Feldenkrais-Pädagogik und Körperverhaltenstherapie

Produktinformationen "Klinkenberg: Feldenkrais-Pädagogik und Körperverhaltenstherapie" Norbert Klinkenberg: F

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Feldenkrais-Pädagogik und Körperverhaltenstherapie

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Norbert Klinkenberg

~FeldenkraisFädagogik und Körperverhaltenstherapie

1(51VON LOEPER LITERATURVERLAG

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Zu

DIESEM BUCH

Moshe Feldenkrais (1904-1984) gehört zu den großen Naturwissenschaftlern und Denkern des 20. Jahrhunderts. Er plädierte für die bewusste Wahrnehmung des menschlichen Körpers als leichtesten Zugang zur Selbsterziehung, die er als erwachsene Form menschlicher Verwirklichung verstand. Dieses Buch stellt die Feldenkrais-Pädagogik im therapeutischen Kontext und die Bedingungen dar, unter denen die Feldenkrais-Arbeit ihren Charakter als Lernmethode auch für Patienten entfalten kann. Zugleich werden Begründungen und Konturen einer möglichen Körperverhaltenstherapie formuliert, für die die Feldenkrais-Methode Modellcharakter besitzt. Die Ausführungen basieren auf Erfahrungen mit der Feldenkrais-Methode in der Verhaltensmedizin und psychosomatischen Rehabilitation. Dr. Dr. med. Norbert Klinkenberg ist Arzt für Innere Medizin, Psychotherapie und Rehabilitationswesen und Feldenkrais-Lehrer. Seit 1996 leitet er die Parkklinik, Rehabilitationszentrum für Psychosomatik, in Bad Bergzabern.

Norbert Klinkenberg

Feldenkrais-Pädagogik und Körperverhaltenstherapie

Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich

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Wichtiger Hinweis: Ausführliche Zusatzinformationen zu diesem Buch, Hinweise zum Autor, wichtige Links und weiteres Bonus-Material finden Sie im Internet unter www.vonLoeper.de/F eldenkrais.html

Originalausgabe 1. Auflage 2005 © 2005 by von Loeper Literaturverlag im Ariadne Buchdienst, Karlsruhe

Alle Teile dieses Buches dürfen ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung weder mechanisch, elektronisch oder fotografisch vervielfältigt oder in elektronischen Systemen oder Kommunikationsmitteln eingespeichert werden. Dies gilt insbesondere für Fotokopien, Auszüge für Lehrmaterialien, Nachdrucke, Speicherungen auf CD-ROM oder anderen Trägem und Speicherung oder Veröffentlichung im Internet. Gesamtherstellung und Vertrieb: Ariadne Buchdienst, Kiefernweg 13, 76149 Karlsruhe Tel. (0721) 70 67 55 Fax (0721) 78 83 70 E-Mail: [email protected] Internet: www.vonLoeper.de ISBN 3-86059-623-3

Inhalt 1. Einleitung 1.1 »Lernen ist gesünder als Patient zu sein« 1.2 Zwei Arten zu lernen

2. Der therapeutische Kontext 2.1 2.2 2.3 2.4

Psychosomatik in der Medizin Bio-psycho-soziales Konzept Verhaltensmedizin Psychosomatische Rehabilitation

3. Körperverhaltenstherapie Körperorientierte Psychotherapie in der Psychosomatik Körpertherapien Körperverfahren in der Verhaltenstherapie Notwendigkeit der Entwicklung einer kognitivbehavioralen Körpertherapie • Körperliche Komorbidität psychosomatischer Patienten • Perzeptive, kognitive und Verhaltensdefizite im Zusammenhang mit Körper und Bewegung • Propädeutische Funktion von Körpertherapie für Verhaltenstherapie • Körperlichkeit als hedonistischer Erfahrungsraum • Körperliche Aspekte des Gesundheitsverhaltens 3.5 Kognitiv-behaviorale Grundlagen von Körpertherapie 3.1 3.2 3.3 3.4

4. Praxis und Theorie der Feldenkrais-Methode 4.1 4.2 4.3 4.4

Moshe Feldenkrais (1904-1984) Grundbegriffe der Lernmethode von M. Feldenkrais Die Biologische Psychologie der Feldenkrais-Methode Bewusstheit durch Bewegung • Strukturen der Gruppenarbeit • Spielräume zwischen Vorstellung, Handlung und 1 Empfindung

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13 24 24 26 29 33 34 34 36 38 40 41 42 43 43 44 45 51 51 54 58 65 68 70

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4.5 4.6 4.7 4.8 4.9

• Bewusstheit als Alltagsstrategie zwischen Wissen und Vitalität Spielend leicht lernen Lernen lernen Die besondere Art des »Lehrens« Funktionale Integration Wissenschaftlichkeit und Evaluation • Die empirische Basis der Feldenkrais-Methode • Parallele Entwicklungen • Angewandte Strategien • Evaluation der Feldenkrais-Methode

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5. Gemeinsamkeiten

zwischen F eldenkrais- Pädagogik und Körperverhaltenstherapie

6. Feldenkrais-Pädagogik

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in der Körperverhaltens-

therapie

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6.1 Indikationsspektrum in der Verhaltensmedizin 6.2 Einblick in den inneren Dialog - propädeutische Funktion für die Psychotherapie 6.3 Übertragung von »Feldenkrais-Strategien« 6.4 Bewegung als V erhaltensvariable und die Veränderung von Verhaltensmustern 6.5 Eigenwahrnehmung als Mittel zur Autonomie: Atmung, Kieferspannung und Augenbewegung • Funktionelle Atmung • Wahrnehmung der Kieferspannung • Befreiung der Augen 6.6 Selbstsicherheit und Vertrauen auf das Nervensystem • Konkretisierung von Körperlichkeit • Erschließung wachstumsabhängigen Lernens • Befreiung von äußeren Zwängen

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7. Feldenkrais-Pädagogik

in der Psychosomatik

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7.1 Willkürliche Spannungsregulation 151 7.2 Schmerzstörungen 160 • Somatoforme Störungen und funktionelle Störungen des Bewegungsablaufs 164 6

7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8

• Fibromyalgie • Überlastungs-Syndrome Aufmerksamkeitslenkung und andere Ansatzpunkte bei der Tinnitusbehandlung Schlafstörungen Ich-Bild und »Körperbildstörungen« Gesundheitsbildung Funktionsstörungen im Grenzgebiet zu anderen medizinischen Fachrichtungen Grenzen der Methodenintegration

8. Anhang 8.1 Strukturelle Grundlagen klinischer Feldenkrais-Arbeit 8.2 Literaturanregungen • Veröffentlichungen von M. Feldenkrais • Einführungen in die Feldenkrais-Methode • Audiokassetten • Internetadressen

9. Literaturverzeichnis

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1. Einleitung 1.1

» Lernen

ist gesünder als Patient zu sein«

Moshe Feldenkrais zählt zu den Naturwissenschaftlern und Denkern des 20. Jahrhunderts mit Nachwirkung. Bei der von ihm entwickelten Methode handelt es sich um nichts anderes als die kritische Beobachtung des Naturexperiments körperlicher Bewegung an sich selbst. Dass der Physiker nichts gelten ließ, was nicht bis auf den Grund durchdacht und erfahrbar war, lässt viele seiner Auffassungen von funktioneller Bewegung und seine Rückschlüsse und Postulate auf die Funktionsweise des Nervensystems bis heute aktuell und wegweisend erscheinen. Mit Recht wird Moshe Feldenkrais heute zu den »Pionieren bewusster Wahrnehmung durch Bewegungserfahrung« gezählt. Ihm sei es am ehesten gelungen, »eine dualistische Konzeption [von Körper und Seele] zu überwinden«; sein hauptsächliches Verdienst müsse in der »Integrationsleistung von Theorie und Praxis« gesehen werden (Petzold 1993). Als Konsequenz seiner Beobachtungen forderte Feldenkrais Selbsterziehung (»adult re-education«) als erwachsene Form menschlicher Wesensverwirklichung (Feldenkrais 1949, S. 163) und kritischen Umgang mit jeder Form erzieherischer und therapeutischer Fremdbestimmung. Die Abgrenzung der Pädagogik von Therapie mag aufgrund persönlicher Erfahrungen verständlich, aus weltanschaulichen, fachspezifischen, politischen und rechtlichen Gründen sinnvoll sein. In der konkreten pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit Menschen erscheint sie jedoch häufig überflüssig und künstlich, wenn Zielsetzungen und Vorgehensweisen pädagogischer und therapeutischer Verfahren in zentralen Bereichen identisch sind. Der Physiker Moshe Feldenkrais bezeichnete seine Klienten lieber als Schüler, jedoch häufig auch als Patienten und sprach von seiner Methode als »healing therapy« (Feldenkrais 1994). In seinen theoretischen Schriften hat Feldenkrais die Anwendung seiner Lernmethode in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen vorgeschlagen, am ausdrücklichsten jedoch einer Integration im psychotherapeutischen Aufgabenfeld das Wort geredet. Mehrfach hat er 9

