Fenster · Ein Bildlesebuch 9783925187056

Von drinnen nach draußen und von draußen nach drinnen. Stets tritt das Fenster als Mittler dazwischen. Es schirmt ab, fi

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Fenster · Ein Bildlesebuch
 9783925187056

Table of contents :
Motivisch
Vom Drinnen und Draußen
Die Frau am Fenster
Sehnsucht
Im Zeitfenster
Ländlich
Liebste Tante!
Fortschritt
Toms Reichtum
Städtisch
Briefe aus Paris
Lebensessenz
Im Atelier
Das Fenster zum Hof
Kater Murr und Achilles
Schaufenster der Träume
Im Laden
Symmetrie des Ausblicks
Die zwei ungleichen Brüder
GrossStädtisch
Ville Contemporaire
Spiegelpaläste
Gedanklich
Über den Autor
Über das Buch
Vom Drinnen und Draußen

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Joachim Zischke

Fenster

Ein Bildlesebuch

D i a l o g u s

Joachim Zischke

Fenster Ein Bildlesebuch

D i a l o g u s

Inhalt Motivisch 8 Vom Drinnen und Draußen 11 Die Frau am Fenster 19 Sehnsucht 20 Im Zeitfenster 24

Ländlich 33 Liebste Tante! 34 Fortschritt 44 Toms Reichtum 48

Städtisch 54 Briefe aus Paris 56 Lebensessenz 60 Im Atelier 63 Das Fenster zum Hof 64 Kater Murr und Achilles 75 Schaufenster der Träume 76 Im Laden 84 Symmetrie des Ausblicks 87 Die zwei ungleichen Brüder 91

Großstädtisch 98 Ville Contemporaire 101 Spiegelfenster 109

Gedanklich 114 Die Fensterschau Über den Autor Über das Buch

121 126 127

Motivisch Das Fenster ist einem Auge des Hauses, das Auge einem Fenster des Leibs ähnlich. Grimmsches Wörterbuch

Vom Drinnen und Draußen

L

icht, Luft, Lärm - nicht nur,

Sturz, Rahmen und Flügel in keine

auch Düfte, Klänge, Stimmen

vorwiegende Richtung.

und Farben dringen durch

An einem Tag öffnet sich das

das Fenster in den Raum hinein.

Fenster

Das Fenster ist durchlässig und

erlaubt ihm das flüchtige oder beab-

empfänglich: Wie ein Film nimmt

sichtigte Hineinsehen, Hineinhören

es Bewegungen, Stimmungen und

und Wahrnehmen. An einem ande-

Impressionen auf, leitet sie weiter

ren Tag gestattet es dem Innenste-

nach drinnen, bis auf die Netzhaut

henden das Hinaussehen, Beobach-

des schauenden Auges, in das Ohr,

ten, Mithören und Teilnehmen am

das lauscht oder auf die Haut des

Geschehen auf der Straße, im Hin-

menschlichen Körpers.

terhof, am Himmel.

dem

Außenstehenden,

Ist ein Flügel geöffnet, strömen

Das Fenster filtert und vermit-

Wärme und Wind, Kälte und Regen

telt passiv zwischen dem grenzen-

nach innen. Fest verschlossen, hält

los bewegten Draußen und dem

das Fenster die Naturelemente fern,

begrenzten, häufig statisch ablau-

bewahrt

Wort,

fenden Leben des Drinnen. Das

schützt das Private, bildet einen

Fenster dient als Kommunikator,

Rückzugsort, von dem aus man

ohne selbst zu kommunizieren. Es

sehen und beobachten kann, ohne

nimmt auf, behält doch nichts. Es

selbst sichtbar zu sein.

trennt und vereint zugleich.

das

gesprochene

Das Fenster ist also eine zweiwegige,

janusköpfige

Sache,

Das Fenster, im Altgermanischen

die

„Wind-Auge“ und im Althochdeut-

Grenze zwischen dem Innen und

schen „Augentor“ bezeichnet, nützte

Außen eines Raums bestimmend.

seit alters her als Symbol für das

Dabei blickt das fünffach geglie-

Himmlische, das Leben und den

derte Gefüge aus Brüstung, Laibung,

Tod. Der Volksglaube verstand das

11

Fenster als eine Schwelle, über wel-

konzentrierend den Blick und ver-

che der Tod ins Haus kommt. Gleich-

stärkte somit die Empfindungen des

sam sollte die Seele den Leichnam

Gesehenen.

durch das Fenster verlassen, wes-

Die „eingerahmte Landschaft“ bot

halb sofort beim Eintreten des Todes

für die Romantiker das Bekannte

das „Flugloch der Seele“ geöffnet

und Unbekannte, die Geborgenheit

werden musste.

und das Wilde. Dieses sehnsüchtige

In der Epoche des Humanismus,

Getriebensein schuf einen genuss-

zu Beginn der Renaissance, verfasste

vollen, wenn auch erfüllungslosen

Leon Battista Alberti das Theorie-

Zustand. Was durch das Fenster

traktat De Pictura (Über die Malerei,

erlebbar wurde, war „die immer tie-

1435), in dem er die Metapher vom

fere Trennung zwischen dem Sub-

Bild als einem offenen Fenster zur

jektiven und dem Objektiven, dem

Welt beschrieb. In den Mittelpunkt

Ich und der Welt, dem Geschaffe-

des Interesses rückten seither die

nen und dem Gegebenen – kurz,

Eigenschaften des Fensters, wie Flä-

zwischen Kultur und Natur“ (Pierre

chigkeit, Rahmen und rasterartige

Schneider in seinem Buch Matisse).

