – gelten in der Regel spezielle Vorschriften.101 So können die Antragsrechte zwar nach § 3a Abs. 1, § 3d Abs. 2, § 269d Abs. 2 InsO durch den neu eingefügten § 46b Abs. 1a Satz 1 KWG ausschließlich von der BaFin ausgeübt werden. Die Wirkungen entfalten sich jedoch ausschließlich für die anderen gruppenangehörigen Schuldner, welche keine Kreditinstitute sind. Die Spezialitäten in der Verfahrensabwicklung von Kreditinstituten würden mit den konzerninsolvenzrechtlichen Abstimmungsregelungen kollidieren und sind deswegen nicht miteinander vereinbar. Kreditinstitute sind daher von vornherein vom sachlichen Anwendungsbereich des § 13a InsO ausgenommen und insgesamt von den konzerninsolvenzrechtlichen Bestimmungen, insbesondere im Hinblick auf GruppenKoordinationsverfahren gem. §§ 269d ff. InsO und dem Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO, nicht erfasst.102

IV. Auswirkungen des StaRUG auf das Konzerninsolvenzrecht Mit der Einführung des neuen Gesetzes zur Unternehmensstabilisierung und -restrukturierung (StaRUG)103 sind auch Änderungen des Konzerninsolvenzrechts ver100 Siehe dazu auch K/P/B-Thole, § 269d InsO Rz. 4, 8, der allerdings eine generelle Spezialität des europäischen Gruppen-Koordinationsverfahrens befürwortet. 101 Zu der Problematik vgl. auch HambKomm/Pannen, 9. Aufl. 2021 (i.Ersch.), § 13a InsO Rz. 21; Pannen, Sanierung – Abwicklung – Insolvenz von Kreditinstituten, 4. Aufl. 2020, S. 115 ff. 102 Eingehend dazu Pannen, Sanierung – Abwicklung – Insolvenz von Kreditinstituten, 4. Aufl. 2020, S. 115. 103 Das Gesetzes zur Unternehmensstabilisierung und -restrukturierung (StaRUG) ist Teil des Sanierungs- und Insolvenzrechtsfortentwicklungsgesetz (SanInsFoG), welches die deutsche Umsetzung der EU-Richtlinie (EU) 2019/1023 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) darstellt. Das StaRUG hat im Rahmen des nationalen Gesetzgebungsverfahren diverse Änderungen durchlaufen (vgl. Referentenentwurf vom 19.9.2020; Regierungsentwurf: BT-Drs. 19/24181; Beschlussempfehlung: BT-Drs. 19/ 25303; Beschlussfassung vom 22.12.2020). Nur etwa drei Monate nach dem Referenten-

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bunden. Als Schlüsselnorm ist der § 37 StaRUG104 zu bezeichnen. Die Regelung des § 37 StaRUG sieht die Möglichkeit der Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands im Rahmen von Restrukturierungsverfahren vor.105 Der Gesetzgeber hat sich dabei an § 3a InsO orientiert und den Regelungsgehalt entsprechend den Anforderungen des StaRUG angepasst.106 Der § 37 StaRUG lässt sich somit als Spiegelnorm zum § 3a InsO bezeichnen. Da die Begründung des Gruppen-Gerichtsstands gem. § 37 Abs. 1 StaRUG zunächst nur eine Auswirkung auf Restrukturierungssachen hat, kann sich das Restrukturierungsgericht auf Antrag des Schuldners gem. § 37 Abs. 3 StaRUG – als Erweiterung der Zuständigkeit – auch für Gruppen-Folgeverfahren in Insolvenzsachen für zuständig erklären.107 Das bedeutet: Es kann bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens ein Gruppen-Gerichtsstand begründet werden – und zwar dann an einem Restrukturierungsgericht. Zusätzlich ergeben sich weitere Zuständigkeitskonstellationen durch die Einführung des neuen § 3 Abs. 2 InsO108. Die Regelung des § 3 Abs. 2 InsO n.F. ermöglicht einem Unternehmen ein Insolvenzverfahren an dem (Restrukturierungs-)Gericht zu betreiben, an dem es innerhalb von 6 Monaten zuvor eine Restrukturierungssache betrieben hat. Der § 3 Abs. 2 InsO n.F. schafft somit einen zusätzlichen Wahlgerichtsstand109 – auch außerhalb von Konzerninsolvenzen. Die unterschiedlichen Problematiken, die sich in Bezug auf die konzerninsolvenzrechtlichen Zuständigkeiten beim StaRUG ergeben, sollen anhand der nachfolgenden Fallbeispiele illustriert werden: 1. Fall 1: Die Insolvenz eines gruppenangehörigen Schuldners bei vorheriger Restrukturierungssache nach StaRUG Das schuldnerische gruppenangehörige Unternehmen sitzt in Stadt B und liegt somit im OLG-Bezirk H. Die weiteren gruppenangehörigen Unternehmen liegen in anderen Bundesländern und somit auch in anderen OLG-Bezirken. Originär für den Schuldner zuständiges Insolvenzgericht wäre das Amtsgericht der Stadt B. Aufgrund einer Landesverordnung könnte der Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO nur bei dem durch die Landesverordnung designierten Konzentrationsgericht (Amtsgericht der Stadt E) begründet werden. Der Eröffnungsantrag nach § 13 InsO könnte im Üb-

104 105 106 107 108 109

entwurf vom 19.9.2020 wurde das Gesetz am 29.12.2020 im Bundesgesetzblatt (BGBl. I S. 3256) verkündet und ist am 1.1.2021 in Kraft getreten. Die genannten StaRUG-Normen beziehen sich auf BGBl. I S. 3256. SanInsFoG RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 142; vgl. eingehend zur Regelung des § 37 StaRUG Pannen/Riedemann/Smid/Pannen, § 37 StaRUG Rz. 1 ff. SanInsFoG RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 142. SanInsFoG RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 142. SanInsFoG RegE, Art. 5 Nr. 2, BT-Drs. 19/24181, S. 56. Vgl. den Wortlaut des § 3 Abs. 2 InsO n.F.: „… ist auch das Gericht örtlich zuständig, das als Restrukturierungsgericht für die Maßnahmen zuständig war.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser).

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rigen sowohl bei dem Amtsgericht E als auch bei dem Amtsgericht B gestellt werden.110 Nun beantragt der Schuldner kein Insolvenzverfahren, sondern betreibt zunächst eine Restrukturierungssache nach dem StaRUG. Zuständiges Restrukturierungsgericht für den OLG-Bezirk H ist (auf Basis der Zuständigkeitsregelungen der §§ 34 ff. StaRUG) das Amtsgericht der Stadt D (Die Stadt H verfügt über kein Insolvenzgericht). Im Rahmen der Restrukturierungssache beantragt der Schuldner die Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands gem. § 37 Abs. 1 StaRUG beim Amtsgericht D, der auch entsprechend bewilligt wird. Zusätzlich beantragt der Schuldner die Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands für Gruppen-Folgeverfahren in Insolvenzsachen gem. § 37 Abs. 3 StaRUG i.V.m. § 3a InsO. Das Amtsgericht D erklärt sich in Folge dessen zum Gruppen-Gerichtsstand für alle Gruppen-Folgeverfahren. Dieser Gruppen-Gerichtsstand besteht für den gesamten Konzern entsprechend der Vorschrift des § 3b InsO so lange fort, wie irgendein Gruppen-Verfahren (Restrukturierungs- und/oder Insolvenzverfahren) dort anhängig ist.111 Auch die Beendigung der ursprünglich betriebenen Restrukturierungssache hat darauf keine Auswirkung mehr.

Abbildung 1: Fall 1 (Quelle: eigene Darstellung)

110 Siehe dazu unter Punkt „III., 2.“ 111 MünchKomm/Bruns, 4. Aufl. 2019, § 3b InsO Rz. 2.

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2. Fall 2: Fortwirkung des Gruppen-Gerichtsstands bei Übergang in Insolvenzverfahren Eine weitere Besonderheit durch die Gerichtsstandsregelung des § 37 StaRUG ergibt sich bei einer leichten Abwandlung der ersten Konstellation. So könnte es sein, dass ein Schuldner eine Restrukturierungssache betreibt und im Rahmen dessen wieder einen Gruppen-Gerichtsstand für Restrukturierungssachen sowie Insolvenzsachen entsprechend dem § 37 Abs. 1, 3 StaRUG begründet. Entsprechend der obigen Konstellation wäre der Gruppen-Gerichtsstand durch den in der Stadt B sitzenden Schuldner am Restrukturierungsgericht in der Stadt D begründet. Das Restrukturierungsverfahren gelingt jedoch wider Erwarten nicht und der Schuldner stellt in der Folge einen Insolvenzantrag. Aufgrund der Wahlgerichtsstandregelung des § 37 Abs. 3 StaRUG i.V.m. § 3a InsO kann dieser Antrag bei dem originär zuständigen Insolvenzgericht in der Stadt B sowie dem Restrukturierungsgericht in der Stadt D gestellt werden. Dies ist im Ergebnis auch durch die Regelung des § 3 Abs. 2 InsO n.F. möglich.112 Wird der Insolvenzantrag beim Amtsgericht B als originär zuständigen Insolvenzgericht gestellt, wirkt der beim Amtsgericht D begründete Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3b InsO weder für zukünftige insolvenzrechtliche noch restrukturierungsrechtliche Verfahren weiterer gruppenangehöriger Schuldner fort.113 Es besteht dann die Möglichkeit, den insolvenzrechtlichen Gruppen-Gerichtsstand neu zu beantragen. Im vorliegenden Fall wäre dieser dann am durch Landesverordnung bestimmten Konzentrationsgericht in der Stadt E.114 Stellt der Schuldner den Insolvenzantrag jedoch am Gruppen-Gerichtsstand am Amtsgericht der Stadt D, wirkt der Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3b InsO fort. Für etwaige Gruppen-Folgeverfahren ergibt sich dann dieselbe Ausgangslage wie in der ersten Fallkonstellation.

112 Dazu sogleich in Fall 4 unter Punkt „IV., 4.“ 113 Dazu sogleich in Fall 3 unter Punkt „IV., 3.“ 114 Vgl für eine landesrechtliche Konzentrationsregelung z.B. § 1 Abs. 1 Nr. 3 a) NRWKonzVOGGI.

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Abbildung 2: Fall 2 (Quelle: eigene Darstellung)

3. Fall 3: Grenzen der Fortwirkung des Gruppenrestrukturierungsgerichtsstands nach § 3b InsO Die Fortwirkung des Gruppen-Gerichtsstands am Restrukturierungsgericht unterliegt, wie bereits dargestellt, sowohl in Bezug auf Restrukturierungs- als auch Insolvenzsachen der Regelung des § 3b InsO. Sind insoweit keine Restrukturierungs- oder Insolvenzsachen mehr anhängig, besteht der Gruppen-Gerichtsstand nicht mehr fort. Möchte dann ein (oder mehrere) gruppenangehöriges Unternehmen mit einer – wenn auch kurzen – zeitlichen Zäsur ein weiteres Insolvenzverfahren eröffnen, ist dies nicht mehr am Gerichtsstand des ursprünglichen Restrukturierungsgerichts möglich. Zuständig ist dann wieder das für das entsprechende Unternehmen originär zuständige Insolvenzgericht gem. § 3 Abs. 1 InsO. Gegebenenfalls könnte auch ein nach Landesverordnung bestimmtes Konzentrationsgericht zuständig sein, insoweit ein neuer Gruppen-Gerichtsstand begründet werden soll.115 Für die Betreibung einer weiteren Restrukturierungssache gelten die Zuständigkeitsregelungen der §§ 34, 35 StaRUG entsprechend.

115 Zu der Problematik bereits oben unter Punkt „III., 2.“

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Abbildung 3: Fall 3 (Quelle: eigene Darstellung)

4. Fall 4: Fortwirkung des (Gruppen-)Gerichtsstands durch eigene vorherige Restrukturierungssache Eine andere Sachlage ergibt sich jedoch, wenn der Schuldner vor dem Insolvenzverfahren selbst am Gruppenrestrukturierungsgericht eine Restrukturierungssache betrieben hat. Durch das vorherige Restrukturierungsverfahren wird der Anwendungsbereich des § 3 Abs. 2 InsO n.F. eröffnet, sodass der Gerichtsstand der vorigen Restrukturierungssache für sechs Monate fortwirkt. Ein weiteres, anhängiges Gruppen-Folgeverfahren am Gruppen-Gerichtsstand, welches eine Fortwirkung gem. § 3b InsO bewirken würde, ist für diese Fortwirkung (zunächst) weder Voraussetzung noch ausreichend. Die Fortwirkung gem. § 3 Abs. 2 InsO n.F. gilt nur für das einzelne Unternehmen und nicht für den gesamten Konzern. Bei § 3 Abs. 2 InsO n.F. handelt es sich im Übrigen um keine speziell konzerninsolvenzrechtliche Norm. Vielmehr handelt es sich um eine „einfache“ Zuständigkeitsvorschrift für Insolvenzsachen, welche lediglich in ihrer Tatbestandsmäßigkeit an eine vorherige Restrukturierung anknüpft und bei Konzerninsolvenzen besondere Wirkung entfalten kann. Ein ursprünglicher Gruppen-Gerichtsstand in der vorangegangenen Restrukturierung wirkt demgegenüber – in Abgrenzung zu § 3 Abs. 2 InsO n.F. – aufgrund der zeitlichen Zäsur nicht fort116, sondern entfaltet nur während der Dauer der Restrukturierung Wirkung (s.o.).

116 Vgl. Fall 3, siehe oben unter Punkt „IV., 3.“

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Das einzelne Unternehmen (in der Abbildung 4: „Schuldner 2“) kann aber den Gruppen-Gerichtsstand für den Konzern gem. § 3a InsO durchaus wieder „neu“ am ursprünglichen (Gruppen-)Gerichtsstand der vormaligen Restrukturierungssache beantragen, sodass es effektiv zu einer Kongruenz von ehemaligem und neuem Gruppen-Gerichtsstand kommt.

Abbildung 4: Fall 4 (Quelle: eigene Darstellung)

5. Fall 5: Drei örtlich zuständige Gerichte für ein Insolvenzverfahren Obwohl es sich bei dem § 3 Abs. 2 InsO n.F. um keine konzerninsolvenzrechtliche Norm handelt, ergibt sich durch die Regelung des § 3 Abs. 2 InsO n.F. im Rahmen von Verfahren mehrerer gruppenangehöriger Schuldner eine weitere Konstellation. Ausgangslage ist dabei, dass ein Schuldner (in Abbildung 5: Schuldner 1) eine Restrukturierungssache im Sinne des StaRUG betreibt und im Zuge dessen einen Gruppen-Gerichtsstand für Gruppen-Folgeverfahren in Restrukturierungssachen und Insolvenzsachen gem. § 37 Abs. 1, 3 StaRUG begründet. Ein weiterer gruppenangehöriger Schuldner (in Abbildung 5: Schuldner 2) betreibt parallel dazu ein Restrukturierungsverfahren, jedoch nicht am Gruppen-Gerichtsstand, sondern an dem für ihn zuständigen Restrukturierungsgericht gem. § 35 StaRUG. Bleiben die Restrukturierungsmaßnahmen des Schuldners 2 erfolglos (und wird die Restrukturierungssache in der Folge nach § 33 StaRUG aufgehoben), stehen ihm für die Eröffnung des sodann anstehenden Insolvenzverfahrens in diesem Fall insgesamt drei Gerichte zur Auswahl: Zunächst ist das originär zuständige Insolvenzgericht gem. § 3 Abs. 1 InsO örtlich zuständig. Durch die vorherige Restrukturierungssache besteht zusätzlich ein Wahlgerichtsstand am Restrukturierungsgericht gem. § 3

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Abs. 2 InsO, insofern zwischen den Verfahren höchstens sechs Monate vergangen sind. Als weiterer Wahlgerichtsstand besteht außerdem der vom Schuldner 1 begründete Gruppen-Gerichtsstand gem. § 37 Abs. 3 StaRUG i.V.m. § 3a InsO (welcher zwar durch einen anderen gruppenangehörigen Schuldner begründet wurde, jedoch hier aufgrund der noch laufenden Restrukturierung nach § 37 Abs. 2 StaRUG i.V.m. § 3b InsO als weiterer Wahlgerichtsstand gem. § 37 Abs. 3 StaRUG auch dem Schuldner noch zur Disposition steht).

Abbildung 5: Fall 5 (Quelle: eigene Darstellung)

6. Fall 6: Analoge Anwendung des § 3 Abs. 2 InsO n.F. bei Nicht-Fortwirkung des Gruppen-Gerichtsstands gem. § 3b InsO? Untersuchungsrelevant ist weiterhin der Fall, dass ein gruppenangehöriger Schuldner (in Abbildung 6: Schuldner 1) eine Restrukturierungssache betreibt und im Rahmen dieser einen Gruppen-Gerichtsstand gem. § 37 Abs. 1, 3 StaRUG an seinem zuständigen Restrukturierungsgericht begründet. In Folge dessen betreiben diverse weitere gruppenangehörige Schuldner Restrukturierungssachen am Restrukturierungsgericht des Gruppen-Gerichtsstands. Sämtliche Verfahren werden erfolgreich abgeschlossen. Kurze Zeit später möchte ein weiterer, bisher unbeteiligter (d.h. in diesem Zusammenhang „noch nicht restrukturierter“), gruppenangehöriger Schuldner ein Insolvenzverfahren durchführen. Das Restrukturierungsgericht der vorherigen Verfahren ist mangels Fortwirkung des Gruppen-Gerichtsstands gem. § 37 Abs. 2 StaRUG i.V.m. § 3b InsO und mangels originärer Zuständigkeit nicht (mehr) zuständig.

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Für derartige Schuldner kommt eine direkte Fortwirkung des Restrukturierungsgerichtsstands nach § 3 Abs. 2 InsO n.F. nicht in Betracht, da kein (eigenes) Restrukturierungsverfahren durchlaufen wurde, sondern allenfalls eine hypothetische (nunmehr „abgelaufene“) Zuständigkeit bestand. Die hypothetische (oder „theoretische“) Zuständigkeit begründet indessen gleichwohl eine gewisse Sachnähe. Denn auch wenn sich das Restrukturierungsgericht am Gruppenrestrukturierungsgerichtsstand nicht mit dem (konkreten) Schuldner befasst hat, so hat es dennoch die Restrukturierungssachen weiterer (unter Umständen sogar aller Übrigen) gruppenangehörigen Schuldner begleitet, sodass eine gewisse Vorbefassung mit der Unternehmensgruppe nicht zu leugnen ist. Diese Sachnähe kann das originär zuständige Insolvenzgericht in diesem Fall in der Regel nicht vorweisen, sofern nicht weitere Schuldner, die ebenfalls keine Restrukturierung durchlaufen haben, ebenfalls an diesem spezifischen Insolvenzgericht ihrerseits ein Insolvenzverfahren beantragt haben sollten. Diese Lage kann nicht im Sinne des Gesetzgebers sein. So ist zwar ein Gericht gegeben, dass sich erst kürzlich mit den Gegebenheiten des Konzerns bzw. der Unternehmensgruppe auseinandergesetzt hat und Verfahren erfolgreich betreut hat. Die Zuständigkeit dann aber mangels einer noch anhängigen Rechtssache der vorigen gruppenangehörigen Schuldner nicht mehr gegeben ist. Es kann dabei schlichtweg vom Zufall abhängen, ob der Gruppen-Gerichtsstand fortwirkt oder nicht. Wenn keine Restrukturierung durchlaufen wurde, bietet die Restrukturierung eines anderen gruppenangehörigen Schuldners immer noch eine größere Sachnähe als gar kein vormaliges Restrukturierungsverfahren. Eben diese Sachnähe ist der Grundgedanke des § 3 Abs. 2 InsO n.F.117, weshalb eine analoge Anwendung der Norm in diesem Fall durchaus ihre Rechtfertigung fände. Bezieht man die zeitliche Begrenzung des § 3 Abs. 2 InsO n.F. von sechs Monaten in die Analogie ein, würde diese Erweiterung der Fortwirkungsregelung auch lediglich eingeschränkt zur Anwendung kommen und die Sachnähe auch in zeitlicher Hinsicht gewährleisten.

117 Vgl. BT-Drs. 19/24181, S. 191.

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Zuständigkeitsprobleme im Rahmen von Konzerninsolvenzen

Abbildung 6: Fall 6 (Quelle: eigene Darstellung)

7. Die Regelung des § 3a Abs. 4 InsO n.F. Mit der Umsetzung des Gesetzes zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts (SanInsFoG) sieht der Gesetzgeber auch eine Ergänzung der InsO vor.118 Dabei wird der § 3a InsO um einen weiteren, vierten Absatz ergänzt.119 Der genaue Anwendungsfall des § 3a Abs. 4 InsO-RegE ist allerdings unklar. Die Gesetzesbegründung ist nicht eindeutig.120 a) Hauptanwendungsfall der Neuregelung Der Hauptanwendungsfall scheint in folgender Konstellation zu liegen: ein gruppenangehöriger Schuldner beantragt und begründet im Rahmen eines Restrukturierungsverfahrens einen Gruppen-Gerichtsstand für Restrukturierungssachen gem. § 37 Abs. 1 StaRUG, aber (noch) keinen für insolvenzrechtliche Gruppen-Folgeverfahren gem. § 37 Abs. 3 StaRUG. Der Restrukturierungsschuldner könnte nun eine Zuständigkeit des Restrukturierungsgerichts für Gruppen-Folgeverfahren in Insolvenzsachen nach § 37 Abs. 3 StaRUG begründen, nicht jedoch der insolvente Schuld-

118 Vgl. Art. 5 SanInsFoG RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 56. 119 Art. 5 Nr. 3 SanInsFoG RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 56. 120 Art. 5 Nr. 3 SanInsFoG RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 56; BT-Drs. 19/24181, S. 191.

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ner, da § 37 Abs. 3 StaRUG in seinem persönlichen Anwendungsbereich auf den Restrukturierungsschuldner beschränkt ist121. b) Abgrenzung des § 3a Abs. 4 InsO n.F. zu § 37 Abs. 3 StaRUG Diese Lücke schließt § 3a Abs. 4 InsO n.F., indem er dem Insolvenzschuldner ebenfalls die Möglichkeit einräumt, die Zuständigkeit des Restrukturierungsgerichts für Insolvenzverfahren in Gruppenfolgeverfahren zu begründen. Dem weiteren gruppenangehörigen Schuldner, der nun ein Insolvenzverfahren beantragen möchte, ist es somit möglich, mit Hilfe des § 3a Abs. 4 InsO n.F. den Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO bei dem Restrukturierungsgericht zu beantragen (und zu begründen). In der Rechtsfolge sind beide Normen indessen identisch: Sie bewirken beide die Zuständigkeit des Restrukturierungsgerichts für Insolvenzverfahren von gruppenangehörigen Schuldnern. Im Tatbestand setzen zudem beide Normen eine bereits rechtshängige (§ 31 StaRUG) Restrukturierungssache voraus. Ebenfalls Voraussetzung beider Normen ist zudem, dass bereits ein restrukturierungsrechtlicher Gruppen-Gerichtsstand begründet ist, der nun auf Gruppen-Folgeverfahren in Insolvenzsachen ausgeweitet wird, bzw. ausgeweitet werden soll (vgl. den insoweit übereinstimmenden Wortlaut beider Normen: „auch für Gruppen-Folgeverfahren in Insolvenzsachen (…) zuständig“). Ohne einen bereits begründeten Gruppen-Gerichtsstand in einer Restrukturierungssache eines (anderen) gruppenangehörigen Schuldners ist somit ein Antrag nach § 3a Abs. 4 InsO n.F. nicht möglich. Den Gruppen-Gerichtsstand in einer Restrukturierungssache zu begründen ist nach § 37 Abs. 1 StaRUG indessen nur einem Restrukturierungsschuldner möglich, nicht auch dem gruppenangehörigen Insolvenzschuldner – eine derartige Befugnis normiert § 3a Abs. 4 InsO n.F. nicht. Sie würde indessen auch einen unverhältnismäßigen „externen“ Eingriff durch ein Insolvenzverfahren in eine laufende Restrukturierungssache bedeuten, der allein durch die Gruppenangehörigkeit des insolventen Schuldners nicht zu rechtfertigen wäre. Die zentrale Zuständigkeit eines Gruppen-Gerichtsstands in Restrukturierungssachen zu begründen, muss den sich restrukturierenden Schuldnern vorbehalten bleiben. c) Anderweitige Auslegungsansätze des § 3a Abs. 4 InsO n.F. Lässt man das o.g. Wortlautargument außer Acht, lässt die Norm indessen auch ein anderes Normverständnis dahingehend zu, dass ein Schuldner den Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO direkt bei dem für ihn zuständigen Restrukturierungsgericht beantragen und damit begründen kann – ohne dass es eines Gruppen-Gerichtsstands für ein Restrukturierungsgericht bedarf. D.h: Der Schuldner begründet einen insolvenzrechtlichen Gruppen-Gerichtsstand bei dem für ihn (hypothetisch) zuständigen Restrukturierungsgericht. Dem Schuldner stünden somit zwei Gerichte zur Begründung des insolvenzrechtlichen Gruppen-Gerichtsstands zur Verfügung: 121 Zur Regelung des § 37 StaRUG eingehend Pannen/Riedemann/Smid/Pannen, § 37 StaRUG Rz. 1 ff.

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– Entweder das originär zuständige Insolvenzgericht gem. § 3 Abs. 1 InsO und das nach § 35 StaRUG zuständige Restrukturierungsgericht oder – das durch Landesverordnung bestimmte Konzentrationsgericht und das nach § 35 StaRUG zuständige Restrukturierungsgericht. Ein anhängiges Restrukturierungsverfahren (eines anderen gruppenangehörigen Schuldners) bei dem zuständigen Restrukturierungsgericht wäre bei einem derartigen Normverständnis dann nicht notwendig. Steht für den Schuldner nicht die Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands für Restrukturierungssachen, sondern nur für Insolvenzsachen (allem voran seine eigene Insolvenz) im Fokus, könnte er bei Bestehen eines Konzentrationsgerichts für Konzerninsolvenzen somit zwischen drei Gerichten wählen: dem Restrukturierungsgericht, dem Konzentrationsgericht und dem originär zuständigen Insolvenzgericht. Zu beachten ist dabei, dass die Restrukturierungsgerichte häufig nicht die für das Unternehmen nach § 3 Abs. 1 InsO örtlich zuständigen Gerichte sein werden. Insoweit besteht auch hier eine Missbrauchsmöglichkeit, als dass Verfahren gezielt zu Gerichten gesteuert werden können, die weder im Wege eines Verfahrens über das originär zuständige Insolvenzgericht noch über ein konzentriertes Insolvenzgericht „erreicht“ werden könnten. Diese anderweitige Auslegung führt jedoch insgesamt zu einer nicht tragbaren Reichweite. Die Norm soll eine Verknüpfung der bestehenden (unterschiedlichen) Verfahren innerhalb einer Unternehmensgruppe ermöglichen und nicht zusätzliche Gerichtsstände für einzelne unabhängige Insolvenzverfahren schaffen. Eine dahingehende Auslegung ist somit abzulehnen. 8. Anwendungskonflikt zwischen StaRUG und InsO – Welche Regelung hat Vorrang? Die Einführung des StaRUG bringt auch die, ähnlich der Regelungen des § 2 Abs. 2, 3 InsO, Möglichkeit mit, durch Landesverordnung konzentrierte Restrukturierungsgerichte zu bestimmen.122 Im Vergleich zu der Regelung für konzerninsolvenzrechtliche Konzentrationsgerichten ist diese Regelung jedoch mit weniger Auswirkungen verbunden, denn Restrukturierungsgerichte sind generell „konzentriert“.123 Es wäre jedoch denkbar, dass innerhalb eines OLG-Bezirkes sowohl ein Konzentrationsgericht für Restrukturierungssachen im Sinne des StaRUG, als auch ein Konzentrationsgericht für den Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO bestimmt ist. Durch eine Zuständigkeitserklärung des Restrukturierungsgerichts entsprechend des neuen § 37 Abs. 3 StaRUG könnte es dann zu einem Konflikt bei der Zuständigkeit der Gerichte kommen. Obwohl der Gruppen-Gerichtsstand gem. § 3a InsO eigentlich nur 122 Vgl. § 34 Abs. 2 StaRUG. 123 Vgl. SanInsFoG RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 141 f.

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beim Konzentrationsgericht begründet werden könnte, könnte sich das vorher zuständige Restrukturierungsgericht gem. § 37 Abs. 3 StaRUG (auf Antrag) für insolvenzrechtliche Gruppe-Folgeverfahren für zuständig erklären. Es ist davon auszugehen, dass die Regelung des § 37 Abs. 3 StaRUG dann als lex specialis gegenüber der jeweiligen Landesverordnung zu sehen ist. Für eine Verdrängung spricht auch, dass sich das Restrukturierungsgericht bereits mit dem Verfahren und der Unternehmensgruppe befasst hat. Dadurch erlangt das Gericht eine gewisse Expertise bezüglich des entsprechenden Unternehmens und der Unternehmensgruppe, was für einen besseren Ablauf des Verfahrens sorgen kann.

V. Fazit Rund zwei Jahre nach dem Inkrafttreten des Konzerninsolvenzrechts kann eine erste Bilanz zu den wichtigsten Praxisproblemen gezogen werden. Dabei wird deutlich, dass die Auslegung des Begriffs der Unternehmensgruppe sowie der Gruppen-Gerichtsstand eine zentrale Rolle im Konzerninsolvenzrecht spielen. Das Konzerninsolvenzrecht hat durch die Einführung des Gruppen-Gerichtsstands gem. § 3a InsO und des Koordinationsverfahrens gem. §§ 269d ff. InsO grundsätzlich Werkzeuge zur Erleichterung der Abwicklung von Konzerninsolvenzen geschaffen. Während manche Probleme dogmatischer Natur sind, wie z.B. die Modalitäten um die Anträge und Zuständigkeiten bei Konzentrationsgerichten, gibt es auch noch in der Anwendung nicht abschließend überwundene Hürden. Die vom Gesetzgeber (bewusst) nicht geregelten Fälle des forum shoppings haben sich nicht nur genauso entwickelt, wie es im Vorfeld gesehen wurde, sondern könnten sich durch die nicht einheitliche Regelung bezüglich der Konzentrationsgerichte noch verstärken. Nach den bisherigen Entwicklungen im Bereich des Konzerninsolvenzrechts, lässt sich resümieren, dass in einigen Bereichen, wenigstens aber im Rahmen der Zuständigkeiten bei Konzentrationsgerichten, ein Nachbesserungsbedarf besteht.

VI. Ausblick Bisher haben nur wenige Bundesländer von ihrer Kompetenz zur Bestimmung von konzentrierten Konzerninsolvenzgerichten Gebrauch gemacht. Ob weitere Bundesländer noch „nachziehen“, bleibt abzuwarten – erscheint nach dem gegenwärtigen Stand jedoch unwahrscheinlich. Die ungleiche Lage bei Konzentrationsgerichten auf Bundesebene kann sich dadurch manifestieren, dass sich langfristig in Bundesländern, die Konzentrationsgerichte bestimmt haben, Gerichte mit einer hohen Expertise entwickeln, während in Bundesländern ohne Konzentrationsverordnung sich Gerichte mit geringer Erfahrung mit komplexen Konzerninsolvenzen auseinanderzusetzen haben.

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Mit der Einführung des StaRUG wird sich das noch „junge“ Konzerninsolvenzrecht zweifellos weiterentwickeln. Auf die Möglichkeit des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens werden in Zukunft auch konzernangehörige Unternehmen zurückgreifen. Ob die Anwendungsfälle des (Konzern-)Insolvenzrechts dadurch weniger werden, wird sich zeigen. Das StaRUG sieht jedoch Regelungen vor, welche nicht nur in der Restrukturierung parallel gelagerte Zuständigkeitsfragen aufwerfen, sondern auch mittelbar Auswirkungen auf anschließende (Konzern-)Insolvenzen haben können. Insbesondere die Regelung des § 37 Abs. 3 StaRUG, durch welche schon im Vorfeld der Gruppen-Gerichtsstand eines Konzerns festgelegt werden und damit sogar eine Landesverordnung zur Bestimmung eines Konzentrationsgerichts anwendungslos werden lassen kann, demonstriert dies anschaulich. Die neuen Fortwirkungsregelungen der § 37 Abs. 2 StaRUG i.V.m. § 3b InsO und des § 3 Abs. 2 InsO n.F. zeigen die beabsichtigte Möglichkeit der Verfahrenskonzentration auf. Allerdings haben diese Regelungen, wie bereits dargestellt124, ihre Grenzen. Fraglich ist jedoch, ob eine Erweiterung der Fortwirkungsregelungen im Rahmen der oben dargestellten Fallkonstellation125 nicht sinnvoll wäre. Denn gerade im Hinblick darauf, dass sowohl das StaRUG als auch das Konzerninsolvenzrecht eine Verfahrenskonzentration befürworten126, scheint dies in Einzelfällen naheliegend. Das Konzerninsolvenzrecht dürfte daher auch in Zukunft die Restrukturierungs- und Insolvenzpraxis weiterhin beschäftigen.

124 Vgl. dazu Fall 3 unter Punkt „IV., 3.“ 125 Siehe Fall 3 unter Punkt „IV., 3.“ 126 Vgl. SanInsFoG RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 142; BT-Drs. 18/407, S. 1 f., 19 f.

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Inhaltsübersicht I. Adele Bloch-Bauer II. Die Verlassenschaft Adele Bloch-Bauer III. Schicksal während des Krieges IV. Das Rückgabeverfahren 1945–48 V. Das Kunstrückgabegesetz 1998

VI. Antrag nach dem KunstrückgabeG 1998 und Gerichtsverfahren in Österreich VII. Klage in den USA VIII. Das Schiedsverfahren IX. Ein gutes Ende?

Zu den vielen guten Eigenschaften, die unseren Jubilar auszeichnen, gehören zweifelsohne seine weitreichenden Interessen außerhalb der Juristerei. Denn ein brillanter Jurist ist er sowieso, aber die Leichtigkeit, mit der er sich in andere Domänen einarbeitet, sich interessiert, seine umfassende Neugier zeichnen ihn besonders aus, wie auch der nie nachlassende Humor, mit dem er die Welt betrachtet. So lag es, finde ich, nahe, in der Festschrift Reuter von der reinen Juristerei abzuweichen, zumindest ein wenig. Da unser Jubilar – aus vielen Gründen – überdies kunstinteressiert ist, und Ihr Autor aus Wien, bot es sich an, ein Kunstrechtsthema zu wählen und über einen Restitutionsfall zu berichten, der dies- und jenseits des Atlantiks die Gerichte beschäftigte, am Ende in einem Schiedsverfahren abgehandelt und zu guter Letzt sogar, wenn auch recht frei verfilmt wurde: Der Restitutionsfall Adele Bloch-Bauer I, die berühmte, 1907 von Gustav Klimt gemalte Golden Lady. Den Herausgebern sei hoch angerechnet und gedankt, dass sie, als ich ankündigte, unorthodox schreiben zu wollen, mit keiner Wimper gezuckt haben. Alexander Reuter hat die Festschrift-Herausgeber, die er verdient! Der Fall Adele Bloch-Bauer vereint aufs Schönste Geschichte, Politik und Recht und so hoffe ich, dass mein Bericht über diesen Fall dem Jubilar und dem geschätzten Leser Freude bereiten wird.

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Gustav Klimt (1862–1918), Adele Bloch-Bauer I (1907) (Neue Galerie New York; Foto: culture-images/fai)

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I. Adele Bloch-Bauer Kurz vor Weihnachten 1899 heiratete der aus Böhmen stammende 35-jährige Industrielle Ferdinand Bloch die 17 Jahre jüngere Bankierstochter Adele Bauer in Wien, eine Hochzeit im Kreise feinster jüdischer Bourgeoisie des Wien der Jahrhundertwende. Adele’s Mann war Großindustrieller der alten österreichischen Monarchie, führender Zuckerfabrikant von Österreich-Ungarn und Kaufmann durch und durch1. Adele hingegen gehörte ganz offensichtlich zu den bemerkenswerten Frauengestalten des Wiener Fin de Siècle, sozial aufgeschlossen und schöngeistig betrieb sie einen der führenden Salons in Wien. Es war keine Liebesheirat, die die beiden zusammengeführt hat, wohl eher wechselseitiger Respekt und, wie man es damals nannte, die (wirtschaftliche) „raison“. Adele’s Schwester hatte zuvor Ferdinand’s Bruder geheiratet. Und so verwundert es wenig, dass die beiden in ihren respektiven Welten lebten, Adele unter Künstlern und Intellektuellen, Ferdinand in der Wirtschaft. Alma Mahler-Werfel – auch sie grande dame im künstlerischen Wien der Jahrhundertwende – äußerte sich denn auch abschätzig in ihren Tagebüchern über Ferdinand als „schiachen2 Bräutigam“; es war Adele, die sich in Künstlerkreisen bewegte, und dabei auch unweigerlich den primus inter pares der damaligen Maler, Gustav Klimt, kennenlernte. Über die Beziehung zwischen Gustav Klimt und Adele Bloch-Bauer ist wenig gesichert, aber es ist viel gemunkelt worden. Adele habe „lange Nachmittage“ im Atelier des Gustav Klimt verbracht, welcher, wie man weiß, dem weiblichen Geschlecht außerordentlich zugetan war. Bald war das wohl berechtigte Gerücht über ein heftiges Verhältnis der beiden nicht mehr aufzuhalten. Gustav Klimt hat Adele Bloch-Bauer zumindest zwei Mal portraitiert, aber vermutlich stand sie auch für viele andere, teils außergewöhnlich sinnliche Bilder Modell3.

1 Im „Handbuch der Führenden in Kultur und Wirtschaft“ ist Ferdinand wie folgt beschrieben: „…rastlose ernste Arbeit und überaus strenge Gewissenhaftigkeit halfen dem Spross einer alteingesessenen Zuckerfabrikantenfamilie, sich in Überwindung aller Schwierigkeiten und Hemmnisse zu einer europäischen Autorität auf dem Gebiet der Zuckererzeugung, des Rübenbaus und der Landwirtschaft erfolgreich emporzuarbeiten …“. 2 Österreichisch für: hässlich. 3 Ab 1900 (nach andere Ansicht ab 1903) sitzt Adele wiederholt Portrait, zwei davon sind offiziell (Adele Bloch-Bauer I und II), viele weitere Bilder (insbesondere Judith I, 1901; Judith II, 1909) seien nach weit verbreiteter Ansicht ebenfalls Adele, wie sie auch die Frau in Klimt’s wahrscheinlich berühmtesten Werk, dem 1907/08 entstandenen „Der Kuss“ sei. Spätestens 1912 (anlässlich der Fertigstellung von Adele Bloch-Bauer II), sei die Liebesbeziehung aber schon abgekühlt gewesen. Alma Mahler-Werfel war es auch, die später die Nachricht, Adele habe dem Maler nicht nur Modell gestanden, auf ihre Weise kommentierte: „Ich hab’ immer schon g’wusst, dass die Adele keine Heilige war“.

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Das Bild, um das sich unser Fall dreht, ist das erste Portrait, das 1907 fertiggestellte „goldene“, das bei Zeitgenossen den Spottruf „mehr Blech als Bloch“ provoziert hatte. Es ist unbekannt, ob überhaupt jemand dieses Portrait je beauftragt hat oder ob Klimt es seiner „Seelenfreundin“Adele von sich aus vermachte, jedenfalls hing das Bild im Wiener Palais der Familie Bloch-Bauer, in Adele’s Salon. 1923, noch lange ehe die Nationalsozialisten auch in Österreich die Macht ergriffen, verfasste Adele Bloch-Bauer ihr Testament, in dem sie unter Punkt I unzweideutig festhielt: „Zum Universalerben meines gesamten Vermögens setze ich meinen Ehegatten Ferdinand BlochBauer ein“.

Unter Punkt III ihres Testaments werden einige Legate ausgesetzt. Überdies enthält dieser Punkt die folgende Bestimmung: „Meine zwei Portraits und die vier Landschaften von Gustav Klimt bitte ich meinen Ehegatten nach seinem Tode der österreichischen Staatsgalerie in Wien4 … zu hinterlassen“.

Im Testament sichert Adele Bloch-Bauer diese testamentarische Verfügung5 noch weiter dadurch ab, dass sie für den Fall des Vorversterbens von Ferdinand Bloch-Bauer ihren Schwager Gustav Bloch-Bauer als Erben einsetzt und ausdrücklich bestimmt, dass dieser die genannten Klimt Bilder „gleich nach meinem Tode“ an die österreichische Staatsgalerie zu übergeben habe. Am 24. Jänner 1925 verstirbt Adele Bloch-Bauer im Alter von 43 Jahren an Meningitis.

II. Die Verlassenschaft Adele Bloch-Bauer In dem am Bezirksgericht Innere Stadt Wien geführten Verlassenschaftsverfahren nach Adele Bloch-Bauer wurde die Verlassenschaft an Ferdinand Bloch-Bauer als Erben eingeantwortet. Es ist interessant festzuhalten, dass der anwaltlich vertretene Ferdinand Bloch-Bauer im Verfahren zu Protokoll gab, dass die – auch damals bereits teuren – Klimt Bilder sein Eigentum wären und daher nicht Teil der Verlassenschaft6. Am 7.1.1926 erklärte Ferdinand Bloch-Bauer schriftlich zum Gerichtsakt, dass er die Weisungen seiner Frau hinsichtlich Übergabe der Klimts an die österreichische Galerie „getreulichst zu erfüllen verspricht, wenn diese auch nicht den zwingenden Charakter einer testamentarischen Verfügung besitzen“. Es mag verschiedene Gründe geben, warum Ferdinand Bloch-Bauer so agierte, die andernfalls fällige Erbschaftssteuer mag 4 Heute: Österreichische Galerie Belvedere. 5 Deren Formulierung (zusammen mit deren Absicherung) noch eine Vielzahl von juristischen Fragen auslösen sollte, deren zentralste (und nicht mit letzter Sicherheit beantwortbare) die nach dem Willen von Adele war: Liegt unverbindlicher Wunsch oder ein den rechtlichen Anspruch des Museums begründendes Legat vor? 6 Einen Nachweis dafür, dass Ferdinand Eigentümer des Bildes wäre, hatte er nie zu erbringen und auch nie erbracht.

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einer gewesen sein. Dass er sich formell gegenüber der Österreichischen Galerie binden wollte, ist weder auszuschließen, noch erwiesen. Fakt jedenfalls ist, dass Adele die beiden Klimt Porträts (und vermutlich alle Klimt Bilder) wohl als ihr Eigentum7 ansah und dass Ferdinand Bloch-Bauer ihrer Anweisung, diese bei seinem Tode an die österreichische Galerie zu übergeben, zumindest im Verlassenschaftsverfahren Folge leisten wollte8. Ferdinand Bloch-Bauer beließ nach Adele’s Tod zunächst alles wie es war. Adeles Gemächer im Wiener Palais wurden nicht verändert, an den Wänden hingen die Klimt Gemälde.

III. Schicksal während des Krieges Dann aber brach über Ferdinand Bloch-Bauer die Hölle los. Mit allerlei juristischen Winkelzügen (wie einem Strafverfahren wegen „Hinterziehung, Verheimlichung und Gefährdung von Steuern“) und nackter Gewalt verlor Bloch-Bauer durch Nazi Terror innerhalb weniger Monate praktisch alles, was in Österreich sein Eigentum gewesen war. Industriebeteiligungen wurden arisiert, das Palais in Wien diente zur Sicherstellung der verhängten Strafe und wurde um einen Bruchteil seines Wertes an die Deutsche Eisenbahn verkauft, die Kunstsammlung wurde beschlagnahmt. Bloch-Bauer war zu diesem Zeitpunkt längst in die Tschechoslowakei geflohen. Als auch dort die deutsche Wehrmacht sein Schloss bei Prag in Besitz nahm, blieb nicht viel mehr als das nackte Leben. Bloch-Bauer floh abenteuerlich in die Schweiz und überlebte den Krieg in der Nähe von Zürich. Die Kunstsammlung wurde teils versteigert, teils an diverse Museen verteilt und verschwand in dunklen Kanälen. Im September 1940 bot ein NS-Anwalt, Erich Führer, das Klimt Gemälde Adele Bloch-Bauer I (und ein weiteres, „Apfelbaum I“) der Staatsgalerie an, die offensichtlich Ansprüche stellte. Letztlich „beehrte“ sich der Anwalt dem Museumsleiter mitzuteilen, dass er „… in Vollzug der seinerzeitigen letztwilligen Verfügung der Adele Bloch-Bauer die in der Wohnung des Ferdinand Bloch-Bauer aufbewahrten Bilder, und zwar Klimt Damenbildnis und Klimt

7 Wer, wie Ihr Autor, viel mit Künstlern arbeitet, ist fast verführt, es vor sich zu sehen: ein langer Nachmittag in Klimts Atelier, das Porträt I ist fertig, Klimt, der Profi, erkennt, dass etwas Besonderes gelungen ist, er überlässt es dennoch seiner Freundin, bittet sie aber, dafür zu sorgen, dass das Bild letztlich dort landet, wo er, Klimt, es würdig sieht: in dem führenden Museum seiner Zeit, der Österreichischen Galerie; nur das ist einem Künstler wichtig. Und 15 Jahre später, als die schon erkrankte Adele ihr Testament schreibt, erfüllt sie diesen Wunsch. 8 Auch hier lassen wir juristische Leckerbissen, zu welchen man durchaus geteilter Meinung sein kann, bei Seite, um nicht den Faden zu verlieren. Wie etwa: ob verbindliche Verfügung auch vorliegen kann, wenn der Legatsgegenstand bereits vor Erbanfall Eigentum des Erben ist? Ob Ferdinands Erklärung auch ohne Nachweis deren Zugangs beim Museum Verpflichtungserklärung sei und wenn ja, welche? Formgültige Schenkung?

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Obstgarten, den testamentarischen Bestimmungen zufolge der Modernen Galerie zur Verfügung stelle“.9 Die vermeintliche Erfüllung des Wunsches der Adele Bloch-Bauer war doch nur über die Beraubung Ferdinand Bloch-Bauers möglich. Das Testament sah die Übergabe an das Belvedere erst nach dem Tod des Ferdinand Bloch-Bauer vor, und noch lebte Ferdinand. Kurz: Ferdinand Bloch-Bauer wurde während des Zweiten Weltkriegs unzweifelhaft unrechtmäßig seines Eigentums an dem Bild beraubt, und nicht nur an diesem, sondern de facto an seiner gesamten, sehr bedeutenden Kunstsammlung.

IV. Das Rückgabeverfahren 1945–48 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges erließ die (neue) Republik Österreich das sogenannte Nichtigkeits Gesetz10, welches zwar alle während der Zeit des Nationalsozialismus auch mit dem Anschein eines Rechtsaktes durchgeführten Enteignungen für rechtswidrig und nichtig erklärte, doch sollte diese Nichtigkeit von einer (zeitlich nur befristet zulässigen) Geltendmachung gemäß den im Anschluss an das Nichtigkeitsgesetz erlassenen Rückstellungsgesetzen abhängig sein. Insgesamt sieben Rückstellungsgesetze, die sich mit der Restitution entzogener Vermögenswerte befassten, wurden erlassen11. Diese politisch doch bemerkenswerte Regelungstechnik, deren Effekt ist, dass noch so evidente Raubzüge der Nazis im Ergebnis unanfechtbar werden, wenn sie nicht binnen gewissen Fristen bekämpft werden, soll hier noch einmal etwas später gesondert zur Sprache kommen. Das Ausfuhrverbots-Gesetz12, das seit 1918 in Kraft war, blieb überdies ebenfalls aufrecht und auf dessen Grundlage untersagte das Bundesdenkmalamt die Ausfuhr einer Vielzahl von Bildern aus der Sammlung Bloch-Bauer. Dieses Verbot betraf jedoch, wie festzuhalten ist, nicht die Klimt Bilder. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemühte sich Ferdinand Bloch-Bauer um die Rückgabe seines Eigentums. Sein Anwalt in Wien (Dr Rinesch) stellte namens Ferdinand Bloch-Bauer Rückgabeantrag, der sich auf eine Vielzahl der Kunstwerke aus der ehemaligen Sammlung Bloch-Bauer bezog. Auf das Gemälde Adele Bloch-Bauer I bezog sich der Antrag nicht, die Rückgabe dieses Bildes wurde nie beantragt.

9 Erwähnt sei am Rande, dass das Belvedere (damals Moderne Galerie) sich offensichtlich im Gegenzug bereit erklärte, ein anderes Bild von Klimt „Sommerlandschaft“ an RA Führer auszufolgen. 10 Bundesgesetz vom 15.5.1946 über die Nichtigerklärung von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind BGBl 106/1946. 11 Für die in öffentlicher Verwaltung oder öffentlichem Eigentum befindlichen waren das erste und zweite Rückstellungsgesetz anzuwenden, vgl BGBl 156/1946 und BGBl 53/1947. 12 Bundesgesetz über das Verbot der Ausfuhr von Gegenständen von geschichtlicher, künstlerischer oder sonstiger kultureller Bedeutung, StGBl 90/1918.

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Warum das damals so geschah, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Es kann sein – wie einzelne Unterlagen belegen – Dr Rinesch hatte, gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam seinem Mandanten geraten, den Rückgabeantrag nicht über alle Kunstwerke zu stellen, um für die verbleibenden bessere Aussichten auf Erfolg zu haben. Es kann auch sein, dass der damals 81-jährige Ferdinand Bloch-Bauer im Hinblick auf das Testament seiner vorverstorbenen Frau die Rückgabe der Klimts, die schon im Belvedere Museum waren, für nicht mehr verfolgenswert erachtete. Es kann aber genauso gut sein, dass dem Anwalt schon im Vorfeld von den österreichischen Behörden mit gar nicht so sanftem Druck beschieden worden war, dass nur unter Eingehen eines „Tauschhandels“ überhaupt Chancen auf einen (Teil-)Erfolg bestünden. Solcherlei kam, wie man weiß, nach dem Krieg vor; für Adele BlochBauer I gibt es dazu jedenfalls nichts Nachweisbares. Fakt jedenfalls ist, dass Adele Bloch-Bauer I weder mit Ausfuhrverbot belegt, noch deren Rückgabe je beantragt wurde. Das Ende des Rückgabeverfahrens hat Ferdinand Bloch-Bauer nicht mehr erlebt. Er starb am 13.11.1945 unter Hinterlassung eines völlig unspezifischen Testaments, das sein gesamtes bewegliches und unbewegliches Vermögen seinen Nichten Luise und Maria (Altmann) sowie seinem Neffen Robert vermachte13. Ab 13.11.1945 führte Dr Rinesch das Rückgabeverfahren in deren Namen weiter. Auch die Rechtsnachfolger nach Ferdinand Bloch-Bauer, sohin auch Maria Altmann, haben den Rückgabeantrag nie auf die Klimt Bilder ausgedehnt14. Am Ende des Rückgabeverfahrens wurden 1948 einige (aber bei Weitem nicht alle) der geraubten Kunstgegenstände, deren Rückgabe beantragt worden war, an die Erben rückgestellt, immer noch ein kleines Vermögen15, aber ein Bruchteil dessen, was geraubt worden war. Adele Bloch-Bauer I blieb im Belvedere und danach die Sachund Rechtslage für über fünfzig Jahre unverändert und unangetastet.

V. Das Kunstrückgabegesetz 1998 Als im Jahr 1997 aus Anlass einer Ausstellung in New York zwei Bilder von Egon Schiele aus dem Wiener Museum Leopold als potentielles Raubgut festgehalten wurden, brach, erstmals unausweichlich, in Österreich die Restitutionsfrage auf. Die poli-

13 Eine Verfügung zu Gunsten des Belvedere Museums, wie sie im Testament Adele gewünscht worden war, fehlt daher. Über die Gründe dafür weiß man nichts. 14 Beachte: Mit Schreiben vom 12.4.1948 hat Dr Rinesch als Vertreter der Antragsteller dem Verbleib der Adele Bloch Bauer I im Belvedere ausdrücklich zugestimmt. Er schreibt, dies geschehe, obwohl „sie sicherlich die Handhabe gehabt hätten, die Legatserfüllung zu verhindern, weil sich inzwischen die Vermögensverhältnisse in katastrophaler Weise verändert haben und auch die übrigen Voraussetzungen der Widmung durch die Ereignisse des Dritten Reichs weggefallen waren“. 15 18 von 40 beantragten Gemälden und von der berühmten Porzellansammlung lediglich einige Doubletten.

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tische Diskussion führte zum Restitutionsgesetz 199816, das zweifelsohne ein österreichisches Spezifikum ist. Die für unsere Zwecke wesentlichen Aspekte dieses Gesetzes sind: – § 1 des Kunstrückgabegesetz 1998 ermächtigt den österreichischen Bundesminister für Finanzen, unter anderem jene Kunstgegenstände und sonstiges bewegliches Kulturgut aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen unentgeltlich an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zu übereignen, welche – Z 1: Gegenstand von Rückstellungen an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen waren oder nach den damaligen Bestimmungen zu restituieren gewesen wären und nach dem 8.5.1945 im engen Zusammenhang mit einem daraus folgenden Verfahren nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über das Verbot der Ausfuhr von Gegenständen von geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung, StGBl. Nr. 90/1918 [Ausfuhrverbotsgesetzes 1918], in das Eigentum des Bundes übergegangen sind und sich noch im Eigentum des Bundes befinden; – Z 2: zwar rechtmäßig in das Eigentum des Bundes übergegangen sind, jedoch zuvor Gegenstand eines Rechtsgeschäftes oder einer Rechtshandlung gemäß [§ 1 des Bundesgesetzes vom 15.5.1946 über die Nichtigerklärung von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, während der deutschen Besetzung Österreichs] in das Eigentum der Republik Österreich gelangt sind, waren und sich noch im Eigentum des Bundes befinden; oder – Z 2a: zwar rechtmäßig in das Eigentum des Bundes übergegangen sind, jedoch zwischen dem 30. Jänner 1933 und dem 8.5.1945 in einem Herrschaftsgebiet des Deutschen Reiches außerhalb des Gebietes der heutigen Republik Österreich Gegenstand eines Rechtsgeschäftes oder einer Rechtshandlung waren, die Rechtsgeschäften oder Rechtshandlungen gemäß § 1 des Bundesgesetzes über die Nichtigerklärung von Rechtsgeschäften und sonstigen Rechtshandlungen, die während der deutschen Besetzung Österreichs erfolgt sind, BGBl. Nr. 106/ 1946, vergleichbar sind und sich noch im Eigentum des Bundes befinden; – Z 3: nach Abschluss von Rückstellungsverfahren nicht an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Rechtsnachfolger von Todes wegen zurückgegeben werden konnten, als herrenloses Gut unentgeltlich in das Eigentum des Bundes übergegangen sind und sich noch im Eigentum des Bundes befinden. – Kunstrückgabeverfahren nach diesem Bundesgesetz erfolgen entweder auf Antrag oder von Amts wegen; Rückgaben erfolgen idR (nicht zwingend) nach Empfeh-

16 Bundesgesetz zur Rückgabe von Kunstgegenständen aus den österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen, BGBl 181/1998; Pikant ist, dass das neue Gesetz für den Anlassfall vom ersten Tag an schon grundsätzlich nicht geeignet war, denn das Museum Leopold ist kein Bundesmuseum.

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lung des nach dem Gesetz eingerichteten Kunstrückgabebeirat17, die auch publiziert werden. – Wesentlichster Aspekt des Kunstrückgabegesetzes ist die Tatsache, dass das Gesetz keinerlei Rechtsanspruch gewährt, auch dann nicht, wenn eine der Voraussetzungen des § 1 Z 1 bis 3 Kunstrückgabegesetz erfüllt ist. Ein Streitbeilegungsmechanismus ist im Gesetz (daher) nicht vorgesehen. – Technisch „befreit“ das Gesetz den Minister lediglich vom sonst wohl gegebenen strafrechtlichen Tatbestand der Untreue, wenn er/sie unentgeltlich Bundesvermögen restituiert. Voraussetzung für die Restitution ist idR, dass der Kunstrückgabebeirat festgestellt hat, dass eine der Voraussetzungen der § 1 Z 1 bis 3 erfüllt sind. Politisches Ziel des Gesetzes war es sohin, eine Grundlage für „mögliche“ Restitutionen zu schaffen, nicht Ziel des Gesetzes ist es, klagbare Ansprüche auf Herausgabe einzuräumen. Der Antragsteller kann bestenfalls nach dem Kunstrückgabegesetz die Feststellung des Kunstrückgabebeirates erreichen, dass eine der Voraussetzungen des § 1 Z 1 bis 3 Kunstrückgabegesetz vorliegt. Ob dann restituiert wird, liegt – trotz dann wohl stark gestiegenem politischen Druck – rechtlich gesprochen im freien Ermessen des Ministers18.

VI. Antrag nach dem KunstrückgabeG 1998 und Gerichtsverfahren in Österreich Unmittelbar nach Erlassung des Kunstrückgabegesetzes schrieb Maria Altmann’s Anwalt der damaligen für Kunstangelegenheiten zuständigen Ministerin, Elisabeth Gehrer (ÖVP), beglückwünschte sie zum neuen Gesetz und forderte die Herausgabe von fünf Klimt-Bildern, darunter Adele Bloch-Bauer I. Der Kunstrückgabebeirat trat zusammen und stellte in einer politisch in Österreich heftig diskutierten, juristisch aber wohl durchaus vertretbaren Entscheidung fest, dass keine der Voraussetzungen des § 1 Z 1 bis 3 vorläge und daher nicht zu restituieren wäre. In Frage gekommen wäre Z 1. Da jedoch keinerlei Antrag auf Rückgabe der Klimts im Rückgabeverfahren 1945 vorlag, kein Ausfuhrverbot verhängt war und auch kein konkreter, als ausreichend angesehener Nachweis eines nach § 1 Z 1 verpönten „Tauschhandels“ ersichtlich war, lagen die Voraussetzungen für eine Rückgabeentscheidung des Kunstrückgabebeirates nach dessen Ansicht19 nicht vor. 17 Der Kunstrückgabebeirat wird aus Vertretern von fünf verschiedenen Bundesministerien besetzt, immerhin je ein Experte aus den Gebieten Geschichte und Kunstgeschichte wird aus dem universitären Bereich nominiert. 18 Tatsächlich sind in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Kunstrückgabegesetzes (2000 bis 2008) rund 8.500 Kunstgegenstände unterschiedlichsten Wertes nach diesem Gesetz auf Empfehlung des Kunstrückgabebeirates restituiert worden. 19 Allein wird dies juristisch wohl nicht entscheidend sein, jedoch: das auch namens Altmann verfasste Schreiben Dris Rinesch vom 12.4.1948 (she FN 14) deutet wohl eher darauf hin, dass die Antragsteller grundsätzlich davon ausgingen, die Verfügung Adeles wäre

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Kaum lag diese ablehnende Entscheidung vor, brachte Maria Altmann Klage auf Herausgabe der Klimt-Bilder beim Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien ein. Zwei Aspekte dieser Klage sind bemerkenswert: Einerseits ist die Klage auf das Kunstrückgabegesetz gestützt, das – wie dargestellt – einen klagbaren Anspruch auf Herausgabe nicht gewährt. Insoweit ist die Klage vom ersten Tag an wohl unschlüssig und auch aussichtslos20. Und Maria Altmann bezahlte die bei Klagseinbringung fälligen Gerichtsgebühren (sowie aktorische Kaution) nicht. Sie erklärte nachvollziehbar, diese nicht leisten zu können, denn diese wären auch im Hinblick auf den von ihr gewählten, am Wert der Bilder orientierten hohen Streitwert beträchtlich. Ihrem Antrag auf Verfahrenshilfe wurde zwar teilweise (weitgehend) stattgegeben, dennoch blieb eine beträchtliche Gerichtsgebühr und Kostensicherheit zu erlegen. Als das Gericht auf deren Zahlung zur Fortsetzung des Verfahrens (moralisch vielleicht diskutierbar, aber jedenfalls gesetzeskonform) bestand, zog Maria Altmann die eingebrachte Klage wieder zurück.

VII. Klage in den USA Man ist versucht zu denken, der Altmann beratende Anwalt habe bei seiner Klage in Wien vielleicht einen Kunstfehler begangen. Dass dem aber doch mit einiger Wahrscheinlich nicht so ist, zeigen die weiteren Ereignisse. Denn Maria Altmann brachte unmittelbar nach Rückziehung der Klage in Wien erneut Klage ein, diesmal in Los Angeles. Wieder geht die Klage auf „Herausgabe der Klimt-Gemälde“, diesmal ist sie gestützt auf „public international law“, „Austrian civil law“ und „unjust enrichment under California state law“. Beklagt sind die (in der Klage falsch bezeichnete, aber erkennbare) Österreichische Galerie Belvedere, eine wissenschaftliche Anstalt öffentlichen Rechts des Bundes mit eigener Rechtspersönlichkeit, und die Republik Österreich. (weiterhin) verbindlich, jedoch bekämpfbar. Letzteres wegen Änderung der Umstände. Diese Berufung auf die Umstandsklausel ermöglicht nach österreichischem Zivilrecht unter gewissen Voraussetzungen die Aufhebung oder Abänderung einer sonst verbindlichen Verpflichtung, wenn sich seit Eingehen der Verpflichtung die Umstände ohne Verschulden des Verpflichteten wesentlich geändert haben; wie immer, wenn Verpflichtungen nachträglich modifiziert werden sollen, ist die Berufung auf die Umstandklausel tendenziell eher „last resort“ und kein leichtes Unterfangen, wenn auch unter den hier gegebenen Umständen keineswegs undenkbar. Wie dem aber auch sei: Dr Rinesch hat sich auf die Umstandsklausel erklärtermaßen nicht berufen und ein Verzicht (erst recht ein nachträglicher) auf die Geltendmachung der Umstandsklausel ist nach österreichischem Recht grundsätzlich wirksam. 20 Das dürfte auch dem Kläger bewusst gewesen sein, denn er klagt auch, in eventu“, auf Feststellung, dass § 1 Ziff 1 KunstrückgabeG erfüllt sei; andererseits bemüht der Kläger für den geltend gemachten Herausgabeanspruch die „Fiskalgeltung der Grundrechte“ und stützt den Anspruch auf „den Gleichheitsgrundsatz“; es sprengt den Rahmen, dies hier zu erörtern, aber einigermaßen exotisch, wie nach geltendem österreichischen Recht vermutlich aussichtslos ist dieser Kunstgriff allemal.

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In Los Angeles bestreiten die Beklagten zunächst die Zuständigkeit des angerufenen Gerichtes und sie berufen sich auf völkerrechtliche Immunität der Beklagten nach dem Foreign Sovereign Immunities Act von 1976 (FSIA). Der Einwand der Unzuständigkeit (technisch für Liebhaber zivilprozessualer Feinheiten des amerikanischen Rechtes: „forum non conveniens“ und „jurisdiction“) wird vom Erstgericht in Los Angeles verworfen, mit der Begründung, dass in Österreich kein Zugang zum Recht bestünde. Begründet wird dies damit, dass die Gerichtsgebühren zu hoch seien und es keine dem amerikanischen discovery Verfahren vergleichbare Sachverhaltsermittlung gäbe. Spannend ist die Begründung, mit der auch der Einwand der Immunität der Beklagten vom Erstgericht in Los Angeles verworfen wurde: Der einschlägige § 1605 (3) FSIA bestimmt wie folgt: „A foreign state shall not be immune from the jurisdiction of courts of the USA in any case … (3) in which rights in property taken in violation of international law are in issue and (i) that property … is present in the United States … or (ii) that property is owned or operated by an … instrumentality of the foreign state and that instrumentality is engaged in a commercial activity in the United States.“

Diese mit dem FSIA 1976 in das amerikanische Bundesrecht aufgenommene Bestimmung, die die Durchbrechung völkerrechtlicher Immunität unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, ist, wie Völkerrechtsexperten bestätigen werden, heftigst umstritten. Auch gab es vor der Erlassung des FSIA keine vergleichbare Bestimmung im amerikanischen Recht, sodass sich auch die Frage stellte, ob die Bestimmung des § 1605 (3) FSIA im vorliegenden Fall rückwirkend angewendet werden konnte, obgleich das Gesetz solche Rückwirkung nicht vorsah und sich auch aus den begleitenden Materialien zur Gesetzwerdung des FSIA keinerlei Wunsch nach rückwirkender Anwendbarkeit der Bestimmung erkennen lässt. Aber noch bevor solcherlei juristische Subtilitäten zu untersuchen waren, hatte das Erstgericht bei der Anwendung von § 1605 (3) FSIA eine andere Hürde zu nehmen: die Durchbrechung der Immunität ist ja nach der Bestimmung nur möglich, wenn die „Golden Lady“ Eigentum einer „instrumentality of the foreign state“ wäre und, gleichzeitig, „that instrumentality is engaged in a commercial activity in the United States“. Mit Nachsicht kann man die gesonderte juristische Person (wissenschaftliche Anstalt öffentlichen Rechts) Belvedere als „instrumentality“ der Republik Österreich ansehen (ganz zwingend ist dies meines Erachtens nicht). Wie aber löst das Gericht die Frage der erforderlichen wirtschaftlichen Tätigkeit des Belvederes in den Vereinigten Staaten? Das Gericht in Los Angeles hatte auch zu diesem Element keinerlei Probleme und begründete, für einen europäischen Juristen doch ein wenig überraschend, wie folgt: das Belvedere sei in den USA wirtschaftlich tätig, weil in Wien auch amerikanische 353

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Touristen den Weg ins Belvedere fänden und weil aus Wien Postkarten mit Abbildungen von Kunstwerken des Belvedere (einschließlich der Adele Bloch-Bauer I!) ihren Weg „wohl in die USA finden würden“. Wer so argumentiert, „hüpft“ auch problemlos über die eigentlich im Gesetz nicht vorgesehene rückwirkende Anwendbarkeit des FSIA. Und so entschied zunächst das Gericht in Los Angeles und dann der Court of Appeals for the Ninth Circuit als Berufungsgericht in der Zuständigkeitsfrage gegen das Belvedere (und die Republik Österreich). Zuletzt landete nur die Frage der rückwirkenden Anwendbarkeit des FSIA vor dem Supreme Court. Politisch bemerkenswert ist, dass die damalige amerikanische Regierung ein „amicus brief“ gegen die rückwirkende Anwendung des FSIA (und damit im Effekt: für die Republik Österreich und das Belvedere) abgab. Allein, es half nichts: der Supreme Court ließ die rückwirkende Anwendung des FSIA auf Sachverhalte, die 40 Jahre vor Erlassung des Gesetzes stattfanden, zu und bestätigte damit die Zuständigkeit des Gerichtes in Los Angeles, in der Sache über den Rückgabeantrag zu entscheiden.

VIII. Das Schiedsverfahren Wer nun denkt, daran würde sich nun ein Verfahren vor dem Gericht in Los Angeles anschließen, wer glaubt, die Anwälte der Republik würden deren Haftung schon dem Grunde nach bestreiten, die des Belvederes würden nun in der Sache argumentieren, dass die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen keinen Rückgabeanspruch geben und wer auf eine spannende Diskussion hofft, über die Anwendbarkeit amerikanischen Rechts und amerikanischer Rechtsprinzipien auf unseren Fall (und damit einer Art Weltgeltung amerikanischen Rückgaberechts für wo auch immer gelegene Kunstwerke), der wird enttäuscht. Das Verfahren wurde in Los Angeles nicht fortgesetzt. Der gelernte Jurist fragt sich einmal mehr, warum? Ob die Klägerin abgeschreckt hat, dass zwischen den USA und Österreich kein Vollstreckungsabkommen für gerichtliche Entscheidungen in Zivilrechtssachen besteht, dass das Belvedere kein Vermögen in den USA hält, und dass daher eine auch allenfalls rechtskräftige positive Gerichtsentscheidung in Los Angeles nie gegen das Belvedere hätte vollstreckt werden können? Wie schon bei der Klagseinbringung in Wien ist vor diesem Hintergrund die Einleitung des Verfahrens in den USA ebenso wie dessen Abbruch wohl nur politisch erklärbar. Denn Politik ist auch die Erklärung, wie es dann weiterging: die Republik Österreich und die Erben nach Ferdinand Bloch-Bauer schlossen eine Schiedsvereinbarung: ein dreiköpfiges Schiedsgericht mit Sitz in Wien sollte feststellen, ob die Voraussetzungen für die Rückgabe nach § 1 Z 1 bis 3 Kunstrückgabegesetz vorlägen.

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Wer in der Folge das Schiedsverfahren verfolgt hat, ahnt, dass wohl bereits zum damaligen Zeitpunkt politisch die Entscheidung gefallen war, Adele Bloch-Bauer I zu restituieren. Nur: ohne Entscheidung des Kunstrückgabebeirates ging dies formaliter nicht ohne Weiteres und dieser hatte ja schon einmal und gegen die Rückgabe entschieden. Also nun – sieben Jahre nach dem ersten Brief Maria Altmann’s an Ministerin Gehrer – ein Schiedsverfahren. Die Schiedsrichter beantworteten letztlich drei Fragen: a) Wann und auf welcher Rechtsgrundlage erwarb die Republik Österreich/das Museum Belvedere Eigentum am Bildnis Adele Bloch-Bauer I? b) War Adele’s testamentarische Verfügung verbindliches Legat oder unverbindliche Bitte? c) Ist einer der Tatbestände des § 1 Kunstrückgabegesetz 1998 erfüllt und besteht damit die Ermächtigung zur Rückgabe? Zur ersten Frage entschied das Schiedsgericht, dass das Bildnis Adele Bloch-Bauer I nie ihr Eigentum gewesen sei, sondern von Anfang an allein Ferdinand Bloch-Bauer gehört hätte. Bemerkenswert begründet hat das Schiedsgericht dies letztlich mit § 1237 ABGB in seiner 1925 anwendbaren, aber vom Schiedsgericht im Jahr 2006 angewendeten Fassung. Diese Bestimmung besagt im Effekt: Im Zweifel ist alles (eheliches) Vermögen alleiniges Eigentum des Mannes21. Bei der gegebenen Historie des Gemäldes doch eine bemerkenswerte Erkenntnis. Das Schiedsgericht wollte wohl progressiv zu einem politisch genehmen Ergebnis gelangen, und tat dies mit rückwärts gewandter Sicht, frei nach Karl Kraus: „Der Österreicher schaut voll Zuversicht in die Vergangenheit“. Das Schiedsgericht hätte, wenn wir schon dabei sind, auch § 1247 ABGB22 in seiner im Jahr 1925 und noch heute anwendbaren Fassung anwenden können, wonach was einer Frau „zum Putze“ gegeben ist, im Zweifel als ihr geschenkt gilt. So ganz von der Hand weisen lässt es sich ja nicht, dass Adeles Nahebeziehung zum Künstler doch vermutlich ein wenig enger gewesen ist, als die ihres Mannes; und in ihrem Salon hing das Bild immerhin. Wie dem auch sei, das Schiedsgericht entschied dann weiters, dass alle Rechtsgeschäfte und einhergehende Übertragungen der Adele Bloch-Bauer I während der Kriegszeit nach dem Nichtigkeits-Gesetz unwirksam/nichtig und daher nicht Titel für den Eigentumserwerb des Belvederes seien. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, musste eine Lösung her, denn nach dem NichtigkeitsG ist für solche Nichtigkeit eigentlich eine 21 praesumptio Muciana: Im Zweifel wird vermutet, „…dass der Erwerb vom Manne herrührt.“ Für historisch Interessierte: Aufgehoben durch das Eherechtsänderungsgesetz 1978. 22 § 1247 ABGB: „Was ein Mann seiner Ehegattin an Schmuck, Edelsteinen und andern Kostbarkeiten [von Jud. erweitert interpretiert] zum Putze gegeben hat, wird im Zweifel nicht für gelehnt; sondern für geschenkt angesehen … .“ Für historisch Interessierte: noch heute in Kraft.

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fristgerechte Anfechtung Voraussetzung, die hier aber unstrittig nie erfolgt war. In seltener Offenheit und politisch verständlich verbog das Schiedsgericht die Rechtslage und entschied dennoch auf Nichtigkeit der Übertragung der Adele Bloch-Bauer I23 1942 an das Belvedere, letztlich, sehr einfach, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Es begründete sein Abweichen vom geltenden Recht wie folgt: „Eine solche Regelung mag man nun im Verhältnis zu (womöglich gutgläubigen) Dritterwerbern für diskutabel halten; gegenüber dem Staat führt sie in jenen Fällen, in denen Sachen den früheren Eigentümern schlicht entzogen worden waren, zu dem zivilrechtlich geradezu anstößigem Ergebnis, dass aus dem Zusammenspiel der genannten Nachkriegsgesetze ein Eigentumserwerb zustande kam, den das allgemeine Zivilrecht nie gekannt hätte.“

Worauf also gründet nach dem Schiedsgericht der Eigentumserwerb durch das Belvedere? Für das Schiedsgericht war es die „Vereinbarung“ aus dem Jahr 1948, die im Zuge des damaligen Rückgabeverfahrens Titel für den Eigentumserwerb der Republik Österreich an Adele Bloch-Bauer I wäre. Auch das eine bemerkenswerte Entscheidung, war doch das Bild, wie dargestellt und vom Schiedsgericht an anderer Stelle richtig festgehalten, gar nicht Gegenstand des damaligen Rückgabeverfahrens und eine „Vereinbarung“ ist im Zuge dieses Verfahrens auch nicht erweislich24. Es folgt eine längere Diskussion25 der letztlich heute unlösbaren Frage nach dem Willen Adele’s, ob im Testament verbindliches Legat oder unverbindliche Bitte vorlag. Dass Adele und Ferdinand anders miteinander umgingen, weit höflicher und respektvoller als heutige Juristen Sprache analysieren und daher aus dem Wort „bitte“ im Testament allein wenig abzuleiten wäre26, wird beiseite geschoben, ebenso wie interne Korrespondenz des Anwaltes Rinesch mit seinen Mandanten, aus welcher klar hervorgeht, dass er noch 1948 der Ansicht war, das Legat wäre verbindlich. Das Schiedsgericht weiß es besser und entscheidet auf Unverbindlichkeit von Adele’s Bitte. Nun war der Weg gebahnt zum letzten Schritt: das Schiedsgericht entschied weiters mit Feststellung, dass die Voraussetzungen für § 1 Z 1 Kunstrückgabegesetz erfüllt gewesen seien. In der heute letztlich nicht mehr entscheidbaren Frage, ob vorauseilender Gehorsam, Druck der österreichischen Behörden oder eine Mischung aus beidem letztlich Grund dafür waren, dass die Klimt-Bilder (und insbesondere Adele BlochBauer I) 1948 nicht zur Rückgabe beantragt wurden, entschied das Schiedsgericht, dass die Umstände des damaligen Verfahrens (nach dem Ende des Zweiten Weltkrie23 Siehe oben unter FN 9, wohl ein Tausch. 24 Hinsichtlich unserer Golden Lady bestätigte Dr Rinesch nur (wiederholt) den Verzicht seiner Mandanten auf Bekämpfung des seiner Ansicht nach verbindlichen Legats. 25 Ohne nähere Erläuterung deren Bedeutung, wenn denn das Bild ohnedies nie Adele gehört hätte. 26 Schon daran erkennbar, dass für den Fall des Vorversterbens von Ferdinand das gleiche Legat gegenüber dem Ersatzerben völlig eindeutig wiederholt, nun aber sprachlich klar verschärft ist. Adele hatte ihre Art, Ihrem Mann für dessen Lebzeiten keine Vorschriften zu machen (daher auch keine Sicherstellung des Legats) und dennoch ihren Willen (für ihn!) unmissverständlich auszudrücken.

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ges) „Zwang“ begründeten und damit die Voraussetzungen der Ziff 1 des § 1 Kunstrückgabegesetz erfüllt wären. Die eigentlich interessierende juristische Diskussion, ob unter § 1 Ziff 1 auch subsummiert werden könne, wenn, wie hier, das „Entgegenkommen“ der Erben nicht auf erwiesenen Druck der Behörde, nicht „im engen Zusammenhang mit einem … Verfahren nach den Bestimmungen des Ausfuhrverbotsgesetzes 1918“ erfolgte, sondern von sich aus, wohl wegen ihres Verständnisses des Legats und den verzweifelten damaligen Umständen geschuldet, diese Diskussion fehlt. Diese Subsumption lässt der Text des § 1 Ziff 1 KunstrückgabeG bei rein juristischer Betrachtung, anders als das Schiedsgericht schreibt, nicht zu, man hätte ein weiteres Mal über das Gesetz hinaus müssen, und dazu fehlte – wohl aus politischen Gründender Wille oder der Mut. Kaum war der Schiedsspruch erlassen, da restituierte die Republik Österreich das Bild an Maria Altmann.

IX. Ein gutes Ende? Was also lernen wir aus dem Fall Bloch-Bauer I? Dass manche gesetzliche Bestimmung weitergehend zu sein scheint, als sie es tatsächlich ist? Dass Gerichte, nicht nur in den USA, das Recht im Einzelfall für das, was sie als Einzelfallgerechtigkeit ansehen, zu beugen bereit sind? Dass Politik im Anschein eines Rechtsverfahrens betrieben wird? Es mag Fälle geben, da stehen Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeitsempfinden nicht vollends auf der gleichen Seite. Der Jurist wird wohl immer mit guten Gründen auf Rechtsstaatlichkeit pochen. Die Politik hat gelegentlich andere, abweichende Überlegungen. Und gleichgültig, welcher Seite man anhängt, ein wenig störend wirkt vielleicht nur die Scheinheiligkeit, mit der die offene Diskussion zu genau diesen Themen doch tendenziell vermieden wird27. Bedauerlich am Fall Bloch-Bauer ist, dass es bessere Lösungen gegeben hätte, und das meine ich nicht nur aus Sicht des Juristen. Österreich’s Vertreter hätten, wenn schon nicht unmittelbar nach dem Krieg, so doch jetzt die Vergangenheit anders aufarbeiten können, nicht in juristische Züge verstrickt, sondern offener um Versöhnung bemüht und mit Respekt vor den Erben. Wie auch die Rolle mancher Anwälte der Erben in diesem Verfahren in diesem Sinne mehr als kontraproduktiv gewesen sein mag; denn es gibt doch zahlreiche Indizien dafür, dass Maria Altmann ein solches 27 Weiterführende Literatur zu unserem Fall gibt es en masse, schon weil jede der beteiligten Seiten sich noch während des anhängigen Streits veranlasst sah, ihre jeweilige Rechtssicht durch Gutachten zu untermauern und mit deren Publikation den politischen Druck zu erhöhen. Vgl etwa Welser/Rabl, Der Fall Klimt (2005), Krejci, Der Klimt Streit (2005); Georg Graf, Überlegungen zum Anwendungsbereich des § 1 Ziff 2 KunstrückgabeG NZ 2005, 321; Welser, Der Fall Klimt/Bloch-Bauer ÖJZ 2005, 689; Rabl, Der Fall Klimt/ Bloch-Bauer, NZ 2005, 257; Krejci, Zum Fall Klimt/Bloch-Bauer, ÖJZ 2005, 733; Welser, Krejcis Klimt Streit und das Erbrecht- eine Erwiderung ÖJZ 2005, 817; Krejci, Zum Diskussionsstand im Klimt-Streit, VersRdSch 2005, 293.

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Aufeinander Zugehen durchaus erwidern wollte, ja sie hat da und dort selbst erste Schritte gesetzt, vielleicht aus einem immer noch gegebenen Rest von Verbundenheit zu Wien; leider haben es Österreich’s Vertreter offensichtlich nicht verstanden, sich dem Thema besser zu nähern. Der vorliegende Fall, so kann man dennoch durchaus finden, hat am Ende doch ein „richtiges“ Ergebnis gebracht. Unmittelbar nach der Restitution verkaufte, wie bekannt, Maria Altmann die Golden Lady an den Industriellen Ronald Lauder, der sie nun in seiner öffentlich zugänglichen Neuen Galerie in New York ausstellt. Adele ist damit den vielen vertriebenen jüdischen Mitbürgern Österreichs in die USA gefolgt, sie ist in einem prominenten Museum geehrt und öffentlich zugänglich. Gustav Klimts Wunsch nach prominentem Zur-Schau-stellen seines Meisterwerkes28 ist – wenn auch, den Umständen geschuldet, an anderem Orte – Rechnung getragen. Und hätten Adele und Ferdinand 1925 geahnt, was kommen würde, wer weiß, wohin es Adele Bloch-Bauer I verschlagen hätte? Denn immerhin: das Ausfuhrverbotsgesetz von 1918 griff vor dem Zweiten Weltkrieg für die Golden Lady noch nicht – Klimt starb am 6.2.1918 und die Ausfuhr eines Kunstwerkes binnen 20 Jahren nach dem Tod des Künstlers war vom Ausfuhrverbotsgesetz nicht erfasst29. Kurzum: was nach 1945 nicht mehr ohne weiteres möglich war, 1925 hätte Adele Bloch-Bauer I noch reisen können. Ob die Neue Galerie in New York (ein prächtiges Bürgerhaus) oder das Belvedere in Wien (der Palast des Prinzen Eugen): Museen und die darin zur Schau gestellte Kunst dienten zu allen Zeiten der Machtdemonstration, damals, wie heute. Dass Adele nun also ihr Heim an der Fifth Avenue statt an der Prinz-Eugen-Straße gefunden hat, ist – wie überhaupt dieses Verfahren – wohl nichts anderes als ein Zeichen der Zeit.

28 Dessen zeitloser Reiz vielleicht gerade darin liegt, dass Adele als vom Reichtum beinahe erdrückt dargestellt ist. 29 Siehe § 3 AusfuhrverbotsG.

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Überlegungen für eine wirksamere aktienrechtliche Organhaftung Julia Redenius-Hövermann / Christian Strenger

Inhaltsübersicht I. Anlass II. Die materiell-rechtlichen Haftungsvoraussetzungen 1. Grundlagen der aktienrechtlichen Organhaftung 2. Aktienrechtlich festgeschriebene Legal Judgement Rule? 3. Fahrlässigkeit und Vorsatz als Verschuldensmaßstab III. Der Vorschlag: bessere Verhaltenssteuerung durch Haftungshöchstgrenzen 1. Ausgestaltung verhaltenssteuernder Haftungshöchstgrenzen

2. Haftungshöchstgrenzen und D&OVersicherung IV. Zur Frage der Haftungsdurchsetzung 1. Reformnotwendigkeit betreffend die Geltendmachung der Haftungsansprüche a) Geltendmachung durch Vorstand und Aufsichtsrat b) Geltendmachung durch Aktionäre 2. Reformbedarf betreffend die Verjährungsfrist und den nachträglichen Ausschluss der Haftung V. Fazit

I. Anlass Wirtschaftskrisen und Skandale lassen stets auch den Ruf nach schärferen Haftungsregeln der Organmitglieder ertönen. So zuletzt bei dem Fall Wirecard, bei dem ein Governanceversagen allerdings durch hohe kriminelle Energie nahezu aller zuständigen Personen und öffentlichen Stellen möglich wurde.1 Auch die im Fall mangelhafter Dieselgate-Kapitalmarktkommunikation von VW-Vorständen zu Lasten der Aktionäre gefundenen Ablass-Regelungen2 werfen die Frage auf, ob das aktienrechtliche

1 Dazu Prof. Christian Strenger, Eine schmerzhafte Lektion: Die Lehren aus dem Fall Wirecard, Handelsblatt vom 18.12.2020, abrufbar unter: https://www.handelsblatt.com/politik/ deutschland/wirtschaftskrimi-des-jahres-eine-schmerzhafte-lektion-die-lehren-aus-dem-fallwirecard/26716394.html?ticket=ST-11040-dmgVnQEzQaUfolsJRiLJ-ap6, zuletzt abgerufen am 14.6.2021. 2 Stellungnahme des LG Braunschweig vom 20.5.2020, abrufbar unter: https://landgerichtbraunschweig.niedersachsen.de/aktuelles/verdacht-der-marktmanipulation-strafverfahren-ge gen-potsch-und-dr-diess-im-zwischenverfahren-eingestellt-188552.html, zuletzt abgerufen am 14.6.2021 sowie Julia Redenius-Hövermann und Christian Strenger, Organhaftung: Eine „stumpfe Waffe“ auch im Falle VW?, BZ vom 11.6.2021, abrufbar unter: https://www.boer sen-zeitung.de/unternehmen-branchen/organhaftung-eine-stumpfe-waffe-auch-im-fallevw-140f0512-ca04-11eb-acaa-66fcf86d8c5c; sowie Stellungnahme der VW-Verwaltung vom 14.6.2021 zu den für die HV am 22.7.2021 vorgeschlagenen (Top 10) Vergleichsvereinbarungen mit den Herren Winterkorn und Stadler sowie die Gegenanträge des Aktionärs

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Organhaftungsregime für Vorstand und Aufsichtsrat einer Reform unterzogen werden muss, um tatsächlich eine verhaltenssteuernde Wirkung zu erreichen.3 Eine reine Verschärfung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Vorstandshaftung ginge an dem tatsächlichen Problem vorbei. In beiden Fällen hat die Präventivwirkung der Organhaftung für den Vorstand, aber auch den Aufsichtsrat versagt. Zur besseren Sicherstellung der verhaltenssteuernden Wirkung wird nachfolgend keine Verschärfung, sondern eine veränderte Organhaftung durch eine Haftungshöchstgrenze bei fahrlässigem Verhalten vorgeschlagen.4 Auch soll die Verkürzung der Verjährungs-, Vergleichs- und Verzichtsfristen geprüft werden. Schließlich soll über eine stärkere praktische Relevanz der Geltendmachung der Haftungsansprüche befunden werden, um den bisher festzustellenden Ausnahmecharakter der Geltendmachung von Ansprüchen durch neue gegen frühere Organmitglieder oder vom Insolvenzverwalter zu illustrieren.5 Das Thema Organhaftung beschäftigt den Jubilar seit langem sowohl in seiner anwaltlichen Praxis als auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit, der die nachfolgenden Überlegungen zur aktienrechtlichen Organ-Innenhaftung als anregende Denkanstöße dienen sollen.

II. Die materiell-rechtlichen Haftungsvoraussetzungen 1. Grundlagen der aktienrechtlichen Organhaftung Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Organhaftung gegenüber der Gesellschaft sind in §§ 93, 116 AktG normiert.6 Vorstand und Aufsichtsrat haften demnach bereits bei einfacher fahrlässiger Verletzung ihrer Sorgfalts- und Treuepflichten. Für unternehmerische, also nicht rechtlich gebundene Entscheidungen, gewährt die Business Judgement Rule gem. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG einen sog. sicheren Hafen, wenn das Organmitglied „vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage ange-

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Strenger, abrufbar unter: https://www.volkswagenag.com/de/InvestorRelations/annual-gener al-meeting.html. Bayer, NJW 2014, 2546, 2547; Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 928, die sich für Abschied vom Kompensationsgedanken de lege ferenda aussprechen. Redenius-Hövermann, Verhalten im Unternehmensrecht, 2019, S. 264, wonach eine Haftungshöchstgrenze die verhaltenssteuernde Wirkung stärken würde. Vgl. Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E14, wonach häufigster Kläger in Innenhaftungsfällen der Insolvenzverwalter ist. Ausführlich zu den materiell-rechtlichen Voraussetzungen statt aller Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 15.1.2020, § 93 AktG Rz. 211 ff.; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 162 ff.; Koch in Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 36 ff. (Vorstandshaftung); Spindler in BeckOGK AktG, Stand 15.1.2020, § 116 AktG Rz. 131 ff.; Koch in Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 116 AktG Rz. 13 ff. (Aufsichtsratshaftung).

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messener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“.7 Damit wollte der Gesetzgeber sicherstellen, dass generell wünschenswerte unternehmerische Entscheidungen nicht unter dem Damoklesschwert des Haftungsrisikos stehen, selbst wenn sie sich im Nachgang als verlustträchtig erwiesen. Zwar soll die Business Judgement Rule dem gerade bei längerer Verfahrensdauer zu beobachtenden Hindsight Bias,8 der Richter begegnen. Die bisherige Rechtsprechung zeigt allerdings, dass trotz Bejahung der Business Judgement Rule oftmals doch die weiteren Haftungsvoraussetzungen – ergo Schaden, Verschulden und Kausalität – geprüft werden. 2. Aktienrechtlich festgeschriebene Legal Judgement Rule? Immer wieder aktuell diskutiert wird auch die gesetzliche Festschreibung einer Legal Judgement Rule. Sollten also Organmitglieder für rechtlich gebundene Entscheidungen, insbesondere Treuepflichten, Informationspflichten und sonstige allgemeine Gesetzes- und Satzungsverstöße, in den Genuss eines Haftungsprivilegs kommen?9 Ein Teil der Literatur plädiert mit Verweis auf die ISION-Rechtsprechung10 für deren Einführung, indem die Business Judgement Rule so erweitert wird, dass in § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG das Wort „unternehmerische“ gestrichen und auf die „Entscheidung“ reduziert wird.11 Dabei übersieht dieser Teil der Literatur aber, dass die Legal Judgement Rule gerade nicht im Ermessen, sondern beim Verschulden zu verorten ist.12 So kann eine durch fehlerhafte Rechtseinschätzung entstandene Entscheidung des Vorstands als pflichtwidrig seitens des Gerichts gewertet werden. Allerdings ist der fehlerhaften Rechtseinschätzung auf der Verschuldensebene nach h.L. Rechnung zu tragen. Von einer aktienrechtlichen Festschreibung der Legal Judgement Rule ist daher insgesamt abzusehen.13

7 Ausführlich zur Business Judgement Rule statt aller Fleischer, ZIP 2004, 685 ff.; Fleischer in FS Wiedemann, 2002, S. 827; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 43 ff.; grundsätzlich Baums, Gutachten zum 63. Deutschen Juristentag, 2000, F239 ff. 8 Ausführlich zum Hindsight Bias statt aller Fleischer, ZGR 2001, 1, 24; Fleischer in FS Wiedemann, 2002, S. 827, 830 ff.; Fleischer in FS Immenga, 2004, S. 575, 579 f.; Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 48; Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 232. 9 Zur Legal Judgement Rule statt aller Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 15.1.2020, § 93 AktG Rz. 14; Buck-Heeb, BB 2013, 2247. 10 Hierzu Fleischer, ZIP 2009, 1397. 11 Bürkle, VersR 2013, 792, 793 ff.; Krauel/Winter, VersR 2013, 555, 557. 12 Redenius-Hövermann/Laufersweiler, Brauchen wir eine Legal Judgement Rule?, Compliance kommentiert, abrufbar unter https://www.bvdcm.de/compliance-kommentiert/brau chen-wir-eine-legal-judgement-rule, zuletzt abgerufen am 14.6.2021. 13 Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 15.1.2020, § 93 AktG Rz. 42; Schneider, Referat zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, N58; Buck-Heeb, BB 2013, 2247, 2257; so im Ergebnis auch Redenius-Hövermann/Laufersweiler, Brauchen wir eine Legal Judgement Rule?, Compliance kommentiert, abrufbar unter https://www.bvdcm.de/compliance-kommen tiert/brauchen-wir-eine-legal-judgement-rule, zuletzt abgerufen am 14.6.2021.

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3. Fahrlässigkeit und Vorsatz als Verschuldensmaßstab In der Literatur wurde kontrovers diskutiert, ob der Verschuldensmaßstab aktienrechtlich auf grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz zu begrenzen sei.14 Im Ergebnis ist der h.L.15 zu folgen, die die Absenkung auf grobe Fahrlässigkeit ablehnt, da eine derartige Haftungsprivilegierung nur bei unentgeltlichem, ehrenamtlichem und selbstlosem Tätigwerden oder Teilhabern von Personengesellschaften gewährt werden und darüber hinaus nicht über die arbeitsrechtlichen Vorschriften hinausgehen kann.16 Nicht zu folgen ist dem von Bachmann in seinem Juristentagsgutachten unterbreiteten Vorschlag, den Verschuldensmaßstab auf grobe Fahrlässigkeit in der Satzung reduzieren zu können.17 Es sollte nicht den Aktionären überlassen werden, ob sie eine solche Haftungsprivilegierung einräumen möchten. Gerade bei in Deutschland häufigen Gesellschaften mit Großaktionärsbesitz könnte dies für die Minderheitsaktionäre zu einer Benachteiligung führen, wenn Großaktionäre einen geringeren Verschuldensmaßstab für Mitglieder der Verwaltung (insbesondere für ihre Vertreter im Aufsichtsrat oder Vorstand) für opportun halten. Ohnehin ist die Notwendigkeit einer Absenkung des Maßstabs der Haftung generell zu hinterfragen. Würde nämlich die Haftungshöhe erheblich herabgesetzt, ist die Haftung auch für leicht fahrlässige Pflichtverletzungen keine unvertretbare Härte mehr. Eine Haftungshöchstgrenze ist vor allem sinnvoll, wenn diese zu einer wirklich konsequenten Verfolgung von Schadensersatzansprüchen und der damit verbundenen Verhaltenssteuerung führt. Wenn aber der Verschuldensmaßstab herabgesetzt würde, könnten Aufsichtsräte sich darauf berufen, dass die Pflichtverletzung nur leicht fahrlässig begangen wurde und ein Anspruch folglich nicht bestehe.18 Das Ziel der konsequenten Verfolgung würde daher durch eine derartige Anpassung konterkariert.

14 Semler in FS Goette, 2011, S. 499, 510; Hoffmann, NJW 2012, 1393, 1397 f.; Lücke, NJWaktuell 35/2010, 11, 12, die sich für eine solche Begrenzung auf grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz aussprechen. 15 Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E29 f.; Baums, Gutachten zum 63. Deutschen Juristentag, 2000, F234; Fleischer, WM 2005, 909, 914; Habersack, ZHR 177 (2013), 782, 803. 16 Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E30 mit Verweis auf die §§ 31a, 521, 599, 680, 690, 108 BGB. Der Gesetzgeber hat diese Wertung in jüngerer Vergangenheit durch die Absenkung des Haftungsmaßstabs bei nicht oder gering vergüteten Tätigkeiten im Rahmen des Ehrenamtsstärkungsgesetz bestätigt, BGBl. I 2013, 556. 17 Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E58 ff. mit Verweis auf die Rechtsvergleichung. Der Vorschlag wurde mit großer Mehrheit angenommen, Beschlüsse zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, N62. 18 Dies gilt insbesondere dann, wenn man mit Wagner davon ausgeht, dass Aufsichtsräte angesichts einer befürchteten Mitverantwortung für den anspruchsgegenständlichen Schaden grundsätzlich nicht geneigt sind, Schadensersatzansprüche geltend zu machen, Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 246; ähnlich: Baums, Gutachten zum 63. Deutschen Juristentag, 2000, F241.

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III. Der Vorschlag: bessere Verhaltenssteuerung durch Haftungshöchstgrenzen 1. Ausgestaltung verhaltenssteuernder Haftungshöchstgrenzen Unstreitig ist, dass das geltende Haftungsregime nur bedingt verhaltenssteuernd wirken kann,19 schon weil die unbegrenzte Haftungshöhe bei Pflichtverletzungen das Vermögen der Organmitglieder in der Regel um ein Vielfaches übersteigt.20 Die Schadensersatzhaftung kann dann nicht abschreckend wirken, da die Organmitglieder selten die Ressourcen haben, den Schadensersatz annähernd zu leisten.21 Auch steigt die Präventivwirkung grundsätzlich nicht linear mit der Haftungssumme an.22 Sinnvoll gesetzte Haftungshöchstgrenzen können daher bewirken, dass das Verhalten der Organmitglieder nicht in defensives Handeln durch Absicherungsstrategien verfällt.23 Nicht nur rhetorisch ist zu fragen, ob der Sinn der Organhaftung darin bestehen soll, einen häufig nicht einziehbaren Gesamtschaden zu kompensieren24 oder das Organmitglied in sinnvollem Ausmaß für sein pflichtwidriges Handeln zu sanktionieren. Auch sind Haftungshöchstgrenzen im Unternehmensrecht kein Novum und der Grundsatz der Totalreparation nicht unantastbar.25 Ökonomische Untersuchungen haben gezeigt, dass durch eine Haftungsbegrenzung im Ergebnis positive Auswirkungen auf die Markteffizienz zu erwarten sind.26 Zwar könnte eine absolute Deckelung die haftungsrechtlichen Wirkung für einzelne Personen absenken. Die Vorteile einer Haftung mit variabler Obergrenze bestehen insbesondere im verminderten Anreiz zu

19 Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 245 f.; Poelzig, NZG 2020, 41, 49 spricht von Lücken der verhaltenssteuernden Wirkung; siehe zur Verhaltenssteuerung statt aller Tröger, ZHR 179 (2015), 453, 459; Bayer, NJW 2014, 2546, 2547. 20 Bayer, NJW 2014, 2546, 2547; Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 926; Redenius-Hövermann, Verhalten im Unternehmensrecht, S. 264; Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 236. 21 Redenius-Hövermann, Verhalten im Unternehmensrecht, 2019, S. 264 m.w.N. insbesondere zur deterrence theory. 22 Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1310; Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 281. 23 Schadensersatzansprüche mit Haftungshöchstgrenzen sind von den auf die Rückforderung variabler Vergütung beschränkten Clawback-Klauseln abzugrenzen, siehe hierzu RedeniusHövermann/Siemens, ZIP 2020, 145. Gegenüber gesetzlichen Schadensersatzansprüchen haben diese vertraglich vereinbarten Regelungen den Vorteil, dass die Privatautonomie die Anpassung der Voraussetzungen für den jeweiligen Vertrag erlaubt. In Anbetracht der Tatsache, dass die Verhaltenssteuerung in den Mittelpunkt der Haftungsdiskussion gerückt werden muss, zeigt sich an dieser Stelle der Wert von Compliance-Clawbacks, da diese lediglich an die Pflichtverletzung anknüpfen und nicht an das für die Verhaltenssteuerung irrelevante Eintreten eines Schadens kann diese die Präventionswirkung weiter verstärken. Dennoch ist festzuhalten, dass der Compliance-Clawback bei konsequenter Verfolgung von Schadensersatzansprüchen durch die Aufsichtsräte weitestgehend irrelevant würde. 24 „Die persönliche Haftung des Vorstands ist für die Schadenskompensation schon heute praktisch kaum relevant“, Bayer/Scholz, NZG 2014, NZG 926, 928. 25 So sieht § 323 Abs. 2 HGB eine Haftungsbegrenzung der Abschlussprüfer vor, Ebke in MünchKomm. HGB, 4. Aufl. 2020, § 323 HGB Rz. 72 ff. 26 Sauer, Haftung für Falschinformation des Sekundärmarktes, 2004, S. 361.

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übervorsichtigen Prüfungshandlungen und der Einschätzung haftungsrisikoreicher Geschäfte.27 Da die verhaltenssteuernde Wirkung der aktienrechtlichen Organhaftung wichtiger als die restituierende Wirkung28 einzustufen ist, ist eine sinnvoll gestaltete variable Haftung mit einer Obergrenze für eine bessere aktienrechtliche Organhaftung zu befürworten. Abseits der Erwägungen des Unternehmensinteresses an wirksamer Organhaftung ist eine höhenmäßige Haftungsbegrenzung auch aus Gerechtigkeitserwägungen zu befürworten, da eine Haftung auf das Gesamtvermögen des Organmitgliedes zu stark unterschiedlichen, tatsächlich eintreibbaren Vermögensmassen führt.29 Warum sollte ein Organmitglied mit hoher Erbschaft um ein Vielfaches höher belastet sein als ein Organmitglied, dessen Vermögen im Wesentlichen aus den Vergütungseinkünften aus dem Mandat besteht?30 Wie sollte eine sinnvoll gestaltete Haftungshöchstgrenze der besseren Verhaltenssteuerung de lege ferenda ausgestaltet werden? Summenmäßig bestimmte Höchstgrenzen, (beispielsweise in Höhe von 2, 3 oder 5 Mio. Euro) sind abzulehnen, da diese die unterschiedlichen Vermögensverhältnisse der Organmitglieder nicht abbilden und dadurch zu einer Über- oder Unterabschreckung führen können.31 Auch sollte als Berechnungsgrundlage ausschließlich die Gesamtvergütung, die das Organmitglied von der Gesellschaft, auf die sich die Pflichtverletzung bezieht, erhält bzw. erhalten hat, dienen.32 Abzulehnen ist ebenfalls eine summenmäßig festgelegte, für alle Organmitglieder gleich hohe Höchstgrenze. Statt-

27 Sauer, Haftung für Falschinformation des Sekundärmarktes, 2004, S. 361 mit Verweis auf London Economics, Audit Liability, S. 40. 28 Bayer, NJW 2014, 2546, 2547; Bayer/Scholz, NZG 2014, 926, 928. 29 Redenius-Hövermann, La responsabilité des dirigeants dans les sociétés anonymes en droit français et droit allemand, 2010, S. 365; Redenius-Hövermann, Verhalten im Unternehmensrecht, 2019, S. 264 f. 30 Ähnlich bereits Hoffmann, NJW 2012, 1393, 1398. 31 Redenius-Hövermann, Verhalten im Unternehmensrecht, 2019, S. 264. So im Ergebnis auch Fleischer, ZIP 2014, 1305, 1310; Habersack, ZHR 177 (2013), 782, 803. 32 Siehe La responsabilité des dirigeants dans les sociétés anonymes en droit français et droit allemand, 2010, S. 365. Vgl. auch Abraham/Jeffries, J. Legal Stud. 18 (1989), 415, 418 ff.; Cooter, Al. L. Rev. 40 (1989), 1143, 1176 f.; Polinsky/Shavell, Harv. L. Rev. 111 (1998), 869, 910 ff.; Polinsky/Shavell in Bouckaert/De Geest, Encyclopedia of Law and Economics, 2000, S. 764, 775, die mit Blick auf die Abschreckungswirkung (deterrence) darlegen, dass der Schaden grundsätzlich keinen Zusammenhang mit dem Vermögen des Schädigers haben sollte. Fraglich ist, welche Vergütungsbestandteile einbezogen werden sollten. Ein Teil der Literatur stellt darauf ab, dass Aktienoptionen nicht miteinbezogen werden sollten, da deren genaue Höhe erst nach Ablauf der gesetzlichen Haltefrist festgestellt werden kann, Pregler, Der Selbstbehalt des Vorstands im Spannungsfeld des Aktien- und Versicherungsrechts, 2012, S. 201; Thomas, Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, 2010, S. 220 ff.

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dessen sollte de lege ferenda aktienrechtlich insbesondere eine von der Mandatsdauer abhängige ansteigende Haftungshöchstgrenze festgesetzt werden.33 2. Haftungshöchstgrenzen und D&O-Versicherung D&O-Versicherungen begrenzen und gefährden dadurch die verhaltenssteuernde Wirkung. Eine empirische Untersuchung bestätigt einen signifikanten Zusammenhang zwischen finanzieller Beteiligung und Schadensrückgang.34 Nur wenn das Organmitglied seine tatsächliche Haftung und die für ihn resultierenden persönlichen Folgen kennt, wird es nicht leichtfertig übermäßige Risiken in Kauf nehmen. Der ausreichend hohe Selbstbehalt muss also die durch die D&O-Versicherung eingeschränkte Lenkungswirkung sichern.35 Dies ist sowohl im Interesse der Gesellschaft aber auch der Aktionäre und anderer Stakeholder, da sie von sorgfältigen Entscheidungen der Organmitglieder abhängen.36 In diesem Sinne muss sich ein angemessener Selbstbehalt an dem Ziel der Schadensausgleichung messen lassen.37 Für die verhaltenssteuernde Wirkung der Schadensersatzhaftung verbietet sich folglich ein Pauschalbetrag angesichts stark differierender Organvergütungen. Der angemessene Selbstbehalt sollte daher mindestens 50 %, eher aber 75 % der noch zu bestimmenden Haftungshöchstgrenze betragen.38

IV. Zur Frage der Haftungsdurchsetzung „Einen Aufsichtsrat haften zu lassen ist schwieriger, als eine Sau am eingeseiften Schwanz festzuhalten“. Dieser flapsig anmutende Satz von Hermann Josef Abs fasst die De33 Siehe hierzu das von Redenius-Hövermann, La responsabilité des dirigeants dans les sociétés anonymes en droit français et droit allemand, 2010, S. 365 ff., bereits 2010 vorgeschlagene Modell, das als Diskussionsgrundlage dienen sollte. 34 Kötz/Schäfer, AcP 1989, 501, 525. 35 Baums, Bericht Regierungskommission Corporate Governance, Rz. 75. 36 Pammler, Die gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung im Spannungsfeld des Aktienrechts, 2006, S. 79. 37 Pammler, Die gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung im Spannungsfeld des Aktienrechts, 2006, S. 88. 38 Zum Selbstbehalt in § 93 Abs. 2 Satz 3 AktG statt aller Hoffmann-Becking in Hoffmann-Becking, Handbuch AG, 5. Aufl. 2020, § 26 Rz. 71. In der Praxis variieren die Selbstbehalte bei der D&O-Versicherungen zwischen 25 % und 50 % der Gesamt- oder Jahresfestvergütung, Thomas, Die Haftungsfreistellung von Organmitgliedern, 2010, S. 226 f. Pammler, Die gesellschaftsfinanzierte D&O-Versicherung im Spannungsfeld des Aktienrechts, 2006, S. 92 ff., fordert sogar einen Selbstbehalt von 100 % der Jahresfixvergütung. Siehe auch Dreher/Thomas, ZGR 2009, 31, 34, wonach der Selbstbehalt in der Weise ausgestaltet werden muss, dass er geeignet ist, das Verhalten des Organmitglieds zu steuern, jedoch keine genauen Werte vorgegeben werden sollen; Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 272 ff., der einen unversicherbaren Selbstbehalt aufgrund der Verhaltenssteuerung fordert, gleichzeitig aber die Haftungsbegrenzung befürwortet; a.A. Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E39 f.; Habersack, ZHR 177 (2013), 782, 800 f.

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batte um die Geltendmachung der Organhaftung bis auf einige Ausnahmen über Jahrzehnte prägnant zusammen. Bis heute bleibt die Geltendmachung von Haftungsansprüchen keine Selbstverständlichkeit und ist häufig noch mit einem Stigma behaftet. Dabei ist unbestritten, dass nur eine relevante Geltendmachung den materiellrechtlichen Voraussetzungen zu einer verhaltenssteuernden Wirkung verhilft.39 Mit der prozessualen Geltendmachung der Haftungsansprüche eng verbunden ist die Frage der Verjährung und des nachträglichen Ausschlusses der Haftung durch Vergleich und Verzicht. Nachfolgend werden daher auch Reformgedanken zur Haftungsdurchsetzung angesprochen. 1. Reformnotwendigkeit betreffend die Geltendmachung der Haftungsansprüche a) Geltendmachung durch Vorstand und Aufsichtsrat Liegen die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der §§ 93, 116 AktG vor, hat der Vorstand bzw. der Aufsichtsrat den Schadensersatzanspruch gegen das andere Organ grundsätzlich geltend zu machen. Aktienrechtlich ist die Geltendmachung in §§ 76, 112 AktG festgeschrieben und durch die viel diskutierte ARAG/GarmenbeckRechtsprechung40 klar festgestellt. Auch hat der BGH betont, dass sich der Aufsichtsrat – ergo der Vorstand – bei Unterlassen einer solchen Inanspruchnahme selbst schadensersatzpflichtig macht. Weiterhin wurde festgestellt, wenn der Aufsichtsrat zu dem Ergebnis gelangt, dass sich der Vorstand schadensersatzpflichtig gemacht hat, aufgrund einer sachgerecht durchzuführenden Risikoanalyse abzuschätzen hat, ob und in welchem Umfang die gerichtliche Geltendmachung zu einem Ausgleich des entstandenen Schadens führt. Kommt der Aufsichtsrat dann zu dem Ergebnis, dass durchsetzbare Schadensersatzansprüche bestehen, hat er nach der genannten BGHEntscheidung diese Ansprüche grundsätzlich zu verfolgen. Hiervon kann er ausschließlich absehen, wenn gewichtige Gründe des Gesellschaftswohls gegen eine Verfolgung sprechen. Tatsächlich zeigen die zu scharfen Haftungsregelungen aber eine andere Praxis. Angesichts einer existenzvernichtenden Haftung wird Aufsichtsräten in der juristischen Literatur eine „maßvolle Verfolgung“41 angeraten, die jedoch die Präventivwirkung erheblich reduziert. Eine unbeschränkte Haftung steht also dem verhaltenssteuernden Haftungszweck klar entgegen. Auch unabhängig von der Haftungshöhe zeigen sich Probleme bei der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Schon aufgrund seines Anstellungsverhältnisses dürfte ein Vorstand selten einen Schadensersatzanspruch gegen seinen aktuellen Aufsichtsrat geltend machen.42 Der Gesetzgeber sollte bei einer Reform auch verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse, wie z.B. das Gruppenverhalten, berücksichti39 40 41 42

Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 246. BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244 ff. Koch in Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 148 AktG Rz. 3. Lutter in FS Hoffmann-Becking, 2013, S. 747, 753 f., der von einer „lettre morte“; Redenius-Hövermann/Siemens, ZIP 2020, 1585, 1587.