auf die Bedeutung seiner Beobachtungen für eine verbesserte Psychotherapie hingewiesen. Eine körperlose Psychotherapie hielt er für eine »bequeme Abstraktion ... , deren Nutzen sich dann auch tatsächlich sehr bald erschöpft habe« (Feldenkrais 1994, S. 225). Er bedauerte die Ignoranz der Psychologie gegenüber der »physikalisch-chemischen Grundlage aller Funktionen im Organismus«, deren »somatische Belege ... nicht einmal bei ihren theoretischen Arbeiten« ausgenutzt würden (ebd. S. 63). »Organisches Lernen«, d. h. die ungestörte Entfaltung menschlicher Lernfähigkeit, hingegen sei »grundlegend, daher unerlässlich«. Es könne nicht nur »therapeutisch wirken«, sondern sei auch »gesünder, als Patient zu sein oder sogar als geheilt zu werden« (Feldenkrais 1987, S. 57). Trotz dieser Nähe zur Psychotherapie versteht sich die Feldenkrais-Methode in Deutschland heute ausdrücklich als ein pädagogisches Verfahren und nicht als Therapie, sie »ist eine Lernmethode und keine medizinische oder therapeutische Heilbehandlung« (Feldenkrais-Gilde 1996). Den Rahmenbedingungen unseres öffentlichen Gesundheitssystems begegnen Feldenkraislehrer mit verständlichem Misstrauen (z.B. Strauch 1986, Pieper 1993), so wie umgekehrt Mediziner und Psychotherapeuten FeldenkraisLehrer als esoterisch, wenig klar und dünkelhaft erleben mögen. Andererseits gehören die Ziele der Feldenkrais-Arbeit, wie z.B. »Verbesserung, Zunahme, Erweiterung, Erleichterung von Selbstvertrauen, Lernvermögen, Handlungskompetenz, Leistungsfähigkeit, Eigenwahrnehmung, Erweiterung des Selbstbildes und Körperschemas« usw. (Pieper & Weise 1966, S. 26; Pieper & Weise 2000), zu den originären Zielen psychotherapeutischer und insbesondere kognitiv-verhaltenstherapeutischer Therapieansätze. Im Rahmen einer Selbstmanagementtherapie tun Therapeuten auf der anderen Seite vieles, was engen Begriffen von therapeutischem Handeln nicht zu entsprechen scheint, sie informieren, beraten oder betreuen ihre Patienten »ressourcenorientiert«, sprechen lieber von »Verbesserung«, Bewältigung und Vorbeugung und bezeichnen ihre Patienten schließlich als Klienten, die einen bestimmten Auftrag an sie erteilen. Seit Beginn des Jahrhunderts dominierte die Freud'sche Psychoanalyse die Vorstellungen zur Heilung und Verbesserung der menschlichen Psyche und förderte ihrerseits die dualistische Betrachtungsweise der Schulmedizin. Feldenkrais plädierte demgegenüber für 10

eine ganzheitliche Auffassung und für die bewusste Wahrnehmung des menschlichen Körpers als leichtesten Zugang zur Selbsterfahrung und bewussten Selbstregulation. Mit seiner Auffassung von Selbsterziehung als höchstmöglicher Intelligenzleistung des Menschen teilt Feldenkrais mit anderen Intellektuellen seiner Zeit die Hoffnung auf die Möglichkeiten humaner menschlicher Selbstverwirklichung, des Einzelnen wie der Gesellschaft. Trotz der insgesamt recht umfangreichen theoretischen Reflexionen des Physikers und Pädagogen Moshe Feldenkrais erschließen sich sein Denken und seine Methode jedoch - wie zwangsläufig bei allen körperorientierten Verfahren - nicht über ideengeschichtliche, anthropologische, neuropsychologische oder naturwissenschaftliche Erörterungen. An dem Weg der ureigensten individuellen Entdeckung kommt kein Schüler vorbei. Jeder Feldenkrais-Lehrer bleibt dem Vorbild des Pädagogen Feldenkrais verpflichtet, von dem eine seiner unmittelbaren Schülerinnen formulierte, dass er sie »an allen von seinen Entdeckungen in einer Art und Weise teilnehmen ließ, dass jeder von uns inspiriert wurde, sie wieder ganz von neuem zu entdecken« (Alon 1993, S. 11). Bei allem Anreiz, den das rationale Denken Feldenkrais' auf moderne Menschen ausüben mag, und bei dem Vertrauensvorschuss, den man einer Methode gegenüber entwickelt, die sich mit naturwissenschaftlichem Vokabular beschreiben lässt: Das Veränderungspotential der Lernenden, Schüler oder Patienten, zu wecken und sie ihren kinästhetischen Sinn als Medium der Veränderung erfahren zu lassen, ist eine Arbeit, die sich zwangsläufig und häufig genug gegen Verbalisierungen und Konzeptionalisierungen sperrt. Die Feldenkrais-Methode, die empirisch entwickelt wurde und die zur Verbesserung des Denkens und Fühlens den Weg über körperliche Bewegung und Bewegungserfahrung sucht, kann letztlich nur praktisch »begriffen« werden. Das soll diesem ersten V ersuch, die wesentlichsten Grundzüge der Feldenkrais-Methode und ihre Bedeutung für die Verhaltensmedizin darzustellen, vorausgeschickt werden. In diesem Buch geht es um eine besondere Pädagogik im Kontext therapeutischen Handelns: um die theoretische Begründung und praktische Erfahrungen mit der Feldenkrais-Pädagogik als Baustein einer multimodalen kognitiv-verhaltenstherapeutischen Behandlung psychosomatischer Patienten und schließlich als Modell einer Körperverhaltenstherapie. Körperarbeit stellt in der Regel 11

kein Thema der kognitiven Verhaltenstherapie dar. Vergeblich sucht man in der Fachliteratur nach entsprechenden Schlagworten. Dieses Thema aufzugreifen bedeutete deshalb, Neuland zu betreten und Brücken zu schlagen. Zur Komplexität und Vielschichtigkeit des Themas kam das Problem hinzu, holistisches Denken und Handeln in dualistisch geprägter Sprache zu beschreiben. Daneben waren interdisziplinäre Bezüge zu würdigen und notwendiges Grundlagenwissen einzubeziehen. Diese Arbeit stellt schließlich keine erschöpfende Darstellung der Feldenkrais-Methode mit ihren komplexen Denk- und vielfältigen Arbeitsweisen dar. Auf die zwischenzeitlich reichlich auch im Deutschen zur Verfügung stehende Primär- und Sekundärliteratur wird an entsprechender Stelle und am Ende des Buches hingewiesen. An einigen Stellen erforderte die »Metakonzeption« der Feldenkrais-Methode eine gewisse Redundanz der Darstellung, da bei der Betrachtung der Einzelaspekte zum besseren Verständnis immer wieder auf grundsätzliche Zusammenhänge verwiesen werden musste. In den kleiner gesetzten Abschnitten wird exemplarisch aus der konkreten Arbeit mit Patienten berichtet, in den kursiv gesetzten Abschnitten werden skizzenhaft praktische »Experimente« oder Teile von Feldenkrais-Lektionen für das persönliche Nachvollziehen dargestellt. Die Feldenkrais-Methode ist eine Lernmethode zur sicheren, besseren und genaueren Selbstwahrnehmung und Selbsterziehung. Ihr Verständnis erschließt sich nicht durch theoretische Erörterungen. Dem Leser, der von Grund auf verstehen und die Aussagen dieses Buches überprüfen möchte, sei deshalb empfohlen, sich mit der Lernmethode nach M. Feldenkrais und der eigenen Bewegungsorganisation auch praktisch auseinander zu setzen. Möge diese Darstellung der Feldenkrais-Methode im therapeutischen Kontext dazu anregen, diese außerordentlich interessante Lernmethode aufzugreifen, zu überprüfen und als Modell einer körperorientierten kognitiven Verhaltenstherapie (Körperverhaltenstherapie) zu nutzen. Denn: Lernen ist gesünder als Patient zu sem.