Durchläs-

Heute erscheint uns das Fenster

sigkeit des Lichts, Transparenz und

als Hightech-Bauelement reduziert

das Spiegelungsvermögen des Gla-

auf Funktionalität und das Erfül-

ses. Die dreidimensionale Wirklich-

len von energetischen Normen und

keit der Welt wurde auf die zweidi-

Sicherheitsbedingungen. Wenn dem

mensionale Ebene des Bildes transfe-

Diktat der Effizienz folgend selbst

riert. Das Fenstermotiv erlaubte nun

das Öffnen des Fensters geopfert

auch Reflexionen über die Vorgänge

werden soll, ist es nur ein kleiner

des Sehens und über die Frage, was

Schritt, die dann unbeweglichen

ein Bild sei.

Fensterflächen

Gliederung, ebenso wie

zu

Projektionsflä-

In der Romantik verwoben Dich-

chen unserer zunehmend virtuell

ter und Maler das Fenster mit

gestalteten Welt zu machen. Aus

einer Sehnsucht nach Ferne, Liebe,

einem Windauge wird ein Starrauge.

Natur und Reisen in unerforschte Gebiete. Der Fensterrahmen lenkte

12

D

ie Ansichten und Muster von Fenstern, welche dieses Buch vorstellt, können die

spannungsreichen Wirkungen von Innen und Außen, Licht und Schat-

ten, Rahmen und Glas nur unvollständig erfassen und wiedergeben. Zu vielfältig und vielschichtig haben sich die Bedeutung und Funktionalität im Laufe der Zeit entwickelt. Dieses Buch möchte einladen: zum bewussten Entdecken von Fenstern und zum vergnüglichen Hinein- und Hinaussehen

Wer doch einmal die Geschichte des Fensters schrieb – dieses wunderlichen Rahmens unseres häuslichen Daseins, vielleicht sein eigentliches Maaß, ein Fenster voll, immer wieder ein vollgeschöpftes Fenster, mehr haben wir nicht von der Welt; und wie bestimmt die Form unseres jeweiligen Fensters die Art unseres Gemüths: das Fenster des Gefangenen, die croiseé eines Palastes, die Schiffsluke, die Mansarde, die Fensterrose der Kathedrale –: sind das nicht ebensoviel Hoffnungen, Aussichten, Erhebungen und Zukünfte unseres Wesens? Rainer Maria Rilke Brief an Nanny Wunderly-Volkart, 27. August 1920

15

An Bettine. Liebes Mädchen! Hier ohne Dich zu wohnen, wenn ich das aushalte, so darf ich mich meiner Stärke rühmen. – Ach, wo ist‘s in der Welt wieder so schön, als hier in diesem Frühling hoch in den Lüften zu schweben, dem Himmel so nah, daß jedes der sechs Fenster meiner Stube eine prächtige Landschaft unter Rahm und Glas bringt. Nur das Große der Stadt berührt mich; die Türme sehen mir in die Fenster, und die Stadtuhren sind meine Wanduhren, ich kann nichts tun, als an Dich denken, Dein Bild hinhalten. Der Frühling flieht von meilenweiten Bergen über die blühenden Felder und den sanften Strom und die klingenden, singenden, schwingenden Wälder her zu mir; und bringt Blumendüfte, Farben und Klänge mit, all herein zu den sechs Fenstern, und da halte ich Dein Bild in die Mitte, daß es der Reichtum der Jugend umwalle. Ach, warum bist Du nicht da? Clemens Brentano Jugendbrief an Bettina von Armin. Aus: Clemens Brentanos Frühlingskranz

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Caspar David Friedrich: Frau am Fenster (1822)

18

Die Frau am Fenster

D

as Sujet „Frau am Fens-

Bild könnten wir als Symbol zwi-

ter“ ist ein allbekanntes

schen Gegenwart und Vergangen-

Bild. In den Kunstschät-

heit, auch zwischen dem Diesseits

zen des alten Babylons (und auch

und Jenseits verstehen. Der hohe

von Zypern) finden wir das Thema

Raum, nur durch eine in dunklem

in Verbindung mit einem Frucht-

Grünbraun

barkeitskult

welche

sche angedeutet, verweist auf das

sich dadurch zu sakralen Freuden-

gegenwärtige Leben. Der Blick geht

häusern wandeln. Mit auffallendem

hinüber zur Vergangenheit oder

Kopfschmuck versehen, zeigen sich

dem Tod entgegen; beide scheinen

Tempeldienerinnen am Fenster, um

inmitten hellgrüner Pappeln verbor-

den Männern auf der Strasse ihre

gen. Zwischen diesen beiden Positio-

„Dienstbereitschaft“ unter dem Pat-

nen ragt die Mastspitze eines Fracht-

ronat der Liebesgöttin anzuzeigen.