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gen.43 So kann das oft zu beobachtende Gruppenverhalten im Aufsichtsrat durch unabhängige Mitglieder eingegrenzt werden.44 Untersuchungen belegen, dass homogen zusammengesetzte Gruppen eher eine starke Kohäsion entwickeln als heterogen zusammengesetzte.45 Die ARAG-Garmenbeck-Grundsätze sollten also nochmals konkretisiert werden, damit die Ausnahmen tatsächlich Ausnahmen bleiben.46 Auch sollten die Gremien verstehen lernen, dass eine Schadensverfolgung den Ausgleich eines zivilrechtlichen Anspruchs bedeutet, aber nicht ein Schwerverbrechen des in Anspruch genommenen Organmitgliedes ist. b) Geltendmachung durch Aktionäre Die von renommierter Stelle47 befürwortete Aktionärsklage gem. § 148 AktG48 zeigt bisher praktisch keine Relevanz, wie eine empirische Datenerhebung jüngst gezeigt hat.49 Sie kann in dieser Form nicht als Instrument guter Corporate Governance gelten. Auch die mittelbaren Einflüsse der Gesetzesänderungen durch ARUG II haben hieran nichts geändert.50 Im Rahmen einer Reform des § 148 AktG ist daher insbesondere über einen einfacheren Informationszugang und Beweisregelungen sowie über die Rolle des Sonderprüfers nachzudenken.51 Das Sonderprüfungsverfahren zum Erhalt substantieller Informationen52 sollte deshalb mit Blick auf die Beweislastregeln im Klagezulassungsverfahren vor dessen Erhebung eingeleitet werden. Beide Verfahren hintereinander schalten zu müssen, wie gegenwärtig erforderlich, ist unnötig kompliziert, kosten- und zeitaufwendig.53

43 Zur zweistufigen Rezeption der verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse im Unternehmensrecht Redenius-Hövermann, Verhalten im Unternehmensrecht, 2019, S. 288 ff. 44 O’Reilly/Main/Crystal, Ad. Sc. Quart. 33 (1988), 257 ff.; a.A. Mangel/Singh, Account. & Bus. Res. 23 (1993), 339 ff. 45 Whyte, Men at Work, 1961, S. 540 ff.; siehe auch Steinmann/Schreyögg, Management, 2005, S. 603 ff. 46 Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E81; Redenius-Hövermann, Verhalten im Unternehmensrecht, S. 266; Strenger/Redenius-Hövermann in FS Böcking, 2021 (im Erscheinen); Habersack, ZHR 177 (2013), 782, 786. 47 Lutter in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 763 ff.; Peltzer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 953 ff. 48 Ausführlich zu den Voraussetzungen des § 148 AktG statt aller Spindler in K. Schmidt/ Lutter, 4. Aufl. 2020, § 148 AktG Rz. 7 ff. 49 Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 353 ff. 50 Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 362 f. 51 Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 365 f. 52 Zu den wesentlichen Unterschieden zwischen Aktionärsklage und Sonderprüfungsverfahren, siehe Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 357 f., wonach sich das Zulassungsverfahren des Sonderprüfers nach den Vorschriften des FamFG (vgl. § 142 Abs. 8 AktG) richtet, so dass die Beweislast geringer ist und das Klagezulassungsverfahren zusätzlich den Nachweis über Verdachtstatsachen für einen Schaden fordert. 53 Siehe auch Bachmann, Stellungnahme zum Antrag BT-Drucks. 19/8233, S. 7.

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Daraus folgt, dass eine hybride Form von Aktionärsklage und Sonderprüfung angezeigt ist, die die Vorteile beider Verfahren verbindet, und die die Praxistauglichkeit gefährdenden Nachteile vermeidet.54 Zielführend wäre das Verfahren so auszugestalten, dass Aktionäre einen Antrag bei Gericht auf Bestellung eines Sonderprüfers stellen können, der das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale eines Schadensersatzanspruchs prüft. Das hätte den entscheidenden Vorteil des Vermeidens der in der Praxis häufig schwierigen Nachweispflicht des Klägers bei der Aktionärsklage gem. § 148 AktG. Das die Aktionärsklage bisher abschreckende hohe Kostenrisiko wäre analog der Sonderprüfung nach § 142 AktG von der Gesellschaft zu tragen. Zur Sicherstellung der Verhaltenssteuerungswirkung darf die Verfahrenslänge nicht wie in anderen gesellschaftsrechtlichen Verfahren, etwa von Spruchverfahren, ausufern.55 Anderenfalls können betroffene Organmitglieder bereits ausgeschieden sein oder die in Rede stehende Pflichtverletzung liegt bereits derart lang zurück, dass die Verbindung von Verhalten und Wirkung des Schadensersatzanspruchs verloren ginge. Aus diesem Grund sollten nach Vorbild des Schiedsverfahrensrechts gem. § 1059 ZPO die Rechtsbehelfe gegen ein Gutachten eines Sonderprüfers restriktiv ausgestaltet und auf objektive Fehler beschränkt werden. Ein positives Votum im Prüfungsbericht des Sonderprüfers würde einen durchsetzbaren Anspruch der Gesellschaft gegen das betroffene Organmitglied begründen. Diese neue Art des Sonderprüfungsverfahrens würde der Geltendmachung praktische Relevanz verleihen und ein Gegengewicht zu einer absoluten Haftungshöchstgrenze bilden. Die beiden Gegenpole führten im Ergebnis zu einem verhaltenssteuernden, ausgewogenen Haftungssystem. Gleichwohl bliebe angesichts des vorgeschlagenen Quorums von nom. 500.000 Euro sogar ein Anwendungsbereich für die Aktionärsklage nach § 148 AktG. Werden damit ausreichende Anreize für die klagenden Aktionäre geschaffen, um die Geltendmachung der Haftungsansprüche gegen Organmitglieder attraktiv genug zu machen? Die rechtliche Durchsetzbarkeit ist gegeben56. Es muss aber gewährleistet werden, dass ein finanzieller Anreiz nicht zu einer „Renaissance der Berufskläger“57 führt.58 Ein Schutzmechanismus gegen Berufskläger besteht im Klagezulassungsverfahren. Auch sollte nicht von finanziellem Anreiz, sondern eher von Aufwandsentschädigung gesprochen werden, denn der für die Gesellschaft klagende Aktionär soll nur für sei54 Ebenfalls für eine Verbindung von Sonderprüfungs- und Klagezulassungsverfahren Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E92 wobei er jedoch nicht ein Sonderprüferverfahren nach § 142 Abs. 2 AktG in Erwägung zieht, sondern die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung betrauen will; so auch Peltzer in FS Uwe H. Schneider, 2011, S. 953, 965 f. Siehe auch Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 366. 55 Ausführlich zur notwendigen Verkürzung des Spruchverfahrens: Noack, ZRP 2015, 81 ff.; Loosen, Reformbedarf im Spruchverfahren, S. 219 ff. 56 Schmolke, ZGR 2011, 389, 436 f., wonach eine sog. Fangprämie mit den Kapitalerhaltungsvorschriften in Einklang gebracht werden kann. 57 Pütz, Stellungnahme zum Antrag BT-Drucks. 19/8233, S. 5; Pütz, BOARD 2020, 60, 62. 58 Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 365; kritisch zu Fangprämien Tröger, ZHR 149 (2015), 453, 467 ff.

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nen Aufwand entschädigt werden. Die Aufwandsentschädigung sollte daher an die Höhe des tatsächlich bezahlten Schadenersatzes oder an die Prozesskosten der Aktionäre anknüpfen.59 2. Reformbedarf betreffend die Verjährungsfrist und den nachträglichen Ausschluss der Haftung Die Praxis zeigt, dass die Organmitglieder für den durch ihre Pflichtverletzung entstandenen Schaden oft nur in geringem Umfang einstehen müssen. Häufig ist die einzige Konsequenz bei offensichtlichen Pflichtverletzungen nur der Rücktritt oder die Abberufung. In einem ausgewogenen Haftungssystem kann dies aber nicht als Antwort genügen. Um der Organhaftung zu mehr praktischer Relevanz zu verhelfen, sind die Fragen der Verjährungsfrist und des nachträglichen Ausschlusses der Haftung von besonderer Bedeutung. Zu lange Verjährungsfristen und zu aufwendige Möglichkeiten eines nachträglichen Haftungsausschlusses wirken sich negativ auf die verhaltenssteuernde Wirkung der Haftung aus, da das Damoklesschwert einer möglichen Geltendmachung zu lange über den Organmitgliedern schwebt und durch deren Beweislast die Waffengleichheit mit der Zeit immer weiter auseinanderdriftet.60 Andererseits darf die Verjährungsfrist im Sinne einer ausgewogenen Balance nicht zu kurz und die Anforderungen an den nachträglichen Haftungsausschluss auch mit Blick auf das bereits angesprochene Gruppendenken nicht zu niedrig sein. Die im Rahmen des Restrukturierungsgesetzes61 eingeführte zehnjährige Verjährungsfrist für börsennotierte Aktiengesellschaften und Kreditinstitute, begründet mit der großflächigen Streuung der Beteiligungen, sowie einem gesteigerten Zeitbedürfnis zur Anspruchsgeltendmachung,62 wird auch von der h.M. kritisch gesehen.63 Zum einen erfuhr die Differenzierung nach Art der Gesellschaft – börsennotiert und nicht-börsennotiert – Kritik.64 Zum anderen wird eine Festsetzung auf 10 Jahre als zu lang empfunden und entspricht nicht der Vorstellung eines modernen, systemkon-

59 Dazu Wagner, ZHR 178 (2014), 227, 271; Redenius-Hövermann/Henkel, AG 2020, 349, 365. Siehe auch die Rechenbeispiele bei Gaschler, Das Klagezulassungsverfahren gem. § 148 AktG, 2017, S. 333 ff. 60 Die Beweislast obliegt gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG dem Organmitglied, das allerdings selten vollen Zugriff auf Unternehmensinformationen hat, da er nach seinem Ausscheiden alle Unterlagen zurückgeben muss; vgl. BGH v. 7.7.2008 – II ZR 71/07, NZG 2008, 834 („Metro“). Einer gesetzlichen Klarstellung dieses Zugriffs bedarf es nicht, vielleicht aber der Möglichkeit Kopien behalten zu dürfen, siehe dazu auch Rieger in FS Peltzer, 2001, S. 339, 352. Diskussionswürdig ist ebenfalls, ob es nicht einer Beweislastumkehr bedarf. Siehe zur Beweislast auch Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E32 ff. 61 BGBl. I 2010, 1900 ff. 62 Spindler in MünchKomm. AktG, 4. Aufl. 2019, § 93 AktG Rz. 321. 63 Ausführlich zur Verjährungsfrist statt aller Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 15.1.2020, § 93 AktG Rz. 355 ff. 64 Baums, ZHR 174 (2010), 593, 594 f.

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formen Haftungsregimes.65 Sie überzeugt weder im Grundsatz, noch in ihrer subjektiven Abgrenzung und führt in Kombination mit der Beweislastumkehr aus § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG zu einer übermäßigen Härte der Organhaftung.66 Verschiedene Lösungsansätze wurden angeführt, wie die Angleichung an die dreijährige bürgerlichrechtliche Verjährungsfrist gem. §§ 195, 199 BGB,67 die Beibehaltung einer kenntnisunabhängigen Verjährungsfrist von mittlerer Länge nach Anspruchsentstehung,68 und/oder die Einführung einer kürzeren, kenntnisunabhängigen Frist, die erst mit dem Ausscheiden des Organmitglieds beginnt.69 Zur Vermeidung eines zu komplizierten Verjährungssystems sollte es keine Differenzierung zwischen fahrlässigem und vorsätzlichem Verhalten geben. Auch die Differenzierung nach der Art der Gesellschaft ist aufzuheben. Gemäß den hier vorgebrachten Gedanken sollte die Geltendmachung künftig nicht erst bei Ausscheiden, sondern auch schon während der aktiven Mandatszeit durchgesetzt werden können. Im Sinne eines Mentalitätswechsels wäre eine dreijährige Verjährungsfrist ab Kenntnis (mit einer absoluten Verjährungsfrist von zehn Jahren) zu befürworten. Allerdings entspricht das Anknüpfen der Verjährungsfrist an das Ausscheiden des Organmitglieds entspricht eher den verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen in dem Sinne, dass eine Geltendmachung erst erfolgt, wenn das Organmitglied ausgeschieden ist und ist folglich im Ergebnis zu befürworten.70 Letzter Punkt betreffend die Geltendmachung der Haftungsansprüche ist deren nachträglicher Ausschluss. Sowohl der Verzicht als auch der Vergleich gem. § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG fallen unter diese Fragestellung. De lege lata stellen beide Instrumente hohe Hürden71 auf, – nämlich die dreijährige Sperrfrist, die Zustimmung der Hauptversammlung und das Minderheitenveto,72 die es im Sinne eines verhaltenssteuernden Haftungsmodells zu überdenken gilt. So befürwortet die ganz h.L. schon seit längerem die dreijährige Sperrfrist ersatzlos zu streichen, das Hauptversammlungsvotum und das Minderheitsveto dagegen beizubehalten.73 Diesem Vorschlag ist beizupflich65 Mit großer Mehrheit wurde 2014 beim Deutschen Juristentag die Abschaffung der zehnjährigen Verjährungsfrist beschlossen, Beschlüsse zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, N63. 66 Baums, ZHR 174 (2010), 593 ff.; Fleischer, AG 2014, 457, 467. 67 DAV Handelsrechtsausschuss, NZG 2010, 897 ff.; Koch in Hüffer/Koch, 14. Aufl. 2020, § 93 AktG Rz. 85 („wenn überhaupt“); Redeke, BB 2010, 910, 911 ff. 68 Fleischer, AG 2014, 457, 466 f. 69 Baums, ZHR 174 (2010), 593, 614. 70 Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E55 spricht von „Beißhemmung“. Baums, ZHR 174 (2010), 593, 611 ff. schlägt zudem vor, die Verjährung zu hemmen, solange das ausgeschiedene Vorstandsmitglied im Aufsichtsrat amtiert, d.h. die Verjährung wirklich erst beginnen zu lassen, wenn das Organmitglied das Unternehmen verlassen hat. Zudem sollte die Sonderprüfung die Verjährungsfrist hemmen, um die möglichen Ansprüche prüfen zu können. 71 Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E48. 72 Ausführlich statt aller Fleischer in BeckOGK AktG, Stand 15.1.2020, § 93 AktG Rz. 329 ff. 73 Bachmann, Gutachten zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, E49 ff.; Cahn, Vergleichsverbote im Gesellschaftsrecht, 1996, S. 143; Fleischer, WM 2005, 909, 918 f.; Hopt/Roth in

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ten, da die Abschaffung der Sperrfrist ermöglichen würde, Haftungssachverhalte schneller zu klären. Gleichwohl ist damit kein „Freibrief für die leichtfertige Preisgabe von Organhaftungsansprüche[n]“74 zu befürchten, da die Beibehaltung das Hauptversammlungsvotums und das Minderheitenvetorecht als Kontrollinstrumente fungieren dürften.

V. Fazit Statt einer Verschärfung des bisher wirkungsschwachen aktienrechtlichen Haftungsrechts sollten sachgerechte Reformüberlegungen für eine tatsächlich verhaltenssteuernde Haftung diskutiert werden. Die hier vorgestellten Wege erfüllen die Funktionen – Prävention und Kompensation der Haftung in angemessener, verhaltenssteuernder Weise. Insbesondere verhaltenswirksame, mit der Organtätigkeitsdauer verbundene Haftungshöchstgrenzen und eine Absenkung der Fristen betreffend Verjährung, Verzicht und Vergleich können eine solche verhaltenssteuernde Haftung bewirken. Allerdings wird ein verbessertes aktienrechtliches Haftungsregime nur dann verhaltenssteuernd wirken und guter Corporate Governance gerecht, wenn es auch tatsächlich durchgesetzt wird. Um dem bisher stumpfen Schwert der Geltendmachung der Ersatzansprüche entgegenzutreten, ist ein neues Sonderprüfungsverfahren angezeigt. Der Grundsatz der notwendigen Geltendmachung durch Vorstand und Aufsichtsrat wird dabei beibehalten. Da dies weniger rechtlich, sondern eher verhaltenswissenschaftlich begründet ist, bedarf es eines entsprechenden Mentalitätswechsels: die Geltendmachung eines Haftungsanspruchs sollte nicht mit dem Stigma der strafrechtlichen Verfehlung belastet sein, sondern nach der Verfolgung des aktienrechtlichen Anspruchs seine Erledigung finden. Nur einzelne Aspekte neu zu denken ist also nicht zielführend. Benötigt wird eine „allgemeine Reform der Organhaftung“75 betreffend den Vorstand als auch den Aufsichtsrat. Die Autoren sind zuversichtlich, dass sich der Jubilar mit Freude an diesen Reformüberlegungen beteiligen wird.

Großkomm. AktG, 5. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 505; Habersack, ZHR 177 (2013), 782, 804 f.; ders. in FS Baums, 2017, S. 531, 544 f.; Hopt, ZIP 2013, 1793, 1803 f.; Mertens/Cahn in KölnKomm. AktG, § 93 AktG Rz. 164. Mit großer Mehrheit wurde 2014 beim Deutschen Juristentag die Abschaffung der Sperrfrist ebenfalls befürwortet, Beschlüsse zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, N63. 74 Habersack in FS Baums, 2017, S. 531, 545. 75 Bachmann, Stellungnahme zu BT-Drucks. 19/8233, S. 12.

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Vorüberlegungen zu einem Gesetz über die Restrukturierung ausländischer Staatsschulden Daniel Reichert-Facilides

Die Forderung nach einem umfassenden Umschuldungssystem für Staatsschulden geht paradigmatisch auf eine Studie der damaligen stellvertretenden Generaldirektorin des Internationalen Währungsfonds, Anne O. Krueger, aus dem Jahr 2002 zurück.1 Die politischen Argumente für einen soliden und vorhersehbaren Rechtsrahmen für die Insolvenz von Staaten sind dabei im Wesentlichen dieselben wie für Unternehmen: Minimierung der Störung der Wirtschaftstätigkeit, Gleichbehandlung der Gläubiger und Verbesserung des Bewusstseins für das Ausfallrisiko. Andererseits bestehen zwischen staatlichen Schuldnern und Unternehmen rechtlich grundlegende Unterschiede: so sind ausländische Staatsschulden wegen des völkerrechtlichen Grundsatzes der Staatenimmunität zivilprozessual besonders schwer durchzusetzen. Gleichzeitig sind Staatsschulden unter Berücksichtigung der völkerrechtlichen Grundsätze der Staatsnachfolge mit Ausnahme der eng verstandenen Kategorie der odious debts praktisch unauslöschlich. Mit anderen Worten sind staatliche Schuldner nicht nur wirtschaftlich, sondern auch rechtlich too big to fail. Die Erkenntnis, dass systemrelevante Finanzinstitute zu groß sind, um scheitern zu dürfen, hat in den letzten Jahrzehnten bekanntlich zu einer Revolution der Insolvenzregelungen für Großbanken geführt. Obwohl diese Umstrukturierungs- und Abwicklungsgesetze von Land zu Land erheblich variieren, begünstigen sie im Allgemeinen einen angemessenen Schuldenabbau auf ein Niveau, das es der Bank ermöglicht, anstelle einer Liquidation ihren Geschäftsbetrieb fortzusetzen. Sowohl Großbanken als auch Staaten unterliegen damit vollstreckungsrechtlichen Beschränkungen, durch die dem öffentlichen Interesse an der Kontinuität des Schuldners Vorrang vor den Gläubigerinteressen eingeräumt wird. Dabei wird dieses Ziel jedoch auf sehr unterschiedliche Weise erreicht: Während Banken durch einen geordneten Prozess teilweise von ihrer Schuldenlast befreit werden, müssen Staaten ihre Auslandsschulden jahrzehntelang fortschreiben. Jedenfalls bis zum Ablauf der Verjährung2 bleibt der säumige Staat anfällig für Vollstreckungsversuche und ist vom regulären Zugang zu den internationalen Finanzmärkten praktisch ausgeschlossen. 1 Krueger, A New Approach to Sovereign Debt Restructuring, 2002; zur anschließenden Diskussion vgl. insbesondere Paulus (Hrsg.), A Debt Restructuring Mechanism for Sovereigns – Do we need a legal procedure?, 2014 und Lastra/Buchheit (Hrsg.), Sovereign Debt Management, 2014. 2 Diese greift grundsätzlich auch für Staatsschulden, vgl. etwa BGH v. 6.11.2018 – XI ZR 369/18, WM 2018, 2356; praktisch kommt der Verjährungseinrede wegen der Länge der Verjährungsfristen insbesondere für die Vollstreckungsverjährung und wegen des hohen Einigungsdrucks für die Verhandlungen über eine konsensuale Restrukturierung nur geringe Bedeutung zu.

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Daniel Reichert-Facilides

Als Auswege verbleiben nur ein Wirtschaftswunder oder eine wohlwollende Vergleichsregelung.3 In Ermangelung eines völkerrechtlichen Vertragsregimes für die Umstrukturierung von Staatsschulden hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren für Staatsanleihen international das System der collective action clauses etabliert, das ähnlich dem deutschen Schuldverschreibungsgesetz eine Anpassung der Anleihebedingungen durch Mehrheitsentscheid ermöglicht.4 Diese vertraglichen Regelungen lösen das Problem der obstruktiven Minderheitsgläubiger zwar für die jeweilige Gesamtemission. Die Koordinierung zwischen Gläubigern verschiedener Anleiheemissionen bleibt jedoch eine Herausforderung, weil emissionsübergreifende collective action clauses praktisch noch wenig erprobt sind.5 Darüber hinaus bieten collective action clauses keine Handhabe gegenüber den Gläubigern von bilateralen Darlehen, Handelsschulden und Schiedssprüchen aus Investitionsstreitigkeiten. Die politische Forderung nach einem umfassenden Umschuldungssystem für Staatsschulden ist deswegen ungebrochen.6 Ungeachtet dieser Forderungen und der Erfahrungen aus mehreren großen Staatsschuldenkrisen hat der Internationale Währungsfonds den Sovereign Debt Restructuring Mechanism oder alternative völkerrechtliche Lösungsansätze inzwischen praktisch von seiner Agenda gestrichen.7 Gleichzeitig betonen der Internationalen Währungsfonds und die Finanzminister der G20 weiterhin die politische und wirtschaftliche Notwendigkeit nachhaltiger und transparenter Schuldenrestrukturierungen unter Einbeziehung privater Gläubiger.8 Transparenz und die Beteiligung privater Gläubiger zu vergleichbaren Bedingungen werden sich bei realistischer Betrachtung ohne rechtliche Verankerung aber nicht durchsetzen lassen.

3 Im Falle des Abkommens über deutsche Auslandsschulden vom 27.2.1953 trafen beide Faktoren zusammen. 4 Die Vereinbarung von collective action clauses ist für die Teilnehmer am Europäischen Stabilitätsmechanismus ausdrücklich vorgeschrieben, vgl. Art. 12 Abs. 3 ESM-Vertrag. 5 Vgl. etwa die von der EZB empfohlenen vertraglichen Bestimmungen für emissionsübergreifende Mehrheitsentscheidungen in Staatsanleihen, https://europa.eu/efc/sites/default/ files/docs/pages/cac_-_text_model_cac.pdf. 6 Vgl. etwa UN-Resolution A/REs/69/319 und in Deutschland zuletzt den Entschließungsantrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen BT-Drucks. 19/20789 und die ablehnende Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung BT-Drucks. 19/23319. 7 Liu/Savastano/Zettelmeyer, The International Architecture for Resolving Sovereign Debt Involving Private-Sector Creditors-Recent Developments, Challenges, and Reform Options, IMF Policy Papers, 23 September 2020, https://www.imf.org/en/Publications/Policy-Pa pers/Issues/2020/09/30/The-International-Architecture-for-Resolving-Sovereign-Debt-Involv ing-Private-Sector-49796. 8 Georgieva/Pazarbasioglu/Weeks-Brown, Reform of the International Debt Architecture is Urgently Needed, IMFBlog 1 October 2020, https://blogs.imf.org/2020/10/01/reform-ofthe-international-debt-architecture-is-urgently-needed/ und Extraordinary G20 Finance Ministers and Central Bank Governors’ Meeting, November 13, 2020, Annex I: Common Framework for Debt Treatments beyond the DSSI.

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Vor diesem Hintergrund befasst sich der vorliegende Beitrag mit der Frage, wie die rechtliche Verbindlichkeit umfassender Restrukturierungen anstelle einer völkerrechtlichen Vertragslösung durch staatliche Gesetzgebung sichergestellt werden könnte.9 Um diesen Ansatz möglichst anschaulich zu entwickeln, wird dies im Folgenden anhand eines kommentierten Entwurfs für ein Gesetz über die Restrukturierung ausländischer Staatsanleihen ausdifferenziert. Im Anschluss an die bereits erwähnten Parallelen zwischen Bankenrestrukturierung und Staatsinsolvenz baut der Versuch auf dem Regelungsmodell des zum 28.12.2020 aufgehobenen Kreditinstitute-Reorganisationsgesetz auf, das im Anschluss an die Finanzkrise für Banken ein besonderes Restrukturierungsverfahren in Anlehnung an das Insolvenzplanverfahren vorsah.10 Im Übrigen liegt dem Vorschlag das Verständnis zugrunde, dass das Insolvenzrecht als Gesamtvollstreckungsrecht im Wesentlichen eine Einschränkung der Durchsetzungsmaßnahmen einzelner Gläubiger darstellt. Damit knüpft der Vorschlag zugleich an die nationalen Umsetzungsbestimmungen zur Restrukturierung der irakischen Staatsschulden11 und an die belgischen, französischen und englischen Anti-HedgeFonds-Gesetze an.12 International würden die Konzentration des Verfahrens in einem einheitlichen Forum und die Verbindlichkeit des Restrukturierungsplans durch gegenseitige Anerkennung nach dem Vorbild des UNCITRAL Modellgesetzes für grenzüberschreitende Insolvenzen ermöglicht werden.13 Die Rolle des IWF bei der Feststellung des Restrukturierungsbedarfs und der Ermittlung der zukünftigen Schuldendienstfähigkeit würden hierdurch nicht notwendig beeinträchtigt, wenngleich das derzeitige faktische Monopol rechtlich nicht festgeschrieben werden sollte. Gleiches gilt für die Funktion des IWF als Kreditgeber für Überbrückungsdarlehen, zumal 9 Für die praktischen Vorteile eines Rückgriffs auf die Regeln eines staatlichen Restrukturierungsverfahrens und die Sachkunde der staatlichen Insolvenzgerichte u.a. in Frankfurt vgl. bereits Bolton/Skeel, Inside the Black Box: How should a sovereign bankruptcy framework be structured, Emory Law Journal 53 (2004) 764, 812. 10 In der Sache war das 2011 in Kraft getretene Gesetz durch das Sanierungs- und Abwicklungsgesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/59/EU bereits seit längerem praktisch überholt. 11 Zur US-amerikanischen Umsetzungsregelung als mögliches Vorbild für eine zukünftige Restrukturierung der venezolanischen Staatsschulden Buchheit/Gulati, Sovereign Debt Restructuring and U.S. Executive Power, Capital Markets Law Journal 14 (2019) 114. 12 Für einen Überblick zu den dortigen Regelungen https://jubileedebt.org.uk/blog/francepasses-law-clip-vulture-funds-wings; zur materiellen Verfassungsmäßigkeit des belgischen Gesetzes vgl. Cour constitutionnelle v. 31.5.2018 – arrêt n° 61/2018, https://www.constcourt.be/public/f/2018/2018-061f.pdf. 13 Die Effizienz eines solchen Ansatzes steigt graduell mit jedem Staat, in dem ein konzeptionell vergleichbares Gesetz erlassen wird, wobei es vor allem auf die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zum Schuldnerstaat ankommt, Fitzherbert-Brockholes, Model law is the key to protecting ‚unprotected‘ government debt, Financial Times 7.12.2014. Bezeichnenderweise halten Buchheit/Gulati, Sovereign Debt Restructuring and U.S. Executive Power, Capital Markets Law Journal 14 (2019) 114 für die Restrukturierung der venezolanischen Staatsschulden Vollstreckungsschutz in den Vereinigten Staaten im Hinblick auf deren Dominanz als Absatzmarkt für die venezolanischen Ölexport für ausreichend.

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sich auf Grundlage eines verlässlichen Regelwerks typischerweise privates Kapital mobilisieren ließe. Da ein Restrukturierungsverfahren schon aus praktischen Gründen nur auf Veranlassung des ausländischen Staates in Betracht kommt, wäre mit der Aufsicht des inländischen Gerichtes schon nach den allgemeinen Regeln über die Staatenimmunität kein völkerrechtswidriger Eingriff in die Souveränität des Schuldnerstaates verbunden. Darüber hinaus könnte ein Insolvenzplanverfahren für das in Deutschland belegene nicht-hoheitliche Vermögen eines ausländischen Staates als Partikularverfahren nach §§ 354 ff. InsO streng genommen bereits nach derzeitiger Rechtslage durchgeführt werden.14 Da ein Insolvenzplan im Partikularverfahren gemäß § 355 Abs. 2 InsO nur mit Zustimmung aller Gläubiger bestätigt werden kann, bietet dieses Verfahren in seiner derzeitigen Ausgestaltung aber keinen effektiven Schutz gegen obstruktive Gläubiger. Eine minimalistische Lösung könnte demnach darin bestehen, die Regelungen der Insolvenzordnung zu Mehrheitsentscheidungen im Insolvenzplanverfahren für ausländische Staaten auch im Partikularinsolvenzverfahren für anwendbar zu erklären. Wie der hier vorgestellte Entwurf zeigt, wirft die Restrukturierung ausländischer Staatsschulden durch ein staatliches Verfahren neben der Notwendigkeit eines Vollstreckungsverbotes und der Anpassung durch Mehrheitsentscheid aber noch eine Reihe weiterer Fragen auf und sollte deswegen sinnvollerweise in einem besonderen Gesetz geregelt werden. Gesetz über die Restrukturierung ausländischer Staatsschulden Abschnitt 1 – Allgemeine Bestimmungen § 1 Grundsätze des Restrukturierungsverfahrens (1) Das Restrukturierungsverfahren für ausländische Staatsschulden dient der Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit ausländischer Staaten nach Maßgabe eines Restrukturierungsplans. Das Restrukturierungsverfahren setzt eine erhebliche Beeinträchtigung der Schuldendienstfähigkeit des Schuldnerstaates voraus. (2) Gegenstand des Restrukturierungsverfahrens sind alle Fremdwährungsverbindlichkeiten15 des ausländischen Staates einschließlich etwaiger Verbindlichkeiten aus 14 Mankowski in Jaeger, InsO, Bd. 9 (2020), Vor §§ 335–338 Rz. 148. 15 Die Beschränkung auf Fremdwährungsverbindlichkeiten dient der vereinfachten Abgrenzung von Ansprüchen gegenüber Gebietsfremden und Gebietsangehörigen: während der Schuldnerstaat ausländischen Gläubigern primär als Wirtschaftssubjekt gegenübersteht, betrifft die Binnenverschuldung grundlegende Aspekte der nationalen Wirtschaftspolitik. Als solche kann (und muss) die Binnenverschuldung unter Ausübung hoheitlicher Befugnisse (und unter Beachtung demokratischer Prozesse) restrukturiert werden. Auf der anderen Seite stellt die Anknüpfung an die Schuldwährung sicher, dass die (typischerweise wohlhabenden) inländischen Gläubiger einer in ausländischer Währung denominierten Anleihe gleich behandelt werden, wie ausländische Gläubiger, womit sich zugleich das Risiko von Arbitragegeschäften im Vorfeld einer Restrukturierung verringert.

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der Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen [und alle anderen Verbindlichkeiten des ausländischen Staates gegenüber Gebietsfremden]16. Als Verbindlichkeiten des ausländischen Staates gelten auch: 1. Verbindlichkeiten von Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, die dem Recht des ausländischen Staates unterliegen, danach aber nicht Gegenstand eines Insolvenzverfahrens sein können; und 2. bedingte Verbindlichkeiten des ausländischen Staates und der zu 1. bezeichneten Körperschaften und Anstalten mit Ausnahme von beiderseitig unvollständig erfüllten Austauschgeschäften hinsichtlich aller bei Einleitung des Verfahrens noch nicht erfüllten Verpflichtungen des ausländischen Staates. (3) Forderungen, die nach Einleitung des Restrukturierungsverfahrens begründet werden,17 sind nicht Gegenstand des Restrukturierungsverfahrens. (4) Die Bestimmungen völkerrechtlicher Abkommen der Bundesrepublik Deutschland betreffend die Restrukturierung ausländischer Staatsschulden18 und das Recht der Europäischen Union19 gehen den Regelungen dieses Gesetzes vor. § 2 Anwendbare Verfahrensbestimmungen (1) Für Verfahren nach diesem Gesetz ist das Oberlandesgericht, das für Klagen gegen die Deutsche Bundesbank zuständig ist, ausschließlich zuständig. (2) Für das Verfahren gelten, soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Zivilprozessordnung entsprechend. (3) Die in dem Verfahren getroffenen gerichtlichen Entscheidungen ergehen durch Beschluss und sind unanfechtbar. Das Oberlandesgericht hat von Amts wegen alle Umstände zu ermitteln, die für das Verfahren von Bedeutung sind. (4) Auf das Verfahren sind, soweit sich keine Abweichungen aus den Vorschriften dieses Gesetzes ergeben, die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften der Zivilprozessordnung mit Ausnahme der §§ 348 bis 350 entsprechend anzuwenden. 16 Die kategorische Beschränkung auf Fremdwährungsverbindlichkeiten ist europapolitisch geboten, um den Vorrang des bereits bestehenden Europäischen Stabilitätsmechanismus nicht in Frage zu stellen. Zwar könnte auch im Rahmen des ESM ein Restrukturierungsverfahren sinnvoll sein, dieses sollte dann jedoch im Rahmen des ESM-Vertrages geregelt werden. 17 Hiermit soll die Möglichkeit zur Aufnahme kurzfristiger Überbrückungskredite sichergestellt werden. Siehe auch § 5 Abs. 2 Nr. 1. 18 Derzeit bestehen noch keine derartigen Regelungen; Art. 12 Abs. 3 ESM-Vertrag sieht lediglich die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur Vereinbarung vertraglicher Mehrheitsentscheidungen vor, für die dann § 6 Abs. 3 gelten würde. 19 Mit Ausnahme von Art. 10 VO (EG) 1210/2003 betreffend den Vollstreckungsschutz für den Irak wegen Altverbindlichkeiten ist die Restrukturierung ausländischer Staatsschulden im EU-Recht bisher nicht geregelt.

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(5) Das Verfahren wird in englischer Sprache geführt. Das Protokoll und die Entscheidungen des Oberlandesgerichts sind in englischer Sprache abzufassen. Das Oberlandesgericht kann in jedem Stadium des Verfahrens anordnen, dass ein Dolmetscher zugezogen wird. § 142 Absatz 3 der Zivilprozessordnung bleibt unberührt. Beschlussformeln von in englischer Sprache abgefassten Entscheidungen des Oberlandesgerichts sind, sofern sie einen vollstreckbaren Inhalt haben, in die deutsche Sprache zu übersetzen.20 (6) Alle Entscheidungen und Bekanntmachungen im Verfahren sind im Bundesanzeiger und in einem bankarbeitstäglich oder wöchentlich in englischer Sprache erscheinenden Organ der internationalen Wirtschaftspresse zu veröffentlichen. (7) Der ausländische Staat wird in dem Verfahren durch seinen Finanzminister vertreten. Soweit das Verfahren Forderungen nach § 1 Absatz 2 Nummer 2 zum Gegenstand hat, ist die Vertretungsmacht nach dem Recht des ausländischen Staates durch Vollmacht und ein entsprechendes Rechtsgutachten nachzuweisen. Abschnitt 2 – Restrukturierungsverfahren und Restrukturierungsplan § 3 Einleitung des Restrukturierungsverfahrens (1) Ein ausländischer Staat, der seine Schuldendienstfähigkeit erheblich beeinträchtigt sieht, kann beim Oberlandesgericht die Durchführung eines Restrukturierungsverfahrens für seine Fremdwährungsverbindlichkeiten beantragen.21 (2) Der Antrag muss enthalten: 1. eine Darstellung der Umstände, welche die Restrukturierung erforderlich machen; 2. den Entwurf des Restrukturierungsplans; und 3. den Vorschlag für einen geeigneten Restrukturierungsberater. (3) Das Oberlandesgericht hat den Antrag unverzüglich öffentlich bekanntzumachen. (4) Ab der Veröffentlichung des Antrags im Bundesanzeiger bis zur Beendigung des Restrukturierungsverfahrens: 1. ist die Zwangsvollstreckung in das im Inland belegene Vermögen des ausländischen Staates wegen aller zum Zeitpunkt der Antragstellung begründeter Forderungen mit Ausnahme der Gegenleistung für nach Antragstellung erbrachte Leis-

20 Die Regelung knüpft an den Formulierungsvorschlag für § 184 Abs. 2 GVG im Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Kammern für internationale Handelssachen (KfiHG) an, BT-Drucks. 18/1287. 21 Grundsätzlich stünde das Verfahren damit auch Mitgliedstaaten der EU und des Euroraums offen; praktisch dürfte die Möglichkeit einer Restrukturierung in Deutschland eher als Katalysator für die Einführung eines europäischen Verfahrens wirken.

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tungen auch insoweit unzulässig, als dieses Vermögen keinen hoheitlichen Zwecken des ausländischen Staates dient; 2. darf der ausländische Staat auf die zu Nr. 1 bezeichneten Forderungen keine Zahlungen leisten oder hierfür Sicherheiten stellen. § 4 Inhalt des Restrukturierungsplans (1) Der Restrukturierungsplan besteht aus einem darstellenden und einem gestaltenden Teil. Im darstellenden Teil wird beschrieben, wie und im Zusammenspiel mit welchen sonstigen Maßnahmen der Restrukturierungsplan geeignet ist, die langfristige Schuldendienstfähigkeit des ausländischen Staates wiederherzustellen. Im gestaltenden Teil wird festgelegt, wie die Rechtsstellung der Gläubiger durch den Restrukturierungsplan geändert werden soll. (2) Im Restrukturierungsplan sind Gruppen für die Abstimmung nach den §§ 10 und 11 zu bilden, sofern in die Rechte von Gläubigern eingegriffen wird. Gläubiger mit unterschiedlicher Rechtsstellung bilden jeweils eigene Gruppen. Aus den Gläubigern mit gleicher Rechtsstellung können Gruppen gebildet werden, in denen Gläubiger mit gleichartigen Interessen zusammengefasst werden. (3) Für die in § 1 Absatz 2 Nummern 1 und 2 und § 5 Absatz 2 Nummern 1, 2 und 3 und Absätze 3 und 5 bezeichneten Gläubiger sind regelmäßig besondere Gruppen zu bilden. § 5 Eingriffe in Gläubigerrechte (1) Im gestaltenden Teil des Restrukturierungsplans ist anzugeben, um welchen Bruchteil die Forderungen von Gläubigern gekürzt, für welchen Zeitraum sie gestundet, wie sie gesichert oder welchen sonstigen Regelungen sie unterworfen werden sollen. [Regelungen des Inhalts, dass die Wirksamkeit eines Eingriffs in Gläubigerrechte von der zukünftigen Durchführung wirtschaftspolitischer Maßnahmen seitens des Schuldnerstaates abhängt, sind rechtlich unverbindlich. Dies gilt nicht, soweit die betreffende Regelung überwiegend umwelt- oder sozialpolitischen Zielen dient.]22

22 Hiermit soll den in der Vergangenheit vom IWF favorisierten Vorgaben jedenfalls für die Zeit nach Abstimmung über den Restrukturierungsplan entgegengewirkt werden. Allerdings kann die Regelung nicht verhindern, dass die Gewährung neuer (Überbrückungs-) darlehen durch den IWF oder andere Kreditgeber von Auflagen zur Durchführung eines makroökonomischen Anpassungsprogramms abhängig gemacht wird; ebenso Art. 13 ESM-Vertrag. Andererseits soll die Möglichkeit bestehen, Staatsanleihen dergestalt zu restrukturieren, dass diese zukünftig regulatorischen Nachhaltigkeitskriterien genügen, etwa indem der Eingriff in die Gläubigerrechte auflösend bedingt an die Verwendung des daraus erwachsenden wirtschaftlichen Vorteils für sozial- oder umweltpolitische Zwecke geknüpft wird.

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(2) Ein Eingriff ist ausgeschlossen: 1. in Forderungen internationaler Organisationen, denen die Bundesrepublik Deutschland als Mitglied angehört, wenn die internationale Organisation sich dem Restrukturierungsverfahren nicht freiwillig angeschlossen hat;23 2. [bis zur Höhe des Betrages von [einer Million Sonderziehungsrechten]24 pro Person,] in Forderungen natürlicher Personen wegen Menschenrechtsverletzungen25 mit Ausnahme von Ansprüchen wegen Eingriffen in Vermögensrechte26;27 und 3. soweit dies mit den Vorschriften der Insolvenzordnung zum Schutz von Zahlungssowie Wertpapierliefer- und -abrechnungssystemen sowie von dinglichen Sicherheiten der Zentralbanken und von Finanzsicherheiten unvereinbar wäre.28 (3) Sofern nach dem auf eine Forderung anwendbaren Schuldrecht Eingriffe in Gläubigerrechte im Sinne von Absatz 1 durch Mehrheitsentscheidung möglich sind, ist für alle einer solchen Mehrheitsentscheidung unterworfenen Gläubiger jeweils eine besondere Gruppe zu bilden. Für Eingriffe in die Rechte einer solchen Gruppe gelten vorbehaltlich § 11 Absatz 2 die nach dem anwendbaren Schuldrecht maßgeblichen Regelungen mit dem Vorbehalt, dass die Mehrheitsentscheidung spätestens am Tag des Abstimmungstermins nach § 10 getroffen werden muss. (4) Bei der Gruppenbildung dürfen die Staatsangehörigkeit, der gewöhnlichen Aufenthalt und der Verwaltungssitz der Gläubiger nicht herangezogen werden. Gläubiger gleichartiger Forderungen, insbesondere Inhaber inhaltsgleicher Schuldverschreibungen einer Gesamtemission, müssen vorbehaltlich Absatz 5 derselben Gruppe zugeordnet werden. (5) Für Gläubiger, die Gegenstand wirtschaftlicher Sanktionen der Vereinten Nation, der Europäischen Union oder der Bundesrepublik Deutschland sind, ist eine besondere Gruppe mit der Maßgabe zu bilden, dass Forderungen dieser Gläubiger nicht durchsetzbar sind und dass die Zustimmung der Gläubiger dieser Gruppe entbehrlich ist. Gleiches gilt [für Forderungen, deren Bestehen nicht binnen [zwei Jahren] ab Be-

23 In Ansprüche des IWF kann ein deutsches Gericht als Mitgliedstaat rechtlich nicht ohne dessen Zustimmung eingreifen. Faktisch genießen diese Ansprüche weitgehend Vorrang vor denen anderer Gläubiger. Dies ist insoweit teilweise gerechtfertigt, als der IWF für hochverschuldete Staaten in der Krise häufig der einzige verbleibende Kreditgeber ist. 24 Entspricht derzeit ca. EUR 1.200.000,–. 25 Die meisten Ansprüche wegen Menschenrechtsverletzungen werden wegen § 1 Abs. 2 schon deswegen nicht vom Anwendungsbereich des Gesetzes erfasst, weil der Anspruchsinhaber typischerweise Gebietsangehöriger des ausländischen Staates ist. Die Regelung betrifft damit vor allem im Exil lebende Opfer von Menschenrechtsverletzungen. 26 Hiermit soll insbesondere klargestellt werden, dass auch Ansprüche ausländischer Privatinvestoren aus Staatsanleihen von der Restrukturierung erfasst werden. 27 Bei realistischer Betrachtung muss das Verfahren auch Staaten zugänglich sein, die sich einzelne Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen. 28 Der Vorbehalt entspricht § 23 KredReorgG und reflektiert die Vorgaben der Richtlinien 98/26/EG und 2002/47/EG.

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gründung aus öffentlich zugänglichen Quellen ersichtlich war, und]29 für Forderungen, die nicht innerhalb der Frist nach § 8 Absatz 1 angemeldet worden sind. § 6 Restrukturierungsberater (1) Als geeigneter Restrukturierungsberater gilt in jedem Falle der Internationale Währungsfonds, wenn dieser seine Bereitschaft zur unparteiischen Übernahme der Aufgabe bestätigt hat.30 (2) Eine Haftung des Restrukturierungsberaters für die Ausübung seines Amtes gegenüber dem ausländischen Staat, den Gläubigern oder Dritten ist ausgeschlossen. (3) Der Restrukturierungsberater unterliegt für die Ausübung seines Amtes keinen Weisungen des ausländischen Staates, der Gläubiger oder des Oberlandesgerichtes. § 7 Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens (1) Das Oberlandesgericht weist den Antrag auf Durchführung des Restrukturierungsverfahrens zurück, wenn: 1. die Anforderungen nach § 3 Absatz 2 nicht erfüllt sind, insbesondere die Vorschriften über den Inhalt des Restrukturierungsplans nicht beachtet sind, und der Mangel nicht innerhalb einer angemessenen, vom Oberlandesgericht gesetzten Frist behoben wird; 2. ein Antrag auf Durchführung eines vergleichbaren Verfahrens in einem Drittstaat oder bei einer internationalen Organisation oder einer internationalen Schlichtungsinstitution anhängig ist und die Entscheidung in diesem Verfahren gemäß § 15 im Inland anerkannt werden kann;31 und 3. der ausländische Staat, dessen Repräsentanten oder diesen nahestehende Personen oder Unternehmen Gegenstand wirtschaftlicher Sanktionen der Vereinten Nation, der Europäischen Union oder der Bundesrepublik Deutschland sind32. Vor einer Zurückweisung gibt das Oberlandesgericht dem ausländischen Staat und dem vorgeschlagenen Restrukturierungsberater Gelegenheit zur Stellungnahme. (2) Das Oberlandesgericht eröffnet das Restrukturierungsverfahren, wenn keiner der Ausschlussgründe nach Absatz 1 vorliegt. 29 Der Ausschluss greift die Forderung auf, die Durchsetzbarkeit von Staatsschulden von deren Offenlegung abhängig zu machen. 30 Derzeit hat der IWF als Berater für die Restrukturierung von Staatsschulden jedenfalls außerhalb des Euroraums ein faktisches Monopol. Die vorgeschlagene Regelung soll insoweit Wettbewerb schaffen, gleichzeitig aber auch die erforderliche fachliche Kompetenz gewährleisten, um Akzeptanz und Legitimität des Verfahrens im Verhältnis zu den Gläubigern nicht zu gefährden. 31 Die Regelung soll die Offenheit des Gesetzes gegenüber solchen Verfahren zum Ausdruck bringen. 32 Die Regelung soll zugleich ein Verfahren zugunsten solcher Staaten ausschließen, die sich systematische Menschenrechtsverletzungen haben zuschulden kommen lassen.

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(3) Im Anschluss an die Eröffnung des Restrukturierungsverfahrens veröffentlicht das Oberlandesgericht die abstimmungserheblichen Inhalte des Restrukturierungsplans auf einer geeigneten elektronischen Plattform zur Einsicht für die Gläubiger und bestimmt einen Termin, in dem der Restrukturierungsplan und das Stimmrecht der Gläubiger erörtert werden. Der Erörterungstermin soll nicht später als [sechs Monate] nach der Eröffnung des Restrukturierungsverfahrens stattfinden. § 8 Anmeldung von Forderungen (1) Gläubiger, in deren Rechte nach § 5 eingegriffen wird, fordert der Restrukturierungsberater auf, ihre Forderungen innerhalb einer von ihm gesetzten Frist, die mindestens [drei Monate] beträgt, bei ihm anzumelden. Die Aufforderung ist mit der Bekanntmachung nach § 10 Absatz 3 zu verbinden. In der Anmeldung sind der Grund und der Betrag der Forderung anzugeben; die Urkunden, aus denen sich die Forderung ergibt, sind auf Verlangen vorzulegen. (2) Der Restrukturierungsberater hat jede nach Maßgabe des Absatzes 1 angemeldete Forderung mit den dort genannten Angaben in eine Tabelle einzutragen. § 9 Prüfung und Feststellung der Forderungen (1) Zur Feststellung des Stimmrechts werden im Erörterungstermin die fristgemäß angemeldeten Forderungen nach ihrem Betrag geprüft. Maßgeblich für das Stimmrecht ist die Höhe des Betrages im Zeitpunkt der Prüfung der jeweiligen Forderung. Werden Forderungen vom Restrukturierungsberater bestritten, sind diese einzeln zu erörtern. (2) Wurde eine nicht rechtskräftig titulierte Forderung von dem Restrukturierungsberater bestritten, so entscheidet das Oberlandesgericht auf Antrag des Gläubigers aufgrund summarischer Prüfung über die Zulassung zur Abstimmung. § 10 Abstimmung der Gläubiger (1) Jede Gruppe der stimmberechtigten Gläubiger stimmt gesondert über den Restrukturierungsplan ab. (2) Die Einberufung zu dem Abstimmungstermin erfolgt auf Veranlassung des Restrukturierungsberaters durch öffentliche Bekanntmachung. Die Einberufung muss spätestens am 21. Tag vor dem Abstimmungstermin erfolgen. Das Finanzministerium des ausländischen Staates und der Restrukturierungsberater haben vom Tag der öffentlichen Bekanntmachung nach Satz 1 bis zum Abschluss der Abstimmung folgende Informationen über seine Internetseite zugänglich zu machen: 1. die Einberufung, 2. die genauen Bedingungen, von denen die Teilnahme an der Abstimmung und die Ausübung des Stimmrechts abhängen und 3. die abstimmungserheblichen Inhalte des Restrukturierungsplans.

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Die öffentliche Bekanntmachung enthält die genaue Angabe zu Ort und Zeit des Abstimmungstermins sowie einen Hinweis auf die Internetseite, auf der die in Satz 3 genannten Informationen abrufbar sind. (3) Neben der Einberufung nach Absatz 2 sind zu dem Abstimmungstermin alle Gläubiger, in deren Rechte nach § 5 eingegriffen wird, durch den Restrukturierungsberater zu laden. In der Ladung ist darauf hinzuweisen, dass die in Absatz 2 Satz 3 genannten Informationen auf der Internetseite des Finanzministeriums des ausländischen Staates abrufbar sind. § 11 Annahme des Restrukturierungsplans (1) Zur Annahme des Restrukturierungsplans müssen alle Gruppen dem Restrukturierungsplan zustimmen. Hierfür ist erforderlich, dass 1. in jeder Gruppe die Mehrheit der abstimmenden Gläubiger dem Restrukturierungsplan zustimmen und 2. in jeder Gruppe die Summe der Forderungen der zustimmenden Gläubiger mehr als die Hälfte der Summe der Forderungen der abstimmenden Gläubiger beträgt. (2) Auch, wenn die erforderlichen Mehrheiten in einer Gruppe nicht erreicht sind, gilt die Zustimmung dieser Gruppe als erteilt, wenn: 1. die Gläubiger dieser Gruppe durch den Restrukturierungplan voraussichtlich nicht schlechter gestellt werden, als sie ohne einen Restrukturierungsplan stünden; hierfür sind die aktualisierten und vom Restrukturierungsberater bestätigten Annahmen zur Schuldendienstfähigkeit des ausländischen Staates für einen Prognosezeitraum von zehn Jahren33 ab Einleitung des Verfahrens zugrunde zu legen; und 2. [die Mehrheit der abstimmenden Gruppen dem Restrukturierungsplan mit den jeweils erforderlichen Mehrheiten zugestimmt hat]34 [die Summe der Forderungen der zustimmenden Gläubiger aller Gruppen insgesamt mehr als [die Hälfte][zwei Drittel][drei Viertel] der Summe der Forderungen aller abstimmenden Gläubiger beträgt]35.

33 Diese Maßgabe ist erforderlich, weil bei Staaten (anders als bei Banken, sonstigen Unternehmen und Privatpersonen) eine Abwicklung des Vermögens durch Verkauf als Vergleichsmaßstab praktisch ausscheidet. 34 Diese Regelung entspräche § 19 Abs. 2 KredReorgG, funktioniert aber nur im Zusammenspiel mit dem dort festgeschriebenen Grundsatz der Nichtdiskriminierung gleichrangiger Forderungen. Weil für Staatsschulden keine rechtliche Rangfolge gilt, müssten alle von der Restrukturierung erfassten Verbindlichkeiten als gleichrangig behandelt werden, was den Gestaltungsspielraum für die Restrukturierung erheblich einengen würde. 35 Dieser alternative Regelungsvorschlag lehnt sich an die von der EZB empfohlenen vertraglichen Bestimmungen für emissionsübergreifende Mehrheitsentscheidungen in Staatsanleihen (cross-series collective action clauses) an. Die EZB-Klausel sieht ein Mehrheitserfordernis von 75 % in der Gläubigerversammlung oder von 66 2/3 % bei schriftlicher Abstimmung vor, https://europa.eu/efc/sites/default/files/docs/pages/cac_-_text_model_ cac.pdf.

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§ 12 Bestätigung des Restrukturierungsplans (1) Nach der Annahme durch die Gläubiger bedarf der Restrukturierungsplan der Bestätigung durch das Oberlandesgericht. Die Bestätigung oder deren Versagung erfolgt durch Beschluss, der in einem besonderen Termin zu verkünden ist. Dieser und die öffentliche Bekanntmachung sollen spätestens zwei Monate nach der Abstimmung stattfinden. (2) Die Bestätigung darf nur versagt werden, 1. wenn die Vorschriften über den Inhalt und die verfahrensmäßige Behandlung des Restrukturierungsplans sowie über die Annahme durch die Gläubiger in einem wesentlichen Punkt nicht beachtet worden sind und der Mangel nicht behoben werden kann oder 2. wenn die Annahme des Restrukturierungsplans unlauter, insbesondere durch Begünstigung eines Beteiligten, herbeigeführt worden ist oder 3. wenn die erforderlichen Mehrheiten nicht erreicht wurden und die Voraussetzungen für die Ersetzung der Zustimmung nach § 11 Absatz 2 nicht vorliegen und das Oberlandesgericht dem ausländischen Staat Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat. (3) Das Vorbringen eines Gläubigers nach Absatz 2 ist nur beachtlich, wenn der Versagungsgrund binnen drei Wochen nach dem Abstimmungstermin unter Angabe aller verfügbaren Beweismittel glaubhaft gemacht wird. § 13 Aufhebung des Restrukturierungsverfahrens; Überwachung der Planerfüllung (1) Mit der Bestätigung des Restrukturierungsplans oder deren Versagung beschließt das Oberlandesgericht die Aufhebung des Restrukturierungsverfahrens. (2) Im gestaltenden Teil des Restrukturierungsplans kann vorgesehen werden, dass der Restrukturierungsberater die Erfüllung des Restrukturierungsplans auch nach Aufhebung des Restrukturierungsverfahrens überwacht. § 14 Wirkungen des Restrukturierungsplans (1) Mit der gerichtlichen Bestätigung des Restrukturierungsplans treten die Wirkungen des gestaltenden Teils für und gegen die Gläubiger dergestalt ein, dass die Zwangsvollstreckung in das im Inland belegene Vermögen des ausländischen Staates wegen der verfahrensgegenständlichen Forderungen nur noch in dem im Restrukturierungsplan festgelegten Umfang zulässig ist. Dies gilt auch für vollstreckbare Titel, die erst nach der Bestätigung durch das Oberlandesgericht erwirkt werden.36 Die 36 Die Formulierung trägt dem Umstand Rechnung, dass der deutsche Gesetzgeber in Forderungen, die ausländischem Recht unterliegen, nur hinsichtlich ihrer Durchsetzung im Inland eingreifen kann. Ob ausländische Staaten die Wirkungen des Restrukturierungsplans anerkennen, beurteilt sich mangels einer völkervertragsrechtlicher Regelung nach

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Durchsetzung im Wege der Aufrechnung gegen Forderungen, die im Sinne von § 23 Satz 2 der Zivilprozessordnung als im Inland belegen gelten, steht der Zwangsvollstreckung gleich. (2) Für Forderungen, auf die deutsches Recht anzuwenden ist, ersetzt die gerichtliche Bestätigung des Restrukturierungsplans zugleich die Zustimmung der Beteiligten zu einer vertraglichen Änderung nach Maßgabe der Regelungen im gestaltenden Teil. Gleiches gilt, soweit ein ausländischer Staat die diesbezüglichen Wirkungen des Restrukturierungsplans anderweitig anerkennt. (3) Einwendungen gegen die restrukturierten Forderungen nach den auf diese anwendbaren allgemeinen Vorschriften werden durch den Restrukturierungsplan nicht berührt.37 (4) Erlangt ein Gläubiger nach Einleitung des Restrukturierungsverfahrens im Wege der Zwangsvollstreckung in das im Ausland belegene Vermögen des ausländischen Staates oder auf andere Weise Befriedigung für eine zum Zeitpunkt der Antragstellung begründete Forderung, so ist der Erlös in der in § 366 Absatz 2 BGB vorgesehenen Reihenfolge auf die restrukturierte Forderung anzurechnen. Der ausländische Staat ist verpflichtet, dem Restrukturierungsberater die weitergehende Befriedigung anzuzeigen. (5) Leistet der ausländische Staat nach Einleitung des Restrukturierungsverfahrens weitere Zahlungen auf zum Zeitpunkt der Antragstellung begründete Forderungen oder ermöglicht er auf sonstige Weise eine über die Regelungen des Restrukturierungsplans hinausgehende Befriedigung einzelner Gläubiger, so ist der Restrukturierungsplan auf Antrag dahingehend anzupassen, dass die Begünstigung sich zugunsten aller Gläubiger entsprechend auswirkt. Der Antrag kann vom ausländischen Staat oder von jedem Gläubiger gestellt werden, in dessen Forderungen die Regelungen des Restrukturierungsplans eingreifen; der Antrag eines Gläubigers der nach § 5 Absatz 5 gebildeten Gruppen ist unbeachtlich. (6) Das Recht eines Gläubigers, etwaige Sicherheiten, die zum Zeitpunkt der Antragstellung wirksam bestellt waren, nach dem darauf anwendbaren Recht zu verwerten, wird durch die Restrukturierung nicht beeinträchtigt. Die Vorschriften des Anfechtungsgesetzes und entsprechender ausländischer Regelungen bleiben unberührt. Für Sicherheiten, die erst nach der Antragstellung erlangt werden,38 gelten die Regelungen der Absätze 4 und 5.

deren eigenen Gesetzen. Für die gegenläufige Frage der Anerkennung ausländischer Restrukturierungspläne in Deutschland vgl. unten § 15 Abs. 2. 37 Dies gilt auch für den neuerdings wieder häufiger diskutierten odious debt Einwand. 38 Dies betrifft insbesondere dingliche Sicherheiten an zukünftigen staatlichen Exporten und Einzahlungen auf verpfändete Konten nach Antragsstellung.

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Abschnitt 3 – Ausländische und internationale Restrukturierungsverfahren39 § 15 Anerkennung ausländischer und internationaler Restrukturierungsverfahren (1) Die Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens durch den ausländischen Staat in einem Drittstaat oder bei einer internationalen Organisation oder einer internationalen Schlichtungsinstitution hat für das im Inland belegene Vermögen des ausländischen Staates die in § 3 Absatz 4 bezeichneten Rechtswirkungen, wenn ein in diesem Verfahren unter Beachtung der dafür maßgeblichen Vorschriften bestätigter Restrukturierungsplan gemäß Absatz 2 anerkannt werden kann. (2) Die Wirkungen eines Restrukturierungsplans, der durch einen Drittstaat, eine internationale Organisation oder eine internationale Schlichtungsinstitution bestätigt wurde, sind im Inland anzuerkennen, wenn die Voraussetzungen für die Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens im Inland mit Ausnahme von § 7 Absatz 1 Nummer 2 erfüllt sind. Die Anerkennung ist ausgeschlossen, wenn 1. dem Restrukturierungsplan kein Antrag des ausländischen Staates zugrunde liegt; 2. die Einleitung des Verfahrens den Gläubigern nicht so bekannt gemacht worden ist, dass sie sich daran beteiligen konnten; 3. der ausländische Restrukturierungsplan mit den in § 5 genannten wesentlichen Grundsätzen für Eingriffe in Gläubigerrechte unvereinbar ist; 4. die Anerkennung des ausländischen Restrukturierungsplans mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts über die Immunität ausländischer Staaten unvereinbar ist; oder 5. die Anerkennung des ausländischen Restrukturierungsplans aus anderen Gründen zu einem Ergebnis führen würde, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar wäre. (3) Die Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens nach Absatz 1 und die Anerkennung eines Restrukturierungsplans nach Absatz 2 sind auf Antrag des ausländischen Staates vom Oberlandesgericht zu bestätigen.

39 Im Kreditinstitute-Reorganisationsgesetz waren diese Aspekte nicht geregelt; der hiesige Vorschlag knüpft an § 343 InsO und § 328 ZPO an.

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Rechtsfortbildung durch teleologische Umformung Jan-Hendrik Röver

Inhaltsübersicht 1. Typen der Rechtsfortbildung a) Rechtsfortbildung praeter legem b) Entwicklung des Rechts durch Generalklauseln und Prinzipien c) Rechtsfortbildung extra legem d) Rechtsfortbildung contra legem e) Andere Formen der Rechtsfortbildung? 2. Typen der teleologischen Umformung a) Teleologische Addition b) Teleologische Subtraktion c) Teleologische Substitution d) Teleologische Fusion e) Sonstige teleologische Umformung f) Abgrenzung der teleologischen Abstufung von der teleologischen Umformung g) Abgrenzung der teleologischen Trennung von der teleologischen Umformung

h) Abgrenzung der Typen der teleologischen Umformung 3. Allgemeine Voraussetzungen der teleologischen Umformung a) Anwendungsbereich der teleologischen Umformung b) Vorrang der Auslegung c) Subsidiarität gegenüber anderen Formen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung? d) Kein Ausschluss der Rechtsfortbildung durch Umformungsverbot e) Planwidrige Unvollständigkeit f) Begründung der teleologischen Umformung 4. Teleologische Umformung und die contra legem-Grenze der Rechtsfortbildung 5. Zusammenfassung

Die moderne Methodenlehre des Privatrechts scheint auf den ersten Blick nur wenige Instrumente zur Rechtsfortbildung zu kennen: Das Gesetz wird im Wesentlichen durch Analogie und teleologische Reduktion, gegebenenfalls noch ergänzt um die teleologische Extension, fortgebildet. In einigen wenigen Fällen tritt neben diese Formen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung die gesetzesübersteigende. Und in ganz seltenen Ausnahmefällen kommt es zu einer Rechtsfortbildung contra legem, die zwar grundsätzlich rechtlich unzulässig, aber manchmal unumgänglich ist. In der modernen Methodenlehre finden sich verschiedentlich Andeutungen zum Instrument einer teleologischen Umformung oder teleologischen Transformation.1 So hat Claus-Wilhelm Canaris in seiner grundlegenden Dissertation „Die Feststellung von Lücken im Gesetz“ den Begriff der „teleologischen Umbildung“ verwendet.2 La1 Man könnte auch synoym von teleologischer Modifikation oder teleologischer Adaption sprechen. 2 2. Aufl. 1983, § 83; Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 28 II 5 c. Er beschreibt beim kaufmännischen Zurückbehaltungsrecht die Umformulierung des Wortlauts von § 369 HGB (vgl. vertiefend zum Unmittelbarkeitserfordernis bei der gesicherten Forderung in

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renz und Canaris weisen in ihrer Methodenlehre auf „andere Fälle einer teleologisch begründeten Korrektur des Gesetzestextes“ hin,3 nachdem sie zuvor Analogie und teleologische Reduktion beschrieben haben. Und Franz Reimer hat in seiner Juristischen Methodenlehre knapp auf „sonstige teleologische Korrekturen“ aufmerksam gemacht und dabei die sogenannte teleologische Substitution herausgehoben.4 Über diese hier bespielhaft aufgeführten Andeutungen hinaus hat die methodische Figur der teleologischen Umformung in der Literatur noch keine Vertiefung erfahren.5 Für sie hat sich in der rechtsmethodischen Literatur demnach kein klares Bild herausgebildet und sie gehört nicht zum theoretischen Standardrepertoire der Rechtsfortbildung. Dies steht in bemerkenswertem Gegensatz zur Situation in der Praxis: Die teleologische Umformung wird der Sache nach – wie sich im weiteren Verlauf dieser Ausführungen zeigen wird – in Rechtsprechung und rechtsdogmatischer Literatur häufig verwendet.6 Die folgenden Überlegungen sollen die teleologische Umformung als rechtlich legitimes Instrument der Rechtsfortbildung etablieren und einen Vorschlag für Unter-

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§ 369 HGB, das sich aus dem Erfordernis der zwischen Gläubiger und Schuldner geschlossenen Geschäfte ergibt: Canaris in Großkommentar HGB, Bd. 4: §§ 343–382, 4. Aufl. 2004, §§ 369–372 Rz. 45–50; Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 28 II 5 c); hierbei handelt es sich allerdings eher um eine teleologische Reduktion als eine teleologische Umformung in einer der hier vorgeschlagenen Arten. Außerdem sieht Canaris (Die Feststellung von Lücken im Gesetz, § 83) eine teleologische Umbildung bei § 831 BGB (vertiefend und mit anderer Akzentsetzung nunmehr Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, § 79 III 2 c). Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 216. Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 626 f. Er nennt als Beispiel die Ersetzung des Begriffs „Oberverwaltungsgericht“ durch „(jeweiliges) Rechtsmittelgericht“ in § 80b Abs. 2 VwGO (BVerwG v. 19.6.2007 – 4 VR 2.07, BVerwGE 129, 58, 63). Constantius Rogerius (der Nachname des Autors wird teilweise auch mit Rogger bezeichnet, der Vorname teilweise als Constantin oder Constantinus wiedergegeben) unterscheidet als Auslegungsformen die interpretatio declarativa, extensiva, restrictiva und correctiva (Rogerius, Tractatus de iuris interpretatione, 1549). Dazu Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 30 f. Vgl. zur Auslegungslehre in der Renaissance Maclean, Interpretation and Meaning in the Renaissance, 1992, S. 114 ff. Nicht verwechselt werden darf Constantius Rogerius mit dem Glossator Rogerius; zu letzterem H. Lange, Römisches Recht im Mittelalter, Bd. I, 1997, S. 192-200). Die Unterscheidung zwischen deklarativer, extensiver und restriktiver Auslegung ist in der Renaissance ein geläufiger Ansatz (Maclean, Interpretation and Meaning in the Renaissance, 1992, S. 114 ff.). Interessant ist in unserem Zusammenhang der Hinweis von Rogerius auf die interpretatio correctiva, die allerdings weniger fruchtbar ist, als es ihre Bezeichnung nahelegt. Die leges correctiva des Rogerius sind vom römischen Recht abweichende Statuten seiner Zeit. Für sie gilt die Auslegungsregel der engen Auslegung, da sie wegen der Veränderung des römischen Rechts unerwünscht sind (vgl. mit Nachweis Raisch, Juristische Methoden, 1995, S. 30 f.). Der Verfasser verdeutlicht methodische Instrumente im Folgenden anhand einer Vielzahl an Exempeln. Dabei muss auf eine dogmatische Vertiefung der Beispiele verzichtet werden, um den Rahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen. Die Beispiele werden in der Regel anhand der Positionen der herrschenden Meinung oder – wo sich Übereinstimmung von Rechtsprechung und herrschender Lehre noch nicht hergestellt hat – ständigen Rechtsprechung gebildet.

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typen der teleologischen Umformung unternehmen. Dafür wird die teleologische Umformung zunächst innerhalb der Rechtsfortbildung verortet. Es werden dann die teleologische Umformung und ihre Unterformen besprochen. In einem weiteren Schritt werden die allgemeinen Voraussetzungen der teleologischen Umformung erörtert. Schließlich soll der Frage nachgegangen werden, ob eine teleologische Umformung gegen die contra-legem-Grenze der Rechtsfortbildung verstößt. Alexander Reuter, dem diese Zeilen gewidmet sind, hat in seinen Publikationen immer wieder rechtliches Neuland ausgelotet. Wir haben uns gemeinsam für Recht und Praxis der Projektfinanzierung interessiert7 und ich erinnere noch sehr gut ein von ihm veranstaltetes Praxisseminar in Düsseldorf zum Thema „Projektfinanzierung. Anwendungsmöglichkeiten, Gestaltungsformen, Steuern und Bilanzen“ im Jahre 2000, bei dem ich zur „Rechtlichen Gestaltung von Projektfinanzierungen“ ausführen durfte. Wer rechtliches Neuland betritt, ist immer auch mit methodologischen Fragen konfrontiert und so sei es gestattet, zu dieser Festschrift einen Beitrag zur Methodenlehre des Rechts beizutragen.

1. Typen der Rechtsfortbildung Nach Roscoe Pounds berühmter Sentenz muss Recht stabil sein, aber es kann nicht still stehen.8 Es gibt ein grundlegendes Bedürfnis für Rechtsentwicklung der lex lata über den Bestand des geschriebenen, ungeschriebenen oder Richterrechts in allen Rechtsordnungen. Eine trennscharfe Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung ist dabei nicht möglich. Es handelt sich um „letztlich ineinander übergehende Bereiche wertender richterlicher Tätigkeit“.9 Dementsprechend unterscheiden viele Rechtsordnungen typologisch nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. So fasst das französische Recht beide Formen des Umgangs mit Recht unter den einheitlichen Begriff der „interprétation“.10 Dasselbe gilt für die Rechtsprechung des EuGH.11 Im deutschen Recht hat sich dagegen insbesondere im Privatrecht die typologische Trennung von Auslegung und Rechtsfortbildung herausgebildet, wobei diese traditionelle Methodendualität inzwischen durch die Kategorie der Konkretisierung z.B. von Generalklauseln oder dogmatischen Rechtsprinzipien zu einer Trias erweitert wurde.12 7 Vgl. Reuter, Projektfinanzierung, 2. Aufl. 2010. 8 Pound, Interpretations of Legal History, 1923, S. 1 („The law must be stable and yet it cannot stand still“). 9 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 77; vgl. auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 187. 10 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. II: Frühe und religiöse Rechte. Romanischer Rechtskreis, 1975, S. 544-548; Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 149. 11 Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 12 Rz. 17. 12 Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, 3. Teil; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, D. Vgl. bereits Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl. 1968. Weiterer Grundbaustein der Methodenlehre ist die Lehre von der Normanwendung.

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Karl Larenz hat in die deutsche Methodenlehre die Unterscheidung zwischen der Rechtsfortbildung (1) praeter legem (gesetzesimmanente Rechtsfortbildung), (2) extra legem, aber intra ius (gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung) und (3) contra legem eingeführt.13 Die Rechtsfortbildung contra legem ist grundsätzlich rechtlich unzulässig,14 wobei sich natürlich die Frage stellt, wann eine Rechtsfortbildung contra legem vorliegt. Wenn man diese Unterscheidung zugrunde legt, ist bei der Rechtsfortbildung wie folgt zu differenzieren:15 Rechtsfortbildung Praeter legem

Extra legem, aber intra ius

Gesetzesimmanent = Rechtsfortbildung innerhalb des Plans des Gesetzgebers bei planwidriger Unvollständigkeit (Gesetzeslücke)

Gesetzesübersteigend = Rechtsfortbildung über den Plan des Gesetzgebers hinaus im Rahmen der Gesamtrechtsordnung (keine planwidrige Unvollständigkeit)

Grds. nicht: contra legem

Untertypen: • Analogie • Ggfs. teleologische Extension • Teleologische Reduktion Abbildung 1: Typen der Rechtsfortbildung im Privatrecht

a) Rechtsfortbildung praeter legem Weitgehend unkontrovers ist im deutschen Privatrecht die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung oder Rechtsfortbildung praeter legem. Sie ist Rechtsfortbildung über den möglichen Wortsinn der Norm hinaus, aber noch im Rahmen des ursprünglichen Plans, der Teleologie des Gesetzes.16 Sie führt nach herkömmlichem Verständnis dazu, dass das Recht entweder weiter oder enger angewandt wird als vom Gesetz vorgesehen. Die Fälle der weiteren Anwendung sind die Analogie und die teleologische Extension. Die Analogie ist das weithin bekannteste Mittel der Rechtsfortbildung, für die auf eine 13 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, Kapitel 5. 14 Auch wenn sich hierfür in der Praxis Beispiele finden lassen; vgl. unten 1. d). 15 Wobei sich die Rechtsfortbildung auf den Tatbestand einer Norm, dessen Rechtsfolge oder auf beides beziehen kann. 16 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 187.

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nahezu unübersehbare Literatur verwiesen werden kann,17 und das nicht nur im deutschen Recht. Für die Analogie gilt die Warnung Johann Wolfgang von Goethes:18 „Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles in’s Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet.“ Bei der Analogie wird bekanntlich zwischen der Einzel- bzw. Gesetzesanalogie einerseits und der Gesamt- bzw. Rechtsanalogie andererseits unterschieden.19 Daneben sind im Hinblick auf den Umfang einer analogen Anwendung von Normen die Gebiets- und die Auswahlanalogie möglich.20. Mit der Gebietsanalogie wird die Möglichkeit einer analogen Anwendung sämtlicher Normen eines rechtlichen Regelungskomplexes bezeichnet,21 während bei der Auswahlanalogie nur eine differenzierte („punktuelle“) analoge Anwendung von Vorschriften eines Regelungskomplexes vorgenommen wird.22 Die Analogie setzt voraus, dass eine (weite) Auslegung der Norm zu einem rechtlich nicht überzeugenden Ergebnis führt, kein Analogieverbot besteht,23 eine Gesetzeslücke vorliegt,24 diese planwidrig ist, eine rechtliche Ähnlichkeit zwischen dem geregelten und dem ungeregelten Fall festgestellt werden kann und grundsätzlich keine contra-legem-Rechtsfortbildung gegeben ist.

17 Vgl. nur Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV: Dogmatischer Teil, 1977, S. 283-285; Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 102–148. 18 Maximen und Reflexionen, XII, 368. 19 Dazu Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 102–148. 20 Beschrieben bei Lucaj, Grenzüberschreitende Verschmelzung mit Drittstaatenbezug, 2017, S. 256 f. 21 Erwogen z.B. für §§ 122a ff. UmwG bei grenzüberschreitender Verschmelzung mit Drittstaatenbezug; vgl. Lucaj, Grenzüberschreitende Verschmelzung mit Drittstaatenbezug, 2017. 22 Wiederum erwogen z.B. für §§ 122a ff. UmwG bei grenzüberschreitender Verschmelzung mit Drittstaatenbezug; vgl. Lucaj, Grenzüberschreitende Verschmelzung mit Drittstaatenbezug, 2017. 23 Wie z.B. im Strafrecht durch Art 103 Abs. 2 GG und dem wortgleichen und damit, weil niederrangigen, bloß deklaratorischen § 1 StGB; vgl. zum Analogieverbot Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I: Grundlagen. Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl. 2006, § 5 Rz. 8, 26-39. 24 Gesetzeslücke ist die Unvollständigkeit eines einzelnen Gesetzes in sich (Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 196). Die „Rechtslücke“ ist dagegen eine Unvollständigkeit der Rechtsordnung im Ganzen (Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 196); sie soll keine gesetzesimmanente Rechtsfortbildung begründen können (Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 198). Außerdem kommen Prinzipienlücken in Betracht, die eine rechtsethische Rechtsfortbildung gebieten können; vgl. Herbert, Radbruch’sche Formel und gesetzgeberisches Unterlassen, 2017 (vgl. auch die abweichende Definition von „Prinzipien- oder Wertlücken“ bei Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 197).

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Das Recht wird enger angewandt bei einer teleologischen Reduktion,25 deren Auffinden, Bezeichnen und Konturieren Karl Larenz gelungen ist.26 Die teleologische Reduktion besteht in der Beschränkung einer Norm auf den ihr nach dem Sinngehalt der Norm zukommenden Anwendungsbereich.27 Sie erfordert, dass eine (restriktive) Auslegung der Norm zu einem rechtlich nicht überzeugenden Ergebnis führt, kein Reduktionsverbot besteht,28 eine Gesetzeslücke vorliegt,29 diese planwidrig ist, eine Einschränkung für den gesamten Anwendungsbereich der Norm eingeführt wird30 und keine contra-legem-Rechtsfortbildung festzustellen ist.31 Ein berühmtes Bespiel für eine teleologische Reduktion stellt das Insichgeschäft des Vertreters dar, das dem Vertretenen lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt. § 181 BGB wird insoweit teleologisch reduziert.32 Die teleologische Extension33 wird in Rechtsprechung und Literatur selten hervorgehoben.34 Bei dieser von Canaris so bezeichneten Form der Rechtsfortbildung (die er als Gegenstück zur teleologischen Reduktion eingeführt hat) wird der zu enge Wortsinn einer Norm erweitert, ohne dass es sich um eine Analogie handelt, da keine Rechtsähnlichkeit zwischen geregeltem und ungeregeltem Fall besteht.35 Nach Canaris ist bei der teleologischen Extension der Wortlaut einer Vorschrift zu eng gegenüber ihrem Sinn, während der Gesetzeszweck die Erweiterung der Norm for-

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Brandenburg, Die teleologische Reduktion, 1985. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, § 80. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, § 80. Aus Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB folgt auch, dass Normen, die eine Sanktion einschränken oder entfallen lassen, nicht teleologisch reduziert werden dürfen; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 618. Larenz und Canaris gehen davon aus, dass es sich um eine verdeckte Lücke im Gesetz handeln muss, die dann vorliegen soll, wenn eine Norm „entgegen ihrem Wortsinn, aber gemäß der immanenten Teleologie des Gesetzes einer Einschränkung bedarf“; Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 210; kritisch dazu Brandenburg, Die teleologische Reduktion, 1985, S. 60–65, der von der Feststellung einer verdeckten „Lücke“ absehen will, da immerhin eine Regelung vorliegt, wenn auch keine angemessene; er empfiehlt zunächst zu prüfen, ob eine textlich unveränderte Norm zu einem berichtigungsbedürftigen Ergebnis führt („Wertungsschritt“) und dann eine textliche Ergänzung vorzunehmen („formaler Schritt“) (Brandenburg, Die teleologische Reduktion, 1985, S. 65); ein inhaltlicher Unterschied zu der Auffassung von Larenz/Canaris ist schwerlich festzustellen. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, § 80. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 210–213. Franz Reimer (Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 622) sieht die Einschränkung durch Einfügung eines ungeschriebenen Merkmals als „Alternative“ zur teleologischen Reduktion an, da er die teleologische Reduktion selbst als Form der Auslegung betrachtet. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 211–213. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, §§ 81 f. Z.B. nicht bei Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020 und Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 381-383; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, §§ 81 f.

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dert.36 Sie stellt eine Korrektur des Normtextes dar37 und findet statt, indem ein fehlendes Tatbestands- oder Rechtsfolgemerkmal in einer Norm ergänzt wird. Auf die Korrektur des Normtextes wird zurückzukommen sein, da man in der teleologischen Extension eine Form der teleologischen Umformung sehen kann (wenn man sich dieser neuen Kategorie der Rechtsfortbildung anschließt). Ein Beispiel für eine teleologische Extension findet sich bei § 49 Abs. 2 HGB.38 Der Prokurist kann eine „Veräußerung und Belastung von Grundstücken“ nur vornehmen, wenn ihm eine Befugnis dazu besonders erteilt worden ist. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist somit (nur) das Verfügungsgeschäft ausgeschlossen. Nach Sinn und Zweck der Vorschrift soll die Vollmacht des Prokuristen aber schon für das Verpflichtungsgeschäft erforderlich sein. Der Wortlaut der Vorschrift wird insoweit ergänzt und erweitert.39 b) Entwicklung des Rechts durch Generalklauseln und Prinzipien Auf zwei weitere Formen der Entwicklung des Rechts ist hinzuweisen, die in der Methodenlehre häufig nur am Rande behandelt werden: Die Anwendung von Rechtsprinzipien und die Fortbildung des Rechts über Generalklauseln. In beiden Fällen wird keine Rechtsfortbildung im soeben beschriebenen Sinne durchgeführt; sie entwickeln das Recht aber in fortbildungsähnlicher Weise weiter. Der Begriff des Rechtsprinzips wird in vielfältiger Art und Weise gebraucht.40 Im hier interessierenden Zusammenhang bedeutet Rechtsprinzip einerseits ein dogmatisches Prinzip und andererseits ein Abwägungsgebot. Um mit letzteren zu beginnen: Normen können als Abwägungsgebote41 ausgestaltet sein wie beispielsweise die Grund-

36 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, § 81. 37 Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 623 (unglücklich ist Reimers gleichzeitige Bezeichnung der teleologischen Extension als „erweiternde Auslegung“, da aufgrund des Eingriffs in den Normtext eine Form der Rechtsfortbildung vorliegt); Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, 11. Aufl. 2020, Rz. 904 sehen in der teleologischen Extension einen Spezialfall der Analogie. 38 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, § 81; Canaris, Handelsrecht, 24. Aufl. 2006, § 12 III 2. 39 Das Beispiel zeigt, dass die teleologische Extension in diesem Fall eine teleologische Addition darstellt. Sie wird deshalb vom Verfasser der teleologischen Umformung zugeordnet; vgl. unten 2. a). 40 Vgl. für einzelne Aspekte Röver, Vergleichende Prinzipien dinglicher Sicherheiten, 1999, S. 77-96. 41 Alexy, Theorie der Grundrechte, 2006, S. 75 f. (Alexy spricht von „Optimierungsgeboten“, was zu weitreichend ist, weil ein Optimierungsgebot für einzelne Normen erst konkret begründet werden muss und nicht generell angenommen werden kann; später hat er seine ursprüngliche Prinzipienkonzeption modifiziert und zwischen „zu optimierenden Geboten“ und „Geboten zu optimieren“ unterschieden: Alexy in Schilcher/Koller/Funk [Hrsg.], Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, 2000, S. 31-52, sowie um den Begriff des „idealen Sollens“ erweitert: Alexy in Clérico/Sieckmann [Hrsg.], Grundrechte, Prinzipien und Argumentation, 2009, S. 21-38).

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rechte oder andere Verfassungsprinzipien;42 dies ist eine Strukturbeschreibung von positivrechtlichen Normen. Solche Abwägungsgebote können sich im Zeitverlauf weiterentwickeln. Ein dogmatisches Rechtsprinzip ist dagegen eines, das bei der Anwendung des positiven Rechts herangezogen wird; es liegt dem positiven Recht zugrunde und ist Teil des Rechtssystems (was indes eine entsprechende rechtliche Begründungsfähigkeit des Prinzips voraussetzt). Solche dogmatischen Rechtsprinzipien stellen systematische Zusammenhänge im Recht her und dienen als methodische Instrumente bei Auslegung, Konkretisierung und Rechtsfortbildung. Das beste Beispiel hierfür ist das Prinzip der Vertrauenshaftung (mit dem Unterprinzip der Rechtsscheinhaftung), das von verschiedenen Rechtswissenschaftlern aufgespürt43 bevor es von Claus-Wilhelm Canaris in seiner Habilitationsschrift umfassend entfaltet wurde44. Die Anwendung eines dogmatischen Prinzips verbindet häufig einen Induktionsschluss (also einen Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine) mit einem Deduktionsschluss (einen Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere), z.B. wenn das allgemeine dogmatische Prinzip weiter differenziert werden muss (wie die Aufteilung der Privatautonomie in ihre Ausformungen (Schuld-)Vertragsfreiheit, Eigentumsfreiheit, Eheschließungsfreiheit und Testierfreiheit). Schließlich kann unter das gewonnene dogmatische Prinzip oder Unterprinzip subsumiert werden45 bzw. es im Rahmen einer Auslegung, Konkretisierung oder Rechtsfortbildung herangezogen werden. In diesem Prozess kann das Recht fortgebildet werden wie z.B. durch Nachweis des Prinzips der Vertrauenshaftung. Diese dogmatischen Rechtsprinzipien stellen – jedenfalls vor anwendungsfähiger Konkretisierung – keine Normen dar. Sie können strukturell Abwägungsgebote darstellen, müssen es aber nicht. Generalklauseln haben nach Franz Wieackers klassischer Differenzierung die Funktionen der Gesetzeskonkretisierung, -ergänzung und -korrektur.46 Sie werden in einem evolutionären Prozess weiterentwickelt, wobei die Rechtsprechung im Zeitverlauf bestimmte Fallgruppen herausbildet.47 Man spricht in der neueren Methodenliteratur 42 Vgl. zum Vorschlag des „Proportionalbegriffs“ bzw. „Abwägungsbegriffs“ Röver in BeckOGK BGB, Stand: 1.10.2020, § 259 BGB Rz. 27, § 260 Rz. 69. 43 Wellspacher, Vertrauen auf äußere Tatbestände im bürgerlichen Rechte, 1906; H. Stoll, Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen, LZ 1925, S. 532–548; H. Stoll, Die Lehre von den Leistungsstörungen, 1936; H. Stoll, Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung, AcP Bd. 136 (1936), 257; Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen, 1950; Ballerstedt, Zur Haftung für culpa in contrahendo bei Geschäftsabschluß durch Stellvertreter, AcP Bd. 151 (1950/51), 501. 44 Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, 1971. 45 Nach Reimer müssen bei der Anwendung eines Rechtsgrundsatzes, z.B. des Grundsatzes der Schadensteilung bei mitwirkender Verursachung, der aus § 254 BGB abgeleitet wird (dazu Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, § 67 I 2 a; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 602), die Rechtsfolgen der Ausgangsnormen nicht im Einzelnen Anwendung finden (Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 556). 46 Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, S. 21, 22 ff., 26 ff., 36 ff. 47 Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 8 Rz. 26–34; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 264.

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bei der rechtlichen Aufbereitung der Generalklauseln vom Vorgang der Konkretisierung, der neben Anwendung, Auslegung und Rechtsfortbildung die vierte Grundkategorie der Methodenlehre bildet.48 c) Rechtsfortbildung extra legem Die gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung geht über die Teleologie des (konkreten) Gesetzes hinaus, bleibt aber innerhalb des Rahmens und der leitenden Prinzipien der Gesamtrechtsordnung.49 Gutes Beispiel einer Rechtsfortbildung extra legem ist die gesetzlich nicht geregelte rechtsgeschäftliche Vertragsübernahme,50 die nach herrschender Meinung eine abstrakte Verfügung über den Vertrag darstellt. Das BGB hat sie nicht vorgesehen (kennt allerdings in § 566 Abs. 1 BGB und § 613a Abs. 1 Satz 1 BGB gesetzliche Vertragsübernahmen).51 d) Rechtsfortbildung contra legem In Einzelfällen findet sogar eine Rechtsfortbildung „gegen“ das Gesetz statt, die eigentlich bereits aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes nach Art. 20 Abs. 3 GG ausgeschlossen ist. Die Aufwertungsrechtsprechung des Reichsgerichts bietet ein Beispiel für eine solche Rechtsfortbildung gegen das Gesetz.52 Das dem deutschen Recht zugrunde liegende Nennwert- oder Nominalprinzip,53 wonach insbesondere das Prinzip der Geldsummenschuld gilt und demnach bei Geldschuldverhältnissen der Nennwert maßgebend ist,54 wurde während der Hyperinflation 1922/23 durchbrochen, indem durch Aufwertung von (nominell geringwertigeren) Geldforderungen eine Anpassung des Vertragsinhalts vorgenommen wurde.55 e) Andere Formen der Rechtsfortbildung? Während sich die Methodenlehre bei der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung mit der weiten und engen Anwendung von Normen auseinandersetzt, gibt es offensichtlich kein anerkanntes Instrument, das sich mit der Anwendung einer Norm in „ande48 Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, 3. Teil; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 475–547. 49 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 187. 50 Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 11. Aufl. 2017, Rz. 759; Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. I: Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 1987, § 35 III; Grüneberg in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 398 BGB Rz. 41. 51 Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 11. Aufl. 2017, Rz. 759. 52 RGZ 107, 78; Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 44 Fn. 107, S. 78 Fn. 51; Rüthers, Unbegrenzte Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 69 ff. 53 K. Schmidt in Staudinger, §§ 243–254 BGB, 12. Aufl. 1983, Vorbem. zu § 244 Rz. D 20D 43. 54 K. Schmidt in Staudinger, §§ 243–254 BGB, 12. Aufl. 1983, Vorbem. zu § 244 Rz. D 32 mit Bezug auf BFHE 89, 422, 434. 55 K. Schmidt in Staudinger, §§ 243–254 BGB, 12. Aufl. 1983, Vorbem. zu § 244 Rz. D 90-140; Larenz, Schuldrecht Bd. I: Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 1987, § 10 II d.

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rer Weise“ als vom Gesetz vorgesehen beschäftigt. Dem soll sich der nächste Abschnitt dieses Beitrags zuwenden.

2. Typen der teleologischen Umformung Im Folgenden werden fünf Formen der teleologischen Umformung als (neue) Typen der Rechtsfortbildung unterschieden und mit praktischen Beispielen belegt: die teleologische Addition, Subtraktion, Substitution, Fusion und sonstige teleologische Umformung. Sie alle verbindet, dass Normen in „anderer Weise“ angewendet werden, als der Wortlaut es vorsieht. Die teleologische Abstufung und die teleologische Trennung stellen dagegen keine Formen der teleologischen Umformung dar, sondern bewegen sich noch im Rahmen der Auslegung. a) Teleologische Addition Die teleologische Addition kommt in der Praxis überraschend häufig vor. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass dem Wortlaut einer Norm ein Merkmal hinzugefügt, ohne dass dadurch der Anwendungsbereich der Norm eingeschränkt wird, wie es bei der teleologischen Reduktion der Fall ist. Ein gutes Beispiel für diese Art der Rechtsfortbildung ist die Präzisierung von § 892 Abs. 2 Fall 1 BGB. Nach dieser Vorschrift ist der maßgebliche Zeitpunkt für den guten Glauben beim gutgläubigen Erwerb eines Sachenrechts an Immobilien ausnahmsweise der Zeitpunkt der Antragstellung beim Grundbuchamt (und zwar wenn der gute Glaube des Erwerbenden nicht bis zur Eintragung im Grundbuch fortgedauert hat). Diese gesetzliche Vorschrift passt allerdings nicht, wenn bei einer Hypothek oder Grundschuld zusätzlich zur Grundbucheintragung weitere Entstehungs- oder Übertragungsvoraussetzungen vorliegen müssen, insbesondere die Übergabe eines Hypotheken- oder Grundschuldbriefs. Die Vorschrift ist deshalb richtigerweise so zu ergänzen, dass „nur noch“ die Eintragung erforderlich ist und falls das nicht der Fall ist, muss eben auf den Zeitpunkt der letzten Entstehungsvoraussetzung abgestellt werden.56 Eine teleologische Addition kann man ebenso in der Rechtsprechung zur Verarbeitungsklausel im Zusammenhang mit § 950 Abs. 1 Satz 1 BGB erkennen. § 950 Abs. 1 BGB stellt als gesetzlicher Eigentumserwerbsgrund eine zwingende Norm des Sachenrechts dar. Hersteller im Sinne dieser Vorschrift ist grundsätzlich derjenige, welcher den Verarbeitungsvorgang vornimmt. Gleichwohl ist nach der Rechtsprechung eine „Definition“ des Herstellerbegriffs im Einzelfall im Wege der Vereinbarung einer Verarbeitungsklausel zwischen „eigentlichem“ und „definiertem“ Hersteller möglich (wobei es sich um eine dingliche Abrede handelt, die nicht auf die Vertragsfreiheit nach § 311 Abs. 1 BGB gestützt werden kann). Somit kann auch eine Bank oder ein Stofflieferant „Hersteller“ im Sinne von § 950 Abs. 1 Satz 1 BGB sein. Der Begriff des Herstellers in § 950 Abs. 1 BGB wird im Zusammenhang mit der Verarbeitungsklau56 RGZ 89, 152, 160; Herrler in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 892 BGB Rz. 25; Baur, Lehrbuch des Sachenrechts, 15. Aufl. 1989, § 23 IV 1 b.

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sel somit ergänzt um denjenigen, der als Hersteller vereinbart wird. Der Erwerb durch den tatsächlichen Hersteller nach § 950 Abs. 1 Satz 1 BGB wird nicht ersetzt,57 sondern durch die Möglichkeit des Erwerbs durch den „definierten“ Hersteller erweitert. Interessant ist auch die Frage nach der Rechtsfolge beim Herausgabeanspruch nach § 985 BGB gegenüber einem mittelbaren Besitzer. Hier dürfte klar sein, dass grundsätzlich die Herausgabe des unmittelbaren Besitzes an den Eigentümer zu erfolgen hat,58 wie es der Wortlaut der Vorschrift vorsieht. Der Eigentümer kann allerdings auch die Abtretung des Herausgabeanspruchs des mittelbaren gegenüber dem unmittelbaren Besitzer aus dem Besitzmittlungsverhältnis an sich, den Eigentümer, nach §§ 870, 398 Satz 1 BGB wählen.59 Diese Überlegung ist zwar gut begründbar, aber weit entfernt vom Wortlaut „Herausgabe“ und stellt deshalb eine teleologische Addition zu § 985 BGB dar. Ebenso ist das Erfordernis des Verkehrsgeschäfts beim gutgläubigen Erwerb von dinglichen Rechten eine teleologische Addition. Obwohl weder im Wortlaut von § 892 BGB noch von § 932 BGB angedeutet, ist der rechtsgeschäftliche gutgläubige Erwerb ausgeschlossen, wenn für den Rechtsscheingedanken mangels eines „Verkehrsgeschäfts“ kein Raum ist.60 Zudem ist in der Einführung von Voraussetzungen für Prozesshandlungen der Prozessparteien (wie Klageerhebung oder Einlegung einer Berufung) eine teleologische Addition zu sehen, da die ZPO selbst diese nicht ausdrücklich geregelt hat.61 Die Voraussetzungen und Wirkungen von Prozesshandlungen bestimmen sich nach dem Prozessrecht,62 und auch wenn man die Anwendung einzelner prozessualer Vorschriften (z.B. der Parteifähigkeit, § 50 ZPO) durch eine analoge Anwendung begründen kann, ist doch das Erfordernis der Prozesshandlungsvoraussetzungen als solches am besten durch eine teleologische Addition zu erklären. Ein besonderes Problem war lange die aktive Parteifähigkeit von Gewerkschaften in Zivilprozessen. Sie sind traditionell als nicht rechtsfähige Vereine organisiert.63 Die Parteifähigkeit knüpft nach § 50 Abs. 1 ZPO aber an die Rechtsfähigkeit an. In § 50 57 Deshalb handelt es sich nicht um die unten 2. c) beschriebene teleologische Substitution. 58 Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 26. Aufl. 2017, Rz. 448. 59 Herrler in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 985 BGB Rz. 9. 60 Baur, Lehrbuch des Sachenrechts, 15. Aufl. 1989, § 23 III 3 d, § 52 II 5. Das Erfordernis des Verkehrsgeschäfts könnte man auch als teleologische Reduktion der Gutglaubensvorschriften ansehen. Da aber nicht der gesamte Anwendungsbereich einer Norm eingeschränkt wird, sondern ein ganzes Rechtsinstitut, wird hier die Zuordnung zur teleologischen Addition vorgenommen. 61 Seiler in Thomas/Putzo, 41. Aufl. 2020, Einl. III 3; Henckel, Prozessrecht und materielles Recht, 1970, S. 26–40; Greger in Zöller, 33. Aufl. 2020, vor §§ 128–252 ZPO Rz. 14–25. Kritisch zur Lehre von den Prozesshandlungen Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, 2. Aufl. 1974, S. 206-208. 62 Ellenberger in Palandt, 80. Aufl. 2021, Überbl. v. § 104 BGB Rz. 37. 63 Bekanntlich eine historisch zu erklärende Wahl, die mit der gewerkschaftsfeindlichen Gesetzgebung des Kaiserreichs zu erklären ist.

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Abs. 2 ZPO a.F. war bestimmt worden, dass nicht rechtsfähige Vereine passiv parteifähig sind; im Umkehrschluss ergab sich, dass eine aktive Parteifähigkeit nicht bestand.64 Dies stand nach Inkrafttreten des Grundgesetzes in eklatantem Widerspruch zu Art. 9 Abs. 3 GG, wonach das Grundrecht besteht, „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden“ (Koalitionsfreiheit). Der BGH hat deshalb die aktive Parteifähigkeit von Gewerkschaften anerkannt.65 Somit wurde in § 50 Abs. 2 ZPO a.F. die aktive Parteifähigkeit teleologisch addiert. Die Bedeutung der teleologischen Addition im Europarecht kann anhand der Warenverkehrsfreiheit verdeutlicht werden. Wesentliches Element der Warenverkehrsfreiheit in der früheren Europäischen Gemeinschaft und heutigen Europäischen Union ist ein Verbot mengenmäßiger Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und von Maßnahmen gleicher Wirkung (vgl. Artt. 30, 34 Abs. 1 EWGV, später Artt. 28 ff. EGV und nunmehr Artt. 34 ff. AEUV). Jedoch ist keine Freiheit unbegrenzt. Ausnahmen vom Verbot waren vor allem in Art. 36 Satz 1 EWGV enthalten (vgl. nunmehr Art. 36 Satz 1 AEUV). Für die Maßnahmen gleicher Wirkung hat der EuGH in seinem Cassis de Dijon-Urteil, einer der berühmtesten gemeinschaftsrechtlichen Entscheidungen, anerkannt, dass weitere zwingende Erfordernisse die Verbotsfolge ausschließen können.66 Unter solchen zwingenden Erfordernissen hat der EuGH sehr konkret (1) eine wirksame steuerliche Kontrolle, (2) den Schutz der öffentlichen Gesundheit, (3) die Lauterkeit des Handelsverkehrs (kein unlauterer Wettbewerb) und (4) den Verbraucherschutz verstanden. Da die Aufzählung nur beispielhaft ist („insbesondere“), können daneben auch sonstige zwingende Erfordernisse Berücksichtigung finden. Nicht erheblich ist allerdings der Gesichtspunkt bloßer wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Die zwingenden Erfordernisse sind nur heranzuziehen für Maßnahmen, die unterschiedslos inländische und Waren aus Mitgliedstaaten betreffen, nicht dagegen für unterschiedlich anwendbare Maßnahmen. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die zwingenden Gründe der Cassis-Formel als „immanente Schranken“ des Verbots mengenmäßiger Beschränkungen und Maßnahmen gleicher Wirkung in Art. 30 EWGV (jetzt Art. 34 AEUV) zu verstehen. Dieser Rechtsprechung ist jedenfalls insoweit zuzustimmen, als sie durch den Begriff der immanenten Schranke andeutet, dass es um Erfordernisse geht, die nicht dem Wortlaut der Vertragsvorschriften entnommen werden können. In der Literatur werden die zwingenden Erfordernisse teilweise nicht auf der Beschränkungsebene, sondern auf der Rechtfertigungsebene der Grundfreiheit berücksichtigt.67 In beiden Ansätzen, 64 § 50 Abs. 2 ZPO n.F. sieht inzwischen die aktive Parteifähigkeit von nicht rechtsfähigen Vereinen vor. 65 BGHZ 50, 325. 66 EuGHE 1979, 649, 662. 67 Enchelmaier, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2005, Rz. 12, 30; Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rz. 930–937. Dafür spricht einmal die systematische Zuordnung der zwingenden Erfordernisse zur Rechtfertigungsproblematik. Außerdem wird von der Rechtsprechung immer wieder betont, dass zwischen Art. 36 Satz 1 EWGV (jetzt Art. 36 Satz 1 AEUV) und den zwingenden Erfordernissen kein festes Vorrangverhältnis besteht. Schließlich prüft der EuGH die Schranken-Schranken des Art. 36 Satz 2 EWGV (jetzt Art. 36

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dem des EuGH zur Schutzbereichsebene wie dem der Literaturstimmen zur Rechtfertigungsebene, ist in den ungeschriebenen „zwingenden Erfordernissen“ rechtsmethodisch eine teleologische Addition zu sehen.68 Selbst im Verfassungsrecht kann man teleologische Additionen ausmachen (auch wenn hier die privatrechtliche Unterscheidung der Arten der Rechtsfortbildung nicht heranzuziehen ist). So gewährt Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei „zu wählen“. Dieser Wortlaut ist zu eng. Zusätzlich zur Berufswahl wird auch die Berufsausübung geschützt (die in Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG erwähnt ist), so dass im Ergebnis ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit vorliegt.69 Während bei Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG die Berufsausübung zu ergänzen ist, muss bei Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG die Berufswahl hinzugefügt werden, da der Gesetzesvorbehalt als Schranke der Grundrechtsausübung wiederum auf das einheitliche Grundrecht der Berufsfreiheit bezogen sein muss.70 Gleichsam an der Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung stehen die Fälle, in denen eine Norm auf eine andere Norm (oder mehrere Normen) verweist und geklärt werden muss, ob eine Rechtsfolgen- oder eine Rechtsgrundverweisung vorliegt. Hier wird meistens angenommen, dass es sich bei der Zuordnung zur Rechtsfolgen- oder Rechtsgrundverweisung um eine Auslegungsfrage handelt.71 Jedenfalls lässt sich aus dem Wortlaut der Vorschriften in der Regel nicht entnehmen, welche Art der Verweisung vorliegt.72 Um eine Rechtsgrundverweisung handelt es sich – nach herrschender aber umstrittener Meinung – bei der Verweisung von § 951 Abs. 1 Satz 1 BGB auf die §§ 812 ff. BGB, so dass die Voraussetzungen eines Bereicherungsanspruchs nach § 812 Abs. 1 BGB geprüft werden müssen.73 Eine modifizierte bzw. partielle Rechtsgrundverweisung findet sich beim Verwendungsersatzanspruch nach § 994 Abs. 2 i.V.m. § 683 Satz 1, § 670 BGB, wo die bei berechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag eigentlich erforderliche Prüfung eines Fremdgeschäftsfüh-

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Satz 2 AEUV) und der Verhältnismäßigkeit auch als Begrenzung der zwingenden Erfordernisse. Eine analoge Anwendung von Art. 36 Satz 1 EWGV (jetzt Art. 36 Satz 1 AEUV) würde im Übrigen nicht weiterhelfen, da die Vorschrift zwar Ausnahmen von Art. 30, 34 Abs. 1 EWGV enthält, aber eben gerade nicht die vom EuGH zugelassenen zwingenden Erfordernisse. Manssen, Staatsrecht I, 1995, Rz. 275, 563; Manssen, Staatsrecht II. Grundrechte, 16. Aufl. 2019, Rz. 610. Manssen, Staatsrecht I, 1995, Rz. 275, 563; Manssen, Staatsrecht II. Grundrechte, 16. Aufl. 2019, Rz. 639. Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 446. Diederichsen/Wagner, Die BGB-Klausur, 9. Aufl. 1997, 4. Teil II 4 b. Vgl. aber § 143 Abs. 1 Satz 2 InsO, der für die Insolvenzanfechtung auf die „Rechtsfolgen“ des Bereicherungsrechts verweist. Herrler in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 951 BGB Rz. 2. Nach wohl herrschender Lehre verweist § 951 Abs. 1 S. 1 BGB nur auf die Eingriffskondiktion nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 2 BGB; nach anderer Auffassung wird auch auf die Leistungskondiktion nach § 812 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 und § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB verwiesen (vertiefend Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, § 69 I 3 b, § 70 III 2).

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rungswillens des Geschäftsführers entfällt.74 Alle diese Ergänzungen sollen sich wie gesagt nach herrschender Lehre aus einer Auslegung der Vorschriften ergeben, wobei die klare Ergänzungsbedürftigkeit der gesetzlichen Verweisung einer teleologischen Addition sehr nahe kommt, wenn nicht für die Fälle der Rechtsgrundverweisung sogar treffender von einem rechtsfortbildungsähnlichen Vorgang ausgegangen werden sollte, der eine entsprechende Begründung erfordert. Abschließend ist nochmals auf die teleologische Extension einzugehen, die oben als eine Form der Rechtsfortbildung eingeführt wurde. Bei ihr nimmt man eine Erweiterung des zu engen Wortsinns vor, die keine Analogie ist, da keine Rechtsähnlichkeit festgestellt wird. Dies ist eine Korrektur des Normtextes durch Hinzufügung und ein Spezialfall der hier beschriebenen teleologischen Addition. Bei der teleologischen Extension wird nicht nur eine Hinzufügung zum Normtext vorgenommen, sondern auch eine Normerweiterung und zwar für den gesamten Anwendungsbereich der Norm (wie es bei teleologischen Reduktion der Fall ist). Die teleologische Extension ist somit eine teleologische Umformung oder genauer eine besondere Form der teleologischen Addition.75 b) Teleologische Subtraktion Bei der teleologischen Subtraktion wird der Norm ein (Tatbestands- oder Rechtsfolge-)Merkmal entnommen (und nicht wie bei der teleologischen Reduktion ein ungeschriebenes, einschränkendes [Tatbestands- oder Rechtsfolge-] Merkmal hinzugefügt). Im Europarecht findet sich ein Beispiel für die teleologische Subtraktion im Zusammenhang der Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV. Nach Art. 265 Abs. 1 Satz 1 AEUV kann sie gegen die Unterlassung von Beschlüssen durch das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Kommission oder die Europäische Zentralbank von den Mitgliedstaaten und den „anderen“ Organen der Union erhoben werden. Allerdings sind z.B. auch der Rat und die Kommission klagebefugt hinsichtlich der Unterlassungen des jeweils anderen Organs.76 Das Wort „anderen“ in Art. 265 AEUV ist also zu entnehmen. Eine interessante Illustration findet sich auch im Strafrecht für den Unterschlagungstatbestand in § 246 StGB a.F. Dieser knüpfte an eine fremde, bewegliche Sache und (in der alten Fassung) den Gewahrsam des Täters hieran an.77 Nach der von einer Minderheitsmeinung vertretenen sogenannten „großen berichtigenden ‚Auslegung‘“ war allerdings vom Gewahrsamserfordernis ganz abzusehen. Zueignung einer Sache, die der Täter im Besitz oder Gewahrsam hat, sollte nicht Teil der Unrechtstatbestands 74 Herrler in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 994 BGB Rz. 8. 75 Am Rande sei erwähnt, dass auch der das deutsche Recht durchziehende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.w.S. als teleologische Addition angesehen werden kann. 76 Vgl. Nicolaysen, Europarecht I, 2. Aufl. 2002, S. 383 f., noch zu der Vorläufervorschrift Art. 232 EGV. 77 Im 6. Strafrechtsreformgesetz (in Kraft seit 1.4.1998) hat der Gesetzgeber den Tatbestand des § 246 StGB neu formuliert und das Erfordernis des Gewahrsams des Täters gestrichen.