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1.2 Zwei Arten zu lernen Es gibt zwei grundsätzliche Arten des Lernens: das Nachmachen und Wiederholen oder das Suchen und Selberfinden. Und es gibt zwei Grundarten des Lehrens: das Vormachen und Erklären oder das Anregen zur Neugier, die Begleitung bei der Suche und das gemeinsame Auskosten der Entdeckung. Die erste Art des Unterrichts wird heute noch viel zu häufig angewendet, obwohl sie wirkliche Erfahrung verhindert und sich nicht eignet, authentische Persönlichkeiten zu bilden. Die zweite Art des Unterrichts verlangt vom Unterrichtenden ein intensives Bemühen, den Lernenden kennen zu lernen, zu wissen, wo er zu fragen beginnt, und zu erkennen, wie er lernt und in welchen Strukturen er denkt. Die zweite Art des Lernens und Lehrens kennzeichnet die Feldenkrais-Methode. Wesentliche Merkmale dieser Methode der »Wissensvermittlung« finden sich in modernen Konzepten von Pädagogik, Verhaltens- und Selbstmanagement-Therapien wieder. Grund genug, näher hinzuschauen. Hier eine Übung zum Suchen und Se/herfinden: Legen Sie sich auf den Rücken. Als Unterlage sollte Ihnen ein angenehmer, nicht zu weicher Untergrund dienen, z. B. eine Matte auf dem Boden. Spüren Sie, wie Sie in Kontakt mit dem Boden kommen. Der Kontakt des Körpers mit dem Boden gibt das Gefühl von Sicherheit und entlastet den Gleichgewichtssinn. Wo liegen Sie auf; welche Körperteile berühren den Untergrund, welche berühren ihn nicht? Wo liegen Sie fester, satter auf, wo leichter? Genau genommen liegt unser Skelett an weniger Stellen auf dem Boden auf, als wir oberflächlich glauben. Betrachten Sie den Boden unter Ihnen als einen Freund oder Partner, der Ihnen über die Berührung zurückmeldet, wie Sie Ihren Körper jetzt, in diesem Moment organisiert haben.

Die Feldenkrais-Methode ist eine Lernmethode anhand körperlicher Bewegung. Vordergründig »bewegen« wir uns in den Lektionen dieser Arbeit. Auch sind positive Wirkungen für unsere Bewegungsorganisation zu erwarten. Es geht aber um weit mehr. Im Vordergrund unseres Tuns stehen Empfindung und Wahrnehmung einer Bewegung, ihre Planung und das Spüren, wie wir sie realisieren. Die Suche nach Verbesserung und die Reflexion da13

rüber, wie und mit welcher Qualität wir unsere Versuche gestalten, stehen stärker im Vordergrund als die Bewegung selbst. Es geht mehr um das »wie« als das »was«. Die Situation ähnelt eher einem hypothesengeleiteten Experiment, einer wissenschaftlichen Untersuchung und eher einem Forschungslabor als einer Gymnastikstunde. Lassen Sie die Beine lang. Spüren Sie, wie Ihre Fersen auf dem Boden aufliegen. liegen sie rechts und links gleich oder ungleich auf? Liegt eine Ferse ein wenig weiter außen auf als die andere Ferse? Es kann sein, dass eine Ferse ein wenig mehr auf dem Außenrand aufliegt oder dass Sie bei einer Ferse einen breiteren Bodenkontakt empfinden als auf der anderen Seite. Wie ist die Ausrichtung Ihrer Füße im Raum? Zeigt eine Fußspitze mehr zur Zimmerdecke als die andere? Oder zeigt eine Fußspitze mehr zur Seite, zu einer Wand als die andere? Es kann sein, dass Sie das Gefühl haben, dass beide Füße, beide Fersen gleich liegen; es mag auch sein, dass Sie das Gefühl haben, sie liegen nicht gleich. Beginnt man eine Feldenkrais-Gruppenstunde im Liegen auf diese Weise, lässt sich etwas Interessantes feststellen: In der Gruppe gibt es keine zwei identischen Fußhaltungen. Jeder Teilnehmer organisiert die Lage seiner Füße anders und auf individuelle Weise, keiner genauso wie sein Nachbar. Die Fersen liegen bei dem einen näher zusammen, beim anderen weiter auseinander; die Fußspitzen sind im Raum unterschiedlich orientiert. Genügt diese einfache Beobachtung nicht schon, um sich sicher zu werden, dass es für die individuelle Organisation von Bewegung nicht eine Antwort für alle geben kann? Dass wir es getrost lassen können, nach »der« Bewegungsregel zu suchen? Die Fragen, die der Feldenkrais-Schüler erforscht, werden ebenso individuelle sein wie die Antworten, die er darauf findet. Damit müssen wir rechnen. Liegt Ihr rechter Fuß ein wenig anders als der linke - vielleicht nur ein kleiner, aber dennoch spürbarer Unterschied? Spüren Sie, wie die Waden aufliegen; bestehen rechts und links Unterschiede? Liegt eine Wade breiter auf als die andere? Das kann möglich sein. Wo liegen die Oberschenkel in Kontakt mit dem Boden? Vielleicht werden Sie feststellen, dass nicht der ganze Oberschenkel in Kontakt mit dem Boden ist. Liegt eine Beckenhälfte flacher auf als die 14

andere, breiter oder mehr in Kontakt mit dem Boden als die andere? Wenn wir uns genau beobachten, können wir unter Umständen feststellen, dass wir uns rechts und links unterschiedlich organisieren. Wir sind nicht immer so symmetrisch, wie wir meinen. Möglicherweise spüren Sie einen solchen Unterschied - oder auch keinen. Die Fragen des Feldenkrais-Lehrers sind stets »offene« Fragen. Insofern ist eine bestimmte Antwort nicht beabsichtigt. Wichtig ist allein, dass Sie sich in einen Zustand neugierigen Beobachtens versetzen. Der Schüler sollte nicht erwarten, dass er nur dann »richtig« oder »falsch« liegt, wenn er vermeintlichen Erwartungen entspricht, die er aus den Fragen herauszulesen meint. Das würde einem wirklichen Experiment nicht entsprechen. Schließlich kann ein Unterschied vorhanden sein, muss es aber nicht. Und es kann sein, dass er empfunden oder auch nicht empfunden wird. Der Feldenkrais-Schüler wird dies mit der Zeit leichter und leichter feststellen und entscheiden können.

Wie liegt der Rücken in Kontakt mit dem Boden? Wo ist der Rücken in Kontakt mit dem Boden? Wie ist es unter den unteren Wirbeln Ihrer Wirbelsäule, oberhalb des Beckens, wo sich die fünf Lendenwirbel befinden? Wie groß ist der Raum zwischen Lendenwirbelsäule und Boden? Wie groß schätzen Sie den Abstand? Nehmen Sie eine Hand und fühlen Sie, ob Ihre Schätzung präzise war. Wie liegt der übrige Teil des Rückens in Kontakt mit dem Boden? Wie liegen die Schulterblätter rechts und links? Liegt ein Schulterblatt flacher auf als das andere? Liegt ein Schulterblatt spitzer auf als das andere? Liegt Ihr Kopf bequem, oder benötigen Sie eine Unterlage? Am Beginn einer Feldenkrais-Lektion steht zumeist die bewusste Wahrnehmung der Ausgangssituation, eine Art Momentaufnahme. Eine Momentaufnahme unserer Körperorganisation und unserer Wahrnehmung davon; wie wir jetzt sind, liegen, stehen oder eine bestimmte Bewegung ausführen; wie wir uns dabei jetzt mit unserer kinästhetischen Wahrnehmung empfinden, jetzt, an diesem Tag, um diese Uhrzeit. Es kann sein, dass Ihnen dieses Bild öfter wieder begegnet, wenn Sie sich auf diese Weise weiter beobachten. Vielleicht stellen Sie aber auch mit der Zeit fest, dass und wie sich Ihr Körperbild verändert. Es wird interessant sein, ob 15

dieses Bild, unsere »Referenzgröße«, die wir jetzt wahrnehmen, am Ende der Lektion noch der Ausgangssituation entspricht, deutlicher oder verändert sein wird.

Spüren Sie, wie Ihre Arme rechts und links liegen. In einer Gruppe lassen sich oft alle möglichen Varianten beobachten, wie die Arme weniger oder mehr im Verhältnis zum Rumpf abgewinkelt oder wie die Hände im Raum orientiert sein können. Die Hände können in dieser Rückenlage auf dem Bauch liegen oder neben dem Rumpf Dort können die Handinnenflächen zum Boden, zum Körper oder zur Zimmerdecke hin geöffnet sein - wie haben Sie es organisiert? Ist der Winkel, den ein Oberarm zum Rumpf bildet, auf einer Seite größer? Ist der Raum in einer Achselhöhle weiter geöffnet als auf der anderen Seite? Ist der Arm auf einer Seite mehr gedreht, nach oben zur Zimmerdecke oder zum Boden hin, mehr als auf der anderen Seite? Falls Sie einen Unterschied der Arme feststellen, liegt das dazugehörende Schulterblatt flacher oder spitzer in Kontakt mit dem Untergrund? Ruhen Sie ein wenig aus; und kommen Sie erst dann wieder zu Ihren Erforschungen zurück, wenn Sie sich tatsächlich dazu wieder bereit fühlen: Beobachten Sie: Wie liegt Ihr Kopf? Liegt der Kopf mehr oberhalb oder unterhalb der Stelle auf, wo er sonst mit der Unterlage in Kontakt liegt? Wie groß, wie weit ist der Abstand zwischen dem Kinn und dem Brustbein? Wie weit ist der Abstand zwischen dem rechten Ohr und der rechten Schulter und der Abstand zwischen dem linken Ohr und der linken Schulter? Es kann sein, dass der Abstand unterschiedlich ist. Das kann mehrere Gründe haben. Es kann sein, dass der Kopf ein wenig geneigt ist, oder es kann sein, dass die Schultern unterschiedlich hoch sind, auf einer Seite höher, näher am Ohr sind als auf der anderen Seite. Kommen Sie noch einmal zurück zu dem Gesamtbild, das Sie von sich wahrnehmen. Liegen Sie auf einer Körperhälfte breiter, flacher oder mehr betont auf als auf der anderen? Das kann sein, muss nicht sein. Stellen Sie sich vor, Sie schwebten als Astronaut mit genau dieser Konfiguration Ihres Körpers durch das Weltall, ohne jeglichen Einfluss der Schwerkraft. Was wäre Ihr Körper im nächsten Moment bereit zu tun? Zu welcher Bewegung (Beugung, Neigung oder Drehung) wäre er im nächsten Moment hier, unter dem Einfluss der Schwerkraft, bereit? 16