kahns auf, lässt den im Bild unsicht-

in

Tempeln,

gehaltenen

Fensterni-

William Shakespeare schuf in sei-

baren Fluss nur erahnen. Der Fluss

ner Tragödie Romeo und Julia die

markiert die ungewiss verlaufende

berühmte Balkonszene, die Begeg-

Trennlinie unserer Lebenszeit.

nung zwischen Romeo und Julia im Garten der Capulets. Von einem Balkon ist in Shakespeares Werk allerdings keine Rede; Julia erscheint „above at a window“, welches August Wilhelm Schlegel richtig mit „oben an einem Fenster“ übersetzte. Caspar David Friedrichs bekanntes Gemälde Frau am Fenster von 1822 lässt sich hier einbringen. Das

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Sehnsucht Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leib entbrennte, Da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht. Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht. Joseph von Eichendorff (1834)

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Im Zeitfenster

D

ie zyklischen Wiederholun-

Turmuhren, mit den nach allen

gen der Natur, der Wechsel

Himmelsrichtungen weisenden Zif-

der Gestirne, die Regen-

fernscheiben,

den

Stunden-

und

und Trockenzeiten, der Umlauf der

Minutenzeigern sowie den weit hin

Erde um die Sonne, der Rhythmus

hörbaren Glockenschlägen, gaben

des

pflanzlichen

ein Maß an, das sich für Arbeit und

Wachstums – all das bestimmte

Handel als eine verbindliche Orien-

die Lebens- und Arbeitsrhythmen

tierung nutzen ließ.

tierischen

und

der Menschen in früheren Zeiten.

Heute erfahren wir das unaufhalt-

Homer, der angenommene Autor von

same Verdichten des Zeittaktes. Die

Ilias und Odyssee, rechnete nach

digitalisierte

Morgenröten. In der Zeit des Julius

funktioniert bereits im Sekunden-

Cäsars galten Nachtwachen als Zeit-

takt. Indem wir versuchen, durch

einheit. Die ägyptischen Stunden-

neue

wachen sind ein Ritual stündlicher

mehr Zeit einzusparen, schmälern

Rezitationen und Kulthandlungen.

wir in Wirklichkeit die uns verblei-

Im Orient bestimmte der Lauf der

bende Zeit. Je mehr Zeit wir (ver)pla-

Sonne während des Tages die Bewäs-

nen, umso geringer wird der Gestal-

serungsphasen in der Oase. Auch

tungsrahmen für unser Zeitfenster,

die christlichen Mönche richteten

das Leben.

ihre Gebetszeiten weitgehend am

Nonstop-Gesellschaft

Effizienzmethoden

immer

Die Zeit gehört nicht uns. Wir können Zeit weder besitzen, noch

Lauf der Sonne aus. Die Erfindung der mechanischen

kaufen, weder verkaufen, noch ver-

Uhr ermöglichte es, das Zeitfens-

schenken. Selbst wenn wir unsere

ter, die Zeitspanne zwischen Arbei-

Zeit randvoll ausfüllen könnten –

ten und Ruhen, zwischen Tun und

wäre es dann eine erfüllte Zeit?

Nichtstun, unabhängig von naturnahen Ereignissen zu bestimmen.

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Lebte Gott auf dieser Welt, so schlügen ihm die Menschen alle Fenster ein. Hebräisches Sprichwort

Der gegenwärtige Augenblick ist das Fenster, durch das Gott in das Haus meines Lebens schaut. Meister Eckhart

Der christliche Glaube ist eine großartige Kathedrale mit göttlich bebilderten Fenstern. Steht man draußen, sieht man keine himmlische Herrlichkeit, noch kann man sich überhaupt eine vorstellen; steht man in ihr, enthüllt jeder Lichtstrahl eine Harmonie unaussprechlichen Glanzes. Nathaniel Hawthorne

Ländlich Die Welt ist nicht größer als das Fenster, das du ihr öffnest. Sprichwort

Liebste Tante! Also, nachdem die Nanda in Gießen ausgestiegen war, fuhr ich mutterselig allein im selben Abtheil weiter bis Northeim, ohne von der Hitze belästigt zu werden. Dann mußt ich mich allerdings zwischen Bauern und schwitzenden Harzpilgern durchdrängeln, wie ein Hausknecht, um am Schalter mein Billet zu erwischen; eine Thätigkeit, die mich beschämte. Schon lange zogen drohende Wolken am Himmel herauf; aber erst, als ich trocken in der Pfarre zu Hattorf saß, ging das Blitzen, Donnern und Regnen los. Es schlug auch sofort in ein Bauernhaus ein; doch gab es nur kurzen Rumor, denn das Feuer wurde schnell gelöscht. Leben Sie wohl, liebste Tante! Ich denke gern an Sie und die Ihrigen. Herzliche Grüße an Alle von Ihrem alten getreuen Onkel Wilhelm Wilhelm Busch Gesammelte Werke. Brief an Johanna Keßler, 7. Juni 1900.