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bilden, sondern als Abgrenzungsformel nur ein tatbestandsneutrales Abgrenzungskriterium zu den Wegnahmedelikten sein.78 Damit wurde das Merkmal aus dem Tatbestand der Vorschrift entnommen; es hatte nur noch eine „Restwirkung“, indem es bei der Abgrenzung zwischen Unterschlagung und Wegnahmedelikten berücksichtigt wurde. c) Teleologische Substitution Bei der teleologischen Substitution oder teleologischen Ersetzung wird ein Merkmal durch ein anderes ersetzt und der Normtext auf diese Weise verändert. So überschreitet bei einem Insichgeschäft der Vertreter seine Vertretungsmacht; nach § 181 BGB kann ein Vertreter ein solches Rechtsgeschäft nicht vornehmen. Die ganz herrschende Meinung nimmt allerdings an, dass das Rechtsgeschäft entgegen des Wortlauts nicht unwirksam ist, sondern bloß schwebend unwirksam. Dies wird auf eine analoge Anwendung von § 177 Abs. 1 BGB gestützt.79 Tatsächlich wird aber das Tatbestandsmerkmal „nicht vorgenommen“ (d.h. unwirksam) in § 181 BGB durch „schwebend unwirksam“ ersetzt.80 Nach § 779 Abs. 1 BGB ist ein Vergleich81 unwirksam, wenn der von den Parteien zugrunde gelegte „Sachverhalt“ nicht der Wirklichkeit entspricht, wenn den Parteien also ein Sachverhaltsirrtum unterlaufen ist.82 Ein solches aus dem Wortlaut der Vorschrift abgeleitetes Verständnis geht aber fehl. Tatsächlich tritt Unwirksamkeit nicht nur bei einem Sachverhalts-, sondern auch bei einem Irrtum über vorausgesetzte Rechtsverhältnisse oder Rechtsbegriffe ein.83 Somit werden alle Verhältnisse tatsächlicher und rechtlicher Art erfasst.84 Der Begriff des „Sachverhalts“ wird also durch den Begriff der „Verhältnisse tatsächlicher oder rechtlicher Art“ ersetzt. Ein drittes Beispiel soll die teleologische Substitution verdeutlichen. Nach § 986 Abs. 1 Satz 1 BGB kann „der Besitzer […] die Herausgabe der Sache verweigern, wenn er […] dem Eigentümer gegenüber zum Besitz berechtigt ist.“ Der Gesetzgeber hat also das Besitzrecht als prozessuale Einrede gegenüber dem Herausgabeanspruch aus § 985 BGB ausgestaltet. Diesem Wortlaut der Norm hat insbesondere die Rechtspre78 Maurach, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, 1964, § 27 I a 2; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 339 f. 79 Ellenberger in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 181 BGB Rz. 15. 80 Wobei man auch eine teleologische Addition annehmen könnte, wenn man den Schwerpunkt auf die Hinzufügung von „schwebend“ legt. Da dogmatisch aber ganz unterschiedliche Unwirksamkeitsfolgen vorliegen, wird hier die Zuordnung zur teleologischen Subtraktion vorgenommen. 81 Und zwar sowohl der bürgerlichrechtliche als auch der Prozessvergleich; Sprau in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 779 BGB Rz. 29. 82 Fikentscher/Heinemann, Schuldrecht, 11. Aufl. 2017, Rz. 350 sprechen von einem „doppelseitigen Motivirrtum“. 83 Sprau in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 779 BGB Rz. 14 („‚Sachverhalt ist nicht wörtlich zu verstehen‘“); Esser, Schuldrecht, 2. Aufl. 1960, § 168 4 a. 84 BGH v. 6.11.2003 – III ZR 376/02, WM 2004, 1100; Sprau in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 779 BGB Rz. 14.

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chung lange die Treue gehalten. Dann hat sie aber anerkannt, dass § 986 Abs. 1 Satz 1 BGB eine Einwendung darstellt, die im Prozess von Amts wegen zu berücksichtigen ist.85 Dabei wird nicht genau bestimmt, um welche Art von Einwendung es sich handelt. Eine rechtshindernde wird es nicht sein, da eine Unwirksamkeit des Herausgabeanspruchs durch § 986 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht bewirkt werden soll. Aber auch eine rechtsvernichtende Einwendung wird man nicht annehmen, da das Besitzrecht – zumindest typischerweise – dem Herausgabeanspruch von vornherein entgegensteht und zudem den Anspruch nicht untergehen lassen soll. Man wird somit von einer Einwendung ausgehen müssen, die den Herausgabeanspruch zwar wie eine Einrede nicht in seinem Bestand betrifft, sondern nur seine Ausübung hemmt, anders als die Einrede aber nicht im Prozess erhoben werden muss. An die Stelle der vom Gesetz vorgesehenen Einrede tritt somit diese neue Form einer rechtshemmenden Einwendung, die von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Ein wohlbekanntes Beispiel findet sich weiterhin bei § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB. Danach hat der Eigentümer einen Unterlassungsanspruch, wenn „weitere Beeinträchtigungen“ zu besorgen sind. Der Gesetzeswortlaut setzt mithin eine Wiederholungsgefahr voraus. Dies ist nach ganz herrschender Meinung durch die Voraussetzung einer bloßen Begehungsgefahr zu ersetzen (oder jedenfalls zu ergänzen).86 Und noch ein Exempel findet sich im Sachenrecht: beim gutgläubigen Zweiterwerb einer Briefhypothek oder Briefgrundschuld kann nach § 1155 Satz 1, § 892 Abs. 1 Satz 1, § 129 BGB der Mangel des dinglichen Rechts überwunden werden,87 wenn über eine zusammenhängende Reihe von öffentlich (d.h. gemäß § 129 BGB notariell) beglaubigten Abtretungserklärungen das Gläubigerrecht auf einen eingetragenen Gläubiger88 zurückgeführt werden kann. Entgegen des Wortlauts („zusammenhängende Reihe von Abtretungserklärungen“) genügt allerdings eine Abtretungserklärung,89 und auch darin liegt eine teleologische Substitution (von dem durch das Wort „Reihe“ implizierten „mehrere“ durch „eine“). 85 BGH v. 22.4.1999 – I ZR 37–97, NJW 1999, 3716. 86 Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 26. Aufl. 2017, Rz. 628; Medicus/Petersen, Grundwissen zum Bürgerlichen Recht, 11. Aufl. 2019, Rz. 307. 87 Für den Mangel der gesicherten Forderung sind § 1155 Satz 1, § 1138 Fall 1, § 892 Abs. 1 Satz 1 BGB heranzuziehen. 88 Das BGB hat schuldrechtliche Ausdrücke auf das Verhältnis des Berechtigten zum Eigentümer übertragen, um eine terminologische Erleichterung einzuführen (Wolff/Raiser, Sachenrecht, 10. Aufl. 1957 § 131 I 2); den Erfolg dieser Erleichterung mag man bezweifeln, da dadurch leicht Verwirrung der Rechtsverhältnisse entstehen kann. Gemeint ist mit dem „Gläubiger“ in § 1155 Satz 1 BGB der Inhaber des Grundpfandrechts. 89 RGZ 86, 262; Herrler in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 1155 BGB Rz. 3; Baur in Soergel/Siebert, 10. Aufl. 1968, § 1155 BGB Rz. 7; Wolff/Raiser, Sachenrecht, 10. Aufl. 1957, § 142 VIII Fn. 16 („selbstverständlich“). Am Rande sei bemerkt, dass mit „einer Abtretungserklärung“ nicht die gezählt erste Abtretung gemeint ist, sondern die erste rechtlich relevante Abtretung. Da § 1155 BGB den Glauben an die Gläubigerstellung des nicht eingetragenen Hypothekeninhabers schützt, ist die relevante Abtretung erst die gezählt zweite Forderungsabtretung; die erste Abtretung wird nämlich von einem eingetragenen Hypothekeninhaber vorgenommen und unterliegt nicht dem Anwendungsbereich des § 1155 BGB. Al-

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Ein letztes Beispiel soll mit § 771 Abs. 1 Satz 1 ZPO gegeben werden, der Rechtsgrundlage für die sogenannte Drittwiderspruchsklage. Danach können Dritte „ein die Veräußerung hinderndes Recht“ gegen eine Zwangsvollstreckung in einen Gegenstand geltend machen. Der Begriff des „die Veräußerung hindernden Rechts“ ist dabei vom Gesetzgeber unglücklich gewählt worden. Selbst das stärkste Recht, das Eigentum, hindert die Veräußerung nicht, da es gutgläubig erworben werden kann. Gemeint sind stattdessen Rechte, die bewirken, dass der Gegenstand nicht zum Vermögen des Schuldners gehört.90 d) Teleologische Fusion Bei der teleologischen Fusion werden (Tatbestands- oder Rechtsfolge-)Elemente einer Norm gegen den Wortlaut zusammengelegt. Ein sinnfälliges Beispiel bieten §§ 133, 157 BGB. Während § 133 BGB sich dem Wortlaut nach nur auf die Auslegung einer Willenserklärung bezieht und § 157 BGB auf die Auslegung von Verträgen, wird inzwischen davon ausgegangen, dass beide Vorschriften die Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen betreffen und insoweit zusammengefasst werden. Beide Vorschriften zusammengenommen stellen also die Rechtsgrundlage für die Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen dar.91 Im Übrigen werden beide Vorschriften auf sonstige Rechtsgeschäfte jeder Art angewandt wie z.B. einseitige Rechtsgeschäfte (worin eine analoge Anwendung von §§ 133, 157 BGB zu sehen ist). Im Rahmen dieser fusionierten Vorschrift hat die herrschende Meinung einen Auslegungskanon entwickelt, der ganz wesentlich auf der Unterscheidung von empfangsdürftigen und nicht empfangsbedürftigen Willenserklärungen beruht (worin man wiederum eine teleologische Addition sehen mag).92 Ein Beispiel ist auch die sogenannte Baumbach’sche Kostenformel93 für bestimmte Kostenentscheidungen bei einfacher Streitgenossenschaft.94 Die Kostentragung der einfachen Streitgenossenschaft wird in § 100 ZPO geregelt. Danach werden die Kosten bei Unterliegen einfacher Streitgenossen grundsätzlich nach Kopfteilen verteilt (§ 100 Abs. 1 ZPO). Wenn allerdings ein einzelner Streitgenosse (oder mehrere aber nicht alle Streitgenossen) obsiegt oder unterliegt, ist diese Regel evidentermaßen nicht passend. Es werden dann nach herrschender Meinung §§ 91 f. ZPO für die Kos-

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lerdings muss auch die gezählt erste Abtretung in öffentlich beglaubigter Form stattfinden. Seiler in Thomas/Putzo, 41. Aufl. 2020, § 771 ZPO Rz. 1. Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, 11. Aufl. 2016, Rz. 319–326; Ellenberger in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 133 BGB Rz. 1 f., § 157 BGB Rz. 1. Medicus/Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, 11. Aufl. 2016, Rz. 322–326. Der Auslegungskanon wiederum (z.B. der Vorrang des übereinstimmenden Parteiwillens) stellt eine teleologische Addition zur teleologisch fusionierten Norm der §§ 133, 157 BGB dar. Benannt nach dem Prozessualisten Adolf Baumbach (1874-1945). Knöringer/Kunes, Die Assessorklausur im Zivilprozess, 18. Aufl. 2020, Rz. 14.12; Hüßtege in Thomas/Putzo, 41. Aufl. 2020, § 100 ZPO Rz. 5; Herget in Zöller, 33. Aufl. 2020, § 100 ZPO Rz. 4–9.

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tenentscheidung „kombiniert“ (und analog) angewandt.95 Nach § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat die unterliegende Partei die notwendigen Kosten des Rechtsstreits zu tragen; nach § 92 Abs. 1 ZPO sind die Kosten bei Teilunterliegen in der Regel verhältnismäßig zu teilen. Aus diesen Regeln wird eine entsprechende Kostentragung bei einfacher Streitgenossenschaft abgeleitet. Ein wichtiges Beispiel für die teleologische Fusion stellt die Schrankentrias in Art. 2 Abs. 1 GG dar. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hat nach dem Wortlaut der Vorschrift drei Schranken: die verfassungsmäßige Ordnung, die Rechte anderer und das Sittengesetz. Es ist anerkannt, dass die Rechte anderer vollständig in der „verfassungsmäßigen Ordnung“ in der weiten Auslegung durch das BVerfG enthalten sind.96 Auch beim Sittengesetz ist eine selbständige Rolle zweifelhaft: wenn man es als gute Sitten, Treu und Glauben versteht und diese ihrerseits grundgesetzkonform ausgelegt, kommt dem Sittengesetz als Grundlage für Freiheitsbeschränkungen keine praktische Bedeutung zu.97 Somit wird die Schrankentrias auf die verfassungsmäßige Ordnung „fusioniert“. Zum Schluss kann noch auf eine weitere Illustration aus dem Verfassungsrecht verwiesen werden: Art. 12 Abs. 2 GG (Verbot des Arbeitszwangs) und Art. 12 Abs. 3 GG (Verbot der Zwangsarbeit) werden von der herrschenden Lehre als einheitliches Grundrecht der Freiheit von Arbeitszwang und Zwangsarbeit angesehen.98 e) Sonstige teleologische Umformung Auch wenn sich viele Erscheinungen in die oben vorgeschlagenen Kategorien einordnen lassen werden, sind weitere Typen der teleologischen Umformung, auch Kombinationen denkbar. Eine weitere Differenzierung wäre im Hinblick auf die erforderliche Transparenz bei der Rechtsfortbildung zu wünschen. Einstweilen sollen solche weiteren Formen aber der Auffanggruppe der „sonstigen teleologischen Umformung“ zugewiesen werden. f) Abgrenzung der teleologischen Abstufung von der teleologischen Umformung Fraglich ist, ob die hier sogenannte „teleologische Abstufung“ als Form der Auslegung oder als teleologische Umformung und somit als gesetzesimmanente Rechtsfortbildung einzuordnen ist. So stellt z.B. in § 311 Abs. 2 BGB nach herrschender Meinung die Nr. 2 den Grundtatbestand dar, der durch Spezialregeln in Nr. 1 und 95 Vgl. BGH v. 15.1.1953 – VI ZR 46/52, BGHZ 8, 325. 96 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 1985, Rz. 442; Kingreen/Poscher, Grundrechte. Staatsrecht II, 36. Aufl. 2020, Rz. 459 f. 97 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 1985, Rz. 445. 98 Jarass in Jarass/Pieroth, 16. Aufl. 2020, Art. 12 GG Rz. 113, 117; Scholz in Maunz/Dürig, Stand: August 2020, Art. 12 GG Rz. 490, 503; a.A. Manssen, Staatsrecht I, 1995, Rz. 277; Manssen, Staatsrecht II. Grundrechte, 16. Aufl. 2019, Rz. 675–680.

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Nr. 3 ergänzt wird.99 Ein gesetzliches Schuldverhältnis entsteht somit grundsätzlich mit der Anbahnung eines Vertrags, bei der die Möglichkeit der Einwirkung auf Rechte, Rechtsgüter und Interessen des (potentiellen) Vertragspartners besteht (Nr. 2). Eine solche Anbahnung liegt insbesondere bei der Aufnahme von Vertragsverhandlungen vor (Nr. 1). Sie kann aber auch bei anderen geschäftlichen Kontakten entstehen, also bei Sonderverbindungen, die keine Leistungspflicht begründen (Nr. 3).100 Der Wortlaut der Vorschrift muss nicht notwendig als Grundtatbestand und erläuternde Einzelfälle gelesen werden. Man könnte auch drei selbständige Fälle in § 311 Abs. 2 BGB annehmen. Jedenfalls wird durch die teleologische Abstufung kein Eingriff in den Wortlaut einer Norm vorgenommen; vielmehr handelt es sich um eine Lesart, die als Auslegung angesehen werden kann.101 Auch hierfür trägt der Rechtsanwender die Argumentationslast, insbesondere wenn seine Lesart eine Änderung einer anerkannten Lesart darstellen.102 g) Abgrenzung der teleologischen Trennung von der teleologischen Umformung Die Lage stellt sich ähnlich dar bei der hier sogenannten teleologischen Trennung. Das klassische Beispiel ist das Verständnis von § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Vorschrift wurde ursprünglich überwiegend als einheitlicher Tatbestand verstanden, bei dem die Leistungskondiktion nur ein besonders hervorgehobenes Beispiel war (Einheitstheorie).103 Heute werden nach der herrschenden Trennungstheorie in § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB die beiden Alternativen der Leistungs- und Nichtleistungskondiktion klar unterschieden; beide Tatbestände haben unterschiedliche Voraussetzungen.104 Offensichtlich hat die Entscheidung für die Trennungstheorie systemrelevante Bedeutung. Gleichwohl wird auch hier kein Eingriff in den Wortlaut einer Norm vorgenommen. Es handelt sich wiederum um eine Auslegungsfrage, allerdings mit entsprechender Argumentationslast, wenn eine Auslegungsänderung von einer These zur anderen (z.B. der Einheits- zur Trennungstheorie) vorgenommen werden soll. Auch die Zuordnung eines Merkmals auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite entgegen des Gesetzeswortlauts ist eine teleologische Trennung und keine teleologi99 Grüneberg in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 311 BGB Rz. 23. 100 Grüneberg in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 311 BGB Rz. 24. 101 Zu beachten ist, dass selbst Zweckänderung und entsprechende Neuinterpretation einer Norm noch der Auslegung zugerechnet werden; vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 153–159, die jedoch darauf hinweisen, dass es „der Sache nach nichts anderes [ist] als eine richterliche Rechtsfortbildung“. 102 Zur Argumentationslast Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 1 Rz. 90. 103 Dazu Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 26. Aufl. 2017, Rz. 663. 104 Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2, 13. Aufl. 1994, § 67 I 2 a. Die Auffassung wurde begründet von Walter Wilburg (Die Lehre von der ungerechtfertigten Bereicherung nach österreichischem und deutschem Recht, 1934) und Ernst von Caemmerer (in FS Ernst Rabel, Bd. 1: Rechtsvergleichung und internationales Privatrecht, 1954, S. 333–401).

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sche Umformung. So hat der Verfasser beispielsweise vorgeschlagen, das Entfallen des Verzinsungsanspruchs nach § 256 Satz 2 BGB auf der Tatbestandsseite zu verorten, da es sich um eine Ausschlussbestimmung handelt; soweit § 256 Satz 2 BGB aber die Reduzierung des Verzinsungsanspruchs vorsieht, soll es sich um eine Rechtsfolgenbestimmung handeln.105 Andere Autoren behandeln die Vorschrift dagegen einheitlich im Rahmen der Rechtsfolgenseite von § 256 BGB.106 Wiederum handelt es sich um eine Auslegungsfrage, die allerdings nahe an der teleologische Substitution liegt (bzw. einer Kombination von teleologischer Subtraktion und teleologischer Addition), weil ein vom Gesetzeswortlaut als Rechtsfolgemerkmal ausgewiesenes Normelement in den Tatbestand „verschoben“ wird. h) Abgrenzung der Typen der teleologischen Umformung Auch wenn eine typologische Abgrenzung der einzelnen Formen der teleologischen Umformung untereinander sowie der teleologischen Umformung gegenüber anderen Formen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung möglich ist, ist eine trennscharfe Abgrenzung der einzelnen Fortbildungsmethoden sowie der Rechtsfortbildung gegenüber der Auslegung nicht in jedem Fall gegeben. Auch ist nicht auszuschließen, dass verschiedene Formen der Rechtsfortbildung miteinander verbunden werden.

3. Allgemeine Voraussetzungen der teleologischen Umformung Die teleologische Umformung führt in allen ihren Formen zu einem Eingriff in den Wortlaut einer Norm. Im Folgenden werden die allgemeinen Voraussetzungen für eine teleologische Umformung behandelt. Dabei ist vorauszuschicken, dass sich Rechtsfortbildung nach heutiger Auffassung vor dem Hintergrund eines teleologischen Verständnisses des Rechts vollzieht. Wir unternehmen sie im Rahmen eines rational geleiteten Argumentationsprozesses107 und unter Einsatz rechtlicher Argumente.108 a) Anwendungsbereich der teleologischen Umformung Häufig entsteht in der Literatur der Eindruck, als ob die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung auf sämtliche Normarten angewendet werden kann. Dabei sollte aber beachtet werden, dass sie sich nicht auf Generalklauseln bezieht.109 Diese haben an sich bereits Rechtsfortbildungsfunktion (vgl. oben 1. b)) und werden in einem evolutionären Prozess weiterentwickelt, wobei die Rechtsprechung im Zeitverlauf bestimmte Fallgruppen herausbildet. Man spricht in der neueren Methodenliteratur vom Vor105 106 107 108 109

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Röver in BeckOGK BGB, Stand: 1.10.2020, § 256 BGB Rz. 21 f., 36. Vgl. nur S. Lorenz in BeckOK BGB, Stand: 1.11.2020, § 256 BGB Rz. 9. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978. Dazu umfassend Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005; Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956.

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gang der Konkretisierung, der neben Anwendung, Auslegung und Rechtsfortbildung die vierte Grundkategorie der Methodenlehre bildet.110 Das Gleiche ist für Normen anzunehmen, die der Gesetzgeber als Prinzipien in der Form von Abwägungsgeboten ausgestaltet hat wie beispielsweise die Grundrechte oder andere Verfassungsprinzipien;111 allerdings können solche Abwägungsgebote, soweit sie sich in positivrechtlichen Normen finden, durchaus der teleologischen Umformung zugänglich sein (wie hier am Beispiel von Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1-3 GG bereits angedeutet wurde). Schließlich werden dogmatische Prinzipien des Rechts nicht über Rechtsfortbildung weiterentwickelt, sondern in dem ihnen eigenen Konkretisierungsprozess (zumal es sich bei ihnen vor ihrer Konkretisierung nicht um Normen handelt). b) Vorrang der Auslegung Wie bei anderen Typen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung ist vor der teleologischen Umformung zu versuchen, ein angemessenes Ergebnis durch Auslegung zu finden. Erst wenn die Auslegung nicht zum Ziel führt, kann die Rechtsfortbildung in Erwägung gezogen werden. Dabei ist jedoch daran zu erinnern, dass Auslegung und Rechtsfortbildung in der Praxis nicht immer so deutlich voneinander gesondert werden können, wie es in der Theorie den Anschein hat. c) Subsidiarität gegenüber anderen Formen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung? Es stellt sich die Frage, ob die teleologische Umformung (mit ihren verschiedenen Ausprägungen) gegenüber der Analogie und der teleologischen Reduktion112 subsidiär ist. Dies könnte man deshalb annehmen, weil die teleologische Umformung eine Korrektur des Normwortlauts vornimmt und deshalb andere, „mildere“ Formen der Rechtsfortbildung vorrangig heranzuziehen sind. Gegen die Annahme eines Subsidiaritätsverhältnisses sprechen aber zwei Überlegungen: Zunächst ist auch die teleologische Reduktion mit einer Korrektur des Gesetzeswortlauts verbunden. Bei ihr wird nämlich – jedenfalls soweit man sie als Form der Rechtsfortbildung ansieht113 – ein zusätzliches Tatbestands- oder Rechtsfolgemerkmal eingefügt und die Norm somit verengt. Außerdem stellen die Erweiterung (bei Analogie aufgrund von Rechtsähnlichkeit), Verengung und sonstige Veränderung einer Norm sachlich unterschied110 Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, 3. Teil; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 475–547. 111 Vgl. zum Vorschlag des „Proportionalbegriffs“ bzw. „Abwägungsbegriffs“ Röver in BeckOGK BGB, Stand: 1.10.2020, § 259 BGB Rz. 27, § 260 BGB Rz. 69. 112 Die teleologische Extension ist zwar bereits als Form der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung erkannt, gehört aber als Unterform zur teleologischen Umformung, und zwar als Spezialfall der teleologischen Addition. 113 Anders Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 614, der die teleologische Reduktion als „einengende Auslegung“ ansieht und deshalb die Einfügung eines ungeschriebenen Tatbestands- (oder Rechtsfolge-)Merkmals als „Alternative zur teleologischen Reduktion“ versteht; aaO., Rz. 622.

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liche Vorgänge dar, so dass sich schon deshalb ein Subsidiaritätsverhältnis verbietet. Im Übrigen mangelt es bei der teleologischen Umformung gegenüber der Analogie an einer Rechtsähnlichkeit. Im Vergleich zur teleologischen Reduktion wird keine Einschränkung des gesamten Anwendungsbereichs einer Norm vorgenommen. Allerdings muss man bei einer Korrektur des Gesetzeswortlauts durch teleologische Umformung wie bei anderen Typen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung eine entsprechende Begründung eines solchen Eingriffs beibringen (vgl. weiter unten f)). d) Kein Ausschluss der Rechtsfortbildung durch Umformungsverbot Die Rechtsfortbildung und damit auch die teleologische Umformung kann ausgeschlossen sein. Wie bei allen Formen der Rechtsfortbildung ist deren Zulässigkeit eine rechtliche Voraussetzung. Eine wesentliche Einschränkung ist das Rechtsfortbildungsverbot des Strafrechts nach Art. 103 Abs. 2 GG, das deklaratorisch in § 1 StGB wiederholt wird. Konkret dürfen Strafrechtstatbestände oder Normen, die eine Sanktion einschränken oder entfallen lassen, nicht zum Nachteil des Täters teleologisch umgeformt werden. e) Planwidrige Unvollständigkeit Die planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes, auch als Gesetzeslücke bezeichnet, wird gemeinhin als Grundvoraussetzung für die gesetzesimmanente Rechtsfortbildung angesehen.114 Gilt dies auch für die teleologische Umformung? Davon ist auszugehen. Zwar ist der Begriff der Gesetzeslücke durchaus umstritten.115 Es ist bislang allerdings nicht gelungen, eine bessere Voraussetzung für gesetzesimmanente Rechtsfortbildung im Privatrecht zu formulieren. Wenn man „Gesetzeslücke“ mit Unvollständigkeit eines einzelnen Gesetzes in sich definiert,116 so ist eine solche Unvollständigkeit auch bei den Fällen der teleologischen Umformung zu fordern. Die planwidrige Unvollständigkeit liegt im Übrigen nahe bei Redaktionsversehen und Übersetzungsfehlern.117 Der Gesetzgeber ist nämlich nicht unfehlbar. Ihm unterlaufen durchaus Redaktionsversehen und im Kontext der Europäischen Union kommt es zu Übersetzungsfehlern oder -ungenauigkeiten. So liegt ein Redaktionsversehen vor, wenn die Gesetzesredaktoren versehentlich einen anderen Ausdruck gewählt oder im Text belassen haben, als sie beabsichtigten.118 Gesetzgeberwille und Gesetzeswortlaut stimmen nicht überein.119 Hier wird der Rechtsprechung ein Kor114 Vgl. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 191– 201. 115 Zum Lückenbegriff Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 97–101. Kritisch z.B. zur Übertragung des Lückenbegriffs auf das Völkerrecht: Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, 1991. 116 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 196. 117 Zu Redaktionsversehen und Übersetzungsfehlern Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 608–612. 118 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 219. 119 Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 468.

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Rechtsfortbildung durch teleologische Umformung

rekturrecht eingeräumt.120 Umstritten ist, ob diese Korrektur Auslegung oder Rechtsfortbildung darstellt. Für beides finden sich Stimmen.121 Als Auslegung ordnen Autoren den Vorgang ein, die eine Trennung von Norm und Normsatz vornehmen. So weist Reimer darauf hin, dass eine Norm, die nicht vollkommen im Normsatz zum Ausdruck gekommen ist, durch eine entsprechende „korrigierende“ Auslegung122 angewendet werden kann. Da die Frage, ob ein Redaktionsversehen oder ein Übersetzungsfehler vorliegt, zunächst beantwortet werden muss und die Korrektur dieses Mangels einen Eingriff in den Normtext darstellt, sollte man aus Transparenzgründen diese Form des methodischen Vorgehens jedoch klar als Rechtsfortbildung kennzeichnen. Allerdings darf das Vorliegen eines solchen Mangels, wie gesagt, nicht bloß behauptet werden, sondern ist seinerseits zu begründen.123 Immerhin ist der Nachweis eines Redaktionsversehens oder eines Übersetzungsfehlers dann auch hinreichende Begründung für die entsprechende Korrektur. f) Begründung der teleologischen Umformung Die heutige Methodenlehre stützt sich auf einen Viererkanon von Wortlaut der Norm, historischer Auslegung i.w.S.,124 systematischer und teleologischer Auslegung. Dieser dürfte inzwischen zu eng geworden sein. Auch ökonomische, folgenorientierte und rechtsvergleichende Argumente haben in die juristische Methodenlehre Einzug gehalten.125 Allerdings können sie nicht für sich genommen eine rechtliche Begründung abgeben, sondern nur im Zusammenspiel mit den Kriterien des sogenannten juristischen Auslegungskanons, also zur Unterstützung rechtlicher Argumente. Wie bereits oben dargestellt wurde, sind Redaktionsversehen oder Übersetzungsfehlern oder -ungenauigkeiten hinreichende Begründung für die entsprechende Korrektur, müssen ihrerseits aber dargelegt werden. Sonstige teleologische Umformungen, die nicht auf Redaktionsversehen oder Übersetzungsfehler zurückzuführen sind, müssen entsprechend juristisch begründet werden. Grundsätzlich trägt der Rechtsanwender bei jeder Form der Rechtsfortbildung die Argumentationslast. Sie ist prinzipiell höher als bei der Entscheidung für eine bestimmte Auslegung und auf die Mittel der juristischen Methodenlehre zu stützen. Für die teleologische Umformung ist keine höhere Argumentationslast als bei anderen Formen der gesetzesimmanenten

120 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 219; Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 6 Rz. 46; Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 608. 121 Für Auslegung: Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 608; für Rechtsfortbildung: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 219. 122 Der Begriff der „korrigierenden Auslegung“ wird verwendet bei Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 609 f. 123 In diesem Sinne auch Reimer, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2020, Rz. 611 f. 124 Bei der wiederum genetische Auslegung (d.h. die Geschichte der konkreten Norm) und historische Auslegung i.e.S. (d.h. die Geschichte des Rechtsproblems) unterschieden werden können; Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 291-294. 125 Möllers, Juristische Methodenlehre, 3. Aufl. 2020, § 5 Rz. 56–158.

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Rechtsfortbildung anzunehmen, zumal kaum bestimmt werden kann, was „höher“ in diesem Zusammenhang bedeuten soll.

4. Teleologische Umformung und die contra legem-Grenze der Rechtsfortbildung Der geringe Fokus der Rechtsfortbildungslehre auf die teleologische Umformung sollte nicht überraschen. Zwar wird sie in der Praxis der Rechtsfortbildung der Sache nach genutzt (ohne dass für sie bislang eine entsprechende Terminologie existierte); sie bedeutet jedoch in vielen Fällen einen deutlichen Eingriff in den Normtext, der eine Lückenhaftigkeit der Norm zu korrigieren trachtet. Es liegt die Frage auf der Hand, ob solch eine Normtransformation nicht die contra legem-Grenze überschreitet. Eine Rechtsfortbildung ist nicht zulässig, wenn sie gegen das Gesetz verstößt, die contra-legem-Grenze der Rechtsfortbildung überschreitet. Nach Larenz/Canaris ist dies der Fall, wenn eine Rechtsfortbildung nicht mehr durch spezifisch rechtliche Erwägungen begründet werden kann.126 Trotz aller Versuche, den Raum der „spezifisch rechtlichen Erwägungen“ einzugrenzen, begegnet uns bei der Abgrenzung zulässiger und unzulässiger Rechtsfortbildung eine Grundantinomie des Rechts: der Grundwiderspruch zwischen Richterfreiheit und Richterbindung. Marietta Auer hat betont, dass diese Antinomie grundsätzlich unauflösbar ist. Empirische und normative Gründe sprechen jedenfalls dafür, eine gewisse Richterfreiheit anzunehmen.127 Es ist nicht das Anliegen dieses Aufsatzes, die Grundfrage der Rechtsmethodik über die Grenzen der Rechtsfortbildung zu beantworten. Hier ging es vielmehr um einen Nachweis, dass sich Rechtsfortbildung auch in den Formen der teleologischen Umformung vollzieht. Dies stellt nach einer berühmten Unterscheidung von H.L.A. Hart,128 die u.a. Robert Alexy129 und Marietta Auer130 aufgegriffen haben, einen externen Blick auf das Recht dar, im Gegensatz zu einem internen, der die genaue Begründung eines solchen Vorgehens erbringen muss.

126 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 250 f.; vgl. auch Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005. 127 Vgl. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 97 f. u.ö.; dagegen Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 5. Aufl. 2011, S. 117–121 und Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Aufl. 1983, S. 46–60, die beide von einer Bindung an Prinzipien ausgehen, wobei Alexy die Prinzipien eng als Optimierungsgebote versteht (Begriff und Geltung des Rechts, 5. Aufl. 2011, S. 120), Canaris dagegen von „tragenden Grundgedanken“ des Privatrechts ausgeht (Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Aufl. 1983, S. 46). 128 Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1994, S. 56 f., 88–90. 129 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 5. Aufl. 2011, S. 47 f. (er spricht von Beobachterund Teilnehmerperspektive). 130 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 212–219.

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Es gibt immer wieder ernstzunehmende Warnungen vor einem Zuviel an Rechtsfortbildung. So hat Werner Flume in einem grundlegenden Vortrag beim Deutschen Juristentag131 eine ganze Reihe von Entwicklungen der Rechtsprechung zurückgewiesen, weil sie aus seiner Sicht Grenzüberschreitungen contra legem darstellten. Er war skeptisch gegenüber der Tendenz, Rechtsfortbildung zu weit zu treiben.132 Die Spannung zwischen Richterbindung und Richterfreiheit verschwindet aber trotz solcher Warnungen nicht. Immerhin erinnern kritische Stimmen zur Rechtsfortbildung an ein verfassungsrechtlich fundiertes Gebot zur Zurückhaltung. Diesem kann dann am besten entsprochen werden, wenn Rechtsfortbildung zuallererst erkannt wird. Hierzu leistet die Kategorie der teleologischen Umformung einen wichtigen Beitrag.

5. Zusammenfassung Gesetzesimmanente (Analogie, teleologische Reduktion) und gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung stellen grundlegende, weitgehend anerkannte Formen der Rechtsfortbildung im deutschen Recht dar. Diese Formen der Rechtsfortbildung sind um die teleologische Umformung als weiteren Typ der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung zu ergänzen. Sie wird bislang in der methodologischen Literatur nur am Rande behandelt, spielt in der Praxis dagegen eine erhebliche Rolle. Die Figur der teleologischen Umformung ergänzt das bislang bekannte methodische Vorgehen bei gesetzesimmanenter Rechtsfortbildung um wichtige Instrumente. Die bereits zuvor in der rechtsmethodischen Literatur beschriebene teleologische Extension ist ein Fall der teleologischen Umformung (genauer ein Spezialfall ihres Untertyps der teleologischen Addition) und deutet auf deren Erforderlichkeit hin. Die Einführung der Kategorie der teleologischen Umformung legt Eingriffe in den Normtext offen, die üblicherweise durch allgemeine Redewendungen verdeckt werden (wie z.B. „berichtigende Auslegung“, „immanente Schranken“, „Anpassung“ oder „Korrektur“) und somit die Tendenz haben, ihren Charakter als Rechtsfortbildung zu kaschieren. Im Einzelnen können fünf Arten der teleologischen Umformung unterschieden werden, welche nun in ein weiter entwickeltes Verständnis der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung eingeordnet werden können:

131 Flume, Gesammelte Schriften, Bd. I, 1988, S. 1–29. 132 Großzügiger ist dagegen der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Günter Hirsch (Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003). Er sieht den Richter „im Spannungsverhältnis von Erster und Dritter Gewalt“, aber keine Tendenz der Rechtsprechung zur übermäßigen Rechtsfortbildung, vor der er aber wegen der „verfassungsrechtlichen Grenzen“ warnt.

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Gesetzesimmanente Rechtsfortbildung Erweiterung einer Norm bei Rechtsähnlichkeit

Reduzierung einer Norm

Sonstige Veränderungen einer Norm

• Analogie

• Teleologische Reduktion • Teleologische Umformung • Teleologische Addition (Spezialfall teleologische Extension) • Teleologische Subtraktion • Teleologische Substitution • Teleologische Fusion • Sonstige teleologische Umformung

Abbildung 2: Neuordnung der Typen der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung im Privatrecht

Das Ergebnis dieser Überlegungen ist eine Innovation der Methode der gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung und deshalb erstaunlich, nicht zuletzt weil die teleologische Umformung – außer in wenigen Andeutungen in der Literatur – bislang keine Aufmerksamkeit erhalten hat. Die Vielzahl der angeführten Beispiele sollte aber hinreichend dargelegt haben, dass ein Bedürfnis zur Erweiterung des Kanons der Methoden der Rechtsfortbildung besteht. Die teleologische Umformung kann – wie jede Rechtsfortbildung – muss aber nicht gegen die contra-legem-Grenze der Rechtsfortbildung verstoßen. Rechtsfortbildung ist das Grundcharakteristikum einer wandlungsfähigen Rechtsordnung, ist aber in hohem Maße begründungsbedürftig. Diese Begründung wird vermieden, wenn Rechtsfortbildung nicht transparent gemacht wird. Bei der Transparenzgewinnung unterstützt die Kategorie der teleologischen Umformung mit ihren Untertypen und sie ist insofern notwendig, um einen methodengerechten Umgang mit dem Recht zu gewährleisten.

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Einfluss der Sanierungssituation auf Finanzierungsverträge aus Kreditgebersicht Yorick M. Ruland

Inhaltsübersicht I. Einleitung 1. Problemstellung 2. Handlungsmöglichkeiten des Kreditinstituts II. Kündigung 1. Fristablauf 2. Ordentliche Kündigung a) Angemessenheit der Frist b) Verbot der Kündigung zur Unzeit c) Ausschluss der Kündigung bei wirtschaftlicher Abhängigkeit des Schuldners 3. Außerordentliche (fristlose) Kündigung a) Wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse b) Vertragsverletzung 4. Exkurs: Covenants III. Stillhalten IV. Kreditgewährungspflicht, Überbrückungs- und Sanierungskredit

1. Kreditgewährungspflicht? a) Problemstellung b) Meinungsstand aa) Rechtsprechung bb) Literatur cc) Stellungnahme 2. Überbrückungskredit 3. Sanierungskredit V. Insolvenzverschleppungshaftung (§ 826 BGB) 1. Haftungsvoraussetzungen a) Sittenwidrigkeit aa) Insolvenzreifes Unternehmen bb) Keine Sanierung bezweckt cc) Besonderheiten in der Covid-19-Pandemie b) Vorsatz c) Zurechenbarer Schaden 2. Ersatzberechtigte 3. Darlegungs- und Beweislast

I. Einleitung 1. Problemstellung „Wo es keinen Kredit gibt, da ist überhaupt ein Konkurs kaum denkbar“, so heißt es schon in den Motiven zur Konkursordnung.1

1 Hahn, Die gesamten Materialien zur Konkursordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar 1877, sowie zu dem Gesetze, betr. die Anfechtung von Rechtshandlungen eines Schuldners außerhalb des Konkursverfahrens vom 21. Juli 1879, 1881, S. 292.

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Doch gilt ebenso: In der Krise benötigt ein Unternehmen zumeist nichts dringender als frisches Geld, eben auch in Form von Krediten.2 Dadurch soll eine Sanierung des Unternehmens gelingen, um die wirtschaftliche Notlage eines Unternehmens zu beheben, die in (drohender) Zahlungsunfähigkeit oder (drohender) Überschuldung zum Ausdruck kommt. Deshalb ist gerade die Entscheidung der das Unternehmen finanzierenden Bank über den Umgang mit der eingetretenen Sanierungssituation bzw. der Sanierungsentscheidung und dem Sanierungswunsch des Unternehmens von besonderer Bedeutung. Sie ist mit ihren Auswirkungen auf Finanzierungsverträge häufig sogar ausschlaggebender Faktor für oder gegen die weitere Existenz des Unternehmens. Aktuell hat diese Problemstellung – welche auch dem häufig mit Krediten befassten Jubilar in seiner langen beruflichen Praxis aus unterschiedlichen Blickwinkeln begegnet ist und die er mittels der von ihm souverän beherrschten Instrumentarien gemeistert hat – im Lichte der COVID-19-Pandemie eine besondere Aufmerksamkeit verdient. 2. Handlungsmöglichkeiten des Kreditinstituts Welche Handlungsalternativen hat die Bank in der Krise des Unternehmens, wenn dieses zu deren Überwindung eine Sanierung anstrebt, also eine Sanierungsentscheidung getroffen hat und die Bank von dieser Sanierungsabsicht erfährt? Im Folgenden wird hierauf näher eingegangen.

II. Kündigung Ist für den Kreditvertrag eine Rückzahlungsfrist vereinbart worden, endet der Kreditvertrag mit dem Fristablauf. Fehlt eine Vereinbarung über die Laufzeit des Kreditvertrages, steht den Parteien – wie bei jedem unbefristeten Dauerschuldverhältnis3 – ggfs. ein ordentliches bzw. außerordentliches Kündigungsrecht zu. 1. Fristablauf Den Parteien steht es grundsätzlich frei, den Kreditvertrag zu befristen. Vereinbaren die Parteien eine Rückzahlungsfrist, so hat der Kunde den Kredit zu dem vereinbarten Zeitpunkt zurückzuzahlen, ohne dass es einer gesonderten Aufforderung oder gar Kündigung durch das Kreditinstitut bedürfte (§ 488 Abs. 1 S. 2 Halbs. 2 BGB).4 Der Rückzahlungsanspruch des Kreditinstituts unterliegt keinerlei Schranken:5 Da der Rückzahlungszeitpunkt für den Kreditnehmer vorhersehbar war, hat er sich darauf 2 Knops in Derleder/Knops/Bamberger, Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, 2. Auflage 2009, § 18 Rz. 1. 3 BGH v. 15.6.1955 – IV ZR 304/54, WM 1955, 1017; BGH v. 16.12.1968 – III ZR 151/66, WM 1969, 336. 4 Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.201; Kiethe, KTS 2005, 179. 5 Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.201.

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einstellen können (und müssen). Die Geltendmachung des Rückzahlungsanspruchs infolge Fristablaufs kann deshalb auch keine Rückforderung zur Unzeit darstellen.6 Ebenso scheidet ein Verstoß gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) oder einen durch langfristige Kreditgewährung geschaffenen Vertrauenstatbestands aus.7 Selbst wenn das Kreditinstitut mit dem Kreditnehmer vor Ablauf der Rückzahlungsfrist über eine Verlängerung des Kreditvertrages beraten hat, ist es deshalb noch nicht zur Vertragsverlängerung verpflichtet.8 Eine Pflicht zur Vertragsverlängerung besteht allenfalls dann, wenn das Kreditinstitut den Vertrag in der Vergangenheit wiederholt für eine bestimmte Zeit verlängert hat. Die Abweichung von der bisherigen Praxis kann dann gegen Treu und Glauben verstoßen, sofern das Kreditinstitut den Kreditnehmer nicht rechtzeitig darauf hinweist, dass es die bisherige Praxis aufgeben will.9 2. Ordentliche Kündigung Haben die Parteien eine feste Laufzeit nicht vereinbart, steht dem Kreditinstitut ein ordentliches Kündigungsrecht zu. Das Recht zur ordentlichen Kündigung ergibt sich – soweit die Parteien es nicht individualvertraglich geregelt haben – aus Nr. 19 Abs. 2 S. 1 AGB-Banken bzw. Nr. 26 Abs. 1 S. 1 AGB-Sparkassen (zum Geltungsbereich der AGB-Banken vgl. Nr. 1 Abs. 1 AGB-Banken bzw. Nr. 1 Abs. 2 AGB-Sparkassen) bzw. aus § 488 Abs. 3 BGB. Nach den AGB-Banken kann eine Bank Kredite und Kreditzusagen, für die keine abweichende Kündigungsregelung vorgesehen ist, jederzeit ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Allerdings hat das Kreditinstitut auf die berechtigten Belange der Kreditnehmer Rücksicht zu nehmen (Nr. 19 Abs. 2 S. 2 AGB-Banken). Vor allem ist dem Kreditnehmer für die Abwicklung, insb. die Rückzahlung des Kredits, eine angemessene Frist einzuräumen (Nr. 19 Abs. 6 AGB-Banken). Die AGB-Sparkassen verlangen dagegen – als Reaktion auf das BGHUrteil vom 5.5.2015, welches auf ihren Status als Anstalt des öffentlichen Rechts verwies10 – das Vorliegen eines sachgerechten Grundes. Den berechtigten Belangen des Kunden ist gem. Nr. 26 Abs. 1 S. 2 AGB-Sparkassen insb. dadurch Rechnung zu tragen, dass keine Kündigung zur Unzeit erfolgen darf. a) Angemessenheit der Frist Maßgebend für die Kündigungsfrist ist vorrangig die vertragliche Vereinbarung der Parteien. Die Parteien können die gesetzliche Kündigungsfrist des § 488 Abs. 3 S. 2 BGB von drei Monaten sowohl verlängern als auch verkürzen.11 Fehlt eine indivi6 7 8 9

Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.201. Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.201. Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.202. BGH v. 10.11.1997 – III ZR 39/76, WM 1978, 234; OLG Hamm v. 12.9.1990 – 31 U 102/90, WM 1991, 402; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.202. 10 BGH v. 5.5.2015 – XI ZR 214/14, NJW 2015, 2412. 11 BT-Drucks. 14/6040, S. 483; Berger in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2019, § 488 BGB, Rz. 223.

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dualvertragliche Vereinbarung, gelten die AGB. Danach muss das Kreditinstitut dem Kreditnehmer für die Rückzahlung eine angemessene Frist einräumen (Nr. 19 Abs. 6 AGB-Banken; Nr. 26 Abs. 1 AGB-Sparkassen untersagt eine Kündigung zur Unzeit). Eine feste Kündigungsfrist sehen die AGB bewusst nicht vor: Es soll verhindert werden, dass Kreditzusagen mit Eigenkapital zu unterlegen sind. Eine solche Unterlegungspflicht entfällt, wenn die Kreditzusage jederzeit kündbar ist.12 Die Rechtsprechung orientiert sich bei der Bestimmung einer „angemessenen Frist“ nichtsdestotrotz am „gesetzlichen Leitbild“ des § 488 Abs. 3 S. 2 BGB.13 Doch kann die angemessene Frist im Einzelfall auch davon abweichen. Nach dem Zweck der Kündigungsfrist ist sie so zu bemessen, dass dem Kreditnehmer ausreichend Zeit verbleibt, sich um einen anderen Kreditgeber zu bemühen.14 Deshalb genügt eine kürzere Frist, wenn der Kredit verglichen mit den finanziellen Verhältnissen des Kunden unbedeutend ist.15 Andererseits muss das Kreditinstitut dem Kreditnehmer nicht allein deshalb eine längere Frist gewähren, weil sich dieser in einer Krise befindet und deshalb keinen neuen Kreditgeber findet. Zugrunde zu legen ist vielmehr derjenige Zeitraum, der bei Kreditinstituten unter normalen Umständen für die Entscheidung über einen Kredit der betreffenden Art und Größenordnung und die anschließende Valutierung – ggf. erst nach vorheriger Sicherheitenübertragung oder Eintragungen im Grundbuch – benötigt wird.16 b) Verbot der Kündigung zur Unzeit Bei der Ausübung des ordentlichen Kündigungsrechts hat das Kreditinstitut auf die berechtigten Belange des Kreditnehmers Rücksicht zu nehmen. Daraus folgt freilich nur, dass das Kreditinstitut sein Kündigungsrecht nicht willkürlich17 und ohne Rücksicht darauf ausüben darf, ob dem Kreditnehmer ein vermeidbarer Nachteil zugefügt wird, der durch eigene Interessen der Bank nicht zu rechtfertigen ist.18 Eine allgemeine Abwägung der Interessen der Bank an der Beendigung des Vertragsverhältnisses mit den Interessen ihrer Kunden an dessen Fortbestand ist dagegen nicht erforderlich.19

12 Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.207; Häuser in Schimansky/Bunte/ Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 24 Rz. 4. 13 BGH v. 29.3.1994 – XI ZR 69/93, WM 1994, 832. 14 BGH v. 19.9.1979 – III ZR 93/76, WM 1979, 1176, 1180; BGH v. 23.2.1984 – III ZR 159/83, WM 1984, 586; BGH v. 26.9.1985 – III ZR 229/84, WM 1985, 1437; Bunte in Bunte/Zahrte, AGB-Banken, AGB-Sparkassen, Sonderbedingungen, 5. Auflage 2019, Nr. 19 AGB-Banken Rz. 445. 15 Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.209. 16 So zutreffend Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.209. 17 BGH v. 3.3.1956 – IV ZR 334/55, WM 1956, 530; BGH v. 30.5.1985 – III ZR 112/84, WM 1985, 1136; OLG Hamm v. 1.7.1985 – 13 U 143/85, ZIP 1985, 1387. 18 Waldburg, ZInsO 2014, 1405. 19 BGH v. 15.1.2013 – XI ZR 22/12, NJW 2013, 1519.

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Insofern kann das Recht zur ordentlichen Kündigung aufgrund hinreichender Deckung durch Sicherheiten vorübergehend ausgeschlossen sein, wenn – das Kreditinstitut über vollwertige Sicherheiten verfügt, – durch das Hinausschieben der Kündigung keine Beeinträchtigung der Sicherheit zu befürchten ist, – der Kreditnehmer seine (Zins- und Tilgungs-)Leistungen bisher regelmäßig erfüllt hat, – die Kündigung für den Kreditnehmer einen unverhältnismäßigen Nachteil zur Folge hätte, und – bei gewissenhafter Prüfung der Vermögensverhältnisse und der Erfolgsaussichten des Unternehmens zu erwarten ist, dass die Rückzahlung zu einem späteren Zeitpunkt ohne schwerwiegende Probleme möglich sein wird.20 Auch diese Umstände begründen freilich keinen unendlichen Ausschluss des Kündigungsrechts. Selbst der drohende Zusammenbruch des Kreditnehmers vermag eine ordentliche Kündigung nicht dauerhaft auszuschließen.21 Das unternehmerische Risiko hat grundsätzlich der Gesellschafter zu tragen, nicht das Kreditinstitut.22 Auf die Interessen der Gläubiger des Kreditnehmers muss der Kreditgeber bei Ausübung des ordentlichen Kündigungsrechts grundsätzlich keine Rücksicht nehmen.23 Eine Kündigung zur Unzeit macht die Kündigung nicht unwirksam, sie kann vielmehr nur eine Schadensersatzpflicht des Kreditgebers begründen.24 Dieser umfasst alle unmittelbaren und mittelbaren Schäden, welche durch ein Insolvenzverfahren entstehen, sofern die Kündigung für die Insolvenz ursächlich war.25 Zudem wird aber auch eine angemessene Rückzahlungsfrist in Gang gesetzt,26 sodass es letztendlich oftmals an einem ersatzfähigen Schaden mangeln wird.27

20 So Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.214. 21 OLG Frankfurt v. 13.1.1992 – 4 U 80/90, WM 1992, 1018; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.216. 22 BGH v. 3.3.1956 – IV ZR 301/55, WM 1956, 597. 23 OLG Düsseldorf v. 5.4.1984 – 6 U 239/82, WM 1984, 586, 600; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.213. 24 BGH v. 20.5.2003 – XI ZR 50/02, WM 2003, 1416, 1418; Häuser in Schimansky/Bunte/ Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 85 Rz. 55; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.275. 25 Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.276. 26 Bunte in Bunte/Zahrte, AGB-Banken, AGB-Sparkassen, Sonderbedingungen, 5. Auflage 2019, Nr. 19 AGB-Banken Rz. 404; OLG Köln v. 28.8.1995 – 16 W 45/95, NJW 1996, 1065. 27 Häuser in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 85 Rz. 55.

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c) Ausschluss der Kündigung bei wirtschaftlicher Abhängigkeit des Schuldners Das Recht zur ordentlichen Kündigung kann ferner dann ausgeschlossen sein, wenn sich der Kreditnehmer in wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Kreditgeber befindet. Das gilt freilich nur, wenn das Kreditinstitut selbst auf die Abhängigkeit des Kreditnehmers hingewirkt hat, sie hinreichend gesichert ist und die Krise überwindbar erscheint.28 Ein „Hinwirken“ auf die Abhängigkeit des Kreditnehmers liegt etwa dann vor, wenn das Kreditinstitut dem Kreditnehmer vertraglich untersagt, bei Dritten Kredite aufzunehmen, oder sich für den Fall ein Kündigungsrecht vorbehält.29 Hintergrund dieses Ausschlusses ist, dass die Kreditkündigung einer Bank, die alleiniger Kreditgeber des Kunden ist, eher zu einer Zahlungsunfähigkeit des Kunden führen kann und damit einen Insolvenzgrund schafft, als es bei der Kündigung durch eine von mehreren Banken der Fall sein wird. Dagegen genügt es selbstredend nicht, wenn das Kreditinstitut eine Kreditbeziehung des Kreditnehmers zu Dritten nur dadurch verhindert, dass sie das je günstigste Angebote unterbreitet. 3. Außerordentliche (fristlose) Kündigung Zusätzlich zum ordentlichen Kündigungsrecht steht dem Kreditinstitut ein außerordentliches (fristloses) Kündigungsrecht zu, wenn ein wichtiger Grund vorliegt, der der Bank, auch unter Berücksichtigung der berechtigten Belange des Kunden, die Fortsetzung des Kreditverhältnisses unzumutbar werden lässt. Ein solcher wichtiger Grund liegt nach Nr. 19 Abs. 3 S. 2 AGB-Banken30 insb. vor, – wenn der Kunde unrichtige Angaben über seine Vermögensverhältnisse gemacht hat, die für die Entscheidung der Bank über eine Kreditgewährung von erheblicher Bedeutung waren, oder – wenn eine wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Kunden oder der Werthaltigkeit einer Sicherheit eintritt oder einzutreten droht und dadurch die Rückzahlung des Darlehens – auch unter Verwertung einer hierfür bestehenden Sicherheit – gefährdet ist, oder – wenn der Kunde seiner Verpflichtung zur Bestellung oder Verstärkung von Sicherheiten nicht innerhalb der von der Bank gesetzten angemessenen Frist nachkommt. Der wichtige Grund kann nach den AGB ferner in der Verletzung einer vertraglichen Pflicht liegen. In dem Fall ist die Kündigung indes erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten angemessenen Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig, es sei denn, dies ist wegen der Besonderheiten des Einzelfalls entbehrlich.

28 Canaris, ZHR 143 (1979) 113, 125; Rümker, KTS 1981, 493, 501. 29 Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.218; Rümker, KTS 1981, 493. 30 Ähnlich auch Nr. 26 Abs. 2 der AGB-Sparkassen.

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Einfluss der Sanierungssituation auf Finanzierungsverträge aus Kreditgebersicht

Das Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund ist zwingend. Es gilt auch bei Kreditverträgen mit einer festen Laufzeit und ungeachtet einer etwaigen vertraglichen Kündigungsregelung.31 Dabei unterliegt jedoch auch das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund Schranken. Insoweit gilt das zum ordentlichen Kündigungsrecht Gesagte. Auch eine außerordentliche Kündigung darf folglich nicht zur Unzeit erfolgen.32 Auch eine solche Kündigung ist allerdings nicht wirkungslos, sondern setzt eine angemessene Frist in Gang.33 a) Wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse Zur außerordentlichen Kündigung berechtigt insb. eine wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Kreditnehmers. Es müssen sich die tatsächlichen Verhältnisse des Schuldners nachteilig verändert haben; allein der Nichteintritt von Erwartungen genügt nicht.34 Auch darf die Entwicklung bei Vertragsschluss noch nicht bekannt gewesen sein.35 Zur Feststellung einer wesentlichen Verschlechterung bedarf es einer Gesamtwürdigung des Einzelfalles unter Abwägung der gegenseitigen Interessen.36 Abzustellen ist auf die Verringerung der Liquidität und/oder die nachteilige Veränderung des Eigenkapitals (Reinvermögen).37 Insofern ist es ein wichtiger Anhaltspunkt für die erforderliche wesentliche Vermögensverschlechterung, wenn der Schuldner seinen Zahlungsverpflichtungen nur beschränkt oder verspätet nachkommt; ferner wenn sich die Ertragslage und/oder der Verschuldungsgrad dauerhaft erheblich verschlechtern. Eine wesentliche Vermögensverschlechterung ist jedenfalls bei Insolvenzreife anzunehmen,38 mithin bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung. 31 Allg. M.; vgl. nur Bunte in Bunte/Zahrte, AGB-Banken, AGB-Sparkassen, Sonderbedingungen, 5. Auflage 2019, Nr. 19 AGB-Banken Rz. 412. 32 BGH v. 3.3.1956 – IV ZR 334/55, WM 1956, 530; BGH v. 30.5.1985 – III ZR 112/84, WM 1985, 1136; OLG Hamm v. 1.7.1985 – 13 U 143/85, ZIP 1985, 1387; OLG Köln v. 16.3.1984 – 3 U 71/83, WM 1985, 1128; OLG München v. 27.9.1996 – 21 U 2414/96, BB 1997, 435; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.220, 5.243; a.A. Häuser in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 85 Rz. 79, da das Merkmal des „wichtigen Grundes“ schon die Abwägung der Interessen und damit dem Umstand der Unzeitigkeit einbeziehe. 33 OLG Köln v. 22.1.1999 – 6 U 70/98, WM 1999, 1004; Obermüller, 9. Auflage 2016, Insolvenzrecht, Rz. 5.243. 34 Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.224. 35 BGH v. 7.5.2002 – XI ZR 236/01, WM 2002, 1345. 36 BGH v. 10.11.1997 – III ZR 39/76, WM 1978, 234; BGH v. 5.3.1981 – III ZR 115/80, WM 1981, 679; BGH v. 6.3.1986 – III ZR 245/84, ZIP 1986, 770. 37 Bunte in Bunte/Zahrte, AGB-Banken, AGB-Sparkassen, Sonderbedingungen, 5. Auflage 2019, Nr. 19 AGB-Banken Rz. 420. 38 BGH v. 6.3.1986 – III ZR 245/84 WM 1986, 605, 606; BGH v. 26.9.1985 – III ZR 213/84, WM 1985, 1493; OLG Frankfurt v. 13.1.1992 – 4 U 80/90, WM 1992, 1018.

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Ausreichend ist im Übrigen, dass eine Verschlechterung der Vermögenslage einzutreten droht. Auch der Insolvenzgrund der drohenden Zahlungsunfähigkeit stellt mithin einen wichtigen Grund dar, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigt. Allerdings muss die Rückerstattung auch unter Verwertung der bestehenden Sicherheiten gefährdet sein. Ob die Sicherheiten zur Deckung des vollen Kreditrisikos ausreichen, ist nach dem Urteil eines unbeteiligten, sachkundigen Beobachters zu bestimmen.39 Die Bank ist allerdings nicht gehalten, von Dritten gestellte Sicherheiten zuerst zu verwerten, bevor sie kündigt.40 Dabei darf die Bank von Zerschlagungswerten ausgehen, wenn nicht mit großer Wahrscheinlichkeit mit einem Überwinden der Krise zu rechnen ist.41 b) Vertragsverletzung Eine außerordentliche Kündigung wegen Vertragsverletzung kommt insb. bei einem Zahlungsverzug des Kreditnehmers in Betracht, d.h. wenn der Kreditnehmer die fälligen Zinsen und Tilgungen nach vorheriger Mahnung weiterhin nicht erbringt42 oder eingeräumte Kreditlinien überschreitet.43 Auf eine Kündigung wegen Verzugs hat auch ein ausreichendes Maß an gestellten Sicherheiten keinen Einfluss; die Bank muss Vertragsverletzungen des Darlehensnehmers unter keinen Umständen hinnehmen. Anders kann es sich allerdings bei der – einmaligen oder mehrfachen – Überschreitung der Kreditlinie verhalten: Hat die Bank die Überziehung in der Vergangenheit nicht beanstandet, so kann der Kunde davon ausgehen, dass die Bank das Kreditlimit stillschweigend erhöht hat und muss den Kunden warnen, falls sie das Vertragsverhältnis durch Kündigung beenden will.44 4. Exkurs: Covenants Unter Covenants versteht man Zusatzvereinbarungen zwischen Fremdkapitalgebern und dem Unternehmen bei der Kreditvergabe, die den Zweck erfüllen sollen, die Kreditwürdigkeit des Unternehmens zu unterstützen.45 Wesentliches Merkmal der Financial Covenants ist die Vereinbarung von Finanzkennzahlen (z.B. Cash FIow, Eigenkapital, Ertragskennzahlen wie EBIT/EBITDA, Verschuldungsgrad), in denen Mindestanforderungen an Eigenkapital, Verschuldung, Ertrag oder Liquidität festgelegt werden.46 In ihnen äußert sich die zwischen Bank und Kreditnehmer für die Kreditgewährung vereinbarte Geschäftsgrundlage. Finanzkennzahlen verkörpern in39 40 41 42 43 44 45 46

Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.228. Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.227. Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.228. BGH v. 12.7.1984 – III ZR 32/83, WM 1984, 1273; BGH v. 2.3.1999 – XI ZR 81/98, WM 1999, 840; OLG Köln v. 30.1.2002 – 13 U 32/1, ZIP 2002, 751. BGH v. 10.11.1977 – III ZR 39/6, WM 1978, 235, 237. Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.231. Wittig, WM 1996, 1381. Merkel/Richrath in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 98 Rz. 174.

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sofern die zukünftig erwartete Geschäftsentwicklung des Kreditnehmers und setzen eine zeitnahe Information durch den Kreditnehmer und Überwachung durch den Kreditgeber in festgelegten zeitlichen Abständen (z.B. vierteljährlich) voraus.47 In der Situation der Sanierungsentscheidung im Falle einer Krise werden Covennats häufig nicht eingehalten. Dies rechtfertigt eine erhöhte Risikobewertung der Ansprüche der Bank gegen den Kunden. Als vereinbarte Rechtsfolge ist es dem Kreditinstitut in der Regel gestattet, die (weitere) Auszahlung des Darlehens zu verweigern, Zinsmargen zu erhöhen, bestellte Sicherheiten zu verwerten, zusätzliche Informationen zu verlangen oder Zustimmungsrechte auszuüben, unter Umständen auch die Bestellung oder Verstärkung von Sicherheiten zu verlangen und ggf., kommt der Kreditnehmer diesen Verpflichtungen nicht nach, den Kredit aus wichtigem Grund zu kündigen.48 Entweder macht der Kreditgeber solche Sanktionen geltend oder er bringt sie als Druckmittel in die (Nach-) Verhandlungen mit dem Kreditnehmer ein. Letzteres eröffnet die Möglichkeit, die Bedingungen für die weitere Kapitalüberlassung neu zu verhandeln. Die typischen Ergebnisse solcher Verhandlungen sind: – Keine Konsequenz eines breach of covenants, da dieser nicht auf Grund einer „materiell bedeutsame(n) Verschlechterung der Kreditqualität“ zustande gekommen ist, die Kreditgeber dies erkennen und eine zeitlich befristete Verzichtserklärung („waiver“) abgeben; – Entrichtung einer Prämie für die Abgabe von Verzichtserklärungen („waiver fees“) an den betroffenen Gläubiger, um ein erhöhtes Risiko abzugelten; – die Stellung zusätzlicher Sicherheiten, sofern der Schuldner solche bieten kann; – die Vereinbarung höherer risikokompensierender Zinssätze; – die Gewährung von Warrants, die dem Gläubiger ein Optionsrecht auf Eigenkapitalanteile am Schuldnerunternehmen einräumen sowie – der Druck auf das Management, die Unternehmensstrategie zu verbessern. Die Leistungen der Kreditinstitute zum Zwecke einer Sanierung werden dabei regelmäßig im Zusammenhang mit einer besonderen Sanierungsvereinbarung, die das Kreditinstitut mit dem zu sanierenden Unternehmen und/oder weiteren Sanierungsbeteiligten schließt, gewährt.

III. Stillhalten Anstatt den Kreditvertrag zu kündigen, kann das Kreditinstitut auch schlicht stillhalten. Als sanierungsunterstützende Maßnahme ist das Stillhalten von besonderer Bedeutung, denn das Stillhalten erhöht das drohende bzw. bereits verwirklichte 47 Merkel/Richrath in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 98 Rz. 174. 48 Merkel/Richrath in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 98 Rz. 175; Wittig, WM 1996, 1381.

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Ausfallrisiko für das Kreditinstitut nicht entscheidend und ist deshalb in der Regel der Sanierungsbeitrag, der bei den Kreditinstituten am ehesten durchzusetzen ist. Zudem resultieren jedenfalls aus dem bloß passiven Stillhalten keine besonderen Haftungsrisiken.49 Zum einen kann sich der Finanzierer absolut passiv verhalten und zum Beispiel eine bereits bestehende und noch nicht (vollumfänglich) ausgeschöpfte unbefristete oder „b.a.w.“ gewährte Kreditlinie aufrechterhalten, den Abruf noch nicht vollständig ausgezahlter Darlehensbeträge ermöglichen oder den Kreditnehmer einen Avalrahmen weiter ausnutzen lassen. Weiterhin kann der Kreditgeber durch das Unterlassen der Einleitung von Betreibungsmaßnahmen, z.B. bei einem fällig gewordenen Kredit oder fälligen Zins- bzw. Tilgungsleistungen, passiv stillhalten.50 Zum anderen kann der Kreditgeber durchaus auch im Rahmen eines Stillhaltens über eine reine Untätigkeit hinausgehen und im Rahmen einer Stundungsvereinbarung bzw. eines Moratoriums mit dem Schuldner zunächst explizit auf sein vertraglich festgelegtes Kündigungsrecht verzichten51. Ebenfalls über ein bloß passives Stillhalten hinaus geht die Bestellung weiterer Sicherheiten.52 Durch derartige Maßnahmen wird das Kreditverhältnis maßgeblich modifiziert. Ebenso wie eine Einflussnahme auf die Geschäftsführung geht dies über das bloß passive Stillhalten hinaus und kann eine Schadensersatzpflicht des Kreditinstituts ggü. den übrigen Gläubigern begründen (mehr dazu unter V. Insolvenzverschleppungshaftung).53

IV. Kreditgewährungspflicht, Überbrückungs- und Sanierungskredit Allein durch das Stillhalten der Bank wird die wirtschaftliche Notlage des Kunden selten überwunden werden können. Die praktische Erfahrung zeigt, dass bei Bekanntwerden der Sanierungsbedürftigkeit die notwendige Liquidität bereits knapp oder gar nicht mehr vorhanden ist. Häufig wird eine aktive Beteiligung des Kreditinstituts durch Vergabe neuer Kredite erforderlich sein, um das Unternehmen vor dem Zusammenbruch zu retten.

49 Kemper in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 4. Auflage 2014, § 3 Rz. 12; Obermüller in Gottwald/Haas, § 97 Rz. 26. 50 Kemper in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 4. Auflage 2014, § 3 Rz. 12. 51 Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.306. 52 Kemper in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 4. Auflage 2014, § 3 Rz. 17; Obermüller in Gottwald/Haas, § 97 Rz. 27; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.310. 53 Kemper in Buth/Hermanns, Restrukturierung, Sanierung, Insolvenz, 4. Auflage 2014, § 3 Rz. 15; Obermüller in Gottwald/Haas, § 97 Rz. 30; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.312 ff.; Weiß/Reps, ZIP 2020, 2443, 2445.

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Einfluss der Sanierungssituation auf Finanzierungsverträge aus Kreditgebersicht

1. Kreditgewährungspflicht? a) Problemstellung In der Rechtsprechung und der Literatur wird darüber gestritten, ob Kreditinstitute verpflichtet sind, Unternehmen, mit denen sie in ständiger Geschäftsbeziehung stehen, generell oder zumindest in der Krise mit den benötigten Geldmitteln zu versorgen. b) Meinungsstand aa) Rechtsprechung Der Bundesgerichtshof hat die Rechtsfrage wiederholt offengelassen.54 Einzig in einer älteren Entscheidung hat er festgestellt, dass ein Kreditinstitut keinen Kredit gewähren muss, dessen Rückzahlung unsicher ist.55 Dagegen ist die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte eindeutig: Danach besteht keine Kreditgewährungspflicht.56 So hat das OLG Zweibrücken57 eine Pflicht zur Kreditgewährung selbst für den Fall abgelehnt, dass der Kredit lediglich zur Überbrückung eines kurzfristigen Liquiditätsbedarfs von einem sanierungsbedürftigen, zugleich aber sanierungsfähigen Unternehmen benötigt wird. Nach Ansicht des OLG Düsseldorf58 gilt das selbst dann, wenn das Kreditinstitut zuvor eine Überschreitung der Kreditlinie geduldet hat. Ergeben könne sich eine Kreditgewährungspflicht allenfalls aus einer gesonderten Sanierungsvereinbarung. Daran ändert – so das OLG Karlsruhe59 – auch ein langjähriges Kreditverhältnis nichts, weil sich die vertragliche Bindung auf die bestehenden Verträge beschränke. Zur Begründung der Ablehnung einer Kreditgewährungspflicht wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung vornehmlich auf die unternehmerische Verantwortung der Gesellschafter verwiesen.60 Ihnen allein obliege die Finanzierung der Unternehmung und selbst bei ihnen handle es sich lediglich um eine Obliegenheit und keine Rechtspflicht.61 Dagegen führe die Anerkennung einer Kreditgewährungspflicht zu einer ungerechtfertigten Verlagerung des unternehmerischen Risikos (zumindest auch) auf die Kreditinstitute. 54 Offengelassen in BGH v. 21.9.1989 – III ZR 287/88, NJW-RR 1990, 110, 111; BGH v. 26.5.1988 – III ZR 115/87, WM 1988, 1223, 1224. 55 BGH v. 20.12.1955 – I ZR 171/53, WM 1956, 217, 220. 56 Für einen Überblick vgl. Häuser in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 85 Rz. 29–36. 57 OLG Zweibrücken v. 21.9.1984 – 1 U 244/82, ZIP 1984, 1334. 58 OLG Düsseldorf v. 21.9.1989 – III ZR 287/88, NJW-RR 1989, 1519. 59 OLG Karlsruhe v. 3.8.1990 – 10 U 168/89, NJW-RR 1991, 948. 60 So ausdrücklich OLG Zweibrücken v. 21.9.1984 – 1 U 244/82, ZIP 1984, 1334; i.E. auch OLG Frankfurt v. 7.3.1985 – 1 U 98/84, MDR 1986, 849; OLG Düsseldorf v. 21.9.1989 – III ZR 287/88, NJW-RR 1989, 1519. 61 So OLG Karlsruhe v. 3.8.1990 – 10 U 168/89, NJW-RR 1991, 948.

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bb) Literatur In der Literatur hat vor allem Canaris62 eine Pflicht der Hausbank zur Ausreichung eines Kredits zu begründen versucht. Sie gründe sich auf die „Treupflicht der Bank“ auf Grund der laufenden Geschäftsbeziehung und in Verbindung mit dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Die Treupflicht gebiete der Hausbank, einem sanierungsbedürftigen und sanierungsfähigen Kreditnehmer einen dringend benötigten kurzfristigen Überbrückungskredit zu gewähren, wenn sich erstens auch die Gesellschafter angemessen beteiligten und zweitens ausreichend Sicherheiten zur Verfügung stünden. Selbst ein langfristiger Sanierungskredit müsse gewährt werden, wenn eine „so starke Beziehung des Kreditnehmers an die Hausbank besteht, dass ohne deren Mitwirkung eine Sanierung von vornherein ausgeschlossen ist.“63 Dagegen hält Hopt64 eine Kreditgewährungspflicht höchstens im Einzelfall für begründbar. Eine generelle Kreditgewährungspflicht verbiete sich schon deshalb, weil die Entscheidung über eine Kreditvergabe eine unternehmerische Entscheidung sei, bei der ganz verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen seien, ohne dass sie sämtlich den Kreditnehmer beträfen. Maßgebend seien z.B. auch die allgemeine geschäftspolitische Ausrichtung des Kreditinstituts, ebenso oftmals bankaufsichtsrechtliche Beschränkungen.65 Freilich könne die Auslegung des Kreditvertrages im Einzelfall ergeben, dass das Kreditinstitut zur Gewährung eines Überbrückungskredits verpflichtet ist, wenn nur so ein gravierender Schaden des Kreditnehmers abgewendet werden kann. Ebenso könne eine Pflicht zur Anschlussfinanzierung bestehen, wenn die bisherige Kreditsumme zur Verwirklichung des geplanten Vorhabens nicht ausreiche. Die ganz überwiegende Meinung66 lehnt eine Kreditgewährungspflicht dagegen grundsätzlich ab. cc) Stellungnahme Die in der Literatur geführte Auseinandersetzung mit der Ansicht von Canaris beruht nicht zuletzt auf einem Missverständnis:67 Denn selbst nach Ansicht von Canaris be62 Canaris, ZHR 143 (1979), 113, 133; Canaris, Bd. 5: Bankvertragsrecht Teil 1, Rz. 1272; Hoffmann, Verhaltenspflichten, S. 138 f. 63 Canaris, ZHR 143 (1979), 113, 133; Canaris, Bd. 5: Bankvertragsrecht Teil 1, Rz 1272. 64 Hopt, ZHR 143 (1979), 139, 159-164; ebenso Claussen, Bank- und Börsenrecht, 5. Auflage 2014, § 8 Rz. 46. 65 Hopt, ZHR 143 (1979), 139, 159-164; Hopt/Mülbert, Kreditrecht, 12. Auflage 1989, § 610 BGB a.F. Rz. 22. 66 Obermüller, ZIP 1980, 1059, 1061; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.180 ff.; Rümker, KTS 1981, 493, 503; Claussen, ZHR 147 (1983), 195, 200; Schmidt, WM 1983, 490, 492; Westermann, ZIP 1982, 379, 380; De Meo, Bankenkonsortien, 1994, Rz. 163–165; Gawaz, Bankenhaftung für Sanierungskredite, 1997, S. 82 f.; Wenzel in Henkel/Kreft, Insolvenzrecht, 1998, S. 233, 236. 67 So der Sache nach auch Häuser in Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Auflage 2017, § 85 Rz. 40 f.

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steht eine Kreditgewährungspflicht nur, wenn sich erstens auch die Gesellschafter angemessen beteiligen und zweitens ausreichende Sicherheiten zur Verfügung bestehen. Nach dem üblichen Begriffsverständnis fehlt es dann aber bereits an einer „Krise“, die das Unternehmen „sanierungsbedürftig“ werden lässt: Denn solange das Unternehmen über ausreichende Sicherheiten verfügt, wird es – neben der Hausbank – auch von Dritten Kredit erhalten.68 Abgesehen davon ist eine Kreditgewährungspflicht grundsätzlich abzulehnen. Sie berührt die grundrechtlich geschützte allgemeine Vertragsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Zwar unterliegt auch sie verfassungsrechtlichen Schranken, doch sind Einschränkungen nur unter engen Grenzen anerkannt (z.B. bei Monopolstellung). Eine im Rahmen des unternehmerischen Risikos liegende Krise des Unternehmens gehört nicht dazu. So sind denn auch nicht einmal die Gesellschafter selbst rechtlich verpflichtet, Kapital nachzuschießen. Stattdessen steht es ihnen frei, der Gesellschaft entweder neues Kapital zu gewähren oder aber sie zu liquidieren. Wenn aber nicht einmal die Gesellschafter eine Finanzierungspflicht trifft,69 muss das erst recht für Dritte gelten. Dagegen würde bei einer Kreditgewährungspflicht das unternehmerische Risiko zumindest zu Unrecht ganz oder teilweise auf das finanzierende Kreditinstitut verlagert. Genau um das zu verhindern, gewährt § 490 Abs. 1 BGB dem Kreditgeber ein außerordentliches Kündigungsrecht für den Fall, dass in den Vermögensverhältnissen des Kreditnehmers eine wesentliche Verschlechterung eintritt oder einzutreten droht. Hinzu kommen aufsichtsrechtliche Bedenken. Eine Kreditgewährungspflicht bringt unabsehbare Risiken mit sich – mit § 18 KWG wäre das kaum vereinbar.70 Insofern hilft auch eine Unterscheidung zwischen der Verpflichtung zur Gewährung von kurz- und langfristigen Krediten nicht weiter. Denn der Übergang ist nicht selten schleichend: Da kurzfristige Kredite die Krise nur selten zu beheben vermögen, folgt auf einen kurzfristigen Überbrückungskredit nicht selten ein zweiter und so fort.71 Statt einer Kreditgewährungspflicht kommt allein eine Schadenersatzpflicht des Kreditinstituts aus § 280 Abs. 1 BGB in Betracht, wenn das Kreditinstitut bereits begonnene Vertragsverhandlungen i.S. des § 311 Abs. 2 BGB ohne Rücksicht auf die Interessen des Kunden abbricht. An der nach § 241 Abs. 2 BGB gebotenen Rücksichtnahme fehlt es insb., wenn das Kreditinstitut die Vertragsverhandlungen ohne

68 Obermüller, ZIP 1980, 1059, 1062; Häuser in Schimansky/Bunte/Lwowski, BankrechtsHandbuch, 5. Auflage 2017, § 85 Rz. 40. 69 Auch der zum 1.11.2008 aufgehobene § 32a GmbHG begründete lediglich eine „Finanzierungsfolgenverantwortung“. Er verpflichtete die Gesellschafter nicht, der Gesellschaft neues Kapital zu verschaffen. Nur wenn sie der Gesellschaft in der Krise einen Kredit gewährten, d.h. zu einem Zeitpunkt, in dem die Gesellschaft von Dritten keine Kredite mehr erhielt, dann wertete § 32a GmbHG den Kredit als Eigenkapital. 70 Hopt, ZHR 143 (1979), 139, 142; Obermüller, ZIP 1980, 1059, 1062; Rümker, KTS 1981, 493, 502; Rümker, ZIP 1982, 1385, 1389; Westermann, ZIP 1982, 379, 380; Schmidt, WM 1983, 490, 492; Wenzel in Henckel/Kreft, Insolvenzrecht, 1998, S. 237; Batereau, WM 1992, 1517, 1519. 71 Timm, ZIP 1983, 225; Obermüller, ZIP 1980, 1059.

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Grund abbricht, nachdem es den Vertragsschluss zuvor als gewiss dargestellt hat. Auch dann besteht freilich kein Anspruch auf Vertragsschluss und Vertragserfüllung. Vielmehr ist das Kreditinstitut allein zum Ausgleich in Geld verpflichtet.72 Ein Schadensersatzanspruch des Unternehmens ggü. seinen Gläubigern aus § 826 BGB wegen Sanierungsvereitelung ist nur in sehr engen Grenzen anzunehmen.73 2. Überbrückungskredit Die Hingabe eines kurzfristigen Überbrückungskredites dient nur der Überwindung eines Liquidationsengpasses.74 Befindet sich das Unternehmen in der Liquiditätskrise, müssen kurzfristig Maßnahmen zur Stabilisierung der Finanzlage ergriffen werden. Soll aus einer solchen Ausgangslage heraus noch ein Sanierungsversuch unternommen werden, ist ein zügiges und zielgerichtetes Vorgehen seitens der Entscheidungsträger des Unternehmens erforderlich. Insb. bei juristischen Personen verbleibt der Geschäftsführung durch die gesetzlichen Insolvenzantragspflichten nur ein enges Zeitfenster, in dem es gelingen muss, Gläubigern und Bank die Zustimmung zur Sanierung abzuringen und einen Sanierungsplan vorzubereiten. Bestehen bei der Bank Überlegungen, eine Sanierung aktiv zu begleiten, da sie das Unternehmen für sanierungswürdig hält, darf sie finanzwirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen nur gewähren, wenn das Unternehmen auch sanierungsfähig ist.75 Daran fehlt es, wenn der Überbrückungskredit schon zur Konkursabwendung erforderlich ist.76 Denn in einer aussichtslosen Krisensituation, ohne dass der Gesellschaft alsbald andere Mittel zufließen, kann selbst die Finanzierung eines einzigen Geschäftes kapitalersetzend sein.77 Da jedoch bis zur Vorlage eines Gutachtens, welches die Sanierungsfähigkeit bescheinigen soll, je nach Größe des Unternehmens und Umfang des Auftrages auch schnell mehrere Wochen und Monate vergehen können, kann die Bank eine Überbrückungsfinanzierung bewilligen, um die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens für den Zeitraum der Gutachtenerstellung zu gewährleisten. Ein solcher Überbrückungskredit sollte vertraglich mit der Pflicht des Unternehmens verknüpft werden, einen externen Fachmann mit der Erstellung eines den Anforderungen der BGH-Rechtsprechung entsprechenden Sanierungskonzepts (dazu näher unter V. 1. b) zu beauftragen.78 Zudem verschafft der Überbrückungskredit dem Unternehmen Zeit, um weitere Verhandlungen mit Dritten über erforderliche Sanierungsbeiträge zu führen. Wird ihm dann nach Vorlage des Sanierungskonzepts die Sanierungsfähigkeit bescheinigt, so

72 73 74 75 76 77 78

Canaris, Bd. 5: Bankvertragsrecht Teil 1, Rz. 1210. Vgl. Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 169. BGH v. 7.3.2017 – XI ZR 71/15, NZI 2017, 507. Morgen/Schinkel, ZIP 2020, 660, 662. BGH v. 27.11.1989 – II ZR 310/88, NJW-RR 1990, 230, 232. BGH v. 19.9.1996 – IX ZR 249/95, NJW 1996, 3203. Morgen/Schinkel, ZIP 2020, 660, 661; Huber, NZI 2016, 521, 522.

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folgt auf den Überbrückungskredit ein Sanierungskredit zur langfristigen Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.79 3. Sanierungskredit Ergibt die Prüfung der Sanierungsaussichten des Kunden eine positive Sanierungsprognose, kann die Bank also ein Darlehen als Sanierungskredit gewähren. Bis 1998 wurde der Sanierungskredit von der Rechtsprechung wegen seines insolvenzabwendenden Charakters immer als „kapitalersetzend“ angesehen und damit als Hauptanwendungsfall der Unterkapitalisierung und „Kreditunwürdigkeit“ bezeichnet.80 Nach dem mit Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) eingeführten Sanierungsprivileg sind die bestehenden oder neugewährten Kredite eines Darlehensgebers, der in der Krise der Gesellschaft – also im Stadium der Kreditunwürdigkeit – Geschäftsanteile zum Zweck der Überwindung der Krise erwirbt, von der Anwendung der Regeln über den Eigenkapitalersatz ausgenommen. In Abgrenzung zum Überbrückungskredit stellt der Sanierungskredit eine Liquiditätsbewilligung für die Zeit zwischen Feststellung der Sanierungsfähigkeit und Wiederherstellung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Schuldners dar und weist daher oftmals eine Laufzeit von mehreren Jahren auf. Zu beachten ist, dass bereits gewährte Sanierungskredite in der Krise kapitalersetzend sind.81 Im Sanierungskreditvertrag werden sinnvollerweise Financial Covenants vereinbart, die sicherstellen, dass die Finanzkennzahlen des Unternehmens mit definierten Planvorgaben und -zahlen übereinstimmen. Darüber hinaus wird sich ein Kreditinstitut regelmäßig Sicherheiten in einem angemessenen Umfang als Gegenleistung geben lassen.

V. Insolvenzverschleppungshaftung (§ 826 BGB) Die unter III. in Form des aktiven Stillhaltens sowie unter IV. in Form der Kreditgewährung aufgezeigten Handlungsoptionen eines Kreditinstituts in der Krise des Unternehmens bergen das Risiko der Insolvenzverschleppungshaftung. Rechtsgrund der Insolvenzverschleppungshaftung ist § 826 BGB. Danach gilt: wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet (§ 826 BGB).

79 Morgen/Schinkel, ZIP 2020, 660, 661. 80 BGH v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 258, 268 ff. = NJW 1960, 285; BGH v. 26.11.1979 – II ZR 104/77, BGHZ 75, 334, 336 f = NJW 1980, 592; BGH v. 21.9.1981 – II ZR 104/80, BGHZ 81, 311 = NJW 1982, 383; BGH v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, BGHZ 105, 168 = NJW 1988, 3143; BGH v. 13.7.1992 – II ZR 251/91, BGHZ 119, 191, 196 = NJW 1992, 3035. 81 BGH v. 14.12.1959 – II ZR 187/57, BGHZ 31, 258, 271 ff. = NJW 1960, 285.

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1. Haftungsvoraussetzungen a) Sittenwidrigkeit Nach ständiger Rechtsprechung gilt als sittenwidrig, was „gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verstößt.82 Dabei handelt es sich freilich um eine Leerformel.83 In der Rechtsprechung und Literatur haben sich immerhin gewisse Fallgruppen herausgebildet,84 darunter die Insolvenzverschleppung durch Kreditvergabe85 bzw. durch Maßnahmen des aktiven Stillhaltens, welche wirtschaftlich einer Liquiditätszuführung gleichkommen.86 Nach allgemeiner Ansicht verstößt es gegen die guten Sitten, wenn ein Kreditinstitut – namentlich die Hausbank – eines später insolventen Unternehmens die Stellung des Insolvenzantrags hinauszögert, um in der Zwischenzeit die von ihr ausgereichten Kredite zurückzuführen oder neue Sicherheiten für laufende Kredite zu erlangen.87 Verwerflich ist ein Hinauszögern der Insolvenz freilich nur, wenn es erkennbar nicht der Sanierung des Unternehmens, sondern allein der Verfolgung dieser eigenen Interessen unter Hintanstellung der Belange Dritter dient. Der Nachweis einer Verfolgung eigensüchtiger Motive ist entscheidend, um das Verhalten der Bank von der Verfolgung legitimer Gläubigerinteressen abzugrenzen.88 Nur ein egoistisches Verhalten widerspricht der gesetzlichen Wertung des Insolvenzrechts, welches eine Gläubigergleichbehandlung gewährleisten will. Der mit dem Hinauszögern bezweckte Wettlauf der Gläubiger soll gerade verhindert werden – ein Wettlauf im Übrigen, den die Hausbank aufgrund ihres Informationsvorsprungs nur gewinnen kann. In eine ähnliche Richtung – freilich wohl nur bei kollusivem Zusammenwirken von Kreditgeber und -nehmer – geht die Fallgruppe der Gläubigerbenachteiligung. Sittenwid82 RG v. 11.4.1901 – VI 443/00, RGZ 48, 114, 124; BGH v. 9.7.1953 – IV ZR 242/52, BGHZ 10, 228, 232 = NJW 1953, 1665; Oechsler in Staudinger, Neubearbeitung 2018, Updatestand 28.2.2020, § 826 BGB Rz. 4, 24; Teichmann in Jauernig, 18. Auflage 2021, § 826 BGB Rz. 4; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 9. 83 Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 10. 84 Mit Unterschieden Hönn in Soergel, 13. Auflage 2005, § 826 BGB Rz. 112–241; Oechsler in Staudinger, Neubearbeitung 2018, Updatestand 28.2.2020, § 826 BGB Rz. 145 ff.; Teichmann in Jauernig, 18. Auflage 2021, § 826 BGB Rz. 13–27; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 68–262. 85 BGH v. 9.7.1953 – IV ZR 242/52, BGHZ 10, 228, 233 = NJW 1953, 1665; BGH v. 9.12.1969 – VI ZR 50/68, NJW 1970, 657, 658; BGH v. 9.2.1965 – VI ZR 153/63, WM 1965, 475, 476; BGH v. 22.6.1992 – II ZR 178/90, NJW 1992, 3167, 3174; BGH v. 26.3.1984 – II ZR 171/83, BGHZ 90, 381, 399 = NJW 1984, 1893, 1900; BGH v. 11.11.1985 – II ZR 109/84, BGHZ 96, 231, 235 = NJW 1986, 837, 841; OLG Hamm v. 9.12.1994 – 7 U 97/94, NJW-RR 1995, 617, 618; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 173–175; Oechsler in Staudinger, Neubearbeitung 2018, Updatestand 28.2.2020, § 826 BGB Rz. 351 ff.; Engert, Kreditgewährung, S. 49 ff. 86 Weiß/Reps, ZIP 2020, 2443, 2445 f. 87 Nur Wagner in MünchKomm. 8. Auflage 2020, BGB, § 826 BGB Rz. 173. 88 Vertiefend zu den eigensüchtigen Motiven Weiß/Reps, ZIP 2020, 2443, 2447.

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rigkeit ist hier anzunehmen, wenn das notleidende Unternehmen dem Kreditinstitut sein letztes zur Gläubigerbefriedigung verfügbare Vermögen übertragen soll und dadurch spätere Gläubiger über die Kreditwürdigkeit des Unternehmens getäuscht werden. Die Grenzen zwischen beiden Fallgruppen sind fließend, sodass grds. eine einheitliche Erfassung i.R.d. Insolvenzverschleppungshaftung angezeigt scheint.89 aa) Insolvenzreifes Unternehmen Voraussetzung für die Insolvenzverschleppung ist zunächst, dass es sich bei Kreditvergabe bzw. Ergreifen der äquivalenten Maßnahmen bereits um ein insolvenzreifes Unternehmen handelt. Der BGH hat hier ausdrücklich offengelassen, „ob Insolvenzreife im Sinne dieser Rechtsprechung nur dann gegeben ist, wenn nach §§ 17, 19 InsO ein Eröffnungsgrund für ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Darlehensnehmers und Sicherungsgebers vorliegt, oder ob dessen drohende Zahlungsunfähigkeit oder auch schon eine noch früher einsetzende „Sanierungsbedürftigkeit“ genügt“.90 Aus Gründen der Praktikabilität dürfte vorzugsweise auf den rechtlich bestimmbaren Begriff der drohenden Insolvenzreife abzustellen sein.91 bb) Keine Sanierung bezweckt Wie oben erläutert, ist die Kreditvergabe nur dann sittenwidrig, wenn sie von vornherein nicht die Sanierung des Unternehmens, sondern nur die Erlangung eigener Vorteile bezweckt. „Erkennbar nicht zur Sanierung“ dienen die Mittel, wenn z.B. die ausgereichten Kredite oder sonstigen Maßnahmen nach ihrem Umfang oder den Vertragsbedingungen, insb. der Laufzeit, auch bei einer Betrachtung ex tunc nicht geeignet waren, den Schuldner zu sanieren, sondern allenfalls dessen Insolvenz hinauszuzögern.92 Ebenso dient ein Kredit nicht der Sanierung, wenn das Kreditinstitut Einfluss auf die Geschäftsführung nimmt mit dem Ziel, gerade ihre Kredite zurückzuführen oder zu besichern, ohne dass das Kreditinstitut zugleich einen Sanierungsbeitrag leistet (faktische Geschäftsführung, s. schon unter III.).93 cc) Besonderheiten in der Covid-19-Pandemie Im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gilt es § 2 Abs. 1 Nr. 3 COVInsAG zu beachten. Danach sind Kreditgewährungen und Besicherungen im Aussetzungszeitraum gem. § 1 Abs. 1 COVInsAG nicht als sittenwidriger Beitrag zur Insolvenz89 90 91 92

Weiß/Res, ZIP 2020, 2443, 2444. BGH v. 12.4.2016 – XI ZR 305/14, NJW 2016, 2662, 2665. Weiß/Reps, ZIP 2020, 2443, 2445. BGH v. 15.6.1962 – VI ZR 268/61, WM 1962, 962, 965; BGH v. 9.12.1969 – VI ZR 50/68, NJW 1970, 657, 658; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 173; Neuhof, NJW 1998, 3225, 3229. 93 BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 219/62, WM 1965, 671, 673; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB, 8. Auflage 2020, Rz. 173; Engert, Kreditgewährung, S. 77 ff. („stille Inhaberschaft“); Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.108.

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verschleppung anzusehen. Nach der Gesetzesbegründung sind nicht nur Vergaben neuer Kredite, sondern auch Prolongationen sowie Novationen erfasst.94 Ziel der Vorschrift ist es, für Rechtssicherheit zu sorgen und dadurch die Bereitschaft der Banken zur Kreditvergabe an durch die Auswirkungen der Pandemie gefährdete Unternehmen zu fördern.95 Damit hat die Regelung auch zur Folge, dass die Kreditinstitute praktisch von ihrer Pflicht befreit sind, vor Kreditgewährung durch Einholung eines qualifizierten und objektiven Gutachtens die Sanierungsfähigkeit des Unternehmens festzustellen.96 Umstritten ist, ob es sich bei § 2 Abs. 1 Nr. 3 COVInsAG um eine unwiderlegliche gesetzliche Fiktion handelt97 oder aber bei Hinzutreten tatsächlicher Unwertmerkmale dennoch eine sittenwidrige Schädigung angenommen werden kann. Für Ersteres spricht, dass nur dann die mit der Regelung gerade bezweckte Rechtssicherheit in vollem Maße verwirklicht werden kann. Auf der anderen Seite geht der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung selbst nur davon aus, bei den Maßnahmen zur finanziellen Unterstützung von Unternehmen, welche durch die Covid-19-Krise in Schieflage geraten sind, handele es sich „in der Regel“ nicht um ein sittenwidrigen Vorgehen.98 Zudem weicht der endgültige Wortlaut, wonach die Kreditgewährung an sich „nicht als sittenwidriger Beitrag zur Insolvenzverschleppung anzusehen“ ist, von ursprünglichen Vorschlägen ab, wonach die Kreditvergabe generell keine sittenwidrige Handlung darstellen sollte. Der Gesetzgeber wollte also eine gewisse Rechtssicherheit schaffen, darüber hinaus aber nicht die rechtlichen Maßstäbe zur Sittenwidrigkeit von Krediten grundlegend modifizieren. Eine Sittenwidrigkeit aus anderen Gründen – z.B. die Erhebung von Wucherzinsen – bleibt demnach möglich. Nur die Darlehensgewährung in der Krise an sich soll nicht sittenwidrig sein.99 Fraglich ist dann aber, ob es der Regelung des § 2 Abs. 1 Nr. 3 COVInsAG überhaupt bedurfte. Denn die Sittenwidrigkeit eines Überbrückungskredits kann sich insb. aus dessen Laufzeit ergeben. Ein Überbrückungskredit soll das finanzielle Überleben des Unternehmens sichern, bis die Erfolgsaussichten einer Sanierung geklärt sind.100 Nach dem BGH ist jedoch die Frage, ab wann ein als Überbrückungskredit bezeichnetes Darlehen als sittenwidrig anzusehen ist, „nicht pauschal, sondern aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung des einzelnen Vertrags unter Berücksichtigung aller den Vertrag kennzeichnenden Umstände“101 zu beurteilen. Die in der Praxis regelmäßig vorzufindende Laufzeitbefristung von bis zu drei Monaten ist also keine starre Frist, sondern kann an die durch die Covid-19-Pandemie hervorgerufenen Unwägbarkeiten angepasst werden. So wird dafür plädiert, den zulässigen Überbrückungszeitraum erst dann enden zu lassen, wenn nach Beendigung der Krise eine 94 95 96 97 98 99 100 101

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BT-Drs. 19/18110, S. 24. Gehrlein, WM 2021, 1, 7 f. Pape, NZI 2020, 393, 400; s. näher zu dieser Pflicht unter V. 1. b). Weiler-Esser, AnwZer HaGesR 10/2020, Anm. 1. BT-Drs. 19/18110, S. 24. Bitter, ZIP 2020, 685, 693; Gehrlein, WM 2021, 1, 7. Huber, NZI 2016, 521, 522. BGH v. 7.3.2017 – XI ZR 571/15, ZIP 2017, 809.

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angemessene Zeit für die erst dann mögliche Erstellung eines Sanierungskonzepts abgelaufen ist, welches die Auswirkungen der Pandemie in vollem Maße berücksichtigen kann. Die Überbrückungskredite könnten also auch ohne die Regelungen des COVInsAG rechtssicher gewährt werden.102 Dieser nachvollziehbaren Argumentation zum Trotz wird man aber dennoch anerkennen müssen, dass das klare Bekenntnis des Gesetzgebers durch die Regelung des § 2 Abs. 1 Nr. 3 COVInsAG doch ein Mehr an Rechtssicherheit für alle Beteiligten gewährt. b) Vorsatz Hinsichtlich der sittenwidrigen Schadenszufügung muss das Kreditinstitut vorsätzlich gehandelt haben. Das setzt voraus, dass der Schädiger spätestens im Zeitpunkt des Schadenseintritts die Art und die Richtung des Schadens sowie die Schadensfolgen vorausgesehen und gewollt oder jedenfalls billigend in Kauf genommen hat.103 Der Vorsatz ist getrennt von der Sittenwidrigkeit festzustellen.104 Doch lässt das sittenwidrige Verhalten nicht selten einen Rückschluss auf den Vorsatz des Täters zu.105 Ein Bewusstsein auch der Sittenwidrigkeit ist nicht erforderlich. Es genügt die Kenntnis der Tatumstände, die das Verhalten als sittenwidrig erscheinen lassen.106 Für die Insolvenzverschleppung der kreditgewährenden Bank bedeutet das: Das Kreditinstitut muss von der Insolvenzreife Kenntnis oder aber zumindest leichtfertige Unkenntnis gehabt haben.107 Auf Unkenntnis kann sich das Kreditinstitut insb. dann nicht berufen, wenn es eine sachkundige und gewissenhafte Prüfung der wirtschaftlichen Lage des Kreditnehmers unterlassen hat.108

102 Morgen/Schinkel, ZIP 2020, 660, 662 f.; vgl. auch Gehrlein, WM 2021, 1, 8, welcher bemängelte, dass die Fallgruppe der Gläubigerbenachteiligung keinen Eingang in den Gesetzeswortlaut von § 2 Abs. 1 Nr. 3 COVInsAG gefunden hat, dieses Problem dann aber in Bezug auf reine Überbrückungskredite ebenso löst. 103 BGH v. 14.6.2000 – VIII ZR 218/99, NJW 2000, 2896, 2897; BGH v. 11.11.2003 – VI ZR 371/02, NJW 2004, 446, 448; Spindler in BeckOGK BGB, Stand 1.5.2021, § 826 BGB, Rz. 17. 104 BGH v. 21.4.2009 – VI ZR 304/07, NJW-RR 2009, 1207 Rz. 24; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 34. 105 BGH v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, WM 1995, 882, 895; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 32; konkret zur Insolvenzverschleppung Weiß/Reps, ZIP 2020, 2443, 2448 f. 106 BGH v. 26.3.1962 – II ZR 151/60, NJW 1962, 1099; BGH v. 13.9.2004 – II ZR 276/02, NJW 2004, 3706, 3710; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 34. 107 BGH v. 15.6.1962 – VI ZR 268/61, WM 1962, 962, 965; OLG Frankfurt v. 27.9.1989 – 21 U 247/88, WM 1990, 2010, 2012. 108 BGH v. 9.7.1953 – IV ZR 242/52, BGHZ 10, 228, 234 = NJW 1953, 1665, 1666 (§ 138 BGB); Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 175.

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Hat das Kreditinstitut von der Insolvenzreife des Kreditnehmers Kenntnis, kann es sich im Fall einer Kreditgewährung nur entlasten, wenn es zuvor die Sanierungsfähigkeit des Unternehmens geprüft und die Kreditbedingungen daran ausgerichtet hat. Nach einem Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zum Sanierungskredit aus dem Jahr 1953109 ist der Kreditgeber in der Regel verpflichtet, vor der Krediteinräumung durch einen „branchenkundigen Wirtschaftsfachmann eingehend und objektiv prüfen zu lassen, ob das Sanierungsvorhaben Erfolg verspricht“, um sich von dem Vorwurf der Sittenwidrigkeit entlasten zu können. Erforderlich ist danach eine sachkundige, sorgfältige und gewissenhafte Prüfung der Lage des Kreditnehmers und der Entwicklungsmöglichkeiten seines Geschäfts. Auf die Angaben des Kreditnehmers darf sich der Kreditgeber dabei nicht verlassen.110 Von dem Erfordernis der Prüfung der Sanierungsfähigkeit durch einen (externen) branchenkundigen Wirtschaftsfachmann ist der Bundesgerichtshof – entgegen anders lautenden Äußerungen in der Literatur111 – nicht abgerückt. Im Gegenteil hat er seine Auffassung in einem Urteil aus dem Jahr 1997 ausdrücklich – sowie erneut im Jahr 2016112 – bestätigt.113 In Ersterem heißt es wörtlich: „Ein ernsthafter Sanierungsversuch kann … eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung objektiv sogar dann ausschließen, wenn er letztlich scheitert … Ein derartiger Sanierungsversuch setzt [allerdings] mindestens ein in sich schlüssiges Konzept voraus, das von den erkannten und erkennbaren tatsächlichen Gegebenheiten ausgeht und nicht offensichtlich undurchführbar ist … Sowohl für die Frage der Erkennbarkeit der Ausgangslage als auch für die Prognose der Durchführbarkeit ist auf die Beurteilung eines unvoreingenommenen – nicht notwendigerweise unbeteiligten – branchenkundigen Fachmanns abzustellen, dem die vorgeschriebenen oder üblichen Buchhaltungsunterlagen zeitnah vorliegen. Eine solche Prüfung muss die wirtschaftliche Lage des Schuldners im Rahmen seiner Wirtschaftsbranche analysieren und die Krisenursachen sowie die Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage erfassen. Das gilt … grundsätzlich auch für den Versuch der Sanierung eines kleineren Unternehmens, weil dabei Gläubiger ebenfalls im beträchtlichen Umfang geschädigt werden können; lediglich das Ausmaß der Prüfung kann dem Umfang des Unternehmens und der verfügbaren Zeit angepasst werden.“

Zwar verlangt der Bundesgerichtshof „nicht notwendigerweise“ die Einschaltung eines unbeteiligten (externen) Prüfers. Gleichwohl ist dem Kreditinstitut die Beauftragung eines solchen dringend anzuraten.114 Denn der Bundesgerichtshof fordert eine „unvoreingenommene“ Beurteilung. Insofern wird sich aber ein bei dem Kreditinstitut angestellter Prüfer stets dem Verdacht eines Interessenkonflikts ausgesetzt sehen. Nicht erforderlich ist dagegen, dass der Sanierungsplan speziellen formalen Vorgaben 109 110 111 112 113 114

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BGH v. 9.7.1953 – IV ZR 242/52, BGHZ 10, 228 = NJW 1953, 1665. BGH v. 9.7.1953 – IV ZR 242/52, BGHZ 10, 228 = NJW 1953, 1665, 1666. Wenzel, NZI 1999, 294, 298; Schäffler, BB 2006, 56, 59. BGH v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, NZI 2016, 636, 637 Rz. 18. BGH v. 4.12.1997 – IX ZR 47-97, NJW 1998, 1561. Str.; weitergehend für eine Pflicht zur Beauftragung eines externen Prüfers: Neuhof, NJW 1998, 3226, 3240; Gawaz, Bankenhaftung für Sanierungskredite, 1997, Rz. 141 u. 597; wohl auch Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553, 557; dagegen wie hier: Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.123.

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entspricht, wie sie das Institut für Wirtschaftsprüfe e.V. oder das Institut für die Standardisierung von Unternehmenssanierungen aufgestellt haben.115 Das auf Grundlage der vorgeschriebenen oder üblichen Buchhaltungsunterlagen zu erstellende Sanierungskonzept hat mindestens folgende inhaltliche Anforderungen zu erfüllen:116 – Analyse der Verluste und Möglichkeiten, diese künftig zu vermeiden; – Beurteilung der Erfolgsaussichten und der Rentabilität des Unternehmens in der Zukunft; – Maßnahmen zur Beseitigung der (drohenden) Insolvenzreife. Dies umfasst die Analyse der Krisenursachen, eine Prüfung der wirtschaftlichen Lage des Schuldners i.R.s. Wirtschaftsbranche sowie die Erfassung von Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage. Auf eine dementsprechende Beurteilung der Sanierungsfähigkeit durch den externen Prüfer darf sich das Kreditinstitut verlassen, wenn es keine groben, ins Auge springenden Auslassungen oder Fehler enthält.117 Eine über die reine Plausibilitätsprüfung hinausgehende Prüfungspflicht des Kreditgebers besteht nicht.118 Der zum Zwecke der Sanierung ausgereichte Kredit muss zur nachhaltigen Sanierung geeignet sein: Die zur Verfügung gestellten Mittel müssen dem im Sanierungskonzept festgestellten Finanzbedarf (ggf. zusammen mit den Krediten anderer Kreditgeber) für den gesamten Sanierungszeitraum entsprechen.119 Zuletztdürfen die für den Sanierungskredit gewährten Sicherheiten nicht unangemessen sein. Andernfalls setzt sich das Kreditinstitut erneut dem Vorwurf aus, Beweggrund der Neukreditvergabe sei nicht die Sanierung des Kreditnehmers, sondern die Absicherung von Altkrediten.120 c) Zurechenbarer Schaden Ein Schadenersatzanspruch besteht nur insoweit, als ein Schaden eingetreten und dieser dem kreditgewährenden Kreditinstitut kausal, adäquat sowie dem Schutzzweck der Norm entsprechend zurechenbar ist.121

115 116 117 118

BGH v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, NZI 2016, 636, 637 Rz. 19. BGH v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, NZI 2016, 636, 637 Rz. 18 f. Neuhof, NJW 1998, 3226, 3230; Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553, 557. Wenzel, NZI 1999, 294, 298; Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553, 557; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.129. 119 Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553, 557. 120 Wallner/Neuenhahn, NZI 2006, 553, 557. 121 Flume in BeckOK BGB, Stand 1.5.2021, § 249 BGB Rz. 279.

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Ein Schaden i.R.d. § 826 BGB setzt keine Rechtsgutsverletzung voraus, sondern ist schon bei reinen Vermögensschäden zu bejahen. Ebenfalls ist die Eingehung einer ungewollten Verbindlichkeit erfasst.122 Der Schaden einer Insolvenzverschleppung kann demnach zum einen in den verringerten Befriedigungsaussichten der Altgläubiger des Unternehmens,123 zum anderen im Kontrahierungsschaden der Neugläubiger begründet sein, welche sich gegenüber einer insolvenzreifen Gesellschaft verpflichtet haben.124 Bereits an einem adäquaten Zurechnungszusammenhang zwischen dem sittenwidrigen Verhalten des Kreditinstituts und dem eingetretenen Schaden fehlt es aber, wenn die gewährten Finanzierungsbeiträge von solch geringer Erheblichkeit sind, dass sie schon gar keinen relevanten Beitrag zur Insolvenzverschleppung leisten konnten. Gleichfalls wird der Zurechnungszusammenhang unterbrochen, sobald sich die finanzielle Lage des begünstigten Unternehmens derart verbessert, sodass es zumindest zeitweise nicht mehr zahlungsunfähig war.125 Außerdem ist stets der besondere Schutzzweck der verletzten Verhaltensnorm, hier also das Verbot der Insolvenzverschleppung, zu beachten.126 So soll das Kreditinstitut, das aus eigensüchtigen Motiven die Insolvenz eines Unternehmens verschleppt zwar den Gläubigern gem. § 826 BGB auf Schadenersatz haften. Der Schutzbereich des § 826 BGB soll allerdings „nicht dahin ausgedehnt werden, dass regelmäßig auch Dritte, die nach dem Einsetzen der konkursverzögernden Maßnahmen Aktien des Unternehmens erwerben und dabei infolge einer Fehleinschätzung der Verhältnisse ein zu hohes Entgelt entrichten, den Schutz des § 826 BGB genießen“.127 Anderes soll wiederum bei Neugesellschaftern gelten können, wenn die Gesellschaft vom Kreditinstitut bewusst so lange am Leben gehalten wird, bis der Gesellschafter seine Stammeinlage erbracht hat.128 2. Ersatzberechtigte Anspruchsinhaber sind demnach die Gläubiger des Unternehmens. Wie gesehen, ist zu unterscheiden zwischen den sog. Alt- und Neugläubigern. Altgläubiger sind solche, die bereits im Zeitpunkt der Insolvenzreife Anspruchsinhaber waren.129 Nach

122 Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 44 f. 123 Sog. Quotenschaden, Klöhn in MünchKomm. InsO, 4. Auflage 2019, § 15a InsO Rz. 183; Näheres dazu unter 2. Ersatzberechtigte. 124 Klöhn in MünchKomm. InsO, 4. Auflage 2019, § 15a InsO Rz. 187. 125 Weiß/Reps, ZIP 2020, 2443, 2445. 126 Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 50. 127 BGH v. 11.11.1985 – II ZR 109/84, NJW 1986, 837, 838; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.154; a.A. Weiß/Reps, ZIP 2020, 2443, 2449, wonach diese ausnahmsweise außenstehenden Drittgläubigern gleichstehen sollen. 128 Gehrlein, WM 2021, 1, 6. 129 Altmeppen, 10. Auflage 2021, Vorb. § 64 GmbHG Rz. 123.