Viele Menschen, die beginnen, ihre Körperorganisation genauer zu beobachten, wundern sich, wie ungleich sie sich bewegen, wie schief sie liegen oder wie einseitig sie bestimmte Dinge tun. Dies erscheint ungewöhnlich, weil das menschliche Nervensystem eher suggeriert, wir wären in beiden Körperhälften gleich und würden rechts und links über dieselben Fertigkeiten verfügen. Das symmetrische Bild von uns, das wir in uns tragen, mag »praktisch« sein. Aber schon der Alltag zeigt uns, wie sehr wir uns ungleich gebrauchen und dass wir rechts und links über unterschiedliche Fertigkeiten verfügen. Zudem hat kaum jemand auch objektiv gemessen zwei exakt gleich lange Beine oder Arme.

Kommen Sie noch einmal zurück zu der Wahrnehmung, wie Ihre Fersen aufliegen und Ihre Füße im Raum ausgerichtet sind. Ist es der gleiche Eindruck wie vorhin, oder hat er sich verändert? Überprüfen Sie noch ein kleines Experiment: Falten Sie die Hände so, dass die Finger ineinander verschränkt sind, ein Finger neben dem anderen liegt, und bilden Sie so mit den Handinnenflächen eine Art »Schale«. Legen Sie diese Schale unter den Kopf, sodass die Ellenbogen zur Zimmerdecke zeigen. Das soll helfen, dass Sie den Kopf gleich für einen kurzen Moment ein wenig anheben können, ohne dass sich viel an Ihrer Haltung verändert. Heben Sie auf diese Weise den Kopf kurz vorsichtig an und schauen Sie, ob die Lage Ihrer Füße dem entspricht, was Sie empfanden. Lassen Sie alles und ruhen Sie aus. Wir stoßen hier auf ein weiteres Phänomen: es gibt eine objektiv gegebene Form unseres Körpers und ein subjektives Bild, das wir davon in uns tragen. Beide können übereinstimmen, müssen es aber nicht. Feldenkrais spricht vom Ich-Bild, das wir in uns tragen. Es scheint erstrebenswert, dass Ich-Bild und objektives Körperbild übereinstimmen und dass wir auch bei körperlichen Mängeln alle Möglichkeiten ausschöpfen können.

Kommen Sie zurück, lassen Sie die Beine lang und spüren Sie, ob die kleine Pause etwas verändert hat. Die Bewegung, die Sie jetzt studieren können, erscheint sehr einfach: Ziehen Sie in Rückenlage ein Bein an, so als ob es aufgestellt werden sollte, und lassen Sie es wieder lang werden. Nehmen Sie sich etwas Zeit, diese Bewegung zunächst einmal alleine zu untersuchen. Beobachten Sie genau, wie 17

Sie sich organisieren, um immer wieder dasselbe Bein anzuziehen und wieder lang werden zu lassen. Wenn Sie genug erforscht haben, lassen Sie es und ruhen aus. Regt man Personen an, eine Bewegung genau zu erforschen, greifen sie häufig zu ähnlichen Hilfsmitteln: Sie führen die Bewegung eher ruhig und langsam aus, wiederholen sie unter verschiedenen »Blickwinkeln« und lassen die Bewegung teilweise kleiner werden oder realisieren nur Teile davon. Spontan verwenden sie dabei »Untersuchungstechniken«, wie sie die Feldenkrais-Methode kennzeichnen. Kleine und ruhige Bewegungen erlauben nach den Gesetzen menschlicher Sinnesphysiologie eine deutlichere Wahrnehmung. Es ist interessant, dass wir im Alltag, ohne es uns bewusst zu machen, seltener zu dieser Strategie greifen, wenn wir . eine Bewegung verbessern wollen ... Kommen Sie zurück und ziehen Sie das Bein doppelt so langsam an, wie Sie es zuvor gemacht haben. Spüren Sie, ob Sie mehr Informationen erhalten, je langsamer Sie die Bewegung ausführen. Wie organisieren Sie sich? Heben Sie das Bein von Anfang an an, sodass die Ferse den Boden verlässt? Oder wählen Sie eine andere Strategie, bei der die Ferse über den Boden rutscht? Was ist leichter und angenehmer: wenn die Ferse mit dem Boden in Kontakt bleibt, oder wenn Sie das ganze Bein vom Boden abheben? Im traditionellen Lernen ist wichtig, »was« wir lernen. In der Feldenkrais-Arbeit geht es mehr um das »wie« als das »was«. Der Prozess ist wichtiger und ist von der Absicht, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, zu unterscheiden. Lernen, »wie« man lernt, zielt auf eine Verbesserung des Lernens überhaupt und verbessert - natürlich - das »was«. Kommen Sie zu Ihrer Bewegung zurück, das Bein anzuziehen und wieder lang werden zu lassen. Beobachten Sie, ob Sie das Bein mehr über eine gedachte »Mittellinie« der Ferse rutschen lassen oder über die Außenseite der Ferse und des Fußes. Erproben Sie beide Möglichkeiten und spüren Sie, was für Sie bequemer ist. Dann lassen Sie es und ruhen aus. Feldenkrais-Lektionen unterscheiden sich von Gymnastikübungen, bei denen Bewegungen mehrfach wiederholt werden, um sie 18

»einzuüben«. Statt die gleiche Bewegung zehnmal, hundertmal oder noch öfter zu wiederholen, genügen wenige mit Bewusstheit und jeweils unter anderen Gesichtspunkten mit kleinen Variationen ausgeführte Bewegungen. Dies hat seinen Grund. Bewegung ist vorrangig eine Tätigkeit des Nervensystems. Eine gleiche Bewegung mehrfach auszuführen, ist für das Nervensystem vergleichsweise so interessant wie das Abrufen der gleichen Software auf einem Computer. Angenehme, variierte Bewegung birgt jedoch neue Informationen für das Nervensystem. Bewegungslernen gleicht dem Programmieren eines Computers. Es spielt für die Strukturbildung unseres Gehirns und bei der Konstruktion unserer objektiven Welt eine zentrale Rolle. Jeder Mensch hat über Bewegung die Welt begreifen gelernt. Kein Mensch hat als Kind mit den Techniken der Gymnastik oder des akademischen Lernens gelernt, sich zu drehen, zu robben oder zu krabbeln, sich aufzurichten, zu gehen und frei zu stehen. Dies geschah allein mit der Neugier und Leichtigkeit kindlichen Lernens. Diese ureigenste, angenehme Art des Lernens wiederzuentdecken, ist Thema der Feldenkrais- Methode.

Kommen Sie zurück, lassen Sie das Bein sich anziehen und lang werden und beobachten Sie diesmal, welche Bewegung Ihr Knie im Raum macht. Stellen Sie sich vor, ein Lichtpunkt auf Ihrem Knie würde im Dunkeln leuchten und fotografisch festgehalten wie das Licht vorbeifahrender Autos auf einer Nachtaufnahme. Welche Streifenmuster würde die Bewegung Ihres Knies auf dem Foto ergeben? Wäre es eine gerade Linie oder eine Kurve? Ist die Hinbewegung mit der Rückbewegung des Knies und des Beins identisch oder unterschieden? Stellen Sie fest, wie Sie sich spontan bewegen, und probieren Sie Variationen. Was ist die bequemste und befriedigendste Variante? Dann lassen Sie allesfür einen Moment und machen Sie eine Pause. In der Feldenkrais-Gruppenarbeit werden viele Pausen gemacht. Ruhepausen dienen dem Nervensystem, um die Empfindungen, die die Schüler bei ihrer Untersuchung wahrgenommen haben, zu verarbeiten. Sie können bewusst noch einmal die Bewegungen, die sie gemacht haben, in der Vorstellung nachempfinden. Sie können in der Pause feststellen, wie sie liegen. Sie können aber auch einfach »nichts« tun. Feldenkrais sagte, dass es bei der Ausübung sei19