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Friedrich ließ sich sein Mittagsmahl ganz allein in einem Sommerhäuschen bereiten, das am Abhange des Berges stand. Er machte alle Fenster weit auf, so dass die Luft überall durchstrich und er von allen Seiten die Landschaft und den blauen Himmel sah. Kühler Wein und hell geschliffene Gläser blinkten von dem Tische. Er trank seinen fernen Freunden und seiner Rosa in Gedanken zu. Dann stellte er sich ans Fenster. Man sah von dort weit in das Gebirge. Ein Strom ging in der Tiefe, an welchem eine hell glänzende Landstraße hinablief. Die heißen Sonnenstrahlen schillerten über dem Tale, die ganze Gegend lag unten in schwüler Ruhe. Draußen vor der offenen Tür spielte und sang der Harfenist immerfort. Friedrich sah den Wolken nach, die nach jenen Gegenden hinaussegelten, die er selber auch bald begrüßen sollte. „O Leben und Reisen, wie bist du schön!“ rief er freudig, zog dann seinen Diamant vom Finger und zeichnete den Namen Rosa in die Fensterscheibe. Josef von Eichendorff Ahnung und Gegenwart

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In der Provinz ersetzt das Fenster Theater und Spaziergänge. Gustave Flaubert

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„Wie hat es Ihnen in dieser Gesellschaft gefallen?“ „Sehr wohl, beinah so sehr wie auf meiner Kammer.“ Georg Christoph Lichtenberg

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Fortschritt

Der Fortschritt hält die Menschen buchstäblich auseinander. Der kleine Schalter am Bahnhof oder auf der Bank machte es dem Angestellten möglich, mit dem Kollegen zu tuscheln und das karge Geheimnis mit ihm zu teilen; die Glasfenster moderner Büros, die Riesensäle, in denen zahllose Angestellte gemeinsam Platz finden und vom Publikum wie von den Managern leicht zu überwachen sind, gestatten keine Privatunterhaltungen und Idyllen mehr. Auch auf Ämtern ist der Steuerzahler nun vor Zeitvergeudung des Besoldeten geschützt. Sie sind im Kollektiv isoliert. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente

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Ob man mit einer Leiter, einem Seil oder einer Treppe auf das Dach des Hauses gelangt, ist nicht wichtig. Ebenso ist es mit den Religionen. Hindu-Weisheit

Toms Reichtum

Am frühen Nachmittag wälzte sich Tom, der am Morgen noch ein mit Armut geschlagener Knabe war, buchstäblich im Reichtum. Er besaß einen fast neuen Drachen, eine tote Ratte mit einem Stück Schnur zum Herumschwingen daran, zwölf Murmeln, das Bruchstück einer Mundharmonika, ein Stück Glas von einer blauen Flasche zum Durchschauen, ein Blasrohr, einen Schlüssel, mit dem man nichts aufschließen konnte, ein Stückchen Kreide, einen Glasstöpsel von einer Wasserkaraffe, einen Zinnsoldaten, ein paar Kaulquappen, sechs Feuersalamander, ein Kätzchen mit einem blinden Auge, eine Türklinke aus Messing, ein Hundehalsband ohne Hund, einen Messergriff, vier Orangenschalen und ein altes morsches Stück eines Fensterrahmens. Mark Twain Tom Sawyer

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Vergeben und vergessen heißt, gemachte kostbare Erfahrungen zum Fenster hinauswerfen. Arthur Schopenhauer

Früher schauten die Schriftsteller durch das Fenster in den Salon, jetzt schauen sie durch das Schlüsselloch in das Schlafzimmer. John Steinbeck

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Der Faule stirbt vor Hunger, während sein Essen im Fenster steht. Aus Arabien

Städtisch Wie stickig! So öffnet doch die Fenster, mögen die da draußen es auch zu spüren bekommen. Stanislaw ]erzy Lec

Briefe aus Paris

Wenn ich das Fenster öffne, so sehe

Menschen, denen nichts gleichgülti-

ich nichts, als die blasse, matte,

ger ist, als ihres Gleichen; ehe man

fade Stadt, mit ihren hohen, grauen

eine Erscheinung erfasst hat, ist sie

Schieferdächern und ihren unge-

schon von zehn anderen verdrängt;

stalteten Schornsteinen, ein wenig

dabei knüpft man sich an keinen,

von den Thuillerien, und lauter

keiner knüpft sich an uns; man

Menschen, die man vergisst, wenn

grüßt einander höflich, aber das

sie um die Ecke sind. Noch kenne

Herz ist hier so unbrauchbar, wir

ich wenige von ihnen, ich liebe

eine Lunge an unter der luftleeren

noch keinen, und weiß nicht, ob ich

Campane, und wenn ihm einmal

einen lieben werde. Denn in den

ein Gefühl entschlüpft, so verhallt

Hauptstädten sind die Menschen zu

es, wie ein Flötenton im Orkan.

gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie,

Heinrich von Kleist

die einander wechselseitig betrügen

Brief an Caroline von Schlieben,

und dabei thun, als ob sie es nicht

Paris, 18. Juli 1801

merkten. Man geht kalt aneinander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von