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Einfluss der Sanierungssituation auf Finanzierungsverträge aus Kreditgebersicht

ständiger Rechtsprechung130 und herrschender Lehre131 erhalten die Altgläubiger Ersatz nur des „Quotenschadens“. Der Quotenschaden ist der Differenzbetrag zwischen der tatsächlichen Quote und derjenigen bei rechtzeitiger Insolvenzanmeldung.132 Den Quotenschaden kann nach neuerer Rechtsprechung133 und herrschender Lehre134 nur der Insolvenzverwalter, nicht aber die einzelnen Altgläubiger geltend machen. Das ergebe sich aus § 92 S. 1 InsO, wonach Ansprüche des Insolvenzverwalters auf Ersatz eines Schadens, den die Gläubiger durch eine Verminderung zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlitten haben (Gesamtschaden), während der Dauer des Insolvenzverfahrens nur von dem Insolvenzverwalter geltend gemacht werden können. Auch wenn § 92 S. 1 InsO dem Wortlaut nach lediglich der Geltendmachung des Gesamtschadens durch einzelne Gläubiger entgegenstehe, könne doch für den Quotenschaden nichts anderes gelten. Vermieden werden sollen erstens ein Gläubigerwettlauf; zweitens die Gefahr sich widersprechender Urteile, die bei einer gleichzeitigen Geltendmachung des Quoten-/Gesamtschadens entstehen können.135 Dagegen können die Neugläubiger ihren Ausfallschaden nach einhelliger Meinung auch schon vor Beendigung des Insolvenzverfahrens selbst geltend machen. § 92 S. 1 InsO ist nicht anwendbar. Grund ist, dass ihr Schaden nicht durch eine Verminderung des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens bedingt ist und damit einen Individualschaden darstellt.136 3. Darlegungs- und Beweislast Der Geschädigte trägt nach den allgemeinen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen, mithin für die schädigende Handlung, den Schaden und den Zurechnungszusammenhang, die die Sittenwidrig-

130 Grundlegend BGH v. 16.12.1958 – VI ZR 245/57, BGHZ 29, 100, 102-104 = NJW 1959, 623; BGH v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, BGHZ 126, 181 = NJW 1994, 2220; BGH v. 30.3.1998 – II ZR 146/96, BGHZ 138, 211 = NJW 1998, 2667; BGH v. 5.2.2007 – II ZR 234/05, BGHZ 171, 46 Tz. 12 = NJW-RR 2007, 759. 131 Klöhn in MünchKomm. InsO, 4. Auflage 2019, § 15a InsO Rz. 181 ff.; Casper in Ulmer/ Habersack/Löbbe, 2. Auflage 2016, § 64 GmbHG Rz. 165; Altmeppen, 10. Auflage 2021, Vorb. § 64 GmbHG Rz. 123; Altmeppen, ZIP 2001, 2201 ff.; Dauner-Lieb, ZGR 1998, 673 ff.; K. Schmidt, NZI 1998, 9-14. 132 BGH v. 16.12.1958 – VI ZR 245/57, BGHZ 29, 100, 114 ff.; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.158; kritisch Altmeppen, 10. Auflage 2021, Vorb. § 64 GmbHG Rz. 127. 133 Grundlegend BGH v. 30.3.1998 – IIZR 146/96, BGHZ 138, 211 = NJW 1998, 2667; anders noch BGH v. 16.12.1958 – VI ZR 245/57, BGHZ 29, 100 = NJW 1959, 623-625. 134 Casper in Ulmer/Habersack/Löbbe, 2. Auflage 2016, § 64 GmbHG Rz. 166; Altmeppen, 10. Auflage 2021, Vorb. § 64 GmbHG Rz. 124; Uhlenbruck, WiB 1996, 466, 468. 135 BGH v. 22.4.2004 – IX Z 128/03, NZI 2004, 496. 136 Str. Gehrlein in MünchKomm. InsO, 4. Auflage 2019, § 92 InsO Rz. 36 m.w.N.; Obermüller, Insolvenzrecht, 9. Auflage 2016, Rz. 5.159; KG v. 4.11.2015 – 24 U 112/14, NZI 2016, 546, 552.

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Yorick M. Ruland

keit begründenden Umstände und den Vorsatz.137 Allerdings ist der Vorsatz als innere Tatsache einem direkten Beweise nicht zugänglich, sodass er nach äußeren Umständen erschlossen werden muss. Anknüpfungspunkt ist so beispielsweise das Handeln trotz hoher Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts138 oder auch die Leichtfertigkeit des Verhaltens bei besonders groben Verstößen gegen Sorgfaltspflichten.139 Für die Insolvenzverschleppung legt der Bundesgerichtshof allerdings strenge Voraussetzungen an den Schädigungsvorsatz an.140 Dazu zählt zunächst die Kenntnis von der Lebensunfähigkeit des Unternehmens.141 Der Gläubiger muss die Vermögensverhältnisse des Schuldners so überblicken, dass er die Möglichkeit einer Schädigung anderer Gläubiger erkennt und zumindest in Kauf nimmt.142 Erforderlich ist der bedingte Wille, Dritten Schaden zuzufügen.143 Dabei soll eine grob fahrlässig unterlassene Aufklärung nicht ausreichen144, ebenso wenig wie eine leichtfertige Krediteinräumung ohne solide Bonitätsprüfung des Schuldners keinen Schädigungsvorsatz gegenüber Dritten indiziert.145 In der Literatur wird ebenfalls vertreten, den Nachweis des Vorsatzes über den Zuschnitt des gewährten Kredites zu erbringen: Ist dieser als von vornherein zur Beseitigung des Sanierungsbedarfs ungeeignet anzusehen und wusste der Darlehensgeber um den Sanierungsbedarf, so soll der Grund für die Darlehensgewährung nach der allgemeinen Lebenserfahrung nur im Interesse der Insolvenzverschleppung gelegen haben.146

137 BGH v. 19.7.2004 – II ZR 218/03, NJW 2004, 2664, 2667; Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 55. 138 Wagner in MünchKomm. BGB, 8. Auflage 2020, § 826 BGB Rz. 30. 139 BGH v. 24.9.991 – VI ZR 293/90, NJW 1991, 3282, 3283; Oechsler in Staudinger, Neubearbeitung 2018, Updatestand 28.2.2020, § 826 BGB Rz. 356. 140 S. bereits oben unter V. 1. b). 141 BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 219/62, WM 1964, 671, 673. 142 BGH v. 22.1.1962 – III ZR 198/60, WM 1962, 527; Oechsler in Staudinger, Neubearbeitung 2018, Updatestand 28.2.2020, § 826 BGB Rz. 356. 143 RG v. 21.12.1993 – VI 196/33, RGZ 143, 48, 52. 144 RG v. 21.12.1993 – VI 196/33, RGZ 143, 48, 52. 145 BGH v. 14.4.1964 – VI ZR 219/62, WM 1964, 671, 672. 146 Oechsler in Staudinger, Neubearbeitung 2018, Updatestand 28.2.2020, § 826 BGB Rz. 356.

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Arbitrator Disclosures on Independence and Impartiality: Further Developments Antonio Sanchez-Pedreño Kennaird

Inhaltsübersicht I. Independence and impartiality (neutrality) II. Justifiable doubts on neutrality III. Duty to disclose IV. The IBA Guidelines on Conflict of Interest (2004)

VI. The Code of Best Practices in Arbitration of the Spanish Arbitration Club (2019) VII. What next? VIII. What measures may be taken to benefit from the various rules?

V. The ICC Guidance Note on Disclosure (2016)

I am delighted to have the opportunity to contribute to my good friend Dr. Alexander Reuter’s Festschrift. I met Alexander more than a few years ago in the Master in Comparative Jurisprudence (M.C.J.) program we attended at New York University (NYU). During the program, which lasted a whole academic year, we passed many hours in deep discussions on a wide range of topics, from British and German naval strategy during WWI and WWII to product liability claims or remote US constitutional issues. Though many of these conversations happened in the elegant settings of NYU, probably the most fruitful ones were those held in the dark and slightly dingy bars that were the usual university student hang-outs. From all these discussions emerged Alexander’s true intelectual self: wide ranging in views, comfortable in deep thought and with a keen inquistive mind, always ready to identify new ideas to explore and develop. All this, enshrined in an unshakeable framework of integrity, honesty and fair mindedness. With all this in mind, what better subject to tackle in this chapter of Alexander’s Festschrift than developments in the area of independence and impartiality of arbitrators, a difficult and sensitive area that goes straight to the very heart of the international arbitral system and its arbitrators.

I. Independence and impartiality (neutrality) It is a generally accepted principle in arbitration that arbitrators must be independent and impartial. This ensures that no party has an advantage over the other in the pro437

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ceedings. Failure to meet any of these two requirements may lead to the arbitrator’s challenge and removal from the arbitral tribunal and, in many occasions, to the annulment of the award. Independence and impartiality are therefore critical to an arbitration: the absence of either of these qualities may affect the fairness of the award issued, on one hand, and weaken the strength of the award by leaving it open to challenge in an annulment action. When we refer to independence and impartiality we refer to two quite different things. Though quite a lot of ink has been spilled regarding their definition, it is generally accepted that the term independence refers to the existence (or rather lack of) a relationship, whether past or present, between the arbitrator and co-arbitrators, lawyers or parties. It is an objective test. For example, an issue of independence could arise if an arbitrator has been a partner of one of the lawyers involved in the arbitration at some point in time. Impartiality, on the other hand, is a subjective test, and refers generally to the state of mind of the arbitrator. Being a subjective test it is more difficult to measure, and is usually appraised on the basis of the external conduct of the arbitrator. For example, the arbitrator may publicly justify accepting the evidence of a Norwegian witness against that of a Portuguese witness because in his experience, Portuguese people tend to be less than truthful, as opposed to Norwegians1. To make matters slightly more complex, some circumstances may be indicative both of a lack of independence and impartiality. In the first example above, the fact that the arbitrator was once a partner at the same law firm as one of the lawyers may be indicative of lack of independence, but also of lack of impartiality, to the extent that there may remain an emotional attachment, friendship, high professional regard, perhaps even gratitude if mentoring was a factor, or others.

II. Justifiable doubts on neutrality Of course, an arbitrator may have a relationship with, say, one of the parties or their lawyers, and still be perfectly able to act in a neutral manner. Equally, circumstances may exist that point towards a predisposition in favour for one of the parties, but the arbitrator may reasonably be convinced of his neutrality as arbitrator (and indeed he may be right). For example, the arbitrator effects annual donations to various African – oriented NGOs, one of which is a party in the arbitration. The fact is that an arbitrator must not only be neutral, but must manifestly be seen to act in such a manner. It is a question, therefore, not only of being, but also being seen

1 In re The Owners of the Steamship Catalina and The Owners of the Motor Vessel Norma [1938] 61; Lloyd’s Rep. 360 (Eng.), which also refers to Italians in the same way.

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Arbitrator Disclosures on Independence and Impartiality: Further Developments

to be. Thus, it is not only a matter of whether the arbitrator is neutral or not, but also whether there may be any doubts as to his or her neutrality. And this is reflected in article 12 of the UNCITRAL Model Law on International Commercial Arbitration (the “Model Law”), which states that arbitrators may be challenged if circumstances exist that give rise to justifiable doubts as to his impartiality or independence2. This principle is included in most arbitral laws, and establishes the basic threshold for removing arbitrators: existence of justifiable doubts. As a consequence, a successful challenge of an arbitrator for lack of neutrality does not mean he or she is not independent or impartial, it merely means that circumstances exist that create a reasonable doubt. And that is enough.

III. Duty to disclose To ensure that the parties may evaluate any circumstances affecting arbitrator neutrality, the Model Law (and almost all world-wide arbitration laws patterned on it) establish on the arbitrators a duty to disclose any circumstances that may give rise to justifiable doubts as to their independence and impartiality3. Note that the obligation on the arbitrator is to disclose any circumstances which may give rise to justifiable doubts, as opposed to the threshold established to effectively remove the arbitrator which is that the circumstance in question gives rise to justifiable doubts. The scope under which the arbitrator must consider the existence of any relevant circumstances to disclose is therefore much wider. The obligation to disclose, while clear in general terms, leaves the determination of what actually should be disclosed unclear. The phrase “any circumstances that may give rise to justifiable doubts as to the impartiality or independence” of the arbitrator leads to subjective evaluation by the arbitrator. In the context of international arbitration, where different legal cultures and ethics co-exist, the risk of different disclosure patterns, in the absence of any rules or guidelines creating a homogeneous framework, is very high. A number of institutions have approved recommendations and guidelines trying to help arbitrators determine the correct level of disclosure, and when a conflict of interest disclosed is serious enough to justify removal of the arbitrator. The most acknowledged (and followed) guidelines so far are the IBA Guidelines on Conflicts of Interest 2 Article 12 (2) of the Model Law provides that “An arbitrator may be challenged only if circumstances exist that give rise to justifiable doubts as to his impartiality or independence, or if he does not possess qualifications agreed to by the parties.” 3 Article 12 (1) of the Model Law provides: “When a person is approached in connection with his possible appointment as an arbitrator, he shall disclose any circumstances likely to give rise to justifiable doubts as to his impartiality or independence. An arbitrator, from the time of his appointment and throughout the arbitral proceedings, shall without delay disclose any such circumstances to the parties unless they have already been informed of them by him.”

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in International Arbitration (the “IBA Guidelines”), first published in 2004 and later updated in 20144.

IV. The IBA Guidelines on Conflict of Interest (2004) Without doubt, the most important set of rules governing disclosure obligations at present are the IBA Guidelines. They have been largely accepted and applied by the international arbitration community and, as a consequence, substantial progress towards international harmonization in this area has been achieved. The success is even more noteworthy taking into account that the IBA Guidelines are, by their nature, not binding (generally categorized as “soft law”), and their use or application is voluntary. The IBA Guidelines aim to balance two competing issues: the need for homogeneous and efficient (i.e. full) disclosure in an international setting, on one hand, and the need to reduce the risk of unnecessary and/or dilatory challenges on the other. The preface to the IBA Guidelines states: “It is in the interest of the international arbitration community that arbitration proceedings are not hindered by ill-founded challenges against arbitrators and that the legitimacy of the process is not affected by uncertainty and a lack of uniformity in the applicable standards for disclosures, objections and challenges.” To achieve this objective, the IBA Guidelines sets in Part I seven general principles providing guidance on the conduct of arbitrators. Among other issues, Part I determines the thresholds that trigger the obligation to disclose and the disqualification of the arbitrators, and in Part II provides a practical guide providing examples. The obligation to disclose – in the eyes of the parties Guideline 3 (a) establishes that the arbitrator should disclose any circumstances which, in the eye of the parties, could give rise to doubts of his neutrality. It is a subjective test, requiring the arbitrator to evaluate the relevant circumstance from the point of view of a person with a material interest in the outcome of the arbitration. This high standard aims to encourage arbitrators to disclose whenever there is the smallest of doubts, as an interested party would be very much in favour of having the possibility to evaluate any circumstance that might affect the arbitration. In conclusion, if the arbitrator is uncertain to any degree, the circumstance should most probably be disclosed. Disqualification of the person as arbitrator – in the eyes of a neutral third party Guideline 2 (b) establishes that an arbitrator should be disqualified from acting as such if any facts or circumstances exist, which, from the point of view of a reasonable third person having knowledge of the relevant facts and circumstances, would give rise 4 Full text can be found at www.iba.org.

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to justifiable doubts as to the arbitrator’s impartiality or independence (unless waived by the parties). It is an objective test, requiring the evaluation of the relevant circumstance from the point of view of an independent person having no interest in the outcome of the arbitration5. The difference in degree between this analysis and the analysis required to disclose means that a circumstance disclosed by the arbitrator – relevant in the eyes of the parties – need not be sufficiently important to justify the disqualification of the arbitration – relevant from the point of view of a neutral –. Part II of the IBA Guidelines – Practical Application of the general standards Part II of the IBA Guidelines, titled “Practical Application of the general standards”, provides a list of potential situations and an evaluation of whether said situations trigger the obligation to disclose (the “List”). The List is divided in sub-lists, designated “Red”, “Orange” and “Green” (denoting the level of impact of the specific situation considered on the independence/impartiality of the arbitrator and the consequent need to disclose). The List, according to the IBA Guidelines, aims to promote greater consistency and to avoid unnecessary challenges and arbitrator withdrawals and removals. This List has proven particularly useful because it: – identifies with whom may the conflict arise (essentially, the parties, the lawyers, and the arbitrator’s firm). – gives examples as to what constitutes a potentially disclosable circumstance (for example, repeat appointments as arbitrator). – clarifies that a disclosure does not imply the existence of a conflict of interest, nor a presumption regarding disqualification. – provides de minimis rules that exclude disclosure of otherwise disclosable events. These de minimis rules are of three types: – intensity: certain events are only disclosable if they happen a certain number of times (for example, appointment as arbitrator by the same party more than once, or by the same lawfirm more than three times). – temporal: certain events are only disclosable if they happen within a specific period (for example the arbitrator has, within the past three years, served as counsel for or against one of the parties).

5 “Doubts are justifiable if a reasonable third person, having knowledge of the relevant facts and circumstances, would reach the conclusion that there is a likelihood that the arbitrator may be influenced by factors other than the merits of the case as presented by the parties in reaching his or her decision”. Guideline 2 (c).

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– materiality: the guidelines require a degree of materiality to render the circumstance disclosable (for example, a law firm that shares significant fees with the arbitrator’s law firm renders services to one of the parties in the arbitration). – Finally, it highlights that non-disclosure by an arbitrator cannot by itself make an arbitrator partial or lacking independence: only the facts or circumstances that he or she failed to disclose can do so.

V. The ICC Guidance Note on Disclosure (2016) In 2016 the ICC approved the Guidance Note on Disclosure (“GND”), applicable to all ICC arbitrations6. The GND requires every arbitrator to disclose “any circumstance that might be of such nature as to call into question his or her independence in the eyes of any of the parties or give rise to reasonable doubts as to his or her impartiality.” The GND applies the subjective standard established in the IBA Guidelines, and thus assessment of the facts and circumstances which could give rise to doubts as to independence or impartiality should be considered by the arbitrator from the point of view of the parties. When making the assessment, the GND requires arbitrators to consider “all potentially relevant circumstances, including but not limited to”, and then goes on to make a list addressing possible relationships between the arbitrator, his/her law firm, the parties and their counsel. The identification of this list of relationships as potentially relevant, and the specific requirement imposed on arbitrators to consider them is another step forward in the harmonization of disclosure obligations. Furthermore, the GND takes a sterner position concerning failure to disclose, and provides that any failure to disclose will be considered when assessing whether an objection to confirmation or a challenge is well founded. A warning indeed to potential lax disclosures! In the balance between the need for homogeneous efficient disclosure in an international setting, on one hand, and the need to reduce the risk of unnecessary and/or dilatory challenges on the other, the GND tilts to an important extent the balance in favour of the need to obtain fuller disclosures. Having said that, the obligation under the GND only goes so far. The note only imposes the obligation to consider the identified relationships, but does not impose an automatic obligation to disclose them. Such disclosure is to be made only if the arbitrator considers that it is of such nature that the circumstance would, in the eyes of the parties (but nevertheless as assessed by the arbitrator), give rise to reasonable doubts.

6 ICC note to Parties, para. 23. Full text may be found at www.iccwbo.org.

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Faced with the obligation to make this decision, the arbitrator may turn to the IBA Guidelines to evaluate the materiality of the specific circumstance and the consequent need to disclose.

VI. The Code of Best Practices in Arbitration of the Spanish Arbitration Club (2019) In 2019 the Spanish Arbitration Club (Club Español del Arbitraje – the Spanish Arbitration Club –)approved an updated version of its Codes of Best Practices in Arbitration (the “BPC”)7. The BPC contains recommendations for arbitral institutions and professionals in the arbitration process, including arbitrators, lawyers, experts and funders. Section III, titled Duties of Arbitrators, establishes ten general recommendations addressed to arbitrators. Recommendation 3 sets the disclosure obligations. Though many of the suggestions made coincide substantially with those previously made by other entities8, the need for a greater transparency (according to the BPC) led to different recommendations in a number of matters. The more relevant differences between IBA Guidelines and the BPC are the following: 1. BPC changes the practical approach Similarly to the IBA Guidelines, the BPC in Recommendation 3 provides tools to assist the arbitrator to determine the extent of disclosure. In the IBA Guidelines the technique employed is to provide specific sets of situations, such as: “2.1.1. The arbitrator has given legal advice, or provided an expert opinion, on the dispute to a party or an affiliate of one of the parties.”

However, the BPC presents a list of questions9 such as: “10) Have you, or has your firm, provided advice or issued an opinion on the dispute or on some aspect thereof at any previous time?”

Essentially, if the answer to any of the questions in the list of the BPC is affirmative, the matter should be disclosed, unless owing to triviality of the circumstance or some other reason, it reasonably need not be disclosed. 7 The Spanish Arbitration Club (“CEA”) is a non-profit association created in 2005 by international arbitration practitioners to promote arbitration. As of 2020, it has chapters in 43 countries world-wide, and over 1.000 members. Full text of the BPC at www.clubarbi traje.com. 8 Among others, the BPC acknowledges taking into account the IBA Guidelines and the GND. 9 Detailed in section III, para 84.

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2. BPC expands the scope of the disclosure list This expansion includes questions relating to relationships between the arbitrator and: – Third parties funders involved in the arbitration – Any of the witnesses – Any of the experts – Any of the other arbitrators – The arbitral institution There is no doubt that questions relating to the above subjects can be very relevant (see below for two recent cases involving experts and arbitral institutions). Some of these issues will require further consideration in the future. For example, witnesses and/or experts are not necessarily identified when the arbitral tribunal is constituted, and thus the potential for disruption in the arbitration exists should conflicts arise subsequently. Similarly, the issue of repeat coincidences among the arbitrators is a sensitive issue that will probably open the door to further analysis of arbitral relationships and tribunal forming formats. Recent judicial decisions validate the need for these disclosures. The MONSTER ENERGY v. CITY BEVERAGES case In the recent case of MONSTER ENERGY v. CITY BEVERAGES10, the dispute resolution company JAMS was requested to provide a list of arbitrators for an arbitration. The arbitrator finally designated ruled in favour of Monster, and Monster asked the District Court to confirm its award. The other party, CITY BEVERAGES, sought to vacate the award based on later discovered information that the arbitrator was a coowner of JAMS – a fact that he did not disclose prior to arbitration. On appeal before the United States Court of Appeals for the Ninth Circuit, the Appellate Court vacated the award, holding that before an arbitrator is officially engaged to perform an arbitration, to ensure that the parties’ acceptance of the arbitrator is informed, arbitrators must disclose their ownership interests, if any, in the arbitration organizations with whom they are affiliated in connection with the proposed arbitration, and those organizations’ nontrivial business dealings with the parties to the arbitration. In this case, the arbitrator’s failure to disclose his ownership interest in JAMS, coupled with the fact that JAMS had administered 97 arbitrations for Monster over 10 MONSTER ENERGY COMPANY, FKA Hansen Beverage Company, Petitioner-Appellee, v. CITY BEVERAGES, LLC, DBA Olympic Eagle Distributing, Respondent-Appellant – UNITED STATES COURT OF APPEALS FOR THE NINTH CIRCUIT – October 22nd, 2019.

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the past five years, created a reasonable impression of bias and supported vacatur of the arbitration award. The EISER case The Eiser and Energía Solar v. Spain case (“EISER”)11 addressed relationships with experts. The case dealt with an award issued in an ICSID arbitration, where the changes legislated by the Spanish State were considered in breach of the Energy Charter Treaty’s obligation to accord fair and equitable treatment to the investors. The arbitral tribunal awarded the investors an amount of t 128 million in damages. The issue was that one of the arbitrators did not disclose his past relationship with the expert brought by the investors. In summary, the arbitrator had been appointed in four cases by the same party, who had also appointed the same expert to all cases (three of which were running in parallel). The award was annulled on June 2020 by an ICSID annulment committee (“ICSID Committee”) because the arbitrator had failed to disclose his relationship with the expert. The ICSID Committee held that although “some interaction” between arbitrators, lawyers and experts conducting investment arbitrations is inevitable, the more connections there are between them, “the more chances there are that these may give rise to conflicts” and that for the sake of “fair and objective conduct of the arbitral proceedings, these should, therefore, be declared and specifically brought to the attention of the parties and other arbitrators.” The ICSID Committee concluded that “independence and impartiality of an arbitrator is a fundamental rule of procedure” and failure to disclose the circumstances meant the other party could not challenge the expert in the arbitration proceeding, depriving it of its right to an independent and impartial tribunal. 3. The de minims rules are eliminated or reduced: The BPC does not include any intensity requirement (for example, number of repeat appointments as arbitrator). Many temporal requirements have been eliminated or expanded to such extent as to render them practically ineffective as exceptions. Thus, for example, IBA Guidelines 3.1.3 considers disclosable the fact that “The arbitrator has, within the past three years, been appointed as arbitrator on two or more occasions by one of the parties, or an affiliate of one of the parties”.

11 Eiser Infrastructure Limited and Energía Solar Luxembourg S.à r.l. v. Kingdom of Spain (ICSID Case No. ARB/13/36) – ICSID Decision on Annulment dated 11 June 2020.

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The BPC addresses the same issue in the following question: “8) In the last 10 years, have you been appointed as an arbitrator in another arbitration by one of the parties?”12

4. Failure to disclose and inferences Finally, it is worth mentioning that the BPC considers that non-disclosure by the arbitrator does not alone imply the existence of grounds for challenge, but it is a factor which must be considered and can influence the decision to disqualify an arbitrator. This is radically different to the general principle enshrined in the IBA Guidelines (which provides that no negative inference can be deducted from non-disclosure), and puts a substantial amount of pressure on the arbitrator to disclose even minor facts. This is coherent with the BPC’s drafting subcommittee’s understanding of the desirability for a greater level of transparency in arbitration. In the balance sought in the IBA Guidelines between the need for homogeneous efficient (read full) disclosure in an international setting, on one hand, and the need to reduce the risk of unnecessary and/or dilatory challenges on the other, the BPC stands firmly in favour of the need to obtain fuller disclosures.

VII. What next? As of 2020, there is no doubt that the IBA Guidelines have been a huge step forward in the pursuit of transparency and, equally important, harmonization of disclosure practice. This is of course a road of continuous development. In this progress, I would suggest that the trend in international arbitration practice leans towards more transparency and fuller disclosure, even if it is at the potential cost of some additional delays in the formation of the arbitral tribunal due to dilatory tactics. The publication of the BPC seems to indicate this. At least a substantial amount of arbitrator/lawyers are ready to move forward in this direction and, taking advantage of the substantial IBA Guidelines achievements, demand a higher degree of transparency in arbitration. The Monster Energy v. City Beverages and the EISER ICSID annulment are clear examples of new areas of risk in arbitration in the absence of more detailed disclosure. Paradoxically, the issuance of the BPC may initially cause some confusion among arbitrators and arbitral institutions, as explained below.

12 Perhaps if there is one comment to make regarding the BPC is the length of time taken into consideration for these disclosures. While three years, for example, may indeed be worthy of extension, ten years is considered by many to be on the excessive side. The BPC does make a reference to this point, stating that “The time periods indicated in some of these questions are considered reasonable, although this does not prevent the parties from agreeing to others.”

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The existence of two sets of disclosures rules which are only partially coincidental is bound to create some uncertainty among arbitrators and arbitral institutions. Issues such as which of both rules should be applied may very probably arise. The fact that arbitrators in the same arbitration proceeding may disclose on the basis of different standards may be cause for some concern. Take for instance section 3.1 of the IBA Guidelines dealing with services rendered in the past by the arbitrator to a party. The disclosure period in this section refers to events occurred within the last three years. The BPC, on the other hand, extends this period to ten years. A similar situation arises in IBA Guidelines 3.3.8., which considers disclosable four repeat appointments by the lawyers in the past three years, whereas BPC merely asks whether the arbitrator has been designated in another arbitration by the lawyers in the past ten years. Again, under the BPC the arbitrator must answer whether in the last three years he/she has shared a tribunal with any of the other present arbitrators, while the IBA Guidelines remain silent on this point. The disparity in breadth of disclosure may give rise to distorted comparisons. For example, one arbitrator may have been appointed thrice by the same lawfirm in the past two years and disclose nothing, while another may have been appointed twice in the last six years and disclose this fact. This unbalanced level of information may give one of the parties an edge over the other when reviewing and approving the arbitrator candidates. Furthermore, if the information is being provided in the context of appointing a president or sole arbitrator, there is the additional risk that arbitrators who disclose more may be less attractive to parties (or the designating arbitral institution) than those who provide the smallest disclosure possible within legitimate parameters. This may lead to unfair evaluations of different candidates, it possibly encourages arbitrators to favour restrictive disclosures.

VIII. What measures may be taken to benefit from the various rules? With the IBA Guidelines and the BCP, the arbitral community has at its disposal two excellent soft law sets of disclosure guidelines, with different approaches. The IBA Guidelines balance disclosure with the need to restrict unnecessary or dilatory challenges, while the BPC takes a stronger stance in favour of fuller disclosure. One alternative would be to review both sets and meld them into one sole guideline, a course of action that we may perhaps see in the future. Until such event should happen, the co-existence of both sets of rules will give the arbitral community the opportunity to determine in each case which set is better suited for each specific arbitration proceeding. To attain this goal, it would be convenient to

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ensure that the consideration and/or application of both sets of rules is done coherently. To achieve this, I would suggest considering the following measures: 1. By arbitrators: Disclosure letters by arbitrators should specify which set of guidelines they are applying for the purposes of deciding the minimum extent of the disclosures. As a general rule, arbitrators should undertake to apply the specific set rules, rather than making ambiguous statements such as inspired by, or guided by. 2. By lawyers: Attorneys have the right to request information from the arbitrators. I would suggest that they may request the arbitrators to apply a specific set of disclosure guidelines. Depending on the circumstances of the specific arbitration and/or the arbitrator, lawyers may find it appropriate to request the arbitrators to apply the BCP of the IBA Guidelines. 3. By arbitral institutions: Consideration should be given by arbitral institutions to the possibility of requesting arbitrators to comply specifically with a certain set of disclosure rules, unless otherwise agreed by the parties. Determining clearly which rules are to apply to any specific disclosure could provide an even playing field for all arbitrators involved, ensuring that they understand the framework within which the disclosures should be made, and applying the same review criteria to their specific circumstances.

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Der Einfluss des Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetzes (StaRUG) auf die Projektfinanzierung Christoph Thole

Inhaltsübersicht I. Einführung II. Grundstruktur des StaRUG 1. Gestaltbarkeit von Forderungen und Sicherheiten im Restrukturierungsplan 2. Eingriffe in Anteils- und Mitgliedschaftsrechte 3. Drittsicherheiten

4. Gestaltbarkeit von Konsortialverträgen und komplexen Finanzierungsverträgen 5. Modalitäten des Restrukturierungsplans 6. Stabilisierung als Verwertungs- und Vollstreckungssperre III. Folgerungen und Fazit

I. Einführung Zum 1.1.2021 ist das Unternehmensstabilisierungs- und Restrukturierungsgesetz (StaRUG) in Kraft getreten. Es bildet einen Teil eines größeren Gesetzespaketes (SanInsFoG).1 Mit dem StaRUG soll insbesondere die Richtlinie 2019/1023 über den präventiven Restrukturierungsrahmen in das deutsche Recht umgesetzt werden. Obwohl die reguläre Umsetzungsfrist noch bis Mitte 2021 lief, hat sich der deutsche Gesetzgeber mit Blick auf die durch die Corona-Pandemie eingetretenen wirtschaftlichen Verwerfungen zu einer rascheren Umsetzung entschieden. Das StaRUG wirft wie jedes neue Gesetz vielfältige Rechtsfragen auf. Die Auswirkungen auf Finanzierungen und andere Aspekte des wirtschaftlichen Lebens gilt es abzuklären. In diesem Beitrag wird untersucht, welche Auswirkungen das StaRUG auf die Projektfinanzierung haben kann. Dabei gilt es, den Besonderheiten der Projektfinanzierung Rechnung zu tragen, wenngleich angesichts der vielfältigen Ausgestaltung von Projektfinanzierungen viele der im Folgenden gewonnenen Ergebnisse auch auf allgemeine Unternehmensfinanzierungen übertragbar sind.

II. Grundstruktur des StaRUG Das StaRUG soll es einem Unternehmen ermöglichen, ab dem Eintritt der drohenden Zahlungsunfähigkeit über einen Restrukturierungsplan Restrukturierungsmaßnahmen anzustoßen. Mittels der Abstimmung über den Restrukturierungsplan können auch Minderheitsgläubiger, die sich an der Sanierungsstrategie nicht beteiligen wol1 BGBl. I 2020, S. 3256.

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len, an die Ergebnisse des Plans gebunden werden, wenn die recht hohen Mehrheitserfordernisse von 75 % der Stimmrechte in jeder Abstimmungsgruppe erreicht sind.2 Dieses als vorinsolvenzlich gedachte Sanierungsverfahren ist teilkollektiver Natur. Anders als im Insolvenzverfahren sind nicht von vornherein alle Gläubigergruppen an dem Verfahren beteiligt, sondern der Schuldner kann festlegen, von welcher Gläubigergruppe er Sanierungsbeiträge benötigt. Allerdings zielt der präventive Restrukturierungsrahmen darauf ab, die drohende Zahlungsunfähigkeit zu beseitigen und die Bestandsfähigkeit des Unternehmens wiederherzustellen.3 Da der Gesetzgeber des SanInsFoG zugleich den Prognosezeitraum bei der drohenden Zahlungsunfähigkeit auf in der Regel 24 Monate erweitert hat,4 muss folglich über den Restrukturierungsplan mindestens eine Durchfinanzierung für 24 Monate gesichert werden; die Bestandsfähigkeit dürfte sogar ein Mehr gegenüber der bloßen Liquiditätssicherung darstellen, so dass eine Rendite- und Refinanzierungsfähigkeit und jedenfalls eine nachhaltige Sanierung erforderlich sind.5 Das StaRUG sieht eine partielle gerichtliche Einbindung vor. Die Restrukturierungssache wird rechtshängig, indem der Schuldner das Restrukturierungsvorhaben dem Restrukturierungsgericht anzeigt. Mit dieser Anzeige verbindet sich zunächst das Ruhen der Insolvenzantragspflicht, die freilich wiederauflebt, wenn das Restrukturierungsgericht die anhängig gemachte Restrukturierungssache wieder aufhebt.6 Zu einer solchen Aufhebung kommt es grundsätzlich dann, wenn die Insolvenzreife in Gestalt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung eintritt.7 Das StaRUG gibt dem Schuldner die Möglichkeit, einen Restrukturierungsplan zu entwerfen, der beispielsweise Forderungsverzichte, Stundungen oder andere Sanierungsmaßnahmen beinhaltet. Es ist möglich, die Abstimmung über diesen Restrukturierungsplan privatautonom in eigener Regie durchzuführen oder das Abstimmungsverfahren dem Gericht zu überlassen.8 Auch im Übrigen kommt das Gericht nur dann ins Spiel, wenn gerichtliche Maßnahmen erforderlich werden. Das ist insbesondere der Fall, wenn nicht alle Gläubiger dem Planangebot des Schuldners zustimmen und folglich ein Eingriff in Gläubigerrechte erforderlich wird, um den überstimmten Gläubiger an den Plan zu binden.9 Dann ist die Planbestätigung durch das Gericht erforderlich. Daneben sieht das StaRUG weitere sogenannte „Instrumente“ vor, die dem Restrukturierungsziel dienen sollen. Dazu gehört auch die sogenannte Stabilisierung, die eine grundsätzlich auf drei Monate beschränkte Vollstreckungs- und Verwertungssperre beinhaltet und insbesondere im Vorfeld der Abstimmung über den Restrukturie2 3 4 5 6 7 8 9

Vorbehaltlich des sog. Obstruktionsverbots, § 26 StaRUG. § 14 i.V.m. § 29 StaRUG. § 18 InsO n.F. Es wird abzuwarten bleiben, ob die für IDW S 6-Gutachten maßgeblichen Kriterien sich auch für die Prüfung der Bestandsfähigkeit durchsetzen werden. § 42 StaRUG. § 33 Abs. 2 StaRUG i.V.m. § 42 Abs. 4 StaRUG. §§ 17 ff. StaRUG, § 45 StaRUG. §§ 60 ff. StaRUG.

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Der Einfluss des StaRUG auf die Projektfinanzierung

rungsplan nützlich sein kann, wenn einzelne Akkordstörer die Sanierungsstrategie durch Vollstreckungen oder Verwertung von Sicherheiten torpedieren wollen. Das StaRUG berührt nicht die grundsätzliche, auch im Insolvenzverfahren geltende Maxime, dass für jeden Schuldner ein einzelnes Verfahren durchzuführen ist. Schon das bedingt aus Sicht der Projektfinanzierung eine klare Abgrenzung der jeweiligen Rollen der Beteiligten.10 So wäre etwa im Fall der Krise einer Projektgesellschaft die refinanzierende Bank, die den Sponsoren Kredite ausgereicht hat, am Verfahren mangels vertraglicher Beziehung zur Projektgesellschaft nicht beteiligt, es sei denn, die refinanzierende Bank hat unmittelbar Sicherheiten am Vermögen der Projektgesellschaft erlangt. Das StaRUG ist insgesamt vor allem auf eine Finanzrestrukturierung abgestimmt und insofern gerade auch in der Projektfinanzierung beachtlich. Zu operativen Maßnahmen äußert es sich eher wenig. Die noch im Regierungsentwurf vorgesehene Möglichkeit, Verträge über den Restrukturierungsplan zu beenden, beispielsweise Miet- und Pachtverträge des Schuldners, wurde auf Drängen des Rechtsausschusses nicht in das endgültige Gesetz übernommen.11 Eingriffe in Vertragsrechte in Gestalt einer Beendigung dieser Verträge durch den Schuldner sind daher im StaRUG nicht möglich. Davon abzugrenzen ist die Sonderregelung des § 2 Abs. 2 StaRUG, die eine Gestaltung von Einzel- und Nebenbestimmungen in Finanzierungsverträgen einschließlich von intercreditor agreements ermöglicht (dazu unten 4.) 1. Gestaltbarkeit von Forderungen und Sicherheiten im Restrukturierungsplan Während die Insolvenz einer Projektgesellschaft selten ist, kann es durchaus vorkommen, dass (insbesondere eine in Form einer Kapitalgesellschaft betriebene) Projektgesellschaft in eine drohende Zahlungsunfähigkeit rutscht. Darüber hinaus ist auch in weiteren Gestaltungsformen eine Krise der Projektgesellschaft in Gestalt der drohenden Zahlungsunfähigkeit denkbar, etwa auch bei Joint-Venture-Strukturen und bei Gesellschaften bürgerlichen Rechts, die nämlich gleichfalls taugliche Schuldner im Sinne des StaRUG sind. Der vorzulegende Restrukturierungsplan sieht die Möglichkeit vor, einerseits sogenannte Restrukturierungsforderungen zu gestalten, andererseits sogenannte Absonderungsanwartschaften. Insofern hat der Gesetzgeber die Situation des Insolvenzplans in das StaRUG gespiegelt. Restrukturierungsforderungen sind diejenigen Forderungen, die bereits bei Vorlage des Planangebots12 begründet sind. Mithin muss der Rechtsboden für diese Forderungen bereits gelegt sein, auf die Fälligkeit kommt es nicht an.13 Sicherheiten sind typischerweise „Absonderungsanwartschaften“. Sie wären in einem späteren Insolvenzverfahren als Absonderungsrechte zu behandeln und können deshalb gleichermaßen im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsplan ge10 Vgl. Reuter, NZI 2010, 167. 11 Streichung durch die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 19/25303 zu §§ 49 ff. StaRUG-RegE. 12 Näher § 2 Abs. 5. 13 Vgl. auch § 3 StaRUG.

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staltet werden. Das betrifft sowohl dingliche als auch persönliche Sicherheiten und gilt selbstverständlich grundsätzlich nur in dem Maße, in dem sich diese Sicherheiten auf das schuldnerische Vermögen beziehen. Insofern ist entscheidend, ob gerade die Sicherheit an einem Vermögenswert der Projektgesellschaft klebt. Das können beispielsweise die im Eigentum der Projektgesellschaft stehenden Grundstücke sein, aber auch sicherungsübereignete sonstige Vermögenswerte und sicherungsabgetretene Rechte. Stehen Grundstücke nicht im Eigentum der Projektgesellschaft, wird in der Regel eine Dienstbarkeit zugunsten der Projektgesellschaft bestehen.14 Insofern könnte eine Absonderungsanwartschaft nur insoweit bestehen, als zugunsten der Finanzierer Rechte an dieser Dienstbarkeit begründet worden sind; eine besondere Problematik besteht zudem noch bei beschränkt persönlichen Dienstbarkeiten zugunsten (allein) der Projektgesellschaft.15 Wer Restrukturierungsgläubiger ist, entscheidet sich wie auch sonst nach allgemeinen zivilrechtlichen Maßstäben. Gleiches gilt für die Position des Absonderungsanwartschaftsberechtigten. Das könnte insbesondere bedeutsam werden bei der für Projektfinanzierungen häufigen Situation eines parallel debt mit Einschaltung eines Sicherheitentreuhänders. Hier ist entscheidend, wer gegenüber der Schuldnerin der eigentliche Sicherungsnehmer sein soll.16 Bei einer parallel-debt-Struktur mit eigenen Ansprüchen des Sicherheitentreuhänders und der Gläubiger hat schon der BGH zum Insolvenzverfahren ausgesprochen, dass die Forderungen von beiden Personenkreisen in Gesamtgläubigerschaft angemeldet und geltend gemacht werden können. Das bedeutet insbesondere, dass auch der Sicherheitenagent die parallel-debt-Ansprüche für sich anmelden kann.17 Entsprechendes gilt dann für das StaRUG-Verfahren. Ansonsten kommt es auch bei den Sicherheiten auf die konkrete Ausgestaltung an. Ist nur der Sicherheitentreuhänder Sicherungsnehmer, wäre er auch allein betroffen und beteiligt. Insbesondere kann jedenfalls genauso wenig wie im Insolvenzverfahren eine mögliche Pool-Lösung den gesicherten Gläubigern mehr Rechte verschaffen, als sie bei einzelner Betrachtung hätten. Gerade parallel-debt-Strukturen müssen bei der Planvorbereitung hinreichend berücksichtigt werden, da schon mit dem Planangebot auch den betroffenen Gläubigern Informationen über die Gruppenbildung und die Stimmrechte gemacht werden müssen18 und es insofern gerade keine echte Forderungsanmeldung im Rahmen des StaRUG-Verfahrens gibt. Insofern besteht hier insbesondere die Notwendigkeit für die Schuldnerin, die Gläubigerstruktur hinreichend konkret darzulegen, und sie trägt auch das bei der Planbestätigung sich dann materialisierende Risiko, dass die jeweiligen Forderungen in richtiger Höhe dargelegt sind.

14 Reuter, Projektfinanzierung, 2. Aufl. 2010, S. 211. 15 Zu Fragen der Vertragsgestaltung und der Übertragbarkeit bei beschränkt persönlichen Dienstbarkeiten Distler/Schulz in Böttcher/Wiebusch, Krise und Sanierung von Projektfinanzierungen, 2017, S. 113. 16 Reuter, Projektfinanzierung, 2. Aufl. 2010, S. 220. 17 BGH v. 5.7.2018 – IX ZR 167/15, NZI 2018, 743 Rz. 10. 18 § 17 Abs. 2 StaRUG.

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Der Einfluss des StaRUG auf die Projektfinanzierung

2. Eingriffe in Anteils- und Mitgliedschaftsrechte Typisch ist für Projektfinanzierungen auch das Bestehen von Sicherungsrechten an den Geschäftsanteilen der Projektgesellschaft.19 Diese Geschäftsanteile stehen indes nicht dem Vermögen der Projektgesellschaft zu, sondern dem Eigenkapitalgeber bzw. Sponsoren. Ist nun der Projektanteil verpfändet worden an die Fremdkapitalgeber, so bliebe er nach allgemeinen Regeln an sich unberührt von einer Restrukturierung oder einem Insolvenzverfahren der Projektgesellschaft, es sei denn, auch die Gesellschafter bzw. Sponsoren geraten ihrerseits in eine Notlage. Indes sieht § 2 Abs. 3 i.V.m. § 7 Abs. 4 StaRUG auch die Möglichkeit vor, dass in die Kapitalanteile bzw., allgemein formuliert, in die Anteils- und Mitgliedschaftsrechte an der Schuldnerin eingegriffen wird. Das mag im vorinsolvenzlichen Stadium eher seltener der Fall sein, da das Verfahren schuldnerbetrieben wird und die Gesellschafter möglicherweise den Gang in ein StaRUG-Verfahren von vornherein verhindern, wenn mit der Entziehung der Geschäftsanteile zu rechnen ist. Denkbar ist es indessen, dass über den Restrukturierungsplan, beispielsweise auf Druck der Fremdkapitalgeber und Gläubiger, die Anteilsrechte übertragen werden. Daneben sind alle sonstigen Maßnahmen zulässig, die gesellschaftsrechtlich vorgesehen sind. Einzig ein debt equity swap, d.h. ein Umtausch der Gläubigerforderung in Kapitalanteile, ist gegen den Willen der betroffenen Gläubiger ausgeschlossen. Werden gepfändete Geschäftsanteile an einen neuen Investor übertragen, würde die Verpfändung dieser Anteile zugunsten eines anderen Fremdkapitalgebers indessen bestehen bleiben. Anders ist es nur, wenn zuvor eine Kapitalherabsetzung auf Null erfolgte, so dass das Pfandrecht erlöschen würde, doch das erscheint nur denkbar, wenn die Anteile gar nicht mehr werthaltig sind, was im vorinsolvenzlichen Stadium ausscheiden dürfte. Hinsichtlich gesellschaftsrechtlich bestehender Haftungsansprüche der Gläubiger gegenüber den Sponsoren, wie etwa bei Personengesellschaften die Gesellschafterhaftung, verhält sich das StaRUG nicht. Die so begründeten Forderungen bleiben unberührt. Auch im Übrigen bleibt es natürlich denkbar, dass im Falle einer recourseGestaltung gesellschaftsvertraglich bestimmte Nachschusspflichten oder ähnliches vereinbart oder denkbar sind. Auch das wird durch das StaRUG nicht berührt. Was Sanierungsbeiträge der Sponsoren angeht, so hängt deren Umsetzung und Erbringung allerdings nicht nur davon ab, ob Eingriffe in die Anteilsmitgliedschaftsrechte im Plan vorgesehen sind, sondern rein faktisch auch davon, inwieweit die Gläubiger sich zur Zustimmung zu dem Plan bereit erklären, ohne dass Sanierungsbeiträge der Gesellschafter und Sponsoren erfolgen. Unter normalen Umständen werden die Fremdkapitalgeber und Banken zu einer Annahme des Restrukturierungsplans nicht bereit sein, wenn nicht auch die Eigenkapitalgeber entsprechende Sanierungsbeiträge leisten.

19 Reuter, Projektfinanzierung, 2. Aufl. 2010, S. 213; Distler/Schulz in Böttcher/Wiebusch, Krise und Sanierung von Projektfinanzierungen, 2017, S. 105.

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3. Drittsicherheiten Ein Novum des StaRUG ist insbesondere die Möglichkeit, auch in Drittsicherheiten einzugreifen.20 Nach bisher geltenden Regelungen des Insolvenzplanrechts konnten zwar gegen die Schuldnerin bestehende Forderungen gekürzt werden, eine für diese Forderungen durch einen Dritten gewährte Sicherheit blieb aber stets unberührt (§ 254 Abs. 2 InsO), so dass der nicht vollständig befriedigte Gläubiger noch auf seine Sicherheit gegenüber dem Dritten zugreifen konnte. Nunmehr erlaubt § 2 Abs. 4 StaRUG es auch, die Sicherungsgeberin von der Einstandspflicht mit der Sicherheit zu befreien, wenn die Sicherungsgeberin ein mit der Schuldnerin i.S.d. § 15 AktG verbundenes Unternehmen ist. Die Bedeutung dieser Vorschrift ist für die Projektfinanzierung nicht zu unterschätzen. Denn die Möglichkeit, Sicherheiten zu gestalten, hängt nunmehr von der Frage ab, inwieweit konzernrechtliche Verflechtungen und eine Unternehmensverbindung bestehen. Ist dies der Fall, hat also beispielsweise die Muttergesellschaft der Projektgesellschaft dem Gläubiger eine Sicherheit für eine Verbindlichkeit der Projektgesellschaft gegeben, kann diese Sicherheit auch im Restrukturierungsplan der Projektgesellschaft gestaltet werden. Einzige Voraussetzung ist, dass die Gläubiger, die dieser Sicherheit verlustig gehen, dafür angemessen entschädigt werden. Die angemessene Entschädigung richtet sich nach dem wirtschaftlichen Wert der Sicherheit, so dass es darauf ankommt, ob und in welcher Weise die Sicherungsgeberin noch wirtschaftlich dazu in der Lage gewesen wäre, die Sicherheit zu bedienen. Hier sind auch rechtliche Risiken einzupreisen, so dass die im Konzernverbund häufig relevante Frage der limitation language je nach Ausgestaltung möglicherweise auf die rechtliche Durchsetzbarkeit der dem Gläubiger gestellten Sicherheit Einfluss nehmen würde. Das ist dann bei der Frage zu berücksichtigen, ob der Gläubiger die Sicherheit noch hätte erfolgreich durchsetzen können. Die Regelung des § 2 Abs. 4 StaRUG erfasst aber nur Sicherheiten, die von verbundenen Unternehmen gestellt werden. Sonstige Absicherungen wie beispielsweise Exportkreditversicherungen oder bestimmte weitere nationale und internationale Absicherungsinstrumente in Gestalt von guarantees und Bürgschaften sind nicht erfasst. Sie bleiben also vom Restrukturierungsplan unberührt. Allenfalls wäre es denkbar, dass die Regressforderungen der Sicherungsgeber ihrerseits eine Restrukturierungsforderung gegenüber der Projektgesellschaft beinhalten. Von diesen Regressforderungen wird die Schuldnerin allerdings ex lege durch den Plan befreit, soweit eben die Restrukturierungsforderung gekürzt wird.21 4. Gestaltbarkeit von Konsortialverträgen und komplexen Finanzierungsverträgen Aus Sicht der Projektfinanzierung ist besonders die Vorschrift des § 2 Abs. 2 StaRUG hervorzuheben. Danach können auch Einzelbestimmungen aus mehrseitigen Rechts20 § 2 Abs. 4 StaRUG. 21 § 67 Abs. 3 Satz 2 StaRUG.

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Der Einfluss des StaRUG auf die Projektfinanzierung

verhältnissen zwischen dem Schuldner und mehreren Gläubigern durch den Restrukturierungsplan gestaltet werden, wenn die Restrukturierungsforderung oder die Sicherheiten auf diesem Rechtsverhältnis beruhen. Das gilt ebenfalls für Schuldverschreibungen und andere in § 2 Abs. 1 Nr. 3 WPHG genannte Schuldtitel und generell für Verträge, die zu gleichlautenden Bedingungen mit einer Vielzahl von Gläubigern geschlossen werden. Eine besonders beachtliche Vorschrift ist sodann § 2 Abs. 2 Satz 3 StaRUG. Das StaRUG ermöglicht nämlich nicht nur die Gestaltung der Konsortialverträge selbst, bzw. allgemeiner: der Einzelbestimmungen aus mehrseitigen Rechtsverhältnissen, sondern ermöglicht es auch, in intercreditor agreements einzugreifen, wenn die Gläubiger untereinander und mit dem Schuldner Vereinbarungen über die Durchsetzung der Forderungen oder Anwartschaften und das relative Rangverhältnis der Erlöse Vereinbarungen getroffen haben. Diese neue Möglichkeit muss ex ante von Gläubigerseite eingepreist und einkalkuliert werden. Sie ist für Projektfinanzierungen bedeutsam.22 Der Gesetzgeber zielt mit § 2 Abs. 2 StaRUG vor allem auf die Gestaltbarkeit von Covenants ab, wie sie in komplexen Finanzierungsverträgen und Kreditverträgen häufig vereinbart sind. Es besteht also die Möglichkeit, interne Vereinbarungen zwischen den Gläubigern, soweit der Schuldner daran zumindest beteiligt war, ebenfalls zum Gegenstand des Restrukturierungsplans zu machen und die Vertragsmodalitäten anzupassen. Einzelbestimmung in diesem Sinne ist allerdings nicht die eigentliche Hauptleistungspflicht. Das war im Referentenentwurf noch deutlich ausgesprochen, da dort von Nebenbestimmungen die Rede war. Inhaltlich dürfte sich mit dem nun gewählten Passus „Einzelbestimmungen“ aber keine Änderung verbinden. Das StaRUG zielt insbesondere darauf ab, Akkordstörer einzufangen. Selbst wenn die Konsortialverträge oder intercreditor agreements zur Vertragsänderung jeweils eine Einstimmigkeit voraussetzen oder zumindest eine 90 %-Abstimmungsmehrheit, könnte unter dem StaRUG bereits mit der dort vorgesehenen Mehrheit von 75 % der Stimmrechte (nicht nur der abgegebenen Stimmen) eine Restrukturierung und Vertragsanpassung über § 2 Abs. 2 bzw. eine Gestaltung der Forderungen über § 2 Abs. 1 StaRUG erreicht werden. Hinsichtlich der in § 2 Abs. 2 StaRUG erfassten Schuldverschreibungen wäre es denkbar, dass Projektanleihen begeben worden sind, die ebenfalls erfasst sind, sofern die Projektgesellschaft selbst die Emittentin ist. Häufig wird es demgegenüber um Anleihen gehen, die auf Ebene der Kreditgeber über eine Projektanleihe refinanziert werden. Diese Projektanleihen werden dann nicht unmittelbar betroffen über § 2 Abs. 2 StaRUG. Gleichwohl wäre zu berücksichtigen, dass die Werthaltigkeit der Projektanleihe ihrerseits naturgemäß mit der Restrukturierungsfähigkeit und den Gestaltungsoptionen auf der Ebene der Projektgesellschaft und der eigentlichen Sicherungsgüter zusammenhängt.

22 Distler/Schulz in Böttcher/Wiebusch, Krise und Sanierung von Projektfinanzierungen, 2017, S. 99 f.

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5. Modalitäten des Restrukturierungsplans Obwohl der Restrukturierungsplan inhaltlich eine gewisse Flexibilität hat und vielfältige Gestaltungslösungen möglich macht, sind das Abstimmungsprozedere und die formalen Anforderungen an den Restrukturierungsplan im StaRUG im Einzelnen festgelegt. So muss der Restrukturierungsplan unter anderem einen darstellenden und einen gestaltenden Teil enthalten und es müssen bestimmte Plananlagen beigefügt werden.23 Aus Sicht der Projektfinanzierung dürfte vor allem die Frage der Gruppenbildung eine Rolle spielen. Das StaRUG sieht ähnlich wie das Insolvenzplanrecht zunächst grundsätzlich vor, dass zwischen Absonderungsberechtigten und den einfachen Restrukturierungsgläubigern zwei Pflichtgruppen zu bilden sind, in denen dann – grundsätzlich – jeweils die Mehrheit erzielt werden muss. Das StaRUG lässt es aber zu, diese Pflichtgruppen weiter aufzufächern und jeweils Untergruppen zu bilden bzw. nach sachgerechten Kriterien weitere Differenzierungen einzuziehen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, welche Gruppen von vornherein in den Plan einbezogen werden sollen, da es sich um ein teilkollektives Verfahren handelt.24 Werden nun mehrere Gläubiger beteiligt, ist es möglich, nach dem Kriterium der wirtschaftlichen Interessen weitere Gruppen zu bilden, wenn sie sachgerecht voneinander abgegrenzt werden.25 Neben den Gruppen für die gesicherten Gläubiger und die einfachen Restrukturierungsgläubiger sind zwingend auch Gruppen zu bilden für die nachrangigen Restrukturierungsgläubiger. Das sind insbesondere die Gesellschafterdarlehen i.S.v. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO und auch die Anteilseigner bilden, wenn in die Anteils- und Mitgliedschaftsrechte eingegriffen wird, eine eigene Gruppe. Wird in Drittsicherheiten eingegriffen, müssen die Gläubiger ebenfalls eine eigenständige Gruppe bilden. Insofern kann eine Person als Gläubiger auch in verschiedenen Gruppen beteiligt sein, etwa als Inhaber der Drittsicherheit und als einfacher Restrukturierungsgläubiger. Für die Abgrenzung nach wirtschaftlichen Interessen wird es auf den Einzelfall ankommen. Hier könnte sich gerade bei verschiedenen Finanzierungen des Projekts die Frage stellen, inwieweit es noch Unterteilungen geben muss und kann. Sind beispielsweise einzelne Finanzierungen über öffentliche Programme erreicht worden und nicht durch private Banken, sondern beispielsweise durch Entwicklungsbanken oder staatliche Programme, könnte dies ein Grund sein, hier verschiedene Gruppen zu bilden. Das gilt also insbesondere für Förderkredite. 6. Stabilisierung als Verwertungs- und Vollstreckungssperre Ein weiteres Instrument des StaRUG ist die sogenannte Stabilisierung. Sie wird teils auch als Moratorium bezeichnet, hat indessen nur eine Aussetzung von Vollstreckungsmaßnahmen zur Folge und/oder eine Verwertungssperre für Sicherheiten. Damit kann insbesondere dann reagiert werden, wenn die sonst gebräuchliche stand still-Vereinbarung gebrochen wird oder abgelaufen ist.26 23 24 25 26

§§ 5 ff. StaRUG, § 15 StaRUG. § 8 StaRUG. § 9 Abs. 2 StaRUG. Herding in Böttcher/Wiebusch, Krise und Sanierung von Projektfinanzierungen, 2017, S. 135 f.

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Im Hinblick auf die Verwertungssperre sind die Vorschriften der §§ 49 ff. dem § 21 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 InsO nachgebildet. Die Stabilisierung soll insbesondere im Vorfeld des Restrukturierungsplans und der Abstimmung über den Restrukturierungsplan verhindern, dass einzelne Gläubiger Störpotential entfalten, indem sie entweder zur Vollstreckung schreiten oder indem sie beginnen, ihre Sicherheiten zu verwerten und damit dem Schuldner und hier der Projektgesellschaft Vermögenswerte zu entziehen, die für die weitere Projektdurchführung von erheblicher Bedeutung sind. Die Stabilisierung soll grundsätzlich auf einen Zeitraum von bis zu 3 Monaten beschränkt sein. Das Gesetz sieht darüber hinaus gewisse Verlängerungsmöglichkeiten vor, freilich nur unter der Prämisse, dass mit dem Erfolg des Plans und der Planbestätigung zu rechnen ist. Höchstens darf eine Stabilisierung bis zum Ablauf von 8 Monaten nach dem Erlass der Erstanordnung ausgesprochen werden.27 Die Stabilisierung setzt bestimmte formale und materielle Anforderungen voraus. Es ist unter anderem eine Restrukturierungsplanung vorzulegen, die vom Gericht auch auf Schlüssigkeit und Vollständigkeit geprüft wird. Interessant auch aus Sicht der Projektfinanzierung sind sodann die im Einzelnen mit einer solchen Stabilisierung verbundenen Folgen. Die Folge kann zunächst sein, dass Gläubigern Maßnahmen der Zwangsvollstreckung untersagt werden. Das betrifft insbesondere also die Restrukturierungsforderungen. Damit verbindet sich nicht ein Aufschub der Fälligkeit, so dass der Verzug weiterbesteht und Verzugszinsen, wenn die Leistungen schon rückständig sind, weiter auflaufen. Was die Verwertungssperre für Sicherheiten angeht, so sieht das Gesetz vor, dass der Gläubiger daran gehindert wird, die Sicherheit durchzusetzen, wenn die Gegenstände für die Betriebsfortführung von erheblicher Bedeutung sind. Auch dies gibt es nicht umsonst, denn dem Gläubiger sind die geschuldeten Zinsen zu zahlen und der durch die Nutzung des Sicherungsgutes eintretende Wertverlust ist durch laufende Zahlungen auszugleichen.28 Auswirkungen könnte die Stabilisierung hier insbesondere auch auf Fälle der Sicherungsübereignung einerseits und der Sicherungsabtretung andererseits haben. Sind Gegenstände des Umlaufvermögens, wie zum Beispiel Vorräte, sicherungsübereignet worden oder stehen sie unter Eigentumsvorbehalt, so bedeutet die Stabilisierung zunächst nur, dass diese Gegenstände weiter genutzt werden können. Ebenso wie bei § 21 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 InsO berechtigt dies aber die Projektgesellschaft nicht, solche Sicherungsgegenstände auch zu verwerten, indem sie veräußert oder verarbeitet werden. Hier sieht § 54 Abs. 2 StaRUG vor, dass die vertraglichen Vereinbarungen mit den Berechtigten zu berücksichtigen sind. Schon nach § 21 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 InsO besteht die Befugnis nur in der Nutzung der Gegenstände, nicht aber in deren Verwertung. Insofern hängt es hier vom Willen des Gläubigers ab, ob eine solche Verwertung gestattet wird. Das Gesetz will gerade erreichen, dass Vereinbarungen über die weitere Verwertung in Gestalt eines unechten Massekredits getroffen werden. Bei der Sicherungsabtretung verweist § 54 Abs. 2 StaRUG ebenfalls darauf, dass der Schuldner „nach Maßgabe der vertraglichen Vereinbarung mit dem Berechtigten“ Forderungen einzieht, die zur Sicherung abgetreten sind. Das ist insofern eine gewisse Neuerung, weil § 21 Abs. 2 27 § 53 StaRUG. 28 § 54 Abs. 1 StaRUG.

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Satz 2 Nr. 5 InsO eine solche Einziehung ohne Rücksicht auf den erfolgten Widerruf einer Einziehungsermächtigung ermöglicht, wenn die gerichtliche Anordnung gerade ergangen ist.29 Dies könnte nun möglicherweise anders sein. Jedenfalls besteht die allgemeine Pflicht gemäß § 54 Abs. 2 StaRUG, die Erlöse aus der Einziehung von sicherungsabgetretenen Forderungen und aus der Veräußerung oder Verarbeitung von beweglichen Sachen an den Berechtigten auszukehren und folglich zunächst auch vom Vermögen zu separieren. Die Erlöse dürfen also nicht für den allgemeinen Geschäftsbetrieb „verbraten“ werden. Abweichende Vereinbarungen sind natürlich jederzeit möglich. Die Stabilisierung hat auch gewisse Auswirkungen auf Vertragslösungsrechte. Hier bleibt die Gläubigerposition aber recht gesichert. § 55 StaRUG sieht zunächst vor, dass etwaige Leistungsverweigerungsrechte und Vertragsbeendigungsrechte des von der Stabilisierung betroffenen Gläubigers grundsätzlich unberührt bleiben. Er darf zwar nicht allein wegen der rückständigen Leistung die ihm noch obliegende Leistung verweigern oder den Vertrag beenden, wohl aber aus anderen Gründen, insbesondere bei bereits eingetretenem Verzug. Auch berührt § 55 StaRUG nicht das Recht von Kreditgebern, vor Auszahlung weiterer Kredittranchen oder noch offener Auszahlung von Kreditzusagen den Vertrag zu kündigen oder von einer entsprechenden Sicherheit abhängig zu machen, § 55 Abs. 3. Generell wird bei Vorleistungspflicht des Gläubigers nicht das Recht berührt, die Unsicherheiteneinrede des § 321 BGB zu ziehen. Anders formuliert muss der Gläubiger nicht ungesichert dem schlechten Geld frisches Geld hinterherschmeißen. Er kann folglich in der konkreten Situation auch auf Vorkasse umstellen oder sonst seine Zahlungsmodalitäten anpassen. Folglich ist es auch möglich, etwaige Kredite grundsätzlich fällig zu stellen, sodass der Schuldner dann möglicherweise zahlungsunfähig wird. Das führt allerdings zu der Gefahr, dass dann die Aufhebung des StaRUG-Verfahrens erfolgt und folglich wieder die Insolvenzantragspflicht einsetzt. Eine gleichlaufende Regelung zur Stabilisierung findet sich auch im § 30g ZVG, der die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung in Grundstücke vorsieht. Die eben aufgezeigte Stabilisierung kann sich möglicherweise auch auf Refinanzierungen auswirken.30

III. Folgerungen und Fazit Der kurze Überblick konnte nur ein Streiflicht auf das neu geschaffene StaRUG-Verfahren werfen. Gerade weil das StaRUG aber auf Finanzrestrukturierungen ausgerichtet ist oder darin zumindest einen Hauptanwendungsfall erkennt, dürfte auch die Projektfinanzierung vom StaRUG betroffen sein, wenn Projekte notleidend werden. Hier gilt es für alle Beteiligten, die damit verbundenen Risiken abzuklopfen. Auch die weiteren Fragen sind nicht trivial. Denn selbstverständlich berührt die spätere Re-

29 BGH v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, NZI 2019, 274 Rz. 32. 30 Dazu näher Reuter, NZI 2010, 167.

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Der Einfluss des StaRUG auf die Projektfinanzierung

strukturierungsfähigkeit den Wert der entsprechenden Forderungen und Sicherheiten und hat insofern auch Auswirkungen auf die Projektkalkulation. Wie sodann das StaRUG in der Praxis angenommen werden wird, wird sich noch erweisen müssen. Viele Fragen werden in Anlehnung an die bereits bekannten Maßstäbe des Insolvenzverfahrens zu lösen sein. Man muss aber bedenken, dass das StaRUG gerade kein Gesamtverfahren erforderlich macht. Daher mag das StaRUG auch attraktivere Restrukturierungsoptionen beinhalten als das bisher im Bereich der Projektfinanzierung von Großprojekten eher unübliche Insolvenzverfahren. Nicht zu vergessen ist auch, dass das neu geschaffene Verfahren grundsätzlich alle Glieder der Kette erfasst, so dass nicht nur die Krise der Projektgesellschaft zu betrachten ist, sondern auch entsprechende Krisensituationen bei einzelnen beteiligten Sponsoren, bei Lieferanten oder sonstigen im weiteren Sinn am Projekt beteiligten Personen. Schließlich bleibt noch darauf hinzuweisen, dass das StaRUG grundsätzlich auch nicht zwischen privaten und öffentlichen Gläubigern unterscheidet. Soweit gerade öffentliche Institutionen eingebunden sind, kann das StaRUG in gleicher Weise bedeutsam werden. Insofern kann das StaRUG beispielsweise auch ÖPP-Projekte betreffen, wenn innerhalb dieser Projekte die öffentliche Hand noch Forderungen gegen die Projektgesellschaft hat.

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Die Business Judgment Rule im Aufsichtsrat Roderich C. Thümmel

Inhaltsübersicht I. Anwendungsbereich der Business Judgment Rule 1. Rechtliche Ausgangslage 2. Unternehmerische Entscheidungen im Aufsichtsrat II. Zur Umsetzung der BJR bei Zustimmungsentscheidungen des Aufsichtsrats 1. Ausgangspunkt 2. Angemessene Informationsgrundlage

a) Informationsbedarf des Aufsichtsrats b) Vorstandsvorlagen und -berichte c) Unabhängige Informationsquellen III. 1. 2. 3.

Darlegungs- und Beweislast Grundsatz Betroffener Personenkreis Mittel der Darlegung

IV. Fazit

Alexander Reuter hat sich in vielen Rechtsgebieten hervorgetan. In seiner beruflichen Laufbahn hat er sich nie gescheut, neue Themen anzupacken. Dabei hat er ein untrügliches Gefühl dafür entwickelt, welche Fragen auch politisch relevant sind und auf das Interesse eines größeren Publikums treffen könnten. Immer taucht er tief in die Analyse des von ihm ins Auge gefassten Themenfeldes ein und überrascht mit neuen und spannenden Thesen. Auch Organhaftungsthemen widmet er sich regelmäßig.1 Deshalb seien ihm nachfolgende Gedanken herzlich gewidmet.

I. Anwendungsbereich der Business Judgment Rule 1. Rechtliche Ausgangslage Die Regelungen des Aktiengesetzes und des GmbH-Gesetzes sehen ein strenges Haftungsregime für Organmitglieder vor. Begeht der Vorstand eine Pflichtverletzung, die zu einem Schaden bei der Gesellschaft führt, hat er Schadensersatz zu leisten und dabei für jeden Verschuldensgrad einzustehen (§ 93 Abs. 2 Satz 1 AktG). Dasselbe gilt für den Geschäftsführer der GmbH (§ 43 Abs. 2 GmbHG). Die Regelungen gelten entsprechend für Aufsichtsorgane, wie den Aufsichtsrat (§ 116 Satz 1 AktG, § 52 Abs. 1 GmbHG) oder auch Beiräte.2 Mit Haftungsklagen befasste Gerichte müssen daher jeweils im Nachhinein feststellen, ob das schadensstiftende Verhalten des Organs als schuldhafte Pflichtverletzung zu bewerten ist. Von den Organen zu treffende 1 Z.B. Reuter, ZIP 2016, 597; BB 2016, 1283. 2 Jedenfalls, wenn der Beirat Organfunktion wahrnimmt, was sich aus der Satzung ergibt, vgl. Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rz. 286; Ruter/Thümmel, Beiräte in mittelständischen Familienunternehmen, 2. Aufl. 2009, Rz. 319.

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unternehmerische Entscheidungen beziehen sich in der Regel auf die Zukunft, die zum Entscheidungszeitpunkt niemand vorhersehen kann, und enthalten deswegen Prognosen und Einschätzungselemente. Soweit solche Entscheidungen betroffen sind, müsste sich der Richter also in die Position des Unternehmers begeben und hätte ex post ein Urteil darüber abzugeben, ob die damalige unternehmerische Entscheidung richtig war. Der inzwischen eingetretene Schaden wäre dann der Beleg dafür, dass tatsächlich eine falsche und damit möglicherweise pflichtwidrige Entscheidung getroffen wurde. Dass dies keine zutreffende Sichtweise sein kann, ist früh erkannt worden. Das US-amerikanische Gesellschaftsrecht hat insoweit den Boden bereitet und mit der Business Judgment Rule („BJR“) ein wichtiges Instrument zur Einordnung und Bewertung unternehmerischen Handelns entwickelt.3 Die BJR anerkennt, dass unternehmerisches Handeln innerhalb des durch die gesetzlichen Regelungen gespannten Rahmens durch eine Vielzahl möglicher Entscheidungen geprägt ist. Es gibt in der Regel nicht die eine oder einzig richtige Maßnahme, die zielführend ist. Deshalb muss der Unternehmensleiter ein Ermessen bei der Entscheidung darüber haben, welche der möglichen Handlungsoptionen er verfolgt. Dessen Nutzung ist, so sieht es die BJR vor, unter rechtlichen Aspekten nicht angreifbar, auch wenn die so getroffenen Maßnahmen zu einem Schaden für das Unternehmen geführt haben.4 Es entsteht also ein Haftungsfreiraum, der mit unternehmerischen Entscheidungen verbundenen Risiken Rechnung trägt. Der BGH hat dies in der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung5 im Jahre 1997 ausdrücklich anerkannt. Der Senat stellte zutreffend fest, dass ohne einen weiten Handlungsspielraum unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar sei. Deshalb sei das bewusste Eingehen geschäftlicher Risiken verbunden mit der Gefahr von Fehleinschätzungen, die auch bei noch so verantwortungsbewusstem Verhalten unvermeidbar ist, zulässig. Der Gesetzgeber hat die BJR im Jahre 2005 durch das UMAG6 in das Aktiengesetz eingefügt. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG statuiert seitdem, dass eine Pflichtverletzung nicht vorliegt, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Damit wird der äußere Rahmen des unternehmerischen Ermessens definiert. Die Regelung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kommt anerkanntermaßen nicht nur dem Vorstand, sondern auch den Organmitgliedern anderer Gesellschaftsformen (z.B. der GmbH oder der eingetragenen Genossenschaft)7 3 Vgl. Merkt, US-amerikanisches Gesellschaftsrecht, 3. Aufl. 2013, Rz. 922 ff.; Werder/Feld, RIW 1996, 481, 482. 4 S. z.B. Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rz. 186. 5 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/19, BGHZ 135, 244. 6 Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts vom 22.9.2005, in Kraft getreten am 1.11.2005. 7 Vgl. z.B. OLG Oldenburg v. 13.7.2000 – 1 U 35/00, GmbHR 2001, 76; Uwe H. Schneider in Krieger/Uwe H. Schneider (Hrsg.), Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 2 Rz. 17; Fleischer, NJW 2009, 2337, 2339.

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und eben – über die Verweisungsnorm des § 116 Satz 1 AktG – auch dem Aufsichtsrat zugute. 2. Unternehmerische Entscheidungen im Aufsichtsrat Der Anwendungsbereich der BJR ist – wie der Text des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG deutlich zum Ausdruck bringt – nur dann eröffnet, wenn das betreffende Organ eine unternehmerische Entscheidung zu treffen hat. Dies erhellt schon daraus, dass nur bei unternehmerischen Entscheidungen rechtlich zulässige Handlungsalternativen bestehen, auf die sich das unternehmerische Ermessen beziehen könnte. Den Gegensatz zu unternehmerischen Entscheidungen bilden gebundene Entscheidungen, d.h. Maßnahmen, die durch rechtlich verbindliche Normen angeordnet oder verboten sind. Diesbezüglich hat kein Organ ein Ermessen (Legalitätspflicht),8 vielmehr muss es solche Regelungen umsetzen und kann sich im Hinblick auf Regelverstöße nicht unter Hinweis auf das unternehmerische Ermessen exkulpieren.9 Zu den rechtlich verbindlichen Regeln gehört neben Gesetzen und Richterrecht auch das Innenrecht der jeweiligen Gesellschaft, also Regelungen, die sich aus Satzungen, Geschäftsordnungen oder Organbeschlüssen ergeben. Letztere spielen praktisch eine besonders wichtige Rolle. Soweit der Aufsichtsrat betroffen ist, kommt der sichere Hafen der BJR daher nur insoweit in Betracht, als er tatsächlich unternehmerische Entscheidungen trifft. Dass dies überhaupt der Fall sein kann, könnte man vor dem Hintergrund der Regelungsinhalte von § 111 Abs. 1 und Abs. 4 Satz 1 AktG bezweifeln. Danach nämlich erschöpft sich die Tätigkeit des Aufsichtsrats in der Überwachung der Geschäftsführung des Vorstands. Für Maßnahmen der Geschäftsführung, die typischerweise Ermessensentscheidungen beinhalten, ist er nicht zuständig. Dennoch ist seit langem anerkannt, dass auch der Aufsichtsrat unternehmerisch tätig wird.10 Der BGH hat in der bereits zitierten ARAG/Garmenbeck-Entscheidung11 die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrates differenziert betrachtet und unterscheidet Maßnahmen, die der rückschauenden Überwachung des Vorstandshandelns zuzuordnen sind, von solchen, die das Vorstandshandeln in die Zukunft begleiten. Diese in die Zukunft gerichtete Kontrolltätigkeit wird in Grundsatz 212 und Grundsatz 613 des Deutschen

8 Z.B. Krieger/Sailer-Coceani in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 93 AktG Rz. 13. 9 S. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 16 ff.; Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rz. 191. 10 Z.B. Henze, NJW 1998, 3309 ff. 11 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244; auch BGH v. 25.3.1991 – II ZR 188/89, BGHZ 114, 127, 130. 12 Grundsatz 2 DCGK (Fassung vom 16.12.2019) lautet: Der Vorstand entwickelt die strategische Ausrichtung des Unternehmens, stimmt sie mit dem Aufsichtsrat ab und sorgt für ihre Umsetzung. 13 Grundsatz 6 DCGK (Fassung vom 16.12.2019) lautet: Der Aufsichtsrat bestellt und entlässt die Mitglieder des Vorstands, überwacht und berät den Vorstand bei der Leitung des Unternehmens und ist in Entscheidungen von grundlegender Bedeutung für das Unternehmen einzubinden.

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Corporate Governance Kodex („DCGK“) ausdrücklich angesprochen,14 indem dort festgestellt wird, dass einerseits der Vorstand die strategische Ausrichtung des Unternehmens mit dem Aufsichtsrat abzustimmen hat und andererseits der Aufsichtsrat in Entscheidungen von grundlegender Bedeutung für das Unternehmen einzubinden ist. Die konkreten Folgen seiner Grenzziehung hat der BGH nicht im Einzelnen beschrieben. Er ordnete lediglich die Geltendmachung von Haftungsansprüchen gegenüber dem Vorstand, die nach § 112 AktG dem Aufsichtsrat obliegt, dessen rückschauender Überwachungsaufgabe zu. Dementsprechend stellte er fest, dass insoweit dem Aufsichtsrat kein Ermessen zusteht, er also nicht auf die Verfolgung von Haftungsansprüchen unter Anwendung seines Ermessens verzichten kann.15 Was dies im Einzelnen bedeutet, etwa welchen Beurteilungsspielraum der Aufsichtsrat im Hinblick auf die Bewertung des Sachverhalts und die Einbringlichkeit eines Schadensersatzanspruches hat, unter welchen speziellen Voraussetzungen (Stichwort: Unternehmenswohl) ein Verzicht in Betracht kommen kann und ob insoweit Beurteilungsspielräume bestehen, ist vielfach erörtert worden, ohne dass letzte Klarheit geschaffen werden konnte.16 Relativ deutlich ist aber, was jedenfalls zum Bereich unternehmerischen Handels des Aufsichtsrats gehört. Zu nennen sind zunächst Personalentscheidungen,17 die der Aufsichtsrat im Hinblick auf den Vorstand zu treffen hat. Dazu gehören die Bestellung von Vorstandsmitgliedern (§ 84 Abs. 1 Satz 1 AktG) sowie deren Abberufung (§ 84 Abs. 3 AktG), die Wiederholung von Bestellungen (§ 84 Abs. 1 Satz 2 und 3 AktG), die Vertragsgestaltung (§ 84 Abs. 1 Satz 5 AktG) und insbesondere die dem Vorstandsmitglied zu gewährende Vergütung (§§ 87, 116 Satz 3 AktG, Abschnitt G. DCGK). Hier ist klar, dass (auch) die Zukunft betroffen ist und es im Übrigen keine gebundenen Entscheidungen in dem Sinne geben kann, dass ein bestimmtes Vorstandsmitglied bestellt oder abberufen werden muss oder bestimmte Vertragskonditionen anzubieten sind. Dies alles liegt im (durch die gesetzlichen Regelungen und Abschnitt G. des DCGK eingeschränkten) Ermessen des Aufsichtsrats. Dasselbe gilt für die Mitwirkung des Aufsichtsrats an der strategischen Ausrichtung des Unternehmens und an der Planung, die dem Aufsichtsrat nach den oben genannten Grundsätzen des DCGK obliegt. Von besonderer Bedeutung im Hinblick auf die unternehmerische Tätigkeit des Aufsichtsrates sind die in § 111 Abs. 4 Satz 2 AktG genannten Zustimmungsvorbehalte.18 Sie sind das sichtbarste Zeichen dafür, dass der Aufsichtsrat (scheinbar) abweichend von der Regelung des § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG eben doch wesentlichen Einfluss auf die Geschäftsführung des Vorstands nehmen kann. Denn ohne die nach den Regelun14 Im Grunde auch in § 90 Abs. 1 Nr. 1 AktG und Grundsatz 15 DCGK, die die Unternehmensplanung zum Gegenstand der Berichtspflicht des Vorstands machen. 15 BGH v. 21.4.1997 – II ZR 175/95, BGHZ 135, 244, 254. 16 Vgl. etwa Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 11 m.w.N. 17 Vgl. Mertens/Cahn in Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. 2013, § 116 AktG Rz. 15; Thümmel, DB 1997, 1117, 1118. 18 S. auch Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 5.

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gen der Satzung sowie etwaiger Geschäftsordnungen oder aufgrund von Aufsichtsratsbeschlüssen einzuholende Zustimmung des Aufsichtsrats darf der Vorstand die jeweils betroffene Maßnahme nicht ausführen (es sei denn, er holt die überholende Zustimmung der Hauptversammlung nach § 111 Abs. 4 Satz 3 AktG ein) und begeht eine Pflichtverletzung, wenn er es dennoch tut.19 Da Zustimmungsvorbehalte offenkundig kein Überwachungsinstrument sind, das die Vergangenheit betrifft, sondern sich auf zukünftige vom Vorstand beabsichtigte Maßnahmen beziehen,20 ist auch klar, dass der Aufsichtsrat bei seinen in diesem Rahmen getroffenen Entscheidungen unternehmerisch handelt und ihm dabei die BJR zur Seite steht. Genauer betrachtet setzt der Aufsichtsrat sein unternehmerisches Ermessen im Zusammenhang mit Zustimmungsvorbehalten in mehrfacher Weise ein: Einerseits geht es darum, die geeigneten Zustimmungsvorbehalte zu formulieren und durch Beschluss zu verfügen, sei es im Rahmen einer Geschäftsordnung oder im Einzelfall (soweit nicht ohnehin ausreichende Zustimmungsvorbehalte in der Satzung enthalten sind). Die Auswahl geeigneter Zustimmungsvorbehalte hängt vom Zuschnitt des Unternehmens, seiner Branche, den Risikoeinschätzungen des Aufsichtsrates und der Auskunftsfreudigkeit des Vorstands ab. Der Aufsichtsrat trifft im Rahmen der Auswahl von Zustimmungsvorbehalten ebenso eine unternehmerische Entscheidung wie bei der sich anschließenden Frage, ob entsprechenden Vorlagen des Vorstands zugestimmt werden soll. Der Aufsichtsrat kann sich solchen Entscheidungen auch nicht entziehen, denn er ist gehalten, geeignete Zustimmungsvorbehalte zu verfügen (§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG) und muss, wenn der Vorstand zustimmungsbedürftige Geschäftsvorfälle vorlegt, hierüber auch eine konkrete und zeitgerechte Entscheidung herbeiführen. Alles andere wäre pflichtwidrig.

II. Zur Umsetzung der BJR bei Zustimmungsentscheidungen des Aufsichtsrats 1. Ausgangspunkt Der äußere Rahmen des Haftungsfreiraums, den die BJR schafft, ergibt sich aus § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG, der die bereits vor seiner Einführung entwickelten Grundsätze in Worte zu fassen sucht.21 Drei wesentliche Anforderungen müssen danach erfüllt sein: Eine unternehmerische Entscheidung ist betroffen,22 es muss eine angemessene Informationsgrundlage vorliegen23 und das Organ muss seine Entscheidung am Wohl des Unternehmens ausgerichtet haben,24 darf also insbesondere keine Sonderinteres-

19 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rz. 178a. 20 Anders und unzutreffend LG Bielefeld v. 16.11.1999 – 15 O 91/98, BB 1999, 2630. 21 S. zum (umstrittenen) Charakter der Norm etwa Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 8 ff. 22 Z.B. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 16 ff.; Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rz. 188. 23 Z.B. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 20 ff. 24 Z.B. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 93 AktG Rz. 23 ff.

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sen verfolgt haben.25 Solche Sonderinteressen sind bei Mitgliedern des Aufsichtsrates häufiger anzutreffen als im Vorstand. Dies liegt daran, dass die Aufsichtsratstätigkeit nach dem gesetzlichen Leitbild eine Tätigkeit ist, die neben einem Hauptberuf ausgeübt werden kann und häufig wird. Hieraus können sich Interessenbindungen ergeben, die mit dem Gesellschaftswohl im Einzelfall kollidieren.26 Deshalb ist die Prüfung der Frage, ob die Mitglieder des Aufsichtsrats bei ihrer Abwägungsentscheidung das Unternehmenswohl vor Augen hatten, durchaus relevant. Die anderweitige Interessenbindung allein ist aber regelmäßig noch nicht das maßgebliche Kriterium, vielmehr entfällt die BJR als Verteidigungsinstrument für das angegriffene Aufsichtsratsmitglied erst dann, wenn es bei seiner Entscheidung tatsächlich Sonderinteressen verfolgt hat.27 In der Regel ist eine solche Motivation nicht dem direkten Beweis zugänglich, sondern kann nur durch Indizien etabliert werden. Im Zentrum der Prüfung, ob der Aufsichtsrat Zustimmungsentscheidungen im Rahmen seines unternehmerischen Ermessens getroffen hat, steht aber typischerweise die Frage, ob auf der Basis einer angemessenen Informationsgrundlage entschieden wurde (siehe im Folgenden). 2. Angemessene Informationsgrundlage a) Informationsbedarf des Aufsichtsrats Der Aufsichtsrat ist ein Unternehmensorgan, das in der Regel keinen direkten Zugang zu den Informationsquellen des Unternehmens hat. Die Mitglieder des Aufsichtsrats sind typischerweise auch nicht in der Lage, sich einen Gesamtüberblick über die im Unternehmen vorhandenen Informationsquellen sowie deren Bedeutung und über die Einordnung der Vielzahl von Detailinformationen zu verschaffen. Dies liegt daran, dass sie (abgesehen von Arbeitnehmervertretern) nicht „im Unternehmen“ arbeiten, sondern eher eine Außensicht auf das Unternehmen haben. Der Aufsichtsrat ist daher im hohen Maße informationsbedürftig, will er eine vom unternehmerischen Ermessen getragene Entscheidung treffen. Zu beobachten ist eine Informationsasymmetrie, da der Vorstand über sämtliche relevanten Informationen und Informationsquellen verfügt (oder verfügen sollte), der Aufsichtsrat dagegen nicht und erst auf „Augenhöhe“ gebracht werden muss. Üblicherweise wird der Vorstand den Aufsichtsrat durch schriftliche Berichte und mündliche Erläuterungen informieren. Insbesondere im Zusammenhang mit der Einholung von Zustimmungsentscheidungen des Aufsichtsrats wird der Vorstand dem Aufsichtsrat zusammen mit der Beschlussvorlage Erläuterungen dazu geben, warum die Maßnahme erforderlich ist und im besten Interesse des Unternehmens liegt. Der Vorstand steuert gewissermaßen den Informationsfluss, was zu recht deutlicher Abhängigkeit des Aufsichtsrats führen kann. Bei anderen unternehmerischen Entscheidungen des Aufsichtsrats, wie insbesondere Personalentscheidungen, liegt der Fall anders. Diesbezüglich kommt der Vorstand 25 Vgl. hierzu im Einzelnen Reichert in FS Vetter, 2019, S. 597, 603 ff. 26 S. hierzu die Inkompatibilitätsregelungen in § 100 AktG sowie die Empfehlungen der Abschnitte C1-C12 sowie Grundsatz 19 DCGK. 27 Vgl. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 Rz. 6, 7, 8.

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(oder Vorstandskandidat) zwar auch als Informationsquelle in Betracht. Es ist aber klar, dass der Aufsichtsrat sich hiermit nicht begnügen kann, sondern, sofern nicht bei einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern entsprechende Sach- und Fachkenntnis vorhanden ist, auf Berater (z.B. Personal- und Vergütungsberater) angewiesen ist. b) Vorstandsvorlagen und -berichte Wie erwähnt, sind im Zusammenhang mit vom Aufsichtsrat zu treffenden Entscheidungen die seitens des Vorstands vorgelegten Berichte und Entscheidungsvorlagen von zentraler Bedeutung. Dies liegt daran, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats zunächst kaum auf andere Informationsgrundlagen zurückgreifen können, vielmehr der Vorstand ihre wesentliche Informationsquelle darstellt (§ 90 AktG).28 Eine wichtige, vor allem für die praktische Aufsichtsratstätigkeit bedeutsame Frage geht also dahin, ob und wieweit sich die Mitglieder des Aufsichtsrats auf die Vorstandsinformationen verlassen und diese als angemessene Informationsgrundlage akzeptieren dürfen und unter welchen Voraussetzungen sie auf andere Informationsquellen zugreifen müssen.29 Bei der Beurteilung dieser Frage sind unterschiedliche Gesichtspunkte zu betrachten: Auf der einen Seite steht das beschriebene Informationsdefizit des Aufsichtsrats, das ihn für Fehlinformationen und fehlerhafte Schlussfolgerungen anfällig macht. Dazu kommen die – mangels Zugriffs auf einen fachlichen Unterbau – beschränkten Möglichkeiten eigenständiger Ermittlungen. Gleichzeitig ist das Interesse des Vorstands in Rechnung zu stellen, das dahingeht, die von ihm gewonnenen Erkenntnisse auch im Aufsichtsrat zu verankern und den Aufsichtsrat für die vorgeschlagenen Entscheidungen zu gewinnen. Dies kann zu einer Untergewichtung solcher Gesichtspunkte führen, die gegen die Pläne des Vorstands sprechen. Auf der anderen Seite gilt, dass beim Vorstand und seinem unterstützenden Umfeld typischerweise die notwendige Expertise vorhanden ist, um Geschäftschancen und die jeweils zugrundeliegenden Sachverhalte sorgfältig zu analysieren. Die so ermittelten Daten können in der Regel eine hohe Richtigkeitsgewähr für sich beanspruchen. Auch ist der Vorstand regelmäßig am Unternehmenserfolg interessiert, so dass es im Ausgangspunkt wenig Grund zu der Vermutung gibt, er habe relevante Daten übersehen oder gar geschönt. In einem ersten Schritt wird der Aufsichtsrat daher zu überlegen haben, ob es Hinweise darauf gibt, dass der Vorstand eine hidden agenda hat, also Ziele verfolgt, die von der gemeinsam mit dem Aufsichtsrat abgestimmten Unternehmensstrategie oder -planung abweichen und deshalb Informationen zurückhält oder dass er gar in der Vergangenheit vorgekommene Fehler vertuschen möchte. Gibt es solche Hinweise nicht, so können die Darlegungen des Vorstands jedenfalls als Arbeitsgrundlage dienen. Andernfalls ist höchste Vorsicht angebracht, jedenfalls müssen schon an dieser 28 Der Vorstand ist einerseits ohne Aufforderung berichtspflichtig (regelmäßige Berichterstattung), andererseits zur Erfüllung von Berichtsanforderungen des Aufsichtsrats oder einzelner seiner Mitglieder verpflichtet, solange diese nicht missbräuchlich sind (§ 90 Abs. 1 und 2 gegenüber Abs. 3 AktG); vgl. im Übrigen auch Reuter, NZG 2015, 249 ff. 29 Vgl. auch Drygala in K. Schmidt/Lutter, 3. Aufl. 2015, § 116 AktG Rz. 14.

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Stelle weitere Informationsquellen erschlossen werden. Letzteres dürfte auch dann gelten, wenn die zu treffende Entscheidung als besonders kritisch, weil sehr schadensgeneigt, einzustufen ist (siehe unten c)).30 Dennoch ist die so gewonnene Arbeitsgrundlage noch nicht ohne Weiteres eine im Sinne der BJR angemessene Informationsgrundlage. Dabei ist klar, dass der Aufsichtsrat nicht – gewissermaßen routinemäßig – gezwungen sein kann, sämtliche Informations- und Prüfungsschritte des Vorstands selbst zu wiederholen. Ein solches Vorhaben würde schon an mangelnder Kapazität scheitern, weil der Aufsichtsrat über keinen „Apparat“ verfügt und wäre im Übrigen höchst ineffizient. Auf der anderen Seite kommt auch die kritiklose Übernahme der Vorstandsposition für den Aufsichtsrat nicht in Betracht, weil er dann offenkundig seiner Überwachungsaufgabe nicht gerecht geworden wäre. Also bedarf es einer differenzierten Betrachtung. Insoweit lohnt ein Blick auf die Grundsätze der ISION-Rechtsprechung des BGH.31 Die Entscheidung des BGH befasste sich mit der Frage, unter welchen Umständen sich ein Unternehmensleiter auf fachkundigen Rat verlassen darf. Rechtlich ging es um die Frage, ob (falscher) fachkundiger Rat beim Vorstand ein das Verschulden ausschließenden Rechtsirrtum begründet. Dies sei nur dann der Fall, wenn der Berater fachlich qualifiziert und unabhängig war, die zugrunde liegenden Fakten umfassend dargestellt wurden, der Unternehmensleiter die Plausibilität der Ausarbeitung des Beraters sorgfältig geprüft und den Rat auch entsprechend umgesetzt hat.32 Obwohl es bei der ISION-Rechtsprechung um die Frage ging, ob fachkundiger Rat von dritter Seite, sollte er unzutreffend sein, eine entschuldbaren Rechtsirrtum bei den Beratenen begründet, lassen sich die Grundüberlegungen auch im Zusammenhang mit der BJR und damit auf Pflichtwidrigkeitsebene nutzbar machen. So gewendet käme fachkundiger (nicht notwendig rechtlicher) Rat auch als angemessene Informationsgrundlage im Sinne der BJR in Betracht, wenn die Anforderungen der ISION-Rechtsprechung erfüllt wären. Auf den Aufsichtsrat bezogen hieße das, dass die vom Vorstand und seinen Beratern zusammengestellten Informationen als „fachkundiger Rat“ zu betrachten wären. Allerdings müssen die Kriterien der ISION-Entscheidung, die einen Rechtsirrtum entschuldbar erscheinen lassen, angepasst werden. So sind der Vorstand und sein Unterbau natürlich nicht unabhängig, wie dies für einen Berater verlangt wird. Die Unabhängigkeitsprüfung wäre also durch die Überlegung zu ersetzen, ob es Hinweise auf die Verfolgung von Sonderinteressen durch den Vorstand gibt. Bei der Frage der fachlichen Eignung wird der Aufsichtsrat seinen Blick vor allem auf die Mitarbeiter und Berater richten, die der Vorstand im eigenen Unternehmen eingeschaltet oder sonst beauftragt hat. Denn die Qualität der Vorlage hängt im Hinblick auf fachliche Details wesentlich von diesem Personenkreis ab. Sind die handelnden Personen dem Aufsichtsrat nicht schon aus der Vorlage selbst bekannt (etwa weil Gutachten, Due Diligence Unterlagen o.ä. beigefügt worden sind), so wäre dieser Punkt zu vertiefen. 30 Vgl. den Fall OLG Stuttgart v. 29.2.2012 – 20 U 3/11, AG 2012, 298, 301. 31 BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, AG 2011, 876; vgl. dazu auch BGH v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, NJW 2007, 2118. 32 S. auch BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792 Rz. 28 ff.

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Die Kernanforderung bleibt aber auch für den Aufsichtsrat die Plausibilitätsprüfung,33 die mehrere Dimensionen hat. Einen Teilaspekt bildet die Vollständigkeitsprüfung. Stellt der Aufsichtsrat fest, dass die Vorlage lückenhaft ist, z.B. weil steuerliche Aspekte einer vorgeschlagenen Transaktion, die Herleitung des ins Auge gefassten Kaufpreises oder Risiken der Transaktion gar nicht angesprochen wurden, so taugt die Vorlage nicht als geeignete Informationsgrundlage. Lückenhaft wäre eine Vorlage auch dann, wenn nicht dargestellt wäre, auf welche Weise die in Aussicht genommene Entscheidung (z.B. Erwerb eines anderen Unternehmens) zur Erreichung des selbst gesetzten Ziels (z.B. profitables Wachstum) beiträgt oder welche Alternativen hierzu bestehen und welche Folgen die Umsetzung solcher Alternativen für das Unternehmen hätte. Bei derartigen Mängeln wird der Aufsichtsrat in der Regel Nachbesserung verlangen, in manchen Fällen auch eigene Ermittlungen starten (vgl. unter c). Ein weiterer Teilaspekt der Plausibilitätsprüfung liegt in der Frage, ob die zusammengetragenen Daten überhaupt die Schlussfolgerungen tragen, die hieraus gezogen werden. Dies wäre z.B. nicht der Fall, wenn sich aus einem vorgelegten Due Diligence Bericht relevante Risiken ergeben, der Vorstand aber der Meinung ist, auf weitergehende Garantiezusagen im Kaufvertrag verzichten zu können. Ähnlich läge es, wenn das vorgelegte Rechenwerk zur Ermittlung eines Unternehmenswertes Fehler in bestimmten Annahmen oder gar Rechenoperationen offenbart. Insgesamt geht es also darum, dass der Aufsichtsrat die zur Verfügung stehenden Unterlagen zur Kenntnis nimmt, d.h. sorgfältig liest, die niedergelegten Überlegungen nachvollzieht und auf Schlüssigkeit prüft. Haben die vorangehenden Prüfungsschritte dazu geführt, dass die Vorlage des Vorstands vollständig und plausibel ist, so darf der Aufsichtsrat die entsprechenden Daten und Bewertungen in der Regel seiner Entscheidung zugrunde legen, ohne eigene weitere Nachforschungen anzustellen. Er hat dann eine ausreichende Informationsgrundlage.34 Dies enthebt ihn aber nicht der auf dieser Basis vorzunehmenden Abwägung der Vor- und Nachteile der vorgeschlagenen Maßnahmen im Lichte des Unternehmenswohls. Die Abwägungsentscheidung muss der Aufsichtsrat eigenständig treffen und darf nicht die Abwägungen des Vorstands automatisch übernehmen. Dabei haben die Aufsichtsratsmitglieder ihre Erfahrung und Expertise einzusetzen. Liegen besondere Fachkenntnisse bei einzelnen Aufsichtsratsmitgliedern vor, müssen auch diese nutzbar gemacht werden.35 Nimmt der Aufsichtsrat eine solche Abwägung vor und kommt zu dem Ergebnis, dass der Vorschlag des Vorstands abzulehnen ist, so ist auch diese Entscheidung von der BJR gedeckt, ebenso wie eine zustimmende Ent-

33 BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, AG 2011, 876 Rz. 16 ff.; BGH v. 28.4.2015 – II ZR 63/14, NZG 2015, 792 Rz. 28 ff. 34 Vgl. Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 6, der insoweit von „Entlastung“ des Aufsichtsrats spricht (wenn die Vorstandsvorlagen nicht erkennbar unzutreffend waren). 35 BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, AG 2011, 876 Rz. 28; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 4.

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scheidung ermessensgerecht gewesen wäre. Eine Nachprüfung ex post scheidet jedenfalls aus. Ein Beispiel wäre ein vom Landgericht Bielefeld36 kürzlich entschiedener Fall, bei dem der Vorstand dem Aufsichtsrat den Verkauf eines Aktienpaketes (Teil der Beteiligung an einer Tochtergesellschaft) vorschlug, der Aufsichtsrat dies jedoch ablehnte. Zur Begründung machte er geltend, dass er den Verkauf nicht generell für falsch hielte, sondern lediglich den Zeitpunkt. Der Kurs sei kurze Zeit vor der maßgeblichen Aufsichtsratssitzung deutlich zurückgegangen und der Verkauf hätte im Übrigen einen weiteren erheblichen Kurseinbruch zur Folge, der die verbleibende Beteiligung an der Tochtergesellschaft entwerte. Der Verkauf solle in kleineren Tranchen und zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden. Die Ablehnung des Aufsichtsrates hatte zur Folge, dass der Verkauf unterblieb. Zu einem späteren Zeitpunkt konnte nur zu einem deutlich schlechteren Kurs verkauft werden als demjenigen, der dem Vorschlag des Vorstands zugrunde lag. Ex post betrachtet handelte es sich bei der Entscheidung des Aufsichtsrats daher um einen Fehler. Schadensersatzansprüche gegenüber den Aufsichtsratsmitgliedern lassen sich hierauf dennoch nicht stützen, weil die vom Vorstand vermittelte Informationsgrundlage (Kursverhältnisse, Umfang des zu verkaufenden Aktienpakets, verbleibende Beteiligung) zutreffend war und der Aufsichtsrat offenkundig eine Abwägung im Lichte des Unternehmenswohls vorgenommen hatte. Dass er falsch lag, fällt ihm, wie das Landgericht Bielefeld zurecht feststellte, nicht zur Last. c) Unabhängige Informationsquellen Sind die vom Vorstand gelieferten Informationen zweifelhaft oder unvollständig oder zu Teilen nicht nachvollziehbar, so muss der Aufsichtsrat darüber nachdenken, ob er unabhängige Informationsquellen zu Rate ziehen will und wie dies umgesetzt werden kann. Dass der Aufsichtsrat eigene Expertise einsetzen muss, wurde schon erwähnt.37 Gehören also dem Aufsichtsrat Investmentbanker oder Juristen mit Transaktionserfahrung an, so stellt deren eigene Sachkunde und Einschätzung im Grundsatz eine geeignete Basis für die Bewertung der Vorstandsvorlage und ggf. deren Ergänzung dar (s. auch § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG). Fehlt solche Expertise, muss der Aufsichtsrat Berater einschalten. Er darf solche Berater im Namen der Gesellschaft beauftragen. Seine diesbezügliche Vertretungsmacht ergibt sich als Annex-Kompetenz aus den § 111 Abs. 2 Satz 2 AktG i.V.m. § 112 AktG.38 Soweit er zur sachgerechten Beurteilung durch einzelne Aufsichtsratsmitglieder oder beauftragte Berater weitergehende Informationen benötigt, kann er diese beim Vorstand einfordern. Dieser muss dem entsprechenden Berichtsverlangen auch entsprechen (§ 90 Abs. 3 AktG).

36 Landgericht Bielefeld v. 30.10.2020 – 12 O 71/16 (unveröffentlicht). 37 BGH v. 20.9.2011 – II ZR 234/09, AG 2011, 876 Rz. 28; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 116 AktG Rz. 4. 38 Vgl. Haarmann in FS Thümmel, 2020, S. 251, 254; Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 111 AktG Rz. 24, § 112 AktG Rz. 1.

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Die Business Judgment Rule im Aufsichtsrat

Schließlich kann er auf Mitarbeiter des Unternehmens zugehen, wenn sich der Vorstand im Hinblick auf die Informationswünsche unkooperativ verhält.39

III. Darlegungs- und Beweislast 1. Grundsatz Das Organhaftungsrecht ist durch die Umkehr der Beweislast nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG geprägt. Die Regelung kommt auch auf den Aufsichtsrat zur Anwendung (§ 116 Satz 1 AktG). Von der Umkehr der Beweislast betroffen sind sowohl die Pflichtwidrigkeit des Organhandels wie auch das Verschulden. Für den eingetretenen Schaden und dessen Kausalität bleibt dagegen die anspruchstellende Gesellschaft darlegungsund beweispflichtig. Um zu verhindern, dass allein die Darlegung eines eingetretenen Schadens die Organmitglieder zum Entlastungsbeweis zwingen und damit möglicherweise einer Erfolgshaftung unterwerfen würde,40 hat der BGH41 eine Kompromissformel ersonnen. Danach obliegt es der Gesellschaft, eine mögliche Pflichtverletzung zu benennen und diese ggf. im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast näher zu bezeichnen. Erst dann ist das Organmitglied gezwungen, seinerseits darzulegen, weshalb sein Verhalten pflichtgemäß war. Für unternehmerische Entscheidungen bedeutet dies, dass die Darlegungen des Organs sich auf Umstände beziehen müssen, die die Einhaltung des Rahmens des unternehmerischen Ermessens belegen. Insbesondere müssen also die Informationsgrundlage und der Abwägungsprozess dargelegt und notfalls bewiesen werden. 2. Betroffener Personenkreis Der Aufsichtsrat ist ein Kollegialorgan, dessen Handlungen sich in Beschlüssen niederschlagen. Eine Pflichtverletzung kann daher nur darin liegen, dass er gebotene Beschlüsse unterlässt oder pflichtwidrige Beschlüsse fasst. Nun stellt die Organhaftung keinen Fall der Kollektivhaftung dar, sondern ist ein individuelles Haftungskonzept. Schadensersatzpflichtig ist nur derjenige, in dessen Person eine schuldhaft begangene Pflichtverletzung festgestellt werden kann, die zu einem Schaden geführt hat.42 Erst, wenn mehrere Personen pflichtwidrig gehandelt haben, kommt es zu der in § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG angesprochenen gesamtschuldnerischen Haftung.43 Für den Aufsichtsrat bedeutet dies, dass die Pflichtenlage jedes einzelnen Aufsichtsratsmitglieds zu betrachten ist. Da Beschlüsse mit Mehrheit zustande kommen (oder abgelehnt werden), sind grundsätzlich nur diejenigen Mitglieder des Aufsichtsrates zum

39 Vgl. Elsing/Schmidt, BB 2002, 1705, 1708. 40 Vgl. hierzu auch Fleischer in FS Thümmel, 2020, S. 159, 169. 41 BGH v. 4.11.2002 – II ZR 224/00, BGHZ 152, 280, 284; BGH v. 20.11.2018 – II ZR 132/17, BeckRS 2018, 32052 Rz. 18. 42 S. auch Reichert in FS Vetter, 2019, S. 597, 605. 43 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rz. 65.

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Antritt des Entlastungsbeweises gezwungen, die Teil der Mehrheit waren.44 Bei denjenigen, die in der Minderheit geblieben sind oder sich enthalten haben, fehlt in der Regel die Möglichkeit einer Pflichtverletzung. Anderes mag allenfalls dann gelten, wenn unklar ist, durch welche Personen die Mehrheit gebildet worden ist, wenn einzelne in der Minderheit bleibende Aufsichtsratsmitglieder mit besonderer Expertise die Mehrheit von der Unrichtigkeit ihrer Auffassung hätten überzeugen können, dies aber unterlassen haben, wenn Aufsichtsratsmitglieder der Abstimmung aus Sorge vor Haftung ferngeblieben sind45 oder wenn der ins Auge gefasste Aufsichtsratsbeschluss strafrechtlich relevant sein könnte. Im letzteren Falle wäre von den Opponenten mehr zu verlangen, als nur eine Gegenstimme abzugeben.46 3. Mittel der Darlegung Welche Möglichkeiten haben die angegriffenen, eine Beschlussmehrheit bildenden Mitglieder des Aufsichtsrates, sich zu entlasten? Sie müssten darlegen und beweisen, dass der von Ihnen getragene Beschluss auf der Basis einer ausreichend breiten Informationsgrundlage und unter Abwägung vor dem Hintergrund des Gesellschaftswohles sowie ohne die Verfolgung von Sonderinteressen zustande gekommen ist. Die Widerlegung der Behauptung von Sonderinteressen stellt im Hinblick auf die Darlegungs- und Beweisanforderungen keine Besonderheit dar. Je nachdem, um welches Sonderinteresse es geht, kommen Dokumente oder Zeugen als Beweismittel in Betracht. Bei der Informationsgrundlage und dem Abwägungsvorgang dagegen sind die Möglichkeiten für die betroffenen Aufsichtsratsmitglieder, sich zu entlasten, dagegen beschränkt. Die Tätigkeit des Aufsichtsrates manifestiert sich in den innerhalb oder außerhalb von Sitzungen gefassten Beschlüssen, die wiederum auf den Vorlagen des Vorstands, seinen Berichten oder Gutachten Dritter und der eigenen Einschätzung (sachkundiger) Aufsichtsratsmitglieder beruhen. Was im Einzelnen Gegenstand der Aufsichtsratsberatungen war, ergibt sich aus dem Protokoll der jeweiligen Aufsichtsratssitzung (§ 107 Abs. 2 AktG). Dort ist (im besten Falle) festgehalten, was Inhalt der Vorstandsvorlage war und welche Erläuterungen der Vorstand gegeben hat, welche weiteren Beurteilungsgrundlagen zur Verfügung standen, ob und wie Aufsichtsratsmitglieder Unklarheiten aufgeklärt haben und wie der Abwägungsprozess verlief. Das Aufsichtsratsprotokoll ist damit ein geeignetes Mittel darzulegen, dass sich die Aufsichtsratsmitglieder im Rahmen ihres unternehmerischen Ermessens gehalten haben. Weitere Dokumente, wie etwa vorliegende Berichte oder Gutachten, mögen hinzukommen. Zeugenaussagen kommen dagegen kaum in Betracht. Die in Anspruch genommenen Mitglieder des Aufsichtsrates sind keine tauglichen Zeugen; ihre Aussage kommt allenfalls im engen Rahmen der Parteivernehmung in Betracht (§§ 445 ff. ZPO). Nicht in Anspruch genommene Aufsichtsräte werden kaum hilfreich sein, abgesehen davon, dass die Erinnerung an den Inhalt einzelner Sitzungen 44 Wobei sich ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied nicht mit dem Argument entlasten kann, dass es auf seine Stimme zur Erreichung der Mehrheit nicht ankam, vgl. Fleischer, BB 2004, 2645, 2647. 45 Reichert in FS Vetter, 2019, S. 597, 606. 46 Thümmel, Persönliche Haftung von Managern und Aufsichtsräten, 5. Aufl. 2016, Rz. 68.

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schnell verblasst. Dementsprechend spielt das Aufsichtsratsprotokoll die entscheidende Rolle. Von seiner Formulierung kann abhängen, ob der Entlastungsbeweis gelingt. Dies sollte bedacht werden, wenn über die Person des Protokollführers oder auch über etwaige Protokollkorrekturen zu entscheiden ist. Der erforderliche Protokollinhalt wird maßgeblich von der in Rede stehenden Entscheidung bestimmt. Je umstrittener die Entscheidung ist und/oder je erheblicher die potenziellen Auswirkungen einer Fehlentscheidung auf die weitere Entwicklung des Unternehmens sind, umso ausführlicher muss das Protokoll sein, soll es im Falle eines Haftungsprozesses ein relevantes Entlastungsmittel sein. Neben dem Beschlusswortlaut muss es darstellen, auf welcher Basis (Dokumente, Präsentationen, Erläuterungen des Vorstands) der Beschluss zustande gekommen ist. Daneben sollte das Abstimmungsergebnis, bei umstrittenen Entscheidungen namentlich,47 vermerkt sein. Schließlich ist der Abwägungsprozess zu protokollieren. Dazu gehört die Zusammenfassung der Diskussion mit den wesentlichen Beiträgen und Argumenten (zu den Vor- und Nachteilen der vom Vorstand gewünschten Maßnahmen).48 Warnende Hinweise einzelner Mitglieder des Aufsichtsrats sind auf deren Wunsch ebenso aufzunehmen.