ner Methode nur ein Gesetz gebe, nämlich dass es eben kein Gesetz gebe. Feldenkrais-Schüler werden motiviert, sich nicht unter fremde oder selbst entwarf ene Gesetze unterzuordnen, sondern eigenen Bedürfnissen zu folgen und die Gesetzmäßigkeiten des Lebens selbst zu entdecken. Das heißt, auch eine Pause immer dann einzulegen, wenn sie die Notwendigkeit dazu empfinden, oder Bewegungen zu variieren, wenn dies angenehmer ist. Wer lange genug mit langgestreckten Beinen liegt, kann sie beispielsweise in der Pause aufstellen. Feldenkrais-Schüler werden ermutigt, stets freundlich und fürsorglich mit sich umzugehen und nichts, aber auch gar nichts zu tun, was ihnen in irgendeiner Weise zuwiderläuft, unangenehme Gefühle macht oder gar Schmerzen bereitet. Nur dann kann Lernen gelingen. Kommen Sie zurück zu der Bewegung, lassen Sie das Bein sich aufstellen und lang werden, immer nur das gleiche Bein. Während Sie versuchen, dies mit immer größerer Qualität zu tun, beobachten Sie Ihre Atmung. Atmen Sie ein oder aus, wenn Sie das Bein anziehen? Oder halten Sie den Atemfluss an. Wenn Sie feststellen, dass sie eingeatmet haben, lassen Sie beim nächsten Mal Ihr Bein sich anziehen, wenn Sie gerade ausatmen. Und umgekehrt; erproben Sie die andere Möglichkeit und fühlen Sie, wie anders sich Ihre Bewegungsorganisation im Rücken anfühlt. Machen Sie eine Pause. Auf was für ein Phänomen sind Sie gestoßen? Falten Sie Ihre Hände noch einmal vor sich auf dem Bauch zusammen wie zu Beginn. Spüren Sie, wie Sie Ihre Hände gefaltet haben: welcher Daumen ist der oberste, der rechte oder der linke? Organisieren Sie Ihr Hände/alten anders, sodass Sie alle Finger um eine Position verschieben und jetzt der andere Daumen der oberste ist, dann folgt der Daumen der anderen Hand, der Zeigefinger der einen, dann der der anderen Hand usw. Spüren Sie, wie sich das anfühlt. Kommen Sie zurück und organisieren Sie Ihre Finger auf gewohnte Art. Es ist eine Gewohnheit, die Finger auf eine Weise zu falten und nicht anders. Gewohnheiten können so stark sein, dass es sich unangenehm und fremd anfühlt, z.B. die Finger auf andere Weise zu falten. So kann es eine Gewohnheit sein, eher ein- oder auszuatmen, wenn ich mein Bein anziehe. Auch die Art und Weise, die Arme vor der Brust zu falten oder im Sitzen ein Bein über das andere zu schlagen, folgt zumeist Gewohnheiten. Möglicherweise

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folgte auch die Wahl Ihres Beines, das Sie angezogen haben - war es das rechte oder das linke?-, einer unbewussten Entscheidung. Dass wir, wenn wir uns bewegen, Gewohnheiten ausbilden, ist praktisch und eine Voraussetzung, uns in unserer Umwelt angemessen zu bewegen. Es erscheint »klar«, dass eine Tür von dieser Seite mit der einen Hand und von der anderen Seite mit der anderen Hand zu öffnen ist. Der weit überwiegende Teil unserer motorischen Aktivität erfolgt unbewusst und automatisiert. In Abhängigkeit von unserer Lebensweise können bestimmte Gewohnheiten mit der Zeit aber mehr und mehr dominieren. Das Spektrum unserer Bewegungsmöglichkeiten grenzt sich ein. Alternative Möglichkeiten stehen plötzlich nicht mehr zur Verfügung. Das Alter, sagen wir dann, sei der Grund. Kommen Sie zurück zu dieser Bewegung, bei der Ihr - nennen wir es einmal so - »Bein der ersten Wahl« sich anzieht und aufrichtet, um schließlich wieder lang zu werden. Lassen Sie den Atem dabei fließen. Beobachten Sie, was mit Ihrem gesamten Rumpf geschieht. Wie bewegen sich Ihre Rippen? Welches Schulterblatt hat die Tendenz, ein wenig mehr als das andere über den Boden zu gleiten? Welche Beziehung ist in Ihrer Wahrnehmung deutlicher: Die Beziehung zwischen der Hüfte auf der Seite des »Arbeitsbeines« und der Schulter auf der gleichen Seite oder zwischen der Hüfte auf der einen Seite und der gegenüberliegenden Schulter? Beobachten Sie, ob und wie sich Ihr Kopf dabei bewegt. Spüren Sie, ob er sich auf der Unterlage ein wenig verschieben oder rollen will. Verändert sich der Abstand zwischen Kinn und Brustbein? Erlauben Sie Ihrem Kopf zur Seite zu rollen, wenn Sie das Bein anziehen. Rollt Ihr Kopf eher nach links oder nach rechts? Beides ist möglich. Probieren Sie es aus und kosten Sie von der alternativen Möglichkeit, sich zu organisieren. Fast immer tun wir aus Gewohnheit nicht das Bestmögliche. Fast immer tun wir zu viel. Selbst wenn wir einfach nur liegen und nichts zu tun meinen, unterscheidet sich unsere körperliche Organisation von der eines Bewusstlosen. Unser Bewegungssystem ist ständig aktiv. Wenn wir im Liegen ein Bein anziehen und gleichzeitig den Fuß und die Zehen nach oben anheben, verrichten wir unnütze Arbeit, die nicht zielgerichtet ist. Wenn wir in derselben 21

Lage ein Bein anziehen und unser Kopf hat für uns keine merkliche Tendenz, sich dabei zu einer Seite zu neigen oder zu rollen, dann halten wir ihn unbewusst fest. Wir verrichten, ohne es eigentlich zu wollen, unnütze Haltearbeit. Feldenkrais spricht hierbei von »parasitären Bewegungen«. Denken Sie über alles nach, was Sie erforscht haben: die Bewegung des Fußes, des Beines im Raum, die Organisation des Rumpfes, der Atmung, der Schulter, des Kopfes. Stellen Sie sich vor, wie es sich anfühlt, wenn Sie aus allen Alternativen, die Sie erforscht haben, die Angenehmste wählen und den einfachsten Weg benutzen, um eine harmonische und befriedigende Bewegung zu organisieren, bei der Sie Ihr Bein anziehen und wieder lang werden lassen. Führen Sie die Bewegung einige Male aus und genießen Sie es. Ruhen Sie dann aus. Spüren Sie, wie Sie jetzt am Ende dieser langen »Forschungsreise« liegen. Was fällt Ihnen als erstes auf? Wie fühlen sich die beiden Körperhälften an? Fühlt sich eine Seite wärmer, gefüllter, lebendiger an? Erscheint Ihnen ein Bein länger? Welches Bein? Welches Auge liegt tiefer in seiner Augenhöhle? Wie fühlt sich die Zunge an? Auf welcher Seite ist mehr Raum? Erscheint Ihnen eine Gesichtshälfte entspannter? Wie liegen Sie im Vergleich zu der Momentaufnahme zu Beginn der Lektion? Wird Ihnen das bekannte Bild deutlicher oder hat es sich verändert? Wie ist Ihr Kopf jetzt geneigt? Hat sich die Lage der Arme verändert? Ist der Raum unter beiden Achselhöhlen unterschiedlicher geworden? Wie liegen die Beine zueinander; wohin zeigen die Fußspitzen im Raum? Kommen Sie langsam zum Sitzen und zum Stehen. Schließen Sie für einen Augenblick die Augen und spüren Sie, wie gerade oder schief Sie stehen. Auf welchem Bein stehen Sie mehr auf? Welche Körperhälfte erscheint Ihnen sicherer, größer? Gehen Sie einige Schritte und spüren Sie die Wirkungen dieser Lektion auf Ihr Gangbild. Dieses Kapitel ahmt ein wenig die Struktur des Gruppenunterrichts in der Feldenkrais-Methode nach, den Rhythmus von Tun und Pausieren, Handlung und Reflexion. Beides sind wesentliche Elemente menschlichen Lernens. Das eine ist ohne das andere unvollkommen. Vielleicht haben Sie aus Mangel an Zeit oder einer Gewohnheit folgend nur den gerade, »recte« gesetzten Text gelesen. Sie haben dann

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nach der gängigen Art des Lernens Informationen aufgenommen. Konnten Sie sich Zeit nehmen, dem kursiv gesetzten Text folgen und ihn umsetzen, so haben Sie eher gelernt, wie es die Feldenkrais-Methode ermöglicht: körperlich, fassbar, lustvoll und einfach.

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2.