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Kleiner waren beide als mein jet-

tisch sitzend, vor mir habe, nicht

ziges Zimmer, das eigentlich groß

nur Rahmen, sondern auch ihrer-

ist, nur sehr niedrig, und sie hatten

seits wieder Augen sind, die in mein

vor ihm die Weite des Blickes vor-

Leben herein offenstehen, – dann

aus, die Ferne vor den Fenstern; das

ist es manchmal kaum zu ertragen.

war neben aller Reinheit beinahe das Überredendste für mich, denn,

Rainer Maria Rilke

mag mein Hotel noch so viel Fehler

Brief an Clara Rilke-Westhoff,

haben, sein größter ist für mich

Paris, 28. September 1902

diese enge Gasse mit den Fenstern vis-à-vis, mit den vielen eingerahmten fremden Lebensmomenten, deren Zeuge man fortwährend zu sein gezwungen wird; gerade in den Augenblicken, da man den Blick nach Fernen hebt, Engen begegnend, die bange machen. Und wenn man auch noch denkt, dass alle diese 12 Fenster, die ich, an meinem Schreib-

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Lebensessenz

Nicht einem Strome, einem Wasserfalle gleicht hier das Leben; es fließt nicht, es stürzt mit betäubendem Geräusch. Die Zeit wird nicht mit tausend Liebkosungen abgeschmeichelt, und der Hunger ist der einzige Zeiger, welcher die Zahl der verbrauchten Stunden ehrlich angibt. Wer lange leben will, der bleibe in Deutschland, besuche im Sommer die Bäder und lese im Winter die Protokolle der Ständeversammlungen. Wer aber Herz genug hat, die Breite des Lebens seiner Länge vorzuziehen, der komme nach Paris. Jeder Gedanke blühet hier schnell zur Empfindung hinauf, jede Empfindung reift schnell zum Genusse hinan; Geist, Herz

und Sinn suchen und finden sich – keine Mauer einer traurigen Psychologie hält sie getrennt. Wenn man in Deutschland das Leben destillieren muß, um zu etwas Feurigem, Erquicklichem zu kommen, muß man es hier mit Wasser verdünnen, es für den täglichen Gebrauch trinkbar zu machen. Paris ist der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft. Es ist ein Register der Weltgeschichte, und man braucht bloß die alphabetische Ordnung zu kennen, um alles aufzufinden. Es ist schwer hier, dumm zu bleiben, denn habe der Geist auch keine eigenen Flügel, er wird von andern emporgetragen. Doch verzweifle darum keiner, der Beharrlichkeit gelingt alles. Ludwig Börne Schilderungen aus Paris

62

Im Atelier Das Atelier war erfüllt von starkem Rosenduft.

ungemähte Gras suchten oder mit zäher Beharr-

Wenn der leichte Sommerwind die Bäume im

lichkeit um die goldbestäubten Trichter des

Garten draußen bewegte, drang durch die offene

wuchernden Geißblatts kreisten, ließ die Stille

Tür der schwere Geruch des Flieders oder der

noch drückender erscheinen. Das dumpfe Brau-

zartere Duft der Rotdornblüten. Lord Henry Wot-

sen Londons wirkte wie die Basstöne einer fernen

ton lag auf einem Diwan mit persischen Sattel-

Orgel. In der Mitte des Raumes lehnte auf einer

taschen und rauchte, wie gewöhnlich, unzählige

aufrechten Staffelei das lebensgroße Bild eines

Zigaretten. Von seiner Ecke aus konnte er gerade

ganz außerordentlich schönen Jünglings. Vor

noch den Schimmer der honigsüßen und honig-

der Staffelei saß, ein paar Schritte weit entfernt

farbenen Goldregenblüten sehen, deren zitternde

der Maler Basil Hallward, dessen plötzliches

Zweige kaum noch die Last ihrer flammenden

Verschwinden vor einigen Jahren so viel Aufse-

Schönheit zu tragen schienen; dann und wann

hen gemacht und zu so vielen merkwürdigen

grüßten auch durch die langen Seidenvorhänge,

Vermutungen Anlass gegeben hatte. Während

die vor das große Fenster gezogen waren, phan-

der Maler die graziöse und anmutige Gestalt

tastische Schatten vorbeifliegender Vögel. Das

betrachtete, schien ein heiteres Lächeln über

gab einen Augenblick eine japanische Stimmung

sein Gesicht zu gehen und dort zu verweilen.

und ließ den Liegenden an die Maler von Tokio denken mit den wie aus blassem Bernstein

Oscar Wilde

geschnitzten Gesichtern, die mit den Mitteln

Das Bildnis des Dorian Gray

einer Kunst, die nur unbeweglich sein kann, die Empfindung von Schnelligkeit und Bewegung hervorzubringen suchen. Das dumpfe Summen der Bienen, die ihren Weg durch das hohe,

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Das Fenster zum Hof

Der Fotograf Jeff kann sein New

Lars Thorwald sich seiner Ehefrau

Yorker Appartement nicht verlas-

entledigt hat – und zwar durch

sen, weil er ein gebrochenes Bein

Mord. Während Jeff Lisa von der

hat. Er verbringt daher die meiste

Mordtheorie überzeugen kann,

Zeit am Fenster und beobachtet

lässt sich sein Freund von der New

seine Nachbarn. Abwechslung in

Yorker Polizei nicht dafür erwär-

Jeffs Alltag bringen zwei Frauen:

men. Doch Jeff will den Mord

die resolute Krankenschwester

nachweisen und gerät dadurch in

Stella und die schöne, aus der New

einen dramatischen Showdown in

Yorker High Society stammende

seinem eigenen Appartement.