IV. Fazit Die BJR und der durch sie geschaffene Haftungsfreiraum ist auch für den Aufsichtsrat relevant. Die Mitglieder des Aufsichtsrates haben unternehmerische Entscheidungen zu treffen und dies in zunehmendem Umfang. Sie werden auch für fehlerhafte Entscheidungen zur Verantwortung gezogen. Da der Aufsichtsrat nicht im Unternehmen selbst tätig ist,49 sondern Entscheidungen gewissermaßen aus der Außenperspektive treffen muss, kommen der Herkunft und der Qualität der Informationsgrundlage, auf deren Basis er Entscheidungen trifft, eine zentrale Rolle zu. Hierzu gilt, dass die Mitglieder des Aufsichtsrates sich grundsätzlich auf die vom Vorstand in seiner Beschlussvorlage zusammengestellten Daten, Informationen und Bewertungen verlassen dürfen. Eigene Ermittlungen müssen sie nur anstellen, wenn Zweifel an der Seriosität der Vorlage bestehen, diese offenbare Lücken enthält, ihre Schlussfolgerungen nicht nachvollziehbar sind oder Vorlagen überhaupt fehlen. Keinesfalls ist der Aufsichtsrat aber einer eigenen Abwägungsentscheidung enthoben. Diese muss er immer unabhängig vom Vorstand treffen. Werden Aufsichtsratsmitglieder wegen eines von ihnen getragenen Beschlusses angegriffen und auf Schadensersatz in Anspruch genommen, müssen sie darlegen und beweisen, dass sie sich im Rahmen ihres unternehmerischen Ermessens gehalten haben. Den Protokollen der Aufsichtsratssitzungen kommt insoweit entscheidende Bedeutung zu.

47 Das einzelne Aufsichtsratsmitglied kann namentliche Zuordnung zu seiner Stimmabgabe verlangen, vgl. Mertens/Cahn in Kölner Kommentar AktG, 3. Aufl. 2013, § 107 Rz. 79. 48 S. auch Hüffer/Koch, 13. Aufl. 2018, § 107 AktG Rz. 14. 49 Der Aufsichtsratsvorsitzende hat gelegentlich ein Büro in den Räumen des Unternehmens.

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Prof. Dr. Alexander Reuter and the Rise of the International Lawyer in Germany Gregory J. Thwaite

Inhaltsübersicht I. Introduction II. German Legal Education in the 1980’s III. 1. 2. 3.

Foreign Study Master’s Programme Bar Review Course and Bar Exams Employment

IV. Geopolitical Changes 1. Unification of West Germany and East Germany 2. Collapse of the European Communist Régimes

3. Deepening of the European Union V. Challenge and Response in the German Profession 1. The Arrival of the Anglo-Americans 2. The Response of the German Profession 3. Arrival Strategy 4. Lawyer Discipline VI. Effect of the Arrival of the AngloAmericans VII. Conclusion

I. Introduction A generation back, Prof. Alexander Reuter and I jointly wrote an article on civil litigation in the German legal system. It found acceptance in a legal journal in Australia. The article was aimed at Australian lawyers who might be in contact with Germany. At the time each of us was engaged in what Justice Oliver Wendell Holmes of the US Supreme Court termed “the greedy watch for clients”, rather than the production of an academic treatise. Elsewhere in the Festschrift will be found proof of Prof. Reuter’s scholarship. Still, the article reflects the ability of Prof. Reuter to straddle separate but parallel legal systems, in which concepts often appear similar, but in fact may be quite different. Civil litigation is a prime example. The Civil Code nations operate differently from those in the common law tradition, as to selection and appointment of Judges, the ability to obtain evidence in advance of a trial, the respective roles of the Judge and the lawyers in gathering evidence and identifying the legal principles, the liability of the losing party for costs, and the availability of insurance against court costs. That article can be put in the context of the time. Looking back, the 1980’s and 1990’s were a time of upheaval, excitement, and challenge in the legal profession in Germany. Legal practice was rapidly becoming international.

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Ambitious German lawyers had become aware in the 1980’s of the need to catch a current, as Brutus urges in Shakespeare’s Julius Caesar [Act 4, Scene 3, lines 218–224]: There is a tide in the affairs of men. Which, taken at the flood, leads on to fortune; Omitted, all the voyage of their life Is bound in shallows and in miseries. On such a full sea are we now afloat, And we must take the current when it serves, Or lose our ventures.

American and English law firms were aiming in the 1990’s to establish operations in Germany. A cohort of German lawyers was fitted to provide stiff competition. Or skilled assistance. They were mainly younger lawyers, who were bi-lingual, almost bicultural, and usually dual-qualified. Such as Prof. Reuter.

II. German Legal Education in the 1980’s At the time that Prof. Reuter arrived in the German profession in the 1980’s, several half-generations were active. The oldest members might go back to the late Weimar Republic; others dated from the Nazi time; some had entered the profession after the War; and the generation of 1960’s developed in a time of radical politics. By the 1980’s, West Germany was a prosperous nation, with a formidable export industry. Some of the best young lawyers were focused on international practice. By the time of University studies, a student would have such command of English as reflected diligence at high school. Parents with foresight may have sent a teenager to spend a year in a school in the English-speaking world. As it was ‘cool’ (to use the current argot), English was widely appreciated by the younger generation. It was the language of movies and music. French was being outstripped as the first foreign language in West Germany, as (later, after Unification) was Russian in East Germany. A law student with ambition would initially focus on a high pass in the First State Examination, while being at the start of the rigorous study and research required for a doctorate. Delaying this heavy programme for men was an obligation for a period of military service, or a (longer) period of civil service. West Berlin being a zone occupied equally by the USA, Great Britain, France and the Soviet Union, its young men were exempt. As Communism waned as a threat, men could resent military service. Perhaps a course would be taken in a University within the European Union. Such course would qualify as a component of the German programme. After the First State Examination, three years as a Referendar/in for the Government followed. The student followed in the footsteps of the pre-eminent man of both literature and statecraft, Johann Wolfgang von Goethe. In 1772 he completed a type of 476

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Referendar experience with the Supreme Court of the Holy Roman Empire, at Wetzlar. Advantages of that phase were the status as a civil servant with its remuneration and vacation; the exposure to a wide range of legal institutions for short periods in different areas of law; and the chance to undertake periods in other cities. The more ambitious would spend one period abroad. In the blur of daily practice, an insight into the common law might be deepened, and a knowledge of English be honed in the legal context. To a foreign lawyer, the phase seemed a misuse of precious time. Being about 26 years of age, the imminent lawyer was bouncing with energy to be involved actively in a profession, a business, and maybe a family. Instead, he or she was engaged in a short march through various oases of law, in which he or she had no prospect of lingering. The final hurdle was the Second State Examination. By now the law student orientated to international law should have established a strong academic foundation in Germany.

III. Foreign Study 1. Master’s Programme At this point those with an international focus would peel off from their contemporaries who were content to settle for a life safely within the German legal system. They would undertake foreign law studies. Usually for a Master’s degree in law from the USA (or perhaps England). German Universities did not then offer an LL.M. degree, as the State Examinations played the role of a post-graduate degree. Similarly in the USA, where the J.D. is a post-graduate degree, few American students obtained an LL.M. (except in tax). Current foreign students in the USA may have a vastly different experience from those of the 1980’s. The decline of America’s comparative economic power and geopolitical prestige, the nativism of the Trump Administration, and the prevailing Covid crisis, have each intervened. In the 1980’s, the USA was a magnet. Its Constitution was respected, with its complex system of a division of powers, and guaranteed individual rights. The systemic racism of segregation had been largely eradicated (or so it seemed). It was the Leader of the Free World, prosperous, and an exciting society as well. The leading Universities included those on the East Coast, such as Harvard (with a focus on producing practising lawyers), Yale (with a focus on producing academic lawyers), and NYU (New York University) and Columbia in the middle of New York City. Georgetown University in Washington DC stood in the heart of the federal gov-

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ernment. Students drawn to the discipline of Law & Economics would leave for the University of Chicago. Students attracted by California could aim for the University of California at Berkeley or the private Stanford Law School in Northern California, or the University of California Los Angeles (UCLA) in Southern California. Japan was then the leading economic power on the West Coast, with Korea a very distant second, and The People’s Republic of China barely visible. The prestige of a LL.M. degree lay largely in the mere fact of acceptance at a good University. The various University Law Schools tended to run LL.M. programmes for a small number of foreign students (apart from Harvard, which ran a programme for about 120 students). The programme might be viewed as part of the outreach of the University. In that era, American lawyers had an unshakeable confidence in the primacy of the common law system. Foreign students could enrol in a few of a wide variety of courses to improve their insight into the nature and operation of law. For those students interested in finance, corporations, and capital markets, much could be learnt about the capitalist system. For most foreign students English was not a first language. So the workload tended to be less than that for American students in the J.D. programme. An extra hour in an exam could be granted for foreigners. The hour was appreciated by the small number of students from China. Often older men who had survived the Cultural Revolution, they had limited knowledge of English. 2. Bar Review Course and Bar Exams Those interested in a deepened knowledge of American law would apply for admission as an American lawyer. Generally, admission is handled by the various States. The State of New York and the State of California each permitted a foreigner to attempt the admission examination. Each had a requirement of a multi-day examination in general principles of law. A candidate in New York prepared to answer a question in each of about 30 topics, across two days. One in California prepared to answer a question in each of 13 topics, across three days. Another requirement was a separate two-hour multi-choice examination in ethics. This examination reflected a lesson of the Watergate scandal, that a precise set of ethical obligations buttressed the system of Justice. Most candidates prepared with a Bar Review course. This was a commercial cramming service across two months. It provided lectures on the substantive law, lectures on techniques for passing exams, and a few lectures on how to stay mentally fit during the process.

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Pass or not pass, the German candidate would have acquired an excellent overview of the American legal system, and a deep insight into the important parts of American law. As well, he or she would have experienced a Bar Exam. This Exam is a rite of passage for the American lawyer. 3. Employment Some would work as an intern for an American law firm. A number of larger law firms saw merit in interns from important countries. They aimed to build a network of alumni for future referrals of work. A number chose to stay on in America. Perhaps for professional reasons. Often for romantic ones. Some would merge into the mainstream of American law. Others would focus on a practice connected with Germany. Their competition included a number of bi-lingual American lawyers. Some were the offspring of refugees from the German-speaking world of the 1930’s. They had their own individualistic connections with Germany.

IV. Geopolitical Changes In the 1980’s, West Germany was in a strong economic position, wealth was wellspread, society had calmed down from the 1960’s and 1970’s, external relations were peaceful, and the political system was stable. However, History was not standing still. It was about to undergo a jolt forward. 1. Unification of West Germany and East Germany The opening of the Berlin Wall in 1989 foreshadowed the evaporation of East Germany. A brief attempt at an economic union with West Germany occurred. When East Germany adopted the Deutschmark as its currency, its control over its economy began to crumble. Quickly, East Germany staggered, and collapsed into West Germany. The two formally combined at midnight on 2 October 1990, with the official celebration of music and fireworks outside the Reichstag. This was a joyous time, albeit tinged with some apprehension within and outside of Germany. Despite the immensity of the Unification, the citizenry of West Germany was not invited to validate it by way of a referendum or otherwise. The inevitability of Unification was acknowledged as mandated by the Grundgesetz. Even before the formal Unification, West German officials and business people were exploring the landscape of East Germany to assess government projects (such as the upgrading of rail tracks, and the installation of a new phone network), and to calculate private advantage. Lawyers were not far behind in this exploration. 479

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As the German-speaking Prague lawyer Dr Franz Kafka so aptly depicts in The Trial, lawyers are epiphytic upon Judges. Absent Judges, the need for lawyers is much reduced. So, a judiciary had to be established in the eastern areas. The experience of judicial office in the First Workers and Peasants State on German Soil did not endow all East German Judges with the moral or intellectual qualities to hold office in a democracy based on the rule of law. Likely, many veterans of the socialist legal system declined to apply. Some who did were accepted. Numerous Judges from the western part of Germany accepted appointment to posts in the eastern part of Germany. The engagement of so many Judges at the same time created a cohort which has affected the demography of the German judiciary. The role of notaries merits comment. It includes responsibility for land transactions. East Germany had little commercial activity that required a notary. In a socialist economy, land was not to be bought and sold between private parties. Notarial positions had a low prestige in the East German profession. They were left predominantly to women jurists, even on a part-time basis. After Unification, the notaries of Bavaria – where a notary may not also practise as a lawyer – took a strong interest in the new Federal States in eastern Germany. The Bavarians worked deftly with their notarial colleagues there to implement the notary sole system. The reversal of decades of Communism involved the privatisation of government property in eastern Germany. This was a huge task, for which a separate institution, the Treuhandanstalt, was established. Steadily, land was transferred to private ownership, and could be sold onward. Notarial services boomed. Women notaries enjoyed the substantial fees, which are calculated with reference to the sale price. The arrangement for Unification included a provision that allowed an East German lawyer to be automatically admitted as a lawyer in the united Germany. Various East German officials bustled forward for admission as lawyers before 3 October 1990, to benefit from the provision. Such newly-minted lawyers had little understanding of West German law, particularly in the area of commercial law. Some had had the advantage of business links with the Slavic and other nations to the east. They turned out to be unable to bring significant foreign business to a German law firm, as such business links quickly withered. Their involvement was short-lived. 2. Collapse of the European Communist Régimes Starting in 1989, the Communist realm centred on Moscow started to crumble on a latitude from Berlin to Vladivostok. The Soviet Union itself had been seen as a permanent geopolitical block, but shattered into more than a dozen separate nations. In the interests of developing the east economically, assisting to establish democracy, and

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ensuring stability in the region, the German Government and German business became active in the eastern area. Some German lawyers saw opportunities further east, where English would develop as a common language. German lawyers with experience in American financial law were particularly well-equipped to provide the best services to clients adjusting to a free market. Still, the eastern nations prior to Communism had been in the Civil Code tradition, and preferred to follow German law. They were not inclined to adopt a common law system. Indeed, the common law has not thrived outside of the former lands of the British Empire (including the USA, extending to the western States which it had detached from Mexico). The Soviet Union was a particular case. No living memory survived of a capitalist Civil Code tradition. Even the words of commerce had slipped from the Russian vocabulary. Such words, and the inherent concepts, had to be retrieved. They were found in the great novels of the 19th century, which dealt with the entire upper-class society, including its Tsarist legal system. Likely an accurate vocabulary existed for debt. As described in The Cherry Orchard, by Anton Chekhov, the economic structure of the Tsarist era included the slide of real estate owned by languid, insolvent aristocrats into the hands of the boisterous merchant class. 3. Deepening of the European Union In 1992 the European Union took a major step in deepening the integration of the economy across the Union. This step included the mutual recognition of professional qualifications across the Member States. A prime target for Union-wide integration was the legal profession. The English law firms were growing in size by mergers and by internal hiring. The liberalisation in financial services in the City of London (the Big Bang) energised the large City law firms. The integration of professions promoted the opportunity for English law firms to expand into mainland Europe.

V. Challenge and Response in the German Profession 1. The Arrival of the Anglo-Americans International legal practice prior to the 1980’s was associated with the pioneering activity of Coudert Brothers, which had linked France and the USA. Then Baker & McKenzie, out of Chicago, developed and implemented a coherent strategy to form a world-wide network of offices that connected the major jurisdictions. Starting in the 1970’s, law firms in United States had begun to expand in size. Originally, law firms in the major cities such as New York and Los Angeles simply added 481

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more lawyers in the city office. Then the process moved to establishing other offices within the State, and then later in another State. A process started of merging major firms in different cities. Eventually nationwide firms with numerous lawyers became established, with offices in various States. In a prosperous economy, law became a business, and large law firms became a very profitable business. In the 1980’s, expansionist American and English law firms developed an interest in Europe. Brussels was an early focus, in the optimistic expectation that it would provide the type of regulatory or lobbying legal work available in Washington DC. The interest in Germany followed. Frankfurt was a first aim for many foreign law firms. Going back to the 13th century, it has been a “Free City” without a noble class and with a bustling merchant class. Being geographically central in the German-speaking world, and accessible by the Main River, it established a continuous tradition of trade Fairs. Even Shakespeare knew of the links between Venice and “Frankfort” – Shylock had bought a ring there: Merchant of Venice [Act 3, Scene 1]. The arrival of merchants with different currencies lead to a local business in foreign exhange, then banking, and then onto the panoply of securites (in bonds and shares). Frankfurt was the seat of the Bundesbank, and the large German banks. For commercial law, it seemed the best choice. With the global dominance of the English language, some foreign lawyers overlooked the benefits of bi-lingualism. One foreign law firm flew across two monoglot partners to meet a financial institution, to promote the firm’s skills. The meeting was arranged by a lawyer in the firm’s local office, who spoke German. While no doubt the Frankfurt bankers were fluent in English, the meeting was run solely in German, and ended sooner than expected. The experience exemplified the old adage, that in Germany you can buy in English, but should expect to sell in German. Berlin gained favour as a location for foreign law firms, when the federal Government resolved to move to the new capital, and Bonn began to empty out of Ministries. The arrival of so many lawyers, as well as other adventurers, meant that office accommodation was tight. Initially some firms operated out of hotel rooms. Over a period foreign law firms recognised the geographical diversity of the German economy. Profitable and interesting work was to be found at Hamburg in the Hanseatic area on the Baltic Coast, in Düsseldorf and Cologne on the Rhine River, and in Stuttgart in the southwest and Munich in the south-east. In Germany, the American firms and the English firms came into competition with each other. The environment had already put them into competition with German law firms.

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2. The Response of the German Profession By the 1990’s the leaders of the German legal profession sought to reshape the structure of the legal profession. Basically, all lawyers in a firm were then expected to work daily under the same roof. Mergers of law firms across different cities were not permitted. Further, within a law firm some lawyers were admitted only before the trial court, while others were admitted only before the appeal court. The thinking behind the court rule was that a fresh lawyer with a new perspective could better conduct the appeal. This structure suited a placid era, where power was decentralised in the constitutional system of Germany. The structure hampered the capacity of the German legal profession to assert competitiveness in the upper reaches of international legal work e.g. cross-border merger and acquisition transactions. The structure of the legal profession was twice considered by the courts. In each case, the Bundesgerichtshof upheld the restrictions as proper for a learned profession. On appeal, the Bundesverfassungsgericht disallowed the restrictions, as violating the constitutional rights of lawyers recognised in the Grundgesetz. German law firms moved with haste to expand, to merge, and to hire more lawyers. Still, the German legal profession maintained two characteristics which assisted it in competition. The first was the role of notaries. Important transactions, such as a land sale, still required formalisation by a notary. A notary acts alone, even if a member of a law firm. The appointment process took time, and posts were limited. The notarial part of the legal profession remained in the hands of the German legal profession. The second was the role of in-house counsel. Some corporations allowed their inhouse counsel to maintain a private practice. As a result, such German lawyers could provide a benefit that went beyond legal expertise. The client has access to the counsel’s wisdom derived from the daily experience of operating within a large corporation, and the knowledge of the industry. 3. Arrival Strategy Various entry strategies were open to American firms. – One was to establish a small American office in a German city, and develop links with German law firms and/or potential clients. The underlying expectation looked to be two-fold. The first was that American law work could be attracted, and referred back to the head office. The second was that American clients could be guided through the German legal system. – A second was to establish a small American office in a German city, and then engage one or more young German lawyers with American qualifications. Predict483

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ably, German law firms would then regard that firm as a competitor, and thus no cooperation would be forthcoming. – A third (used with some success by the English firm Dentons) was to form a linkage of independent law firms throughout Europe. So a foreign firm would have access to the clients and expertise of a firm in each of the nations in the linkage, such as Germany. – As confidence grew, some mergers occurred between a substantial American law firm, and a substantial German law firm. A transnational firm was created, which could operate in as many nations as the firm had offices. Of course, attention had to be paid to any potential conflicts in the ethical obligations of American lawyers and German lawyers respectively. For example, the propriety of practising in a multi-profession partnership. Such as the lawyer/accountant/tax adviser partnership that exists in Germany, which would be deeply suspect in the American ethos. – A variant strategy was for the American law firm to establish a major office in a German city, and then engage individual German lawyers to build up a standalone German law practice. Germans lawyers were enticed away from existing firms. The success of any such arrangement varied. The collapse of the international accounting firm Arthur Andersen in 2002 was a lesson in how a connection with an international brand could become an albatross around the neck. English law firms followed a similar pattern. At the time they had the slight advantage that their lawyers who were European Union citizens had a right to enter and work in Germany. American citizens had the extra step of obtaining a visa, which was generally only a formality. 4. Lawyer Discipline Up to 1990, the principal American law firms in Germany were individuals, or small partnerships, in the former American Zone of Occupation. Some focused on soldiers, as counsel in courts-martial and other military matters. Others had some small practice among Americans living in Germany, often with a military connection. The arrival of foreign lawyers prompted the German courts to consider supervision. Resistance arose: one long-established American counsel in courts-martial boldly asserted an immunity, in reliance on the NATO treaties. Still, in Frankfurt am Main, the Amtsgericht – the lower trial court – created the status of Rechtskundiger. A foreign lawyer could thereby acquire permission to practise in the law of the home nation, and be theoretically subject to discipline by the German court. It was a formality: an application was filed, proof of foreign admission was tendered, a fee was paid, and a certificate was issued.

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VI. Effect of the Arrival of the Anglo-Americans The Civil Code system and the common law system are similar, but in some respects quite different. Just as cricket and baseball are very similar. Both games involve two teams competing with a stick and a ball, and aiming to achieve scores by running between two points. But in practice, they are very different. German commercial law reflects methodical German preparation. It is anchored in the Bürgerliches Gesetzbuch, with its neutral principles. Enacted with effect from 1 January 1900, this Civil Code was the culmination of a process of committee deliberations and legislative reviews that commenced in 1873. Its taxonomy of principles does not require much judicial exegesis. Despite the 120 years of intermittent upheaval in Central Europe, the structure and much of the content remains unchanged. The common law reflects the Anglo-Saxon veneration for past practice, over abstract thought. As Shakespeare wrote in As You Like It [Act 2 Scene 7], the jurist is concerned with wise saws and modern instances. – The common law of England consists of wise saws (i.e. principles), going back to the limit of legal memory. That memory starts from 1189 AD: Attorney-General v Colchester Corporation [1952] 2 All ER 297, 299. It embodies across 832 years the experience of jurists among people, property, and power. Judicial principles can be eroded over the years, to match societal changes. – Where statutes exist the common law provides interpretation, and furnishes rules that apply where statutes are silent. Apart from Louisiana, all the American States apply a common law which traces back to English common law. They all have their own court systems, each of which accumulates judicial decisions – i.e. Shakespeare’s modern instances. The overlapping of the two systems has likely affected daily practice. One impact of the American and English law firms has been increasing the complexity of legal drafting. German contracts were traditionally short, as the Civil Code covered all foreseeable eventualities. Lawyers in the common law tradition are conscious that an eventuality may not have been considered in a statute or a judicial decision. So in effect they create their own Civil Code in an agreement, to cover eventualities which may occur. Another impact is in dispute resolution. – American clients may wish to avoid the German judicial system. It operates on an inquisitorial basis. Absent are two pillars of the common law. One is the exhaustive pre-trial disclosure of documents. The other is the counsel’s cross-examination at trial of witnesses. Jurists still cite to the praise from Prof. John Wigmore over a century ago, that cross-examination is “the greatest legal engine ever invented for the discovery of truth”. – Equally, German clients may be reluctant to entrust a dispute to a court in America. Otherwise than in Germany, the Judges are not selected for their intellectual 485

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acuity at Law School. They may even have been elected by the citizenry with its local concerns. Jury trials in civil litigation are standard. Especially outside the major cities such as New York and Los Angeles, the collective life experience which jurors bring to a decision will have been formed in their own locality. Arbitration is an obvious technique that lies outside the court systems. As arbitration is confidential, the number being conducted in Germany can only be guessed. Presumably international commercial arbitration has increased as a method of resolving disputes.

VII. Conclusion The generation in which Prof. Reuter was educated, and has practised law with distinction, has enjoyed rich opportunities and experiences in international law. They were barely predictable at the start of the 1980’s. Of Prof. Reuter himself, it may be said, as Homer said of Ulysses [Odyssey, Book 1, line 3]: pokk|m d\ mhr|pym Łdem stea kai‘ mom Çcmy: He has seen the cities of many men, and knows their minds.

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§ 613a Absatz 4 BGB – Kündigungsschutz wegen des Betriebsübergangs, der Umgang mit einer unbekannten Vorschrift Klaus van den Woldenberg

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Anwendung von § 613a Absatz 4 BGB und damit verbundene Grundbotschaft III. Kein vollständiges Kündigungsverbot IV. Kündigung wegen des Betriebsübergangs 1. Abgrenzungskriterien und unzulässige Kündigungsgründe beim Betriebsübergang 2. Umgehung des relativen Kündigungsverbotes

3. Folgen des eigenständigen Kündigungsverbotes 4. Zulässige Kündigungsgründe im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang a) Stilllegungsabsicht und späterer Betriebsübergang b) Kündigung des Veräußerers auf Basis eines Sanierungskonzeptes des Erwerbers V. Fazit und Schlussfolgerungen

I. Einleitung Auch vornehmlich gesellschafts- und vertragsrechtlich beratenden Juristen (personenbezogene Sammelbegriffe sind hier und nachfolgend m/w/d gemeint), die ansonsten wenig Kontakt zum Arbeitsrecht haben, ist aus ihrer Praxis die Vorschrift des § 613a BGB zu den Rechten und Pflichten bei einem Betriebsübergang regelmäßig bekannt. Diese Norm ist bei Transaktionen einschlägig, bei denen der Inhaber eines Betriebes oder Betriebsteils – nachstehend nicht differenzierend einheitlich als Betriebsübergang benannt – von einem Rechtsträger auf einen anderen wechselt. Sie soll als Arbeitnehmerschutzvorschrift bewirken, dass das jeweilige Arbeitsverhältnis den Wechsel des Betriebsinhabers überdauert. Die Regelung wurde – nachdem die Rechtsprechung1 zuvor den gesetzlichen Übergang von Arbeitsverhältnissen noch negiert hatte – im Zuge der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 19722 in das BGB eingefügt und anschließend mehrfach, u.a. im Rahmen der Umsetzung der EG-BetriebsübergangsRL 77/187 vom 14.2.1977,3 bis zur heutigen Fassung erweitert. In der Gesetzesbegründung von 19714 wurden drei 1 2 3 4

BAG v. 18.2.1960 – 5 AZR 472/57, NJW 1960, 1490. Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 1 m.w.H. Willemsen in Henssler/Willemsen/Kalb, 8. Aufl. 2018, § 613a BGB Rz. 1 m.w.H. Müller-Glöge in MünchKomm. BGB, 8. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 6 f. zu BT-Drs. 6/1786, 59.

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Ziele benannt, und zwar der Schutz der bestehenden Arbeitsverhältnisse, die Gewährleistung der Kontinuität des amtierenden Betriebsrates sowie die Ausgestaltung der Haftung des bisherigen und des künftigen Arbeitgebers. Dabei bildet die vorliegend betrachtete Vorschrift des § 613a Absatz 4 BGB, die erst durch das arbeitsrechtliche EG-AnpassungsG vom 13.8.19805 mit dem dort bestimmten Kündigungsverbot eingefügt wurde, lediglich eine Absicherung des Grundsatzes, dass das Arbeitsverhältnis unter im Wesentlichen unveränderten Bedingungen im Rahmen eines gesetzlichen Wechsels des Arbeitgebers fortgeführt wird. Der Gesetzeswortlaut des § 613a BGB stellt nur das Fundament für die Rechtswirkungen bei einem Betriebsübergang dar, der durch eine beispiellose Anzahl höchstrichterlicher Urteile auf nationaler sowie europäischer Ebene weiter ausgestaltet wurde und daher im Rahmen der Rechtsberatung ganz vertiefte Kenntnis dieser Entwicklung erfordert. Dabei erscheint § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB, wonach „die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Arbeitnehmers durch den bisherigen Arbeitgeber oder durch den neuen Inhaber wegen des Übergangs eines Betriebes oder Betriebsteils unwirksam ist“, der am wenigsten durchdrungene und bei Betrachtung der aktuellen Rechtsprechung der am wenigsten behandelte Teil. Dies ist umso erstaunlicher, weil der Kündigungsschutz jedenfalls für die beteiligten Beschäftigten regelmäßig den elementarsten Aspekt in diesem Kontext betrifft. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass trotz der – etwa bei Umstrukturierungen in Konzernen und Veräußerungen von betrieblichen Einheiten an Wettbewerber – relativ häufig stattfindenden Übergänge und damit einer hohen Betroffenheit und Aktualität von § 613a BGB in der Praxis, fortwährend relativ weitreichende Fehlvorstellungen zum Kündigungsschutz im Rahmen solcher Veränderungen vorherrschen. Zu den am weitesten verbreiteten Falschinformationen im Arbeitsrecht gehört konkret die Behauptung, dass Kündigungen durch den Erwerber eines Betriebes innerhalb eines Jahres nach dem Betriebsübergang gesetzlich untersagt seien. Dabei wird nicht realisiert, dass ein Blick in die Vorschrift bereits verdeutlicht, dass lediglich unter den dort näher beschriebenen Umständen gesicherte Rechte aus einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung innerhalb eines Jahres nach dem Betriebsübergang nicht zum Nachteil der übergehenden Arbeitnehmer geändert werden dürfen. Zum Bestandsschutz der Arbeitsverhältnisse ist an dieser Stelle und im Zusammenhang mit der Jahresfrist schlicht gar nichts geregelt. Dieser Umstand rechtfertigt eine vertiefte Betrachtung des hineininterpretierten und des tatsächlichen Inhaltes der genannten – tatsächlich wohl unbekannten – Vorschrift.

5 Willemsen in Henssler/Willemsen/Kalb, 8. Aufl. 2018, § 613a BGB Rz. 1.

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§ 613a Absatz 4 BGB – Kündigungsschutz wegen des Betriebsübergangs

II. Anwendung von § 613a Absatz 4 BGB und damit verbundene Grundbotschaft Ein Betriebsübergang und damit eine Anwendung von § 613a BGB ist gegeben, wenn – gemäß Wortlaut des § 613a Absatz 1 Satz 1 BGB „durch Rechtsgeschäft“ – im Wege der Einzelrechtsnachfolge („Asset-Deal“) oder alternativ durch (partielle) Gesamtrechtsnachfolge die Übertragung eines Betriebes oder Betriebsteils als wirtschaftliche Einheit auf einen anderen Rechtsträger vollzogen wird. Für Maßnahmen der Gesamtrechtsnachfolge nach dem Umwandlungsgesetz wird dies unter Hinweis auf Verschmelzung, Spaltung und Vermögensteilung durch § 324 UmwG klargestellt. Die Übertragung von Gesellschaftsanteilen oder der vollständige Wechsel des Gesellschafters bewirken keinen Betriebsübergang. Die konkreten Anwendungsfälle des § 613a BGB mit der Maßgabe des Bestehens und der identitätswahrenden Fortführung einer übergangsfähigen wirtschaftlichen Organisationseinheit in Abgrenzung zur bloßen Funktionsnachfolge sind dabei in gleicher Weise steter Gegenstand gerichtlicher Überprüfung, wie dies für die Bewertung des zugrundeliegenden Rechtsgeschäftes im weitesten Sinne bis hin zur faktischen Fortführung gilt. Bei sämtlichen Fallgestaltungen besteht gemäß § 613a Absatz 5 BGB die Verpflichtung, dass der bisherige und/oder der neue Arbeitgeber die betroffenen Arbeitnehmer zuvor zumindest in Textform über den geplanten Zeitpunkt, den Grund einschließlich der rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Übergangs sowie etwaige geplante personelle Maßnahmen unterrichtet. Erst mit der ordnungsgemäßen Mitteilung wird das Widerspruchsrecht nach § 613a Absatz 6 BGB ausgelöst, mit dem innerhalb eines Monates der Verbleib beim bisherigen Arbeitgeber geltend gemacht werden kann. Für den unternehmensintern oder als Anwalt die Arbeitgeberseite beratenden Arbeitsrechtler stellt sich hier eine besondere rechtliche Herausforderung, da das BAG außerordentlich hohe Anforderungen an den notwendigen Inhalt des Unterrichtungsschreibens unter Beachtung der Vorgaben des § 613a Absatz 5 BGB stellt, die zutreffend, vollständig und präzise gestaltet sein müssen.6 Als Folge einer fehlerhaften oder unvollständigen Unterrichtung wird der Beginn der Widerrufsfrist zum Übergang des Arbeitsverhältnisses hinausgeschoben, so dass dieses Recht – aus welchen späteren Motiven auch immer – selbst nach Jahren bis zur Grenze der Verwirkung noch geltend gemacht werden kann und die Rückkehr einzelner Arbeitnehmer oder ganzer Belegschaften zum Veräußerer als dem ursprünglichen Arbeitgeber bewirkt; zusätzlich kommen bei der Verletzung der Unterrichtungspflicht Schadensersatzansprüche gegen Veräußerer und Erwerber in Betracht.7 Da ein unangreifbares Mitteilungsschreiben auch unter Beachtung immer neuer Rechtsprechungsentwicklungen zu Teilaspekten des Betriebsübergangs kaum gestal6 Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 85 m.w.H. 7 Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 93 u. 94 m.w.H.

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tet werden kann, wird die Erstellung entsprechender Textvorschläge bei Anwälten als ganz erhebliche „Haftungsfalle“ im Rahmen ihrer Beratungstätigkeit wahrgenommen, wozu der Teilaspekt einer korrekten Beschreibung des Kündigungsschutzes dann fraglos auch zählt. Auf der anderen Seite stellt sich spätestens im Zusammenhang mit der erfolgten Mitteilung und dem Widerspruchsrecht, aber auch bezogen auf die personellen Planungen des potenziellen neuen Arbeitgebers, für die Arbeitnehmer die konkrete Frage, ob sie nur nach den allgemeinen Kriterien ohnehin bestehender Gesetze (Kündigungsschutzgesetz, Mutterschutzgesetz etc.) oder in besonderer Weise zusätzlich durch § 613a BGB vor Kündigung geschützt sind. Da das bei einer bloßen Gesetzesbetrachtung mit der Regelung des § 613a Absatz 4 BGB der Fall zu sein scheint, stellt sich die maßgebliche Frage, wie weit dieser besondere Kündigungsschutz „wegen des Übergangs“ letztlich überhaupt reicht.

III. Kein vollständiges Kündigungsverbot Eine laienhafte Bewertung des Wortlautes von § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB ergibt bei betroffenen Beschäftigten, aber auch bei betrieblichen und/oder gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretern nicht selten die Position, dass im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang ein (absoluter) Ausschluss der arbeitgeberseitigen Kündigungsmöglichkeit gegeben sei. Dies liegt nicht nur daran, dass § 613a Absatz 4 Satz 2 BGB, wonach das Recht zur Kündigung aus anderen Gründen unberührt bleibt, entweder erst gar nicht zur Kenntnis genommen oder schlicht nicht verstanden wird. Vielmehr ist die Tragweite des im vorangegangenen Satz deutlich geregelten Kündigungsausschlusses „wegen des Übergangs eines Betriebes oder Betriebsteils“ für den nicht vertieft mit dem Arbeitsrecht vertrauten Betrachter nicht greifbar, auch wenn das Gesetz an dieser Stelle – anders als etwa in den Absätzen 1 und 2 des § 613a BGB zu den Grundsätzen und dem Haftungsregime bei einem Betriebsübergang – weder kompliziert noch überbordend umfänglich formuliert ist. Die Vermischung von objektiven (Vorliegen eines Betriebsübergangs) und subjektiven (Betriebsübergang als wesentliches Kündigungsmotiv) Elementen erschwert die Bestimmung, ob eine Kündigung „wegen“ des Betriebsübergangs tatsächlich vorliegt.8 Dem Wortlaut von § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB sind keine konkreten Kriterien zu entnehmen, aus denen sich die Kausalität zwischen der Übertragung des Betriebes oder Betriebsteils einerseits und den Gründen der Kündigung andererseits entnehmen lässt. Der Zweck der Vorschrift soll die Kontinuität der in der übertragenen Einheit bestehenden Arbeitsverhältnisse unabhängig vom Wechsel des Inhabers und damit des Arbeitgebers sichern.9 Dies aber mit der erkennbaren Einschränkung, dass eine sonstige Kündigung aus dringenden betrieblichen Gründen und ohnehin aus personen- oder verhaltensbedingten Gründen weiterhin nach § 613a Absatz 4 Satz 2 8 Willemsen/Müller-Bonani in Henssler/Willemsen/Kalb, 8. Aufl. 2018, § 613a BGB Rz. 307. 9 EuGH v. 19.9.1995 – C-48/94, NZA 1995, 1031.

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BGB möglich ist.10 Entscheidend ist also die Abgrenzung, wann die gesetzlich untersagte Kausalität bezogen auf den Betriebsübergang bei einer Kündigung im Einzelfall gegeben und das insofern nur relative Kündigungsverbot einschlägig ist.

IV. Kündigung wegen des Betriebsübergangs Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses bedarf gemäß § 623 BGB der Schriftform des § 126 BGB, ohne dass – soweit nicht ausnahmsweise anders vereinbart oder geregelt (gesetzlich etwa in § 22 Absatz 3 BBiG für Berufsausbildungsverhältnisse) – ein umfassender Begründungszwang im Rahmen der Kündigungserklärung besteht. Demzufolge wird der Gekündigte regelmäßig dem maßgeblichen Schreiben nicht entnehmen können, ob ihm gesetzeswidrig wegen des Betriebsübergangs gekündigt wurde. Stattdessen werden erst eigene Handlungsschritte nach der arbeitgeberseitigen Beendigungserklärung erste Informationen darüber geben, welche innere Rechtfertigung hinter dieser Maßnahme stehen. Hierzu gehört bei einer außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist das Recht gemäß § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB, auf eigenes Verlangen den Kündigungsgrund des Arbeitgebers unverzüglich schriftlich erläutert zu erhalten. Bei einem Unternehmen mit Betriebsrat oder – bei leitenden Angestellten – einem Sprecherausschuss kann eine Rückfrage bei dem zuständigen Mitbestimmungsgremium ergeben, welche tragenden Gründe im Rahmen der gesetzlich vor Kündigungsausspruch zwingend gebotenen Anhörung gemäß § 102 Absatz 1, § 31 Absatz 2 SprAuG durch den Arbeitgeber mitgeteilt wurden. Der häufigste Weg zur Ermittlung und rechtlichen Überprüfung der Kündigungsgründe ist aber die Klage über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses vor dem zuständigen Arbeitsgericht nach § 2 Absatz 1 Ziffer 3. b) ArbGG. 1. Abgrenzungskriterien und unzulässige Kündigungsgründe beim Betriebsübergang Der gesetzliche Zusatz des unberührt bleibenden Rechtes „zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus anderen Gründen“ erfordert eine genaue Bewertung der Grenzen des uneindeutig formulierten Kündigungsausschlusses. Das BAG11 in ständiger Rechtsprechung ebenso wie der EuGH12 fordern, dass der Betriebsübergang der tragende Grund für die Beendigung sein muss, um dem Kündigungsverbot zu unterfallen. Im Umkehrschluss genügt es gerade nicht, dass der Betriebsübergang nur äußerer Anlass des arbeitgeberseitigen Vorgehens war. Das BAG fordert, dass die Verhinderung des Übergangs des betroffenen Arbeitsverhältnisses wesentliche Zielsetzung der arbeitgeberseitigen Willensbildung sein muss.13 Der gegebene Schutz bezieht sich 10 11 12 13

Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 156. BAG v. 13.11.1997 – 8 AZR 295/95, DB 1998, 316. EuGH v. 14.4.1994 – C-392/92, NZA 1994, 545. BAG v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, NZA 1989, 461, 463.

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dann auf sämtliche Arbeitsverhältnisse der betrieblichen Einheit, und zwar unabhängig vom jeweiligen Status (Arbeiter, (leitender) Angestellter, Auszubildender etc.) und der konkret gegebenen Ausgestaltung der Beschäftigung (z.B. ruhendes Arbeitsverhältnis, Auslandsentsendung) zum Übergangszeitpunkt. An dieser seit Jahrzehnten bestehenden Rechtsprechung zum relativen Kündigungsausschluss hat sich trotz vielfältiger sonstiger Urteile zu § 613a BGB nichts mehr geändert.14 Dieser Umstand liegt aber nicht darin begründet, dass die Ermittlung der Motivation des Arbeitgebers zur Kündigung tatsächlich so einfach und jeweils eindeutig möglich ist; genau das Gegenteil ist bei der hier maßgeblichen Willensbildung des Kündigenden als subjektivem Tatbestandsmerkmal leicht verständlich der Fall. Konkret gesprochen haben die Arbeitgeber stattdessen bei der Gestaltung solcher Übergänge, ob im Wege der Einzel- oder der Gesamtrechtsnachfolge, aus der Gesetzeslage zum Thema Kündigung und ihrer gerichtlichen Interpretation gelernt. Kein rechtlich angemessen beratenes Unternehmen wird offenbaren, dass ein Arbeitsverhältnis maßgeblich deshalb gekündigt worden sei, weil beispielhaft die bestehende und nach § 613a Absatz 1 BGB fortzuführende Vergütung eines einzelnen Arbeitnehmers oder einer Gruppe davon zu kostspielig für den Erwerber sei und nur deshalb entsprechende Konsequenzen erfordert habe. Vielmehr ist es aus Sicht der beteiligten bisherigen und/oder künftigen Arbeitgeber geboten, insbesondere betriebsbedingte Kündigungsgründe als allein maßgeblich vorzubringen. Hierzu zählt sogar der Sanierungsplan des Erwerbers auf Basis eines explizit erstellten Konzeptes wegen notwendiger Rationalisierungen,15 um dann doch im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang zuvor oder danach rechtswirksam kündigen zu können. Offensichtlich dem Verbot des § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB unterfallen aber Sachverhalte, bei denen ohne sonstige Rechtfertigung eine Entlassung erfolgt, weil beispielsweise der Erwerber den Übergang des Arbeitsverhältnisses bestimmter Arbeitnehmer ultimativ als Bestandteil der Vereinbarung mit dem Veräußerer ablehnt. In gleicher Weise ist es nicht zulässig, wenn der Veräußerer Bedenken von Beschäftigten bezüglich der Seriosität des Erwerbers als künftigem Arbeitgeber, Einwände gegen die Zuordnung zum betroffenen Betrieb bzw. Betriebsteil oder zu den rechtlichen/tatsächlichen Voraussetzungen und Folgen des Übergangs zum Anlass nehmen würde, das Arbeitsverhältnis des/der Betreffenden einseitig zu beenden. In sämtlichen Fällen würde ohne sonstige betriebs-, personen- oder verhaltensbedingte Gründe gerade „wegen des Übergangs“ als tragender Grundlage gekündigt.16 Das ist gesetzlich eindeutig untersagt.

14 BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, NJW 1984, 627. 15 BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, AP Nr. 147 § 613a BGB. 16 Willemsen/Müller-Bonani in Henssler/Willemsen/Kalb, 8. Aufl. 2018, § 613a BGB Rz. 305.

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2. Umgehung des relativen Kündigungsverbotes Der mit § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB eingeschränkte Handlungsspielraum des aktuellen Arbeitgebers vor Übergang sowie anschließend des neuen Arbeitgebers bezieht sich nicht nur auf ordentliche oder außerordentliche Beendigungskündigungen, sondern auch auf Änderungskündigungen nach § 2 KSchG, bei denen das Arbeitsverhältnis mit der Maßgabe gekündigt wird, es mit dem Angebot einer Fortsetzung unter geänderten Arbeitsbedingungen – etwa einer geringeren Bezahlung – zu beenden.17 Darüber hinaus bezieht sich das Kündigungsverbot auf Fallgestaltungen, bei denen der Schutz der Vorschrift umgangen werden soll. Das gilt für Befristungen und auflösende Bedingungen von Arbeitsverhältnissen, die darauf gerichtet sind, den durch § 613a BGB gewährten Schutz der Kontinuität der Vertragsbeziehung unter Austausch des Arbeitgebers zu umgehen;18 der bevorstehende Betriebsübergang ist dabei kein anerkannter Sachgrund im Sinne von § 14 Absatz 1 TzBfG, der die Beendigung des befristeten Arbeitsverhältnisses zum Übergangsstichtag rechtfertigen könnte. Schließlich sind die mit einem Einstellungsversprechen des Erwerbers veranlasste Eigenkündigung gegenüber dem Betriebsveräußerer oder ein darauf fußender Aufhebungsvertrag ebenfalls nach § 134 BGB unzulässig.19 Soweit zwischen den Parteien eines Aufhebungsvertrages feststeht, dass der Arbeitnehmer beim Erwerber weiterbeschäftigt werden soll, sind der Aufhebungsvertrag und der neu vereinbarte Arbeitsvertrag wegen der zwingenden Rechtsfolgen des § 613a BGB nichtig.20 Dies gilt – auch wenn regelmäßig eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen gerade die Motivation des Erwerbers für solche Vorgehensweisen sein wird – selbst für den Fall, dass der neue Arbeitsvertrag mit dem Erwerber den Arbeitnehmer im Vergleich zu den Rechtswirkungen des § 613a BGB insgesamt nicht schlechter stellt.21 3. Folgen des eigenständigen Kündigungsverbotes Während der allgemeine Schutz vor Kündigungen nach den Vorgaben und Grenzen des Kündigungsschutzgesetzes gestaltet ist, beziehen sich sonstige Unwirksamkeitsgründe, für die gemäß § 13 Absatz 3 KSchG die Vorschriften dieses Gesetzes weitgehend keine Anwendung finden, insbesondere auf gesetzliche Verbote im Sinne von § 134 BGB. Hierzu zählt auch die Kündigung wegen des Übergangs nach § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB. Sie beinhaltet also ein eigenständiges Kündigungsverbot mit der Folge, dass einerseits die Wartefrist des § 1 Absatz 1 KSchG, wonach das Arbeitsverhältnis vor Eingreifen des allgemeinen Kündigungsschutzes mindestens 6 Monate bestanden ha17 18 19 20 21

Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 153. BAG v. 2.12.1998 – 7 AZR 579/97, AP Nr. 207 § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag. BAG v. 28.4.1987 – 3 AZR 75/86, NZA 1988, 198. BAG v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367. Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 157.

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ben muss, keine Anwendung findet. Andererseits ist die in § 23 Absatz 1 KSchG normierte Mindestgröße des Betriebes/Unternehmens als Voraussetzung für den allgemeinen Kündigungsschutz auch nicht einschlägig. Im Ergebnis gilt das hier betrachtete Kündigungsverbot demnach für alle Arbeitsverhältnisse ab dem ersten Tag und dabei unabhängig von der Anzahl der sonstigen Beschäftigten auch für kleinste Einheiten. Diesen umfassenden Schutz muss auch der Insolvenzverwalter beachten, der im Insolvenzverfahren nach § 113 InsO ein gesondertes gesetzliches Kündigungsrecht hat; auch er ist trotz seiner ansonsten arbeitsrechtlich privilegierten Stellung nicht berechtigt, wegen des Übergangs von Arbeitsverhältnissen die Kündigung vorzunehmen.22 Die Reichweite des Verbotes ist also im Ergebnis umfassend, sobald der im Prozess bezogen auf den allgemeinen Kündigungsschutz gemäß § 1 Absatz 2 KSchG darlegungs- und beweispflichtige Arbeitgeber nicht untermauern kann, dass die Beendigung auf zulässigen Kündigungsgründen beruht. Gelingt dem Arbeitgeber dieser Nachweis nicht, ist zunächst der Arbeitnehmer gehalten, das Vorliegen eines Betriebsübergangs und den Umstand, dass die Kündigung hierdurch maßgeblich bedingt ist, darzulegen und unter Beweis zu stellen23. Soweit ihm dies im vorgenannten Kontext gelingt, ist die gegen die Kündigung gerichtete Klage letztlich erfolgreich, ohne dass es der gerichtlichen Feststellung bedarf, die Beendigung sei tatsächlich und vornehmlich wegen des Betriebsüberganges erfolgt.24 Eine wesentliche Einschränkung besteht dann aber für den betroffenen Arbeitnehmer im Rahmen der gerichtlichen Geltendmachung dieses Anspruches doch. Mit der Neufassung des § 4 Satz 1 KSchG zum 1.1.2004 muss auch außerhalb des allgemeinen Kündigungsschutzes bei der Berufung auf die Unwirksamkeit der Kündigung „aus anderen Gründen“ beachtet werden, innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Erklärung zu klagen; sofern diese Frist zur Klageerhebung missachtet wird und auch nicht ausnahmsweise Gründe für eine verspätete Klageerhebung gemäß § 5 KSchG gegeben sind, greift die gesetzliche Fiktion der Rechtswirksamkeit der Maßnahme des Arbeitgebers gemäß § 7 KSchG.25 Dies würde dann im gegebenen Fall auch eine wegen des Übergangs erfolgte Kündigung betreffen. 4. Zulässige Kündigungsgründe im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang Das Kündigungsverbot ist nicht einschlägig, wenn es im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang einen sachlichen Grund für die Rechtfertigung einer erfolgten Kündigung gibt, der aus sich heraus die tatsächlich und rechtlich tragende Basis für die Beendigungserklärung ist.26 Durch § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB soll nicht vor Risiken 22 23 24 25 26

BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387. BAG v. 9.2.1994 – 2 AZR 666/93, NZA 1994, 686, 687. BAG v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93. Bader, NZA 2004, 65 mit Verweis auf die Gesetzesbegründung. BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/05, NZA 2007, 387, 389.

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im Rahmen bestehender Arbeitsverhältnisse geschützt werden, die jederzeit losgelöst vom bevorstehenden oder stattgefundenen Betriebsübergang eintreten können.27 Dies sind offensichtlich solche Kündigungen, die aus dem im Verhalten oder in der Person des Gekündigten liegenden Gründen vorgenommen werden, wozu bei der erstgenannten Variante Disziplinarverstöße und der zweitgenannten Fallgestaltung vor allem krankheitsbedingte Gründe zählen; beim Vorliegen des allgemeinen Kündigungsschutzes gemäß § 1 Absatz 2 KSchG nach 6 Monaten Beschäftigung in einem Unternehmen von ausreichender Größe sind die Vorgaben der ständigen Rechtsprechung für das arbeitgeberseitige Handeln im Einzelfall jeweils noch weitreichend genug. Ein in diesem Zusammenhang stattfindender Betriebsübergang stellt jedoch kein zusätzliches Hindernis zur Rechtfertigung der getroffenen Maßnahme dar. Aber auch der dritte gesetzlich vom Grundsatz her anerkannte Grund zur Möglichkeit einer Kündigung, nämlich die betriebsbedingte Beendigung, wird durch den relativen Kündigungsschutz bei einem Betriebsübergang nicht gänzlich ausgeschlossen. Konkret soll verhindert werden, dass bei einer solchen Umstrukturierung von Betrieben und ganzen Unternehmen eine Lähmung im Hinblick auf ansonsten notwendig erachtete unternehmerische Maßnahmen eintritt. Konkret werden weder der bisherige noch der neue Arbeitgeber daran gehindert, auch im Zusammenhang mit einer Veräußerung des Betriebes notwendige Rationalisierungen zur Verbesserung der Performance durchzuführen und zu diesem Zweck betriebsbedingte Kündigungen auszusprechen.28 a) Stilllegungsabsicht und späterer Betriebsübergang Es ist allein auf den Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs abzustellen, wenn die Rechtswirksamkeit der Maßnahme umfassend gerichtlich überprüft wird.29 War der Arbeitgeber etwa bei Ausspruch der Beendigungserklärung auf Grundlage vernünftiger betriebswirtschaftlicher Betrachtungen davon ausgegangen, eine Stilllegung oder Teilstilllegung des Betriebes sei unumgänglich, ist die erfolgte betriebsbedingte Kündigung nicht nach § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB unwirksam, wenn es dann doch noch zu einem Betriebsübergang kommt.30 Der Arbeitgeber muss dabei zum Kündigungszeitpunkt den dokumentierten ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst haben, den Betrieb stillzulegen; zusätzlich muss diese Maßnahme – etwa durch die Kündigung von Pachtverträgen und/oder die Veräußerung einzelner Betriebsmittel – bereits greifbare Formen angenommen haben. Daran fehlt es, wenn der Arbeitgeber zeitgleich zur Kündigung noch in konkreten Verhandlungen zu einer Veräußerung des Betriebes steht.31 Stattdessen darf sich die Gelegenheit einer für möglich gehaltenen

27 28 29 30 31

BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, NZA 1997, 148, 149. BAG v. 18.7.1996 – 8 AZR 127/94, NZA 1997, 148, 150. BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465, Rz. 40. BAG v. 19.6.1991 – 2 AZR 127/91, NZA 1991, 891. BAG v. 29.9.2005 – 8 AZR 647/04, NZA 2006, 720.

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Überführung des Betriebes erst nachweislich nach dem Kündigungsausspruch ergeben haben, um deren Rechtswirksamkeit nicht zu berühren.32 Sofern sich diese Änderung der tatsächlichen Umstände im Anschluss an die erfolgte Kündigung bereits vor Ablauf der individuellen Kündigungsfrist ergeben hat, ist die personelle Maßnahme gleichwohl nicht unwirksam; vielmehr entsteht wegen der nachträglichen Veränderung der Prognosegrundlage zur maßgeblichen Frage des Wegfalls des Arbeitsplatzes ein Anspruch auf Vertragsfortsetzung oder – falls die gerichtliche Feststellung erst später getroffen wird – auf Wiedereinstellung. Sollte sich der Betriebsübergang noch später und damit erst nach Ablauf der Kündigungsfrist ergeben, entfällt auch der Wiedereinstellungsanspruch, da der Rechtssicherheit und der notwendigen Dispositionsfreiheit des kündigenden früheren Betriebsinhabers der Vorrang einzuräumen ist.33 b) Kündigung des Veräußerers auf Basis eines Sanierungskonzeptes des Erwerbers Eine andere Fragestellung betrifft den Aspekt, ob der Veräußerer bei einer bereits vertraglich fixierten Überführung des Betriebes vor dem vereinbarten Stichtag des Betriebsübergangs als noch zuständiger Arbeitgeber Umgestaltungen, Rationalisierungen sowie sonstige organisatorische Schritte und damit verbundene Kündigungen unter maßgeblicher Einbeziehung der beim Erwerber bestehenden betrieblichen Verhältnisse planen und umsetzen kann. Dieser Umstand wird regelmäßig – aber nicht rechtlich zwingend – Bestandteil des Kauf- und Übertragungsvertrages im Rahmen der Betriebsveräußerung, um keine unnötige Zeit zu verlieren, die zu übertragende betriebliche Einheit an die konzeptionellen Planungen des Erwerbers sowie die dortigen Bedürfnisse und Möglichkeiten anzupassen. Beispielhaft bei Betrieben, deren alleiniger Fortbestand nicht weiter wirtschaftlich gestaltet werden kann und deren Übertragung existenzsichernd ist, werden gleichwohl unmittelbar notwendige Sanierungsmaßnahmen ohne Zeitaufschub von größter Bedeutung sein. Dieses Vorgehen geschieht vor dem Hintergrund, dass § 613a Absatz 1 und 4 BGB die Parteien eines Betriebsübergangs nicht verpflichten sollen, bei einer fehlenden Beschäftigungsmöglichkeit das Arbeitsverhältnis noch einmal künstlich um die dann durch den Erwerber erst einzuhaltende Kündigungsfrist zu verlängern. Konkret soll mit einer Kündigung im Zusammenhang mit der Überführung des Betriebes nicht so lange gewartet werden müssen, bis eine Rationalisierung, Sanierung oder ähnliche Maßnahmen zu spät kommen.34 Die zwischenzeitlich geänderte Rechtsprechung hält solche Kündigungen des Veräußerers auf Basis eines Erwerberkonzeptes zur Rationalisierung oder Sanierung für zulässig, wenn die Umsetzung dieses Konzeptes erkennbare Grundlage ist und zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruches bereits erkennbare Formen angenommen 32 BAG v. 16.2.2012 – 8 AZR 693/10, NZA-RR 2012, 465, Rz. 37. 33 Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 163 m.w.H. 34 BAG v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, DB 1983, 2690, 2693.

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hat.35 Dabei ist der Veräußerer im Rahmen der Durchführung erforderlicher betriebsbedingter Kündigungen gezwungen, in noch komplexerer Art und Weise die vielfältigen Vorgaben der Rechtmäßigkeit dieser personellen Maßnahme im Vorfeld der vereinbarten Übertragung zu beachten. Eine Besonderheit besteht bei dieser Vorgehensweise darin, dass die vor der betriebsbedingten Kündigung nach § 1 Absatz 2 Satz 2 Ziffer 1 b) KSchG zwingend gebotene Suche nach einem freien geeigneten Arbeitsplatz im Unternehmen sowohl beim handelnden Veräußerer als auch dem Erwerber stattzufinden hat.36 Sollte beim Erwerber ein solcher freier Arbeitsplatz vorhanden sein, kann dies nur den Verzicht auf die Kündigung bedeuten; dann hat entweder eine unmittelbare einvernehmliche individuelle Überführung oder eine Versetzung unter Nutzung des Direktionsrechtes des Erwerbers im Sinne von § 106 GewO als neuem Arbeitgeber erst nach dem Betriebsübergang zu erfolgen. Darüber hinaus ist bei notwendigen Rationalisierungen des Veräußerers auf Basis eines Konzeptes des Erwerbers vor dem Betriebsübergang, der eine Integration der zu überführenden Einheit in einen bereits bestehenden Betrieb des Erwerbers zur Folge hat, eine weitere Ausnahme zu beachten. In die nach erfolgloser Suche eines freien anderen Arbeitsplatzes gebotene Prüfung einer Sozialauswahl im Betrieb gemäß § 1 Absatz 3 KSchG sind die vergleichbaren Arbeitnehmer im Betrieb des Veräußerers und des Erwerbers schon vor der Zusammenführung unter Beachtung der gesetzlichen Kriterien Alter, Betriebszugehörigkeit, Schwerbehinderung und Unterhaltspflichten einzubeziehen.37 Hierdurch wird die Durchführung einer rechtmäßigen betriebsbedingten Kündigung durch den Veräußerer im Rahmen eines Erwerberkonzeptes zusätzlich erschwert.

V. Fazit und Schlussfolgerungen Im zeitlichen Zusammenhang mit einem Betriebsübergang sind – trotz des relativen Kündigungsschutzes durch § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB – arbeitgeberseitige Beendigungen von Arbeitsverhältnissen weder ausgeschlossen noch unüblich. Stattdessen zeigt eine nähere Betrachtung, dass vor allem im Zusammenhang mit betrieblichen Handlungszwängen, die zu einer Veräußerung des Betriebes führen oder die bei einer damit verbundenen Bewertung der betrieblichen Erfordernisse zu Tage treten, betriebsbedingte Kündigungen an der Tagesordnung sind; die bemerkenswerteste Fallgestaltung liegt dabei in Entlassungen, die auf Basis eines Sanierungskonzeptes des Erwerbers unmittelbar nach oder sogar bereits vor dem Betriebsübergang durch den Veräußerer vollzogen werden. Hierbei sind die betroffenen Arbeitnehmer entgegen dem Wortlaut des Gesetzes trotz einer für sie elementaren Veränderung ihrer Arbeitsbedingungen verbunden 35 BAG v. 20.9.2006 – 6 AZR 249/06, NZA 2007, 387, 389. 36 Willemsen/Müller Bonani in Henssler/Willemsen/Kalb, 8. Aufl. 2018, § 613a BGB Rz. 314. 37 Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 172.

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mit einem Arbeitgeberwechsel faktisch nicht nennenswert intensiver vor Kündigungen geschützt, als dies im Rahmen eines ohne Betriebsübergang in üblicher Weise verlaufenden Arbeitsverhältnisses der Fall wäre. Dies gilt nicht nur bei der klassischen Variante, dass sie durch Wahrnehmung ihres gesetzlichen Widerspruchsrechtes gemäß § 613a Absatz 6 BGB den Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber des Betriebes verhindern und deshalb – weil ihr Arbeitsplatz im Betrieb gleichwohl übertragen wird – in ganz erhöhter Weise dem Risiko einer betriebsbedingten Kündigung ausgesetzt sind; der Veräußerer hat dann für den Betreffenden keine Stelle und regelmäßig auch keinen Beschäftigungsbedarf mehr. Vielmehr sind ganz übliche Rationalisierungen vor und nach dem Betriebsübergang nicht nennenswert eingeschränkt, sondern vielmehr an der Tagesordnung, falls die unzureichenden oder unwirtschaftlichen betrieblichen Verhältnisse Ursache der Übertragung sind oder in deren Verlauf noch deutlicher wahrgenommen werden. Damit beschränkt sich die Anwendung des relativen Kündigungsschutzes darauf, dass eine Kündigung nur ausgesprochen wird, um den geplanten Betriebsübergang vorzubereiten oder zu ermöglichen.38 Soweit diese plakativen Voraussetzungen nicht vorliegen, kommt eine Anwendung von § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB nicht in Betracht.39 Es drängt sich also die Schlussfolgerung auf, dass ein Arbeitgeber, ob Veräußerer oder Erwerber, der mit der simplen Begründung „wegen des Übergangs“ zu rationalisieren, weder angemessen rechtlich beraten sein kann noch eine eigene Recherche zu den geltenden Rahmenbedingungen bei einem Betriebsübergang vorgenommen hat. Dieser Befund wird mittelbar durch den Umstand bestätigt, dass einschlägige Urteile der Arbeitsgerichte und vor allem höchstrichterliche Urteile zum hier behandelten relativen Kündigungsverbot im letzten Jahrzehnt nahezu fehlen und oftmals noch viel länger zurückliegen. Das allgemeine Kündigungsrecht gibt dem Arbeitgeber die Möglichkeit, ohne Formzwang und – selbst wenn in der Praxis durchaus üblich – ohne die rechtliche Notwendigkeit eines speziellen Beschlusses, die Entscheidung zu treffen, Personalabbau vorzunehmen.40 Die – für den Arbeitgeber lückenlos unter Beachtung der Vorgaben des § 1 Absätze 2 bis 5 KSchG – im Arbeitsgerichtsverfahren darzulegenden dringenden betrieblichen Erfordernisse für eine Entlassung können sich dabei rechtlich anerkannt aus inner- oder außerbetrieblichen Gründen ergeben.41 Zu den innerbetrieblichen Umständen gehören die Umstellung, Einschränkung oder Stilllegung des Geschäftsbetriebes, die Darstellung von Organisationsänderungen verbunden mit notwendigen Rationalisierungsmaßnahmen oder der Entscheidung zur Fremdvergabe von Leistungen. Letztlich müssen als Folge dieser organisatorischen Maßnahmen der Wegfall der Beschäftigung eines oder mehrerer Arbeitnehmer

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BAG v. 19.5.1988 – 2 AZR 596/87, NZA 1989, 461. Preis in Erfurter Kommentar, 20. Aufl. 2020, § 613a BGB Rz. 167. BAG v. 31.7.2014 – 2 AZR 422/13, NZA 2015, 101. BAG v. 24.5.2012 – 2 AZR 124/11, NZA 2012, 1223, 1225.

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unter Beweis gestellt werden.42 In diesem Rahmen ist der Arbeitgeber – soweit die Grenze willkürlichen Handelns nicht erreicht wird – sogar berechtigt, im Ergebnis wirtschaftlich nicht zwingend notwendige Organisationsentscheidungen und damit verbundene Entlassungen zu treffen.43 Mögliche außerbetriebliche Umstände sind beispielsweise der Auftragsrückgang aufgrund gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen oder die wirtschaftliche Notlage aus branchen-/betriebsspezifischen Gründen und Drittmittelkürzungen.44 Dabei sind die vom Arbeitgeber dargelegten inner- oder außerbetrieblichen Gründe gerichtlich voll dahingehend überprüfbar, ob sie zum einen tatsächlich gegeben sind und zum anderen sich so auswirken, dass für die weitere Beschäftigung des Gekündigten kein Bedarf mehr besteht.45 Deshalb ist der Ausspruch einer rechtswirksamen betriebsbedingten Kündigung zwar mit einem hohen Darlegungsbedarf verbunden, aber mit einer üblichen Streubreite für den handelnden Arbeitgeber prognostizierbar. Zusammengefasst kann im Einzelfall für erforderlich gehaltener Personalabbau – auch im Rahmen eines Betriebsübergangs – nachvollziehbar geplant und durchgeführt werden. Hierbei ernsthaft vorzutragen oder auch nur den Eindruck zu vermitteln, den Betriebsübergang durch die Kündigung vorzubereiten oder zu ermöglichen, ist schlicht nicht notwendig und findet deshalb auch nicht (mehr) statt. Damit hat sich der relative Kündigungsschutz aus § 613a Absatz 4 Satz 1 BGB im Gegensatz zu den dargelegten Vermutungen und Missverständnissen in der betrieblichen Praxis faktisch erledigt; die Vorschrift ist zwischenzeitlich tatsächlich überflüssig. Diese Wertung gehört selbstverständlich nicht in das Mitteilungsschreiben im Sinne von § 613a Absatz 5 BGB, auf dessen hohe rechtliche und tatsächliche Bedeutung bereits hingewiesen wurde; stattdessen gilt an dieser Stelle die Empfehlung, in diesem Text schlicht den Wortlaut von § 613a Absatz 4 BGB zu wiederholen, ohne ergänzende Hinweise zur fehlenden Bedeutung und praktischen Relevanz des relativen Kündigungsschutzes vorzunehmen. Für die handelnden Arbeitgeber stellt die Vorschrift – anders als sonstige Verpflichtungen aus § 613a BGB – in der betrieblichen Praxis erkennbar keine nennenswerte Bürde dar.

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BAG v. 18.10.2006 – 2 AZR 676/05, NZA 2007, 798, 800. BAG v. 20.11.2014 – 2 AZR 512/13, NZA 2015, 679, 680. BAG v. 18.10.2006 – 2 AZR 676/05, NZA 2007, 798, 799. BAG v. 17.6.1999 – 2 AZR 522/98, NZA 1999, 1095, 1097.

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Öfter mal was Neues. Überall dasselbe. Die Mode und ihr Schutz gegen Nachahmung Stephan von Petersdorff-Campen

Inhaltsübersicht I. Von der saisonalen Kollektion zu Fast Fashion II. Monopol vs. Marktzugang III. Grenzen der Sonderrechte

V. Ist Mode womöglich Kunst? VI. Verwechslung von Original und Nachahmung? VII. Fazit

IV. Die Nachahmung von Modeneuheiten als unlauterer Wettbewerb

Die Mode, um die es in diesem Beitrag geht, beschreibt das Angebot immer wieder neuer Kombinationen von Schnitten, Mustern, Farben oder Materialien im Bereich der Bekleidung.1 Ungeachtet ihres Gebrauchszwecks dient Bekleidung den Menschen als wichtiges Ausdrucksmittel von durchaus widerstrebenden Bedürfnissen: dem Drang, als einzigartige Persönlichkeit wahrgenommen zu werden, und zugleich dem Wunsch, als Mitglied in der eigenen Gruppe akzeptiert zu sein. Nirgends mehr als in der Mode erwächst Kreativität im Aufgreifen dessen, was war oder gerade ist. Nirgends mehr als in der Mode liegen Innovation, Inspiration und Imitation so nahe beieinander. Oder etwas provokanter: Mode ist eigentlich nur ein anderes Wort für das Nachahmen. Mit dieser Besonderheit gerät Mode in Konflikt mit ökonomisch-rechtlichen Konzepten, die den Innovator durch die zeitweise Gewährung eines Monopolrechts anspornen und belohnen wollen.2 Jüngere Entscheidungen des BGH3 und des EuGH4 geben Anlass, sich neu mit dem Schutz der Mode gegen Nachahmung auseinanderzusetzen.5 Die Produktpiraterie mittels Fälschung, d.h. die identische Über-

1 Schuhe, Kopfbedeckungen, Modeschmuck, auch bestimmte Accessoires wie Handtaschen, Rucksäcke dürfen funktional zwar dem Bereich Bekleidung zugrechnet werden. Sie unterliegen allerdings in unterschiedlicher Ausprägung anderen, meist deutlich längeren Produktzyklen. In der Rechtsprechung, die auf Besonderheiten der Bekleidungsmode zugeschnitten und das Thema dieses Beitrags ist, spielen sie praktisch keine Rolle. 2 Voß, Die Zukunft des ergänzenden Leistungsschutzes im Recht der Mode, 2007, S. 10 f. 3 BGH v. 13.11.2013 – I ZR 143/12, GRUR 2014, 175 – Geburtstagszug; BGH v. 4.5.2016 – I ZR 58/14, GRUR 2017, 79 – Segmentstruktur. 4 EuGH v. 12.9.2019 – C-683/17, GRUR 2019, 1185 – Cofemel/G-Star; EuGH v. 11.6.2020 – C-833/18, GRUR 2020, 736 – Brompton/Get2Get. 5 Erstmals begegnet ist der Verfasser dieser Thematik zur selben Zeit und am selben Ort, an dem auch seine nun 40jährige Verbindung zum Jubilar und beider Wege in den Anwaltsberuf ihren Anfang nahm: man war Referendar in der 16. Zivilkammer des Landgerichts

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nahme nicht nur des Designs, sondern auch von Marke, Verpackungsgestaltung etc., hat eine strafrechtliche Dimension und bleibt bei solchen Betrachtungen außen vor.

I. Von der saisonalen Kollektion zu Fast Fashion Die beschriebene Doppelfunktion der Mode ist gleichsam der Treibsatz für ein rasant wechselndes Angebot an Designs. Je schneller die Extravaganz eines neuen Looks aufgegriffen wird und – über das Übergangsstadium eines Trends – alsbald im Ubiquitären untergeht, umso eher entsteht die Nachfrage nach Neuem. Technische Entwicklungen in Kommunikation und Produktion haben dieses Modegeschehen immer globaler und die Zeiträume, in denen das neue Kleid einem breiten Publikum bekannt wird und in den Regalen der Geschäfte und in Internetshops zur Verfügung steht, immer kürzer werden lassen. Vorbei sind die Zeiten, in denen sich die Hersteller an den Jahreszeiten orientierten und ihre neuen Designs für Frühjahr/Sommer und Herbst/Winter in nicht mehr als zwei Kollektionen pro Jahr vorstellten. Inzwischen sind 12 Seasons im Jahr eher die Regel als die Ausnahme.6 Mit dem Vertrieb von Mode über das Internet hat sich das Browsen und Shoppen in Onlineshops zu einer Form des Entertainments entwickelt und auch insoweit die Nachfrage nach immer wieder neuen Designs und Trends befeuert.7

II. Monopol vs. Marktzugang Das vorbeschriebene Paradoxon der Verbrauchererwartung spiegelt sich auf Seiten der Modeindustrie in dem Widerstreit zwischen Monopol und Marktzugang. Innovative, meist auf ein zahlungskräftigeres Publikum ausgerichtete Hersteller erwarten als Ansporn und Lohn für ihren kreativen Aufwand und die damit eingegangenen unternehmerischen Risiken, dass sie den von ihnen geschaffenen Trend exklusiv bedienen und damit die Preise bestimmen können. Auf Seiten der Verbraucher hingegen geht die Wertschätzung neuer Designs mit dem Interesse einher, Mode preisgünstig zu erwerben. Der Wettbewerb befriedigt diese Nachfrage, indem er trendgerechte Bekleidung zu geringeren Preisen aufruft. Hierzu ist er in der Lage, weil seine EntwickBerlin, der seinerzeit noch umfassender als heute Streitsachen des Gewerblichen Rechtsschutzes, des Urheber- und Presserechts sowie des Wettbewerbsrechts zugewiesen waren. 6 Unternehmen wie H& M oder die Inditex-Gruppe (bekannteste Marke: ZARA), die als sog. Vertikale die gesamte Wertschöpfungskette von der Produktion des Rohstoffs bis zum Einzelhandel abdecken, kommen heute auf bis zu 24 Kollektionen im Jahr (FAST FASHION, 10.2.2020; aufgerufen am 1.1.2021 unter https://nachhaltige kleidung.de/news/fast-fashiondefinition-ursachen-statistiken-folgen-und-loesungsansaetze/) und selbst hochpreisige Modelabels wie CHANEL bringen mittlerweile 6 Kollektionen pro Saison heraus (Wichert, Im Kaufrausch SZ-Magazin Heft 36/2016; aufgerufen am 1.1.2021 unter https://sz-magazin. dueddeutsche.de/gesellschaft-leben-im-kaufrausch-82809). 7 Bereits 2016 verbrachten 17 bis 36-Jährige in den USA mehr als eine Stunde pro Tag in Onlineshops (Wichert, Im Kaufrausch SZ-Magazin Heft 36/2016; aufgerufen am 1.1.2021 unter https://sz-magazin.dueddeutsche.de/gesellschaft-leben-im-kaufrausch-82809).

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lungskosten vergleichsweise gering sind und der aufgegriffene Trend gleichsam wie eine Versicherung gegen allzu große Risiken für den Abverkauf wirkt.8 Innovation und Nachahmung wirken so als Motor für Wettbewerb, Fortschritt und Wachstum. Wirtschaftspolitisch ist dementsprechend beides gewollt.9 Mit den dramatisch verkürzten Produktzyklen schwindet zugleich der zeitliche Vorsprung des Innovators, den er benötigt, um seinen unternehmerischen Aufwand amortisieren und in Gewinn verwandeln zu können. Wenn Original und Nachahmung mehr oder weniger gleichzeitig erhältlich sind, dann gerät das zwischen der Förderung der Innovation und dem Zulassen des Nachahmungswettbewerbs ausbalancierte System aus den Fugen.

III. Grenzen der Sonderrechte Zum Ausbalancieren dieser gegensätzlichen ökonomischen Interessen hält die Rechtsordnung mit dem Urhebergesetz (UrhG), dem Designgesetz (DesignG) und der Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung (GMV) Sonderschutzrechte bereit, die unter bestimmten Voraussetzungen und lediglich für einen begrenzten Zeitraum gewährbar sind. In der Praxis hat sich jedoch schon in früheren Zeiten gezeigt, dass diese rechtlichen Instrumentarien den Besonderheiten der Mode kaum gerecht werden und dem Modeschaffenden dementsprechend nur eingeschränkt einen interessengerechten Schutz bieten können. Sämtliche Sonderrechte setzen voraus, dass ein Design neu ist und sich schöpferisch in einem Maße von Vorbekanntem absetzt, das die Gewährung eines Monopolrechts rechtfertigt.10 In der Mode sind diese Anforderungen kaum noch zu erfüllen. In einer Zeitspanne, die mit dem Beginn der industriellen Konfektion etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm, hat die kreative Dynamik des schnelllebigen Modemarkts eine derartige Vielzahl von Formen, Mustern und Materialien hervorgebracht, dass die Gestaltungsspielräume für Designs, die den sonderschutzrechtlichen Anforderungen genügen, bereits dicht mit Vorbekanntem gefüllt sind. Es verwundert daher nicht, dass Modegestaltung in aller Regel aufgreift, was bereits in früheren Zeiten geschaffen worden ist und modisch war. Walter Benjamin hat diesen Befund mit der Beschreibung der Mode als einer ewigen Wiederkehr des Neuen auf den Punkt gebracht.11

8 Voß, Die Zukunft des ergänzenden Leistungsschutzes im Recht der Mode, 2007, S. 17. 9 Voß, Die Zukunft des ergänzenden Leistungsschutzes im Recht der Mode, 2007, S. 18 f. m.w.N., der zutreffend auf das Dilemma hinweist, dass die Nachahmung einerseits als ökonomisch notwendig erachtet, zugleich aber moralisch allgemein als Unwesen stigmatisiert wird. 10 § 2 Abs. 2 UrhG: persönlich geistige Schöpfung; § 2 Abs. 1 DesignG: Eigenart gem. § 2 Abs. 3 DesignG; Art. 4 Abs. 1 GGV: Eigenart gem. Art. 6 GGV. 11 Deutscher Philosoph und Kulturkritiker (1892-1940); Walter Benjamin, Gesammelte Schriften Band I. 2, 1991, „Zentralpark“, S. 655, 677; siehe auch BGH v. 19.1.1073 – I ZR 39/71, NJW 1973, 800, 801 – Modeneuheit: Die Mode lebt weitgehend von der Wiederkehr desgleichen.

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Am ehesten auf die Mode zugeschnitten sind noch das eingetragene Design12 und das (EU-)Gemeinschaftsgeschmacksmuster (GGM), das seit Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 der Rates vom 12.12.2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (GGV) am 6.3.2002 als eingetragenes GGM13 (eGGM) und als nicht eingetragenes GGM14 (neGGM) zur Verfügung steht. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass diese Designschutzrechte in der Mode eher wenig genutzt werden. Hierfür gibt es modespezifische Gründe. So wird eine längere Schutzdauer in der Regel nicht benötigt. Zu groß und zu kurzfristig ist der Ausstoß an neuen Designs, um neben dem schnellen Tagesgeschäft auch noch den organisatorischen Aufwand für laufende Schutzrechtsanmeldungen stemmen zu können.15 Das neGGM schafft hier nur auf den ersten Blick Abhilfe, denn seine Durchsetzung erfordert die Dokumentation des Designs und der Rechte hieran.16 Daher nur ein kurzer Überblick: Eine qualitativ zu bewertende Gestaltungsleistung wird im Designrecht nicht gefordert. Es genügt, dass das Design einen anderen Gesamteindruck hervorruft als vorbekannte Gestaltungen.17 Die Vorgabe, wonach ein umso geringerer Abstand zum Vorbekannten zu fordern ist, je enger die hierdurch noch nicht besetzten Gestaltungsspielräume sind,18 kommt den Bedürfnissen der Mode ebenfalls entgegen. Wer seine Modeentwürfe schützen will, hat während einer sog. Neuheitsschonfrist von 12 Monaten ab der ersten Vorstellung im Markt Zeit, um zu entscheiden, ob und für welche Designs er überhaupt den Schutz eines eingetragenen Rechts benötigt.19 Wer seine Kollektion, bevor er sie der Öffentlichkeit zeigt, sogleich mit einem eingetragenen Recht schützen möchte, profitiert von der Möglichkeit, die bildliche Bekanntmachung im Musterregister für 30 Monate aufzuschieben.20 Damit sind seine Entwürfe vorerst einem Zugriff der Wettbewerber entzogen, die das Musterregister gleichsam als Vorlagenkatalog für die eigene Musterentwicklung nutzen könnten. Zumindest bei einem eingetragenen Design/eGGV entbindet den Rechtsinhaber die (wi12 § 2 Abs. 1 DesignG; bis 31.12.2013: (eingetragenes) Geschmacksmuster gem. § 1 Abs. 2, § 7 Abs. 1 GeschmacksmusterG: Schutzdauer max. 25 Jahre, § 27 Abs. 2 DesignG. 13 Art. 1 Abs. 2 lit. b GGV; Schutzdauer 5 Jahre, auf max. 25 Jahre verlängerbar, Art. 12 GGV. 14 Art. 1 Abs. 2 lit. a GGV; Schutzdauer 3 Jahre ab dem Tag, an dem das Design erstmals der Öffentlichkeit innerhalb der EU zugänglich gemacht worden ist, Art. 11 Abs. 1 GGV. 15 Dies sind eher der Aufwand für die Erstellung der Anmeldeunterlagen mit qualitativ guten Abbildungen vor neutralem Hintergrund sowie die Schutzrechtsverwaltung als die vergleichsweise niedrigen Amtsgebühren. 16 Das neGGM entsteht, wenn das Design erstmals innerhalb der EU öffentlich zugänglich gemacht worden ist (§ 1 Abs. 2 lit. b, § 11 GGV). Dieser Vorgang ist zu dokumentieren, u.a. durch Archivierung das Design (Muster, zumindest Abbildungen). Zudem muss die Rechtsinhaberschaft, d.h. die Rechtekette vom Entwerfer bis zum Hersteller des Modeerzeugnisses (§ 14 GGV), dokumentiert sein. 17 Im Streitfall hat der Rechtsinhaber im Einzelnen zu den Merkmalen vorzutragen, anhand derer sich das Design von Vorbekanntem unterscheidet (Eichmann/Jestaedt in Eichmann, 6. Aufl. 2019, Art. 85 GGV Rz. 27). Daher ist gut beraten, wer auch den Vorgang der Designschaffung dokumentiert, z.B. gestalterische Vorgaben, Ausrichtung an oder Abgrenzung von vorhandenen Designs. 18 § 2 Abs. 3 DesignG; Art. 6 Abs. 2 GGV. 19 § 6 Satz 1 DesignG; Art. 7 Abs. 2 GGV. 20 § 21 DesignG; Art. 50 GGV.

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derlegbare) gesetzliche Vermutungen erst einmal davon, seine Inhaberschaft21 und die Voraussetzungen für den Schutzfähigkeit des betroffenen Designs beweisen zu müssen.22

IV. Die Nachahmung von Modeneuheiten als unlauterer Wettbewerb Zur Wahrung der Fortschrittsfunktion des Wettbewerbs besteht jenseits eines sonderrechtlichen Schutzes grundsätzlich Nachahmungsfreiheit.23 Unlauter ist die Nachahmung nur unter besonderen zusätzlichen Umständen.24 Seit der Entscheidung Modeneuheit von 197325 hatte der BGH mit Blick auf die vorstehend geschilderten besonderen Verhältnisse auf dem Modemarkt anerkannt, dass dem Anbieter einer Modeneuheit zumindest der Vorsprung einer Einzelhandelssaison zugestanden werden müsse. Dies sei der Mindestzeitraum, innerhalb dessen die Chance gewahrt werden kann, den eigenen Entwicklungsaufwand zu amortisieren und den zu erzielenden Gewinn zu realisieren, bevor das Design womöglich schon wieder veraltet ist.26 Die Wahrung dieser berechtigten Chance durch Nachahmung zu behindern, war seither als eine unlautere Behinderung im Wettbewerb angesehen worden.27 Geschützt wurden auch Designs, mit denen auf Vorbekanntes zurückgegriffen wird. Es genügte, dass das Design in der aktuellen Saison als eigenartige Modeneuheit empfunden wurde.28 Bei saisonunabhängigen Modeerzeugnissen kam auch ein über eine Saison hinaus bestehender Schutz in Betracht.29 Die absolute Grenze war zwei Jahre nach Markteinführung erreicht.30 Mit der Entscheidung Segmentstruktur31 hat der BGH obiter dictum diesen sog. Saisonschutz der Mode32 nun nach mehr als 40 Jahren aufgegeben. Zur Begründung verweist er auf das neGGM, das einen sonderrechtlichen Schutz über drei Jahre gewährt. 21 22 23 24 25 26 27 28 29

§ 8 DesignG; Art. 7 GGV. § 39 DesignG; Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GGV. Köhler in Köhler/Bornkamm, 38. Aufl. 2020, § 4 UWG Rz. 3.3. Köhler in Köhler/Bornkamm, 38. Aufl. 2020, § 4 UWG Rz. 3.3. m.N. zur Rspr. BGH v. 19.1.1073 – I ZR 39/71, NJW 1973, 800, 801 – Modeneuheit. BGH v. 19.1.1073 – I ZR 39/71, NJW 1973, 800, 801 – Modeneuheit. § 1 UWG a.F.; danach § 4 Nr. 9 UWG a.F.; jetzt §§ 3, 4 Nr. 4 UWG n.F. BGH v. 19.1.1073 – I ZR 39/71, NJW 1973, 800, 801 – Modeneuheit. BGH v. 10.11.1983 – I ZR 158/81, GRUR 1984, 453 – Hemdblusenkleid; OLG Hamburg v. 26.9.1985 – 3 U 88/85, GRUR 1986, 83 – Übergangsbluse: bei sog. Übergangsmodellen bis in die Folgesaison hinein; LG Düsseldorf v. 28.9.1988 – 34 O 76/88 – Sweat-Shirt: zwei volle Saisons. 30 BGH v. 6.11.1997 – I ZR 102/95, GRUR 1998, 477 – Trachtenjanker; a.A. OLG Hamburg v. 24.2.2005 – 5 U 66/04, GRUR-RR 2006, 94 – Gipürespitze, das für Dessous einen Schutz von 2 Jahren zzgl. einer Abverkaufsfrist anerkannt hat. 31 BGH v. 4.5.2016 – I ZR 58/14, GRUR 2017, 79 – Segmentstruktur; es ging um den auf 10 Jahre beschränkten Schutz für eine bestimmte graphische Aufbereitung von Marktberichten. 32 Ohly, GRUR 2017, 90, Anm. zu BGH v. 4.5.2016 – I ZR 58/14, GRUR 2017, 79 – Segmentstruktur.

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Für einen zusätzlichen Schutz von Modeneuheiten bestehe kein Bedürfnis mehr.33 Damit wird einer dogmatischen Bereinigung der Vorrang vor dem bis dato anerkannten besonderen Schutzbedürfnis der Mode nach Amortisation und Gewinnchance gegeben. Vom modetypischen Rückgriff auf Vorbekanntes ist mit keinem Wort mehr die Rede.34 Seither ist damit auch eine Modegestaltung nur noch gegen Nachahmung geschützt, wenn es sie so noch nie zuvor gegeben hat.35

V. Ist Mode womöglich Kunst? Es kann nicht geleugnet werden, dass die kreative Intention, die in die Gestaltung von Mode einfließt, mit der Kreativität, derer es zur Schaffung eines Werkes der sog. zweckfreien Kunst bedarf, durchaus vergleichbar sein kann. So ist im Grundsatz anerkannt worden, dass auch Modeerzeugnisse Gegenstand eines nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG geschützten Werks der angewandten Kunst sein können, und zwar gleich, ob es sich um Haute Couture, Konfektionsware oder Stoffmuster handelt.36 Im Ergebnis ist es in der bisherigen Rechtsprechung des BGH allerdings stets bei diesem Lippenbekenntnis geblieben.37 Bei den Schutzanforderungen orientierte man sich an dem für Gebrauchsgegenstände geschaffenen Designrecht. Nach § 1 Abs. 1 GeschmacksmusterG a.F. musste bereits die Eigentümlichkeit der Gestaltung eines Musters oder Modells über das Durchschnittskönnen eines Gestalters und damit über das rein handwerksmäßige hinausgehen.38 Angesichts der erheblich längeren Schutzdauer des Urheberrechts39 wurde ein deutlich jenseits der rein kunsthandwerklichen Leistung liegender Grad an Innovation gefordert, den der BGH bei Schmuck sogar gänzlich ausschließen wollte.40 Nach diesem Maßstab war ein urheberrechtlicher Schutz von Modererzeugnissen nur noch bei Entwürfen denkbar, bei denen der Ausdruck der schöpferisch geistigen Eigenpersönlichkeit des Urhebers dermaßen im Vordergrund steht und dabei 33 BGH v. 4.5.2016 – I ZR 58/14, GRUR 2017, 79 Rz. 96 f. – Segmentstruktur. 34 Vielmehr verweist der BGH u.a. auf sein Urteil v. 19.11.2015 – I ZR 149/14, GRUR 2016, 725 – Pippi-Langstrumpf-Kostüm II, in dem unter Rz. 27 ein lauterkeitsrechtlicher Leistungsschutz mit dem Hinweis auf das Versäumnis abgelehnt wird, Vorsorge für einen u.a. designrechtlichen Schutz getragen zu haben. 35 In der Praxis kommt diese Einschränkung häufig nicht zum Tragen. Kurioserweise ist es gerade die unübersichtliche Vielfalt von Modedesigns, die den Verletzer den Nachweis für die Vorbekanntheit des streitigen Entwurfs nicht bzw. nur mit einem für den Streitfall unverhältnismäßigen Aufwand finden lässt. 36 BGH v. 14.12.1954 – I ZR 65/53, GRUR 155, 445 – Mantelmodell; für Stoffmuster: BGH v. 19.1.1073 – I ZR 39/71, NJW 1973, 800 – Modeneuheit. 37 Nachweise bei Axel Nordemann in Fromm/Nordemann, 12. Aufl. 2018, § 2 UrhG Rz. 176 m.w.N. zur Rspr. 38 Nirk in Nirk/Kurze, 2. Aufl. 1997, § 1 GeschmMG Rz. 171 m.N. zur Rspr. 39 § 64 UrhG: 70 Jahre post mortem auctoris; § 9 Abs. 2 GeschMG a.F.: max. 20 Jahre; § 27 Abs. 2 DesignG, Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GGV: max. 25 Jahre. 40 BGH v. 22.6.1995 – I ZR 119/93, GRUR 1995, 581, 582 – Silberdistel; a.A. OLG Düsseldorf v. 30.5.2000 – 20 U 4/99, GRUR-RR 2001, 294 – Spannring.

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einen solchen nicht zu niedrig anzusetzenden Grad erreicht, dass ungeachtet des Gebrauchszwecks als Kleidungsstück nach den im Leben herrschenden Anschauungen von Kunst gesprochen werden kann.41 Mit der Entscheidung Geburtstagszug von 201342 hat der BGH dieses Verständnis von Urheber- und Designrecht als wesensgleiche Schutzrechte mit graduell unterschiedlichen Schutzniveaus aufgegeben (sog. Stufentheorie). Mit Blick auf das 2004 harmonisierte Designrecht43 und einer sich entwickelnden Harmonisierung des Urheberrechts geht er jetzt davon aus, dass das Designrecht als eigenständiges gewerbliches Schutzrecht neben dem Urheberrecht ausgestaltet worden ist, von dem es sich in den Schutzrichtungen, Schutzvoraussetzungen und Rechtsfolgen unterscheide.44 Es sei demnach auch nicht mehr gerechtfertigt, an den Urheberrechtsschutz von Werken der angewandten Kunst höhere Anforderungen zu stellen als den Urheberrechtsschutz von Werken der zweckfreien Kunst,45 der schon immer auf deutlich niedrigerem Niveau gewährt worden ist (sog. kleine Münze).46 Für eine kurze Zeit sah es danach aus, als könne auch die Mode von dieser geänderten Rechtslage profitieren.47 In seinem Urteil Cofemel/G-Star hat sich der EuGH zwischenzeitlich der Frage nach einem urheberrechtlichen Schutz der Mode angenommen und mit einem mehr oder weniger deutlichen Nein beantwortet.48 Die in Streit stehenden Modeerzeugnisse49 seien nicht bereits deshalb als Werke im Sinne der Urheberechtsrichtlinie50 anzusehen, weil sie über ihren Gebrauchszweck hinaus einen eigenen, ästhetisch markanten visuellen Effekt hervorrufen.51 Der Schutz von Gebrauchsgegenständen für die Massenproduktion sei grundsätzlich dem Designrecht vorbehalten, sodass hier ein Urheberrechtsschutz nur in bestimmten Fällen infrage komme.52 Was durch technische Er41 BGH v. 19.1.1976 – I ZR 39/71, NJW 1973, 800 – Modeneuheit; bejahend: OLG Hamm v. 16.2.1989 – 4 W 163/88, GRUR 1989, 502 – Bildflicken (Jeansjacke mit Applikationen, auf denen farbige Flächen und verfremdete Schriftzüge mit fratzenartigen Gesichtern kombiniert sind; LG Leipzig v. 23.10.2001 – 5 O 5288/01, GRUR 2002, 424 – Hirschgewand (Verfremdung eines Gobelinstoffs mit einem Röhrenden Hirsch zu einem Abendkleid). 42 BGH v. 13.11.2013 – I ZR 143/12, GRUR 2014, 175 Rz. 34 ff. – Geburtstagszug. 43 Richtlinie 98/71 EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.10.1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen; zum 1.6.2004 mit gut zweijähriger Verspätung umgesetzt mit dem GeschmacksmusterG n.F. 44 BGH v. 13.11.2013 – I ZR 143/12, GRUR 2014, 175 Rz. 35 – Geburtstagszug; sog. Design Approach, Schulze in Dreier/Schulze, 6. Aufl. 2018, § 2 Rz. 174. 45 BGH v. 13.11.2013 – I ZR 143/12, GRUR 2014, 175 Rz. 37f – Geburtstagszug. 46 Hierzu Axel Nordemann in Fromm/Nordemann, 12. Aufl. 2018, § 2 UrhG Rz. 30 m.w.N. 47 Axel Nordemann in Fromm/Nordemann, 12. Aufl. 2018, § 2 UrhG Rz. 176. 48 EuGH v. 12.9.2019 – C-683/17, GRUR 2019, 1185 – Cofemel/G-Star: Der EuGH geht von einem autonomen, einheitlich auszulegenden und anzuwendenden Urheberrecht in der Union aus (Rz. 25). 49 Es ging um sog. Streetwear (Jeans, Sweatshirts, T-Shirts). 50 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.5.2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte. 51 EuGH v. 12.9.2019 – C-683/17, GRUR 2019, 1185 Rz. 55 – Cofemel/G-Star. 52 EuGH v. 12.9.2019 – C-683/17, GRUR 2019, 1185 Rz. 40, 50 ff. – Cofemel/G-Star.

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wägungen, Regeln oder andere Zwänge bestimmt sei, könne nicht als ein urheberrechtlich geschütztes Werk eingestuft werden.53 Gewiss wird noch zu klären sein, ob bereits die modetypische Ausrichtung auf die Verkäuflichkeit eines Designs in jedem Fall einen solchen Ausschlussgrund darstellt. Man wird jedoch davon ausgehen können, dass der BGH nun im Ergebnis zu den strengen Maßstäben seiner Stufentheorie zurückkehrt, an denen er sich im Urteil Hemdblusenkleid orientiert und den Schutz einer geschmackvollen, eigenartigen und gelungenen Modekreation abgelehnt hatte.54 Die Feststellung, ob ein Design eine freie kreative Entscheidung und damit die Persönlichkeit seines Urhebers zum Ausdruck bringt,55 überlässt der EuGH dem nationalen Gericht,56 dem er eine objektive Feststellung der schöpferischen Leistung abverlangt, bei der subjektive Empfindungen des Betrachters außer Acht zu bleiben haben.57 Bis zu einer weiteren Klärung durch den EuGH fällt es schwer, sich vorzustellen, wie diese Vorgabe bei Werken, die das ästhetische Empfinden ansprechen wollen, erfüllt werden soll. Es ist zu erwarten, dass es in dem Bemühen der Gerichte, insoweit keinen Fehler zu begehen, erst einmal zu einer deutlich restriktiven Rechtsprechung kommen wird, die den Schutz eines Kleidungsstücks als Werk der angewandten Kunst womöglich erst jenseits der Tragbarkeit in Betracht zieht.58

VI. Verwechslung von Original und Nachahmung? Nach §§ 3, 4 Nr. 3 lit. a UWG ist es unzulässig, durch die Nachahmung eines Produkts die Gefahr einer vermeidbaren Täuschung des Verkehrs über dessen betriebliche Herkunft zu verursachen. Es wäre unlauter, wenn die Verbraucher anhand der Übereinstimmung im Design die Nachahmung als das Original ansehen würden, oder – schlimmer noch – umgekehrt. Es ist – mitunter erfolgreich – versucht worden, dieses rechtliche Instrument auch für die Mode nutzbar zu machen. Grundvoraussetzung hierfür ist allerdings, dass das nachgeahmte Original eine wettbewerbliche Eigenart besitzt, d.h. nicht als Allerweltsdesign empfunden wird, und dass es darüber hinaus eine gewisse Bekanntheit erlangt hat.59

53 EuGH v. 12.9.2019 – C-683/17, GRUR 2019, 1185 Rz. 31 – Cofemel/G-Star. 54 BGH v. 10.11.1983 – I ZR 158/81, GRUR 1984, 453 – Hemdblusenkleid: Die modische bedingte Kombination von bekannten Elementen wie Hemdblusenschnitt mit Plisseerock und Karomuster lasse – unabhängig von der Güte des Designs – nach den im Leben herrschendenden Anschauungen keine künstlerische Schöpfung, sondern nur ein Beherrschen des Schneiderhandwerks erkennen. 55 EuGH v. 12.9.2019 – C-683/17, GRUR 2019, 1185 Rz. 30 – Cofemel/G-Star. 56 EuGH v. 11.6.2020 – C-833/18, GRUR 2020, 736 Rz. 34 – Brompton/Get2Get. 57 EuGH v. 12.9.2019 – C-683/17, GRUR 2019, 1185 Rz. 34, 53 – Cofemel/G-Star. 58 Ein Sonderfall dürfte die Verwendung eines geschützten Werkes der sog. zweckfreien Kunst in einem Modeerzeugnis sein, wie z.B. in den 1960er Jahren die vibrierenden Musterbilder der britischen Künstlerin Bridget Riley (*1931) oder die Mondrian-Kleider, in denen der Couturier Yves Saint Laurent sehr einfache Schnitte mit Mustern im Stil der Farbgeometrien des niederländischen Malers Piet Mondrian (1872-1944) kombinierte. 59 Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen, 38. Aufl. 2020, § 4 UWG Rz. 3.21, 3.41a m.w.N.

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Im Bereich der Mode hatte der BGH eine solche Gefahr zunächst nicht in Erwägung gezogen60 bzw. sogar ausgeschlossen.61 Da jedermann weiß, dass Modetrend und Nachahmung einander bedingen, waren relevante Herkunftstäuschungen der Verbraucher nach allgemeiner Auffassung nicht befürchtet worden.62 Dies änderte sich mit dem Urteil Trachtenjanker, in dem der BGH die Gefahr betrieblicher Herkunftstäuschungen zumindest bei besonders originellen Gestaltungen auch in der Mode nicht mehr ausschloss63 und später auch neben dem neGGM gelten ließ.64 In der Folge hat sich eine uneinheitliche Rechtsprechung entwickelt.65 Die Frage nach der Inhärenz, also danach, ob eine gewisse Präsenz des Modeerzeugnisses im Markt tatsächlich auf seiner besonders originellen Gestaltung beruht oder anderen, ggf. erst später hinzugetretenen Umständen geschuldet ist, wird nicht gestellt (Werbung, Marke, Größe der Zielgruppe etc).66 Offen ist auch, ob die Gefahr von Herkunftstäuschungen dadurch neu entstehen kann, dass es dem Originator erst nach und nach gelingt, die Nachahmungen vom Markt zu entfernen, oder dadurch, dass er das betroffene Design in seiner Kollektion behält, wenn der Wettbewerb sich bereits anders orientiert hat. Dies zu bejahen, mag in das Konzept der unlauteren Herkunftstäuschung passen. Dagegen spricht jedoch, dass die Gefahr von Herkunftstäuschungen, soweit sie vom Design ausgeht, aus Gründen der Rechtssicherheit auch für die Zukunft hinzunehmen ist, sobald Übereinstimmungen im Design als solche rechtskonform (geworden) sind. In diesem Kontext ist der Grundsatz von Bedeutung, dass der vermeintliche Nachahmer die wettbewerbliche Eigenart zu widerlegen hat.67 In der Praxis gelingt dieser Nachweis häufig nicht, weil der schnelle Wechsel in der Mode mit einen entsprechend schnellen Verschwinden der Vorlagen einhergeht, an die sich der vermeintliche Originator mehr oder weniger eng angelehnt haben könnte bzw. die zuvor dem lauterkeitsrechtlichen Schutz entgegengestanden haben. Damit steht ein letztlich nicht gerechtfertigter Schutz gegen Nachahmung im Raum. Weil der Modemarkt vom Trend geprägt und vielfältig, m.a.W. unübersichtlich ist, spielt die Marke eine besonders entscheidende Rolle für den Erfolg einer Kollektion. Die Marke gibt dem Verbraucher nicht nur Orientierung, sondern auch eine gewis60 BGH v. 19.1.1073 – I ZR 39/71, NJW 1973, 800 – Modeneuheit. 61 BGH v. 10.11.1983 – I ZR 158/81, GRUR 1984, 453, 454 – Hemdblusenkleid. 62 Sambuc, GRUR 1998, 480, Anm. zu BGH v. 6.11.1997 – I ZR 102/95, GRUR 1998, 477 – Trachtenjanker; Weber, Mode- und Designschutzrecht, 1992, S. 53; Voß, Die Zukunft des ergänzenden Leistungsschutzes im Recht der Mode, 2007, S. 76 f. 63 BGH v. 6.11.1997 – I ZR 102/95, GRUR 1998, 477 – Trachtenjanker. 64 BGH v. 19.1.2006 – I ZR 151/02, GRUR 2006, 346, 347, – Jeans II. 65 OLG Hamburg v. 24.2.2005 – 5 U 66/04, GRUR-RR 2006, 94 – Gipürespitze: kein Schutz, wenn Design-Elemente zum üblichen Repertoire der Gestaltung gehören (Spitzenunterwäsche); OLG München v. 4.7.2019 – 29 U 3490/17, GRUR-RS 2019, 40203 – Naketano: Schutz nur in Ausnahmefällen, weil Mode letztlich durch Nachahmung entsteht und der Verkehr dies weiß (Streetwear); OLG Köln v. 24.7.2020 – 6 U 298/19, GRUR-RS 2020, 17411 Rz. 38 – PLEASE Jeans: Schutz für die Kombination gängiger Design-Elemente, wenn der Gesamteindruck ein anderer ist als bei den meisten Wettbewerbsprodukten (Jeans; nicht rechtskräftig: BGH I ZR 152/20). 66 Kritisch hierzu: Sambuc, GRUR 1998, 480 f. 67 Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen, 38. Aufl. 2020, § 4 UWG Rz. 3.78 m.w.N.

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se Garantie dafür, dass sich die Werbebotschaften und Erwartungen erfüllen, die die Verbraucher mit einem Modeerzeugnis verbinden.68 Angesichts dessen sind sich die Gerichte einig, dass in der Mode etwaige Fehlvorstellungen über die betriebliche Herkunft, die auf einer Übereinstimmung im Design beruhen, mit der anders lautenden Marke des vermeintlichen Nachahmers ausgeschlossen werden.69 Verwechslungen bei der betrieblichen Herkunft sind auch dann ausgeschlossen worden, wenn den Verbrauchern das Nebeneinander von Original und Nachahmungen bekannt ist.70 Allerdings muss diese Kenntnis auf das konkrete Design bezogen sein. Die allgemeine Erfahrung, dass die Mode von Nachahmung lebt, genügt nicht. Auch unterschiedliche Vertriebswege können Fehlvorstellungen über die Herkunft übereinstimmender Designs ausschließen.71 Phänomene wie Zweitmarken und Handelsmarken, unter denen Produkte anderer Hersteller vertrieben werden, haben eine Rechtsprechung entstehen lassen, die eine betrieblichen Herkunftstäuschung im weiteren Sinne annimmt, wenn die Verbraucher die Nachahmung für eine neue Serie der Originators oder für dessen weitere Marke neben einer Dachmarke halten oder wenn sie von sonstigen geschäftlichen oder organisatorischen Beziehungen zwischen der beteiligten Unternehmen ausgehen, z.B. lizenz- oder gesellschaftsvertraglicher Art.72 Versuche, dieses Konstrukt auch für den Bereich der Mode nutzbar zu machen, stoßen auf ein unterschiedliches Echo in der Rechtsprechung. So schließt das OLG München derartige Vorstellungen im Bereich der Mode aus,73 während das OLG Köln dies selbst bei Jeans unterschiedlicher Preisniveaus ohne weiteres unterstellt.74 Im Vordergrund stehen dabei divergierende Beurteilungen auf der Tatsachenebene. Als Mitglieder der betroffenen Verbraucherkreise entscheiden die Richter*innen aus eigener Anschauung.75 Es bleibt abzuwarten, ob und wie der BGH die nächste Gelegenheit zu weiteren Leitlinien für den lauterkeitsrechtlichen Schutz in der Mode nutzen wird.76

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OLG München v. 4.7.2019 – 29 U 3490/17, GRUR-RS 2019, 40203 Rz. 54 – Naketano. BGH v. 19.11.2015 – I ZR 109/14, GRUR 2016, 720 Rz. 26 – Hot Sox. BGH v. 11.1.2007 – I ZR 198/04, GRUR 2007, 795 Rz. 39 – Handtaschen. BGH v. 11.1.2007 – I ZR 198/04, GRUR 2007, 795 Rz. 40 – Handtaschen. BGH v. 2.4.2009 – I ZR 144/06, NJW-RR 2009, 1703 Rz. 15 – Knoblauchwürste; BGH v. 20.9.2018 – I ZR 71/17, GRUR 2019, 196 Rz. 15 – Industrienähmaschinen. OLG München v. 4.7.2019 – 29 U 3490/17, GRUR-RS 2019, 40203 Rz. 54 – Naketano. OLG Köln v. 24.7.2020 – 6 U 298/19, GRUR-RS 2020, 17411 Rz. 57 – PLEASE Jeans. OLG München v. 4.7.2019 – 29 U 3490/17, GRUR-RS 2019, 40203 Rz. 84 – Naketano; OLG Köln v. 24.7.2020 – 6 U 298/19, GRUR-RS 2020, 17411 Rz. 39 – PLEASE Jeans, das sich ersatzweise auf seine durch ständige Befassung mit Wettbewerbssachen gewonnene Sachkunde beruft (Anm. des Verf.: es spricht Einiges dafür, dass gerade diese Fokussierung den Blick aus der Verbrauchersicht verstellen kann). BGH I ZR 152/20 (nach Fertigstellung des Manuskripts: Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde mit Beschluss v. 6.5.2021).

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VII. Fazit Das Urheberrecht fällt in aller Regel für einen Schutz der Mode gegen Nachahmung aus. Beim lauterkeitsrechtlichen Schutz ist eine fortschreitende Zurückhaltung der Rechtsprechung zu vermerken. Obwohl die Schutzanforderungen gestiegen und der Schutzumfang im Einzelfall geringer geworden sind, stellt das Designrecht in der Praxis auch heute noch den effektivsten Schutz zur Verfügung. Wer den designrechtlichen Schutz seiner Modeneuheiten sicherstellen möchte, muss allerdings bereit sein, den hiermit verbundenen Dokumentationsaufwand zu betreiben.

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Neue Normalität am Kapitalmarkt: Grenznutzen einer ausufernden Staatsfinanzierung zum Nulltarif Arnd Waleczek

Inhaltsübersicht I. Grundlegender Sachverhalt II. Abnehmender Grenznutzen als (konventioneller) Normalzustand III. EU, Staat und Bürger

1. Grenznutzen von Staaten als Schuldner 2. Grenznutzen von Gläubigern 3. Übergeordnete Nutzenabwägungen V. Globale Sicht und Ausblick

IV. Grenznutzen verschiedener Wirtschaftssubjekte

Mithilfe des Marginalprinzips wird untersucht, inwieweit einer ständigen Ausweitung von Staatsschulden unter rationalen Gesichtspunkten Grenzen gesetzt sind. Dabei wird mitunter deutlich, wie ökonomische Sachverhalte radikalen Neubewertungen durch Wirtschaftssubjekte unterliegen können. „Normalität“ erweist sich als Begriff zur Kennzeichnung vermeintlich selbstverständlicher Zustände als zunehmend unschärfer und unbeständiger. Auch der Stellenwert von Nutzen und Risiken ökonomischer Aktivitäten erfährt in einem sich radikal verändernden, globalen Umfeld einen Bedeutungswandel.