Der therapeutische Kontext

2.1 Psychosomatik in der Medizin Der Versuch, Begriffe wie »Psychosomatik« oder »psychosomatische Medizin« zu definieren, führt zu Grundsatzfragen und zu einem grundsätzlichen Dilemma heutiger Medizin. Mit der Hinwendung zur naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise organischer und körperlicher Aspekte von Krankheiten hat die Schulmedizin zweifellos mehr erreicht als alle Medizinschulen in der Menschheitsgeschichte zuvor. Dabei folgte sie einem biomechanischen Konzept, physikalisch-chemisch fassbare Krankheiten im Idealfall ursächlich bekämpfen zu können. Die Entwicklung der Psychotherapie durch Sigmund Freud und seine Definition der Seele als »psychischem Apparat« übertrug diese mechanistische Auffassung auf den Bereich des Geistigen, den anderen Polabendländisch-dualistischen Denkens: das eigentliche Zeitalter der dualistischen Medizin begann (Von U exküll & W esiak 1996). Diese Trennung prägt unser Gesundheitssystem noch heute. Auf der einen Seite operieren, be-handeln und »manipulieren« Ärzte organische, somatische Krankheiten, während auf der anderen Seite Psychotherapeuten mit Worten kommunizieren und »intervenieren«. Beide Gruppen arbeiten in der Regel getrennt voneinander und finden nur selten eine gemeinsame Sprache. Ideengeschichtlich kann das heute durchweg praktizierte biomechanische Konzept der »modernen« westlichen Schulmedizin als eine Entwicklung des 19. Jahrhunderts, gestützt auf die Weltanschauung des 17. Jahrhunderts, betrachtet werden (Engel 1996). Hieraus erwächst ein erheblicher »Nachholbedarf der Medizin«. Denn sie hat »verabsäumt, die erforderlichen Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass die Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert ihre damaligen Voraussetzungen radikal revidiert haben« (Von Uexküll & Wesiak 1996, S. 16). Die wesentlichen Unterschiede liegen in der Wahrnehmung und Berücksichtigung wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Voraussetzungen. Diese lehren uns, dass auch Wissenschaften geschlossene Erfahrungssysteme darstellen, die ihre spezifischen Realitäten erzeugen, und dass 24

Menschen nicht nach den Gesetzen mechanischer Kausalität funktionieren. Vielmehr konstruieren sie zur Gänze ihre eigene Wirklichkeit ebenso, wie jedes lebende System, auch die kleinste Zelle, als »Einheit des Überlebens« den eigenen Sollgrößen und Codes folgt. Die entsprechenden Theorien aus Semiotik, Kybernetik, Neurobiologie und Systemtheorie tangieren traditionelle Vorstellungen von Medizinern und Patienten genauso wie alle anderen relevanten Bereiche unserer Kultur: Erziehung, Schulbildung, Ökonomie oder Ökologie (z.B. Von Foerster 1985, Vester 1997). Für die Medizin bieten sie möglicherweise Brücken zur Überwindung des alten Dualismus-Problems, der Trennung von Leib und Seele. Betrachtet man den menschlichen Organismus mit den neuen Erkenntnistheorien als ein nach außen wie innen gerichtetes Kommunikationssystem, das sich zugleich aus einer Anzahl von Subsystemen zusammensetzt, besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen dem Informationstransfer durch mechanisch-physikalische oder anders codierte »Informationen«, kurzum kein wesentlicher Unterschied mehr zwischen einer Medizin der »Eingriffe von Hand« und einer Medizin der »Interventionen durch Worte« (Von Uexküll & Wesiak 1996, S. 31, in Anlehnung an Weiner 1989). Auf dem Hintergrund des abendländischen, dualistischen Weltbildes beansprucht der Begriff »Psycho-somatik«, medizinischem Sprachgebrauch folgend, eine »ganzheitliche«, Psyche wie Soma (Körper) umfassende Arbeitsweise. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde der Begriff der »Psychosomatose« auf solche Störungen eingegrenzt, bei denen man eine primär psychische Ursache annahm. Nicht zuletzt auf dem Hintergrund der eingangs erwähnten systemischen und erkenntnistheoretischen Ansätze ist heute die Tendenz erkennbar, »Psychosomatik« als eine den anderen medizinischen Fachdisziplinen übergeordnete und in der Praxis in ihnen zu verankernde medizinische Disziplin mit einem eigenständigen diagnostischen und therapeutischen Instrumentarium zu verstehen. Hintergrund dieser Entwicklung ist die rapide zunehmende Fülle empirischer medizinischer Daten, die die Trennung von Psyche und Soma als Scheingegensatz und eine Unterscheidung zwischen rein somatischen und rein psychischen Erkrankungen als weder theoretisch noch empirisch haltbar erscheinen lassen. Insbesondere Daten aus der experimentellen Psychophysiologie und der Psychoneuroendokrinologie weisen bei aller noch be25

stehenden Lückenhaftigkeit auf die Zusammenhänge etwa zwischen hormonellem, immunologischem, neuralem und motorischem System hin und lassen eine Trennung zwischen Körper und Psyche bei der Behandlung von Menschen mehr und mehr als künstlich erscheinen (Überblicke: Birbaumer & Schmidt 1996; Dudel, Menzel & Schmidt 1996). Folgerichtig hat sich in der Psychosomatik zunehmend eine multikausale, multideterminierte oder multifaktorielle Betrachtungsweise diagnostischer und therapeutischer Fragestellungen durchgesetzt. Zur Beschreibung kann das von vielen psychosomatischen Schulen akzeptierte bio-psycho-soziale Systemmodell (nach Engel 1977 und Schwartz 1982) herangezogen werden. Danach entwickelt sich »Krankheit« auf miteinander vernetzten biologisch-medizinischen, psychischen und sozialen Ebenen und wirkt sich auf diese wiederum aus.

2.2 Bio-psycho-soziales Konzept Das bio-psycho-soziale Konzept zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Erkrankungen kann am Beispiel rheumatischer Erkrankungen dargestellt werden (Klinkenberg & Thieme 1997). Bei den meisten Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis werden in der Schulmedizin keine psychosozialen Ursachen erwogen. Ausnahmen bilden lediglich das Fibromyalgiesyndrom oder das Chronische Müdigkeitssyndrom. Die »biologischeBelastung«, d. h. die rein körperliche Belastung rheumatischer Patienten, ist bedeutend ..Rheumatische Erkrankungen sind in der Mehrzahl chronisch fortschreitende Erkrankungen . mit immer wiederkehrenden Schmerzen. Ursächlich können die meisten rheumatischen Erkrankungen kaum und symptomatisch nur in begrenztem Maß behandelt werden. Die immer noch nur schwer behandelbaren weichteilrheumatischen und degenerativen Erkrankungen machen den Großteil, etwa 90-95%, der Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises aus. Die kleinere Gruppe der Kollagenosen und Vaskulitiden können durch Befall lebenswichtiger Organe unbehandelt einen außerordentlich bedrohlichen Verlauf nehmen. Alle rheumatischen Erkrankungen können direkt oder indirekt weitere körperliche Belastungen hervorrufen.

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So neigen Patienten mit Glieder- oder Rückenschmerzen zu einem Schonverhalten, das seinerseits über die Zeit hinweg zu Fehlbelastungen, Muskelatrophien und zur Beeinträchtigung der motorischen Koordination und des motorischen (kinästhetischen) Selbstbildes führen kann. Schmerzen, Müdigkeit und Leistungsminderung führen zu weiteren psychosozialen Belastungen. Schließlich können unerwünschte körperliche und psychische Nebenwirkungen einer medikamentösen Rheumatherapie auftreten. Die psychischen Belastungen rheumatologischer Patienten stellen größtenteils eine Folge des chronischen Verlaufs der Erkrankung dar. In psychologischen Untersuchungen weisen Rheumapatienten wie auch andere chronisch Kranke gegenüber Gesunden erhöhte Werte für Depressivität und Ängstlichkeit auf. Spezifische Persönlichkeitsfaktoren für die Entstehung von Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises ließen sich bisher in zahlreichen epidemiologischen und retrospektiven Studien nicht sichern. Psychischen und sozialen Faktoren kommt aber eine größere Bedeutung für das Schmerzerleben rheumatischer Patienten zu als der Schmerzcharakter selbst oder der Nachweis arthritischer Gelenkveränderungen. Untersuchungen von Patienten mit Rheumatoider Arthritis und mit funktionellen Rückenschmerzen weisen auf die Bedeutung inadäquater Stressbewältigung hin: So erscheinen Zusammenhänge zwischen als belastend erlebten Lebensereignissen (»critical lifeevents«, z.B. Verlust von Bezugspersonen, Ehekrisen usw.) und einem ungünstigeren Verlauf der Erkrankung wahrscheinlich. Eine inadäquate Stresswahrnehmung und -verarbeitung tragen zur Aufrechterhaltung einer muskulären Dysbalance und chronischer Rückenschmerzen bei. Dazu passen psychoneuroimmunologische Erkenntnisse über die Beeinflussung der Immunkompetenz durch stressreiche Ereignisse sowie psychophysiologische Untersuchungsergebnisse einer ausgeprägteren Muskelspannung infolge psychischen Stresses bei Patienten mit Rheumatoider Arthritis. Für die Entstehung eines chronischen Schmerzverhaltens ist die Art der persönlichen Bewältigung (Coping-Stil) von potentiellen Belastungen (Stressoren) und unangenehmen Reizen bedeutsam: Eine Gruppe von Schmerzpatienten antwortet darauf mit Unterdrückung des Ausdrucks von Emotionen bei gleichzeitiger muskulärer Hyperaktivität. Eine andere Gruppe neigt zu Aufgabe,

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Rückzug, Inaktivität und Immobilität mit degenerativen Folgen für Muskulatur und Gelenke. Beide Bewältigungsformen sind unzweckmäßig.