Lisa Fremont, die gerne Jeffs Ehefrau werden würde. Jeff beob-

Spielfilm, 1954

achtet, dass seine Nachbarin von

Regie: Alfed Hitchcock

gegenüber, Mrs. Thorwald, nachdem sie einige Zeit krank im Bett gelegen hatte, plötzlich spurlos verschwunden zu sein scheint. Aufgrund seiner Beobachtungen kommt Jeff zu dem Schluss, dass

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Dürftigkeit öffnet Augen, die Reichtum verschlossen hat. Giovanni Boccaccio

Es ist eine Regel der Klugen, die Dinge zu verlassen, ehe sie uns verlassen. Baltasar Gracián

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Am Seil hält man den Elefant, das rasche Roß am Zügel, die Frauen nur am Herzensband, sonst wachsen ihnen Flügel. Shûdraka

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Casa Milà

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Kater Murr und Achilles Achilles war eigentlich ein gemeiner Fleischer-

uns als Ruhestörern Tod und Verderben. Da er

hund, stand aber in Diensten als Hofhund, und

aber seiner Unbehilflichkeit halber nicht einmal

der Herr, bei dem er in Dienst getreten, hatte

auf den Boden, geschweige denn auf das Dach

ihn, um sein Attachement an das Haus zu

kommen konnte, so machten wir uns aus seinen

befestigen, anketten lassen, so daß er nur des

Drohungen auch nicht das allermindeste, son-

Nachts frei umherlaufen konnte. Mancher von

dern trieben unser Wesen so nach- wie vorher.

uns bedauerte ihn sehr, trotz seines unleidlichen Wesens, er aber ließ sich den Verlust seiner Freiheit gar nicht zu Herzen gehen, da er töricht

E.T.A. Hoffmann Lebensansichten des Katers Murr

genug war, zu vermeinen, die schwer lastende Kette gereiche ihm zur Ehre und Zierde. Achilles fand sich nun zu seinem nicht geringen Verdruß durch unsere Konvivia in der Nacht, wenn er umherlaufen und das Haus beschützen sollte gegen jede Unbill, im Schlafe gestört und drohte

75

Schaufenster der Träume

D

as kelt

Schaufenster sich,

verdun-

verliert

seine

Kontur und seinen Zweck.

Einst das Medium, die Sehnsüchte, Träume und Wünsche von Millionen zu wecken, dümpelt das Schaufenster heute eher als Warenlager dahin. Blicke ich im Vorübergehen in das Schaufenster eines Juweliers, reiht sich meist langweilig Uhr an Uhr, Ring an Ring. Dekoration bedeutet ausschmücken, verschönern. Doch welcher Kaufmann dekoriert noch Schaufenster? Und weiter gefragt: Wer bummelt oder flaniert heute durch Straßen und Gassen, den Blick neugierig schweifend von einem Fenster zum nächsten? Das elektronische Schaufenster, das uns im Sitzen und Liegen, bei jedem Wetter und zu jeder Tages- und Nachtzeit bequem die Welt der Dinge präsentiert, verdrängt das Schönste: die Freude am spontanen Entdecken.

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77

Würzburg, den ich weiß nicht wievielten. Auf einmal ist alles heiter, beschwingt, vergnügt – die Läden blitzen, wir trinken mit Maß und Ziel, ich pfeife schon frühmorgens in der Badewanne. Wir werden noch aus dem Hotel fliegen – das tut kein verheirateter Mann. Auf der schönen Mainbrücke steht ein Nepomuk – wir gehen hin und legen ihm einen Glückspfennig zu Füßen, um die Ehrlichkeit des Heiligen und der Bevölkerung zu prüfen. Morgen wollen wir nachsehen ... (Wir sehen aber nicht nach, und nun liegt der Pfennig wohl heute noch da.) Die Prinzessin lugt schelmisch in die Schaufenster und unterhält sich auffallend viel über Damenwäsche, Kombinations, seidene Strümpfe ... Der schönste Schmuck für einen weißen Frauenhals ist ein Geizkragen. Kurt Tucholsky Das Wirtshaus im Spessart

Manchmal gehe ich an kleinen Läden vorbei, in der Rue de Seine etwa: Händler mit Altsachen oder kleine Buch-Antiquare oder Kupferstichverkäufer mit ganz, ganz vollen Schaufenstern. Nie tritt jemand ein bei ihnen, sie machen offenbar keine Geschäfte: aber man sieht hinein, und sie sitzen und lesen, unbesorgt (und sind doch nicht reich); sorgen nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille um sie noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlangstreicht, als wischte sie die Namen von den Rücken. Ach, wenn das genügte: Ich wünschte manchmal, mir so ein volles Schaufenster zu kaufen und mich mit einem Hund darunterzusetzen für zwanzig Jahre. Rainer Maria Rilke Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Die Menschen gehen einkaufen wie zum Fischen; sie wollen sehen, wie groß der Fisch ist, den sie mit dem kleinsten Köder fangen können. Henry Ward Beeche