I. Grundlegender Sachverhalt Der wirtschaftliche Nutzen des Konsums eines Gutes wird in der Ökonomie gemeinhin mithilfe des Marginalprinzips veranschaulicht, dessen Anwendung eine quantitative Aussage zuschreibt, in welchem Maße ein zusätzlicher Konsum einer Einheit noch nützlich ist. Grenznutzen bezeichnet den Nutzenzuwachs, der sich für ein Wirtschaftssubjekt aus dem zusätzlichen Konsum eines Gutes ergibt. Liegt dieser bei Null, so ist eine Sättigung zu verzeichnen. Dieses Prinzip soll im Folgenden in Bezug auf die Finanzierung von Staaten angewandt werden, wobei finanzielle Mittel als „Güter“ gedacht werden. Aus dieser Perspektive nimmt der Staat demnach die Rolle eines Konsumenten ein. Staaten verschaffen sich Zugang zu finanziellen Mitteln über den Kapitalmarkt, d.h. den Teil des Finanzmarktes, der mittel- und langfristigen Kapitalbedarf mit dem Kapitalangebot zum Ausgleich bringt. Staaten emittieren zu diesem Zweck regelmäßig Schuldtitel. Andere Wirtschaftssubjekte erwerben diese Schuldtitel zu Zwecken der Renditeerzielung oder zur Speicherung (Anlage) finanzieller Mittel. Wer Staatsanleihen ankauft, ist folgerichtig Gläubiger und zugleich Finanzier der betreffenden Staatshaushalte. Zentralbanken sind in den letzten Jahren zu den mit Abstand größ513

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ten Gläubigern/Finanziers von Staaten avanciert. In Europa hat sich in dieser Rolle insbesondere die Europäische Zentralbank (EZB) hervorgetan. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verbietet einen unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln durch die Europäische Zentralbank oder nationale Zentralbanken (Art. 123 AEUV). Mit diesem Verbot monetärer Staatsfinanzierung soll u.a. einem Ausufern der Staatshaushalte entgegengewirkt werden. Operationen an den Kapitalmärkten gehören aus guten Gründen nicht zum originären Aufgabenspektrum von Zentralbanken. Letzteren obliegt per Definition vielmehr eine Geldmarktpolitik mittels Steuerung der Geldmenge und der Gestaltung von Refinanzierungskonditionen für den Bankensektor. Im Zuge der sog. „Finanzmarktkrise“, die eine temporäre Vertrauenskrise in die Nachhaltigkeit der weltweit vernetzten Finanzsysteme darstellte, haben sich die Koordinaten verschoben und die Notenbanken haben sehr beherzt in das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage an Kapitalmärkten eingegriffen, indem sie zunächst einschlägige Zinsen bis auf Null und mitunter darunter, sozusagen unter Normalnull,1 regulierten und sodann höchst selbst als Staatsfinanziers in Erscheinung traten. Mit Wortgewalt („whatever it takes“2) und einer gewaltigen Aufblähung von Bilanzen in nie zuvor gesehene Größenordnungen konnten Notenbanken durch erstmals aufgelegte Ankaufsprogramme für Anleihen immerhin einer anhaltenden Erosion des Vertrauens in die Euro-Währung entgegenwirken. Um diesen Zustand zu legitimieren und in eine Nachhaltigkeit zu überführen, bedurfte es indessen einer sophistischen Auslegung des Wortlautes in Art. 123 AEUV, wonach ein „unmittelbarer“ Erwerb von Schuldtiteln nur dann gegeben sei, wenn die EZB die Papiere direkt am Primärmarkt zeichnete. Demnach solle es sich nicht um Staatsfinanzierung handeln, wenn Schuldtitel am Sekundärmarkt erworben würden. Eilfertig hat der EUGH erkannt und beschieden, dass die Ankaufsprogramme der EZB in vollem Einklang mit geltendem Recht stünden.3 Diese aus ökonomischer Sicht eigentümlich anmutende Entscheidungsfindung lässt vermuten, dass übergeordnete Gesichtspunkte eine spezielle Rechtsauslegung nahelegen – anscheinend ist

1 Ein veraltetes, amtliches Höhenmaß, das als Synonym für den Meeresspiegel dient. Geldanlagen sind wegen der Annahme eines inhärenten Zeitwertes des Geldes und unter Risikogesichtspunkten im Normalfall mit positiven Renditeerwartungen verknüpft (größer als Null). Analogien zum Medium Wasser sind im Finanzjargon nicht selten. Dies bezeugen Redewendungen über Schuldner, „denen das Wasser bis zum Halse steht“ oder hinsichtlich von Investitionen, die sprichwörtlich „ins Wasser gefallen“ bzw. „unter Wasser“ sind. 2 Ausspruch von EZB-Präsident Mario Draghi am 26.7.2012. Verbalinterventionen erfreuen sich unter Zentralbankern wie Marktteilnehmern großer Beliebtheit und entfalten meist eine größere Wirkung als die reine Steuerung mittels finanztechnischer Parameter. Alan Greenspan, früherer Präsident der Federal Reserve Bank, bezeugte 1987 vor dem US-Kongress: „Since I’ve become a central banker, I’ve learned to mumble with great incoherence. If I seem unduly clear to you, you must have misunderstood what I said.“ Quelle: https:// beruhmte-zitate.de/autoren/alan-greenspan, zuletzt abgerufen am 17.11.2020. 3 EuGH v. 11.12.2018 – C-493/17.

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Grenznutzen einer ausufernden Staatsfinanzierung zum Nulltarif

ein besonderer Nutzen mit dieser Variante der „Nicht-Staatsfinanzierung“ verbunden. Mit der Urteilsverkündung durch den EUGH wurde der ursprüngliche Ausnahmetatbestand gleichsam zementiert und zum Normalfall erhoben. Die Staatsfinanzierung durch die EZB, die de jure keine sein darf,4 wurde zu einer neuen Normalität. Kontinuierliche Anleiheankäufe durch die EZB werden mittlerweile, ebenso wie Negativzinsen, als Selbstverständlichkeiten hingenommen. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich der Begriff Neue Normalität als Synonym für neue Wirklichkeiten5 eingebürgert (im Englischen new normal). Im Folgenden soll untersucht werden, welcher Nutzen dem Staat aus einer extensiven Staatsfinanzierung erwächst und der Frage nachgegangen werden, wie der Verlauf exemplarischer Nutzenfunktionen aussehen könnte.

II. Abnehmender Grenznutzen als (konventioneller) Normalzustand

Quelle: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/grenznutzen-32826

Die obige Grafik veranschaulicht eine typische Nutzenfunktion. Nimmt man an, bei dem zu konsumierenden Gut x handele es sich um ein Glas Wein, so stellt sich mit dem Genuss der ersten Gläser Wein oftmals ein Nutzenzuwachs ein. Mit zunehmen4 Daran ändert auch das eine abweichende Rechtsauffassung spiegelnde Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG v. 5.5.2020 – 2 BvR 859/15) nichts, welches von Spitzen aus EUPolitik und -Verwaltung, salopp ausgedrückt, mit einem müden Lächeln quittiert wurde. 5 Während „alte“ Wirklichkeiten einer fortwährenden Überprüfung im Sinne eines kritischen Rationalismus standhalten mussten, um nicht widerlegt zu werden, hat es gelegentlich den Anschein, dass neue Wirklichkeiten den Anspruch erheben, sakrosankt zu sein.

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dem Konsum setzt unter normalen Umständen eine Verflachung der Nutzenkurve U bis hin zum Absturz ein. Jeder weitere Konsum wird dann sozusagen grenzwertig. Der Grenznutzen ist mathematisch als Erste Ableitung U’ der Nutzenfunktion definiert.

III. EU, Staat und Bürger In Abgrenzung zum Völkerrecht, welches Bevölkerung, Staatsgebiet und Staatsgewalt unterscheidet, bezeichnet Staat in der Ökonomie die Gesamtheit hoheitlich agierender Wirtschaftssubjekte, denen als Regierung oder Verwaltung im Rahmen ihrer allgemeinen politischen Aktivität unter anderem die Ausübung der Wirtschaftspolitik zufällt. Mit Blick auf die Staatsfinanzierung ist insbesondere die Fiskalpolitik des Staates (Haushaltsplanung, Staatsverschuldung und Wirtschaftswachstum) maßgeblich. Dehnt man den Begriff Staat auf seine Bürger als Wirtschaftssubjekte aus, kann es offenkundig keine vereinheitlichte, homogene Nutzenfunktion geben, sondern unterschiedlich gelagerte Einzelfälle, die in der vorliegenden Untersuchung nicht in toto abgehandelt werden können und sollen. Verlagert man die Betrachtungsebene nach oben und stellt auf die Europäische Union als Staatengemeinschaft ab, übt diese zwar in Analogie zum Einzelstaat ebenfalls Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen aus, überwacht den EU-Haushalt (Europäische Kommission) und formuliert politische Zielvorstellungen und Prioritäten (Europäischer Rat), verfolgt jedoch naturgemäß, aufgrund großen Institutionen grundsätzlich innewohnenden Tendenzen der Selbsterhaltung und der Machtausübung, zusätzlich Eigeninteressen. Wenn es für einen Staat schon schwierig ist, die heterogenen Interessen seiner Bürger in Summe wahrzunehmen, so hat die EU das Kunststück zu bewältigen, die Interessen aller Mitgliedstaaten in Einklang zu bringen.

IV. Grenznutzen verschiedener Wirtschaftssubjekte Wirtschaftlicher Nutzen als Bedürfnisbefriedigung setzt an Bedürfnissen an. Ein grundsätzliches Bedürfnis von Staaten zur Finanzierung ihrer Ausgaben liegt auf der Hand. Wie aber verhält es sich mit dem marginalen Nutzenzuwachs ausufernder Staatsfinanzierung, auch aus der Perspektive anderer Nutznießer? Oder anders gefragt: Cui bono? 1. Grenznutzen von Staaten als Schuldner Staaten sind auf beständige Mittelaufnahmen angewiesen, um ihre Haushalte ausgleichen zu können. Sofern Steuer- und andere laufende Einnahmen nicht ausreichen und in der Folge Haushaltsdefizite entstehen, sind sie auf externe Mittelzuflüsse angewiesen und greifen daher regelmäßig im Rahmen ihrer Fiskalpolitik auf Schuldaufnahmen am Kapitalmarkt zurück. 516

Grenznutzen einer ausufernden Staatsfinanzierung zum Nulltarif

Solange ein Mittelbedarf besteht, ist im Regelfall mit zusätzlichen Mittelaufnahmen ein vermeintlicher Nutzenzuwachs verbunden. In der (alten) Realität waren einer ausufernden Staatsfinanzierung jedoch Grenzen gesetzt. Innerhalb des Geltungsgebietes der EU wurde beispielsweise die Nichteinhaltung der in den EU-Verträgen verbrieften Obergrenzen für Staatsverschuldungen und -ausgaben sanktioniert. Unter damals normalen Umständen, d.h. funktionsfähigen, nicht durch Manipulationen verzerrten Kapitalmärkten, waren Staaten ferner aufgrund des Wechselspiels von Angebot und Nachfrage nicht in der Lage, sich zu günstigen Zinsen zu finanzieren, sofern ihre Schulden ein Maß überstiegen, das Anleger an ihrer Fähigkeit zur Rückzahlung zweifeln ließ. Insgesamt war daher bislang davon auszugehen, dass es einen Grenzbereich gäbe, in welchem jede weitere Staatsverschuldung mit „Strafmaßnahmen“ (Sanktionen, höhere Zinsen, Staatspleite) belegt wird. Vor dem Hintergrund „alter Normalität“ wäre insoweit kein linear ansteigender Verlauf der Nutzenkurve zu erwarten, sondern ein abnehmender Grenznutzen. Im Zeitalter Neuer Normalität spielt die Bonität des EU-Einzelstaates anscheinend eine untergeordnete Rolle. Zumindest, solange seitens vieler Beteiligter hinreichendes Vertrauen in eine Tragfähigkeit des Zentralbankensystems gegeben ist. Wo Risiken ausgeblendet werden, Sanktionen ausbleiben und Strafzinsen aufgrund der ultralockeren Geldpolitik nicht mehr ins Gewicht fallen, stellt sich indes ein verändertes Konsumverhalten ein. Bleibt man im Bild des Trinkers, so wird dessen Nutzenfunktion steiler verlaufen, wenn sein persönliches Ausfallrisiko (Volltrunkenheit) eliminiert wird, Sanktionen (Führerscheinentzug) wegfallen und sich vermeintliche Kosten in Erträge wandeln (Freibier). Versetzt man sich zum Beispiel in die Lage von Staaten wie Griechenland oder Italien, die in jüngerer Vergangenheit im Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit standen, wurden deren Nutzenfunktionen trotz erheblicher Krisensymptome durch Beihilfe der EZB zielgerichtet modelliert und am hinteren Ende angehoben. Denn mit den Ankäufen derer Staatsanleihen durch die Zentralbank wurde (auch potenziellen) Anlegern suggeriert, die EZB stehe für jedwede Ausfallrisiken ein. Die Finanzierungskosten sind in der Folge erheblich gesunken. Die Rendite 10-jähriger italienischer Staatsanleihen beläuft sich derzeit auf unter 1 %. Andere Staaten bekommen für ihre Schuldaufnahmen sogar einen Zins ausbezahlt.6 Die Versuchung dürfte daher groß sein, (stets) vorhandene Begehrlichkeiten durch immer höhere Mittelaufnahmen zu befriedigen. Um beurteilen zu können, ob solche Begehrlichkeiten eine immer ungezügeltere Schuldenaufnahme rechtfertigen, bedarf es, neben dem Nutzen, der Einbeziehung eines komplementären Faktors, dem Risiko. In der Ökonomie ist es üblich, wirtschaftlichem Nutzen Risikoerwägungen gegenüber zu stellen. Früher, d.h. vor Anbrechen der Neuen Normalität, war man aus Gläubigersicht geneigt, höhere Risiken mit der Erwartung (Forderung) korrespondierender höherer Zinssätze (Risikoaufschläge) zu verbinden. Zur methodischen Unterfütterung dieses heute beinahe nostalgisch anmutenden, jedoch bei näherem Hin6 Zur gleichen Zeit (Oktober 2020) notierten 10-jährige Bundesanleihen bei –0,5 %.

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sehen nicht gänzlich unberechtigten Anliegens hatte die herkömmliche Ökonomie entsprechende Modellansätze bereitgestellt (so z.B. das Capital Asset Pricing Model). Marktteilnehmer forderten auf der Grundlage solcher Modelle Risikoaufschläge in Form von höheren Zinssätzen ein, die an die Bonität der Schuldner angelehnt waren. Finanzierungskosten im Allgemeinen setzten sich dann aus einer risikolosen Sockelrate und einem spezifischen Risikoaufschlag zusammen. In der Praxis wurde diese risikolose Sockelrate hierzulande in Höhe der Umlaufrendite für Bundesanleihen bemessen, die gemeinhin mit bester Bonität und bestem Rating verbunden waren. Der spezifische Risikoaufschlag resultierte aus dem Grad der Abweichung von dieser „Eich-Bonität“. Bei Staatsanleihen bestimmte modellgemäß deren spezifisches Ausfallrisiko die Höhe des Risikoaufschlages. Die Nullzinspolitik der EZB (und anderer Notenbanken) hat – in Verbindung mit der „Nicht-Staatsfinanzierung“ durch Anleihekäufe – dazu geführt, dass spezifischen Ausfallrisiken kaum mehr Rechnung getragen wird und in der Folge eine Entkoppelung der Kosten der Staatsfinanzierung und der impliziten Risiken aus Gläubigersicht stattfand. Selbst Staaten mit geringer Bonität können sich heutzutage aufgrund dessen quasi zum Nulltarif finanzieren. Ihre Nutzenfunktionen kennen seitdem de facto keinen abnehmenden Grenznutzen. Unterstellt man, dass Gläubiger rational handelnde Wirtschaftssubjekte sind, müssten die aktuellen Renditen/Zinsen Äquivalente für erwartete Ausfallrisiken widerspiegeln. Offenbar besteht die Erwartung, dass die EZB und vermeintlich potente Staaten, welche zum Eigentümerkreis der Notenbank zählen, jederzeit für weniger kreditwürdige Adressen ausreichend haften werden. Anleger hatten bereits während und nach der sog. „Finanzkrise“ Vertrauen in diesen Haftungsverbund gesetzt, der seitdem in ungeahnte Risikokategorien vorstößt und spätestens mit den seit März 2020 aufgesetzten neuerlichen „Hilfsprogrammen“ astronomische Ausmaße erreichte.7 In der Zusammenfassung ergibt sich für EU-Staaten ein Zustand, welcher auf unbestimmte Zeitdauer steigende Nutzenfunktionen der Staatsfinanzierung nahelegt und auf einen über den Kurvenverlauf anhaltend positiven Grenznutzen immer weiterer Schuldenaufnahmen schließen lässt. Unterstellt man zudem, dass die Kostenfunktion der Geldproduktion durch Notenbanken (Gläubiger) relativ flach verläuft, da die Ausweitung der Geldmenge („Anwerfen der Druckerpresse“) abgesehen von externen Kosten bzw. Kollateralschäden (z.B. Vertrauenserosion in den Euro, Hyperinflation, Währungsreformen) nur unwesentliche Produktionskosten mit sich bringt, ist von einer weiteren Ausweitung der Staatsfinanzierungsaktivitäten (nicht durch die EZB, die bekanntlich keine Staatsfinanzierung betreibt) auszugehen. In der neuen Normalität findet das „Gesetz“ vom abnehmenden Grenznutzen im vorliegenden Fall jedenfalls bis auf Weiteres keine Anwendung.

7 In Analogie zur Astronomie bietet sich das Bild einer Supernova an.

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Grenznutzen einer ausufernden Staatsfinanzierung zum Nulltarif

2. Grenznutzen von Gläubigern Eine sich ständig ausweitende Staatsverschuldung mit Alimentierung durch die Notenbanken setzt angebotsseitig ein korrespondierendes Anlegerinteresse voraus, d.h. die Bereitschaft und Fähigkeit, überschüssige finanzielle Mittel immer wieder neu zu investieren. Seit längerer Zeit sehen die Preise für sämtliche Vermögensgegenstände nur eine Richtung: nach oben. Die exzessive, globale Geldmengenausweitung der Notenbanken hat nicht nur Anleihemärkte mit Liquidität geflutet. Auch Aktien und Immobilien erfreuen sich rundum wachsender Beliebtheit, wenngleich Zentralbanken in diesen Segmenten vielfach noch Zurückhaltung üben. Eine, von den Zentralbanken öffentlichkeitswirksam herbeigesehnte Inflation wurde längst Realität in Form von Preisblasen an allen Anlagemärkten (sogenannte Asset Inflation). Für die nähere Zukunft kann davon ausgegangen werden, dass es ausreichend Gläubiger für Staatsanleihen geben wird – und seien es allein die Federal Reserve Bank, die EZB oder die Bank of Japan. Zwar könnte eine ungebührliche8 Aufblähung der Geldmenge im Euroraum eine Abwertung des Euros gegenüber anderen Leitwährungen zur Folge haben, jedoch agieren die übrigen Notenbanken einschließlich der Bank of China nach dem gleichen Muster, so dass ein wechselseitiger Abwertungsdruck besteht, der den Wertverfall einer einzelnen Währung verdeckt („Win-Win-Situation“). Eine ausufernde Staatsfinanzierung zum Nulltarif oder sogar unter Normalnull könnte daher absehbar Normalität bleiben. Ihr Grenznutzen aus Gläubigersicht tendiert allerdings langfristig gegen Null.9 Denn bei immer höheren Negativzinsen, stetig wachsenden Ausfallrisiken und womöglich realen Ausfällen ist auf Dauer kein Nutzenzuwachs mehr zu erwarten. Vielmehr wird irgendwann ein negativer Grenznutzen zu verzeichnen sein. Sollte eine kritische Masse von Gläubigern einen negativen Grenznutzen aufweisen, kollabiert das weltweit vernetzte Finanzsystem unter der Last der kumulierten Schuldenberge. An diesem Punkt sollten sich jegliche Spekulationen über weiteren Grenznutzen erübrigen.10

8 Es wird Historikern vorbehalten bleiben, diesen Begriff quantitativ anzureichern. 9 Doch was heisst das schon? „In the long rund, we are all dead“ wusste John Maynard Keynes, einst gut beleumundeter Ökonom, welcher in Zeiten neuer Normalität von Verfechtern der Modern Monetary Theory (MMT), einer Strömung des Postkeynesianismus, welche Ausweitungen der Geldmenge eine omnipotente Relevanz zuspricht, in den Schatten gestellt wird. 10 Hypothetisch divergieren Nutzenfunktionen in diesem Moment. Um eine weitere Analogie zur Astronomie zu bemühen, würde diese Situation einer Singularität gleichen (Ausnahmezustand bei unendlicher Krümmung der Raumzeit), in der ökonomische Größen nicht mehr definiert sind. Einem drohenden Zusammenbruch des Finanzsystems könnte indes mit etwas gutem Glück eine Technologische Singularität abhelfen, dem von Anhängern eines Technischen Imperativs herbeigesehnten Zeitpunkt, an dem technische die menschliche Intelligenz übertrifft.

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3. Übergeordnete Nutzenabwägungen Die vorangegangenen Überlegungen sind naturgemäß modellhaft. Sie legen nahe, dass Staaten unter den gegebenen Umständen wenig gewillt sind, auf eine Ausweitung ihres finanziellen Mittelbedarfs zu verzichten. Angebotsseitig wird die expansive Fiskalpolitik von Zentralbanken begleitet, die darüber hinaus auch die Geldpolitik expansiv gestalten. Die überschüssige Liquidität drängt in vermeintlich sichere Anlagen, solange damit verbundene Risiken gering geschätzt werden. Es lässt sich trefflich darüber streiten, inwieweit solches Verhalten ökonomisch in irgendeiner Weise rational ist. Dessen ungeachtet muss eine wachsende Belastung des globalen Finanzsystems mit krisenhaften Auswüchsen nicht unbedingt nur Anlass zur Sorge geben. Sie könnte vielmehr chancenhafte Entwicklungen aus Sicht derjenigen Subjekte mit sich bringen, die etwa in solchen Krisen Katalysatoren sehen, welche etwa den Zusammenhalt der Europäischen Union bestärken11. Wenn tatsächlich Wirtschafts- und Finanzsysteme an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit geführt werden, mag dies zwar ökonomischen oder sozialen Erwägungen entgegenlaufen, könnte aber politischen und/oder hegemonialen Partikularinteressen zum Nutzen gereichen. In diesem Lichte besehen, folgt die nahezu grenzenlose Alimentierung der ausufernden globalen Schuldenberge durch Zentralbanken, ebenso, wie die wohlwollende Überprüfung dieses Gebarens seitens supranationaler Gerichtsbarkeiten, womöglich einer übergeordneten Zielgerichtetheit, einer höheren Gewalt im nichtjuristischen Sinne.

V. Globale Sicht und Ausblick Dem Nationalökonomen Ludwig von Mises (1881–1973) wird der Satz zugeschrieben: „Es gibt keinen Weg, den finalen Kollaps eines Booms durch Kreditexpansion zu vermeiden. Die Frage ist nur, ob die Krise früher durch freiwillige Aufgabe der Kreditexpansion kommen soll, oder später zusammen mit einer finalen und totalen Katastrophe des Währungssystems“. Mit der Globalisierung hat der Grad der Vernetzung und Interdependenz von Volkswirtschaften und Währungsräumen derart gravierend zugenommen, dass man heute mit Blick auf die Prozesse an Geld- und Kapitalmärkten von einem globalen Finanzsystem sprechen kann.12 Einst gegeneinander abgegrenzte Märkte und Volkswirtschaften weisen in der Endphase der Globalisierung konstituierende Merkmale einer 11 „Vor allem braucht es heute den Mut, den wir in der Krise 2010 nicht hatten, um endlich zu mehr Integration in der Eurozone zu kommen. Wir dürfen die Chance nicht wieder verpassen, sondern müssen die Disruption entschlossen nutzen, über den Europäischen Wiederaufbaufonds jetzt die Währungsunion zu einer Wirtschaftsunion auszubauen.“ Wolfgang Schäuble in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 5.7.2020. 12 Kennzeichen eines globalen Zusammenwirkens sind z.B. das weltweite Zahlungssystem SWIFT, die internationale Vernetzung von Handelsplätzen, eine signifikante Korrelation von Börsennotierungen sowie konzertierte Aktionen von Notenbanken oder der G30.

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Grenznutzen einer ausufernden Staatsfinanzierung zum Nulltarif

vereinheitlichten Struktur auf, zwar nicht unbedingt im ontologischen Sinne einer Ordnung, jedoch wenigstens als eine Art von Schicksalsgemeinschaft. Ein Seitenblick zur Physik veranschaulicht die grundlegende Problematik, wenn Wachstum auf natürliche Grenzen stößt: In geschlossenen Systemen tendieren Prozesse zu einem sich aufbauenden Korrekturdruck, der sich mangels ausgleichender „Ventilation“ in Form von mehr oder weniger disruptiven Krisen entlädt.13 Mit der Einführung des Euros wurde den an der Gemeinschaftswährung teilnehmenden Staaten die Möglichkeit genommen, ihre Währungen abzuwerten und somit heimische Produkte in Relation zu anderen Märkten attraktiver zu machen. Das hat ihre Wettbewerbsfähigkeit und mithin Bonität teils nachhaltig geschwächt. Die seit geraumer Zeit akzelerierende Verlagerung von Ausfallrisiken und Finanzierungslücken auf die EZB stellt Schuldentragfähigkeiten auf immer schmalere Schultern und konzentriert Haftungsrisiken in einem Maße, welches bei Gründung der EU noch kategorisch ausgeschlossen wurde. Die großen Notenbanken der Welt betreiben allesamt Ausweitungen der Geldmengen mit der Folge wachsender Verschuldung. Das hält die unterschiedlichen Währungsräume in einem wechselseitigen Geflecht von Abwertungstendenzen und kann in ein dauerhaft erodierendes Vertrauen in das herkömmliche Geldsystem mit begleitenden Erscheinungen (z.B. Hyperinflation, Währungsreformen, Einführung einer digitalen Weltwährung) münden. Wenn effektive Regelungsmechanismen (Zinssätze als Risikoäquivalente, Beachtung von Bonitäten, Marktmechanismen, etc.) längerfristig außer Kraft gesetzt sind, nehmen Abläufe zunehmend chaotische Formen an. Das weltweite Finanzsystem sieht sich dann womöglich mit Auswüchsen konfrontiert, die ökonomisches Neuland darstellen und experimentellen Charakter aufweisen. Ein totaler Zusammenbruch14 und eine anschließende komplette Neuordnung15 sind nicht auszuschließen. Jedenfalls nicht, wenn man Maßstäbe anlegt, wie sie vormals von Ökonomen wie Ludwig von Mises (s.o.) geäußert wurden. Falls mittels gezielter Steuerung über altbewährte Parameter kaum mehr Abhilfe in Aussicht stehen sollte, hilft es vielleicht, die Perspektive zu wechseln und auf eine neue Sicht der Zusammenhänge abzuheben. Ein veränderter Blickwinkel enthüllt bisweilen neue Interpretationen von Wirklichkeiten, wie sie beispielsweise die Modern Monetary Theory (Moderne Geldtheorie) anbietet, welche interventionistischen Staatsaus-

13 In der Physik nimmt in einem abgeschlossenen System Entropie (Zustand der Unordnung) zu. 14 Nach der Chaostheorie gelangt ein nichtlineares, zunehmend chaotisches System an einen Bifurkationspunkt, dem eine plötzliche, qualitative (a priori nicht vorhersagbare) Zustandsänderung folgen kann. 15 Vorbereitungen auf eine möglicherweise radikale Neuordnung zeichnen sich ab. So erwägt die EZB konkret die Einführung eines digitalen Euros. Das World Economic Forum bereitet für 2021 vorsorglich einen Great Reset der weltweiten Wirtschaft vor. Andere sprechen von einem Green New Deal.

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gaben in Kombination mit einer grenzenlosen Geldschöpfung durch Notenbanken das Wort redet. Selbst wenn solche Konzepte scheitern, bergen sie implizit Chancen, das entstehende Chaos für politische und gesellschaftliche Neuordnungen zu nutzen, deren Realisierung ansonsten kaum denkbar wäre. Inwieweit auf solche Weise induzierte Weichenstellungen Nutzen stiftende Wirkungen entfalten könnten oder aber unter dem Strich Moral Hazard16 und Partikularinteressen begünstigen, bleibt zukünftigen Analysen vorbehalten.

16 Risikoverstärkende Fehlanreize.

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Die Verbandsverantwortlichkeit im Entwurf des Verbandssanktionengesetzes: Der „Sündenfall“ des § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E und die Abkehr vom Schuldprinzip Anne Wehnert

Inhaltsübersicht I. Die Ausweitung strafrechtlicher Verbandsverantwortlichkeit nach dem VerSanG-E 1. Rechtfertigung einer Verbandsverantwortlichkeit de lege lata (§ 30 OWiG) 2. Verbandsverantwortlichkeit nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E: „Aufsichtsdefizitskausalität“ statt Verschulden einer Leitungsperson

3. Keine Legitimation einer Verbandssanktionierung durch „Verbandstaten“ von Nicht-Leitungspersonen II. Der Abwägungsprozess des 2. WiKG III. Aktuelle Kritik des Bundesrats IV. Fazit

„Juristische Personen „stehen auf dem Papier“ und treten daher nur durch ihre Organe, Mitarbeiter und sonstigen Vertreter in die Lebens- und Rechtswirklichkeit.“ So leitete der Jubilar im Jahr 2017 einen Beitrag1 ein, in dem er sich der grundlegenden Frage der „Wissenszurechnung in Unternehmen“ widmete und konkret anlässlich einer Entscheidung des VI. Zivilsenats des BGH vom 28.6.20162 untersuchte, unter welchen Voraussetzungen einer Gesellschaft über die Vorschrift des § 31 BGB das zur Ausfüllung des § 826 BGB erforderliche Wissen und Wollen einer oder mehrerer Personen zugerechnet werden könne. Die gewonnenen Erkenntnisse stellte der Jubilar sodann den Zurechnungsvorschriften anderer Rechtsbereiche gegenüber; für das Ordnungswidrigkeitenrecht mit der Feststellung, dass § 30 OWiG dort nicht nur Wissenszurechnung, sondern eine Tatzurechnung im Ganzen ermögliche.3 Das Strafrecht beschäftigt sich in diesem Zusammenhang auch bereits seit Langem mit der Frage, inwiefern das Handeln natürlicher Personen zur Begründung einer sanktionsrechtfertigenden Verbandsverantwortlichkeit herangezogen werden kann. In Anbetracht des vormals als unverrückbar geltenden Grundsatzes societas delinquere non potest knüpften die Überlegungen jahrzehntelang an § 30 OWiG als „bußgeldrechtliche Haftungsnorm“4 für juristische Personen an.

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Reuter, ZIP 2017, 310. BGH v. 28.6.2016 – VI ZR 536/15, ZIP 2016, 310. Reuter, ZIP 2017, 310, 314. Meyberg in BeckOK OWiG, 28. Ed. 2020, § 30 OWiG Rz. 17; vgl. zur Rechtsnatur der Vorschrift auch Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2020, § 30 OWiG Rz. 2, jeweils m.w.N.

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Anne Wehnert

Die strafrechtliche Debatte um die Verantwortlichkeit des Verbandes „für“ eine Delinquenz seiner Repräsentanten und daran anknüpfende Sanktionsfolgen verlief – und verläuft – dabei innerhalb und angesichts des Rahmens, den das Verfassungsrecht dem Strafrecht, einer Grundsatzentscheidung des BVerfG vom 25.11.1966 folgend, vorgibt. Das BVerfG judizierte: „Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes (BVerfGE 1, 14 ff., Leitsatz 28). Zur Rechtsstaatlichkeit gehört nicht nur die Rechtssicherheit, sondern auch die materielle Gerechtigkeit (BVerfGE, 7, 89 [92]; 7, 194 [196]). Die Idee der Gerechtigkeit fordert, daß der Tatbestand und die Rechtsfolge in einem sachgerechten Verhältnis zueinander stehen. […] Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Andernfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat. Die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG […].“5 Mit Blick auf juristische Personen ergänzt das BVerfG weiter: „Die juristische Person ist als solche nicht handlungsfähig. Wird sie für schuldhaftes Handeln im strafrechtlichen Sinne in Anspruch genommen, so kann nur die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgebend sein.“6 Die Vergegenwärtigung dieser – zugestanden – einige Zeit zurückliegenden Entscheidung lohnt, da ihre Ausführungen bis heute gelten.7 Während das BVerfG seinerzeit allerdings noch offen ließ, ob außer den Organen eines Verbandes auch weitere Personen als „verantwortlich handelnde“ Personen (s.o.) in Betracht kommen mögen („etwa Prokuristen, Handlungsbevollmächtige, leitende Angestellte“),8 konkretisierte eine jüngere Entscheidung den Kreis der Anknüpfungstäter mit Blick auf § 890 ZPO dahingehend, dass bei juristischen Personen das Verschulden der „für sie verantwortlich handelnden Personen i.S. des § 31 BGB maßgebend“ sei.9 Im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht wurde hingegen der Gesetzgeber tätig und erweiterte den Anwendungsbereich des § 30 OWiG durch das 2. Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität vom 27.6.199410 erheblich, indem in den Personenkreis, dessen Straftat oder Ordnungswidrigkeit eine Geldbuße gegen das Unternehmen auslösen kann, Generalbevollmächtigte sowie Prokuristen und Handlungsbevollmächtigte in leitender Stellung einbezogen wurden. Zugleich wurde der Täterkreis in § 130 OWiG im Sinne von § 9 OWiG erweitert und die Anwendbarkeit auf Fälle erstreckt,

5 BVerfG v. 25.10.1966 – 2 BvR 506/63, GRUR 1967, 213, 215. 6 BVerfG v. 25.10.1966 – 2 BvR 506/63, GRUR 1967, 213, 216. 7 Vgl. auch LAG Düsseldorf v. 20.1.2015 – 16 Sa 459/14, NZKart 2015, 277, 279, „Auch die Verhängung von Unternehmensbußgeldern basiert auf dem Schuldprinzip“. 8 BVerfG v. 25.10.1966 – 2 BvR 506/63, GRUR 1967, 213, 216. 9 BVerfG v. 4.12.2006 – 1 BvR 1200/04, GRUR 2007, 618, 619. 10 BGBl. I, Nr. 40 v. 5.7.1994, 1440.

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Die Verbandsverantwortlichkeit im Entwurf des Verbandssanktionengesetzes

in denen der Gesetzesverstoß durch gehörige Aufsicht „wesentlich erschwert“ worden wäre.11 Dieses über Jahre austarierte Regelungskonzept wird durch den von Seiten der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes (VerSanG-E12), zu dem auch der Jubilar kürzlich Stellung nahm,13 infrage gestellt, indem der Gesetzgeber im VerSanG-E die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verbandsverantwortlichkeit unter Aufgabe des Schuldprinzips begründet.

I. Die Ausweitung strafrechtlicher Verbandsverantwortlichkeit nach dem VerSanG-E Überraschend und ohne jeglichen Begründungsaufwand wendet sich der Gesetzentwurf in einem zentralen Punkt des VerSanG-E – nämlich der Regelung zur Begründung einer (eine Verbandssanktion auslösenden) Verbandsverantwortlichkeit (§ 3 Abs. 1 VerSanG-E) – von dem bislang in Stein gemeißelten Grundsatz ab, dass die Legitimation zur Verhängung einer Verbandssanktion in der Verantwortlichkeit des Verbandes für deliktisches Verhalten seiner Repräsentanten liege. 1. Rechtfertigung einer Verbandsverantwortlichkeit de lege lata (§ 30 OWiG) Während mit Blick auf die dogmatische Herleitung einer Verbandsverantwortlichkeit ein seit Jahrzehnten geführter Meinungsstreit im Schrifttum anhält,14 knüpft das de lege lata bestehende Regime der Verbandssanktionierung nach den §§ 30, 130 OWiG eine sanktionsbegründende Verbandsverantwortlichkeit zwingend an die Delinquenz ausgewählter natürlicher Personen an, nämlich solcher Verbandsmitglieder, die im Verband mit einer Verantwortlichkeit von erheblichem Gewicht ausgestattet sind.15 Die Verbandsgeldbuße wird wegen eines Normbruchs verhängt, der unmittelbar von Repräsentationsorganen des Verbandes begangen worden ist. 11 BGBl. I, Nr. 40 v. 5.7.1994, 1440, 1444. 12 Im Nachfolgenden wird mit der Bezeichnung „VerSanG-E“ der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität der Wirtschaft v. 21.10.2020 in Bezug genommen, BT-Drs. 19/23568. 13 Vgl. zur Fassung des Regierungsentwurfs v. 16.6.2020, Strenger/Redenius-Hövermann/Reuter, ZIP 2020, 1160; vgl. auch Strenger/Redenius-Hövermann/Reuter, Stellungnahme zum Entwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“ aus gesellschaftsrechtlicher Sicht, Entwurf und Stellungnahme jeweils abrufbar unter: https://www.bmjv. de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.html, letzter Abruf: 24.11.2020; Reuter in FS Thümmel, 2020, S. 673. 14 Zum Ganzen, vgl. Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 30 OWiG Rz. 2 ff.; Niesler in Graf/ Jäger/Wittig, 2. Aufl. 2017, § 30 OWiG Rz. 3; von Galen/Maass in Leitner/Rosenau, 2017, § 30 OWiG Rz. 2, jeweils m.w.N. 15 Vgl. nur den Auffangtatbestand des § 30 Abs. 1 Nr. 5 OWiG, „jemand […] als sonstige Person, die für die Leitung des Betriebs oder Unternehmens einer juristischen Person […] verantwortlich handelt.“

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Die nach geltendem Recht erfolgende Anknüpfung der Verbandsverantwortlichkeit an ein normwidriges Organ- oder Vertreterverhalten gewährleistet die verfassungsrechtlichen Anforderungen (s.o.) an die Verbandssanktionierung.16 Der Normbruch des Repräsentanten ist es, auf den mit der Verbandsgeldbuße reagiert wird. Eine fehlende (Mit-)Verantwortlichkeit des Verbandes, etwa aufgrund eines grundsätzlich rechtstreuen „tone from the top“ oder vorhandener Compliancestrukturen, vermag die Sanktion de lege lata nicht auszuschließen. Vorhandene Compliance-Strukturen stellen nur Zumessungskriterien für eine Verbandssanktion dar. Bei der Verknüpfung der Verbandsverantwortlichkeit mit einem normwidrigen Repräsentantenverhalten handelt es sich bis heute um ein verfassungsrechtlich bedingtes Dogma, das bei der Einführung eines Verbandssanktionengesetzes mit den damit einhergehenden verschärften Haftungsfolgen nicht gelockert werden dürfte, sondern zwangsläufig besonders beachtet werden müsste. Rogall, auf dessen Kommentierung der §§ 30, 130 OWiG in der Entwurfsbegründung zum VerSanG-E vielfach verwiesen wird, vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass der Einführung einer strafrechtlichen Unternehmenshaftung im Prinzip zwar keine – auch keine verfassungsrechtlichen – Bedenken entgegenstehen würden, auch wenn die kriminalpolitische Zweckmäßigkeit eines solchen Vorhabens fraglich sei und nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür bestünden, dass sich das bestehende System einer bußgeldrechtlichen Haftung nicht bewährt hätte („Never change a winning team“).17 Er weist aber ausdrücklich darauf hin, dass auch eine solche strafrechtliche Unternehmenshaftung nach wie vor an Verfehlungen eines engen Kreises von „Leitungs- oder Kontrollpersonen“ anknüpfen müsse.18 2. Verbandsverantwortlichkeit nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E: „Aufsichtsdefizitskausalität“ statt Verschulden einer Leitungsperson Mit diesen Grundsätzen brechend, gibt § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E im weit überwiegenden Umfang des bisherigen Anwendungsbereichs des § 30 OWiG, nämlich im Bereich der deliktischen Aufsichtspflichtverletzung einer Leitungsperson des Verbandes als Anknüpfungstat, die Legitimation zur Verhängung einer Verbandssanktion auf.19

16 Vgl. Förster in Rebmann/Roth/Herrmann, 28. Egl. 2019, Vor § 30 OWiG Rz. 9; hinsichtlich der gesetzgeberischen Intention, vgl. BT-Drs, 10/318, S. 39 f.; BT-Drs. 12/192, S. 32. 17 Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 30 OWiG Rz. 288 m.w.N. 18 Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 30 OWiG Rz. 287. 19 Vgl. hierzu bereits, Stellungnahme des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer (Strauda), abrufbar unter: https://www.brak.de/zur-rechtspolitik/stellungnah men-pdf/stellungnahmen-deutschland/2020/juli/stellungnahme-der-brak-2020-33.pdf, letzter Abruf: 24.11.2020.

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Die Verbandsverantwortlichkeit im Entwurf des Verbandssanktionengesetzes

§ 3 Abs. 1 VerSanG-E lautet: (1) Gegen einen Verband wird eine Verbandssanktion verhängt, wenn jemand 1. als Leitungsperson dieses Verbandes eine Verbandstat begangen hat oder 2. sonst in Wahrnehmung der Angelegenheiten des Verbandes eine Verbandstat begangen hat, wenn Leitungspersonen des Verbandes die Straftat durch angemessene Vorkehrungen zur Vermeidung von Verbandstaten wie insbesondere Organisation, Auswahl, Anleitung und Aufsicht hätten verhindern oder wesentlich erschweren können. In der Praxis der (ordnungswidrigkeitenrechtlichen) Verbandssanktionierung de lege lata ist die Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG die mit Abstand bedeutsamste Anknüpfungstat des § 30 OWiG.20 Nur in seltenen Fällen spielen andere Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von Leitungspersonen (i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 1-5 OWiG) durch die Pflichten, welche die juristische Person treffen, verletzt worden sind oder die juristische Person bereichert worden ist, eine Rolle.21 Diese Tatsache greift auch die Begründung des Gesetzentwurfs auf, wird dort doch ausdrücklich auf die besonders wichtige Rolle hingewiesen, die die Verletzung der Aufsichtspflicht von Leitungspersonen in Unternehmen als Anknüpfungstat für die Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG in der Praxis spiele.22 Weil § 130 OWiG eine betriebsbezogene Ordnungswidrigkeit im Sinne von § 30 OWiG darstellt (und dadurch der Haftungsdurchgriff auf das Unternehmen ermöglicht wird), scheidet sie nach der Logik des VerSanG-E als Ansatz für die Unternehmenshaftung aus. Denn eine Verbandsverantwortlichkeit ist in § 3 Abs. 1 VerSanG-E nur bei Verbandstaten (legaldefiniert in § 2 Abs. 1 Nr. 3 VerSanG-E als eine Straftat, durch die Pflichten, die den Verband treffen, verletzt worden sind oder durch die der Verband bereichert worden ist oder werden sollte) festgeschrieben, mithin bei Straftaten, nicht „bloßen“ Ordnungswidrigkeiten. Hierzu heißt es in der Begründung auch ausdrücklich:23 „Die Vorschrift (scil: § 3 VerSanG-E) regelt die Voraussetzungen für die Verhängung einer Verbandssanktion. Sie gilt anders als § 30 OWiG nicht für Ordnungswidrigkeiten von Leitungspersonen.“ Vermutlich, weil noch davor zurückgeschreckt wurde, Aufsichtspflichtverletzungen von Organträgern pauschal zu Straftaten umzugestalten, musste als Anknüpfungstat

20 Vgl. von Galen/Maass in Leitner/Rosenau, 2017, § 130 OWiG Rz. 1; Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 30 OWiG Rz. 92; Achenbach, NZWiSt 2012, 321, 323; Achenbach in Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2019, 1. Teil, 3. Kapitel Rz. 38, „kennzeichnendes Instrument des deutschen Rechts der unternehmensbezogenen Sanktionen“; Adam, wistra 2003, 285, 287. 21 Vgl. die Beispiele bei Dierlamm, CCZ 2014, 194: vorsätzliche Steuerhinterziehung oder eine Korruptionstat durch ein Organ. 22 BT-Drs. 19/23568, S. 46. 23 BT-Drs. 19/23568, S. 65.

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für die Verbandssanktion von dem (keine Verbandstat darstellenden; s.o.) Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 130 OWiG auf die Ebene der dahinterliegenden Verbandstat ausgewichen werden. Die Regelung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E stellt diese Hilfskonstruktion dar. Danach verzichtet der Entwurf in § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E hinsichtlich dieser in der Praxis relevantesten „klassischen“ Fallgruppe einer Verbandsverantwortlichkeit nunmehr – und entgegen der dahergebrachten Grundsätze (s.o.) – auf das Erfordernis deliktischen Handelns der Leitungsperson im Kontext einer unterlassenen Aufsichtsmaßnahme und lässt es ausreichen, dass die Verbandstat einer Nicht-Leitungsperson durch Aufsichtsmaßnahmen erschwert oder verhindert worden wäre. Die Bezugstat für die Verbandssanktion wird damit vom Handeln der Leitungsperson „umgehängt“ auf die „volldeliktische“ Verbandstat einer Nicht-Leitungsperson. Statt einer Aufsichtspflichtverletzung24 nach Art des § 130 OWiG (vorsätzliches oder fahrlässiges Unterlassen von erforderlichen Aufsichtsmaßnahmen) lässt das VerSanG-E für die identische Problemstellung eine schlichte Aufsichtsdefizitskausalität genügen, um eine Verbandsverantwortlichkeit (und -sanktionierung) zu begründen. Ohne diesen Paradigmenwechsel unter dem Aspekt des Schuldstrafrechts als solchen zu benennen und erst recht ohne diesen zu begründen heißt es im Entwurf apodiktisch:25 „Nicht erforderlich ist im Unterschied zu § 130 OWiG, dass die Leistungsperson die Aufsichtsmaßnahme vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat. Die Anknüpfung der Verbandsverantwortlichkeit erfolgt an die volldeliktisch begangene Verbandstat. Das Unterlassen von Vorkehrungen ist objektiv festzustellen.“ 3. Keine Legitimation einer Verbandssanktionierung durch „Verbandstaten“ von Nicht-Leitungspersonen Während es nach §§ 30, 130 OWiG zur Begründung einer Verbandsgeldbuße erforderlich ist, dass der Täter (Leitungsperson) die Gefahr einer betriebstypischen Zuwiderhandlung in einem bestimmten Pflichtenkreis erkannt hat oder hätte erkennen können, ist ein solches Erfordernis in § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E für die Verhängung einer Verbandssanktion nicht vorgesehen. Hierdurch tut sich zunächst ein Wertungswiderspruch im Verhältnis zu der weiterhin gültigen Systematik der §§ 30, 130 OWiG auf. Deren Anwendungsbereich sollen künftig diejenigen Fälle unterfallen, denen nicht Verbandstaten (Straftaten), sondern Ordnungswidrigkeiten als Anknüpfungstaten zugrunde liegen. Anders jedoch als nach dem Regime des VerSanG-E erfordert eine Verbandsgeldbuße nach §§ 30, 130 OWiG ein schuldhaftes Unterlassen der Aufsichtspflicht durch die Leitungsperson; für geringere Verstöße auf Ebene des Ordnungswidrigkeitenrechts und hieran an24 Vgl. z.B. Beck in BeckOK OWiG, 28. Ed. 2020, § 130 OWiG Rz. 38; Krenberger/Krumm, 6. Aufl. 2020, § 130 OWiG Rz. 16; Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 74. 25 BT-Drs. 19/23568, S. 67.

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knüpfende Verbandsgeldbußen bestehen damit strengere Anforderungen als für die Verhängung einer deutlich schwerer wiegenden Verbandssanktion. Gravierender ist freilich ein anderer Punkt: In dem Erfordernis eines vorsätzlichen oder fahrlässigen Unterlassens von Aufsichtsmaßnahmen (§ 130 OWiG) liegt das entscheidende Argument zur Begründung einer eigenen Verbandsverantwortlichkeit, nämlich in der Transformationsfunktion des § 30 OWiG, die darin besteht, den gegenüber den Organen erhobenen Vorwurf verbandsadäquat zu übersetzen.26 Während bei § 130 OWiG die verbandsbezogene Zuwiderhandlung (durch einen Dritten) eine objektive Bedingung der Ahnung darstellt,27 soll ein entsprechendes Fehlverhalten nun – jetzt als Verbandstat – zur neuen eigenständigen Anknüpfungstat avancieren und die deliktische Aufsichtspflichtverletzung der Leitungsperson als Voraussetzung ersetzen. Verstärkt werden diese Friktionen durch zwei weitere zusammenhängende Aspekte: Zum einen soll, – wie auch bei § 130 OWiG – ausweislich der Entwurfsbegründung nicht einmal zwingend eine Betriebsangehörigkeit dieser Nicht-Leitungspersonen erforderlich sein, sondern eine nur vorübergehende Betrauung mit Aufgaben des Betriebes ausreichen, womit sich die Haftungsfolge für den Verband unter dem Aspekt der vermeintlichen „kriminellen Verbandsattitüde“28 als noch weniger nachvollziehbar erweist. Es kann als ausgeschlossen gelten, dass durch die Straftat beispielsweise eines beauftragten Sachverständigen, sich überhaupt irgendeine „Attitüde“ des Verbandes manifestiert. Da eine Aufsichtspflicht denklogisch ein gewisses Subordinationsverhältnis voraussetzt, – anderenfalls gingen Direktions- und Weisungsrechte des Betriebsinhabers ins Leere – scheiden lediglich gänzlich Betriebsfremde als Täter der die Verbandshaftung auslösenden Verbandstat aus. Unter Berücksichtigung des gegenüber den §§ 30, 17 Abs. 4 OWiG massiv verschärften Sanktionssystems stellt sich somit ein Szenario dar, in dem durch irgendwelche Personen („jemand“) begangene betriebsbezogene Straftaten die volle Wucht der Verbandssanktion auslösen können sollen. Ein solcher Anknüpfungspunkt zur Begründung der Verbandsverantwortlichkeit ist mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht in Einklang zu bringen. Durch einen zweiten Aspekt wird dieser Befund noch weiter verschärft: Wie auch bei § 130 OWiG setzt die Verbandssanktion gem. § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E nicht die Feststellung eines bestimmten Täters der Verbandstat voraus. Hierzu heißt es im Entwurf:29

26 Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 30 OWiG Rz. 3 m.w.N. 27 Vgl. Gürtler in Göhler, 17. Aufl. 2017, § 130 OWiG Rz. 17; von Galen/Maass in Leitner/ Rosenau, 2017, § 130 OWiG Rz. 55; Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 130 OWiG Rz. 77, jeweils m.w.N. 28 Vgl. BT-Drs. 19/23568, S. 47 m.w.N. 29 BT-Drs. 19/23568, S. 64.

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„Die Straftat muss tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft begangen worden sein. Unerheblich ist, ob der konkrete Täter der Verbandstat feststeht. Es reicht aus, dass die Begehung einer Verbandstat festgestellt werden kann.“ Hier stellt sich die Frage, wie die Feststellungen zur „volldeliktischen“ Verbandstat, also auch Feststellungen zur inneren Tatseite angesichts eines unbekannten Täters erfolgen sollen. Die herrschende Meinung führt zur Begründung dafür, dass im Rahmen des § 130 OWiG die Feststellung eines bestimmten Täters der Zuwiderhandlung nicht erforderlich sei, an, dass die Unmöglichkeit dieser Feststellung oftmals auf Organisationsund Überwachungsverschulden bzw. „organisierter Unverantwortlichkeit“ beruhe. Gerade mit diesem Kunstgriff wird im Ordnungswidrigkeitenrecht eine vermeintliche Ahndungslücke geschlossen, so dass auch aus diesem Aspekt die Einführung eines Verbandssanktionengesetzes keinen Mehrwert bringt. Im Bereich des § 30 OWiG ist sogar die Verhängung einer „anonymen“ Verbandsgeldbuße anerkannt, wenn die Leitungsperson, die die volldeliktische Aufsichtspflichtverletzung begangen hat, nicht ermittelbar ist.30 § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E gestaltet die Anforderung an Leitungspersonen hinsichtlich der Aufsichtsmaßnahmen als bloße Leerformel und verweist hinsichtlich der angemessenen Vorkehrungen zur Vermeidung von Verbandstaten wie insbesondere Organisation, Auswahl, Anleitung und Aufsicht durchgehend auf die Kommentierung von Rogall zu § 130 OWiG. Hier wurde die Chance vertan, dem Rechtsanwender eine Leitschnur zur Ausfüllung der angemessenen Aufsicht vorzugeben. Überdies wurde darauf verzichtet, in § 3 Abs. 1 Nr. 1 VerSanG-E dem Bestehen angemessener Compliance-Managementsysteme bereits auf tatbestandlicher Ebene Beachtung beizumessen. Stattdessen ist es, wie bei § 30 OWiG, dabeigeblieben, vorhandene Compliancestrukturen lediglich auf Sanktionsebene zu berücksichtigen (§ 15 Abs. 3 Nr. 6 VerSanG-E). Damit wurde das erklärte Ziel, einen Anreiz zur Verbesserung von Compliance zu schaffen, verfehlt.

II. Der Abwägungsprozess des 2. WiKG Es spricht einiges dafür, dass das Verbandssanktionengesetz (VerSanG), auch wenn es in dieser Legislaturperiode der Diskontinuität anheimfallen dürfte, in näherer Zukunft Rechtswirklichkeit werden wird; der politische Wille hierzu – trotz vielfacher, substantiierter Kritik aus Wissenschaft, Anwaltschaft, von Verbänden und nicht zuletzt aus der Justiz – scheint ungebrochen. Dem Blick in eine Zukunft mit dem VerSanG lässt sich ein erhellender Rückblick auf die Erwägungen des historischen Gesetzgebers gegenüberstellen:

30 Förster in Rebmann/Roth/Herrmann, 28. Egl. 2019, § 30 OWiG Rz. 52; Gürtler in Göhler, 17. Aufl. 2017, § 30 OWiG Rz. 40; Rogall in KK OWiG, 5. Aufl. 2018, § 30 OWiG Rz. 119, 121.

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Bis zum Inkrafttreten des 2. Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität („2. WiKG“) mit Wirkung vom 1.8.198631 waren Verbandssanktionen nach § 30 OWiG bzw. § 26 OWiG a.F.32 als bloße Nebenfolge an die Sanktionierung natürlicher Personen geknüpft. Diese Ausgestaltung diente seinerzeit der Beseitigung „dogmatischer Bedenken“33 sowie der Sicherung verfassungsrechtlicher Erwägungen.34 Es stellte insofern ein Novum dar, als mit dem 2. WiKG diese Nebenfolgenkonstruktion aufgegeben und – verkürzt dargestellt – die selbstständige Verhängung einer Verbandsgeldbuße, etwa wenn wegen der Straftat oder Ordnungswidrigkeit ein Strafoder Bußgeldverfahren nicht durchgeführt oder eingestellt wird, möglich wurde.35 Der Gesetzgeber musste seinerzeit in Anbetracht dieser Verselbstständigung der Verbandsgeldbuße eben den Bedenken argumentativ entgegentreten, denen unter Einsatz der Nebenfolgenkonstruktion noch auszuweichen versucht wurde. Tiedemann beschrieb dies unter Bezugnahme auf die treffende Formulierung Schroths36 damit, dass die „Streichung der Bezeichnung als Nebenfolge das ‚dogmatische Vakuum‘ offenbar“ werden ließ, „welches durch jene Bezeichnung notdürftig überbrückt schien“.37 Zu diesem Zweck vollzog der 2. WiKG-E38 einen argumentativen Dreischritt. Erstens erkannte der Regierungsentwurf zunächst die maßgeblich zu untersuchende Fragestellung und benannte diese als solche: „Die wohl entscheidende Frage für die Ausgestaltung einer Verbandssanktion ist die, welche „Anknüpfungstat“ die Sanktion auslösen kann oder sollte.“39 Der Regierungsentwurf erkannte zweitens, dass dem gesetzgeberischen Ermessen bei der Wahl des Anknüpfungspunktes zur Begründung einer Verbandsverantwortlichkeit Grenzen gesetzt seien: „Bei der Abgrenzung der Anknüpfungstat, die als Grundlage einer Sanktion gegen die juristische Person oder Personenvereinigung angesehen werden kann, ist der einfache Gesetzgeber nicht freigestellt. Der Verfassungsgrundsatz, daß Strafe Schuld voraussetzt, gilt nicht nur bei Kriminalstrafen, sondern ebenso bei strafähnlichen Sanktionen (BVerfGE

31 BGBl. I, Nr. 21 v. 23.5.1986, 721, 729. 32 1975 wurde § 26 OWiG ohne inhaltliche Änderung zu § 30 OWiG umnummeriert, vgl. BT-Drs. 7/550, S. 344. 33 BT-Drs. V/1269, S. 58, wobei die Drucksache noch § 19 OWiG-E in Bezug nimmt, welcher später in § 26 OWiG (1968) mit geringfügigen redaktionellen Änderungen aufging. 34 BT-Drs. V/1269, S. 61. 35 BT-Drs. 10/318, S. 41. 36 Schroth, wistra 1986, 158, 163. 37 Tiedemann, NJW 1988, 1169, 1171. 38 BT-Drs. 10/318. 39 BT-Drs. 10/318, S. 38.

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9, 167, insbesondere S. 169; 20, 323, insbesondere S. 332 f.) und hier auch bei einer solchen gegen juristische Personen (BVerfGE 20, 323, insbesondere S. 335 f.).“40 Erst vor diesem Hintergrund entschied sich der Gesetzgeber, die Geldbuße gegen juristische Personen und Personenvereinigungen von der Verantwortlichkeit einer bestimmten Einzelperson zu lösen und „das Gebilde der juristischen Person für das Versagen im Leitungsbereich, also gleichsam für das Verschulden in seinem eigenen Nervenzentrum, verantwortlich“41 zu machen. Der Blick in die Vergangenheit zeigt: Mit der Konzeption des § 3 Abs. 1 VerSanG-E wurde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Nicht mehr das „Nervenzentrum“, sondern die äußere Peripherie eines Unternehmens ist erfasst, wenn betriebsbezogene Jedermannsdelikte eine strafrechtliche Haftung des Verbandes auslösen können.

III. Aktuelle Kritik des Bundesrats Erfreulich ist, dass der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf vom 18.9.202042 die Konzeption des § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E deutlich kritisiert und die Rückkoppelung des Tatbestands an das vorsätzliche oder fahrlässige Unterlassen angemessener Vorkehrungen durch eine Leitungsperson im Verband empfiehlt.43 Dass die Bundesregierung in Reaktion auf die Kritik des Bundesrats § 3 Abs. 1 Nr. 2 VerSanG-E zunächst unverändert vorgelegt hat, aber ankündigte, den Vorschlag des Bundesrates prüfen zu wollen, mag zumindest ein Hoffnungsschimmer sein,44 da zu erwarten ist, dass das Gesetzesvorhaben in der nächsten Legislaturperiode wieder aufgegriffen wird.

IV. Fazit Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass hinsichtlich der in besonderem Maße relevanten Aufsichtspflichtverletzungen im Vergleich zur geltenden Rechtslage (mit der Möglichkeit einer Verbandsgeldbuße gem. §§ 30, 130 OWiG) die Schwelle für eine Sanktionierung des Verbandes nach Maßgabe des VerSanG-E substantiell herabgesetzt würde: In der Rechtswirklichkeit wird das Vorliegen einer Verbandstat durch eine Nicht-Leitungsperson regelmäßig die objektive Pflichtwidrigkeit des Unterlassens der angemessenen Vorkehrungen durch die Leitungsperson indizieren (Verschleifung). Dies dürfte – zumal unter dem Regime des Legalitätsprinzips – zu ei40 41 42 43

BT-Drs, 10/318, S. 39. BT-Drs, 10/318, S. 40. BR-Drs. 440/20. BR-Drs. 440/20 (Beschluss), S. 3, der Bundesrat folgte damit der – hilfsweise zur eigentlich empfohlenen grundsätzlichen Ablehnung des VerSanG-E – vollzogenen Argumentation sowie den Empfehlungen des federführenden Rechtsausschusses und Wirtschaftsausschusses im Bundesrat, vgl. hierzu BR-Drs. 440/1/20, S. 12-14. 44 BT-Drs. 19/23568, S. 152.

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ner erheblichen Ausweitung des Anwendungsbereichs des VerSanG-E unterhalb der Schwelle des § 130 OWiG führen. Mit diesem Befund ist dem Jubilar, dem es wiederholt ein Anliegen war darauf hinzuweisen, dass mit den vorgesehenen Sanktionen die Falschen bestraft werden,45 auch unter dem Aspekt der verschuldensunabhängigen Haftung uneingeschränkt Recht zu geben.

45 Reuter, ZIP 2020, 1160.

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Über grünen Tee, bittere Schokolade und die Sorgfalt im Allgemeinen Überlegungen zum Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten Norbert Wimmer*

Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Sorgfaltspflicht und Haftung de lege lata 1. Vertragliche Verpflichtung oder Selbstverpflichtungen? 2. Deliktsrechtliche Haftung – Verkehrssicherungspflichten? III. Der Entwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes im Einzelnen 1. Zur Zulässigkeit eines Sorgfaltspflichtengesetzes 2. Ausgestaltung der Sorgfaltspflichten a) Anwendungsbereich b) Die Sorgfaltspflichten

aa) Begrenzte Bestimmtheit der relevanten menschen- und umweltrechtlichen Standards bb) Differenzierung der Pflichten entlang der Lieferkette cc) Die Pflichten im Einzelnen 3. Public Enforcement durch das BAFA 4. Private Enforcement durch deliktsrechtliche Haftung? a) Internationale Zuständigkeit b) Anwendung deutschen Rechts c) Voraussetzungen der Haftung IV. Bewertung und Ausblick

I. Einleitung Unternehmerische Tätigkeit zielt darauf, wirtschaftliche Chancen zu nutzen und die mit ihnen einhergehenden Risiken zu kontrollieren und zu minimieren. Die Entwicklung der Kapitalgesellschaften beruht auf dem Gedanken der Risikobegrenzung auf die jeweils bewusst eingesetzten Ressourcen. Ein zentraler Gegenstand des Konzernrechts ist die Abwehr oder Ermöglichung des Zugriffs auf Ressourcen getrennter, aber verbundener juristischer Einheiten. Welche Folgelasten einer unternehmerischen Tätigkeit dabei jeweils externe Kosten bleiben und welcher Aufwand und welche Risiken internalisiert und ggf. bilanziell abgebildet werden müssen, ist von dynamischen poli* Der Beitrag ist Alexander Reuter in Erinnerung an viele Jahre partnerschaftlicher Zusammenarbeit und manche Tasse grünen Tees in der Practice Group Energy Infrastructure Project and Asset Finance (EIPAF) der White & Case LLP gewidmet. Der Beitrag beruht auf dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales v. 15.2.2021; der weitere Gang des Gesetzgebungsverfahrens und die Endfassung des „LkSG“ (BGBl. I 2021, S. 2959) konnten vor Drucklegung noch punktuell berücksichtigt werden. Meiner ehem. wissenschaftlichen Mitarbeiterin Frau Referendarin Theda Hustede gebührt herzlicher Dank für engagierte Diskussion und Vorbereitung.

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tisch-gesellschaftlichen und damit legislativen Prozessen abhängig, wie exemplarisch das anlagenbezogene Immissionsrecht oder das Umwelthaftungsgesetz zeigen, mit dem sich auch Alexander Reuter wissenschaftlich befasst hat.1 Für das Streben nach Risikokontrolle und die Möglichkeit adäquater Vorsorge ist eine Ausweitung der Unternehmensverantwortung auf externe Verhältnisse heikel. Im besten Fall ist die Wahrnehmung der zugewiesenen Verantwortung möglich. Mitunter kann gerade naheliegen, dass Gesetzgeber die unternehmerische Findigkeit als Instrument zur effizienten dezentralen Verfolgung politischer Ziele nutzen, so etwa im Interesse des Klimaschutzes mit einer allgemeinen, sektorübergreifenden CO2-Abgabe.2 Der Albtraum eines nachhaltig agierenden Unternehmens ist es hingegen, mit einer ihm zugewiesenen Verantwortung und resultierenden Haftungsrisiken – auch bilanziell – umgehen zu müssen, die weder im oder durch das Unternehmen umsetzbar noch wenigstens versicherbar sind, erst recht wenn sie zu Wettbewerbsverzerrungen und dysfunktionalen Effekten führen können, weil internationale Wettbewerber vergleichbaren Pflichten und Risiken nicht unterliegen, selbst wenn sie auf den Heimatmärkten des Unternehmens agieren.3 In diesem Spannungsfeld zwischen ambitionierter Gesetzgebung, mit der den Erwartungen insbesondere westlicher Gesellschaften an ein umfassend verantwortliches unternehmerisches Handeln Rechnung getragen werden soll, und der Kunst des Möglichen in der Unternehmensführung ist die Diskussion über die Verantwortung für mögliche Menschenrechtsverletzungen entlang Lieferketten angesiedelt. Sie stellt einen in sich konsequenten nächsten Schritt dar, nachdem viele, insbesondere auch global tätige Unternehmen ihre „ESG“4 -Praxis zum Gegenstand der Berichterstattung gegenüber Politik und Marktteilnehmern machen oder auch – in Form von „ESG-Anleihen“ zum Gegenstand ihres Marktauftritts.5 Und in der Tat: wer hätte etwas dagegen, seinen grünen Tee oder die Bitterschokolade im Bewusstsein genießen zu können, dass die indische Teepflückerin fair entlohnt und die Kakaobohnen ohne Kinderarbeit gewonnen worden wären. Den Befürwortern einer gesetzlichen Regelung unternehmerischer Sorgfaltspflichten in Lieferketten genügt die Möglichkeit ei1 Reuter, Das neue Gesetz über die Umwelthaftung, BB 1991, 145. 2 Zum vergleichbaren Ansatz der projektbasierten Clean Development Mechanisms als Instrument des globalen Klimaschutzes beispielsweise Reuter/Busch, EuZW 2004, 39 und Reuter, RdE 2006, 182. 3 In diesem Sinne kritisierte der Verband der deutschen Bauindustrie die Pläne für ein Lieferkettengesetz, da dieses etwa chinesische Staatskonzerne nicht erfasse, die sich mithin ohne Einhaltung der neu definierten Pflichten mit entsprechenden Kostenvorteilen an europäischen Ausschreibungen beteiligen könnten, vgl. z.B. Interview mit dem Strabag-Vorstand Hübner, F.A.Z. v. 7.4.2021, S. 19. 4 ESG steht für: Environmental, Social, Governance-Fragen der Unternehmensführung. 5 Gerade mit Blick auf Umwelt- und Menschenrechtsstandards wurde bei der Umsetzung der CSR- (Corporate Social Responsibility-) Richtlinie in § 289c Abs. 3 Nr. 4 HGB eine Berichterstattung über die Lieferkette vorgeschrieben. Vgl. BegrReG CSR-RUG, BT-Drs. 18/9982, 51; Kieninger, IPRax 2020, 60, 61; Habersack/Ehrl, AcP 219 (2019), 155, 160 f.

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nes informierten präferenzorientierten (und bei Bedarf entsprechend zahlungsbereiten) Verhaltens der Nachfrager jedoch nicht und sie möchten sich nicht auf die Dynamik der Märkte verlassen. Dabei ist den öffentlichen Händen nach europäischem Vergaberecht bereits jetzt die Möglichkeit eröffnet, lieferungs- und leistungsbezogen Anforderungen oder Zuschlagskriterien zu definieren, die sich auf besonders hohe Umweltstandards6 beziehen, die Einhaltung bestimmter Sozialstandards7 zum Gegenstand haben oder zumindest Erläuterungen zur Governance des Anbieters8 fordern. Eine Anbieter-Auswahl auf der Grundlage von Testaten zu überobligatorischen ESG-Standards des jeweiligen Unternehmens würde hingegen einer schwer kontrollierbaren Bevorzugung politisch erwünschter Unternehmen bei der Leistungsbeschaffung durch Vergabestellen Tür und Tor öffnen. Generell fürchten die Gegner gesetzlicher Regelungen zu Sorgfaltspflichten in Lieferketten insbesondere Wettbewerbsverzerrungen auf internationalen Märkten, einen mutmaßlich wenig transparenten Handel mit Zertifikaten9 und die Förderung einer Klageindustrie zu Lasten heimischer Unternehmen (und des Justizsystems), wenn die sprichwörtlichen „ambulance chasers“ einen Anreiz zur weltweiten Akquisition von Mandaten tatsächlicher oder vermeintlicher Opfer unternehmerischer Aktivitäten haben, sofern auf der Beklagtenseite nur hinreichend „tiefe Taschen“ vermutet werden.10 In Anbetracht der Gefahr dysfunktionaler Effekte konzentrierten sich die bisherigen gesetzgeberischen Ansätze meist auf Offenlegungs- und Berichtspflichten. Soweit materielle Verantwortlichkeiten definiert wurden, beschränkten sie sich auf die Bereit6 Siehe § 58 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 VgV; dazu: Art. 70 sowie Erwägungsgründe 91 u. 97 der Richtlinie RL 2014/24/EU; EuGH v. 10.5.2012 – C-368/10 – Kommission/Niederlande; siehe auch Lausen in Beck’scherVergaberechtskommentar, 3. Aufl. 2019, § 58 VgV Rz. 63 ff.; Steck in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 4. Aufl. 2020, § 58 VgV Rz. 19 ff. 7 Siehe § 58 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 VgV; dazu: Art. 70 sowie Erwägungsgründe 97 ff. der Richtlinie RL 2014/24/EU; EuGH, v. 26.9.2000, C-225/98 – Nord-Pas-de-Calais; EuGH v. 10.5.2012, C-368/10 – Kommission/Niederlande; Mitteilung der Kommission v. 15.10.2001, KOM (2001) 566 endgültig; Kommission, Sozialorientierte, Beschaffung, 2011; siehe auch: Lausen in Beck’scherVergaberechtskommentar, 3. Aufl. 2019, § 58 VgV Rz. 58 ff. – wobei die Definition solcher Standards innerhalb des Binnenmarkts nicht zu wettbewerbsverzerrenden Effekten zu Lasten von Staaten mit niedrigeren Lohnstandards führen darf: vgl. Kommission, Sozialorientierte, Beschaffung, 2011, S. 5; Mitteilung der Kommission, 2019/C 271/02 – ABl. EU C 271/43, S. 45 ff. Der EuGH hat sich mit der Vereinbarkeit einer Tariftreue-Regelung im öffentlichen Auftragswesen mit der Dienstleistungsfreiheit auseinandergesetzt und in seinem Urt. v. 3.4.2008 – C-346/06 – Rüffert – in der Tariftreue-Regelung eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit erblickt. 8 Kling in Immenga/Mestmäcker, 6. Aufl. 2021, § 122 GWB, Rz. 24 ff. 9 Dieser Vorwurf wird angesichts methodischer Probleme auch für Gutschriften aus „CDM“-Projekten erhoben. 10 Die Exzesse einer auf Kosten der Gemeinschaft der Rechtsschutzversicherten akquirierenden und agierenden aggressiven Klageindustrie lassen sich in Deutschland gegenwärtig sehr klar im sog. Abgasskandal beobachten.

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stellung bestimmter von vornherein risikobehafteter Rohstoffe aus Krisengebieten. In diesen Kontext gehören die Pflichten nach dem Dodd-Frank Act von 2010 im Zusammenhang mit Konfliktmineralien und der kalifornische Transparency in Supply Chains Act gegen Menschenhandel und Sklaverei.11 Das erste umfassendere Sorgfaltspflichtengesetz verabschiedete 2017 Frankreich.12 Großbritannien und Australien erließen sachlich weniger weitreichende Gesetze gegen „moderne Sklaverei“, die Niederlande ein Gesetz gegen Kinderarbeit.13 Neben Deutschland, der EU oder den USA14 wurde zuletzt auch in der Schweiz eine Volksinitiative kontrovers behandelt, die weitergehende Sorgfaltspflichten und eine Haftung aller Unternehmen mit Sitz, Hauptverwaltung oder Niederlassung in der Schweiz bei Verletzung internationaler Menschenrechts- und Umweltstandards auch durch kontrollierte Unternehmen vorsah. Die Initiative scheiterte zwar am nötigen Ständemehr, wurde von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung aber befürwortet. Nach dem Scheitern dieser „Konzernverantwortungs-Initiative“ soll nun auf Vorschlag des Bundesrats eine alljährliche Berichtspflicht für schweizerische Unternehmen eingeführt werden. In der EU gelten bislang die an den Import konfliktträchtiger Produkte in die EU durch Unionseinführer anknüpfende Konfliktmineralien-Verordnung15 und die Holzhandelsverordnung16. Ende November 2020 ersuchte der Rat die Kommission, einen Aktionsplan auf den Weg zu bringen, der auch branchenübergreifende Sorgfaltspflichten von Unternehmen entlang globaler Lieferketten gesetzlich festschreiben solle.17 Justizkommissar Reynders hatte bereits Anfang 2020 eine Studie zu Regelungsoptio-

11 2015 kam der Trade Facilitation and Trade Enforcement Act hinzu, der verhindern soll, dass Produkte aus Zwangsarbeit importiert werden. Strukturell vergleichbare Handelsbeschränkungen gibt es seit jeher und aus den unterschiedlichsten Motiven, vgl. etwa die Convention on International Trade in Endangered Species of Fauna and Flora von 1973 (sog. Washingtoner Artenschutzabkommen). 12 Der Verabschiedung am 21.2.2017 ging eine zweijährige Debatte voraus. Nach Vorlage an den Conseil Constitutionnel wurde das Gesetz am 27.3.2017 endgültig verabschiedet. Vgl. Kutscher-Puis, ZVertriebsR 2020, 174, 176. 13 Überblick bei Grabosch, Unternehmen und Menschenrechte – Gesetzliche Verpflichtungen zur Sorgfalt im weltweiten Vergleich, September 2019 (http://library.fes.de/pdf-files/ iez/15675.pdf). Soweit nicht anders angegeben erfolgte der letzte Abruf der InternetQuellen am 28.2.2021. 14 Ferner in den Niederlanden, Finnland oder auch Norwegen. 15 VO (EU) 2017/821; nach dem deutschen Durchführungsgesetz v. 29.4.2020 gelten die wesentlichen Pflichten ab 1.1.2021: Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) 2017/821 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2017 zur Festlegung von Pflichten zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten in der Lieferkette für Unionseinführer von Zinn, Tantal, Wolfram, deren Erzen und Gold aus Konflikt- und Hochrisikogebieten sowie zur Änderung des Bundesberggesetzes, BGBl. 2020 I 864. Hierzu jetzt Fehse/Markmann, EuZW 2021, 113. 16 VO (EU) 995/2010. 17 https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2020/12/01/human-rights-and-de cent-work-in-global-supply-chains-the-council-approves-conclusions/.

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nen veröffentlicht und einen Verordnungsentwurf angekündigt.18 Geplant sind konkrete Sorgfaltspflichten, eine zivilrechtliche Haftung und eine Aufsicht; darüber hinaus wird eine strafrechtliche Verantwortung von Unternehmen diskutiert. Die Veröffentlichung eines konkreten Entwurfs stand bei Drucklegung weiterhin aus. In Deutschland ist der Versuch einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Unternehmen nach einer umstrittenen Bestandsaufnahme des Status Quo politisch für gescheitert erklärt worden.19 Der Koalitionsvertrag sah für diesen Fall die Verabschiedung eines nationalen Sorgfaltspflichtengesetzes vor.20 Nach einem Eckpunktepapier von BMZ und BMAS vom 10.3.202021 und anhaltenden Diskussionen mit dem BMWi gab das BMAS Mitte Februar 2021 einen Referentenentwurf in die Ressortabstimmung, bei dem einem unbeteiligten Leser nicht klar war, ob er der Vorbereitung einer Einigung noch in der laufenden Legislaturperiode dienen soll oder nicht eher der Vorbereitung des Bundestagswahlkampfs, denn das Thema scheint kampagnengeeignet, wie die Konzernverantwortungsinitiative in der Schweiz zeigt: Eine Petition für ein Lieferkettengesetz wurde von 223.590 Personen unterzeichnet22 und nach einer Infratest-Umfrage unterstützen 78 % der Befragten ein Sorgfaltspflichtengesetz.23 Die Wirtschaft scheint gespalten.24 Dass das Gesetz am 25.6.2021 nunmehr 18 Study on due diligence requirements through the supply chain, hrsg. v. British Institute of International and Comparative Law, CIVIC Consulting, The London School of Economics and Political Science, S. 214 ff. (https://op.europa.eu/en/publication-detail/-/publi cation/8ba0a8fd-4c83-11ea-b8b7-01aa75ed71a1/language-en/format-PDF/source-167071 831). Danach prüfe nur jedes dritte Unternehmen in der Union seine Lieferketten hinsichtlich Menschenrechts- und Umweltauswirkungen. 19 Der Abschlussbericht des NAP-Monitoringprozesses von 2018 bis 2020 wurde am 8.10.2020 verabschiedet; hiernach seien nur 13-17 % „NAP-Erfüller“, 10–12 % „auf einem guten Weg“ (Zielwert waren 50 % „NAP-Erfüller“). Dieser Bewertung lagen zugrunde Interviews mit gerade einmal 30 Unternehmen und 9 „Stakeholdern“ einschl. NGOs zugrunde (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/aussenwirtschaft/wirt schaft-und-menschenrechte/monitoring-nap/2124010). Das Monitoring wurde von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände entsprechend deutlich kritisiert. Eine Studie im Auftrag des BMAS wies für 29 von rund 100 Branchen der deutschen Wirtschaft ein erkennbares menschenrechtliches Risiko aus: Weiß u.a., Die Achtung von Menschenrechten entlang globaler Wertschöpfungsketten. Risiken und Chancen für Branchen der deutschen Wirtschaft, 2019, Studie im Auftrag des BMAS (von adelphi und EY). 20 Koalitionsvertrag für die 19. Legislaturperiode v. 7.2.2018, Zeile 7382 ff.: „Falls die wirksame und umfassende Überprüfung des NAP 2020 zu dem Ergebnis kommt, dass die freiwillige Selbstverpflichtung der Unternehmen nicht ausreicht, werden wir national gesetzlich tätig und uns für eine EU-weite Regelung einsetzen.“ 21 Entwurf für Eckpunkte eines Bundesgesetzes über die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz), 10.3.2020, https://die-korrespondenten.de/ fileadmin/user_upload/die-korrespondenten.de/Lieferkettengesetz-Eckpunkte-10.3.2020. pdf. 22 https://www.bund.net/themen/ttip-ceta/lieferkettengesetz/. 23 https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/2020/09/infratest-dimap_Umfrage-Liefer kettengesetz.pdf. 24 Unternehmen wie Hapag-Lloyd, Tchibo oder Nestlé Deutschland sprachen sich für ein Sorgfaltspflichtengesetz aus, u.a. im Interesse gleicher Wettbewerbsbedingungen. Andere

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auch den Bundesrat passiert hat und die geregelten Pflichten ab dem 1.1.2023 Beachtung fordern, wird man je nach Sichtweise als Ausdruck der Handlungsfähigkeit der scheidenden schwarz-roten Regierung oder als Ausweis eines enormen öffentlichen Drucks interpretieren. Grund genug jedenfalls für eine erste Inventur aus juristischer Sicht.

II. Sorgfaltspflicht und Haftung de lege lata Nach dem heutigen Stand der Entwicklung des Völkerrechts treffen transnational tätige Unternehmen bislang keine unmittelbaren völkerrechtlichen Pflichten, auch nicht im Kontext von Investitionsschutzabkommen und Menschenrechtsverträgen.25 Eine völkerrechtliche Haftung für unternehmensbezogene Menschenrechtsverletzungen wird zwar diskutiert.26 Die Verpflichtung zur Prävention auch extraterritorialer Menschenrechtsverstöße trifft jedoch die Staaten. Auch die drei Säulen der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte27 fordern zwar, dass Unternehmen ihrer Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte nachkommen. Es sind jedoch die Staaten, die Menschenrechte schützen und den Opfern von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen Zugang zu effektiven gerichtlichen und außergerichtlichen Beschwerdemechanismen gewähren sollen. Der in Deutschland 2016 verabschiedete Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der Leitprinzipien sieht neben einer unternehmerischen Grundsatzerklärung zur Achtung der Menschenrechte einen Vier-Stufen-Plan der freiwilligen Selbstverpflichtung vor, der außer einer Grundsatzerklärung eine Risikoanalyse der eigenen Geschäftstätigkeit und Maßnahmen wie Schulungen oder angepassten Managementprozessen umfassen sollte, ergänzt um eine entsprechende Berichterstattung und die Etablierung eines Beschwerdeverfahrens.28 Bereits im Jahre 2019 wurde in einer Zwi-

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Unternehmen erhofften sich angeblich Klarheit über ihre CSR-Pflichten, vgl. Anhörung Markus Löning (vormaliger Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, heute Beratungsfirma Löning – Human Rights & Responsible Business) im Bundestagsausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe am 28.10.2020 (https://rsw.beck.de/aktuell/dai ly/meldung/detail/experten-befuerworten-mehrheitlich-lieferkettengesetz), was jedenfalls auf einen sich entwickelnden Beratungsbedarf hindeutet. Schließlich wird argumentiert, durch die gesetzliche Regelung werde klargestellt, dass die Geschäftsleitung ohne Verstoß gegen ihre Verpflichtungen nach § 93 AktG und § 43 GmbHG und der Aufsichtsrat entsprechend §§ 111, 116 AktG die Nachhaltigkeit in der Lieferkette vorantreiben dürften, Rünz, ZVertriebsR 2020, 290, 295, was freilich kaum ein ernsthaftes praktisches Problem (oder Desiderat) darstellen dürfte. Kritik bei Seibert-Fohr, ZaöRV 2013, 37, 38 f.; Schmalenbach, AVR 39 (2001), 57, 63 f. Zur mittelbaren Bindung über die Grundrechte und zur horizontalen Wirkung der Grundfreiheiten in Europa Habersack/Ehrl, AcP 219 (2019), 155, 190. Deva/Bilchitz, Building a Treaty on Business and Human Rights, 2017; Martin/Bravo, The Business and Human Rights Landscape, 2016. Beschluss Nr. 17/4 v. 16.6.2011. Nationaler Aktionsplan, S. 8-10 (https://www.auswaertiges-amt.de/blob/297434/8d6ab 29982767d5a31d2e85464461565/nap-wirtschaft-menschenrechte-data.pdf) (verabschiedet

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schenbilanz festgestellt, dass die Wirkung hinter den Erwartungen zurückbleibe,29 womit auch in der Bundesregierung nunmehr die Notwendigkeit eines legislativen Handelns begründet wird.30 Verpflichtend sind indes die handelsrechtlichen CSR-Reportingpflichten.31 Nach §§ 289b–289e HGB, mit denen die CSR-Richtlinie umgesetzt wird, müssen bestimmte Unternehmen32 seit dem Geschäftsjahr 2017 in ihrer nichtfinanziellen Erklärung auch über Lieferketten berichten (§ 289c Abs. 2 Nr. 4, Abs. 3 Nr. 4 HGB).33 Dieselbe Pflicht trifft nach § 340a HGB Kreditinstitute und Versicherungsunternehmen, sowie nach § 336 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 HGB auch bestimmte Genossenschaften. §§ 315b, 315c HGB bestimmen eine parallele Pflicht zur nichtfinanziellen Konzernerklärung. Dabei sind die menschenrechtlichen Ziele ebenso darzustellen wie wesentliche eigene Risiken und – soweit verhältnismäßig – Risiken von Geschäftspartnern.34 Als Risiko werden auch hier mögliche künftige Entwicklungen und Ereignisse angesehen, die zu einer negativen Abweichung von den Prognosen und Zielen des Konzerns führen

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am 16.1.2016): Grundsatzerklärung gemäß UN-Leitprinzip 16; der Vier-Stufen-Plan soll bestehen aus: 1) Risikoanalyse der eigenen Geschäftstätigkeit (UN-Leitprinzip 18), 2) Maßnahmen wie Schulungen, angepassten Managementprozessen, Beitritt zu Brancheninitiativen (UN-Leitprinzipien 19, 20), 3) Berichterstattung (UN-Leitprinzip 21), 4) Einrichtung eines geeigneten Beschwerdeverfahrens (UN-Leitprinzipien 22, 29). Velte, DStR 2020, 2034, 2034; Wiedmann/Hoppmann, CCZ 2020, 225, 226 verweisen auf Alliance for Corporate Transparency, 2019 Research Report: An analysis of the sustainability reports of 1000 companies pursuant to the EU Non-Financial Reporting Directive (https://www.allianceforcorporatetransparency.org/assets/2019_Research_Report%20_Alli ance_for_Corporate_Transparency-7d9802a0c18c9f13017d686481bd2d6c6886fea6d9e9 c7a5c3cfafea8a48b1c7.pdf). Bundesregierung, Monitoring des Umsetzungsstandes der im Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte 2016-2020 beschriebenen menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht von Unternehmen: Zwischenbericht, Berichtszeitraum 2019, S. 20 (https:// www.auswaertiges-amt.de/blob/2314274/3a52de7f2c6103831ba0c24697b7739c/20200304nap-2-zwischenrbericht-data.pdf). Danach läge nur in 25–27 % der Unternehmen in Deutschland eine Risikoanalyse vor, die den NAP-Anforderungen genüge, und auch bei diesen sei nur bei einem Drittel ein Due Diligence-Prozess zum Umgang mit erkannten Risiken etabliert. Zu den bisherigen CSR-Regelungen beispielsweise: Fleischer/Kalss/Vogt, Corporate Social Responsibility, 2018 (insbes. Mock, S. 125 ff.); Hennrichs, ZGR 2018, 206; Spießhofer in Krieger/Uwe H. Schneider, Handbuch Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 39 Rz. 37; Seibt, DB 2016, 2707, 2708. Kapitalgesellschaften und ihnen gesetzlich gleichgestellte Unternehmen, die zugleich große Gesellschaften i.S.d. § 267 Abs. 3 Satz 1 HGB und kapitalmarktorientiert i.S.d. § 264d HGB sind sowie im Jahresdurchschnitt mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigen. Velte, DStR 2020, 2034, 2034. Eine Bruttodarstellung vor ergriffenen Maßnahmen ist dabei aussagekräftiger und daher vorzugswürdig: Beckmann in BeckOK HGB, 27. Aufl. 2020, § 289c HGB Rz. 14; Störk/ Schäfer/Schönberger in Beck Bilanz-Kommentar, 12. Aufl. 2020, § 289c HGB Rz. 59; aus Investorensicht zustimmend: Schmidt/Strenger, NZG 2019, 481, 486.

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können.35 Risiken sind anzugeben, wenn ihr Fehlen den Entscheidungsprozess und das Urteil des Adressaten beeinflussen könnte.36 Als verhältnismäßig gilt die Darstellung von Risiken in der eigenen Lieferkette, wenn der Informationsnutzen der Adressaten die Kosten der Informationsbeschaffung für das Unternehmen und seine Lieferanten überwiegt.37 Dabei kommt es auf die Schwere und Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens an.38 Drei Jahre nach Inkrafttreten des CSR-RUG entwickelt sich nach den verfügbaren Auswertungen eine fortschreibende Berichterstattung.39 Die recht hohe Wesentlichkeitsschwelle in § 289c Abs. 3 HGB40 führt jedoch zu Lücken bei Angaben zu nichtfinanziellen Risiken.41 Die Berichtspflichten zu nichtfinanziellen Risiken begründen einen gewissen gesellschaftlichen Handlungsdruck und begünstigen ggf. die Etablierung vertraglicher Standards im Verhältnis zu Handelspartnern im Sinne der Einhaltung von CSR-Vor-

35 Störk/Schäfer/Schönberger in Beck Bilanz-Kommentar, 12. Aufl. 2020, § 289c HGB Rz. 55. Auch hier können finanzielle Risiken, Reputationsrisiken, operationelle Risiken, Lieferkettenunterbrechungsrisiken und Rechtsrisiken unterschieden werden. 36 Wiedmann/Hoppmann, CCZ 2020, 225, 231. 37 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 289c HGB Rz. 59. 38 Kirsch, StuB 2017, 573, 578; Störk/Schäfer/Schönberger in Beck Bilanz-Kommentar, 12. Aufl. 2020, § 289c HGB Rz. 66; Böcking/Gros/Wirth in Joost/Strohn, 2020, § 289c HGB Rz. 7; Rimmelspacher/Schäfer/Schönberger, KoR 2017, 225, 228. 39 Von 2017 zu 2018 übernahm noch mehr als die Hälfte der Unternehmen ihren Vorjahresbericht ohne Fortschreibung der Aktivitäten, so Wiedmann/Greubel, BB 2018, 1027, 1028 f.; von 2019 zu 2018 galt dies nur noch für sechs Unternehmen Wiedmann/Hoppmann, CCZ 2020, 225, 228. 40 Die Einzelangabe muss nicht nur für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des Geschäftsergebnisses und der Lage des Unternehmens, sondern auch für das Verständnis der Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf nichtfinanzielle Aspekte erforderlich sein, Velte, DStR 2020, 2034, 2034; Störk/Schäfer/Schönberger in Beck Bilanz-Kommentar, 12. Aufl. 2020, § 289c Rz. 65. Die deutsche Umsetzung weicht mit diesem kumulativen Erfordernis (Gesetzesbegründung der BReg zum CSR-RUG, BT-Drs. 18/9982, S. 48; Quick/Sayar, BB 2019, 1771, 1772) von der Auffassung der EU-Kommission ab, die eine Wesentlichkeit für das Verständnis des Geschäftsverlaufs oder wesentliche Auswirkungen auf nichtfinanzielle Aspekte ausreichen lässt (EU Kommission, Leitlinien für die Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen: Nachtrag zur klimabezogenen Berichterstattung, 2019/C 209/ 01, S. 5; Humbert, ZGR 2018, 295, 311 f.; Hell, IRZ 2019, 527, 529). 41 Nach dem Alliance for Corporate Transparency, 2019 Research Report: An analysis of the sustainability reports of 1000 companies pursuant to the EU Non-Financial Reporting Directive, S. 68 ff. (https://www.allianceforcorporatetransparency.org/assets/2019_Research_ Report%20_Alliance_for_Corporate_Transparency-7d9802a0c18c9f13017d686481 bd2d6c6886fea6d9e9c7a5c3cfafea8a48b1c7.pdf) berichteten relativ schnell unionsweit 78,4 % der Unternehmen über ihre Lieferkettenpolitik und 85,9 % der berichtenden Unternehmen verfügen über Policies zum Menschenrechtsschutz. Allerdings informieren nur 23,7 % der berichtenden Unternehmen über spezifische Themen und Ziele ihrer Lieferkettenpolitik. Nur 22,2 % der Unternehmen beschreiben Due Diligence-Prozesse nach CSR-RL-Standard (entsprechend § 289 Abs. 3 Nr. 2 HGB) und nur wenige Unternehmen berichten ihren Umgang mit Risiken schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen („salient human rights issues“).

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gaben.42 Eine darüber hinaus gehende Handlungssteuerung durch Haftungsrisiken bei Noncompliance besteht bisher indes allenfalls in Ausnahmefällen. 1. Vertragliche Verpflichtung oder Selbstverpflichtungen? Zwischen den in Europa ansässigen oder am europäischen Markt agierenden Unternehmen und den durch die Nichteinhaltung umwelt- oder arbeitsrechtlicher Standards am anderen Ende der Lieferketten beeinträchtigten Personen besteht in aller Regel keine direkte vertragliche Beziehung. Diskutiert wird zuweilen eine Haftung aus Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter oder einem Vertrag zugunsten Dritter i.S.d. § 328 Abs. 1 BGB. Ein Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter wird nach der deutschen Rechtsprechung nur unten engen Anforderungen angenommen, wenn Personen nach Treu und Glauben schutzbedürftig erscheinen, die keinen inhaltsgleichen anderweitigen vertraglichen Anspruch haben und in einem besonderen Näheverhältnis zum Vertragspartner des potentiellen Schuldners stehen. Die Rechtsprechung betont dabei die Gefahr einer unkalkulierbaren Ausdehnung der Haftung und verwendet insoweit namentlich das Kriterium der Versicherbarkeit der resultierenden Risiken.43 In diesem Sinne mögen mithin zwar zahlreiche Personen entlang von Lieferketten wie die Arbeitnehmer in Bergwerken oder Plantagen besonders schutzbedürftig erscheinen. Sie verfügen formal jedoch über mindestens gleich weit, in der Regel aber weiterreichende Ansprüche gegen ihre jeweiligen unmittelbaren Vertragspartner. Das Instrument der Schutzwirkung zugunsten Dritter dient nach herrschender Auffassung nicht der Durchbrechung der Relativität der Schuldverhältnisse, auch nicht in Ansehung einer etwa geringeren Werthaltigkeit dieser Ansprüche. Denn das Instrument dient der lückenschließenden Begründung von Ansprüchen, nicht der Verschaffung eines besonders solventen Schuldners. Untypisch wäre es auch, wenn Arbeitnehmer am entfernten Ende einer Lieferkette nicht nur in den Schutzbereich eines Liefervertrags einbezogen, sondern zu unmittelbaren Leistungsberechtigten von Schutzmaßnahmen würden (deren Realisierbarkeit auch häufig problematisch wäre). Die Konstellation entlang der Lieferkette entspricht mithin eher derjenigen eines sog. echten Vertrags zugunsten Dritter.44 Für die Annahme eines solchen „echten“ Vertrags zugunsten Dritter wäre jedoch erforderlich, dass im Verhältnis zwischen dem Besteller und dem Zulieferer oder der Tochtergesellschaft vereinbart würde oder nach den Umständen als vereinbart anzusehen wäre, dass etwa den Arbeitnehmern des Zulieferers oder der Tochtergesellschaft durch den Besteller oder die Muttergesellschaft gewisse Leistungen gewährt werden sollen. Abstrakt vorstellbar wären etwa Überwachungs- oder Kontrollpflichten des 42 Bomsdorf/Blatecki-Burgert, ZRP 2020, 42, 42. 43 BGH v. 7.12.2017 – VI ZR 204/14, NJW 2018, 1537; vgl. zuvor schon BGHZ 51, 96; BGHZ 129, 169 zum Ausschluss einer Schutzwirkung zugunsten Dritter bei Bestehen eines anderweitigen kongruenten vertragsrechtlichen Anspruchs. Überblick etwa bei Grüneberg in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 328 BGB Rz. 13 ff. 44 Heinlein, NZA 2018, 276, 279 f.; Schneider, NZG 2019, 1369, 1375 f.

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Bestellers oder Mutterunternehmens als vertragliche Nebenpflichten zugunsten der in die Vertragserfüllung einbezogenen Personen im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB, wenn vor Ort bei der Rekrutierung von Personal zu Werbezwecken etwa auf die konzernweit hohen Sicherheits- oder Sozialstandards in den Unternehmen der Gruppe verwiesen wird. Audit-Unternehmen, die eine laufende oder jedenfalls punktuelle Kontrolle vor Ort im Auftrag des Bestellers oder der Muttergesellschaft übernehmen, könnten dann als Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB gelten. Je nach Ausgestaltung oder Auslegung der übernommenen Verantwortung könnte eine Schadensersatzpflicht schon bei fahrlässiger Verletzung der Kontrollpflichten begründet werden (§ 280 Abs. 1, § 276 Abs. 1 BGB).45 Diese möglichen Konsequenzen sind kautelarjuristisch bei der Gestaltung ausgefeilter liefervertraglicher Codes of Conduct oder ähnlicher Regelwerke zu bedenken, mit dem Ziel, möglichst klare Schutzstandards und Kontrollpflichten zu normieren und zugleich klarzustellen, ob und ggf. für wen hierdurch vertragliche Rechte begründet werden sollen. Das Risiko derartiger wohlmeinender Gestaltungen liegt darin, dass sie bei mangelnder Regelungsklarheit anspruchsbegründend interpretiert werden können und recht unbestimmte Sorgfaltspflichten sich faktisch einer verschuldensunabhängigen Haftung für das Verhalten Dritter annähern können. In diesem Zusammenhang wird bereits von einer (grundsätzlich) verschuldensabhängigen „Sicherstellungshaftung“ für das deliktische Fehlverhalten von Tochtergesellschaften und Zulieferern gesprochen, die neben die eigene Verschuldens- und Gefährdungshaftung treten könne.46 Eine Art Eingehungs- oder Organisationsverschulden des Bestellers oder Konzerns wird von den Protagonisten dieser Auffassung darin gesehen, dass er mit der Verlagerung der Produktion in einen unter Arbeits-, Sozial- oder Umweltschutzgesichtspunkten weniger gut funktionierenden Raum Anlass gegeben habe und quasi mitschuldig sei für die erschwerte Durchsetzbarkeit von Ansprüchen gegen unmittelbare Schädiger.47 Schwingt in dieser Haftungsherleitung eine offenkundig grundsätzliche Globalisierungskritik mit, so berechtigt ist im Sinne eines Warnhinweises die Analyse, dass Klauseln, die in Antizipation der Zuschreibung möglicher eigener Sorgfaltspflichten detaillierte Codes of Conduct für verbindlich erklären und Kontrollvorbehalte vor Ort umfassen, Haftungsrisiken überhaupt erst begründen oder vergrößern können.48 Denn je genauer ein Code of Conduct und Kontrollmaßnahmen geregelt werden, desto näher liegt eine Auslegung, die hierin die Anerkennung eigener Verantwortlichkeit ggf. auch gegenüber Dritten erkennt. Dementsprechend empfiehlt sich ein besonders hohes Maß an Präzision bei der Gestaltung der einschlägigen Klauseln, um eine überschießende Interpretation auszuschließen. Die Gefahr eines „sich selbst validierenden Zirkels“, in dem Haftungsvermeidungsbemühungen in ein nicht gewolltes Maß an

45 Heinlein, NZA 2018, 276, 278 ff.; Thomale/Hübner, JZ 2017, 385, 393; Beckers, Enforcing Corporate Social Responsibility Codes, 2015, S. 47 ff. 46 Schneider, NZG 2019, 1369, 1370; Zur „Sicherstellungshaftung“ als neuem haftungsrechtlichen Institut: Koziol, AcP 219 (2019), 377. 47 Schneider, NZG 2019, 1369, 1379; grundlegend Koziol, AcP 219 (2019), 376, 403, 404 ff. Vgl. van Dam, JETL 2 (2011), 221: „trade has been globalised – justice not yet“. 48 Schneider, NZG 2019, 1369, 1376; Rotsch, ZIS 2010, 614, 615.

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Selbstverpflichtung und vertragliche Haftungsrisiken umschlagen,49 ist jedenfalls ernst zu nehmen. 2. Deliktsrechtliche Haftung – Verkehrssicherungspflichten? Soweit nicht der Besteller oder eine Konzernobergesellschaft selber Verantwortung für eine Verletzung absolut geschützter Rechtsgüter oder von eigenen Verpflichtungen aus Menschenrechts- oder Umweltstandards trägt, ist die Herleitung einer Haftung für die Verletzung von ESG-Standards, zumal im Ausland, eher fernliegend. Gemäß Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO ist regelmäßig an den deliktischen Erfolgsort anzuknüpfen, sodass bei einer Rechtsgutsverletzung am Produktionsort das örtliche Recht anwendbar wäre.50 Bei Umweltschäden besteht nach Art. 7 Rom II-VO ein Wahlrecht des Geschädigten zwischen Erfolgs- und Handlungsort. Teils wird über die Ausweichklausel des Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO51 oder den ordre public-Vorbehalt in Art. 26 Rom II-VO52 ein Weg ins deutsche Deliktsrecht gesucht. Art. 26 Rom II-VO setzt jedoch voraus, dass das Haftungsrecht des Erfolgsorts unzureichend ist, was jedenfalls nicht als Regel unterstellt werden kann. Die Statthaftigkeit einer Schadensersatzklage am allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten (Art. 4, 63 EuGVVO) wird wohl überwiegend angenommen.53 Beurteilt man hiernach etwa eine Klage wegen Umweltschäden nach deutschem Deliktsrecht, beschränken sich haftungsbewehrte Sorgfaltsgebote grundsätzlich auf das eigene Verhalten und die eigene Sphäre, sodass eine Haftung für das Fehlverhalten Dritter grundsätzlich ausscheidet.54 Danach muss eine Haftungsherleitung etwa daran anknüpfen, dass die Bedingungen einer örtlichen Rohstoff- oder Energiegewinnung oder Produktion beim Zulieferer nicht hinreichend sorgfältig angeleitet oder kontrolliert worden seien. Dem steht indes grundsätzlich die Eigenverantwortung des unmittelbar handelnden Unternehmens entgegen, soweit nicht eigene Verkehrssicherungs- oder Sorgfaltspflichten des Bestellers oder Mutterunternehmens durch eine organisatorische Mitverantwortung infolge vertraglich begründeter Organisations-, Mitsprache- oder sonstiger Mitwirkungsrechte begründet oder übernommen werden. Genau hier setzen die im Gesetzgebungsverfahren intensiv diskutierten Sorgen vor den Auswirkungen des wenig präzisen neuen gesetzlichen Pflichtenkatalogs nach dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz an. Generell sind Tochter- und Zulieferunternehmen weder Organe im haftungsrechtlichen Sinne nach § 823 Abs. 1

49 Schneider, NZG 2019, 1369, 1378; Kuhlen in Maschmann, Corporate Compliance und Arbeitsrecht, 2009, S. 11, 24. 50 Schneider, NZG 2019, 1369, 1370; Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 739 f. 51 Thomale/Hübner, JZ 2017, 385, 391 f.; Weller/Thomale, ZGR 2017, 509, 524 f. 52 Weller/Kaller/Schulz, AcP 216 (2016), 387, 393 ff. 53 Kieninger, IPRax 2020, 60, 61 unter Verweis auf EuGH v. 1.3.2005 – C-281/02, Andrew Owusu ./. N. B. Jackson u.a., Slg. 2005, I-01383 = IPRax 2005, 244 m. Anm. Heinze/Dutta, IPRax 2005, 224. 54 Schneider, NZG 2019, 1369, 1370; Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 757 ff.

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i.V.m. § 31 BGB analog55 noch Verrichtungsgehilfen i.S.d. § 831 Abs. 1 BGB.56 Auch stellen völkerrechtlich verbürgte Menschenrechte und Umweltstandards mangels direkter Geltung zwischen Privatrechtssubjekten und angesichts ihrer Unbestimmtheit keine Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB dar.57 Neben einer absoluten Rechtsgutsverletzung setzt der Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 1 BGB die Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht voraus. Denn für Besteller oder Mutterunternehmen kommt praktisch nur eine Haftung wegen Unterlassens in Betracht. Solange eine gesetzliche Regelung von Sorgfaltspflichten wie im Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz fehlt, ist grundlegend fraglich, ob eine Verkehrssicherungspflicht eines Bestellers oder Mutterunternehmens für Verhältnisse in Zuliefererbetrieben oder selbständigen Tochterunternehmen überhaupt angenommen werden kann. Eine solche Verkehrssicherungs- oder Sorgfaltspflicht setzt die Schaffung oder Übernahme und Aufrechterhaltung einer Gefahrenlage voraus.58 Ein allgemeines Gebot, andere vor (Selbst-)Gefährdung zu bewahren. oder ein Verbot, sie zu gefährden, besteht nicht.59 Verkehrssicherungspflichtig ist von vornherein nur, wer eine Gefahrenquelle hervorruft und in der Lage ist, die erforderlichen Abwehrmaßnahmen zu treffen,60 was bei internationalen Sachverhalten und dem Erfordernis einer Intervention in einer fremden Jurisdiktion häufig zu verneinen sein wird. Grundsätzlich können aber auch mehrere Personen nebeneinander verpflichtet sein.61 Soweit eine Pflicht hiernach besteht, kann sie ggf. durch Vertrag auf Dritte (etwa örtliche oder regionale Tochtergesellschaften) übertragen werden, wenn die Abrede eine zuverlässige Sicherung der Gefahrenquelle garantiert.62 Die Verkehrssicherungspflicht des Abgebenden verengt sich in diesem Fall grundsätzlich auf Kontrollund Überwachungspflichten gegenüber dem Dritten.63 Derartige vertragliche und organisatorische Absprachen bedürfen im Lichte des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes nunmehr der Überprüfung und ggf. Nachschärfung. Der Inhalt und die Reichweite einer Verkehrssicherungspflicht bestimmt sich hierbei nach der (dynamischer Veränderung zugänglichen) Verkehrsauffassung. Die im 55 Wagner, RabelsZ 2016, 717, 750 ff. 56 Allgemein: Bomsdorf/Blatecki-Burgert, ZRP 2020, 42, 43. Zu eigenständigen Lieferanten: Schneider, NZG 2019, 1369, 1371; Thomale/Hübner, JZ 2017, 385, 393; Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 771 ff.; Hübner in Krajewski/Oehm/Saage-Maaß, Zivil- und strafrechtliche Unternehmensverantwortung für Menschenrechtsverletzungen, S. 13, 19. Zu Tochtergesellschaften: Grunewald, NZG 2018, 481; Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 759; Fleischer/Danninger, DB 2017, 2849, 2855 f.; a.A. Schall, ZGR 2018, 479, 492 ff.; König, AcP 217 (2017), 611, 661 ff. 57 Schneider, NZG 2019, 1369, 1374. 58 Siehe nur BGH NJW 2014, 2104 Rz. 9; BGHZ 195, 30 Rz. 7; BGH NJW-RR 2011, 888 Rz. 9. 59 BGH VersR 2008, 1083. 60 Sprau in Palandt, 80. Aufl. 2021, § 823 BGB Rz. 48. 61 OLG Hamm NJW-RR 2015, 86, 87. 62 Den Übertragenden treffen Prüf- und Hinweispflichten: OLG Frankfurt NJW-RR 2008, 1476; BGH NJW 1996, 2646. 63 BGH NJW-RR 1989, 394.

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Verkehr erforderliche Sorgfalt ist erfüllt, wenn die den Umständen nach zumutbaren64 Vorkehrungen getroffen werden, die ein verständiger, umsichtiger, gewissenhafter Angehöriger des betroffenen Verkehrskreises für ausreichend halten darf, um Schäden zu verhindern.65 Dabei kommt es auf die Art des bedrohten Rechtsguts, das Ausmaß der Gefahr bemessen an der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und den möglichen Schaden an.66 Einzubeziehen sind die Kosten der Gefahrenabwehr sowie Möglichkeiten Dritter oder des Gefährdeten selbst sich zu schützen.67 Teils wird versucht, aus diesen anerkannten Grundsätzen eine weitreichende Überwachergarantenstellung entlang Lieferketten abzuleiten.68 Corporate GovernanceEntwicklungen zur Selbstverpflichtung, CSR-Reportingpflichten und der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte in Deutschland69 hätten zu der Erwartung geführt, dass Unternehmen auch durch die Auswahl und Kontrolle ihrer Zulieferer für die Einhaltung der Menschenrechte einstehen.70 Diese Sicherungspflicht verlange von deutschen Unternehmen, über Codes of Conducts und entsprechende vertraglich zugesicherte Kontrollmaßnahmen deliktisches Fehlverhalten von Zulieferern im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zu verhindern,71 soweit dies den Umständen nach angemessen sei.72 Ein möglicher Bezugspunkt für die Annahme von Verkehrssicherungspflichten sind die Entscheidungen der Nationalen Kontaktstelle für die OECD-Leitsätze.73 Danach kommt es auf die Intensität der wirtschaftlichen Beziehungen an (gegenüber Tochterunternehmen gelten hiernach strengere Sorgfaltsmaßstäbe als gegenüber anderen

64 BGHZ 112, 74, 75 f.; BGHZ 58, 149, 158; BGH NJW 2007, 762 Rz. 11; OLG Celle NJWRR 2011, 106. 65 StRspr: BGH NJW 2014, 2104 Rz. 9; BGH NZV 2014, 167 Rz. 14; BGHZ 195, 30 = NJW 2013, 48 Rz. 7; BGH NJW-RR 2011, 888 Rz. 9. 66 BGH NJW 1965, 197, 199. 67 BGH NJW 2002, 1887, 1888 (Wuppertaler Schwebebahn). 68 Weller/Thomale, ZGR 2017, 509, 520 ff.; Thomale/Hübner, JZ 2017, 385, 394; Payandeh in FS Karsten Schmidt, Bd. II, 2019, S. 131, 141 ff.; Saage-Maaß/Leifker, BB 2015, 2499, 2501 ff.; zurückhaltend: Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 771 ff.; bzgl. Tochtergesellschaften Habersack/Zickgraf, ZHR 182 (2018), 252, 279 ff. (Haftung der Muttergesellschaft, wenn die Schädigung durch Tochter auf aktiver Einflussnahme beruht, die sich auf Steuerung konkreter Gefahrenquelle bezieht – dies dürfte konsensfähig sein); Grunewald, NZG 2018, 481, 484 (Haftung bei konkreten Weisungen im Sinne eines aktiven Tuns – auch dies dürfte Konsens sein); Fleischer/Danninger, DB 2017, 2849, 2856. 69 Insbesondere Leitprinzip 13: Unternehmen sind auch dafür verantwortlich, was im Rahmen ihrer Geschäftsbeziehungen zu Dritten passiert. 70 Payandeh in FS Karsten Schmidt, Bd. II, 2019, S. 131, 142; Thomale/Hübner, JZ 2017, 385, 394; Weller/Thomale, ZGR 2017, 509, 521 f. 71 Schneider, NZG 2019, 1369, 1370; ausführlich Klinger/Krajewski/Krebs/Hartmann, Verankerung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten von Unternehmen im deutschen Recht, 2016, S. 25 ff.; Payandeh in FS Karsten Schmidt, Bd. II, 2019, S. 131, 143 ff. 72 Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 208. 73 Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 208.