Die sozialen Folgen rheumatischer Erkrankungen sind erheblich. Sie betreffen in hohem Maß den Beruf, z. B. durch Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit, negative Veränderungen des sozialen Status, z. B. erhöhte Scheidungsrate, finanzielle Einschränkungen, Beschränkungen der Mobilität, Beeinträchtigungen der Freizeitaktivitäten und der physischen Unabhängigkeit (Abhängigkeit von Hilfsmitteln, Unterstützung durch andere) oder das Patienten-Arzt-Verhalten (häufige Arztbesuche, Krankschreibungen, Therapiecompliance usw.). Als unzureichend erlebte soziale Unterstützung, unbefriedigende Berufswahl und exzessives Arbeitsverhalten werden als bedeutsame Faktoren für die Entwicklung einer chronischen Schmerzerkrankung diskutiert. Wie die Beispiele zeigen, können die bio-psycho-sozialen Auswirkungen individuell sehr unterschiedlich sein. Psycho-soziale Beeinträchtigungen können derart im Vordergrund des Krankheitsgeschehens stehen, dass die zugrunde liegende körperliche Schädigung demgegenüber in einer Gesamtsicht oft »geringfügig« erscheint. Medizinische Bezeichnungen der Erkrankung, die sich wesentlich an Ursächlichkeiten und biologischen Manifestationen orientieren, werden diesen Folgeerscheinungen der Gesundheitsstörung nicht gerecht. Die Weltgesundheitsorganisation hat deshalb auch neben der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) eine Klassifikation der Schädigungen (impairments), Fähigkeitsstörungen (disabilities) und sozialen Beeinträchtigungen (handicaps) (ICIDH) vorgeschlagen, um eine empfindlichere und umfassendere Sichtweise der individudlen Gesundheitsstörung als komplexem Prozess zu ermöglichen (Matthesius et al. 1995; WHO 1995). Diese Bemühungen müssen positiv bewertet werden, da sie - bei allen Schwierigkeiten im Detail - Bausteine eines notwendigen Umbruchs in Theorie und Praxis der Medizin darstellen (Laireiter 1993). Das angeführte Beispiel macht anschaulich, dass den vielfältigen bio-psycho-sozialen Problemenrheumatologischer Patienten nur durch eine Diagnostik und Therapie Rechnung getragen werden kann, die alle Aspekte in die diagnostische und therapeutische Arbeit einbezieht, die therapeutischen

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Ziele auf allen Ebenen konkretisiert und gewichtet und diese unter Einbindung multidisziplinärer Kompetenz zweckmäßig und pragmatisch umsetzt. Es ist dabei wichtig, nicht zu vergessen, dass sich das ganzheitliche bio-psycho-soziale Konzept nicht lediglich in einer »guten Zusammenarbeit« unterschiedlicher Berufsgruppen, z.B. zwischen Arzt, Psychologe und Sozialarbeiter, erschöpft. Den Psychologen zu rufen, wenn der Arzt nicht mehr weiter weiß, kommt nicht nur zu spät, sondern bedeutet die Fortschreibung des konservativen dualistischen Krankheitsverständnisses und die Spaltung der Behandlung in eine so kritisierte »Medizin der seelenlosen Körper« (v. Uexküll) auf der einen und eine dem Somatischen gegenüber distanzierte Psychotherapie auf der anderen Seite.

2.3 Verhaltensmedizin Verhaltensmedizin ist eine eher junge Anwendungswissenschaft innerhalb der medizinischen Spezialisierungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Überblick: Kryspin-Exner 1998). Sie umfasst die Anwendung verhaltenstherapeutischer bzw. klinisch-psychologischer Ansätze in der Medizin (Vogel & Weber-Falkensammer 1997). Nach Schwartz und Weiss (1978) wird Verhaltensmedizin begriffen als »ein Forschungsfeld, das sich mit der Entwicklung und Integration der für die Gesundheits- und Krankheitsprobleme relevanten Wissenschaften und mit der Anwendung dieser Erkenntnisse und Techniken im Hinblick auf die Prävention, Diagnose, Behandlung und Rehabilitation beschäftigt«. Hinter dieser breiten Arbeitsdefinition verbergen sich wesentlich innovative Aspekte und Perspektiven für die Medizin sowie folgende Besonderheiten, die die Verhaltensmedizin von den rein somatischen Fächern der Medizin grundsätzlich unterscheiden: 1. Das traditionelle medizinische Denken fasst »Krankheit« als Ausnahme vom normalen Zustand einer inhaltlich nur vage umschriebenen »Gesundheit« auf. Demgegenüber neigen verhaltensmedizinische Konzepte eher zur Auffassung, dass Menschen immer nur mehr oder weniger krank und gesund sind und dass völlige »Krankheit« und »Gesundheit« eher als Pole auf einem

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Kontinuum zu betrachten sind, Menschen also nur »relativ gesund« und »überwiegend krank« oder »relativ krank« und »überwiegend gesund« sind. Verhaltensmedizinische Ziele implizieren deshalb einen Abbau von defizitärem Verhalten und eine prophylaktische und Rückfälle verhindernde Gesundheitsförderung (Broda 1987; Lutz & Mark 1995; Amann & Wipplinger 1998). 2. Während das klassische schulmedizinische Denken Krankheit als Folge einer möglichst definierbaren und eliminierbaren Krankheitsursache auffasst, fordert Verhaltensmedizin die Berücksichtigung aller Bedingungen von Krankheit und Gesundheit. Diese Bedingungen sind vielfältig (bio-psycho-sozial) und für den subjektiven wie objektiven Krankheitsverlauf bedeutsam. folgerichtig richtet die Verhaltensmedizin ihre Aufmerksamkeit auch auf Prävention und Rehabilitation von Krankheit. Es bestehen Parallelen zur psychosomatischen Medizin und deren (ganzheitlichen) Konzepten. (Allerdings beschränkt sich Verhaltensmedizin nicht allein auf die Behandlung psychosomatischer Erkrankungen, wie sie sich auch nicht in der Anwendung der Verhaltenstherapie als spezieller Psychotherapiemethode erschöpft.) 3. Weiteres Merkmal der Verhaltensmedizin ist die »Analyse der multiplen Bedingungen [von] Störungen unter interdisziplinärem Aspekt« (Reinecker 1987). Während dies in der traditionellen Schulmedizin bisher lediglich in Ansätzen realisiert wurde, haben sich insbesondere in der stationären Verhaltensmedizin in bedeutendem Umfang Modelle einer wirklichen Kooperation von Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern, Bewegungs- und Physiotherapeuten und vielen anderen Spezialisten etabliert. Den multiplen Bedingungen der Entstehung von Störungen entsprechen ähnlich umfassende »netzwerkorientierte Interventionen«, die auf soziale Netzwerke und Unterstützungssysteme als Ressourcen zurückgreifen (Röhrle 1998). 4. Darüber hinaus wird die Arbeitsweise der Verhaltensmedizin nachhaltig von der Verhaltenstherapie als Grundlagenfach und (psycho-)therapeutischer Methode geprägt. Die moderne Verhaltenstherapie hat ihre historischen Wurzeln im Behaviorismus und die häufig kritisierte »mechanistische Begrifflichkeit« der frühen Verhaltenstherapie weit hinter sich gelassen und ist heute durch das 30