Wenn du einkaufen gehst, benutze deine Augen, nicht deine Ohren. Aus Tschechien

83

Im Laden Ehe man einen Laden betritt, ent-

zum Kaufen zu animiren sucht.

schließe man sich, ob man wirklich

Aufdringlich sollte er indessen

kaufen will, im andern Falle sage

nie werden. Dieses gilt besonders

man offen, daß man nur etwas zur

für die Commis voyageurs, denen

Ansicht wünsche, den Preis erfah-

mancher durch Verleugnen, Ver-

ren wolle u.s.w. Nicht aber lasse

stecken u.s.w. zu entgehen sucht.

man sich immer und immer wieder

Für den Käufer bemerke ich, daß

neue Waaren vorlegen, nehme die

er ruhig zu warten hat, wenn der

Geduld und Zeit des Verkäufers

Verkäufer eben mit einem andern

über Gebühr in Anspruch und gehe

Kunden beschäftigt ist, nicht aber

dann fort, ohne etwas zu nehmen.

diesen zur Seite und sich vor-

Es kann gewiß vorkommen, daß wir

drängen muß. Verläßt der Vorher-

den Artikel, den wir suchen, nicht

gekommene den Laden, hat der

finden. Ein Wort der Entschuldi-

Wartende zu beanspruchen, dann

gung ist da freundlich. Ebenso soll

sofort bedient zu werden und darf

aber auch der Verkäufer freundlich

der Kaufmann nicht einen später

bleiben und mit Aufmerksam-

eingetretenen, vielleicht vorneh-

keit einen Kunden bedienen, der

meren Kunden, ihm vorziehen.

nur wenig nimmt, oder dem das Anna Kistner

nicht paßt, was man ihm vorlegt.

Schicklichkeitsregeln für das

Dem Kaufmann ist es nicht zu verdenken, wenn er durch Anpreisen seiner Waare das Publikum

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bürgerliche Leben, 1886

Symmetrie des Ausblicks

Nicht Regelmäßigkeit und Symmetrie sind für das gegenwärtige Schönheitsempfinden charakteristisch, sondern gerade Unbestimmtheit, Ereignis und Atmosphäre. Gernot Böhme

Die Worte sind nur das Äußere der Gedanken. Es ist töricht, wenn man nur das Äußere ansehen wollte und darüber die Gedanken vernachlässigte. Lü Bu We

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Die zwei ungleichen Brüder

Es waren einmal zwei Brüder, die lebten vor langer Zeit und in einer Gegend weit weg von hier. Sie waren geizig und stritten und zankten sich, sobald sie sich trafen. Eines Tages machten die Brüder die Erbschaft eines kleinen Hauses auf dem Land. Keiner der beiden wollte auf seinen Anteil verzichten, und in dem Haus zusammen wohnen, das wollten sie schon gar nicht. Also teilten sie das Haus. Damit jedermann sogleich sehen konnte, wo der eine und wo der andere Bruder wohnt, entschlossen sie sich, das Haus auf der einen Seite in Rot und auf der anderen Seite in Blau anzumalen. Erst wollten sie auch das Rohr zweigeteilt anmalen. Da jedoch keiner von beiden ein geschickter Handwerker war, gab der rote Bruder völlig unerwartet nach. Er hatte jedoch nur deshalb nachgegeben, weil er sich insgeheim darüber freute, dass sein blauer Bruder auch noch die Farbe für seinen Teil des Rohrs bezahlen musste. Paul Plumboom Ausgefallene Einfälle

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Die Frauen im vorgerückten Alter und der Fürst Potemkin haben schon immer gewusst, dass die Fassade wichtiger ist als die Konstruktion. Anton Pawlowitsch Tschechow

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Die Krähen behaupten, eine einzige Krähe könnte den Himmel zerstören. Das ist zweifellos, beweist aber nichts gegen den Himmel, denn Himmel bedeutet eben: Unmöglichkeit von Krähen. Franz Kafka

Tarabas bemerkte bald zu seinem

Dingen schicksalhafte Bedeutung

Schrecken, daß er im Begriffe war,

zuzutrauen. Er begann, Laternen

sich wieder der Bar zu nähern. Nun

und Pflastersteine zu zählen, die

kehrte er um, bog um die Ecke,

kleinen, viereckigen Netzlöcher

verlor sich in einer Seitenstraße,

der Kanalgitter, die geschlossenen

war überzeugt, daß er die linke

und die offenen Fenster dieser

Richtung einhalten müsse, und

und jener Häuser und die Zahl

erkannte ein paar Sekunden hie-

seiner eigenen Schritte von einem

rauf, daß er im Rechteck herum-

bestimmten Punkt der Straße aus

gegangen war und sich nun zum

bis zum nächsten Übergang.

zweitenmal in der Nähe der Bar befand. Unterdessen hielt er, wie

Josef Roth

es seine Art war, Ausschau nach

TARABAS – Ein Gast auf dieser Erde

einem der Zeichen, die Glück oder Unheil bringen konnten, einem Schimmel, einer Nonne, einem rothaarigen Menschen, einem rothaarigen Juden, einer Greisin, einem Buckligen. Da sich kein einziges Zeichen begab, beschloß er, anderen