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Zulieferern), auf die Art der konkreten Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten,74 die Lage am Produktionsort75 und die Vorhersehbarkeit von Risiken.76 Nach diesen Topoi soll eine originäre Verkehrssicherungspflicht der Muttergesellschaft bestimmt werden, die gleichwohl das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip wahrt77 und auch die Eigenverantwortung des unmittelbar handelnden Unternehmens.78 Diese großzügige Herleitung recht unbestimmter Überwachungs- und Organisationspflichten deutscher Muttergesellschaften wird von der wohl noch herrschenden Auffassung als vorschnelle Gleichsetzung einer allgemeinen Verkehrserwartung mit einer Verkehrspflicht kritisiert.79 Entscheidend sei nicht nur, ob Verkehrsteilnehmer einen Schutzstandard erwarteten, sondern auch, ob sie ihn normativ erwarten dürften. Besteller oder Muttergesellschaft seien in der Regel nicht am besten zur Gefahrsteuerung in der Lage. Komplexe Handlungszusammenhänge geböten vielmehr meist die Verpflichtung anderer Akteure zur Erfüllung des Präventionszwecks. Der Anreiz zur Gefahrprävention durch Zuordnung von Haftungsrisiken solle bei den eigentlichen Gefahrverursachern ansetzen (und nicht bei den tiefsten Taschen). Die Konstruktion eigener Verkehrssicherungspflichten für Gefahren, die von Dritten ausgehen, laufe dem deliktsrechtlichen Vertrauensgrundsatz zuwider und bedürfe besonderer Begründung. Solange die Tochtergesellschaften und Zulieferer in der Lage seien, die Gefahr unmittelbar zu beherrschen, genüge deren Haftung zur Gefahrprävention.80 Die dogmatische Differenzierung zwischen den Verkehrssicherungspflichten von Mutter- und Tochtergesellschaft könne zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass es faktisch zu einer Aushöhlung der gesellschaftsrechtlichen Haftungsbeschränkung käme und die weitreichende Verkehrssicherungspflicht der 74 Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 208 unter Verweis auf Deutsche Kontaktstelle, Stellungnahme v. 4.11.2014, Uwe Kekeritz gegen Kik Textilien und Non-Food GmbH u.a., https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/A/abschlusserklaerung-kekeritz.pdf?__ blob=publicationFile&v= 1. Demnach ist die Sicherungspflicht bei effektiven, regelmäßigen, unangekündigt von unabhängigen Stellen durchgeführten Kontrollen grundsätzlich erfüllt. 75 Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 208 unter Verweis auf Kanadische Kontaktstelle, Stellungnahme v. 25.5.2017, Banro Corporation, https://www.international.gc.ca/tradeagreements-accords-commerciaux/ncp-pcn/statement-banro.aspx?lang=eng. 76 Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 208 unter Verweis auf Schwedische und Norwegische Kontaktstelle, Stellungnahme v. 9.2.2016, Statkraft AS, https://www.regeringen.se/ 491a34/contentassets/adf7cc51e10b46cf94fe5b57fcea0f50/slutligt-utlatande-jijnjevaerie-saa mi-village-statkraft-sca-vind-ab-ssvab-norges-och-sveriges-oecd-nationella-kontaktpunk ter-nkp. 77 Weller/Nasse, ZGR Sonderheft 2020, 107, 122; Fleischer/Korch, ZIP 2019, 2181, 2188. 78 Weller/Nasse, ZGR Sonderheft 2020, 107, 122 f., die anhand der klaren Abgrenzung von Gesellschafts- und Deliktsstatut im IPR verdeutlichen wollen, dass eine originäre deliktsrechtliche Überwachungs- und Kontrollpflicht (nach Deliktsstatut) nicht mit den Haftungsbeschränkungen nach Gesellschaftsrecht konfligiere. 79 Schneider, NZG 2019, 1369, 1370, 1371 ff. m.w.N. zur dogmatisch präzisen Kritik an (zu) weitreichenden deliktsrechtlichen Verkehrspflichten. 80 Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 766, 771; Wagner in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2017, § 823 BGB Rz. 100; Weller/Kaller/Schulz, AcP 216 (2016), 387, 401 f.; Habersack/Ehrl, AcP 219 (2019), 155, 201; Schneider, NZG 2019, 1369, 1372.

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Muttergesellschaft entlang ihrer Lieferketten nur schwer mit dem Trennungsprinzip vereinbar sei.81 Im Lichte dieser Erwägungen wird nach der lex lata eine deliktsrechtliche Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften auch für ESG-bezogene Verstöße ihrer Tochterunternehmen oder Zulieferer in aller Regel zu vernein sein. Eine derartige Haftung wäre unter den Aspekten der Rechtsunsicherheit und der mangelnden Quantifizierund damit Versicherbarkeit der Risiken angesichts langer und komplizierter Lieferketten auch mit unübersehbaren Konsequenzen verbunden. Sie würde die primäre Verantwortung der Akteure vor Ort verwischen und einer Klageindustrie auf der Suche nach den tiefsten Taschen Vorschub leisten – mit allen dysfunktionalen Effekten einer solchen Form des „private enforcement’s“. Vor dem Hintergrund dieses Status Quo drängt sich die Frage auf, ob das Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten einen „Gamechanger“ darstellen kann, der für international tätige deutsche Unternehmen zu diffusen Haftungsrisiken unter Durchbrechung der bisherigen dogmatischen Regeln der deliktischen Haftung führen kann.

III. Der Entwurf eines Sorgfaltspflichtengesetzes im Einzelnen Könnte das nunmehr verabschiedete Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in Lieferketten („Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – LkSG“)82 für international tätige deutsche Unternehmen unter Durchbrechung der bisherigen Dogmatik zu diffusen Haftungsrisiken führen, auch wenn nach dem am Ende des Gesetzgebungsverfahrens gefundenen Kompromiss eine Verletzung der Pflichten aus diesem Gesetz als solche keine zivilrechtliche Haftung begründen soll (§ 3 Abs. 3 Satz 1 LkSG)? Immerhin bleibt nach § 3 Abs. 3 Satz 2 LkSG eine unabhängig von diesem Gesetz begründete zivilrechtliche Haftung unberührt. Eine Verfestigung von Verkehrserwartungen zu Verkehrspflichten mit entsprechenden Haftungsfolgen nach allgemeinem Zivilrecht lässt sich hiernach nicht vollständig ausschließen. Wie bereits angesprochen, könnte dies auch bilanziell erhebliche Folgen haben, insbesondere da die resultierenden Risiken bislang kaum versicherbar scheinen. Auf der Hand liegt jedenfalls, dass das Gesetz zu deutlichen Wettbewerbsverzerrungen führen kann, soweit internationale Wettbewerber der deutschen Unternehmen vergleichbaren und jedenfalls vergleichbar weitreichenden Pflichten und Risiken gerade nicht unterliegen. Entsprechend dringen die Interessenverbände darauf, mindestens eine europaweite Regelung abzuwarten. Auch die Ge81 Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 759 ff.; Habersack/Zickgraf, ZHR 182 (2018), 252, 259; Kieninger, IPRax 2020, 60, 61. 82 Im Folgenden diskutiert anhand des Referentenentwurfs des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit Bearbeitungsstand 15.2.2021 („RefE“), der Grundlage der Ressortabstimmung war, und der finalen Fassung des Gesetzes, das am 25.6.2021 den Bundesrat passiert hat (BGBl. I 2021, S. 2959). Das Artikelgesetz („Gesetz über die unternehmerischen Sorgfaltspflichten in Lieferketten“) umfasst neben Änderungen des GWB, WRegG und BetrVG in seinem Art. 1 vor allem das neue Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – LkSG; das Gesetz wird im Wesentlichen zum 1.1.2023 in Kraft treten.

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fahr dysfunktionaler Effekte, namentlich des Rückzugs deutscher Unternehmen aus Krisenregionen wegen eines Missverhältnisses von Geschäftschancen und Haftungsrisiken, statt dort auf die Durchsetzung völkerrechtlich anerkannter Menschenrechtsund Umweltschutzstandards zu dringen, liegt nicht gänzlich fern. Das vorangegangene Eckpunktepapier von BMAS und BMZ für ein deutsches Sorgfaltspflichtengesetz83 sah eine unternehmerische Sorgfaltspflicht zur Ermittlung, Analyse, Prävention und Behebung von Menschenrechtsrisiken und -verletzungen vor. Umweltschutz und Korruptionsbekämpfung mit menschenrechtlichem Bezug sollten von der Prüfpflicht umfasst sein, wurden aber weitgehend ausgespart. Das Risikomanagement sollte ausdrücklich „verhältnismäßig“ ausgestaltet werden. Bei einem Verstoß gegen das Gesetz sollten Schadensersatzklagen Geschädigter vor deutschen Gerichten ermöglicht werden. Die Unternehmen sollten für Verletzungen absoluter Rechtsgüter wie Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und allgemeines Persönlichkeitsrecht haften, soweit die Verletzungen vorhersehbar waren und bei Einhaltung der Sorgfaltspflicht vermeidbar gewesen wären. Dies hätte eine unmittelbare deliktsrechtliche Ableitung von Schadensersatzansprüchen ermöglicht. Eine „Safe Harbor“-Regelung sollte es den Unternehmen indessen ermöglichen, durch Beitritt zu einem staatlich anerkannten (Branchen-)Standard die zivilrechtliche Haftung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu beschränken. Im Rahmen behördlicher Durchsetzung sollte zunächst eine Möglichkeit zur Nachbesserung eröffnet werden, bevor „angemessene“ Bußgelder möglich werden sollten. Betroffene Unternehmen sollten in einem Register erfasst und für eine „angemessene“ Zeit von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen bleiben. Diese Eckpunkte haben heftige Kritik u.a. aus dem Bundeswirtschaftsministerium erfahren, sind aber sichtlich der wesentliche Orientierungspunkt für den Referentenentwurf aus dem BMAS geblieben. 1. Zur Zulässigkeit eines Sorgfaltspflichtengesetzes Ein nationaler Alleingang durch Erlass eines deutschen Sorgfaltspflichtengesetzes kann grundsätzlich unions- oder völkerrechtlichen Bedenken begegnen. Die Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes mit dem Recht der Europäischen Union ist bis zur Konkretisierung eigener legislativer Aktivitäten auf europäischer Ebene schwerlich zu bestreiten. Der Entwurf berührt keine ausschließliche Unionszuständigkeit nach Art. 2, 3 oder Art. 6 AEUV.84 Solange die Union selber noch nicht tätig geworden ist, steht auch Art. 4 AEUV einer nationalen Regelung nicht entgegen. Die 83 Entwurf für Eckpunkte eines Bundesgesetzes über die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz), 10.3.2020, https://die-korrespondenten.de/ fileadmin/user_upload/die-korrespondenten.de/Lieferkettengesetz-Eckpunkte-10.3.2020. pdf. 84 Ausgenommen umweltbezogene Sorgfaltspflichten zur Erhaltung der Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik, Henn/Jahn, Rechtsgutachten. Zulässigkeit und Gegenstand umweltbezogener Sorgfaltspflichten in einem deutschen LieferkettenG – unter besonderer Berücksichtigung von Chemikalien und Biodiversität, Juli 2020, S. 21.

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geplante Unionsgesetzgebung soll auf Art. 50 Abs. 1, Abs. 2 (g) AEUV sowie Art. 114 AEUV i.V.m. Art. 50 AEUV gestützt werden.85 Ob die Voraussetzungen einer Rechtsangleichung nach Art. 114 AEUV gegeben sind, erscheint angesichts der parallelen gesetzgeberischen Aktivitäten auf Ebene der Mitgliedstaaten jedenfalls diskutabel. Bemerkenswert ist die Inanspruchnahme der gesellschaftsrechtlichen Kompetenz nach Art. 50 AEUV, wo die bisherige Diskussion bereits deutlich gemacht hat, dass die Auswirkungen im Wesentlichen im Deliktsrecht liegen werden. Im Interesse eines mindestens unionsweiten level playing field’s wäre eine Regelung auf Unionseben jedenfalls wünschenswert. Die Sensibilität für mögliche dysfunktionale Effekte ambitionierter Regelungen im globalen Interesse ist dabei auf Ebene der EU durchaus gegeben, wie den Diskussionen über eine an den EU-Außengrenzen zu erhebenden CO2-Abgabe entnommen werden kann. Auch dass ein deutsches Sorgfaltspflichtengesetz völkerrechtswidrig wäre, wird schwerlich dazulegen sein. Die Regulierung extraterritorialer Unternehmenstätigkeiten wirkt als solche nicht auf die politische Willensbildung in anderen Staaten ein und stellt damit keinen Verstoß gegen das Interventionsverbot dar. Es sollen auch keine Hoheitsakte auf fremdem Territorium durchgesetzt werden. Aus internationalen Menschenrechtsabkommen folgt, wenn nicht sogar eine Pflicht, so doch jedenfalls die Befugnis Deutschlands, große in Deutschland tätige Unternehmen anzuhalten, Menschenrechtsverletzungen durch andere Akteure und Ereignisse vorzubeugen;86 hierin kann man eine Kompetenz zur extraterritorialen Regulierung entsprechender Risiken angelegt sehen.87 Der im Oktober 2020 im Menschenrechtsrat diskutierte Entwurf eines UN-Abkommens für Wirtschaft und Menschenrechte würde ein nationales Sorgfaltspflichtengesetz unter Umständen sogar gebieten. Jedenfalls über die Ansässigkeit der Unternehmen oder entsprechend große Zweigniederlassungen (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 2 LkSG) in Deutschland als Kriterium für die sachliche Anwendbarkeit des Gesetzes besteht eine hinreichende territoriale Anknüpfung. Hinsichtlich Umweltschäden dürfte auch das Wirkungsprinzip für die Jurisdiktionshoheit Deutschlands sprechen, soweit es um die Verhinderung oder Sanktionierung von Umweltbeeinträchtigungen aus Deutschland heraus oder gegenüber in Deutschland ansässigen oder in signifikantem Umfang tätigen Unternehmen geht.

85 EU Kommission, EU Study on due diligence requirements through the supply chain, 2020, S. 231 f. Soweit es um umweltbezogene Sorgfaltspflichten geht, kommt auch Art. 192 AEUV als Rechtsgrundlage in Betracht. Eine Sorgfaltspflichtenregelung, die sich auf die konzerninterne Verantwortlichkeit für das Handeln oder Unterlassen von Tochtergesellschaften bezieht, wäre sachnäher zu Art. 50 AEUV. Für die Begründung allgemeiner Sorgfaltspflichten mit Blick auf die Vermeidung von Menschenrechtsverstößen lassen sich unterschiedliche Begründungsansätze wählen, ggf. auch über Art. 114 AEUV. 86 Human Rights Committee, General Comment 31, U. N. Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.13, § 6, 8; hinsichtlich der EMRK: EGMR v. 28.10.1998, Nr. 23452/94, § 115 f. 87 UNHRC, UN Doc. A/HRC/4/035, § 15; eine Regulierungspflicht bei Kenntnis menschenrechtlicher Risiken wird mehrheitlich abgelehnt (U. N. Doc. E/CN.4/2006/47, §§ 78 ff.); befürwortend jetzt aber Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 207; Krajewski, Verfassungsblog v. 5.6.2020 (https://verfassungsblog.de/voelkerrechtliche-verpflichtung-der-bun desrepublik-zum-erlass-eines-lieferkettengesetzes/).

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Nicht ganz zweifelsfrei ist indessen die Vereinbarkeit des LkSG mit dem Wirtschaftsvölkerrecht. Auch menschenrechts- und umweltbezogene Sorgfaltspflichten können zumindest mittelbar-faktisch diskriminierende Maßnahmen im Sinne des GATT darstellen. Sie verbieten zwar keine konkreten Produkte, verdrängen aber unter Menschenrechtsverletzungen oder umweltschädlich hergestellte Produkte vom Markt und können – und sollen ja auch – insoweit für ausländische Produkte eine verbotsähnliche Wirkung entfalten. Dies ist mit Blick auf die Prinzipien der Meistbegünstigung nach Art. I:1 GATT, Art. 2.3 SPS, Art. 2.1 TBT, Art. 2 GATS, Art. 4 TRIPS und der Inländerbehandlung nach Art. III:4 GATT zu prüfen. Die Sorgfaltspflichten dienen jedoch dem auch wirtschaftsvölkerrechtlich legitimen Schutz von Menschen, Tieren und Pflanzen sowie dem Erhalt erschöpflicher Ressourcen im Sinne des Art. XX (b), (g) GATT. Diese Ausnahmetatbestände legitimieren auch Regelungen, die auf den Erhalt globaler öffentlicher Güter außerhalb der eigenen Jurisdiktion zielen.88 Von wesentlicher Bedeutung wird für die Bewertung sein, dass die Sorgfaltspflichten an Kernbestände weithin von der Staatengemeinschaft anerkannter Übereinkommen anknüpfen, wie dies in der Anlage zu § 2 Abs. 1, § 7 Abs. 3 Satz 2 LkSG angelegt ist. Die vor Erlass einseitiger Maßnahmen bestehenden zwischenstaatlichen Kooperationspflichten dürften mit der Verabschiedung der durchzusetzenden Übereinkommen zum Menschenrechts- und Umweltschutz bereits hinreichend erfüllt sein. Auf nationaler Ebene ist die Kritik der Haftungsausweitung als „Systembruch per Gesetz“ wohl primär rechtspolitisch einzuordnen.89 Befürworter des Sorgfaltspflichtgesetzes verweisen dagegen auf die Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers, neben dem primär Verkehrssicherungspflichtigen weiteren Personen Sorgfaltspflichten aufzuerlegen.90 Soweit das Gesetz nicht zu unverhältnismäßigen Grundrechtseingriffen führt, ist es auch national zulässig. Maßstabbildend sind in diesem Zusammenhang vor allem Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 GG und insbesondere die rechtsstaatliche Bestimmtheit der Regelung mit Blick auf die zahlreichen tatbestandsqualifizierenden Beschränkungen auf „angemessenes“ Risikomanagement und auf die Verweisungen auf ggf. dynamisch interpretiertes Völkervertragsrecht. 2. Die Ausgestaltung der Sorgfaltspflichten Verpflichtete Unternehmen sind nach § 3 Abs. 1 LkSG zur Beachtung der im Gesetz festgelegten Sorgfaltspflichten entlang der Lieferketten „in angemessener Weise“ verpflichtet, um menschenrechtlichen und umweltbezogenen Risiken vorzubeugen, sie zu minimieren oder die Verletzung geschützter Rechtspositionen zu beenden. Zentraler Bezugspunkt für die Bestimmung der geschützten Rechtspositionen ist die Anlage zu § 2 Abs. 1, § 7 Abs. 3 Satz 2 LkSG mit der Auflistung maßgeblicher Übereinkommen der ILO über die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte bis zu einzelnen Umwelt88 Stoll/Jürging in Proelß, Internationales Umweltrecht, S. 183 ff. Rz. 22. 89 Schneider, NZG 2019, 1369, 1370. 90 Weller/Nasse, ZGR Sonderheft 2020, 107, 114.

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übereinkommen, deren Auswahl wenig nachvollziehbar ist, vom Minamata-Übereinkommen über Quecksilber und dem Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe zum Basler Übereinkommen über die grenzüberschreitende Verbringung gefährlicher Abfälle. Die menschenrechtlichen und umweltbezogenen Risiken, denen entgegengewirkt werden soll, sind in § 2 Abs. 2 und 3 LkSG näher ausgeführt, wobei Absatz 2 Nr. 9 generalklauselartig aus anthropozentrischer Sicht die Beeinträchtigung der Umwelt als Lebensgrundlage erfasst. Gefordert wird als Inhalt der Sorgfaltspflichten ein angemessenes und wirksames Risikomanagement (§ 4 Abs. 1 LkSG) unter Zuweisung unternehmensinterner Verantwortlichkeiten (§ 4 Abs. 3 LkSG) auf der Grundlage einer angemessenen (regelmäßigen und ggf. anlassbezogenen) Risikoanalyse im eigenen Geschäftsbereich und bei unmittelbaren Zulieferern (§ 5 LkSG). Bei Feststellung eines Risikos ist das Unternehmen zu unverzüglichen – angemessenen – Präventionsmaßnahmen verpflichtet (§ 6 LkSG), einschließlich einer Grundsatzerklärung der Unternehmensleitung zur „Menschenrechtsstrategie des Unternehmens“ (§ 6 Abs. 2 LkSG) mit bestimmten Mindestelementen und wirksamen Präventionsmaßnahmen im eigenen Geschäftsbereich sowie gegenüber unmittelbaren Zulieferern (§ 6 Abs. 3 und 4 LkSG). Bei Feststellung von Pflichtverletzungen sind angemessene Abhilfemaßnahmen zu ergreifen (§ 7 LkSG), die bis zu einem temporären Aussetzen oder äußerstenfalls Abbruch von Geschäftsbeziehungen reichen können (§ 7 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 LkSG) und regelmäßig und ggf. anlassbezogen auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen sind. Weiter müssen die Unternehmen ein Beschwerdeverfahren einrichten einschließlich einer Meldemöglichkeit für Risiken oder Verletzungen geschützter Rechtspositionen durch wirtschaftliche Tätigkeiten mittelbarer Zulieferer (§ 8 Abs. 1 LkSG), oder sich an einem qualifizierten externen Beschwerdeverfahren beteiligen (§ 8 Abs. 1 Satz 6 LkSG). Sie müssen auf Beschwerden gegenüber dem Hinweisgeber reagieren. § 9 LkSG regelt unverzüglich zu erfüllende Handlungspflichten des Unternehmens bei substantiierter Kenntnis von möglichen Verletzungen menschenrechts- oder umweltbezogener Pflichten bei mittelbaren Zulieferern, die Präventionsmaßnahmen und die Umsetzung eines Konzepts zur Verhinderung, Beendigung oder Minimierung der Verletzungen umfassen müssen. Näheres kann das BMAS im Einvernehmen mit dem BMWi durch Rechtsverordnung regeln. Damit wird die Präzisierung der im Gesetzgebungsverfahren besonders umstrittenen Pflichten entlang entfernterer Glieder der Lieferketten unterhalb der Ebene des förmlichen Gesetzes erfolgen, was rechtsstaatlich durchaus unbefriedigend ist. Abgesichert wird die Einhaltung der Sorgfaltspflichten durch Dokumentationsund Berichtspflichten (§§ 10, 12 f. LkSG) gegenüber dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (§ 19 LkSG) und auf der Website des Unternehmens gegenüber der Öffentlichkeit (§ 10 Abs. 2 LkSG). Das BAFA soll einen risikobasierten Kontrollansatz verfolgen und kann von Amts wegen oder auf Antrag eines potentiell Verletzten tätig werden (§ 14 LkSG). Hierfür wird es mit umfänglichen Anordnungs-, Betretens- und Auskunftsbefugnissen ausgestattet (§§ 15 ff. LkSG). Neben einem detaillierten Bußgeldkatalog (§ 24 LkSG) droht zur Sanktionierung von Verstößen der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen bis zu einer Selbstreinigung nach 553

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§ 125 GWB (§ 22 LkSG). Der zusätzliche behördliche Personalaufwand wurde im Gesetzgebungsverfahren mit 65 Vollzeitäquivalenten angegeben. Über dieses public enforcement hinaus sieht § 11 LkSG Erleichterungen für die zivilprozessuale Geltendmachung „überragend wichtiger Rechtspositionen“ durch die Zulassung einer besonderen Prozessstandschaft von inländischen Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen vor, die eine auf Dauer angelegte eigene Präsenz unterhält und sich nach ihrer Satzung ausdrücklich nicht gewerbsmäßig und nicht nur vorübergehend für den Schutz der betreffenden Rechtspositionen einsetzt (§ 11 Abs. 2 LkSG). a) Anwendungsbereich Verpflichtet werden nach § 1 LkSG Unternehmen unabhängig von ihrer Gesellschaftsform, die in Deutschland ihre Hauptverwaltung, ihre Hauptniederlassung oder ihren Sitz haben und die in der Regel im Inland mindestens 3.000 Arbeitnehmer beschäftigen. Ins Ausland entsandte Arbeitnehmer sowie Leiharbeitnehmer mit einer Einsatzdauer über sechs Monaten werden eingerechnet (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 LkSG). Ab 2024 sinkt der Schwellenwert auf 1.000 (§ 1 Abs. 1 Satz 3 LkSG). In der Endfassung des Gesetzes werden nunmehr auch ausländische Unternehmen mit einer entsprechend großen Zweigniederlassung in Deutschland den Sorgfaltspflichten unterworfen (§ 1 Abs. 1 Satz 2 LkSG). Damit wird jedenfalls partiell der Befürchtung einer Wettbewerbsverzerrung zu Lasten deutscher Unternehmen Rechnung getragen. Eine bloße Geschäftstätigkeit in Deutschland reicht indes nicht aus, erforderlich ist nach wie vor ein Inlandsbezug und Steuerungsentscheidungen in Deutschland im Sinne einer Zweigniederlassung gemäß § 13d HGB.91 Die Schwelle von perspektivisch 1.000 Arbeitnehmern erscheint vordergründig hoch im Vergleich zur CSR-Richtlinie, nach der Unternehmen mit mehr als 500 Arbeitnehmern im Jahresdurchschnitt zur Ergänzung ihres Lageberichts um eine nichtfinanzielle Erklärung verpflichtet sind. Allerdings zählen dort auch die Bilanzsumme und Nettoumsatzerlöse zu den Voraussetzungen einer Berichtspflicht.92 Die Loi de vigilance von 2017 sieht eine Sorgfaltspflicht für französische Aktiengesellschaften, Vereinfachte Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien mit 5.000 Mitarbeitern auf französischem Territorium oder 10.000 Mitarbeitern weltweit während zwei Geschäftsjahren in Folge vor. Die Zahl der hiernach erfassten Unternehmen dürfte offenkundig signifikant unter derjenigen nach dem geplanten Sorgfaltspflichtengesetz liegen. In Frankreich wird indessen eine Ausweitung der

91 Nach dem RefE (Begründung, S. 4 f.) sollten von dem Gesetz ab 2024 ca. 2.891 Unternehmen mit mehr als 1.000 Arbeitnehmern erfasst werden, von denen ca. 636 bereits jetzt im NAP-Monitoring erfasst seien; für 2.255 Unternehmen würden vollständig neue Pflichten begründet. Von diesen neu betroffenen Unternehmen werden etwa 2/3 (ca. 1.501) als „sehr stark betroffen“ eingeordnet, 536 als „stark“ betroffen, weitere 180 sollen „höhere“ und 38 „geringere“ menschenrechtlichen Risiken aufweisen. 92 Vgl. in Deutschland § 289b Abs. 1 Satz 1, § 264a, § 267 Abs. 3 Satz 1, § 264d HGB.

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Sorgfaltspflicht auf französische Tochtergesellschaften internationaler Konzerne erwogen.93 Für die Details und Methodik der Berechnung wird einerseits auf Rechtsprechung zum Betriebsverfassungs- und Arbeitnehmerüberlassungsrecht verwiesen, andererseits die Eigenständigkeit der Berechnung nach dem Schutzzweck des LkSG betont.94 Eine maßgebliche Rechtsunsicherheit ist hierdurch letztlich nicht zu erwarten. Die Praxis wird wie in anderen rechtlichen Zusammenhängen die Hauptverwaltung, Haupt- oder Zweigniederlassung pragmatisch zu bestimmen wissen. b) Die Sorgfaltspflichten Das Gesetz ist an vielen Stellen sichtlich geprägt durch das Bemühen um eine differenzierte Ausgestaltung der neu begründeten Sorgfaltspflichten. Dies gilt (aa) hinsichtlich der relevanten menschen- und umweltrechtlichen Standards, (bb) mit Blick auf die Abstufung der Pflichteninhalte entlang der Lieferketten und (cc) für die jeweils resultierenden Handlungspflichten der Unternehmen als solche. Ob dieses Bemühen letztlich zu einer Rechtsanwendung mit Augenmaß führen wird oder ob die Versuchung übermächtig sein wird, transnational tätigen Großunternehmen normativ ein Übermaß an Ingerenzmöglichkeiten und -pflichten an beliebiger Stelle auf dem Globus zuzuschreiben, insbesondere wenn gesetzlich ein „unverzügliches“ Wahrnehmen von Sorgfaltspflichten in „angemessenem“ Umfang und auf „wirksame“ Weise gefordert wird, bleibt ungewiss. aa) Begrenzte Bestimmtheit der relevanten menschen- und umweltrechtlichen Standards In der politischen Diskussion wurde der pauschale Verweis auf „international anerkannte Menschenrechte“ zur Bestimmung der Schutzgüter der Sorgfaltspflicht als dringend konkretisierungsbedürftig markiert. Der Umfang der Sorgfaltspflichten und ihre Operationalisierbarkeit hängt ganz wesentlich davon ab, welche konkreten Rechtsakte gemeint sind und in Bezug genommen werden.95 Die Sorgfaltspflichten sollen sich aus den Vorgaben der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sowie den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen ableiten.96 Damit werden als Softlaw wohl auch der OECD-Leitfaden für die Erfüllung der Sorg93 Conseil Générale de l’Economie de Industrie, de l’Energie et des Technologies, Evaluation de la mise en oeuvre de la loi n° 2017-399 du 27 mars 2017 relative au devoir de vigilance des sociétés meres et des entreprises donneuses d’ordre, S. 9 (https://www.economie. gouv.fr/files/files/directions_services/cge/devoirs-vigilances-entreprises.pdf). 94 Begründung RefE S. 13 f. unter Verweis auf BAG v. 16.11.2004 – 1 AZR 642/03 und BGH v. 25.6.2019 – II ZB 21/18. 95 Zu den Abstimmungen innerhalb der BReg vgl. Antwort der BReg v. 3.9.2020 auf Kleine Anfrage, BT-Drs. 19/22090, S. 8. 96 So der Ansatz im Entwurf für Eckpunkte eines Bundesgesetzes über die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz), 10.3.2020, https://die-korres

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faltspflicht für verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln,97 branchenspezifische OECD-Leitfäden und der ISO 26000-Leitfaden zur gesellschaftlichen Verantwortung98 relevant.99 Das 12. UN-Leitprinzip nennt als maßgebliche Erklärungen, Übereinkommen und Konventionen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, den UN-Zivilpakt und -Sozialpakt100 sowie die acht Kernübereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation.101 Auf die vom BMZ102 verfolgte Ergänzung der Auflistung um weitere Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, Diskriminierungen der Frau, gegen Folter, über die Rechte des Kindes, die UN-Behindertenrechtskonvention und das Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen wurde jedenfalls im RefE wohl als Ausdruck des Ressortkompromisses verzichtet, ebenso wie auf die Einbeziehung des ILO-Übereinkommens 169 über eingeborene und in Stämmen lebende Völker.103 Man sollte sich indes nicht täuschen: Auch mit der Enumeration der zu beachtenden menschen- und insbesondere arbeitsvölkerrechtlichen Regelungen ist keine wirkliche Klarheit über die Normgehalte, über mögliche Verletzungshandlungen und relevante Rechtsbeeinträchtigungen erreicht. Dies liegt in gewisser Weise in der Natur der Sache, da sich gerade das Völkervertragsrecht durch eine häufig zur politischen Kompromissfindung notwendige Unschärfe der Formulierungen auszeichnet, häufig mit interpretierenden oder auch einschränkenden Protokollerklärungen der Unterzeichnerstaaten verknüpft oder erst gar nicht anerkannt wird. Letzteres wurde der Öffentlichkeit gerade für ILO-Übereinkommen mit Blick auf den weltgrößten Produktionsstandort, die Volksrepublik China, nochmals deutlich, als China im Kontext der Grundsatzverständigung über ein Handelsabkommen mit der EU insoweit nur eine Bemühenszusage machte. Wie sollen also Unternehmen mit Zulieferstandorten in China eine weiterreichende Beachtung arbeitsvölkerrechtlicher Standards erreichen als die EU als größter Binnenmarkt der Welt?104 Immerhin reflektiert § 7 Abs. 3 Satz 2 LkSG dieses Dilemma, indem dort klargestellt wird, dass sich keine Pflicht zum Ab-

97 98 99 100 101

102 103 104

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pondenten.de/fileadmin/user_upload/die-korrespondenten.de/Lieferkettengesetz-Eck punkte-10.3.2020.pdf, S. 1. https://mneguidelines.oecd.org/OECD-leitfaden-fur-die-erfullung-der-sorgfaltspflichtfur-verantwortungsvolles-unternehmerisches-handeln.pdf. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/a395-csr-din26000.pdf%3F__blob%3DpublicationFile. Rünz, ZVertriebsR 2020, 290, 295. Jetzt aufgeführt als Nr. 1. und 2. in der Anlage zu § 3 Abs. 1 RefE. ILO-Übereinkommen 29 zu Zwangs- und Pflichtarbeit (mit zugehörigem Protokoll v. 11.6.2014), Übereinkommen 87 zur Vereinigungsfreiheit, Übereinkommen 98 zu Kollektivverhandlungen, Übereinkommen 100 zur Entgeltgleichheit, Übereinkommen 105 zur Abschaffung der Zwangsarbeit, Übereinkommen 111 zur Diskriminierung, Übereinkommen 138 zum Mindestalter, Übereinkommen 182 zur Kinderarbeit. Dies entspricht der Aufzählung in der Anlage zu § 3 Abs. 1 RefE (Nr. 3. bis 11.). Anhang zum BMZ-Entwurf v. 1.2.2019. Hierfür plädierte Rünz, ZVertriebsR 2020, 291, 293. Insbesondere die Volkswagen-Gruppe steht wegen Produktionsstandorten ihrer Zulieferer in Xinjiang und dem Schicksal der Uiguren unter Beobachtung der kritischen Öffentlichkeit, vgl. u.a. hierzu das Interview mit Herbert Diess, F.A.S. v. 14.2.2021, S. 19.

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bruch der Geschäftsbeziehungen allein aus dem Umstand ergeben soll, dass ein Staat die in der Gesetzesanlage aufgelisteten Übereinkommen nicht ratifiziert oder in sein nationales Recht umgesetzt hat. Die Handhabung des Gesetzes und bereits der Umgang mit der regelmäßig dynamischen Entwicklung und jedenfalls Interpretation der völkerrechtlichen Normbestände stellt besondere Anforderungen an eine Gesetzesanwendung mit Augenmaß. Dies gilt insbesondere für „geschützte Rechtspositionen“ wie „angemessenen Lohn“ oder „einwandfreies Trinkwasser“ oder Verletzungen wie „schädliche Lärmemission“ oder „übermäßigen Wasserverbrauch“ (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 8 und 9 LkSG). Schon in rein tatsächlicher Hinsicht wird es für das BAFA als Vollzugsbehörde, für deutsche Zivilgerichte oder Amtsgerichte in Bußgeldsachen nicht trivial sein, sich auch nur ein Urteil über den angemessenen Lohn für Pflücker auf Teeplantagen oder die Arbeitsbedingungen auf Kakaoplantagen zu bilden, erst recht jedoch für komplexere Verhältnisse in Zulieferbetrieben. Dies setzt die Normadressaten Interpretationsrisiken aus, denen auch mit Hilfe von BAFA-Handreichungen (siehe § 20 LkSG), unternehmensinterner Menschensrechtsbeauftragter oder Konzernbetriebsräte praktisch nur begrenzt zu begegnen sein wird. bb) Differenzierung der Pflichten entlang der Lieferkette Das Gesetz reflektiert diesen Grundkonflikt jedenfalls, indem für den Inhalt der jeweiligen Pflichten entlang der Lieferketten zwischen dem eigenen Geschäftsbereich des verpflichteten Unternehmens, unmittelbaren und mittelbaren Zulieferern differenziert wird (§ 2 Abs. 5 ff. LkSG). Zur Beurteilung der Angemessenheit des Unternehmenshandelns bietet der Gesetzgeber als Hilfestellung die Topoi der Art und des Umfangs der Geschäftstätigkeit des Unternehmens an, das Einflussvermögen des Unternehmens auf den unmittelbaren Verursacher eines Risikos oder einer Verletzung einer geschützten Rechtsposition, die typischerweise zu erwartende Schwere und Wahrscheinlichkeit einer Verletzung und die Art eines möglichen Verursachungsbeitrags zu entsprechenden Risiken (§ 3 Abs. 2 LkSG). Diese Regelungen signalisieren Verständnis für die Notwendigkeit einer Priorisierung unterschiedlicher, ggf. auch ähnlich gewichtigen menschenrechtlicher und umweltbezogener Handlungsdrucks. Es liegt jedoch nicht fern anzunehmen, dass im Laufe der Zeit die Erwartungen an die innerhalb des Unternehmens bereitgestellten Ressourcen, insbesondere Managementkapazität, steigen und nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch BAFA und Gerichte für den Nachweis der Unternehmen, ihren Sorgfaltspflichten nachgekommen zu sein, die Darlegung eines Gesamtkonzepts für das „Lieferketten-Management“ fordern und hierbei auch den Gesamtumfang der eingesetzten Ressourcen bewerten werden. Zur Präzisierung der Verhaltensanforderungen trägt es auch nicht unbedingt bei, wenn es bezogen auf das Risikomanagement exemplarisch heißt, dass das Unternehmen die Interessen seiner eigenen Beschäftigten, derjenigen innerhalb seiner Lieferkette und auch sonstige Betroffenheiten durch das wirtschaftliche Handeln in seinen Lieferketten angemessen zu berücksichtigen habe (§ 4 Abs. 4 LkSG). Dieses Abwägungsprogramm klingt zwar vor557

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dergründig denkbar offen, ist aber im systematischen Zusammenhang wenig mehr als der vorsichtige Hinweis des Gesetzgebers, dass bei der Bestimmung der angemessenen Handlungspflichten unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten auch gegenläufige Überlegungen zum unbedingten Schutz der aufgeführten Rechtspositionen Berücksichtigung fordern können. cc) Die Pflichten im Einzelnen In diesem Sinne wird den betroffenen Unternehmen ein „angemessenes Risikomanagement“ in allen maßgeblichen Geschäftsabläufen auferlegt, mit dem Risiken erkannt und minimiert und die Verletzung menschenrechts- oder umweltbezogener Pflichten i.S.v. § 2 Abs. 1 bis 4 LkSG verhindert, beendet oder minimiert werden soll, zu denen das Unternehmen zumindest beigetragen hat (siehe § 4 LkSG). Hier bestehen naturgemäß erhebliche Interpretationsspielräume, wenn es etwa um Arbeit geht, die ihrer Natur oder den Umständen nach für die Gesundheit von Kindern schädlich sein kann (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 d) LkSG), aus Sicht des Arbeitsschutzes mangelhafte Sicherheitsstandards, unzureichende Ruhepausen oder ungenügende Unterweisung von Beschäftigten (Nr. 5), nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlungen (Nr. 7) oder das Vorenthalten angemessenen Lohns (Nr. 8). Die Catch-all-Klausel des § 2 Abs. 2 Nr. 12 LkSG erweitert das Verbot schließlich auf jedes Tun oder pflichtwidrige Unterlassen, das unmittelbar geeignet ist, geschützte Rechtspositionen schwerwiegend zu beeinträchtigen, und dessen Rechtswidrigkeit „bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist“: Die prozedurale Pointe dieser weitreichenden Definition liegt freilich darin, dass die geforderte „verständige Würdigung“, eine Verletzung zu bewirken, naturgemäß erst ex post nach Eintreten eines gewichtigen Schadens im Rahmen eines rechtlichen Verfahrens angestellt wird. Erst dann wird gefragt, wer ein irgendwo entlang komplexer globaler Lieferketten realisiertes Risiko hätte verhindern können und wer dafür einzustehen hat. Es liegt nahe, dass die Geschädigten ihre Ansprüche primär an leistungsfähige und auch reputationell besonders exponierte global agierende Schuldner adressieren werden. Dass hierbei das Instrument einer Prozessstandschaft von Nichtregierungsorganisationen oder Gewerkschaften zum Ausfiltern wenig aussichtsreicher Klagen beitragen wird, mag eine Hoffnung sein, ist aufgrund der unvermeidlichen Eigeninteressen der Organisationen an Mobilisierung und Kampagnenfähigkeit aber nicht sicher. Dass auch die Verteidigung gegen unberechtigte, aber reputationell schädliche Klagen einen erheblichen Aufwand verursacht, versteht sich nicht nur für Unternehmenspraktiker, sondern ist aktuell auch die Erfahrung der deutschen Justiz, die mit Flutwellen weitestgehend aussichtsloser Klagen in Dieselfällen umgehen muss, die von Rechtsschutzversicherungen finanziert gegen Hersteller erhoben werden, auch wenn keine Manipulation wie in bestimmten Volkswagen-Fällen im Raum steht. Die Notwendigkeit einer angemessenen Gewichtung und Priorisierung bei der Risikoanalyse wird im Referentenentwurf ausdrücklich anerkannt (§ 5 Abs. 2 Satz 1 LkSG). Die Fehleranfälligkeit derart umfassender, weltweite komplexe Lieferbeziehungen erfassender Analysen und Abwägungen liegt freilich nicht nur für Planungsrechtsprak558

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tiker auf der Hand, die mit umfassenden Abwägungen auch nur auf Projektebene befasst sind. Hinzu kommt auch hier die naheliegende Verzerrung der Überprüfung der Risikoanalyse durch den bekannten hindsight bias, nachdem an bestimmter Stelle ein Schaden eingetreten ist. Nach § 6 LkSG werden den Unternehmen eine Grundsatzerklärung der Unternehmensleitung sowie angemessene Präventionsmaßnahmen bei Feststellung von Risiken aufgegeben. Die normativ erwarteten Inhalte solcher Präventionsmaßnahmen fallen unterschiedlich aus, je nachdem, ob es um den eigenen Geschäftsbereich des Unternehmens oder seine unmittelbaren Vertragspartner geht. Mittelbare Zulieferer sollen hiernach indirekt einbezogen werden, indem Unternehmen ihren direkten Vertragspartnern aufgeben, menschenrechtliche Risiken im weiteren Verlauf der Lieferkette angemessen zu adressieren (§ 6 Abs. 4 Nr. 2 und 3 LkSG). Nach § 9 Abs. 3 LkSG wird von Unternehmen eine anlassbezogene unverzügliche Reaktion erwartet, wenn es substantiierte Kenntnis über mögliche menschenrechtliche Verletzungen bei einem mittelbaren Zulieferer erlangt. Es liegt damit nahe, für solche Fälle vertragsrechtliche Vorkehrungen in Lieferverträgen zu treffen, etwa in Form eines Anspruchs des Unternehmens, von dem unmittelbaren Zulieferer den Austausch des mittelbaren Zulieferers zu verlangen. Genau dies kann indes in die oben beschriebene Dynamik immer weiterreichender eigener Steuerungsmöglichkeit, damit aber auch Verantwortungsübernahme des Unternehmens führen. Es ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber eine solche Dynamik als erwünschten Nebeneffekt zur Effektivierung seiner Regelungen gerne in Kauf nimmt. Die menschenrechtlichen Erwartungen sind nach alledem bei der Beschaffungsstrategie und Einkaufspraktiken generell „zu verankern“ (siehe etwa § 6 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 LkSG). Es wird interessant sein zu beobachten, ob Aufsichtspraxis und Gerichte insoweit bei der Beurteilung des Nachfrageverhaltens der Unternehmen einen Vergleich zu den Teilnahmewettbewerben der öffentlichen Hände nach Vergaberecht ziehen und von diesen ähnlich weitreichende (kostentreibende) Auswahl- und Vertragsgestaltungen verlangen werden. Nach Feststellung der Verletzung menschenrechts- oder umweltbezogener Pflichten trifft das Unternehmen die Pflicht zu unverzüglichen angemessenen Abhilfemaßnahmen (§ 7 LkSG), mit dem Ziel der Verhinderung, Beendigung oder jedenfalls Minimierung der Verletzung. Im eigenen Geschäftsbereich muss die Verletzung beendet werden (§ 7 Abs. 1 Satz 2 LkSG). Bezogen auf mittelbare Zulieferer soll § 9 Abs. 3 LkSG eine praktisch zentrale Erleichterung bringen, indem die Verpflichtungen grundsätzlich nur bei positiver Kenntnis des Unternehmens gelten. Anders als noch nach dem Referentenentwurf genügt es nicht, dass das Unternehmen die „erforderlichen Informationen angemessen ermitteln kann“ (so noch § 8 Abs. 1 Satz 3 a.E. RefE). Mit der Streichung dieses Satzteils ergibt sich ein ebenso klarer Anknüpfungspunkt für Handlungspflichten, wie ihn die E-Commerce-Richtlinie, das Telemedien- und auch das Netzwerkdurchsetzungsgesetz mit dem „notice and take down“-Prinzip für soziale Netzwerke und Intermediäre bei der Vermittlung oder Speicherung unübersehbarer Umfänge von Kommunikationsinhalten anerkennt und auch nach dem Kommissionsentwurf für den geplanten Digital Service Act gelten soll. Diese Regelwerke stellen jeweils nur auf die positive Kenntnis von konkreten Sachverhalten ab und knüpfen hieran unmittelbare, unverzüglich zu erfüllende Handlungspflichten. Netzwerke und Provider tragen hiernach 559

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zwar das – nicht unerhebliche – Risiko der rechtlichen Fehlbewertung dieser Sachverhalte, aber keine investigativen Pflichten, auch nicht für die auf ihren Serverfarmen gehosteten Inhalte. Organisatorisch wird von den Unternehmen schließlich die Etablierung eines für alle womöglich in ihren Rechtspositionen Verletzten zugänglichen Beschwerdeverfahrens verlangt (§ 8 LkSG), bei dem ggf. an etablierte Strukturen für Whistleblower oder sonstige Hinweisgeber angeknüpft werden kann. Diese Verfahren müssen auch für Beschwerden über mittelbare Zulieferer zur Verfügung stehen (§ 9 LkSG). Auch in der Forderung nach der Eröffnung effektiver Beschwerdemöglichkeiten und nach einem effektiven Bearbeitungsverfahren durch das Unternehmen mag man Anleihen an Maßnahmen zur Bekämpfung von Hate Speech im Bereich der sozialen Netzwerke nach dem NetzDG erkennen. Hinzu kommen, als Schnittstelle zur behördlichen Kontroll- und Durchsetzungstätigkeit des BAFA, entsprechende Dokumentations- und Berichtspflichten (§ 10 mit §§ 12 f. LkSG zur behördlichen Berichtsprüfung). 3. Public Enforcement durch das BAFA Zur behördlichen Durchsetzung der neuen materiellen und insbesondere organisatorischen Pflichten dienen neben der reaktiven Berichtsprüfung (§ 12 f. RefE) eine explizit „risikobasierte“ Kontrolle (§§ 14 ff., insbes. § 14 Abs. 2 LkSG) und die Sanktionsdrohungen des Ausschlusses von der Vergabe öffentlicher Aufträge (§ 22 LkSG mit Folgeänderungen in § 124 Abs. 2 GWB und im Wettbewerbsregistergesetz) sowie ein umfänglicher Bußgeldkatalog (§ 24 LkSG). Hervorzuheben ist hinsichtlich der Berichtsprüfung die ausdrückliche Möglichkeit einer Nachbesserung innerhalb behördlich bestimmter angemessener Frist (§ 13 Abs. 2 LkSG). Das BAFA kann als Vollzugsbehörde von Amts wegen oder auf Antrag tätig werden (§ 14 LkSG) und verfügt dabei über die typischen Anordnungsbefugnisse und Zwangsbefugnisse wie Betretensrechte oder Auskunftsrechte (§§ 15 ff. LkSG). Unternehmen und ihre Vertreter sind zur Duldung und Mitwirkung an behördlichen Maßnahmen verpflichtet (§ 18 LkSG). Für die Unternehmenspraxis von besonderem Interesse sind absehbar die „Handreichungen“, also Informationen, Hilfestellungen und Empfehlungen, die das BAFA zur Wahrnehmung der Sorgfaltspflichten veröffentlichen soll (§ 20 LkSG). Hier ist aus praktischer Sicht zu hoffen, dass die Behörde bereits rechtzeitig vor Inkrafttreten des Sorgfaltspflichtengesetzes zum 1.1.2023 richtungweisende Hinweise zur erwarteten Umsetzung gibt, die sinnvollerweise vorab zur öffentlichen Kommentierung gestellt werden sollten. Auf ähnlich großes Interesse werden später die in § 21 LkSG vorgesehenen Rechenschaftsberichte stoßen. Bußgeldbewehrt ist nahezu jeder denkbare Verstoß gegen das Gesetz (§ 24 Abs. 1 LkSG). Dies gilt beispielsweise für die „nicht richtige“ oder „nicht vollständige“ Risikoanalyse (Nr. 2 und 8) oder die „nicht rechtzeitige“ Reaktion bei wesentlichen Änderungen oder sonstigem Handlungsbedarf (Nr. 2 bis 12). Dies ist rechtsstaatlich bedenklich, da die sanktionierten Sorgfaltspflichten gänzlich neu und nur vage durch 560

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zahlreiche Generalklauseln konturiert sind. Hier führt die mangelnde Bestimmtheit und Normenklarheit der Sorgfaltspflicht zu einer unzureichenden Tatbestandsbestimmtheit. Nach § 3 OWiG hat der Gesetzgeber jedoch größtmögliche Klarheit bei der Fassung von Sanktionsnormen herzustellen.105 Das Gesetz muss so bestimmt sein, dass es als Verhaltensanleitung dienen kann. Dies wird bei Einführung gänzlich neuer materieller Sorgfaltsanforderungen allenfalls für die formalen Anforderungen des Gesetzes zu bejahen sein, also etwa die Erfüllung der Pflicht zur Abgabe einer Grundsatzerklärung, zum Erstellen einer Risikoanalyse, zum Ergreifen bestimmter Maßnahmen oder für die Berichtspflichten als solche. Ohne eine nähere inhaltliche Konturierung der Pflichten kann jedoch nicht auf eine bestimmte Qualität der unternehmerischen Maßnahmen abgestellt werden, also ein Bußgeld verhängt werden, ohne dass sich eine bestimmte Praxis des Normvollzugs eingestellt hat. In diesem Sinne erklärte auch der französische Conseil Constitutionnel die Bußgeldvorschrift der Loi de vigilance wegen unzureichend klarer Regelung der Pflichtverstöße für verfassungswidrig.106 Eine kritische rechtsstaatliche Prüfung ist umso mehr angebracht, als die Bußgeldhöhe grundsätzlich auf einen Rahmen von 100.000 bis 800.000 Euro angelegt ist, der bei Unternehmen mit mehr als 400 Mio. Euro Jahresumsatz sogar auf 2 % dieses Jahresumsatzes erhöht wird, wenn die Verletzung der Pflicht zu Abhilfemaßnahmen sanktioniert wird (§ 24 Abs. 3 LkSG).107 Die vorgeschlagene Verweistechnik setzt die rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklung der Eröffnung äußerst weiter und unbestimmter Bußgeldrahmen fort. Auch wenn generell die Festlegung eines Bußgeldrahmens genügt,108 ist mit herkömmlichen rechtsstaatlichen Vorstellungen die Eröffnung eines Rahmens von ohne weiteres mehreren Milliarden Euro ohne nähere gesetzliche Konturierung und ohne wirtschaftlich nachvollziehbare Bemessungsmaßstäbe wie in entsprechenden kartellrechtlichen Regelungskontexten nicht ernsthaft vereinbar. Auch wenn man generell auf eine Handhabung durch das BAFA „mit Augenmaß“ vertrauen möchte,109 ist aus praktischer Sicht der Erlass normkonkretisierender Bußgeldrichtlinien ein dringendes Desiderat. Von besonderem Interesse wird die Normkonkretisierung in der Hinweis-, Anwendungs- und Berichtspraxis des BAFA auch unter dem Gesichtspunkt sein, dass sie für die Zivilgerichte einen naheliegenden Maßstab für die Reichweite der Sorgfalts105 Rogall in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 3 OWiG Rz. 26 f. 106 Conseil Constitutionnel, Entscheidung Nr. 2017-750 DC v. 23.3.2017. Das Gesetz sah ein Bußgeld von bis zu 10 Mio. Euro, bei Vorliegen eines Schadens ein Bußgeld von bis zu 30 Mio. Euro vor. 107 Eine ähnliche Regelung findet sich etwa für kartellrechtliche Verstöße in Art. 23 Abs. 2 VO Nr. 1/2003. Auch das niederländische, inhaltlich aber klar konturierte Gesetz über Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Kinderarbeit (verabschiedet Mai 2019, vermutliches Inkrafttreten am 1.1.2022) sieht bei Verstößen Bußgelder i.H.v. bis zu 10 % des Jahresumsatzes vor, bei wiederholten Verstößen auch Gefängnisstrafen für die Geschäftsleitung. 108 Rogall in Karlsruher Kommentar zum OWiG, 5. Aufl. 2018, § 3 OWiG Rz. 37. 109 Der BMZ-Entwurf für ein Sorgfaltspflichtengesetz v. 1.2.2019 sah noch einen Bußgeldrahmen von 5 Mio. Euro vor.

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anforderungen bilden kann. So könnte das Unterbleiben von Beanstandungen durch das BAFA in Zivilprozessen durchaus als Indiz für die Erfüllung der Sorgfaltspflichten gewertet werden. 4. Private Enforcement durch deliktsrechtliche Haftung? Die praktisch wohl brisanteste Auswirkung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes wurde im Referentenentwurf nur in Form einer unscheinbaren Regelung über die Möglichkeit einer Prozessstandschaft von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen (§ 12 RegE) für Personen, die die Verletzung überragend wichtiger Rechtspositionen (§ 2 Abs. 2, § 5 RegE) durch einen Verstoß gegen eine unternehmerische Sorgfaltspflicht vor deutschen Gerichten geltend machen wollen, adressiert. In der Begründung des Referentenentwurfs wurden dem „Abschnitt 3 Zivilprozess“ des Entwurfs gerade einmal fünf Textzeilen gewidmet. Dies wurde dem Zweck einer Gesetzesbegründung offensichtlich nicht gerecht. Nach Presseberichten hatte das Bundeswirtschaftsministerium eine Beschränkung der Prozessstandschaft auf die Geltendmachung von Ansprüchen wegen Gefahren für Leib oder Leben gefordert, sich hiermit aber bis zur Kabinettsbefassung nicht durchsetzen können.110 Mit Blick auf die Reichweite der Sorgfaltspflichten – und damit mit direkter Auswirkung auf das materielle Deliktsrecht – drängte das Bundeswirtschaftsministerium zudem auf Klärung der Frage, welche konkreten Handlungspflichten ein Unternehmen nach Kenntniserlangung111 von Menschenrechtsverletzungen bei mittelbaren Zulieferern genau treffen soll. Dahinter steht die Grundsatzfrage, ob nur eine Bemühungsoder nicht doch eine Erfolgspflicht für das Unterbleiben von Rechtsverletzungen beim mittelbaren Zulieferer begründet werden soll – und jedenfalls: wie weitreichende Bemühungen gesetzlich gefordert werden. Möglicherweise ist diese begriffliche Diskussion aber auch sekundär, denn eine Einstandspflicht für bestimmte Erfolge – hier das Ausbleiben von Rechtsgutsverletzungen – wird bei Zuordnung von Verkehrssicherungspflichten generell nicht begründet, sondern nur bei einer verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung. Die Frage des Bundeswirtschaftsministeriums nach der Reichweite der Handlungspflichten, wenn ein Unternehmen über Menschenrechtsverletzungen bei mittelbaren Zulieferern informiert werden, traf den rechtlichen Kern der Diskussion: Welche Verkehrssicherungspflichten sollen aus dem Sorgfaltspflichtengesetz resultieren, deren Verletzung grundsätzlich zu einem Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB führen kann, wenn ein absolutes Rechtsgut wie Leben, Gesundheit, Freiheit oder körperliche Unversehrtheit verletzt wird, die allesamt durch die menschenrechtlichen Übereinkommen geschützt werden, oder, soweit kein solches absolutes Rechtsgut verletzt wird, als Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB einen Schadensersatzanspruch wegen Verletzung sonstiger geschützter Rechtspositionen vermitteln können. Dass ein Schadensnach110 Handelsblatt-Berichte v. 17.2.2021, 19:51 Uhr und 2.3.2021, 08:04 Uhr. 111 § 8 Abs. 1 Satz 3 RefE knüpfte aber nicht einmal an positive Kenntnis des Unternehmens vom Menschenrechtsverstoß an. Dieser Umstand verschärft das vom BMWi adressierte Problem.

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weis gemäß §§ 249 ff. BGB im Einzelfall anspruchsvoll sein kann, liegt dabei freilich auf der Hand. Die Diskussion des Gesetzentwurfs hat als greifbares Ergebnis den expliziten Ausschluss einer zivilrechtlichen Haftung (allein) aufgrund einer Verletzung der Pflichten aus dem LkSG zur Folge gehabt (§ 3 Abs. 3 Satz 1 LkSG). Da unabhängig vom LkSG begründete Haftungsansprüche aber unberührt bleiben sollen (§ 3 Abs. 3 Satz 1 LkSG), lohnt ein Blick auf den bisherigen Stand der Haftungsdiskussion und die Frage, ob nicht ungeachtet der gesetzlichen Anordnung mittelbare Effekte des LkSG zu erwarten sind oder jedenfalls möglich erscheinen. a) Internationale Zuständigkeit Unzureichend ausgestattete oder gar korrupte Justizsysteme machen Klagen im Sitzstaat eines Tochterunternehmens oder Zulieferers oft schwierig.112 Schon daher ist auch unabhängig vom Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz ein verstärkter Zug vor deutsche Gerichte naheliegend. Bei zivilrechtlichen Klagen gegen Gesellschaften mit Sitz, Hauptverwaltung oder -Niederlassung in einem EU-Mitgliedstaat ist die EuGVVO113 anwendbar. Art. 7 Abs. 2 EuGVVO lässt deliktsrechtliche Klagen sowohl am Handlungs- als auch am Erfolgsort zu. Maßgeblich für die Bestimmung des Orts ist allein der Klägervortrag. Dementsprechend dürfte der Handlungsort für Zwecke der Gerichtsstandbestimmung häufig mit dem allgemeinen Gerichtsstand des beklagten Unternehmens gemäß Art. 4 Abs. 1 EuGVVO zusammenfallen: An diesem Ort werden nach dem erwartbaren Vortrag der Kläger Pflichtverstöße begangen worden sein, die zu Menschenrechts- oder Umweltrechtsverstößen geführt oder beigetragen haben. Dies dürfte für die Zuständigkeitsbegründung deutscher Zivilgerichte genügen. Auch für Klagen gegen nicht-europäische Unternehmen sind deutsche Zivilgerichte nach Art. 6 EuGVVO, § 23 ZPO zuständig, wenn diese Vermögen in Deutschland haben. Dabei sind entgegen den Überlegungen im Eckpunktepapier parallele Schadensersatzklagen in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten (oder auch: innerhalb und außerhalb der EU) nicht generell durch das Prioritätsprinzip (Art. 29 EuGVVO) ausgeschlossen. So können Klagen jedenfalls gegen unterschiedliche Beklagte beispielsweise am Ort des deliktischen Erfolgs, am Sitz des mittelbaren Zulieferers oder Tochterunternehmens und in Deutschland erhoben werden. b) Anwendung deutschen Rechts Um die Rechte Geschädigter zu stärken und eine zuverlässige Haftung und Rechtsdurchsetzung zu erreichen, soll nach dem Eckpunktepapier von BMAS und BMZ

112 Habersack/Ehrl, AcP 219 (2019), 155, 169 m.w.N.; Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 206. 113 VO (EU) Nr. 1215/2012 (sog. Brüssel-Ia-VO).

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deutsches Sachrecht anwendbar sein.114 Dafür müsste das einschlägige Deliktsrecht bei menschenrechts- oder umweltbezogenen Verletzungen außerhalb Deutschlands als Eingriffsnorm i.S.d. Art. 16 Rom II-VO ausgestaltet bzw. interpretiert werden. Denn grundsätzlich ist nach internationalem Deliktsrecht das Recht des Erfolgsorts anwendbar, Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO, das Recht eines anderen Staates nur bei wesentlich engerer Verbindung zu diesem Staat, Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO. Lediglich bei Umweltschäden eröffnet Art. 7 Rom II-VO dem Geschädigten ein Wahlrecht zwischen Handlungs- und Erfolgsort. Bei Menschenrechtsverstößen könnte die Anwendbarkeit deutschen Rechts hingegen nur unter Rückgriff auf den ordre publicVorbehalt mit (angeblich) unzureichenden Haftungsregeln am Erfolgsort begründet werden. Art. 16 Rom II-VO ist nach den Erwägungsgründen indes nur unter außergewöhnlichen Umständen, zum nicht nur reflexhaften Schutz öffentlicher (Ordnungs-)Interessen anzuwenden.115 Dass die Geltung menschenrechtlicher oder umweltschutzrechtlicher Normbestände bei internationalen Sachverhalten dogmatisch nicht vom jeweils anwendbaren Statut abhängt, liegt nahe. Die privatrechtliche Haftung dient hingegen den privatrechtlichen Interessen der Geschädigten. Sie kann daher als solche nicht als Eingriffsnorm eingeordnet werden. Entsprechend wird auch eine Ausgestaltung der Sorgfaltspflichten als Eingriffsnorm unter Hinweis auf den Ausnahmecharakter des Art. 16 Rom II-VO abgelehnt.116 Es ist zwar grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber die gesamte Haftungsregelung erfasst und das ausländische Recht für Zwecke der Anwendung in Deutschland umfassend derogiert, um zu vermeiden, in seine Binnenstruktur einzugreifen und es mit deutschen Rechtsvorstellungen zu vermischen, was zu ungewollten Ergebnissen führen könnte.117 Allerdings müsste die Anwendung deutschen Haftungsrechts in diesen Fällen zur Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation Deutschlands so entscheidend sein, dass es im Staats-

114 Entwurf für Eckpunkte eines Bundesgesetzes über die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz), 10.3.2020, https://die-korrespondenten.de/ fileadmin/user_upload/die-korrespondenten.de/Lieferkettengesetz-Eckpunkte-10.3.2020. pdf, S. 3. Prägend war in diesem Zusammenhang die Klage von Opfern und Hinterbliebenen einer Brandkatastrophe in einer pakistanischen Fabrik gegen Kik, LG Dortmund v. 10.1.2019 – 7 O 95/15, BeckRS 2019, 388; OLG Hamm NJW 2019, 3527. Es wurde aus Sicht vieler Beobachter zu Unrecht eine Verjährung nach pakistanischem Recht angenommen, vgl. ausgehend von der Anwendbarkeit pakistanischen Rechts Saage-Maaß/ Klinger in Krajewski/Oehm/Saage-Maaß, Zivil- und strafrechtliche Unternehmensverantwortung für Menschenrechtsverletzungen, 2018, S. 249, 251 ff.; Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 720). 115 Vgl. zur Sonderanknüpfung internationaler Arbeitsrechtsnormen nach dem früheren Art. 34 EGBGB Wimmer, Die Gestaltung internationaler Arbeitsverhältnisse durch kollektive Normenverträge, 1992. 116 Wagner, RabelsZ 80 (2016), 717, 744 ff. 117 In diesem Sinne die Argumentation bei Zimmermann, Verfassungsblog v. 9.6.2020, https://verfassungsblog.de/menschenrechtsverletzungen-internationales-deliktsrechtund-beweislast/; Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 208.

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gebiet für jedes Rechtsverhältnis gelten soll.118 Hiervon kann mit Blick auf das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz nicht die Rede sein.119 Zwar könnte eine Einordnung als Eingriffsnorm auch aus einer Auslegung folgen, die darauf abstellt, dass die menschenrechtsrelevante Haftung deutscher Unternehmen just nach deutschem Deliktsrecht auch in Fällen mit Schadenseintritt im Ausland geregelt werden sollte.120 Es war aber auch nach dem Referentenentwurf nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber mehr regeln wollte als die Sorgfaltspflichten und ihre behördliche Durchsetzung. Von einer Anwendung deutschen Deliktsrechts – und generell von möglichen zivilrechtlichen Konsequenzen eines Verstoßes gegen die neu definierten Sorgfaltspflichten war im Entwurf nicht die Rede. Daher mag naheliegen, dass die Sorgfaltspflichten sich unabhängig vom Gesellschaftsstatut auf jegliche in Deutschland mit ihrer Hauptverwaltung, Hauptniederlassung oder ihrem Sitz ansässige Unternehmen ungeachtet ihrer Rechtsform bezieht (siehe jetzt § 1 LkSG). Dafür, dass diese Unternehmen unabhängig vom internationalen Deliktsstatut aber bei einer Mitverantwortlichkeit für Menschenrechtsverstöße entlang der Lieferkette in jedem Fall nach deutschem Deliktsrecht haften sollen, fehlt jeder Anhaltspunkt. c) Voraussetzungen der Haftung Ein Schadensersatzanspruch setzt die Verletzung eines wesentlichen Rechtsguts voraus. Hierfür kommen Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum und allgemeines Persönlichkeitsrecht in Frage,121 aber nach deutschem materiellen Recht im Prinzip auch die Verletzung von Vermögensinteressen, die durch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz in Verbindung mit den in seiner Anlage genannten völkerrechtlichen Normen als Schutznormen i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB geschützt werden. In dieser Hinsicht ist vorstellbar, dass die einschränkende Regelung des Gesetzgebers in § 3 Abs. 3 Satz 1 LkSG letztlich wirkungslos bleibt, weil der haftungsbegründende Schutznormcharakter aus den völkerrechtlichen Normen entnommen werden kann und nicht erst aus seiner Vermittlung über das LkSG folgt. Die Gesetzesregelung hätte dann nur noch die Wirkung, die haftungsbegründende Fahrlässigkeit aus dem Verstoß gegen Pflichten nach dem LkSG zu entnehmen. Der Rückgriff auf ungeschriebene Handlungspflichten im Sinne von Verkehrssicherheitspflichten wird hierdurch 118 Junker in MünchKomm. BGB, 7. Aufl. 2018, § 16 Rom II-VO Rz. 11 ff. 119 Im französischen Gesetzgebungsverfahren wurde ausdrücklich abgelehnt, der Loi de vigilence Eingriffsnormcharakter zuzubilligen: http://www.assemblee-nationale.fr/14/amend ments/2628/AN/71.pdf. Dazu: Krebs, Verfassungsblog v. 29.3.2017 https://verfassungs blog.de/wirtschaft-und-menschenrechte-die-loi-rana-plaza-vor-dem-franzoesischen-con seil-constitutionnel/. Auch der Vorschlag der Schweizer Konzernverantwortungsinitiative sah eine explizite Regelung des Eingriffsnormcharakters vor (Initiativtext Art. 101a Abs. 2 lit. c). 120 Hierauf zielen Monnheimer/Nedelcu, ZRP 2020, 205, 208 f. 121 Entwurf für Eckpunkte eines Bundesgesetzes über die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz), 10.3.2020, https://die-korrespondenten.de/ fileadmin/user_upload/die-korrespondenten.de/Lieferkettengesetz-Eckpunkte-10.3.2020. pdf, S. 3, vgl. jetzt § 2 Abs. 2 RefE.

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freilich nicht ausgeschlossen, soweit sich eine bestimmte Verkehrsauffassung aufzeigen lässt. Zu deren Etablierung und Verfestigung trägt freilich auch das LkSG mit seinen Handlungsanweisungen an große Unternehmen bei. Entgegen seiner unmittelbaren Intention trägt der deutsche Gesetzgeber damit dazu bei, die Voraussetzungen für die Annahme bestimmter Handlungserwartungen zu schaffen oder zu kräftigen, die auf diesem indirekten Weg zur Annahme haftungsbegründender Sorgfaltsverstöße führen können – auch wenn diese explizit nicht an die Sorgfaltspflichten nach dem LkSG anknüpfen sollen. Die auszugleichende Rechtsbeeinträchtigung kann dabei auf der Verletzung eines der aufgelisteten Menschenrechte oder Umweltrechtsstandards beruhen. In der Regel wird dem Unternehmen in Deutschland ein Unterlassen vorgeworfen werden. Ein Unterlassen wirkt haftungsbegründend, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln besteht. Diese kann unabhängig von den konkret im Sorgfaltspflichtengesetz normierten Pflichten aus allgemeinen Verkehrssicherungspflichten folgen. Dabei wird es stets auf Einzelheiten und Zumutbarkeit des erwarteten Handelns ankommen. Eine Pflicht kann dann verletzt sein, wenn nicht das normativ Erwartete und tatsächlich Angemessene im Rahmen der tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten des Unternehmens getan und hierdurch eine vermeidbare Rechtsgutsverletzung, zu deren Abwendung das Unternehmen ex post als verpflichtet angesehen wird, nicht abgewendet wurde. Dafür muss der tatbestandliche Erfolg bei Nicht-Erfüllung der Sorgfaltspflicht vorhersehbar und vermeidbar gewesen sein. Problematisch kann auch dann aber immer noch der Rechtswidrigkeitszusammenhang des Unterlassens für Verletzung und Schadenseintritt sein. Die Unternehmen würden insoweit für eigenes, nicht für fremdes Verschulden herangezogen. Dabei genügt eine fahrlässige Verletzung einer Sorgfaltspflicht zur Begründung eines Verschuldensvorwurfs. Grundsätzlich kommt eine Anspruchskürzung aufgrund Mitverschuldens nach § 254 Abs. 2 BGB in Betracht, wenn der Geschädigte Möglichkeiten der Schadensabwendung und -minimierung nicht genutzt hat. Dies mag im Einzelfall in Betracht kommen, wenn bei einer Zulieferbeziehung vor Ort tatsächlich Abhilfemöglichkeiten bestehen sollten oder, wenn etwa von Beschwerdemöglichkeiten gegenüber dem Unternehmen kein Gebrauch gemacht wurde, so dass schadensabwendende oder -minimierende Maßnahmen nicht ergriffen wurden. All dies ist Einzelfallfrage. Hingegen kann strukturell angenommen werden, dass neben dem Unternehmen auch dessen schadensverursachender mittelbarer oder unmittelbarer Zulieferer gegenüber den Geschädigten haften und dem Unternehmen daher jedenfalls nach deutschem Recht ein Regress gegen den vor Ort handelnden oder unterlassenden Zulieferer regelmäßig in voller Höhe zustehen dürfte (vgl. § 840 Abs. 1, § 426 Abs. 1 BGB). Dabei sollte nicht verkannt werden, dass auch die Durchsetzung derartiger Regressansprüche mit erheblichem Aufwand und Schwierigkeiten verbunden sein kann. Diese Schwierigkeiten mögen im Einzelfall denen der Anspruchsdurchsetzung der unmittelbar Geschädigten nicht wesentlich nachstehen.

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IV. Bewertung und Ausblick Der Entwurf des Sorgfaltspflichtengesetzes reflektiert einen breiten gesellschaftlichen Trend zur Übernahme und auch zur Zuweisung größerer Verantwortung an Unternehmen in globalisierten Wirtschaftsstrukturen. Ob die gewählte Regelungsstruktur in jeder Hinsicht gelungen ist, kann man in verschiedener Hinsicht bezweifeln. Dies beginnt mit der Frage, ob man nicht vorrangig eine europäische Regelung anstreben müsste, um wettbewerbsverzerrende Effekte zu vermindern. Dabei kann man freilich Verständnis dafür haben, dass jedenfalls ein Abwarten einer welthandelsrechtlichen Regelung im gegenwärtigen Zustand der WTO einer nicht akzeptablen Vertagung auf unbestimmte Zeit gleichgekommen wäre. Materiell bleibt aber das Bedenken, dass es auch bei einer europäischen Regelung von deren Ausgestaltung abhängt, ob europäische Unternehmen von einem Engagement beispielsweise in Schwellenländern eher abgeschreckt werden könnten, wie der deutsche Afrikaverein geltend gemacht hat, und es hierdurch nicht zu dysfunktionalen Folgen einer gut gemeinten Regelung kommt, indem Investitionen unterbleiben oder Staaten und Unternehmen überlassen bleiben, die sich von vornherein nicht oder jedenfalls weniger konsequent an menschen- oder umweltrechtliche Standards binden.122 Rechtspolitisch scheint es sinnvoll, in der Startphase der Gesetzgebung, die materiell gänzlich neue umfassende, inhaltlich weithin unbestimmte und durch Generalklauseln gekennzeichnete Sorgfaltspflichten begründet, eine Art „notice and react“Ansatz zugrunde zu legen, um schrittweise die Übernahme der neuen verrechtlichten Verantwortung für Zustände bei mittelbaren Zulieferern handhabbar zu machen. In rechtsstrukturell vergleichbarer Form haben der US-, der deutsche und der europäische Gesetzgeber die Verantwortung der Telemedienanbieter für von ihnen weitergeleitete oder gespeicherte fremde Inhalte auf eine Pflicht zu angemessener Reaktion nach positiver Kenntniserlangung beschränkt.123 Damit wird den Normadressaten eine schrittweise Entwicklung geeigneter Strukturen zur Wahrnehmung von Verantwortung ermöglicht als allein durch zunächst – bestenfalls – abstrakte Hinweise einer Vollzugsbehörde wie das BAFA. Rechtspolitisch wäre hierbei eine ernsthafte Debattenkultur hilfreich, die sich auf die konkreten Herausforderungen an Organisationsanforderungen in komplexen industriellen Kooperationsstrukturen einlässt, statt es bei plakativen Hinweisen124 auf unterbezahlte Teepflückerinnen oder ausgebeutete 122 Infolge des Alien Tort Statutes in den USA kam es nach Berichten wegen erhöhter Haftungsrisiken zu Desinvestition in Krisenregionen, vgl. Schneider, NZG 2019, 1369, 1373. Teils wird in Branchen mit geringer Umsatzrendite ein Rückzug deutscher Unternehmen aus bestimmten Produktionsländern befürchtet. Unternehmen, die geringeren Standards unterliegen, könnten nachrücken und die Menschenrechtssituation verschlechtern. 123 Vgl. für die USA Section 230(c)(1) CDA 1996 („Safe Harbor“); Europa: Art. 14, 15 E-Commerce-RL, Deutschland: §§ 7 ff. TMG („notice and take down“). 124 Eine eigene Diskussion wäre es wert, ob es einem Fachministerium wie dem BMAS in einem laufenden Gesetzgebungsverfahren ansteht, öffentliche Mittel für großflächige Gebäudewerbung für seine politischen Vorstellungen einzusetzen, wie es im Frühjahr

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Arbeiter auf Kakaoplantagen bewenden zu lassen. Die im Detail teils bemerkenswert unbestimmten Verhaltensanforderungen haben in der Verweigerung einer solchen Detailbetrachtung möglicherweise ihre Ursache. Die rechtsstaatlich bedenkliche Unbestimmtheit der Regelungen mit zigfacher salvatorischer Verwendung des Attributs „angemessen“ im Gesetzestext ist der wesentliche materielle Kritikpunkt an den neuen Regelungen. Grundsätzlich sind die Eingriffe in die unternehmerische Berufs- und Eigentumsfreiheit durch die gesetzgeberischen Anliegen sicherlich zu rechtfertigen – es stellt sich nur die Frage nach der Angemessenheit der Regelungen. So ist eine Bußgelddrohung von bis zu 2 % des Jahresumsatzes für eine aus Sicht der Bußgeldbehörde nicht vollständige oder nicht korrekte Umsetzung gänzlich neuer gesetzlicher Pflichten ein Beispiel für sich mittlerweile ausbreitende Sanktionsdrohungen, deren Sinn primär in der generellen Abschreckung und Vorstrukturierung eines Verhandlungsrahmens zwischen Behörde und Normunterworfenen liegt, ohne auf gesetzlicher Ebene eine klassisch-rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsanforderungen entsprechende Stufung nach dem Gewicht von Verstößen vorzunehmen. Dies wird vielmehr in die Ermessensausübung der Bußgeldbehörde delegiert, auf deren Augenmaß die Normadressaten dann vertrauen sollen. Letzteres mag sogar berechtigt sein – der Bruch mit traditionellen liberal-rechtsstaatlichen Vorstellungen ist gleichwohl – auf nationaler wie auf europäischer Ebene – nicht zu übersehen und erscheint angesichts der gänzlichen Neukonzeption von formellen und materiellen Pflichten und Sorgfaltsanforderungen grundsätzlich problematisch. Zu welchem Risikomanagement ein Unternehmen verpflichtet ist, bestimmt sich nach Art und Umfang seiner Geschäftstätigkeit, der Situation am Produktionsort, der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts, der Schwere drohender Schäden und den Einwirkungsmöglichkeiten. Je unmittelbarer die Beziehung zu einem anderen Unternehmen und je größer die Einwirkungsmöglichkeiten, desto umfangreicher sind die Sorgfaltspflichten.125 Ihre Konkretisierung muss letztlich durch Rechtsverordnungen oder untergesetzliche soft law-Instrumente wie Leitfäden und Auslegungshilfen erfolgen.126 Hierfür bleibt bis zur effektiven Anwendbarkeit des Gesetzes 2021 am Berliner Washingtonplatz zwischen Hauptbahnhof und Bundeskanzleramt über Wochen zu beobachten war. 125 Die Loi de vigilance verwendet den Rechtsbegriff der ständigen Geschäftsbeziehung („relation commerciale établie“), wodurch indirekte Geschäftsbeziehungen zu nicht unmittelbar vertraglich verbundenen Zulieferern ausgeschlossen werden, vgl. Kutscher-Puis, ZVertriebsR 2020, 174, 176. 126 Nach der CSR-Reportingpflicht liegt die Risiko-, Wesentlichkeits- und Verhältnismäßigkeitseinschätzung allein bei den berichtspflichtigen Unternehmen, Merkt in Baumbach/ Hopt, 39. Aufl. 2020, § 289c HGB Rz. 13. Dass Unternehmen auch unter Gesetzen, die Sorgfaltspflichten normieren, Schwierigkeiten haben, Risiken zu kartieren und Kennzahlen zu nennen, mit denen risikomindernde Maßnahmen gemessen werden können, zeigt die Erfahrung in Frankreich und Groß-Britannien, Wiedmann/Hoppmann, CCZ 2020, 225, 226 f. unter Verweis auf Alliance for Corporate Transparency, 2019 Research Report: An analysis of the sustainability reports of 1000 companies pursuant to the EU Non-Financial Reporting Directive (https://www.allianceforcorporatetransparency.org/as

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zum 1.1.2023 noch etwas, allerdings mit Blick auf die zu treffenden organisatorischen Maßnahmen der Unternehmen jedenfalls nicht übermäßig viel Zeit. Praktisch ist unklar, wie ein ausdifferenziertes Risikomanagement in langen, komplexen Lieferketten mit hunderten, laufend wechselnden Zulieferern funktionieren soll, ohne dass es zu organisatorischen und logistischen Problemen kommt. Dies ist der Preis einer auch von Ministerseite stark auf den Primärsektor fokussierten Diskussion, obwohl mit dem Gesetz angesichts seiner Anwendungsschwellen primär komplexe Industriestrukturen erfasst werden und eher weniger Tee- und Kakaoimporteure mit einer überschaubaren Mitarbeiterzahl in Deutschland. Ob die Betonung der Beschränkung auf Bemühens- statt Erfolgspflichten effektiv zur Verhältnismäßigkeit der Regelungen beiträgt, wird erst die Anwendungspraxis zeigen. Es ist auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts weitgehend offen, welche konkreten Anforderungen in welcher Konstellation gestellt werden und welche Zurechnungen deliktischer Erfolge auf der Grundlage sich verfestigender Verkehrserwartungen letztlich erfolgen werden. Praktische Probleme wirft beispielsweise die Frage auf, bis zu welchem Glied der Lieferkette ein Bemühen in welcher Intensität angemessen ist. Bereits unter den heutigen CSR-Reportingpflichten haben Unternehmen Schwierigkeiten, Informationen von ihren Zulieferern zu erlangen. Das Sorgfaltspflichtengesetz sieht keine mit den Berichtspflichten korrespondierenden Auskunftsansprüche vor – nach welcher Rechtsordnung auch?! –, sie müssen mithin vertraglich begründet werden.127 Unklar ist dann etwa, welche Überprüfungs- oder Plausibilisierungspflichten Unternehmen zugeschrieben werden, wenn ihre Zulieferer keine oder fehlerhafte Informationen zur Verfügung stellen.128 Verweigern Zulieferer die Informationsweitergabe, müssen berichtspflichtige Unternehmen ihre nichtfinanzielle Erklärung derzeit auf öffentlich und sonst bekannte Tatsachen stützen.129 Nach der im Eckpunktepapier vorgesehenen Safe Harbor-Regelung sollte der Bemühenspflicht grundsätzlich genügt sein, wenn Unternehmen einen staatlich anerkannsets/2019_Research_Report%20_Alliance_for_Corporate_Transparency-7d9802a0c18c9f 13017d686481bd2d6c6886fea6d9e9c7a5c3cfafea8a48b1c7.pdf) und bezogen auf die Berichterstattung nach dem UK Modern Slavery Act 2015: Ergon Associates Ltd, Modern salvery reporting: Is there evidence of progress? (https://ergonassociates.net/wp-con tent/uploads/2018/10/Ergon_Modern_Slavery_Progress_2018_resource.pdf) sowie Secretary of State for the Human Department, Independent Review of the Modern Slavery Act 2015: Final Report (https://www.gov.uk/government/publications/independent-re view-of-the-modern-slavery-act-final-report); zur Situation in Frankreich: Shift, Human Rights Reporting in France, TwoYears In: Has the Duty of Vigilance Law led to more Meaningful Disclosure?, S. 5 ff. (https://shiftproject.org/wp-content/uploads/2019/11/ Shift_HumanRightsReportinginFrance_Nov27.pdf) sowie Conseil Générale de l’Economie de Inustrie, de l’Energie et des Technologies, Evaluation de la mise en oeuvre de la loi 2017-399 du 27 mars 2017 relative au devoir de vigilance des sociétés meres et des entreprises donneuses d’ordre (https://www.economie.gouv.fr/cge/devoir-vigilancesentreprises). 127 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 289c HGB Rz. 59. 128 Mock in Hachmeister/Kahle/Mock/Schüppen, Bilanzrecht, 2018, § 289c HGB Rz. 59. 129 Velte, DStR 2020, 2034, 2035.

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ten (Branchen-)Standard implementieren.130 Dieser Vorschlag ist nicht ins Gesetz übernommen worden. Dabei stellt sich praktisch jedoch ohnehin das Problem zuverlässiger Zertifizierung und ausreichender staatlich anerkannter Standards.131 Entsprechende Vereinbarungen sind insbesondere bei einem Multi-Stakeholder-Ansatz zeitaufwändig, der laufende Prüfaufwand nimmt mit der Komplexität von Produktion und Lieferbeziehungen exponentiell zu. Angesichts der Unschärfe der auferlegten umfassenden Risikomanagementpflichten, für die sich auch im vorrechtlichen Bereich keine generelle best practice herausgebildet hat, stellt sich ernsthaft die Frage, ob sie einen verhältnismäßigen Eingriff in die freie Berufsausübung darstellen. Dabei fehlen im Übrigen auch spezifische Regelungen, wie die Berichtspflichten mit grundrechtlich geschützten Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen vereinbart werden sollen.132 Von einer materiell gelungenen Auflösung des Zielkonflikts zwischen einer angemessenen, ggf. mittelbar entgegen der verlautbarten Intention des Gesetzgebers haftungsbegründend wirkenden Ausweitung von Sorgfaltspflichten im menschenund umweltrechtlichen Interesse einerseits und grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Anforderungen andererseits kann nach bisherigem Stand schwerlich die Rede sein. Inwieweit die Handreichungen des BAFA prozedual helfen werden, bleibt abzuwarten. Die Gründe hierfür mögen auch in der häufig konstatierten fortschreitenden Entfremdung zwischen Parlamentariern und operativ verantwortlichen Unternehmensführungen zu suchen sein. Wenn darüber hinaus auch die Möglichkeiten der Verbandsbeteiligung im Gesetzgebungsverfahren wie hier auf eine Stellungnahme binnen weniger Stunden beschränkt werden,133 entspricht auch dies nicht unbedingt den Vorstellungen an eine sorgfältige Gesetzgebung. Umso größer ist kompensatorisch die Verantwortung, die Unternehmensleitungen und ihre problembewussten Berater, Vollzugsbehörden und Gerichte bei der Gesetzesanwendung mit Augenmaß wahrzunehmen haben.

130 Entwurf für Eckpunkte eines Bundesgesetzes über die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflichten zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen in globalen Wertschöpfungsketten (Sorgfaltspflichtengesetz), 10.3.2020, https://die-korrespondenten.de/ fileadmin/user_upload/die-korrespondenten.de/Lieferkettengesetz-Eckpunkte-10.3.2020. pdf, S. 5. Der gescheiterte Schweizer Initiativtext sah keine solche Safe Harbor-Regelung vor, beschränkte die Sorgfaltspflicht und Haftung aber auch auf „kontrollierte“ Unternehmen. Die Kontrolle sollte sich nach den tatsächlichen Verhältnissen bestimmen, wirtschaftliche Machtausübung mithin genügen. Um der Haftung bei Verletzung eines absolut geschützten Rechtsguts zu entgehen, hätten Unternehmen in jedem Einzelfall beweisen müssen, dass sie die gebotene Sorgfalt eingehalten haben oder etwaige Schäden nicht auf einem Sorgfaltspflichtverstoß beruhen. 131 BVerwG NVwZ 2014, 527, 528, urteilte zu kommunalen Satzungen, nach denen nur frei von ausbeuterischer Kinderarbeit hergestellte Grabsteine verwendet werden dürfen, die Anforderungen an Normenklarheit und Bestimmtheit aus Art. 20 Abs. 3 GG seien nur gewahrt, wenn genau beschrieben sei, welche Nachweise genügten. Dazu Schmitt, WuV 2020, 43, 46 f., 53. Insgesamt zum Problem zuverlässiger Zertifizierungen und ILAC/ IAF-Regeln: Ensthaler, InTeR 2020, 117, 117. 132 Vgl. dazu die Antwort der Bundesregierung v. 3.9.2020 auf die Kleine Anfrage, BT-Drs. 19/22090, S. 10. 133 Siehe Handelsblatt v. 2.3.2021, 8:04 Uhr.

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Inhaltsübersicht I. Die Ausgangsfrage II. Der ursprüngliche Stifterwille: Zentrale Rechtskategorie des Stiftungsrechts III. Die Rechtsfigur der „wesentlichen Veränderung der Verhältnisse“: Bisherige Rechtsentwicklung 1. Rechtslage ab 1.1.1900 2. Das preußische Gesetz über Änderungen von Stiftungen vom 10.7.1924 3. Entwicklung nach 1945 IV. Die Änderung des Stiftungszwecks nach BGB-neu 1. Rechtsvorschriften a) § 85 Abs. 4 BGB-neu: Abweichung vom Regeltatbestand des § 85 Abs. 2 BGB-neu im Stiftungsgeschäft? b) § 85 Abs. 2 BGB-neu: Änderung des Stiftungszwecks c) § 83 Abs. 2 BGB-neu: Stifterwille (Querschnittsregelung) 2. Prüfschema

1. Tatsächlicher Stifterwille a) Stiftungsgeschäft und Stiftungssatzung b) Problem: Geringe Regelungsdichte der Satzung c) Sonstige Umstände aa) Allgemeines bb) Präambel der Satzung; Stifterbrief 2. Mutmaßlicher Stifterwille VI. Die Rechtsfigur der wesentlichen Veränderung der Verhältnisse: Auslegungskriterien 1. Inhalt a) Zweck-Vermögens-Verknüpfung b) Wesentlichkeit der Veränderung 2. Erforderlichkeit der Zweckänderung zur Anpassung der Stiftung an die veränderten Verhältnisse 3. Einige typische Fälle VII. Zusammenfassung und Ausblick

V. Der Stifterwille: Auslegungskriterien

I. Die Ausgangsfrage „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, Und neues Leben blüht aus den Ruinen.“1 Der hohe Ton, das Pathos eines Friedrich von Schiller mag manchem fremd geworden sein in einer Zeit, deren Lebensgefühl eher von Coolness bestimmt zu sein scheint. Alexander Reuter allerdings, zu dessen Ehre und Würdigung die nachfolgenden Gedanken notiert wurden, dürfte die faszinierende Sprachkraft zu schätzen wissen, mit der sich sein schwäbischer Landsmann – in den Worten des sterbenden At-

1 Schiller, Wilhelm Tell, IV/2, 2425 f., hier zitiert aus Alt (Hrsg.), Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, 2004, Band II.

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tinghausen im „Wilhelm Tell“ – das uralte Thema vom ewigen Wandel der Zeiten auf den Punkt gebracht hat. Das Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel beschäftigt aber nicht nur die Dichter und Philosophen, sondern auch die Juristen. Vor allem in einem Rechtsgebiet zeigt sich dieses Spannungsfeld besonders deutlich, es macht geradezu seinen innersten Kern, sein Wesen aus: im Recht der rechtsfähigen Stiftung des bürgerlichen Rechts,2 kurz, im Stiftungsrecht. Davon soll hier die Rede sein. „Das eigentümliche einer Stiftung ist, daß der Stifterwille für die Stiftung dauernd konstitutiv bleibt. Charakter und Zweck der Stiftung liegt mit diesem Anfang in die Zukunft hinein und für die Dauer der Existenz der Stiftung fest“ – so das Bundesverfassungsgericht in der – für das Stiftungsrecht grundlegenden – „Goch“-Entscheidung,3 in der es weiter heißt: „Deshalb sind auch Erklärungen der Stifter aus dem zu ihrer Zeit herrschenden örtlichen Zeitgeist heraus auszulegen.“4 Und ergänzend können wir den Bundesgerichtshof heranziehen: „Mit der Genehmigung“ – heute: Anerkennung – „der Stiftung, durch die diese Rechtsfähigkeit erlangt, wird der Stifterwille verselbständigt und objektiviert.“5 Diese von den höchsten deutschen Gerichten formulierten Leitsätze haben etwas Verstörendes. Denn sie bedeuten nichts anderes, als dass – beispielsweise – bei einer vor dreihundert Jahren errichteten und weiterhin tätigen Stiftung für die heute sich stellenden Probleme der vor dreihundert Jahren gebildete Stifterwille maßgebend ist. Dies ist besonders brisant bei der Frage, ob der Stiftungszweck den heutigen Gegebenheiten und Wertvorstellungen angepasst werden kann. Denn es liegt auf der Hand, dass sich die ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und nicht zuletzt rechtlichen Umstände umso stärker geändert haben, je mehr Zeit seit der Stiftungserrichtung vergangen ist. Kommt danach den Stiftungen innerhalb unserer Rechtsordnung eine Sonderrolle zu? Bilden sie rechtliche Inseln „aus einer Zeit, die längst vergangen 2 Dazu gehören auch die kirchlichen Stiftungen des bürgerlichen Rechts. Dagegen bleiben hier außer Betracht die anderen stiftungsrechtlichen Rechtsformen, also sowohl die nichtrechtsfähigen (unselbständigen) Stiftungen des bürgerlichen Rechts als auch die – staatlichen oder kirchlichen – Stiftungen des öffentlichen Rechts. Zur Systematik des Stiftungsrechts und zu den strukturellen Unterschieden der Stiftungsrechtsformen vgl. Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 6 ff., bes. Fn. 56. 3 BVerfG v. 11.10.1977 – 2 BvR 209/76, BVerfGE 46, 73 – juris Rz. 23; allg. M. 4 Vgl. O. Werner in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 11 Rz. 30: Dies ist insoweit für die wandelnde Anschauung der Allgemeinheit entscheidend, als eine Stiftungsgründung nach dem Zeitpunkt der Errichtung beurteilt werden muss, so dass eventuelle Differenzierungen hinsichtlich des Destinatärkreises oder der Besetzung der Organe, generell des Stiftungszweckes, nach den Verkehrsanschauungen der Gründungszeit zu beurteilen ist.“ Dagegen kritisch Hof in von Campenhausen/Richter, StiftungsrechtsHandbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 124: „Zu warnen ist auch vor Versuchen, … seine (des Stifters) Erklärungen aus dem „zu ihrer Zeit herrschenden Zeitgeist“ heraus auszulegen. Derart nebulöse und heute kaum zutreffend erschließbare Anknüpfungspunkte eröffnen subjektiven Fehldeutungen Scheunentore …“ Näher zur Auslegung des Stifterwillens siehe unter V. 5 BGH v. 22.1.1987 – III ZR 26/85, BGHZ 99, 344, 348 – juris Rz. 24.

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ist“ – mit Regelungen, wie sie galten, als Kaiser und Könige in deutschen Ländern herrschten? Und wenn dies so sein sollte: Welches sind die rechtlichen Mechanismen, die ein Gegengewicht bilden gegen überholte Wertvorstellungen, damit wir Heutigen – zugespitzt formuliert – nicht unter dem Staub der Jahrhunderte ersticken?6 Tatsächlich gibt es ein solches Rechtsinstrument. Es gehört seit nahezu einhundert Jahren zum Kernbestand des deutschen Stiftungsrechts – und ist paradoxerweise bis heute noch nicht Bestandteil des BGB geworden. Die Rechtsfigur der „wesentlichen Veränderung der Verhältnisse“ (im Folgenden: w.V.d.V.), die schon bisher in fast allen Landestiftungsgesetzen enthalten ist, wird – endlich – ins BGB aufgenommen. Das Gesetz zur Vereinheitlichung des Stiftungsrechts und zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes vom 16.7.2021 enthält in seinem Art. 1 eine Neufassung der §§ 80 ff. BGB (im Folgenden: BGB-neu), die das Stiftungszivilrecht abschließend im BGB regelt und insoweit das bisherige zersplitterte Landesstiftungsrecht entbehrlich macht; das neue Recht tritt am 1.7.2023 in Kraft.7 Nach diesen Vorschriften ist eine w.V.d.V. Tat6 Vgl. z.B. Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, Vorbem §§ 80 ff. BGB Rz. 104: „Stiften ist ambivalent. Es ist zwar einerseits das Bewahren bzw. Konservieren von Vermögen und Wertvorstellungen. Es ist andererseits aber auch das Präjudizieren künftiger Generationen durch Entscheidungen, die ein irgendwann Toter für die Lebenden getroffen hat – als eine Art Herrscher aus dem Grab, der womöglich nicht einsehen mochte, dass mit dem Ende seiner physischen Existenz der Wunsch nach irdischem Weiterleben fragwürdig ist.“ – Kritisch gegenüber der „toten Hand“ aus rechtshistorisch-philosophischer Sicht z.B. Großfeld in Erichsen/Kollhosser/Welp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 33, 46 – Zeit und Ewigkeit im Recht –: „Sind sie (die gemeinnützigen Stiftungen) nicht die Arznei für die Krankheiten der Zeit? Doch auch diese Stiftungen verkörpern den Willen eines Verstorbenen, der seine Ziele über das Grab hinaus verfolgen und gegen spätere Generationen sichern will. Weshalb gibt es z.B. viele Stiftungen zur Förderung des Studiums, aber wenige Stiftungen für Handwerker und Sekretärinnen? Folge einer Fehleinschätzung gesellschaftlicher Notwendigkeit in der Zukunft?“ Kritisch auch z.B. Art. 165 Abs. 2 der Verfassung der Paulskirche v. 28.3.1849 (hier zitiert nach Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, I. Band Geschichte des Stiftungsrechts, 1963, S. 258): „Für die tote Hand sind Beschränkungen des Rechts, Liegenschaften zu erwerben und über sie zu verfügen, im Wege der Gesetzgebung aus Gründen des öffentlichen Wohles zulässig.“ Dazu wiederum kritisch Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, I. Band Geschichte des Stiftungsrechts, 1963, S. 259: „Es handelt sich dabei um die typisch liberale Angst vor der ‚toten Hand‘, deren Auswirkungen und Möglichkeiten man überschätzte und zum Teil maßlos übertrieb. Sie hat lange nachgewirkt und ist heute noch nicht völlig überwunden, nachdem die ‚tote Hand‘, die mit allen Mitteln zu bekämpfen ist, lange Zeit hindurch zu einem Schlagwort des Liberalismus geworden war.“ Zur historischen Einordnung der Kritik an den großen Vermögen „in toter Hand“ vgl. auch von Campenhausen in Richter (Hrsg.), Stiftungsrecht, 2019, § 3 Rz. 29 ff. 7 BGBl. I S. 2947. Der Gesetzentwurf wurde vom Bundestag am 24.6.2021 beschlossen (vgl. Plenarprotokoll 19/236, S. 30696 ff., 30711 ff., 30715); der Bundesrat hat ihm am 25.6.2021 zugestimmt (BR-Drs. 569/21). Er beruht auf dem von der Bundesregierungam 31.3.2021 beschlossenen Gesetzentwurf (BT-Drs. 19/28173). Der federführende Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz hat am 5.5.2021 zu dem Entwurf eine öffentliche Anhörung durchgeführt und danach einige Änderungen vorgenommen (Beschlussempfehlung v. 22.6.2021, BTDrs. 19/30938; vgl. Bericht des Ausschusses v. 23.6.2021, BT-Drs. 19/31118); in dieser geänderten Fassung ist er Gesetz geworden. Grundlage des Gesetzentwurfs der Bundesregierung ist der Diskussionsentwurf, den eine Bund-Länder-AG unter Leitung des Bundesministeri-

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bestandsvoraussetzung für eine Zweckänderung (§ 85 Abs. 2 Satz 1 1. Alt BGB-neu), für eine Änderung anderer prägender Bestimmungen der Stiftungsverfassung (§ 85 Abs. 2 Satz 1 2. Alt und Satz 2 BGB-neu), für eine Zulegung (§ 86 Nr. 1 BGB-neu) und für eine Zusammenlegung (§ 86a Nr. 1 BGB-neu). Zugleich bekräftigen die §§ 80 ff. BGB-neu die besondere Bedeutung des ursprünglichen Stifterwillens (§ 83 Abs. 2 BGB-neu).8 Das beschriebene Spannungsfeld ist somit hochaktuell. In welchem Verhältnis stehen im Stiftungsrecht Kontinuität – verkörpert durch den Grundsatz der Wahrung des ursprünglichen Stifterwillens – und Wandel – verkörpert durch die Rechtsfigur der w.V.d.V. – zueinander? Diese Frage ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. Im Vordergrund steht dabei die in der Praxis wohl wichtigste Fallgruppe: Unter welchen Voraussetzungen ist eine Änderung des Stiftungszwecks zulässig? Denn der Zweck ist die „Herzkammer“ jeder Stiftung.“9 Im Folgenden werden zunächst der ursprüngliche Stifterwille als zentrale stiftungsrechtliche Rechtskategorie einerseits (unten II.) und die Rechtsfigur der „wesentlichen Veränderung der Verhältnisse“ andererseits (unten III.) gegenübergestellt. Nach Darstellung der Regelungen zur Zweckänderung gemäß BGB-neu (unten IV.) werden Auslegungskriterien zunächst zum Stifterwillen (unten V.) und sodann zur w.V.d.V. (unten VI.) benannt. Es folgt eine Zusammenfassung mit einem Ausblick (unten VII.).

ums der Justiz und für Verbraucherschutz in den Jahren 2014 bis 2018 erarbeitet und den die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 8.6.2018 unter TOP 46 zur Kenntnis genommen hatte (Beschluss: https://www.innenministerkonferenz. de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/2018-06-08_06/beschluesse.pdf?__blob=publica tionFile&v=2; Diskussionsentwurf: https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termi ne/to-beschluesse/2018-06-08_06/anlage-zu-top-46.pdf?__blob=publicationFile&v=2; letzter Abruf am 2.7.2021). Der Verfasser war als Vertreter des Landes Sachsen-Anhalt Mitglied dieser AG; er hat auch als Sachverständiger an der öffentlichen Anhörung teilgenommen. 8 Im Folgenden wird im Wesentlichen die künftige, ab 1.7.2023 geltende Rechtslage zugrunde gelegt. 9 Vgl. BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 44 (Begründung): Der Zweck der Stiftung, den der Stifter im Stiftungsgeschäft festlegen muss, gibt der juristischen Person Stiftung ihren Inhalt. Der Stiftungszweck ist der Leitsatz der Stiftungstätigkeit, mit der der Stiftung ein festes Ziel gegeben wird, an dem ihre Tätigkeit auszurichten ist.“ Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 7 Rz. 1: „Iherings Wort vom Zweck als Schöpfer des ganzen Rechts gilt besonders für das Stiftungsrecht. Die Zwecksetzung stellt hier geradezu das Herzstück dar. … Er prägt Stiftungsgeschäft und Satzung bis in die Einzelheiten hinein, bestimmt die Geschäftstätigkeit der Stiftung im Detail und zieht der staatlichen Aufsicht Grenzen.“ Vgl. auch Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, Vorbem §§ 80 ff. BGB Rz. 5: „Der Stiftungszweck ist die „Seele“ der Stiftung.“

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II. Der ursprüngliche Stifterwille: Zentrale Rechtskategorie des Stiftungsrechts Den Stifterwillen – und damit die Individualität der jeweiligen Stiftung – bestimmt die Stifterin bzw. der Stifter bei der Errichtung der Stiftung im Stiftungsgeschäft und in der Stiftungssatzung. Diese Entscheidung und Weichenstellung betrifft vor allem Zweck, Vermögen und Organisation der künftigen Stiftung.10 Im stiftungsrechtlichen Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Wandel steht der ursprüngliche Stifterwille für die Kontinuität. Er ist ein Wesens- und Alleinstellungsmerkmal gerade der Rechtsform Stiftung. Denn diese unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht grundlegend von anderen juristischen Personen. – Eine Gesellschaft (bzw. ein Verein) wird von den Gesellschaftern (bzw. von den Vereinsmitgliedern) – d.h. im funktionellen Sinn von den „Inhabern“ – getragen und geprägt. Das schließt grundsätzlich ein, dass auch der Zweck der Gesellschaft (bzw. des Vereins) entsprechend der jeweiligen Satzung geändert werden kann. Eine Stiftung dagegen ist eine selbständige mitgliederlose Vermögensmasse. Sie „steht für sich“, ist auch von ihrem Stifter unabhängig.11 Zwar würde die Stiftung gar nicht existieren, wenn der Stifter sie nicht – als ihr Initiator und spiritus rector – errichtet hätte. Dennoch hat der Stifter nach der Errichtung keinerlei Rechte an der Stiftung, sofern er sich solche Rechte nicht während der Errichtung in der Satzung vorbehalten hat, was freilich die Regel ist.12 – Entstehung und laufende Tätigkeit der juristischen Person erfolgen bei Gesellschaft und Verein mit nur geringer bzw. ganz ohne staatliche Mitwirkung. Z.B. wird eine GmbH ins Handelsregister, ein Verein ins Vereinsregister bereits dann eingetragen, wenn bestimmte formale Voraussetzungen vorliegen (vgl. § 9c GmbHG, § 60 BGB). Anders die Stiftung: Schon ihre Entstehung bedarf einer – als Anerkennung 10 Vgl. z.B. Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, Vorbem §§ 80 ff. BGB Rz. 4. Es können aber auch viele andere Aspekte betroffen sein, z.B. die Frage, ob die Stiftung ggf. einer anderen zugelegt werden darf, oder die Bestimmung des Anfallberechtigten im Fall der Beendigung der Stiftung; vgl. Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 50 f. mit der Benennung weiterer möglicher Bestandteile der Satzung. Vgl. auch unten V.1.b). 11 BVerwG v. 22.9.1972 – VII C 27/71, BVerwGE 40, 347 – juris Rz. 22: „Die Stiftung ist nämlich die einzige juristische Person, die nicht durch an ihr korporations- oder vermögensrechtlich beteiligte natürliche Personen kontrolliert wird. Es besteht daher ein überwiegendes öffentliches von der Stiftungsaufsicht zu wahrendes Interesse daran, daß die Stiftungsorgane ihre Handlungsfreiheit nicht entgegen dem in der Stiftungssatzung niedergelegten Willen des Stifters ausnützen.“ Vgl. schon die Protokolle bei Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuche für das Deutsche Reich, 1899, I 962: „Völlig unzutreffend sei die Gleichstellung der Stiftungen mit den Vereinen. Der Verein lebe und könne die Verwendung seines Vermögens und sein gesammtes Wirken den Zeitverhältnissen entsprechend umgestalten, die Stiftung sei todt und der Einwirkung der lebenden Generation entzogen.“ Zur Mitgliederlosigkeit der Stiftung vgl. auch § 80 Abs. 1 Satz 1 BGB-neu. 12 Vgl. Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 4 (Leitsatz 13).

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bezeichneten – behördlichen Genehmigung, vor deren Erteilung u.a. geprüft wird, ob die dauernde und nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert erscheint (bisher § 80 Abs. 2 Satz 1 BGB; künftig § 82 Satz 1 BGB-neu). Vor allem aber unterliegt die Stiftung nach ihrer Errichtung – anders als Gesellschaft oder Verein – einer staatlichen Aufsicht nach den Landesstiftungsgesetzen. – Schließlich setzt die Rechtsform der Stiftung – wiederum anders als Gesellschaft und Verein – Dauerhaftigkeit voraus: Eine Stiftung kann nicht für die Erfüllung eines kurzfristigen Zwecks errichtet werden. Das gilt nicht nur für die auf unbestimmte Zeit errichtete Stiftung (die „Ewigkeitsstiftung“), sondern auch für die – nach ihrer Definition zeitlich begrenzte – Verbrauchsstiftung. Der Normtext selbst enthält nämlich eine sprachliche Verknüpfung zwischen der Regelung des Mindestzeitraums und dem Merkmal der Dauerhaftigkeit:13 Nach § 80 Abs. 2 Satz 2 BGB erscheint bei der Verbrauchsstiftung „die dauernde Erfüllung des Stiftungszwecks gesichert, wenn die Stiftung für einen im Stiftungsgeschäft festgelegten Zeitraum bestehen soll, der mindestens zehn Jahre umfasst.“14 Es fragt sich, warum sich Stifter für die von ihnen errichteten Stiftungen sehenden Auges einem derartigen, jedenfalls auf den ersten Blick restriktiven Rechtsregime unterwerfen. Die Antwort liegt in dem staatlichen Garantieversprechen, das unsere Rechtsordnung jedem potentiellen Stifter gewährt. Gegenstand dieses Versprechens ist die vom Stifter zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks vorgenommene Vermögensverfügung. Deren dauernde Wirksamkeit wird vom Staat mittels seiner Stiftungsaufsicht grundsätzlich auf Dauer – ggf. „ewig“ – garantiert.15 In umgangssprachlich-plakativer Verkürzung: „Ich – Staat – passe auf, dass die von Dir – Stifter – errichtete Stiftung sich auch tatsäch13 Vgl. Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 28. 14 Ähnlich § 82 Satz 2 BGB-neu. 15 Vgl. schon Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 4 (Leitsatz 1) und Rz. 40; Hof in von Campenhausen/ Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 10 Rz. 5; zurückhaltend Hüttemann/ Rawert in Staudinger, 2017, Vorbem §§ 80 ff. BGB Rz. 125. – Dieses Garantieversprechen besteht nach geltendem Landesstiftungsrecht jedenfalls für alle steuerbegünstigten Stiftungen, dies sind über 90 % aller Stiftungen (https://www.stiftungen.org/fileadmin/stiftun gen_org/Verband/Was_wir_tun/Publikationen/Zahlen-Daten-Fakten-zum-deutschen-Stif tungswesen.pdf; letzter Abruf am 2.7.2021). Privatnützige Stiftungen allerdings unterliegen in einigen Ländern nur einer eingeschränkten Stiftungsaufsicht; vgl. § 5 Abs. 1 Satz 2 HbgStiftG, § 10 Abs. 2 NdsStiftG (NStiftG), § 6 Abs. 3 StiftG NRW, § 9 Abs. 1 Satz 3 RhPfStiftG (LStiftG) und § 10 Abs. 3 SaarlStiftG; gemäß Art. 10 Abs. 1 Satz 1 BayStG besteht insoweit gar keine Stiftungsaufsicht. Nach § 10 Abs. 2 StiftG Bln, § 4 Abs. 3 Satz 2 StiftGBbg, § 17 BremStiftG und § 19 SHStiftG (StiftG) betreffen solche Einschränkungen lediglich die Familienstiftungen. Diese Vorschriften sind rechtspolitisch umstritten. Kritisch z.B. Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, Vorbem §§ 80 ff. BGB Rz. 136 ff.; Suerbaum in Stumpf/Suerbaum/Schulte/Pauli, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2018; C Rz. 187 ff. Bejahend: Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 10 Rz. 9; Winkler in Andrick/Gantenbrink/Janitzki/Muscheler/Schewe (Hrsg.), Die Stiftung – Jahreshefte zum Stiftungswesen 10 (2016), S. 79, 115 f.