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Großstädtisch Zeige mir wie du baust und ich sage dir, wer du bist. Christian Morgenstern

Ville Contemporaire

D

ie Vision des Stararchitekten Le Corbusier im Jahr 1922: Vierundzwanzig Hochhäu-

ser mit jeweils sechzig Geschossen, symmetrisch aufgestellt auf Pilotis genannten Säulen, auf einer Fläche von ungefähr 2,4 mal 1,5 Kilometern. Hier läuft alles zusammen: Arbeit, Befehlsgewalt, Wohnen. In jedem Hochhaus arbeiten zwischen zehnund fünfzigtausend Menschen. Das Gehirn der Stadt, das Gehirn des Landes. Die Zwischenräume der im weiten Abstand stehenden Gebäude füllen ausgedehnte Parks und grüne Freiflächen. Bäume schließen das Blickfeld, wollen der einem menschlichen Maß sehr fernen Stadt einen Maßstab vermitteln und bilden mit ihren Umrissen einen Kontrast zu den Bauwerken. Schaut man aus dem Fenster eines Büros, sieht das Auge nur den Himmel, die weitgedehnten Grünflächen und, in der Ferne, die Wolkenkratzer der Stadt. Das Projekt wurde nicht realisiert. Glück oder Unglück?

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Spiegelfenster

Das eigentliche Wunder ist die Geburt der Seele einer Stadt. Als Massenseele von ganz neuer Art, deren letzte Gründe für uns ein ewiges Geheimnis bleiben werden, sondert sie sich plötzlich ab aus dem allgemeinen Seelentum ihrer Kultur. Ist sie erwacht, so bildet sie sich einen sichtbaren Leib. Aus der dörflichen Sammlung von Gehöften, von denen jedes seine eigene Geschichte hat, entsteht ein Ganzes. Und dieses Ganze lebt, atmet, wächst, erhält ein Antlitz und eine innere Form und Geschichte. Von nun ist außer dem einzelnen Hause, dem Tempel, dem Dom, dem Palast auch das Stadtbild als Einheit der Gegenstand einer Formensprache und Stilgeschichte, welche den ganzen Lebenslauf einer Kultur begleitet. Oswald Spengler Der Untergang des Abendlandes

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Gedanklich Viele Lehren sind wie eine Fensterscheibe. Durch sie sehen wir die Wahrheit, aber sie trennt uns von der Wirklichkeit. Khalil Gibran

Leben: das, was sich allein entwickelt, wenn wir es lassen. Kunst: das, was nur durch unser Zutun entsteht. Lebenskunst: die Balance von Tun und Lassen. Angela Roethe

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Den Mond im Fenster hat der Dieb zurückgelassen. Ryôkan

Herbstabend, auf diesem Weg geht niemand. Bashô

Nur der Mond und ich sind geblieben – auf der Brücke im kalten Wind. Kikusha-ni

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Die Fensterschau

Der bleiche Heinrich ging vorbei, Schön Hedwig lag am Fenster. Sie sprach halblaut: Gott steh mir bei, Der unten schaut bleich wie Gespenster! Der unten erhebt sein Aug in die Höh, Hinschmachtend nach Hedewigs Fenster. Schön Hedwig ergriff es wie Liebesweh, Auch sie ward bleich wie Gespenster. Schön Hedwig stand nun mit Liebesharm Tagtäglich lauernd am Fenster. Bald aber lag sie in Heinrichs Arm, Allnächtlich zur Zeit der Gespenster. Heinrich Heine Buch der Lieder

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Luft und Licht sind die Liebhaber der Blumen, aber das Licht ist der Begünstigte. Zum Licht wenden sie sich, verschwindet es, so rollen sie ihre Blätter zusammen und schlafen in der Umarmung der Luft ein. Hans Christian Andersen

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Über den Autor Joachim Zischke ist 1953 in Freiburg im Breisgau geboren. Seine Ausbildung in kaufmännischen und

betriebswirtschaftlichen

Fachrichtungen

durchlief er in Melbourne, Hamburg und London. Sein erstes Buch, Das Desktop Publishing Buch, erschienen 1987, war auch das erste über dieses Fachgebiet im deutschprachigen Raum und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Joachim Zischke beschäftigt sich heute als Autor und Berater mit den Themen Ideen, Innovation, Wissenstransfer und visueller Weinsensorik. Er lebt und arbeitet an der Deutschen Weinstraße.

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Über das Buch Dieses Buch wurde in den Schriften Optima, Lucida Bright und Weidemann von Joachim Zischke gesetzt. Fotografen der Plattform www. morguefile.com recherchierten an weltweiten Orten. Das Buch wurde mithilfe von Elektrizität aus nachhaltigen Quellen hergestellt. Bild- und Textauswahl, Ausstattung und Typografie von Joachim Zischke.

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© 2015 Joachim Zischke. Bad Dürkheim Dialogus Autorverlag dialogus.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Das gilt vor allem für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISBN 978-3-925187-05-6 | 1005 | 1