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lich an die von Dir gesetzten Regeln hält.“ Wer somit im Jahr 2021 eine Stiftung errichtet, kann darauf vertrauen, dass diese von ihm getroffene Vermögensverfügung auch noch nach Jahrzehnten beachtet wird, sofern das Vermögen noch vorhanden ist,16 der Zweck erfüllbar bleibt und das Stiftungsrecht insoweit nicht geändert wird.17 Somit ist das „System Stiftung“ in umfassender Weise durch den ursprünglichen Stifterwillen geprägt. In diesem System sind die drei Stufen Bestimmung, Vollzug und Kontrolle des Stifterwillens zu unterscheiden: – Bei der Errichtung der Stiftung – auf der Stufe 1 – bestimmt der Stifter den Stifterwillen. – Bei der Verwaltung der Stiftung – auf der Stufe 2 – vollziehen die Stiftungsorgane den Stifterwillen. – Bei der Stiftungsaufsicht – auf der Stufe 3 – kontrolliert die Stiftungsbehörde, ob die Stiftungsorgane den Stifterwillen tatsächlich vollziehen, und setzt ggf. die Vollziehung durch.18

16 Dass das Vermögen auch längere Zeit nach Stiftungserrichtung noch vorhanden ist, wird materiell-rechtlich durch die Pflicht zur ungeschmälerten Erhaltung des Grundstockvermögens gesichert, § 83c Abs. 1 Satz 1 BGB-neu; bisher – mit unterschiedlichen Formulierungen – § 7 Abs. 2 Satz 1 BadWürttStiftG (StiftG), Art. 6 Abs. 2 BayStG, § 3 StiftG Bln, § 7 Abs. 1 BremStiftG, § 4 Abs. 2 Satz 3 HbgStiftG, § 6 Abs. 1 HessStiftG, § 6 Abs. 1 Sätze 1 und 2 NdsStiftG (NStiftG), § 4 Abs. 2 StiftG NRW, § 7 Abs. 2 Satz 1 RhPfStiftG (LStiftG), § 6 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SaarlStiftG, § 4 Abs. 3 Satz 1 SächsStiftG, § 7 Abs. 2 Satz 1 SachsAnhStiftG (StiftG LSA), § 4 Abs. 2 Satz 1 SHStiftG (StiftG) und § 8 Abs. 2 Satz 1 ThürStiftG. Auf die Einhaltung dieser Pflicht zu achten, ist eine Kernaufgabe der Stiftungsorgane (vgl. z.B. § 7 Abs. 5 SachsAnhStiftG [StiftG LSA] – Pflicht zur jährlichen Vorlage einer Jahresrechnung mit einer Vermögensübersicht – und § 7 Abs. 6 SachsAnhStiftG [StiftG LSA] – Prüfung der Erhaltung des Grundstockvermögens im Prüfungsbericht des Wirtschaftsprüfers). Und es ist eine Kernaufgabe der Stiftungsaufsicht, darauf zu achten, dass die Stiftungsorgane diese Aufgabe auch sachgerecht wahrnehmen (ausdrücklich Art. 12 Abs. 1 Satz 3 BayStG; vgl. aber auch z.B. § 10 Abs. 3 Satz 1 SachsAnhStiftG [StiftG LSA] – Prüfung der Erhaltung des Grundstockvermögens durch die Aufsichtsbehörde), und somit Teil des staatlichen Garantieversprechens. 17 Diesem Vertrauensgesichtspunkt hat schon der historische Gesetzgeber große Bedeutung beigemessen. Bemerkenswert ist etwa die Amtliche Begründung zu § 1 des (preußischen) Gesetzes über Änderungen (sic!) von Stiftungen v. 10.7.1924 (GS S. 575) in der LT-Drs. Nr. 7334 v. 8.12.1923, S. 7789, 7790. Die mit dieser Vorschrift verhinderte Ausdehnung der behördlichen Befugnisse gemäß § 87 BGB wäre „auch deshalb bedenklich, damit nicht für künftige Fälle, in denen die Errichtung einer Stiftung erwogen wird, das Vertrauen der Bevölkerung zur Beständigkeit einer Stiftung und zur Führung der staatlichen Aufsicht mehr als unbedingt nötig gemindert wird.“ 18 Vgl. Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 4 (Leitsatz 17) und ausführlich Rz. 43 ff.

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III. Die Rechtsfigur der „wesentlichen Veränderung der Verhältnisse“: Bisherige Rechtsentwicklung Kontinuität und Wandel im Stiftungsrecht – in diesem Spannungsfeld steht die Rechtsfigur der „wesentlichen Veränderung der Verhältnisse“ (im Folgenden: w.V.d.V.) für den Wandel. Die Bedeutung dieses Merkmals, das bis heute nicht Bestandteil des BGB ist, im Stiftungsrecht ist nach und nach gewachsen; inzwischen kommt ihm eine Schlüsselrolle zu. Zum besseren Verständnis wird seine bisherige Entwicklung kurz nachgezeichnet. 1. Rechtslage ab 1.1.1900 Die Änderung der Stiftungsverfassung ist im BGB (seit seinem Inkrafttreten am 1.1.1900 bis heute) nur in § 87 geregelt.19 Die Vorschrift betrifft u.a. – in der Begrifflichkeit ihrer Entstehungszeit – die „Umwandlung des Zwecks“. Dreierlei ist bemerkenswert: – Tatbestandsvoraussetzung ist die Unmöglichkeit der Zweckerfüllung.20 Änderungen der Verhältnisse, die unterhalb dieser Schwelle liegen, sind nicht erfasst. – Die Rechtsfolge der Zweckumwandlung steht nach dem Wortlaut gleichrangig neben der Aufhebung, einem erheblich schärferen Eingriff in die Stiftung. – Adressat der Vorschrift ist die Behörde. Eine Befugnis der Stiftung selbst ist nicht vorgesehen.21 Allerdings sind zeitgleich mit dem BGB ergänzende landesrechtliche Vorschriften in Kraft getreten, die auch den Stiftungen selbst die Befugnis zu Änderungen der Stiftungsverfassung einräumten. In Preußen etwa bestimmte Art. 4 des Ausführungsgesetzes zum BGB vom 20.9.1899, dass „die Änderung der Verfassung einer rechtsfähigen Stiftung … sowie die Aufhebung einer solchen Stiftung … durch Beschluss des Vorstands mit staatlicher Genehmigung erfolgen“ kann; inhaltliche Kriterien sah das Gesetz nicht vor.22 Somit war von Anfang an – bereits mit Inkrafttreten der §§ 80 ff. BGB – die Zuständigkeit für Maßnahmen der Änderung der Stiftungsverfassung nicht auf die Stiftungsbehörde beschränkt.

19 Zur Entstehung der Vorschrift vgl. die Protokolle bei Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuche für das Deutsche Reich, 1899, I 962. 20 Die Alternative der Gemeinwohlgefährdung kann hier außer Betracht bleiben. 21 Deshalb bedarf die Vorschrift bei ihrer Anwendung in mehrfacher Hinsicht einer korrigierenden Auslegung. Vgl. Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, § 87 BGB Rz. 21; Weitemeyer in Münchener Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 87 BGB Rz. 3 und 4. Zur Subsidiarität der Befugnis der Behörde gegenüber der Befugnis des Stiftungsorgans siehe sogleich unter III.2. 22 GS S. 177.

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2. Das preußische Gesetz über Änderungen von Stiftungen vom 10.7.1924 Ein Meilenstein in der Entwicklung des Stiftungsrechts war das preußische Gesetz über Änderungen (sic!) von Stiftungen vom 10.7.1924.23 § 1 Abs. 1 Satz 1 lautete: „Stiftungen können durch Beschluß ihrer Vorstände mit Genehmigung ihrer staatlichen Aufsichtsbehörde zusammengelegt, aufgehoben oder in ihren Zwecken geändert werden, wenn es wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse angezeigt erscheint.“ Anlass war die galoppierende Inflation des Jahres 1923, die das Vermögen auch von Stiftungen beeinträchtigt, in vielen Fällen ganz vernichtet hatte. Zweck der Vorschrift war es, die Bewältigung der Folgen dieser ökonomisch-sozialen Katastrophe im Bereich des Stiftungsrechts zu erleichtern.24 Die Bedeutung dieses Gesetzes reicht allerdings weit über ihren eigentlichen Anlass hinaus: – Erstmals findet die Rechtsfigur der w.V.d.V. Eingang ins Stiftungsrecht. Eine Zweckänderung setzt nicht mehr Unmöglichkeit der Zweckerfüllung voraus; diese hohe Hürde wird abgesenkt. – Als zulässige Rechtsfolge wird erstmals auch die Zusammenlegung genannt. – Adressaten der Vorschrift sind – in Kontinuität des preußischen Ausführungsgesetzes zum BGB vom 20.9.1899 – die Stiftungen selbst und nicht die Stiftungsbehörde. Dabei ist bemerkenswert, mit welcher Deutlichkeit in der Amtlichen Begründung dieses Gesetzes der Vorrang der Zuständigkeit der Stiftungsorgane und der Ausnahmecharakter des – als nachrangig angesehenen – § 87 BGB hervorgehoben wird.25 Der Subsidiaritätsgrundsatz, der – viel später – mit Inkrafttreten des 23 GS S. 575. 24 Vgl. LT-Drs. (Preußen) Nr. 7334 v. 8.12.1923, S. 7790: „Durch die Geldentwertung haben zahlreiche Stiftungen ihre Bedeutung verloren, ohne daß die Voraussetzung des § 87 BGB vorläge … In vielen Fällen wird die Aufhebung die einzige zweckmäßige Maßnahme sein. In anderen Fällen kann es angezeigt erscheinen, den Zweck der Stiftung zu ändern, damit die Absicht des Stifters soweit als möglich gewahrt, sein Wille aber den veränderten Zeitverhältnissen angepaßt wird. Nicht selten wird aber eine Zusammenlegung mehrerer Stiftungen … das Gegebene sein, um den entwerteten Vermögensmassen vereinigt wenigstens einige Kaufkraft zu verleihen“ Vgl. RG v. 21.5.1928 – IV 555/27, RGZ 121, 166 (169) zu diesem Gesetz: „… Neuordnung der durch die Geldentwertung in ihren Grundlagen erschütterten Rechtsverhältnisse der Stiftungen …“. Vgl. zum Ganzen Liermann, Handbuch des Stiftungsrechts, 1. Band – Geschichte des Stiftungsrechts, 1963, S. 283 f., der dieses preußische Gesetz allerdings eher kritisch bewertet. 25 LT-Drs. (Preußen) Nr. 7334 v. 8.12.1923, S. 7790: „Die Maßnahme soll in die Hand des Stiftungsvorstandes gelegt werden … Der Stiftungsvorstand ist das Organ, das der Stifter zum Verwalter seiner Stiftung vertrauensvoll eingesetzt und somit zum Vollstrecker seines Willens gemacht hat. Dem Willen des Stifters wird man also am ehesten gerecht, wenn man dem Vorstand die Entscheidung überläßt, ob und wie den veränderten Zeitumständen Rechnung zu tragen ist. Eine Ausdehnung der durch § 87 BGB ausnahmsweise der Aufsichtsbehörde gegebenen Befugnis erscheint auch deshalb bedenklich, damit nicht für künftige Fälle, in denen die Errichtung einer Stiftung erwogen wird, das Vertrauen der Bevölkerung zur Beständigkeit einer Stiftung und zur Führung der staatlichen Aufsicht mehr als unbedingt nötig gemindert wird.“

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Grundgesetzes zu voller Bedeutung gelangen sollte, hat bereits hier seine Wurzeln: Eingriffe in die Stiftung sollen vorrangig durch die Stiftung selbst und nur nachrangig durch die Behörde erfolgen.26 Das Reichsgericht hat die Gesetzgebungskompetenz des Landes zum Erlass dieses Gesetzes und damit seine Verfassungsmäßigkeit ausdrücklich bejaht.27 Die Vorschrift kann in Bezug auf die Änderung der Stiftungsverfassung als die „Urnorm“ des bis heute fast durchweg geltenden Landesstiftungsrechts angesehen werden. 3. Entwicklung nach 1945 In den Jahren nach 1945 sind nach und nach Landesstiftungsgesetze zur Ergänzung der §§ 80 ff. BGB erlassen worden. Die Länder sind dabei unterschiedliche Wege gegangen; dies gilt besonders für die – hier interessierende – Frage der Änderung der Stiftungsverfassung. Bei diesem Themenfeld hat sich überwiegend ein Regelungsmodell durchgesetzt, das im Kern auf das preußische Gesetz über Änderungen von Stiftungen vom 10.7.1924 zurückgeht. Es lässt sich – ungeachtet einiger Unterschiede in den Einzelheiten – wie folgt beschreiben: – Tatbestandsvoraussetzung ist eine w.V.d.V. Erfasst werden damit Fälle unterhalb der Unmöglichkeitsschwelle des § 87 BGB. – Zulässige Rechtsfolgen sind vor allem die Zweckänderung, aber auch die Zusammenlegung und gelegentlich die Zulegung. – Adressat ist – entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip – die Stiftung selbst.

26 Vgl. ausführlich zum Subsidiaritätsprinzip Winkler in Andrick/Gantenbrink/Janitzki/Muscheler/Schewe (Hrsg.), Die Stiftung – Jahreshefte zum Stiftungswesen 10 (2016), S. 79, 109 ff. Grundlegend a.A. zum bisher geltenden Recht Weitemeyer in Münchener Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 87 BGB Rz. 5. Auch in der Bund-Länder-AG vertrat eine Minderheit zunächst die – später aufgegebene – Auffassung, die Beendigung einer Stiftung solle nur von der Behörde und nicht von den Stiftungsorganen vorgenommen werden; vgl. den (Zwischen-) Bericht vom 9.9.2016, S. 52 ff., der von der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 30.11.2016 unter TOP 26 zur Kenntnis genommen wurde; https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/201611-29_30/nummer%2026%20reform%20stiftungsrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Abruf 2.7.2021). 27 RG v. 21.5.1928 – IV 555/27, RGZ 121, 166 (168 f.): „Nach § 85 BGB kann aber die Verfassung der Stiftung durch Landesgesetz geändert werden. Zur Verfassung gehören u.a. die Bestimmungen über das Erlöschen der Stiftung wie auch über die Änderung des Stiftungszwecks. Damit ist nach Reichsrecht der Landesgesetzgebung freie Hand gelassen, … Stiftungen aufzuheben oder in Änderung ihres Zwecks den bisher Berechtigten ihr Recht zu entziehen, wie dies bereits … nach Art. 4 preuß. AG z. BGB zulässig war.“ Vgl. auch BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 88 (Begründung).

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Als erstes Land hat sich Berlin bei der Verabschiedung des Stiftungsgesetzes vom 11.3.196028 bewusst in diese Tradition des preußischen Rechts gestellt29 und mit § 5 eine mit den bisherigen preußischen Vorschriften weitgehend inhaltsgleiche Vorschrift geschaffen.30 In der Folgezeit haben auch die meisten anderen Länder Vorschriften erlassen, die der Stiftung selbst – unter unterschiedlichen Voraussetzungen – die Befugnis zur Zweckänderung, Zusammenlegung und Auflösung zuweisen.31 Die heutige Rechtslage lässt wie folgt zusammenfassen: – In 11 Landesstiftungsgesetzen ist die Rechtsfigur Tatbestandsvoraussetzung für eine Zweckänderung,32 in 3 weiteren Gesetzen für eine („einfache“) Satzungsänderung.33

28 GVBl. S. 228. 29 Vgl. Abgeordnetenhaus-Drs. Nr. 287 v. 25.9.1959, S. 2 mit einem Überblick über die Entwicklung des Stiftungsrechts in Preußen seit dem ALR; dieses wurde erst durch das Berliner Stiftungsgesetz abgelöst. Vgl. sodann S. 2 f.: „Die … §§ 80 bis 88 BGB enthalten keine abschließende Regelung, sondern lassen für eine ergänzende landesrechtliche Regelung Raum. … Ferner ist in § 85 BGB neben Reichs- (jetzt Bundes-) Recht Landesrecht für die Verfassung der Stiftung ausdrücklich vorbehalten. Dabei ist unter Verfassung der Stiftung die Gesamtheit der Normen zu verstehen, durch die bestimmt werden … 7. Dauer, Veränderung und Erlöschen der Stiftung …“. 30 In der Amtlichen Begründung wird die Wahrung des Stifterwillens besonders betont. Vgl. Abgeordnetenhaus-Drs. Nr. 287 v. 25.9.1959, S. 4 zu § 5: „Durch Absatz 2 soll in Übereinstimmung mit dem Gesetz … vom 10.7.1924 daran festgehalten werden, daß die Änderung der Satzung …, die Aufhebung und die Zusammenlegung nur unter bestimmten Voraussetzungen beschlossen werden kann, damit vom Willen des Stifters nicht nach Belieben abgewichen werden kann …“. 31 §§ 6 und 14 Abs. 2 BadWürttStiftG (StiftG), § 10 Abs. 1 StiftGBbg, § 8 Abs. 1 BremStiftG, § 7 Abs. 1 und 2 HbgStiftG (auch mit Befugnis zur Zulegung), § 7 NdsStiftG (NStiftG), § 5 StiftG NRW, § 8 RhPfStiftG (LStiftG), § 7 SaarlStiftG, §§ 9 und 10 SächsStiftG, § 8 SachsAnhStiftG (StiftG LSA) (auch mit Befugnis zur Zulegung, nicht aber zur Auflösung) sowie § 5 Abs. 1 SHStiftG (StiftG) (auch mit Befugnis zur Zulegung). 32 Diese Befugnis ergibt sich aus dem jeweiligen Normwortlaut (§ 6 Satz 2 BadWürttStiftG (StiftG), § 5 Abs. 2 StiftG Bln, § 8 Abs. 1 Satz 1 BremStiftG, § 9 Abs. 2 HessStiftG, § 7 Abs. 1 Satz 1 NdsStiftG (NStiftG), § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StiftG NRW, § 8 Abs. 2 RhPfStiftG (LStiftG), § 7 Abs. 1 Satz 1 SaarlStiftG, § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SächsStiftG, § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SHStiftG (StiftG)), bei § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 HbgStiftG aus der Amtlichen Begründung (Bürgerschafts-Drs. 18/1513 v. 21.12.2004, S. 14). Vgl. schon den Überblick bei Winkler, ZStV 2017, 165, 171. 33 In diesen Fällen ist die Befugnis beschränkt auf Satzungsänderungen, bei denen der Zweck nicht oder nur unwesentlich geändert wird (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 SachsAnhStiftG (StiftG LSA) und § 9 Abs. 1 Satz 2 ThürStiftG). Unklar ist die Reichweite der Befugnis des § 9 Abs. 1 Satz 2 StiftG M-V (vgl. dazu LT-Drs. 4/2047 v. 11.1.2006, S. 10 und 14). – Nicht erwähnt ist die Rechtsfigur der w.V.d.V. nur in den Landesstiftungsgesetzen von Bayern und Brandenburg. – Zum künftigen Recht vgl. unten IV.

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– 11 Landesstiftungsgesetze bestimmen als zulässige Rechtsfolge eine Zusammenlegung, darunter 3 Gesetze auch eine Zulegung.34 – Schließlich sehen 9 Landesstiftungsgesetze vor, dass im Fall einer w.V.d.V. sogar eine Auflösung zulässig ist.35 Daher ist auch die Verwaltungspraxis – und, ihr folgend, die Beratungspraxis – von dieser Rechtsfigur seit Jahrzehnten geprägt. Die Rechtsprechung hat diese Verwaltungspraxis durchweg bestätigt.36 Zwar wurde in den letzten Jahren – entgegen der dargestellten Gesetzeslage, der Entscheidungsgeschichte und der jahrzehntelangen Staatspraxis – zunehmend die Auffassung vertreten, § 87 BGB stelle für Änderungen der Stiftungsverfassung – von einfachen Satzungsänderungen abgesehen – eine abschließende Regelung dar. Insoweit verfügten die Länder über keine Gesetzgebungskompetenz; daher sei auch die Verfassungsmäßigkeit vieler der genannten landesrechtlichen Regelungen zweifelhaft.37 Allerdings ist diese Rechtsauffassung ohne praktische Bedeutung geblieben, da kein Verfassungsgericht dieser Meinung gefolgt ist und eine dieser Landesnormen für nichtig erklärt hat. Die Vorschriften sind daher auch weiterhin anzuwenden,38 bis 34 § 5 Abs. 2 StiftG Bln, § 8 Abs. 1 Satz 1 BremStiftG (Bezeichnung: Zusammenschluss), § 7 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 Nr. 2 HbgStiftG (auch Zulegung), § 9 Abs. 2 HessStiftG, § 7 Abs. 1 Satz 1 NdsStiftG (NStiftG), § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StiftG NRW (Bezeichnung: Zusammenschluss), § 8 Abs. 2 RhPfStiftG (LStiftG), § 7 Abs. 1 Satz 1 SaarlStiftG (Bezeichnung: Zusammenschluss), § 10 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SächsStiftG, § 9 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SachsAnhStiftG (StiftG LSA) (auch Zulegung) und § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 i.V.m. Satz 1 Nr. 2 SHStiftG (StiftG) (auch Zulegung). Vgl. schon Winkler, ZStV 2017, 165, 170. – Zum künftigen Recht vgl. §§ 86, 86a BGB-neu; die Vorschriften enthalten ebenfalls das Merkmal der w.V.d.V. Zulegung und Zusammenlegung sind aber subsidiär gegenüber der Zweckänderung. 35 § 5 Abs. 2 StiftG Bln (Bezeichnung: Aufhebung), § 8 Abs. 1 Satz 1 BremStiftG, § 9 Abs. 2 HessStiftG (Bezeichnung: Aufhebung), § 7 Abs. 1 Satz 1 NdsStiftG (NStiftG) (Bezeichnung: Aufhebung), § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StiftG NRW, § 8 Abs. 2 RhPfStiftG (LStiftG) (Bezeichnung: Aufhebung), § 7 Abs. 1 Satz 1 SaarlStiftG, § 10 Abs. 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SächsStiftG (Bezeichnung: Aufhebung) und § 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i.V.m. Satz 1 Nr. 2 SHStiftG (StiftG). Vgl. schon Winkler, ZStV 2017, 165, 169. – Zum künftigen Recht vgl. § 87 Abs. 1 BGB-neu. Eine w.V.d.V. genügt dann nicht mehr; vgl. BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 75 (Begründung). 36 Vgl. z.B. KG v. 13.5.1968 – 1 VA 2/67, StiftRspr I, 163, 169 f.; BGH v. 26.4.1976 – III ZR 21/74, juris Rz. 63; BGH v. 22.1.1987 – III ZR 26/85, StiftRspr IV, 58, 60; BAG v. 7.8.1990 – 1 AZR 372/89, NJW 1991, 514, 516; OVG Bremen v. 28.8.1990 – OVG 1 BA 9/90, StiftRspr IV, 127, 129, bestätigt durch BVerwG v. 29.11.1990 – 7 B 155.30, StiftRspr IV, 151. 37 Vgl. z.B. Happ, Stifterwille und Zweckänderung, 2007, S. 135 ff., 146 f.; Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, § 85 BGB Rz. 28 f. m.w.N. 38 Ebenso Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, § 85 BGB Rz. 30: „Solange … die … Vorschriften nicht im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle durch das BVerfG für unwirksam erklärt werden, haben die … Stiftungsbehörden diese Vorschriften allerdings mangels einer eigenen Verwerfungskompetenz einstweilen weiterhin anzuwenden.“ Vgl. auch Weitemeyer, AcP 217 (2017), 431, 475 f.: „Der Konflikt zwischen Bundes- und Landesrecht bleibt

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am 1.7.2023 ohnehin das neue, unzweifelhaft gültige Recht in Kraft tritt und damit der Meinungsstreit endgültig erledigt ist. Insgesamt zeigt sich die herausragende Bedeutung des neuen Rechts, wonach alle Formen der Änderung der Stiftungsverfassung abschließend im BGB geregelt werden. Die erhebliche Rechtszersplitterung wird beseitigt, und die bisherigen Zweifel an der Gültigkeit von Teilen des geschriebenen Rechts entfallen. Vor allem aber wird ein Recht geschaffen, das in der fast 100jährigen Tradition des Stiftungsrechts in Deutschland steht und dieses gewachsene Recht weiterentwickelt.39 Im Übrigen liegt ein besonderer rechtsdogmatischer Vorzug der Rechtsfigur der w.V.d.V. darin, dass die mit ihr verbundene Lösung des dargestellten zentralen stiftungsrechtlichen Problems – nämlich der Erstarrung der Ewigkeitsstiftung – in rechtssystematischer Übereinstimmung steht mit der Lösung vergleichbarer Probleme in der Rechtsordnung im Übrigen.40

IV. Die Änderung des Stiftungszwecks nach BGB-neu Nach Klärung der stiftungsrechtlichen Grundlagen ist weiter zu fragen, unter welchen Voraussetzungen eine Zweckänderung nach den Vorschriften des BGB-neu zulässig ist.41 1. Rechtsvorschriften Rechtsgrundlage für die Zulässigkeit einer Zweckänderung ist § 85 Abs. 2 BGB-neu. Allerdings ist die Vorschrift nach Maßgabe des § 85 Abs. 4 BGB-neu dispositiv. Daher ist vorab zu prüfen, ob der gesetzliche Tatbestand des § 85 Abs. 2 BGB-neu un-

aber bestehen, denn die Landesbehörden sind solange an das Landesrecht gebunden, bis festgestellt wurde, dass es gegen Bundesrecht verstößt. Diese Feststellungs- und Verwerfungskompetenz liegt für nachkonstitutionelles Recht beim Bundesverfassungsgericht, an das sich die Behörden nicht direkt wenden können. Sie … müssen abwarten, bis ein Bürger gegen die Anwendung einer solchen Norm klagt. Wenn die landesrechtlichen Voraussetzungen für die Satzungsänderung aber (bundesrechtswidrig) zu großzügig sind, werden betroffene Stiftungsorgane den Rechtsweg gar nicht beschreiten.“ Vgl. auch Winkler, ZStV 2017, 165 und besonders Fn. 5. 39 Der Verfasser hat schon 2011 vorgeschlagen, die Zweckänderung durch Stiftungsorgane (wie auch die Zulegung und die Zusammenlegung) unter Verwendung der Rechtsfigur der w.V.d.V. umfassend und abschließend im BGB zu regeln und damit die beschriebenen Probleme des geltenden Rechts zu lösen; vgl. Winkler in Andrick/Gantenbrink/Hellmig/Janitzki/Muscheler/Schewe, Die Stiftung – Jahreshefte zum Stiftungswesen 5 (2011), S. 67, 85 ff., 88 f. 40 Vgl. Vorschriften wie z.B. § 60 VwVfG oder § 60a Abs. 3 AO; vgl. auch § 313 BGB – Störung der Geschäftsgrundlage. – Einen anderen Ansatz vertritt Weitemeyer in Münchener Kommentar, 8. Aufl. 2018, § 85 BGB Rz. 12. 41 Das bisherige, noch bis 30.6.2023 geltende Recht ist auch beim Problem der Zweckänderung durch eine hohe Rechtszersplitterung gekennzeichnet; vgl. oben III.

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eingeschränkt anwendbar oder ggf. durch eine Regelung im Stiftungsgeschäft modifiziert ist. Außerdem ist die Auslegungsregel des § 83 Abs. 2 BGB-neu zu beachten. a) § 85 Abs. 4 BGB-neu: Abweichung vom Regeltatbestand des § 85 Abs. 2 BGB-neu im Stiftungsgeschäft? Zunächst ist gemäß § 85 Abs. 4 BGB-neu zu klären, ob das Stiftungsgeschäft für den Fall einer Zweckänderung eine Abweichung vom gesetzlichen Regeltatbestand des § 85 Abs. 2 BGB-neu enthält (Prüfungsschritt 1). „Im Stiftungsgeschäft kann der Stifter Satzungsänderungen nach den Absätzen 1 bis 3 ausschließen oder beschränken. Satzungsänderungen durch Organe der Stiftung kann der Stifter im Stiftungsgeschäft auch abweichend von den Absätzen 1 bis 3 zulassen. Satzungsbestimmungen nach Satz 2 sind nur wirksam, wenn der Stifter Inhalt und Ausmaß der Änderungsermächtigung hinreichend bestimmt festlegt.“42 Es ist somit einerseits möglich, dass der Stifter im Stiftungsgeschäft eine Satzungsänderung nach § 85 Abs. 2 BGB-neu ausgeschlossen oder beschränkt hat. In diesem Fall kommt § 85 Abs. 2 gar nicht bzw. nur eingeschränkt – nämlich nach Maßgabe des betreffenden Stiftungsgeschäfts – zur Anwendung. Es ist andererseits aber auch denkbar, dass der Stifter im Stiftungsgeschäft eine Satzungsänderung abweichend von § 85 Abs. 2 BGB-neu erleichtert hat. In diesem Fall sind nicht die strengen Voraussetzungen des § 85 Abs. 2 BGB-neu maßgebend, sondern die milderen, in diesem Stiftungsgeschäft beschriebenen Voraussetzungen – die z.B. bestimmen können, dass für eine Zweckänderung eine w.V.d.V. nicht erforderlich ist.43 b) § 85 Abs. 2 BGB-neu: Änderung des Stiftungszwecks Steht nach dieser Vorab-Klärung die Anwendbarkeit des § 85 Abs. 2 BGB-neu fest, sind die Voraussetzungen dieser Vorschrift für eine Zweckänderung zu prüfen.

42 Auch das bisherige, noch bis 30.6.2023 fortgeltende Recht sieht teilweise vor, dass die Anforderungen an eine Zweckänderung durch Stiftungsgeschäft bzw. Satzung erleichtert werden können; vgl. etwa § 14 Abs. 2 Satz 1 BadWürttStiftG (StiftG), § 8 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BremStiftG, § 7 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. NdsStiftG (NStiftG), § 7 Abs. 1Satz 1 1. Alt SaarlStiftG, § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SächsStiftG. 43 § 85 Abs. 2 BGB-neu ist somit zwar dispositiv, aber nur mit den in § 85 Abs. 4 BGB-neu beschriebenen Einschränkungen. Vgl. i.E. BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 66 f. (Begründung). Zu beachten ist, dass die Vorschrift des § 85 Abs. 4 BGB-neu an eine Regelung im Stiftungsgeschäft anknüpft und insoweit nicht für Bestandsstiftungen gilt, sondern nur für die nach Inkrafttreten des BGB-neu neu errichteten Stiftungen. Die Vorschrift des § 85 Abs. 4 BGB-neu wird daher erst in den Jahren nach dem 1.7.2023 Bedeutung entfalten.

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„Durch Satzungsänderung kann der Stiftungszweck … oder es können andere prägende Bestimmungen der Stiftungsverfassung geändert werden, wenn sich die Verhältnisse nach Errichtung der Stiftung wesentlich verändert haben und eine solche Änderung erforderlich ist, um die Stiftung an die veränderten Verhältnisse anzupassen. Als prägend für eine Stiftung sind regelmäßig die Bestimmungen über den Namen, den Sitz, die Art und Weise der Zweckerfüllung und über die Verwaltung des Grundstockvermögens anzusehen.“ Tatbestandsvoraussetzungen sind somit eine w.V.d.V. (Prüfungsschritt 2) sowie die Erforderlichkeit der Satzungsänderung für die Anpassung der Stiftung an die veränderten Verhältnisse (Prüfungsschritt 3).44 Rechtsfolge ist die Zulässigkeit einer Zweckänderung bzw. der Änderung einer anderen prägenden Bestimmung der Stiftungsverfassung.45 Die vom Stiftungsorgan beschlossene Satzungsänderung bedarf gemäß § 85a Abs. 1 BGB-neu einer Genehmigung der nach Landesrecht zuständigen Behörde. c) § 83 Abs. 2 BGB-neu: Stifterwille (Querschnittsregelung) Bei allen Änderungen der Stiftungsverfassung ist stets § 83 Abs. 2 BGB-neu zu beachten. In dieser Vorschrift wird – erstmals im BGB – die besondere Bedeutung des ursprünglichen Stifterwillens hervorgehoben. „Die Stiftungsorgane haben bei ihrer Tätigkeit für die Stiftung und die zuständigen Behörden haben bei der Aufsicht über die Stiftung den bei der Errichtung der Stiftung zum Ausdruck gekommenen Willen, hilfsweise den mutmaßlichen Willen des Stifters zu beachten.“46

44 Dieses Merkmal der Erforderlichkeit der Satzungsänderung für die Anpassung der Stiftung an die veränderten Verhältnisse ist ein neues Element in der stiftungsrechtlichen Systematik. In den vergleichbaren Gesetzestatbeständen der Landesstiftungsgesetze ist es nicht enthalten. 45 Dabei werden innerhalb des § 85 Abs. 2 BGB-neu zwei Tatbestände unterschieden. Der Stiftungszweck ist immer prägend; seine Änderung setzt daher immer (u.a.) eine w.V.d.V. voraus. Dagegen ist z.B. die Bestimmung über den Namen nur regelmäßig prägend; d.h. im Ausnahmefall einer nicht prägenden Namensbestimmung erfordert deren Änderung auch nicht eine w.V.d.V. Andererseits können auch weitere, im Normtext nicht genannte Bestimmungen prägend sein und somit für ihre Änderung eine w.V.d.V. voraussetzen, z.B. die Bestimmung über die Gemeinnützigkeit. Vgl. i.E. BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 65 f. (Begründung). – Zum bisher geltenden Recht vgl. oben III.3. 46 Vgl. BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 51 (Begründung). Schon heute wird die Bedeutung des Stifterwillens in fast allen Landesstiftungsgesetzen – auf unterschiedliche Weise – hervorgehoben, sei es als Gesetzeszweck (§ 1 Abs. 1 RhPfStiftG [LStiftG], § 1 SachsAnhStiftG [StiftG LSA] und § 1 Abs. 1 ThürStiftG), sei es als Auslegungsgrundsatz (§ 2 BadWürttStiftG [StiftG], § 3 BremStiftG, § 2 NdsStiftG [NStiftG] und § 2 SächsStiftG; Art. 2 Abs. 1 BayStG verwendet den Begriff „oberste Richtschnur“). Zu weiteren Nachweisen der Landesgesetzgebung vgl. Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 43 ff., besonders Fn. 153 und 154.

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Anzumerken ist: – Diese Auslegungsregel ist eine umfassend geltende Querschnittsregelung; sie betrifft sowohl die Verwaltung der Stiftung durch die Stiftungsorgane (im obigen DreiStufen-System die Stufe 2) als auch die behördliche Aufsicht über die Stiftung (Stufe 3).47 Sie ist daher auch bei den genannten drei Prüfungsschritten im Fall der Zweckänderung gemäß § 85 Abs. 2 BGB-neu anzuwenden. – Maßgebend ist der „bei der Errichtung der Stiftung zum Ausdruck gekommene“ Wille, also ausschließlich der ursprüngliche Stifterwille. – Nur hilfsweise gilt der mutmaßliche Wille. 2. Prüfschema Damit lässt sich das Prüfschema für den Fall einer Zweckänderung nach BGB-neu wie folgt zusammenfassen: – Zunächst ist gemäß § 85 Abs. 4 BGB-neu das Stiftungsgeschäft dahingehend auszulegen, ob dadurch der gesetzliche Tatbestand des § 85 Abs. 2 BGB-neu ausgeschlossen oder modifiziert (beschränkt bzw. erleichtert) wurde (Prüfungsschritt 1; vgl. oben IV.1a)). – Ergibt sich danach die uneingeschränkte Anwendbarkeit des § 85 Abs. 2 BGB-neu, ist nach dieser Vorschrift zu untersuchen, ob eine w.V.d.V. vorliegt (Prüfungsschritt 2; vgl. oben IV.1b)). – Schließlich ist gemäß § 85 Abs. 2 BGB-neu festzustellen, ob die beabsichtigte Satzungsänderung erforderlich ist, um die Stiftung an die geänderten Verhältnisse anzupassen (Prüfungsschritt 3; vgl. oben IV.1b)). – Bei allen Prüfungsschritten ist gemäß § 83 Abs. 2 BGB-neu der Wille des Stifters zu beachten (vgl. oben IV.1c)).48

47 Siehe oben II. 48 Vgl. BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 63 (Begründung): „Bei jeder Satzungsänderung ist … der Wille des Stifters zu beachten. Gegen den Willen des Stifters kann die Satzung nicht geändert werden. Bei jeder Satzungsänderung ist immer zu fragen, ob es mit dem Stifterwillen vereinbar ist, dass die jeweilige Bestimmung der Stiftungsverfassung überhaupt geändert wird und inwieweit es ggf. eine Alternative zu der geplanten Neuregelung gibt, die dem Stifterwillen besser entspräche. -Vgl. zum bisherigen Recht z.B. KG v. 13.5.1968 – 1 VA 2/67, StiftRspr I, 163, 172: „Selbst wenn man eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse annehmen wollte, stünde die Änderung des Stiftungszweckes … im Widerspruch zu dem in der Satzung zum Ausdruck gelangten Willen des Stifters und wäre aus diesem Grunde rechtswidrig.“ Ähnlich OVG Bremen v. 28.8.1990 – OVG 1 BA 9/90, StiftRspr IV, 127, 129, bestätigt durch BVerwG v. 29.11.1990 – 7 B 155.30, StiftRspr IV, 151.

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V. Der Stifterwille: Auslegungskriterien Ziel der Auslegung ist – in erster Linie – die Feststellung des tatsächlichen (des wirklichen) Stifterwillens.49 Seinen Niederschlag, seine „Materialisierung“ findet er im Stiftungsgeschäft und in der Stiftungssatzung.50 In formaler Hinsicht sind diese Gründungsdokumente der Stiftung der vorrangige Gegenstand der Auslegung, in inhaltlicher Hinsicht vor allem Zweck, Vermögen und Organisation.51 Erforderlich ist eine Auslegung allerdings nur dann, wenn die auszulegenden Vorschriften nicht eindeutig und damit auslegungsbedürftig sind.52 Nur wenn der tatsächliche Stifterwille trotz aller Bemühungen nicht ermittelt werden kann, ist hilfsweise auf den mutmaßlichen (den hypothetischen) Stifterwillen zurückzugreifen.53

49 Die Bezeichnungen sind unterschiedlich. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 HbgStiftG nennt den tatsächlichen, § 2 BadWürttStiftG (StiftG) den wirklichen und § 5 HessStiftG, § 7 Abs. 2 Satz 1 NdsStiftG (NStiftG) sowie § 2 SächsStiftG den erkennbaren Stifterwillen. § 4 Abs. 1 StiftG NRW verzichtet auf ein vergleichbares Adjektiv und nennt nur die Stiftungssatzung als Bezugspunkt: „… Verwirklichung des Stiftungszwecks im Sinne der Stiftungssatzung oder – hilfsweise – des mutmaßlichen Willens …“ Zu § 83 Abs. 2 BGB-neu siehe oben IV.1.c)); in BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 51 (Begründung) ist die Rede vom ausdrücklichen – nämlich dem im Stiftungsgeschäft zum Ausdruck gekommenen – Willen. 50 Vgl. § 5 Abs. 1 Satz 2 StiftG Bln: „Dabei soll der vom Stifter im Stiftungsgeschäft oder in der Satzung zum Ausdruck gebrachte Wille berücksichtigt werden.“ Ähnlich § 6 Abs. 1 StiftGBbg, § 4 Abs. 1 Satz 3 StiftG M-V und § 10 Abs. 1 Satz 2 SachsAnhStiftG (StiftG LSA). Vgl. auch Andrick in Andrick/Suerbaum, 2016, § 2 StiftG NRW Rz. 23: „Die Satzung, die typischerweise das Spiegelbild des Stifterwillens ist, ist die Verfassung der Stiftung (§ 85 BGB) …“ § 12 Abs. 1 Satz 2 ThürStiftG stellt Stiftungssatzung und Stifterwillen nebeneinander: „im Einklang mit den Gesetzen, der Stiftungssatzung und dem Stifterwillen …“. 51 Zu weiteren möglichen Bestandteilen der Satzung siehe oben II. sowie unten V.1.b). 52 Vgl. O. Werner in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 11 Rz. 65: „Auslegungsfähigkeit bedeutet nämlich, dass ein Wortlaut mehrere Deutungen zulässt, von denen dann diejenige gewählt werden muss, die dem Willen des Erklärenden entspricht. … Jede Auslegung setzt allerdings Auslegungsbedürftigkeit voraus. Bei eindeutiger Formulierung bleibt kein Raum für Zweifel, da der eindeutige und tatsächliche Wille des Erklärenden in diesem Fall deutlich und damit nicht auslegungsbedürftig zum Ausdruck kommt.“ 53 Siehe unten V.2.

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1. Tatsächlicher Stifterwille a) Stiftungsgeschäft und Stiftungssatzung aa) Allgemeines Das Stiftungsgeschäft ist eine der beiden Voraussetzungen für die Entstehung einer Stiftung. Erforderlich dafür sind zum einen ein – bürgerlich-rechtliches – Stiftungsgeschäft und zum anderen eine – öffentlich-rechtliche – Anerkennung durch die Behörde (§ 80 Abs. 2 Satz 1 BGB-neu; schon bisher § 80 Abs. 1 BGB). Im Stiftungsgeschäft muss der Stifter zur Erfüllung des von ihm vorgegebenen Stiftungszwecks ein Vermögen widmen, das der Stiftung zu deren eigener Verfügung zu überlassen ist (§ 81 Abs. 1 Nr. 2 BGB-neu; ähnlich schon bisher § 81 Abs. 1 Satz 2 BGB). Auch muss der Stifter der Stiftung im Stiftungsgeschäft eine Satzung geben, die mindestens Bestimmungen enthalten muss über Zweck, Name, Sitz und Bildung des Vorstands der Stiftung (§ 81 Abs. 1 Nr. 1 BGB-neu; ähnlich schon bisher § 81 Abs. 1 Satz 3 BGB). Diese Satzung ist Teil des Stiftungsgeschäfts.54 § 81 Abs. 1 BGB-neu „Im Stiftungsgeschäft muss der Stifter (Nr. 1) der Stiftung eine Satzung geben …“ Ähnlich schon bisher § 81 Abs. 1 Satz 3 BGB: „Durch das Stiftungsgeschäft muss die Stiftung eine Satzung erhalten …“. Der Mindestinhalt des Stiftungsgeschäfts ist im Gesetz beschrieben, nämlich die Bestimmung des Stiftungszwecks, die Widmung des Vermögens und der Erlass einer Satzung mit den gesetzlichen Mindestinhalten. Der Stifter kann aber darüber hinaus nach seinem Ermessen weitere Merkmale der Stiftung in das Stiftungsgeschäft aufnehmen. Mit der Anerkennung der Stiftung ist das Stiftungsgeschäft „endgültig“ fixiert; eine spätere Änderung ist nicht möglich.55 Anders die Satzung, die nach den dafür geschaffenen Regelungen (§§ 85, 85a BGB-neu) geändert werden kann.56 Dies bedeutet zugleich: Je umfangreicher der Regelungsinhalt des Stiftungsgeschäfts ist, desto mehr Merkmale der Stiftung sind einer späteren Änderung entzogen.57

54 So ausdrücklich BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 51 (Begründung). 55 Vgl. Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 55: „Eine Änderung des Stiftungsgeschäftes ist dem Stifter nach Erteilung der Anerkennung nicht mehr möglich, da mit ihr dem Stifter alle externen Einflussmöglichkeiten auf die Stiftung und ihre Geschäftstätigkeit abgeschnitten sind.“ 56 Siehe oben IV. 57 Vgl. Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 26 zu den Regelungsgegenständen von Stiftungsgeschäft und Stiftungssatzung: „Zwangsläufig überschneiden sich Stiftungsgeschäft und Satzung in vieler Hinsicht … Die Neufassung des § 81 Abs. 1 Satz 3 BGB erlaubt nun eine klare Trennung beider …“. Es folgt

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Zugleich ist das Stiftungsgeschäft ein maßgeblicher Teil der Stiftungsverfassung der jeweiligen Stiftung. § 83 Abs. 1 BGB-neu: „Die Verfassung der Stiftung wird, soweit sie nicht auf Bundes- oder Landesgesetz beruht, durch das Stiftungsgeschäft und insbesondere die Satzung bestimmt.“ Ähnlich schon bisher § 85 BGB: „Die Verfassung einer Stiftung wird, soweit sie nicht auf Bundes- oder Landesgesetz beruht, durch das Stiftungsgeschäft bestimmt.“58 Die Stiftungsverfassung kann sich somit ändern: Zwar ist das – statische – Stiftungsgeschäft nicht änderbar, wohl aber, wie festgestellt, die – dynamische – Satzung. Dies kommt auch im Wortlaut des § 83 Abs. 1 BGB-neu zum Ausdruck („… durch das Stiftungsgeschäft und insbesondere die Satzung …“), während die bisherige Vorschrift des § 85 BGB lediglich das Stiftungsgeschäft erwähnt.59 Damit wird deutlich, dass zwar stets, wie oben dargestellt,60 der ursprüngliche Stifterwille maßgebend ist – aber eben in der Gestalt, die er durch spätere Satzungsänderungen erhalten hat. bb) Auslegung Das Stiftungsgeschäft ist eine einseitige nicht empfangsbedürftige Willenserklärung. Es gilt die allgemeine Auslegungsregelung des § 133 BGB,61 wonach der wirkliche Wille zu erforschen und nicht am Wortlaut zu haften ist. Anders als bei empfangsbedürftigen Willenserklärungen, bei denen auf den Empfängerhorizont abzustellen ist, d.h. wie dieser die Erklärung verstehen durfte und musste, fehlt es bei der einseitigen Willenserklärung an einem derartigen schutzbedürftigen Empfänger. Es sind allein die Interessen und der Wille des Erklärenden maßgebend. Daher ist auch die Vorschrift

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die Benennung von Regelungen, die typischerweise im Stiftungsgeschäft einerseits bzw. in der Errichtungssatzung andererseits getroffen werden. Vgl. Stumpf in Stumpf/Suerbaum/Schulte/Pauli, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2018; B § 85 Rz. 1: „Die Vorschrift bestimmt die für den Inhalt der Stiftungsverfassung maßgeblichen Rechtsquellen“. Vgl. auch Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 120: „Insofern ist es berechtigt, als Verfassung der Stiftung neben den Vorgaben von Bund und Land letztlich die Gesamtheit der Erklärungen des Stifters zu bezeichnen, die Gegenstand des Anerkennungsverfahrens geworden sind.“ BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 51 (Begründung): „Sie (die Errichtungssatzung) kann sich durch Satzungsänderung aber verändern. Durch die ausdrückliche Nennung der Satzung wird nicht nur die Bedeutung der Satzung für die Stiftungsverfassung hervorgehoben, sondern auch klargestellt, dass die Verfassung der Stiftung nicht durch die Errichtungssatzung, sondern die jeweils gültige Satzung bestimmt wird.“ Siehe oben II. Zu den Besonderheiten der Auslegung eines Stiftungsgeschäfts von Todes wegen sowie der entsprechenden Satzung vgl. z.B. Hof in von Campenhausen/Richter, StiftungsrechtsHandbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 72 f.

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des § 157 BGB unanwendbar, die die Auslegung von Verträgen betrifft.62 Entscheidend ist allein, was der Stifter wollte, nicht was er ausgedrückt hat.63 Weniger eindeutig erscheinen die Kriterien für die Auslegung der Satzung. Teilweise wird angenommen, dass die genannten Kriterien für die Auslegung des Stiftungsgeschäfts auch für die Auslegung der Satzung gelten.64 Dagegen hat nach der wohl überwiegenden Meinung die Stiftungssatzung Normcharakter. Sie ist als generelle Regelung einer Vielzahl von Einzelfällen anzusehen, die im Verlauf der Geschäftstätigkeit der Stiftung auftreten. Sie muss daher nach objektiven, allgemein erkennbaren Gesichtspunkten interpretiert werden, damit ihre einheitliche Handhabung gesichert ist.65 Wie auch immer insoweit die Akzente gesetzt werden: Die Feststellung des Stifterwillens ist immer eine Frage des jeweiligen Einzelfalls. Denn jede Stiftung ist anders: So ist nach dem Leitbild der gemeinwohlkonformen Allzweckstiftung66 nahezu jeder Zweck zulässig, und hinsichtlich der Größe erstreckt sich die Bandbreite von kleinsten Förderstiftungen bis zur milliardenschweren VW-Stiftung. Diese große Vielfalt von Stiftungen wird – naturgemäß – gespiegelt in einer großen Vielfalt von Satzungen. Deshalb gilt: Auch jede Satzung ist anders. Die Auslegung des Stifterwillens besteht daher vor allem aus einer sorgfältigen Analyse dieser Gründungsdokumente der jeweiligen Stiftung. Die Auslegung von Stiftungsgeschäft und Satzung ist justiziabel;67 die Auslegung durch die Tatsachengerichte ist revisibel.68

62 O. Werner in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 11 Rz. 64. Ähnlich Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, § 81 BGB Rz. 12. 63 O. Werner in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 11 Rz. 65. 64 O. Werner in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 11 Rz. 143. 65 Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 128; ähnlich Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, § 81 BGB Rz. 13. 66 Vgl. Suerbaum in Stumpf/Suerbaum/Schulte/Pauli, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2018; C Rz. 172. 67 Zur Letztentscheidung über die Auslegung zutreffend Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 138: „Insgesamt ergibt sich als Normalfall eine abgestufte Auslegungskompetenz. Der Stifter stellt Stiftungsgeschäft und Satzung auf, die Organe legen sie aus und erfüllen den in Stiftungsgeschäft und Satzung zum Ausdruck gebrachten Stifterwillen. Die Stiftungsaufsicht kontrolliert insofern die Organe, im Streitfall haben die Letztkompetenz die Gerichte.“ Die Parallele zu dem oben unter II. dargestellten Drei-Stufen-System des „Systems Stiftung“ ist deutlich. 68 Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 128: Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, § 85 BGB Rz. 7 m.w.N. aus der Rechtsprechung.

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b) Problem: Geringe Regelungsdichte der Satzung Für die Auslegung der Satzung ist deren Regelungsdichte von entscheidender Bedeutung. Ist im jeweiligen Einzelfall eine Frage in der Satzung eindeutig geregelt, erübrigt sich eine Auslegung. Somit steht die Auslegung der Satzung stets in unmittelbarem Zusammenhang mit der – manchmal Jahrzehnte zurückliegenden – Gestaltung der Errichtungssatzung durch den Stifter. Dabei hat der Stifter grundsätzlich zwei Möglichkeiten. – Entweder bestimmt er seinen Stifterwillen präzise bis in die Einzelheiten (Satzung mit großer Regelungsdichte; Variante 1). Dann ist die Stiftungsautonomie, d.h. der Entscheidungsspielraum der Stiftungsorgane bei der Stiftungsverwaltung, tendenziell geringer. Stiftungsverwaltung und -aufsicht haben aber für ihr Handeln einen klaren Kompass; und die Ermittlung des tatsächlichen Stifterwillens in späteren Zweifelsfällen wird einfacher. Steht etwa die Frage an, ob die Stiftung das zum Stiftungsvermögen gehörende Grundstück X veräußern oder ob sie eine Zustiftung annehmen darf, dann wird die Arbeit von Stiftungsverwaltung und -aufsicht entscheidend erleichtert, wenn sich die Antworten unmittelbar aus dem Satzungswortlaut ergeben. – Oder der Stifter unterlässt bewusst genauere Festlegungen, die wesentlich über gesetzlichen Pflichtangaben der Satzung hinausgehen (Satzung mit geringer Regelungsdichte; Variante 2).69 Dann ist die Stiftungsautonomie größer, zugleich steigt aber in Zweifelsfällen für Stiftungsverwaltung und -aufsicht die Schwierigkeit, den tatsächlichen Stifterwillen zu ermitteln, und die Wahrscheinlichkeit, ggf. auf den mutmaßlichen Stifterwillen zurückgreifen zu müssen.70 Grundsätzlich gehört die Wahl zwischen beiden Varianten zur Stifterfreiheit; diese besteht allerdings nicht schrankenlos. Für Variante 1 sprechen objektive und subjektive Gründe. – Objektiv liegt eine solche Satzungsgestaltung im Interesse von Stiftungsverwaltung und -aufsicht, weil eindeutige Satzungsvorgaben ihre Arbeit erleichtern. Auch ist der Stifter maßgeblicher Veranlasser der neu entstehenden Rechtsperson und hat für das von ihm ins Leben gerufene „Kind“ Stifterverantwortung zu übernehmen. Vor allem hat er für Rechtsklarheit zu sorgen, d.h. die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Stiftung so festzulegen, dass diese „von selbst funktionieren“ kann, ohne mit vermeidbaren Auslegungsproblemen belastet zu sein.71

69 Zu den Anforderungen an die Bestimmtheit des in der Satzung festzulegenden Zwecks der Stiftung vgl. Hüttemann/Rawert in Staudinger, 2017, § 81 BGB Rz. 47 f. 70 Vgl. Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 52 f. 71 Vgl. schon Winkler in Andrick/Gantenbrink/Janitzki/Muscheler/Schewe (Hrsg.), Die Stiftung – Jahreshefte zum Stiftungswesen 10 (2016), S. 79, 110 ff., 112 f.

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– Subjektiv liegt diese Satzungsgestaltung im wohlverstandenen Interesse des Stifters selbst, der auf diese Weise die Entwicklung „seiner“ Stiftung auch mittel- und langfristig steuern kann. Zugespitzt formuliert: Kluges Stiftungsmanagement beginnt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Stiftung noch gar nicht besteht: im Anerkennungsverfahren.72 Deshalb sollte die Anerkennungsbehörde im Rahmen ihrer Beratung darauf hinwirken, dass der Stifter seine Vorstellungen so umfassend und detailliert wie möglich in der Stiftungssatzung niederlegt.73 Dazu gehört auch, dass er bei der Satzungsgestaltung Vorsorge trifft für unerwartete oder sogar unerwünschte Geschehensabläufe, d.h. für Fälle einer – im Rechtssinne – w.V.d.V.74 Soweit der Stifter noch keine Vorstellungen entwickelt hat, sollte die Behörde ihn dazu veranlassen, entsprechende Überlegungen anzustellen, Entscheidungen zu treffen und diese in der Stiftungssatzung zu fixieren.75 c) Sonstige Umstände aa) Allgemeines Auch wenn bei der Auslegung Stiftungsgeschäft und -satzung ganz im Vordergrund stehen, kommt – vor allem wenn im Einzelfall Zweifel verbleiben – ergänzend auch die Berücksichtigung weiterer Erkenntnisse in Betracht.76 Dies kann die zu den Akten genommene Niederschrift über ein Beratungsgespräch sein, das die Anerkennungsbehörde mit dem Stifter geführt hat.77 Auch können sich Hinweise auf den ursprünglichen Stifterwillen aus Aufzeichnungen des Stifters ergeben, die er an Dritte – z.B. in Form von Briefen oder E-Mails – gerichtet hat. Die Einbeziehung solcher Erkenntnisse erscheint jedenfalls dann geboten, wenn im jeweiligen Einzelfall geprüft wird, ob eine Verfassungsänderung – eine Zweckänderung oder sogar eine Zulegung bzw. Zusammenlegung – vorzunehmen ist. Erforderlich ist allerdings, dass es sich nicht nur um Zwischenüberlegungen des Stifters im Rahmen des Willensbildungsprozesses vor

72 Vgl. Winkler in Berndt/Kreutter/Stolte, Zukunftsorientiertes Stiftungsmanagement; Herausforderungen, Lösungsansätze und Erfolgsbeispiele, S. 65, 74. 73 Es ist vorzugswürdig, wenn dies nicht im Stiftungsgeschäft, sondern in der – änderbaren – Stiftungssatzung erfolgt, um der Stiftung maximale Flexibilität zu ermöglichen, es sei denn, die betreffende Frage muss kraft Gesetzes zwingend im Stiftungsgeschäft geregelt werden. 74 Vgl. ausführlich Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 49. 75 Vgl. Winkler in Andrick/Gantenbrink/Janitzki/Muscheler/Schewe (Hrsg.), Die Stiftung – Jahreshefte zum Stiftungswesen 10 (2016), S. 79, 122. 76 BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 51 (Begründung): „Wenn sich aus dem Stiftungsgeschäft ein Stifterwille nicht eindeutig ergibt, können aber auch andere Dokumente, die im Zusammenhang mit der Errichtung der Stiftung erstellt wurden, zur Ermittlung des Stifterwillens herangezogen werden.“ 77 Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 101.

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der Anerkennung handelt, sondern dass diese Äußerungen die Meinung des Stifters zum Zeitpunkt der Anerkennung wiedergeben.78 bb) Präambel der Satzung; Stifterbrief Denkbar – und wünschenswert – ist es, wenn der Stifter bei der Stiftungserrichtung von sich aus Erläuterungen über nähere Umstände und Hintergründe fertigt. So kann er der Satzung eine Präambel voranstellen, in der er z.B. den Anlass für die Errichtung der Stiftung, ihre Zwecke und das zu ihrer Erfüllung geplante Vorgehen erläutert.79 Ein weiteres mögliches Instrument, das die spätere Auslegung erleichtern kann, ist ein Stifterbrief.80

78 O. Werner in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 11 Rz. 66. „Da es letztlich um die Ermittlung des Stifterwillens geht, können für diese Feststellung auch außerhalb des Stiftungsgeschäfts liegende Umstände herangezogen werden. Wie im Bereich der Auslegung letztwilliger Verfügungen, sind für die Ermittlung des Willens des Erklärenden alle zugänglichen Quellen heranzuziehen, um dann festzustellen, inwieweit dieser auch anderweits geäußerte Wille in der auslegungsbedürftigen Erklärung einen Anhalt gefunden hat, inwieweit dieser ermittelte Wille zum Ausdruck gekommen ist (Andeutungstheorie).“ Vgl. auch a.a.O. Rz. 76: „Kommt es zur Klage … über die richtige Auslegung der Satzung und der Feststellung des Stifterwillens, sind alle zulässigen Beweismittel heranzuziehen. Dies gilt insbesondere, wenn das Gericht den Stifterwillen zu erforschen hat, denn dieses kann sogar die Zeugen zur entsprechenden Aussage zwingen. So kommen neben Zeugen auch Sachverständige, die den Stifterwillen aus Schriftstücken ermitteln müssen, im Hinblick auf die Echtheit herangezogener Unterlagen ebenso in Betracht wie sämtliche Äußerungen des Stifters gegenüber anderen Personen.“ Wohl ähnlich Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 72; enger a.a.O. Rz. 12. 79 Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 6 Rz. 125. Vgl. auch O. Werner in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 11 Rz. 72: „Darüber hinaus kann der Stifter auf eventuell von ihm erstellte Kommentierungen, Ergänzungen, Anlagen usw. hinweisen, so dass diese durch die Erwähnung im Stiftungsgeschäft einbezogen sind und dem Anerkennungsverfahren mit zugrunde liegen.“ Vgl. auch zum bisherigen Recht Dienstbesprechung der obersten nordrhein-westfälischen Stiftungsbehörde v. 6.5.2014, abgedruckt in Andrick/Suerbaum, 2016, Anhang II StiftG NRW Rz. 13: „Eine Option bei Anerkennung einer „klassischen“ Stiftung, diese in eine Verbrauchsstiftung umzuwandeln, ist nicht zulässig. Es kann aber sinnvoll sein, z.B. in der Präambel festzuhalten, dass eine Umwandlung im Falle einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse möglich ist.“ 80 Vgl. v. Oertzen/Hannes, FAZ 11.4.2018, S. 25 zur Ausgestaltung der Satzung einer Familienstiftung: „… kann es hilfreich sein, wenn der Stifter neben der Stiftungssatzung … in einem Stifterbrief einen sogenannten Stifterwillen niederlegt, in dem er festhält, was ihn dazu bewogen hat, sich für diese Rechtsform als Nachfolgeinstrument für sein Familienunternehmen zu entscheiden. In einem derartigen Schriftstück sollte er auch Krisenszenarien wie politische Veränderungen, dramatische Erhöhungen der Ersatzerbschaftssteuer, das Aussterben der Familie, Veränderungen im Produktsortiment seines Unternehmens simulieren und versuchen, Antworten zu geben.“ Siehe schon oben V.1.b) zur Vorsorge des Stifters in der Stiftungssatzung für eine in der Zukunft möglicherweise eintretende w.V.d.V.

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2. Mutmaßlicher Stifterwille Nur wenn alle Bemühungen, den tatsächlichen Stifterwillen festzustellen, erfolglos bleiben, ist gemäß § 83 Abs. 2 BGB-neu auf den mutmaßlichen Stifterwillen zurückzugreifen. Dieses klare Rangverhältnis wird auch im Wortlaut der Vorschrift („hilfsweise“) abgebildet.81 Vorrangig ist der tatsächliche, nachrangig (subsidiär) der mutmaßliche Stifterwille maßgebend.82 Die Frage, nach welchen Kriterien der mutmaßliche Stifterwille zu ermitteln ist, hat erhebliche praktische Bedeutung. Typischerweise wird sie sich in solchen Fällen stellen, in denen eine w.V.d.V. in Betracht kommt. Denn nur im Ausnahmefall wird ein Stifter bereits bei Errichtung der Stiftung eine bestimmte, irgendwann in der Zukunft vielleicht eintretende Entwicklung vorbedacht und für diesen Fall Festlegungen in Stiftungsgeschäft oder Satzung getroffen haben, auch wenn dies wünschenswert wäre.83 Es ist das Charakteristikum dieser Fallkonstellation, dass sich für die jeweils konkret zu entscheidende Frage – hier: für die Zulässigkeit einer bestimmten Zweckänderung – dem Stiftungsgeschäft und der Stiftungssatzung eine eindeutige Antwort gerade nicht entnehmen lässt: Möglich ist – eben – nur eine Mutmaßung. Gleichwohl bietet auch in diesem Fall der tatsächliche Stifterwille Maßstab und Orientierung. Die maßgebliche Prüffrage lautet in diesem Fall: Wie hätte der Stifter vermutlich entschieden, wenn ihm die jetzt vorliegende Entscheidungssituation bekannt gewesen wäre?84 Schon mit dieser Formulierung wird allerdings deutlich, dass bei dieser Fallgruppe, in der der tatsächliche Stifterwille nicht feststellbar ist, auch die Ermittlung des mutmaßlichen Stifterwillens mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sein kann. Geboten ist in jedem Fall eine sorgfältige Analyse der Gesamtumstände gerade dieser Stiftungserrichtung durch gerade diesen Stifter in all seiner Subjektivität. Dies wird allerdings umso schwieriger sein, je länger die Stiftungserrichtung zurückliegt. Ggf. wird eine eindeutige Lösung nicht möglich sein, sondern es werden zwei gleichrangige Alternativen in Betracht kommen.85 Daher wird auch in den Blick zu

81 Ähnlich § 4 Abs. 1 StiftG NRW. Die Nachrangigkeit des mutmaßlichen Stifterwillens gilt nach dem Sinnzusammenhang auch, wenn das Wort „hilfsweise“ fehlt wie in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 HbgStiftG („der tatsächliche oder mutmaßliche Wille“), in § 2 BadWürttStiftG (StiftG) („der wirkliche oder mutmaßliche Wille“), oder in § 5 HessStiftG, § 7 Abs. 2 Satz 1 NdsStiftG (NStiftG) und § 2 SächsStiftG („der erkennbare oder mutmaßliche Wille“). 82 Vgl. zu dieser Prüfungsreihenfolge etwa OLG Hamm v. 8.10.2013 – I-15 W 305/12, 15 W 305/12, juris Rz. 86: „… ist demgemäß der wirkliche Wille des Stifters zu erforschen, um Lücken oder Unklarheiten des Stiftungsgeschäftes zu beheben. … Ergänzend kann der hypothetische Wille des Stifters herangezogen werden …“ 83 Siehe schon oben V.1.b) und V.1.c) bb). 84 Vgl. Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 49, 2. Unterpunkt. 85 Vgl. im Einzelnen Stumpf in Stumpf/Suerbaum/Schulte/Pauli, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2018; B § 85 Rz. 35 mit dem Beispiel einer alten Familienstiftung.

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nehmen sein, was – objektiv – dem Interesse der Stiftung entspricht.86 Es bedarf also einer objektiven Bewertung der subjektiven Vorstellungen des Stifters. In jedem Fall sind besondere Vorlieben der Stiftungsorgane ebenso irrelevant wie die aktuelle Auffassung des Stifters, unabhängig davon, ob er Organmitglied ist oder nicht. Erst recht ohne rechtliche Bedeutung sind besondere, etwa von der Tagespolitik geprägte Wünsche der Aufsichtsbehörden.87

VI. Die Rechtsfigur der wesentlichen Veränderung der Verhältnisse: Auslegungskriterien 1. Inhalt a) Zweck-Vermögens-Verknüpfung Der inhaltliche Bezugspunkt der w.V.d.V. ist im Kern die Zweck-Vermögens-Verknüpfung, die jede Stiftung prägt.88 „Der Stiftungszweck ist“ – in der Formulierung der Begründung des Gesetzentwurfs – „der „Leitsatz“ der Stiftungstätigkeit, mit dem der Stiftung ein festes Ziel gegeben wird“;89 das „Vermögen der Stiftung ist das Mittel zur Erfüllung dieses Stiftungszwecks“; so ebenfalls die Begründung.90 Eine Veränderung „der Verhältnisse“ liegt somit vor, wenn die Veränderung unmittelbare Auswirkungen auf diese Zweck-Vermögens-Verknüpfung der Stiftung hat.91

86 Vgl. BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 51 (Begründung): „Als der mutmaßliche Wille des Stifters ist der Wille anzusehen, der dem Interesse der Stiftung entspricht.“ 87 Vgl. schon Winkler in Andrick/Gantenbrink/Janitzki/Muscheler/Schewe (Hrsg.), Die Stiftung – Jahreshefte zum Stiftungswesen 10 (2016), S. 79, 108: „Vielmehr ist es die vornehmste Aufgabe der staatlichen Stiftungsaufsicht, aufgrund ihrer fachlichen Neutralität die möglichst unverfälschte Verwirklichung des ursprünglichen Stifterwillens zu sichern und den Einfluss sachfremder Aspekte auszuschließen.“ 88 Vgl. § 80 Abs. 1 Satz 1 BGB-neu und § 81 Abs. 1 Nr. 2 BGB-neu. Vgl. auch BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 44 (Begründung): „Charakteristisch für die Stiftung sind der Stiftungszweck und das Stiftungsvermögen sowie die für die Stiftung typische Verknüpfung von Zweck und Vermögen.“ 89 BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 44 (Begründung). S. oben I. und besonders Fn. 9. 90 BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 44 (Begründung). 91 Eine w.V.d.V. kann auch eine Änderung der Organisation – des dritten Elements jeder Stiftung – erforderlich machen. Dies ist z.B. der Fall, wenn in einer Stiftung für einen aus drei Personen bestehenden Vorstand keine drei Nachfolger gefunden werden. Es droht Handlungsunfähigkeit der Stiftung und damit eine wesentliche Beeinträchtigung der Zweckerfüllung. Hier kann u.U. eine Satzungsänderung Abhilfe schaffen mit dem Ziel, die Zahl der Vorstandsmitglieder auf eine Person zu reduzieren. – Vgl. zum Ganzen Andrick in Andrick/Suerbaum, 2016, § 5 StiftG NRW Rz. 13, der das „Dreieck“ Zweck/Vermögen/Organisation als maßgeblich ansieht: „Die Annahme einer w.V.d.V. bestimmt sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls. Einzustellen ist dabei das durch den ursprünglichen Stifterwillen vorgegebene – durch die Wechselbeziehung von Stiftungsvermögen, Stiftungs-

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Der Begriff der Veränderung ist wertneutral. Denkbar ist eine Verschlechterung der Zweck-Vermögens-Verknüpfung, etwa wenn das Stiftungsvermögen sich vermindert hat, ebenso wie eine Verbesserung, nämlich wenn sich das Stiftungsvermögen vermehrt hat, z.B. durch eine Zustiftung. b) Wesentlichkeit der Veränderung Die Veränderung der Verhältnisse muss – einerseits – wesentlich sein, d.h. die Schwelle der Unerheblichkeit deutlich überschreiten.92 Nicht jede geringfügige Änderung der Zweck-Vermögens-Verknüpfung kann eine Zweckänderung rechtfertigen. Denn jede Zweckänderung ist eine Abweichung vom ursprünglichen Stifterwillen wie auch ein Eingriff in die Grundrechtsträgerin Stiftung.93 Andererseits darf diese Veränderung nicht so schwerwiegend sein, dass die Zweckerfüllung unmöglich geworden ist. Denn für diesen Fall sieht der Gesetzentwurf andere Rechtsfolgen vor wie die Umwandlung in eine Verbrauchsstiftung (§ 85 Abs. 1 BGBneu) oder sogar die Auflösung (§ 87 Abs. 1 BGB).94 Die Rechtsfigur hat damit neben der Unmöglichkeit – und in Ergänzung zu dieser – eine eigenständige Funktion im Regelungssystem der §§ 85 ff. BGB-neu.95 Sie erweitert die Handlungsmöglichkeiten der Stiftung (bzw. ggf. der Behörde) und ermöglicht für unterschiedliche Fälle passgenaue Lösungen.

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organisation und Stiftungszweck geprägte – Funktionsinteresse der Stiftung, das auf Dauer gewahrt bleiben soll. Erst wenn durch die veränderten Umstände die inhaltliche Balance der Stiftung verloren zu gehen droht, darf dem durch gezielte – den Stiftungszweck betreffende – „Korrekturen“ der Satzung begegnet werden.“ BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 66 (Begründung): „Eine Veränderung der Verhältnisse ist für die Stiftung als wesentlich anzusehen, wenn sie erhebliche Auswirkungen auf die Erfüllung des Stiftungszwecks hat.“ – Demgegenüber betont Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 7 Rz. 135 – für eine geringfügig abweichende Fallkonstellation – eher die subjektive Seite: „… wird in aller Regel eine Veränderung von Voraussetzungen notwendig sein, die der Stifter ausdrücklich für wesentlich erklärt hat.“ BVerwG v. 22.9.1972 – VII C 27/71, BVerwGE 40, 347 – juris Rz. 17 ff. Zu beachten ist, dass der Gesetzestext in der endgültigen Fassung der § 85 Abs. 1, § 87 Abs. 1 BGB-neu den Begriff der Unmöglichkeit nicht mehr verwendet (BGBl. 2021, S. 2947 ff.); vgl. auch BT-Drs. 19/30938 v. 22.6.2021, Nr. 2f) und i), und BT-Drs. 19/31118 v. 23.6.2021, S. 10 f. Im Übrigen ist der Wortlaut dieser Vorschriften weitgehend gleich geblieben: Der Tatbestand liegt vor, wenn der Stiftungszweck nicht mehr dauernd und nachhaltig erfüllt werden kann. In jedem Fall liegen diese Anforderungen höher als im Fall der w.V.d.V. Vgl. schon Winkler in Andrick/Gantenbrink/Hellmig/Janitzki/Muscheler/Schewe, Die Stiftung – Jahreshefte zum Stiftungswesen 5 (2011), S. 67, 73 m.w.N. in Fn. 19. Vgl. § 9 Abs. 1 Satz 2 StiftG M-V; dazu LT-Drs. 4/2047 v. 11.1.2006, S. 14 zu dieser – eine w.V.d.V. regelnden – Vorschrift: „Praktische Bedeutung kommt der Norm bei einem Handlungsbedarf unterhalb der Schwelle des § 87 BGB zu …“.

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2. Erforderlichkeit der Zweckänderung zur Anpassung der Stiftung an die veränderten Verhältnisse Zusätzlich zur w.V.d.V. muss gemäß § 85 Abs. 2 Satz 1 BGB-neu eine weitere Voraussetzung vorliegen. Die vorgesehene Änderung des Stiftungszwecks muss nämlich erforderlich sein, um die Stiftung an die veränderten Verhältnisse anzupassen. Dieses Tatbestandsmerkmal ist in den Vergleichsvorschriften der Landesstiftungsgesetze nicht enthalten. Es enthält zwei Komponenten. – Zum einen muss die Veränderung der Verhältnisse „dazu führen, dass die der Stiftung vom Stifter gegebene Verfassung den neuen Anforderungen nicht mehr genügt.“96 Eine Zweckänderung muss also unumgänglich sein. – Zum anderen muss die vorgesehene Zweckänderung geeignet und erforderlich sein, die Zweck-Vermögens-Verknüpfung wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Als Maßstab bietet sich die Voraussetzung für die Anerkennung einer Stiftung an, dass nämlich die dauernde und nachhaltige Erfüllung des (geänderten) Stiftungszwecks (wieder) gesichert erscheint (§ 82 Satz 1 BGB-neu; ebenso § 80 Abs. 2 Satz 1 BGB).“ 3. Einige typische Fälle Die Rechtsfigur der w.V.d.V. ist – wie schon bisher in den meisten Ländern – das entscheidende Tatbestandsmerkmal für die Lösung „klassischer“ Standardfälle. Wichtige Fallgruppen sind die Zweckerweiterung (wegen einer dauerhaften Erhöhung der Erträge, etwa nach einer vorteilhaften Vermögensanlage97 oder nach einer Zustiftung),98 96 BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 66 (Begründung). 97 Vgl. das Beispiel bei Andrick in Andrick/Suerbaum, 2016, § 5 StiftG NRW Rz. 13: „So kann etwa der Kreis der in ihrer Ausbildung unterstützten ursprünglich numerisch begrenzten „bedürftigen“ Destinatäre (deutlich) erweitert werden, wenn die Destination nicht mehr aus der (ertragsschwachen) Verpachtung einer landwirtschaftlichen Fläche, sondern nunmehr infolge Baulandes aus hohen Erbpachtzinsen herrührt.“ 98 Ausdrücklich als mögliche Rechtsfolge genannt ist die Erweiterung des Stiftungszwecks schon bisher in § 8 Abs. 2 RhPfStiftG (LStiftG). Vgl. zur Praxis in Nordrhein-Westfalen Dienstbesprechung der obersten nordrhein-westfälischen Stiftungsbehörde v. 7.4.2011, abgedruckt in Andrick/Suerbaum, 2016, Anhang II StiftG NRW Rz. 21: „Erhöht sich das Stiftungsvermögen, können durch eine entsprechende Satzungsänderung die Stiftungszwecke erweitert werden. … Die Genehmigung der Satzungsänderung soll mit der Auflage versehen werden, dass für den erweiterten Stiftungszweck grundsätzlich die Erträge der Zustiftung zu verwenden sind. Das Verhältnis der Erträge der Zustiftung zum neuen Stiftungszweck und das Verhältnis der Erträge des alten Stiftungsvermögens zum alten Stiftungszweck sollte innerhalb mehrerer Jahre ausgewogen sein. Hierbei sind die Besonderheiten des Einzelfalles maßgeblich. Es ist sinnvoll, eine Trennung bei der Jahresabrechnung vorzunehmen.“ Vgl. auch Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 7 Rz. 140: „Wesentliche Veränderungen gegenüber den bei Anerkennung der Stiftung gegebenen Verhältnissen sind auch dann anzunehmen, wenn die Stiftungserträge unerwartet reichlich sprudeln oder sonst die Vermögenslage der Stiftung durch Zustiftungen oder Spenden sich so verbessert, dass der bisherige Kreis der Destinatäre nicht ausreicht. Um eine in der Satzung nicht vorgese-

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die – in der Praxis häufige – Zweckbeschränkung99 (wegen einer dauerhaften Verminderung der Erträge, sei es konkret bei der jeweiligen Stiftung, sei es allgemein wegen Geldentwertung) oder die Zweckanpassung (z.B. wenn einer von mehreren Zwecken obsolet wird).100 Dabei ist stets der Stifterwille zu beachten (§ 83 Abs. 2 BGB-neu). Demgegenüber liegt eine w.V.d.V. im Rechtssinne nicht vor, wenn sich zwar das (gesellschaftliche, politische usw.) Umfeld deutlich ändert, diese Veränderungen sich aber auf die Zweck-Vermögens-Verknüpfung der Stiftung nicht unmittelbar auswirken.101 In Grenzfällen wird es auf die Auslegung des Stifterwillens im Einzelnen ankommen.102

VII. Zusammenfassung und Ausblick Die Rechtsfigur der w.V.d.V. ist das maßgebliche Rechtsinstrument für die Lösung eines zentralen stiftungsrechtlichen Problems: der – mit zunehmendem zeitlichen Abstand zur Stiftungserrichtung wachsenden – Gefahr einer Erstarrung der Ewig-

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hene „Admassierung“ und daraus resultierende steuerliche Nachteile zu vermeiden, kann sich eine Ausweitung des Stiftungszwecks im Wege der Zweckänderung empfehlen.“ Allerdings ist eine „gewöhnliche“ Zweckbeschränkung als mögliche Rechtsfolge des § 85 Abs. 2 BGB-neu zu unterscheiden von dem Fall einer „erheblichen“ Zweckbeschränkung, die gemäß § 85 Abs. 1 BGB-neu in Frage kommt, wenn der Stiftungszweck nicht mehr dauernd und nachhaltig erfüllt werden kann, d.h. wenn – nach bisheriger Terminologie – Unmöglichkeit gegeben ist. Beispiele bei Hof in von Campenhausen/Richter, Stiftungsrechts-Handbuch, 4. Aufl. 2014, § 7 Rz. 135: „Derartige Veränderungen können beispielsweise durch Geldentwertung, durch einen Wandel von Rechtsprechung oder Gesetzgebung, durch den Wegfall der Destinatäre oder durch unerwartete Vermögensverluste der Stiftung eintreten.“ Vgl. auch Winkler in Werner/Saenger/Fischer (Hrsg.), Die Stiftung. Recht, Steuern, Wirtschaft, 2. Aufl. 2019, § 27 Rz. 49. Ein Beispiel ist der Antrag zweier von Sparkassen errichteten Stiftungen, ihre Zusammenlegung zu genehmigen, nachdem zuvor zwei Landkreise im Rahmen einer kommunalen Gebietsreform und in der Folge auch die von diesen Landkreisen errichteten Sparkassen zusammengelegt worden waren. Ein solcher Antrag ist jedenfalls dann unbegründet, wenn die (den Stifterwillen konkretisierenden) Errichtungssatzungen keine entsprechenden Vorbehalte enthalten und beide Stiftungen in ihren Tätigkeitsgebieten weiterhin funktionsfähig sind, d.h. den jeweiligen Stiftungszweck auch künftig ohne Einschränkungen erfüllen können. Denn auch wenn sich in diesem Fall das kommunalpolitische Umfeld wesentlich verändert hat, ist die Zweck-Vermögens-Verknüpfung jeder der beiden Stiftungen davon unberührt geblieben. Vgl. Winkler in Andrick/Gantenbrink/Hellmig/Janitzki/Muscheler/Schewe, Die Stiftung – Jahreshefte zum Stiftungswesen 5 (2011), S. 67, 79 ff. Beispiel: Angenommen, der Zweck einer Stiftung sei die Gewährung von Fördermitteln an Personen mit einem Bedarf, für dessen Befriedigung es bei Stiftungserrichtung – noch – keine staatlichen Leistungen gibt. Werden aufgrund einer Rechtsänderung in diesem Bereich staatliche Leistungen neu eingeführt, hängt es von der Auslegung des konkreten Stifterwillens ab, ob die Stiftungsleistung trotzdem – zukünftig als bloße Ergänzung der staatlichen Leistung – beibehalten oder ob sie wegen Entbehrlichkeit beendet und durch einen anderen Fördergegenstand mit anderen Destinatären ersetzt werden sollte.

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keitsstiftung. Denn je länger eine Stiftung besteht, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie und die sie umgebende Welt sich immer mehr auseinanderentwickeln, dass der – „ewig“ zu bewahrende – ursprüngliche Stifterwille in einen Gegensatz zu den ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und auch rechtlichen Umständen späterer Zeiten gerät oder dass Gründe, die in der Stiftung selbst liegen, die vom Stifter bei Stiftungserrichtung gewollte Zweckerfüllung beeinträchtigen.103 Der auf Dauer maßgebende ursprüngliche Stifterwille (§ 83 Abs. 2 BGB-neu) trifft, wenn er auch im tatsächlichen Vollzug dauerhaft „gelebt“ wird, auf ein ständig sich wandelndes Umfeld. In formelhafter Zuspitzung: „Die Stiftung bleibt, die Welt ändert sich.“ Die Lösung dieses Konflikts wiederum ist von hoher Brisanz: Die zulässige Rechtsfolge, die Änderung des Stiftungszwecks, berührt die Stiftung in ihrem Kern. Denn der Zweck, der Leitsatz und Dreh- und Angelpunkt der Stiftung, soll „eigentlich“ gerade nicht geändert werden. In diesem Spannungsfeld stellt die Rechtsfigur der w.V.d.V. einen Ausgleich her – dem Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Wandel, zwischen dem Gebot der „ewigen“ Bewahrung des Stifterwillens einerseits und der – auf die Zweck-Vermögens-Verknüpfung der Stiftung unmittelbar einwirkenden – Veränderung der allgemeinen Umstände bzw. der konkreten Umstände der Stiftung andererseits. Aufgabe und Funktion dieses Rechtinstruments ist es, den ursprünglichen (den wirklichen, hilfsweise den mutmaßlichen) Stifterwillen auf Dauer zu bewahren, zugleich aber die Funktionsfähigkeit der Stiftung auch in einem geänderten Umfeld sicherzustellen. Nur aufgrund der rechtlichen Möglichkeit, eine Stiftung auch an grundlegende Veränderungen – so maßvoll wie möglich – anzupassen, konnten manche Stiftungen die Jahrhunderte überdauern. In paradoxer Zuspitzung: Die Befugnis, im Fall einer w.V.d.V. von dem in der Satzung niedergelegten Stifterwillen abzuweichen, ist die Voraussetzung dafür, den „eigentlichen“ Stifterwillen zu erfüllen, der in der Regel auf ein dauerndes Fortbestehen der Stiftung gerichtet ist.104

103 Vgl. BT-Drs. 19/28173 v. 31.3.2021, S. 65 f. (Begründung): „Eine Änderung der Verhältnisse kann jedermann betreffen, wie z.B. die Geldentwertungen nach den beiden Weltkriegen. Die Verhältnisse können sich aber auch nur für die betroffene Stiftung geändert haben, wie z.B. durch einen erheblichen Verlust von Stiftungsvermögen, den die Stiftung nicht ausgleichen kann.“ Vgl. auch Mecking, Das Stiftungswesen in Rheinland-Pfalz, 2008, § 8 Anm. 4: „Vielfach sind Stiftungszwecke aus aktuellen Anlässen hervorgegangen, nur aus einer bestimmten Zeit heraus verständlich oder an bestimmte Verhältnisse oder bestimmte Destinatäre gebunden, so dass ihre Verwirklichung infolge Veränderung der Verhältnisse an Bedeutung verliert oder schließlich gegenstandslos wird. Für diese Fälle, in denen an sich die vermögens- und organisationsmäßigen Grundlagen der Stiftung noch vorhanden sind, besteht die Möglichkeit, die Stiftung durch Änderung ihres Zweckes den veränderten Verhältnissen anzupassen.“ 104 Vgl. auch Suerbaum in Stumpf/Suerbaum/Schulte/Pauli, Stiftungsrecht, 3. Aufl. 2018, C Rz. 89: „Gleichwohl kann gerade wegen der prinzipiell auf Ewigkeit angelegten Existenz der Stiftung das Bedürfnis entstehen, die Stiftungssatzung zu ändern, insbes. um einem wesentlichen Wandel der Verhältnisse Rechnung zu tragen und auf diesem Wege möglicherweise erst die Dauerhaftigkeit der Zweckverfolgung zu gewährleisten.“

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„Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, sang einst Wolf Biermann.105 Und ähnlich klingt der Einfluss der Zeitläufte auf jede und jeden von uns in dem Hexameter: „Témpora mútantúr et nós mutámur in íllis“ – „Die Zeiten ändern sich und wir in ihnen.“106 In der Tat: Vieles, sehr vieles hat sich geändert, in der Welt und bei Dir, lieber Alexander, seit wir in den frühen 1980er Jahren gemeinsam in Berlin durch Theatersäle und Kneipen zogen. Zugleich bist Du bis heute derselbe geblieben – mit Deinem hintergründig-trockenen Humor, mit Deiner Lust, das große Welttheater auf kleinen und großen Bühnen gespiegelt zu sehen, ebenso wie mit Deiner Freude und Fähigkeit, kniffligste Rechtsfragen zu lösen und juristische Nüsse zu knacken – je härter sie sind, desto besser. So schließe ich mit den Worten, wie sie schon vor Jahrhunderten gesprochen wurden, wenn es galt, einer ganz besonderen Persönlichkeit Glück zu wünschen: Ad multos annos!

105 Wolf Biermann, Nur wer sich ändert – alter Biermann, neue Lieder, 1991, LP: IC 066-7 98222 I. CD: 566-7 98222 2. 106 Folgt man Wikipedia (letzter Abruf 2.7.2021, am 65. Geburtstag des Jubilars), ist dieses Sprichwort – wiewohl auf einen Vers Ovids zurückgehend – seit dem 16. Jahrhundert belegt.

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Veröffentlichungen/Publications Alexander Reuter

Bücher/Books 1. Dissertation (doctoral thesis): Kartellbehördliche Recherche als Eingriff in Freiheit und Eigentum – ein Beitrag zur Eingriffsdogmatik im Lichte informaler Verfahrensweisen (Investigations of Antitrust Authorities as Encroachment upon Privacy and Property), Berlin 1984 2. Außenwirtschafts- und Exportkontrollrecht Deutschland/Europäische Union – Systematische Darstellung mit Praxisschwerpunkten (External Trade and Export Control Law Germany/European Union – A systematic treatise for the practitioner), München 1995 3. Projektfinanzierung – Anwendungsmöglichkeiten, Risikomanagement, Vertragsgestaltung, bilanzielle Behandlung (Project Finance – Applications, Risk Management, Structuring of the Contracts, Balance Sheet Treatment), Stuttgart, 1. Auflage (1st ed.): 1999, 2. Auflage (2nd ed.): 2010 4. Europäischer Emissionshandel – Der EU-Richtlinienvorschlag auf dem rechtlichen Prüfstand (European Greenhouse Gas Emission Trading – The Proposed EU Directive Under Legal Scrutiny), Baden-Baden 2003 (Ko-Autor: Kim Lars Mehrbrey) Buchbeiträge/Book Contributions 1. Exportkontrollrecht und Vertriebsverträge (Export Control Law and Sales Contracts), Kapitel 10 in: Martinek/Semler (Hrsg.), Handbuch des Vertriebsrechts, München 1996 2. Off-Balance-Sheet – Projektfinanzierungen zwischen deutschen Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung und US-GAAP, (Off Balance-Sheet Project Finance between German and US Generally Accepted Accounting Principles) in: Nicklisch (Hrsg.), Netzwerke komplexer Langzeitverträge, München 2000, S. 101–120 3. Die Förderung erneuerbarer Energien und die Regeln der EU zu Beihilfen und zur Freiheit des Warenverkehrs (Support to Renewable Energy and the EU Rules on State Aid and Freedom of Trade), in: Böttcher (Hrsg.), Rechtliche Rahmenbedingungen von EE-Projekten (The Legal Framework of Renewable Energy Projects), Berlin 2015, S. 107–125 4. Externe Schocks – Rechtliche Grenzen von rückwirkenden staatlichen Maßnahmen am Beispiel von Erneuerbare-Energie-Projekten (External Shocks – Legal Limits to Retroactive State Interference by the Example of Renewable Energy Projects), in: Böttcher/Wiebusch (Hrsg.), Krise und Sanierung von Projektfinanzierungen (Project Finance in Distress and Restructuring), Berlin/Boston 2017, S. 58–77 601

Alexander Reuter

Aufsätze/Articles 1. § 51 a GmbHG – Quo Vadis? Zum Auskunftsrecht des GmbH-Gesellschafters (Section 51 a of the Act on Limited Liability Companies – Quo Vadis? Note on the Right to Information of a Shareholder in a Limited Liability Company), Betriebs-Berater (BB) 1986, 1653–1660 2. Amerikanische Distributorship-Verträge – Brückenkopf des Exports (GermanAmerican Distributorship-Contracts – Bridgehead of Export), Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft (ZVgIRW) 85 (1986), 63-99; abbreviated version of the article in Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 1986, 1653–1660 3. Informale Auskunftsbitten der Kartellbehörden – Praxis contra legem? (Informal Requests for Information of Antitrust Authorities – Practice against the Law?), Wirtschaft und Wettbewerb (WuW) 1986, 93–104 (summary of the doctoral thesis) 4. Das Auskunftsrecht des Aktionärs (The Right to Information of a Shareholder in a Stock Corporation), Der Betrieb (DB) 1988, 2615–2620 5. Aktivlegitimation für Ersatz von Rettungskosten bei Gefahr von Wasserbeeinträchtigung, Anmerkung zu einer Entscheidung des BGH (Standing to Sue to Recover Expenses for Remedying Ground Water Pollution, Note on a Decision of the German Federal Supreme Court), Betriebs-Berater (BB) 1988, 1847–1849 6. Europäische Stahlsubventionen in der Krise – Der rechtliche Status quo nach EuGH – „Falck“ (European Subsidies to Steel Companies in the Crisis – The Legal Status Quo after the „Falck“-Decision of the European Court of Justice), Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 1988, 531–538 7. Altlast und Grundstückskauf (Ground Pollution and Real Estate Purchase Contracts), Betriebs-Berater (BB) 1988, 497–503 8. Der Ausländer im deutschen Wettbewerbs- und Kennzeichnungsrecht, Vortrag beim Regionaltreffen 1988 der Association Internationale des Jeunes Avocats in Salzburg (International Marketing and Advertising and Conflict of Laws: Germany as an Example; lecture at the 1988 regional meeting of the Association Internationale des Jeunes Avocats in Salzburg, Austria), Wirtschaftsrechtliche Blätter 1988, 271–280 = Betriebs-Berater (BB) 1989, 2265–2271; English version: The Trademark Reporter, vol. 779, no. 5, 698–719 9. Haftung für überplante Altlasten, Anmerkung zu einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes (Liability for Disregard of Ground Pollution in Zoning, Note on a Decision of the German Federal Supreme Court), Betriebs-Berater (BB) 1989, 874–875 10. Beurkundungs- und Eintragungspflicht bei Unternehmensverträgen: Die gebührenrechtlichen Folgen (Duty to Notarise Profit Transfer Contracts: Cost Consequences), Betriebs-Berater (BB) 1989, 714–716

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Veröffentlichungen/Publications

11. Altlast und Grundstückskauf, Anmerkung zu einer Entscheidung des LG Bochum (Ground Pollution and Real Estate Purchase Contracts, Note on a Decision of the Landgericht Bochum), Betriebs-Berater (BB) 1989, 651–653 12. Gefährdungshaftung Luft und Boden? Anmerkungen aus der Rechtspraxis zur geplanten Verschärfung des Umwelthaftungsrechts (Strict Liability for Air and Ground Pollution? Notes from a Practitioner’s Viewpoint on the Envisaged Changes of the Laws on Civil Liability for Environmental Pollution), Zeitschrift für Gesetzgebung (ZfG) 1989, 36–53 13. Binnenmarkt Europa – Das Beispiel der neuen Maschinenrichtlinie (A Single European Market – The Example of the New EC Machine Directive), Computer und Recht (CuR) 1990, 540–544 14. Neues zu Euro-Marketing und §§ 6e, 7 UWG: Der EuGH-Entscheid zu Preisgegenüberstellung und Schlussverkauf (New Developments for Euro-Marketing and Sections 6 e, 7 of the Act against Unfair Competition: The Decision of the European Court of Justice on End-of-Season Sales and Price Comparisons), Betriebs-Berater (BB) 1990, 1646–1653 15. Die neue Maschinenrichtlinie: Ein europäischer Binnenmarkt im Maschinenund Anlagenbau (The New EC Machine Directive: A European Single Market in the Machine and Plant Building Industry), Betriebs-Berater (BB) 1990, 1213– 1217 16. Expansion in einem Europäischen Binnenmarkt – Gegenwärtige und künftige Grundlagen des Warenvertriebs (Expansion in a Single European Market – The Present and Future Legal Frame for the Distribution of Goods), Der Betrieb (DB) 1990, 721–724 (part I) and 773–78 (part II) 17. Verstoßen Exportverbote auf „Dual Use“-Waren nach § 5 c Außenwirtschaftsverordnung gegen EG-Recht? (Do Export Prohibitions on „Dual Use“ Goods under Section 5 c of the German Export Control Ordinance Violate European Community Law?), Der Betrieb (DB) 1991, 2577–2584 18. Das neue Gesetz über die Umwelthaftung (The New Act on Environmental Liability), Betriebs-Berater (BB) 1991, 145–149 19. Euro-Marketing: Betriebswirtschaftlicher Wunsch und europarechtliche Wirklichkeit (Ero-Marketing: Economic Desire and Legal Realities), Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (ZBWF) 1991, 75–87 20. Grenzen nationalen Exportkontrollrechts im Gemeinsamen Markt – Was bedeutet EuGH-Aimé Richardt für § 5 c Außenwirtschaftsverordnung? (Limits to National Export Controls in the Common Market – What Are the Consequences of the Aimé Richardt Decision of the European Court of Justice?), Recht der internationalen Wirtschaft (RIW) 1992, 88–93

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21. Umwelthaftung, strikte Organisation und kreative Unordnung – Überlegung zu einer Schnittstelle zwischen Recht und Organisationslehre (Environmental Liability, Strict Organization and Creative Chaos – Thoughts on the Interface Between Law and Business Considerations), Der Betrieb (DB) 1993, 1605–1609 22. Corporate „Down-Sizing“ under German Labour Law (Ko-Author mit Gregory Thwaite), International Business Lawyer 1994, 515–520 23. Civil Litigation in the German Legal System (Ko-Author mit Gregory Thwaite), Australian Bar Review 1994, 41–60 24. Exportkontrolle bei Gütern mit doppeltem Verwendungszweck: Die neue DualUse-Verordnung der EG (Export Control regarding Goods with Dual Application: The New EC Dual Use Regulation), Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1995, 2190–2192 25. Nationale Exportkontrollen und EU-Recht – Anmerkung zu den EuGH-Urteilen „Werner“ und „Leifer“ (National Export Controls and EC Law – Note on the „Werner“ and „Leifer“ Decisions of the European Court of Justice), Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 1996, 719–721 26. Digitale Bild- und Filmbearbeitung im Licht des Urheberrechts (Digital Picture and Movie Processing in the Light of Copy Right Law), Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) 1997, 23–33 27. Keine Auslandsbeurkundung im Gesellschaftsrecht? (No Notarizations Abroad in Corporate Law Matters?), Betriebs-Berater (BB) 1998, 116–119 28. Die Konzerndimension des KonTraG – Praktische Fragen bei der Umsetzung des Gesetzes in Konzernobergesellschaften (The Group Dimension of the Act on Control and Transparency in Companies – Practical Issues in Implementing the Act in Group Parent Companies), Der Betrieb (DB) 1999, 2250–2253 29. Praktische Fragen bei der Heilung verdeckter GmbH-Sacheinlagen (Practical Issues in Connection with the Remediation of Constructive Contributions in Kind to Companies with Limited Liability), Betriebs-Berater (BB) 1999, 217–223 30. Was ist und wie funktioniert Projektfinanzierung? (What Is, and How Functions, Project Financing?), Der Betrieb (DB) 1999, 31–37 31. Unternehmensbewertung bei Sacheinlagen: Der neue IdW-Standard S1 auf dem Prüfstand des Kapitalaufbringungsrechts (Evaluation of Enterprises in Connection with Contributions in Kind: The New Accounting Standard S1 before the Background of Corporate Law), Betriebs-Berater (BB) 2000, 2298–2305 32. Bilanzneutrale Gestaltung von Projektfinanzierungen nach GoB, Leasingregeln und US-GAAP (Off-balance-sheet Structuring of Project Finance under German Accounting Principles, Leasing Rules and US-GAAP), Betriebs-Berater (BB) 2000, 659–666

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Veröffentlichungen/Publications

33. Börsenkurs und Unternehmenswertvergleich – Gleichbehandlung der Aktionäre, Synergie und die Lage bei Verschmelzungen nach BGH-DAT/Altana (Stock Exchange and Comparisons of Company Values – Equal Treatment of Shareholders, Synenergies and Mergers in the Aftermath of the DAT/Altana-Decision of the German Supreme Court), Der Betrieb (DB) 2001, 2483–2490 34. Kreditgewährung und Kreditsicherheiten in Gesellschafts- und Zivilrecht: Der Stand der Rechtsprechung und die Folgen für Holding-, Akquisitions-, leveraged loan- und Projektfinanzierung / Granting and Securing Loans under Corporate and Civil Law: The status Quo of the Jurisdiction and the Consequences for Holding-, Acquisition-, Leveraged Loan- and Project-Finance), Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung (NZI) 2001, 393–403 35. Die Projektfinanzierung öffentlich-rechtlicher Aufgaben aus dem Blickwinkel des Beihilferechts: Public-Private Partnerships nach EuGH-Ferring aus Bankensicht (Project Financing for Public Tasks from the Viewpoint of Subsidy Control Rules: Public-Private Partnerships in the Aftermath of the Ferring Decision of the European Court of Justice), Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2002, 737–747 36. „Krisenrecht“ im Vorfeld der Insolvenz – das Beispiel der börsennotierten AG (Specific Crisis Rules in Pre-Insolvency Situations – the Example of the Listed Stock Corporation), Betriebs-Berater (BB) 2003, 1797–1804 37. Grund- und Grundrechtsmängel des CO2-Emissionshandels in der EU (Basic and Constitutional Defects of the Emission Trading Scheme of the EU), Recht der Energiewirtschaft (RdE) 2003, 262–268 38. Führen Objektsicherheiten bei der Forfaitierung von Leasingforderungen im Zusammenhang mit Asset- und Projektfinanzierungen zur Dauerschuld nach § 8 Nr. 1 GewStG? (Does the use of financial assets as collateral in connection with the factoring of leasing receivables result in negative trade tax consequences?) Betriebs-Berater (BB) 2003, 18–24 39. Einführung eines EU-weiten Emissionshandels – Die Richtlinie 2003/87/EG (Introduction of EU wide Emission Trading – the Directive 2003/87/EG), Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2004, 39–43 (Ko-Author mit Ralph Busch) 40. Die Bilanzneutralität von Betreibermodellen, Projekt- und Leasing-Finanzierungen nach HGB, IAS und US-GAAP: Voraussetzungen, Vertragsgestaltung und Rating-Folgen nach Basel II (The Off-Balance Sheet Character of Operation Schemes as well as Project- and Leasing – Financings under German GAAP, IAS and US GAAP: Conditions, Contractual Structures and Rating Consequences under Basel II), Wertpapier-Mitteilungen (WM) 2004, 610–620 41. Bilanzneutrale Alternativen zur klassischen Unternehmensfinanzierung – Neue Hürden, Neue Chancen (Off-balance Alternatives to Classic Corporate Finance – New Hurdles, new chances?), Finanzierung Leasing Factoring (FLF) 2004, 130–134 (Ko-Author mit Lambert Köhling)

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42. EG-Emissionshandelsrichtlinie und Beihilferecht bei prozessbedingten Emissionen (The EC Emission Trading Directive and State Aid Law In Respect Of Process related Emissions), (Ko-Author mit Kai Kindereit), Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 2004, 537–543 43. Refinanzierung Öffentlich-Privater Partnerschaften im Lichte von Haushalts-, Gebühren-, Preis- und Beihilferecht (Refinancing Public Private Partnerships under Public Budget, Tarif, Price and Subsidy Laws), IR Energie, Verkehr, Abfall, Wasser, 2005, 266–271 44. Keine Erfüllung des Verlustausgleichsanspruchs aus § 302 AktG durch Aufrechnung? Zugleich Besprechung des Urteils des Thüringer Oberlandesgerichts vom 21.09.2004 (Satisfaction of Loss Compensation Claims under § 302 of the Stock Corporation Act by Set-Off? – Annotation on the Decision of the Court of Appeals Thüringen), Der Betrieb (DB) 2005, 2339–2344 45. PPP-Refinanzierung unter Haushalts-, Gebühren-, Preis- und Beihilferecht: Zielkonflikte und Lösungsansätze (Refinancing of Public Private Partnerships under the Rules and Regulations on Households, Fees for Public Services, Pricing and State Aid: Conflicts and Solutions), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2005, 1246–1255 46. Objekt- und Projektfinanzierungen zwischen Zurechnung und Konsolidierung nach HGB, IFRS und US-GAAP (Off-Balance Object and Project Finance of the Crossroads between Recognition and Allocation Rules under German GAAP, IFRS and US GAAP), Betriebs-Berater (BB) 2006, 1322–1329 47. Unternehmensbewertungen nach der Neufassung des IDW-Standards S 1 – Modifikation für aktienrechtliche Zwecke (Evaluation of companies after the amendment of the IDW-standard S 1 – Modification for Stock Corporation Law Purposes), Der Betrieb (DB) 2006, 1689–1693 (Ko-Author mit Susanne Lenz) 48. Gesellschaftsrechtliche Fragen der Unternehmensbewertung mit internationalen Bezügen (Corporate law questions of the evaluation with international basis), Die Aktiengesellschaft (AG) 2007, 881–896 49. ÖPP und das „Neue Kommunale Finanzmanagement“ (NKF) (ÖPP and the „New Municipal Financial Management“), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2007, 1345–1351 (Ko-Author mit Dr. Isabel Polley) 50. Nationale und internationale Unternehmensbewertung mit CAPM und SteuerCAPM im Spiegel der Rechtsprechung (National and international evaluation of companies with CAPM and Tax-CAPM in the Mirror of Jurisdiction), Die Aktiengesellschaft (AG) 2007, 1–12) 51. Sanierungsverhandlungen mit Krediterwerbern: Strategien „alternativer Investoren“ auf dem rechtlichen Prüfstand (Restructuring Negotiations with Distressed Loan Investors – a legal analysis), Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2008, 1003–1011

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Veröffentlichungen/Publications

52. Projektfinanzierung und Kapitalmarkt (Project Finance and Capital Markets), Wertpapier-Mitteilungen (WM) 2009, 2057–2063 53. Kreditrisikominderung durch Garantien nach SolvV bei konsortialen Projektund anderen Finanzierungen (Mitigation of Credit Risks by Way of Guarantees under the SolvV in Syndicated Project and Other Financings), Bank- und Kreditrecht (BKR) 2010, 102–107 54. Wie insolvenzfest sind Sicherheiten bei konsortialen (Projekt-)Finanzierungen und deren Refinanzierung? (How Insolvency Resistant are Security Rights in Financings of Bank Consortia and their Refinancing?), Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung (NZI) 2010, 167–173 55. Die Anfechtbarkeit der Rückzahlung von Gesellschafterdarlehen im Cash-Pool: Explosive Massevermehrung nach § 135 InsO? (Setting Aside Cash Pool Repayments of Shareholder Loans: Explosive Increase of the Insolvent Estate Pursuant to § 135 of the Insolvency Code?), Festschrift für Jobst Wellensiek, München 2011, 531-543 = Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung (NZI), 2011, 921–927 56. Die aktienrechtliche Zulässigkeit von Konzernanstellungsverträgen (Group Employment Contracts under the Stock Corporation Law), Die Aktiengesellschaft (AG) 2011, 274–282 57. Völkerrechtlicher Investitionsschutz aus Bankensicht am Beispiel von Förderkürzungen für Erneuerbare Energie-Projekte (Investment Protection under International Public Law from a Lenders’ Perspective on the Example of the Reduction of Support to Renewable Energy Projects), Bank- und Kreditrecht (BKR) 2013, 485–491 58. Unterfällt die Besondere Ausgleichsregelung nach EEG den Beihilferegelungen nach Art. 107 AEUV?, (Do the Rules on the Exemption of Certain Power Consumers from the Renewable Energy Surcharge under the Renewable Energy Act Constitute State Ad within the Meaning of Article 107 of the Treaty of the Functioning of the European Union?), Recht der Energiewirtschaft (RdE) 2014, 160–169 59. Rechtsschutz gegen rückwirkende Förderkürzungen (Legal Action Against Retroactive Reductions of Support?), Zeitschrift für Energie, Markt Wettbewerb (e/m/w), 2014, 22–25) 60. Die nachträgliche Kürzung der Förderung erneuerbarer Energien auf dem Prüfstand völkerrechtlicher Investitionsschutzabkommen (Retroactive Reduction of Support To Renewable Energy Against the Background of International Public Law), Recht der Internationalen Wirtschaft (RIW) 2014, 43–52 61. Unternehmenslenkung im Dialog zwischen Geschäftsleitung und Aufsichtsgremium (Management in the Dialogue Between Executive and Supervisory Boards), Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht, (NZG), 2015, S. 249–255

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62. Retroactive Reduction of Support for Renewable Energy and Investment Treaty Protection from the Perspective of Shareholders and Lenders, Oil Gas and Energy Law (OGEL), Bd. 3 (2015), URL: www.ogel.org/article.asp?key=3540, = Transnational Dispute Management (TDM), Bd. 3 (2015) 63. Unternehmensgeldbußen, Organregress, Grenzen der Versicherbarkeit und Gesellschaftsrecht: – eine systemische Verletzung der Grundrechte der Anteilseigner? (Corporate Fines, Compensation by Managers, Limits to Insurance and Corporate Law – A Systemic Violation of Shareholders’ Fundamental Rights?), BetriebsBerater (BB) 2016, 1283–1294 64. Rückbau oder Ausbau der Managerhaftung – eine Befundung im Licht der neueren Rechtsprechung und der Unternehmenspraxis (Extension or Reduction of Directors and Officers Liability – An Analysis in the Light of Recent Case-Law and Corporate Practice), Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2016, 597–607 65. Die D&O-Versicherung in der Unternehmensinsolvenz – Gelöste und ungelöste Fragen nach dem Stand der Rechtsprechung (D&O Insurance in Corporate Insolvency – Solved and Unsolved Issues under Present Case-Law), Festschrift für Klaus Pannen, 2017, 655–666 66. Wissenszurechnung in Unternehmen (Attribution of Knowledge within Corporations), Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2017, 310–317 67. Unternehmensbußen – Ein verfassungsrechtlicher Holzweg (Corporate Fines – A Wrong Track under Constitutional Law), Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP), 2018, 2298–2305 68. Für eine stärkere Berücksichtigung der Grundrechte der Anteilseigner bei Unternehmenssanktionen (A Plea for Taking Fundamental Rights of Shareholders More Serious in Connection with Corporate Sanctions), Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP), 2019, 1157–1160 69. Schadensersatz und Bußgelder zu Lasten des Unternehmens bei Ad hoc-Pflichtverstößen: Ein Verstoß gegen die Grundrechte und die Treuepflicht der Aktionäre? (Damage Claims and Fines Against Corporations In Case of Ad Hoc – Duty Infringements: A Violation of Fundmental Rights of Stockholders and Corporate Fairness Duties?), Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht (NZG) 2019, 321–335 70. Taking Investors’ Rights Seriously: The Achmea and CETA Rulings of the European Court of Justice do Not Bar Intra-EU Investment Arbitration, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) / Heidelberg Journal of International Law (HJIL), issue 80 (2/2020), 379–427 71. Systematically Flogging the Wrong: EU Corporate Fines Violate the Fundamental Rights of Shareholders, Journal of European Competition Law & Practice (JECLP), open source publication: lpaa052, https://doi.org/10.1093/jeclap/lpaa 052, erschienen/published: 21. September 2020

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Veröffentlichungen/Publications

72. EU Corporate Fines Hit the Wrong and Fail their Purpose: Empirical Considerations and their Consequences from the Perspective of Shareholders’ Fundamental Rights, European Criminal Law Review (EuCLR), 10 (2020), 365-394, / DOI: 10.5771/2193-5505-2020-3-365 73. Das Unternehmenssanktionsrecht trifft die Falschen! (Corporate Sanctions Hit the Wrong Ones!), Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP), 2020, 1160–1165, (KoAutor mit Christian Strenger und Julia Redenius-Hövermann) 74. Verbessern Unternehmenssanktionen die Rechtstreue des Managements? – Kriminologische Antworten mit verfassungsrechtlichen Konsequenzen (Do Corporate Sanctions Increase Legal Compliance of the Management? – Criminological Answers with Consequences under Constitutional Law), Festschrift für Roderich Thümmel, 2020, 673–693 75. Systematically Flogging the Wrong: EU Corporate Fines Violate the Fundamental Rights of Shareholders – The European Commission as Revenant of the Persian Great King Xerxes, European Business Law Review (EBLR) (erscheint in Heft 4/2021 / to appear in issue 4/2021) 76. Das Projekt-Mechanismen-Gesetz: Deutschlands CO2-Handel wird international – Die Einführung der projektbezogenen Mechanismen in das deutsche Recht – (The Project-Mechanism-Act: The German CO2 emission trading goes international), Recht der Energiewirtschaft (RdE) 182-191 (Ko-Author mit Thomas Löwer) Buchbesprechungen/Book reviews 1. Hausner, Die Zulässigkeit von Subventionen nach Art. 4 c EGKS-Vertrag (Permissiblitiy of Subsidies under Art. 4 c of the European Treaty on Coal and Steel), Der Betrieb 1988, issue 9, XII 2. Paefgen, Bildschirmtext aus zivilrechtlicher Sicht (Videotext from the Viewpoint of Contract Law), Der Betrieb 1989, issue 4, XIII 3. Henkel, Altlasten als Rechtsproblem (Ground Pollution as Legal Problem), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1989, 138–139 4. Schrader, Altlastensanierung nach dem Verursacherprinzip? (Remedies against Ground Pollution on the Basis of the Polluter Pays Principle?), Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1989, 345 5. Schmidt-Salzer, Produkthaftung (Product Liability), Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 1991, 418–420 6. Knopp, Altlastenrecht in der Praxis (Ground Pollution in Legal Practice), Betriebs-Berater 1992, issue 15, VIII 7. Topf-Schleuning, Einfache Kündigungsklauseln in GmbH-Satzungen (Simple Termination Clauses in the Articles of Association of Companies With Limited Liability), GmbH-Rundschau 1993, 529

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8. Schmidt-Salzer, Kommentar zum Umwelthaftungsrecht (Treatise on Environmental Liability Law), Betriebs-Berater 1993, VII 9. Von Bogdandy/Nettesheim/Mahnken (Hrsg.), Internationales Wirtschaftsrecht – Außenwirtschaftsrecht/Textsammlung (International Business Law – External Trade Law / Text Compilation), Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 1995, 484 10. Hohloch, Entschädigungsfonds auf dem Gebiet des Umwelthaftungsrechts (Compensation Funds in the Area of Environmental Liability Law), Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 1996, 173–175

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