Zusammenwachsen kognitiver und behavioraler Ansätze geprägt. Hervorstechende Merkmale der » kognitiven Verhaltenstherapie« sind ihre wissenschaftliche Begründung in der empirischen Psychologie, die Problem-, Ziel- und Handlungsorientierung der Therapie auf der Grundlage eines hypothetischen Bedingungsmodells der Problemsituation sowie vor allem die aktive Einbindung des Patienten in den Therapieprozess zur W eckung von Ressourcen und Hilfe zur Selbsthilfe (Margraf & Lieb 1995; Margraf 1996). 5. Damit versuchen verhaltensmedizinische Ansätze »überspitzt formuliert ... , in der Medizin ein ausgeprägt humanistisches Vorgehen zu verwirklichen« (Vogel & Weber-Falkensammer 1997). Als zugrunde liegende Konzepte sind neben der Programmatik der Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (Sacher 1998) vor allem das Konzept der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1979, 1987), die Arbeiten der Coping-Forschung sowie das Selbstmanagement-Modell von Kanfer u. a. zu nennen. Diese Konzepte unterscheiden sich gegenüber gewohnten Vorgehensweisen von Medizin und Psychotherapie nicht nur durch die Auswahl der in den Blick zu nehmenden Themen, sondern auch durch die Beziehungsgestaltung und Vorgehensweise im therapeutischen Prozess. Antonovsky (1979, 1997) plädiert in seinem Konzept der Salutogenese für die Identifikation gesundheitsfördernder schützender Ressourcen des Patienten. Gesundheitsfördernde Faktoren bestehen in einem möglichst ausgeprägten Gefühl von Machbarkeit, Verstehbarkeit und Bedeutsamkeit von Handlungen sowie einem effektiven Widerstand gegen Stressoren. Antonovsky sieht das allen Widerstandsressourcen Gemeinsame in einem von ihm so genannten »sense of coherence« (Kohärenzgefühl), einem »Gefühl des Vertrauens ... , dass die eigene interne und externe Umwelt vorhersagbar ist und dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass sich die Dinge so entwickeln werden, wie vernünftigerweise erwartet werden kann« (Antonovsky 1997, S. 16). Eine effektive Bewältigung (Coping) von Problemen besteht nach Lazarus und Folkman (1984) in dynamischen Anpassungsprozessen bei der Auseinandersetzung mit internen und externen Anforderungen. Diese gelingen insbesondere dann, wenn die entsprechenden Per31

sonen davon überzeugt sind, über Fähigkeiten zur Bewältigung zu verfügen (»self efficacy« nach Bandura 1977, Broda 1987; Heim 1998). Entsprechend stellt das Selbstregulationsmodell von Kanfer, Reinecker und Schmelzer (1991) als wesentlichen Bestandteil therapeutischer Bemühungen den Aufbau von Selbstvertrauen und Fähigkeiten zur besseren Kontrolle über Verhaltens- und Erlebensbereiche in den Mittelpunkt. Wichtigster Leitgedanke ist, »Menschen (unter gezielter Nutzung psychologischer Gesetzmäßigkeiten) dazu zu befähigen, ihr Leben (wieder?) selbst zu gestalten und möglichst bald von Therapie und Therapeuten unabhängig« werden zu lassen (Schmelzer 1997, vgl. auch Reinecker & Schmelzer 1996). Der therapeutische Prozess gelingt danach nur als kooperative Arbeitsbeziehung (»therapeutische Allianz«), in der dem Therapeuten eine katalysatorische Funktion bei der gemeinsamen Erarbeitung einer funktionalen Situationsanalyse und der Ableitung von Therapiezielen zukommt, die dann schrittweise angegangen, jedoch immer wieder als hypothetische Modelle revidiert werden können (Klinkenberg & Rüddel 1997). Durch diese Vorgehensweise berücksichtigt die Selbstmanagement-Therapie in besonderer Weise die subjektiven Erfahrungs-, Ziel- und Wertsysteme der Personen und rückt in eine Nähe zu den Grundannahmen des Konstruktivismus, nach denen jede »objektive Welt« letztlich nur subjektiv erfahren und gebildet wird. Die dargestellte Ressourcenorientierung der Verhaltensmedizin ist bedeutsam, weil sie empirisch belegbar und theoretisch höchst plausibel als »ein primäres Wirkprinzip der Psychotherapie« angesehen werden kann, das als »pervasives Wirkprinzip« den ganzen Therapieprozess durchzieht. Die Ressourcen der Patienten haben »für die Indikation und Wirkung von Psychotherapien eher eine noch größere Bedeutung ... als die Art ihrer Probleme«. Während die Ziele einer Therapie unter der Problemperspektive zu bestimmen sind, erscheint demnach »für die Art, wie die therapeutischen Veränderungen herbeigeführt werden sollen, . . . der Ressourcenaspekt eher wichtiger als der Problemaspekt« (Grawe & GraweGerber 1999).

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2.4 Psychosomatische Rehabilitation Innerhalb des öffentlichen Gesundheitssystems in Deutschland haben sich die vorgenannten umfassenden Sicht- und Herangehensweisen medizinischer Behandlung am ehesten im Bereich der medizinischen und vor allem der psychosomatischen Rehabilitation durchsetzen können. Aufgrund medizinisch und volkswirtschaftlich sinnvoller politischer Entscheidungen (Rentenreform 1957, Reha-Angleichungsgesetz 1974, SGB V, VI usw.) konnte sich in Deutschland seit den 60er Jahren »ein spezialisierter medizinischer Leistungskomplex« (Baumann 1992) entwickeln, der umfangs-, leistungs- und effektivitätsmäßig seine historischen Wurzeln in der Blinden- und Gehörlosenpädagogik, in der TBC-Behandlung und im sog. Kurwesen weit hinter sich gelassen hat. Als Grundsätze moderner Rehabilitation können genannt werden: 1. die Frühzeitigkeit des Einsetzens rehabilitativer Leistungen auf der Grundlage einer umfassenden Funktionsdiagnostik, 2. individuelle Rehabilitationsplanung, 3. Kontinuität und Nahtlosigkeit im Zugang zu den Rehabilitationsleistungen, 4. Integration aller notwendigen Leistungen, 5. Ganzheitlichkeit im Sinne des bio-psychosozialen Konzepts, 6. Ausrichtung der interdisziplinär erbrachten Leistungen auf ein gemeinsames Rehabilitationsziel und 6. Hilfe zur Selbsthilfe, 7. systematische Qualitätssicherung (nach Bundesärztekammer 1996; VDR 1996). Mit rund 14000 stationären Therapieplätzen hat die psychosomatische Rehabilitation einen bedeutenden Anteil an der Behandlung von psychosomatischen und somato-psychischen Erkrankungen (Lamprecht 1996), der allerdings durch politische Sparmaßnahmen in den letzten Jahren beschnitten wurde (Spyra et al. 1997). Es mag mit einem besonderen Rechtfertigungsdruck zusammenhängen, dass es die psychosomatische Rehabilitation war, die »ihre allgemeine Effektivität und Effizienz im Vergleich zu den somatischen Disziplinen bereits sehr viel früher nachweisen« konnte (Wille & Irle 1996). In mehreren großen Studien gelang es, die Leistungen psychosomatischer Rehabilitation, ihre individuelle Wirksamkeit und ihre Wirtschaftlichkeit für das Gemeinwesen differenziert aufzuzeigen (Schmidt et al. 1991, Sandweg et al. 1991, Zielke 1993, Broda et al. 1996). In etwa der Hälfte der Rehabilitationseinrichtungen werden verhaltenstherapeutische Verfahren angewendet, etwa ein Viertel arbeitet ausschließlich verhaltenstherapeutisch. 33

3.

Körperverhaltenstherapie

Körperverfahren sind in Mode. »Wenn so viele Menschen heute neues Interesse am Körper bekunden, so ist dies vielleicht auch ein Zeichen der Suche nach der verloren gegangenen existenziellen Mitte des modernen Menschen« (Milz 1998). Rührt hieraus auch das zunehmende Interesse von Psychotherapeuten und Patienten an körpervermittelten Psychotherapieformen? Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich eine heute fast unübersehbar gewordene Zahl unterschiedlichster Körpertherapierichtungen entwickelt. Im Versuch einer Typologie der »körpervermittelten Therapien« unterscheiden Fortini und Tissot (1997) »körperorientierte Psychotherapien« von »Körpertherapien«. Erstere benutzen körperliche Vermittlung als psychotherapeutische Unterstützung und zielen auf psychische Konfliktbewältigung mit Hilfe des Körpers ab, während die Gruppe der Körpertherapien am Körper und mit dem Körper an einer Verbesserung körperlicher Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und Realisationsmöglichkeiten arbeitet. Quer zu diesen beiden Gruppen können ferner Therapien ausgemacht werden, die sich an Patienten richten, und solche, die zur Verbesserung der Lebensqualität ihrer Klienten beitragen wollen. Die Grenzen zwischen den genannten Gruppen sind unscharf.

3.1 Körperorientierte Psychotherapie in der Psychosomatik Für Psychosomatik und Psychotherapie haben insbesondere die neoreichianischen Richtungen, die Bioenergetik (Lowen 1988), die Biodynamische Psychotherapie nach Gerda Boyesen, die tiefenpsychologisch orientierte Körpertherapie nach George Downing (Downing 1996), die Körperzentrierte Psychotherapie (Maurer 1987), die Integrative Leib- und Bewegungstherapie (Petzold 1996, Hausmann & N eddermeyer 1996) sowie die aus Reformgymnastik und Ausdruckstanz vor dem II. Weltkrieg entstandenen Methoden der Konzentrativen Bewegungstherapie, Funktionellen Entspannung und Tanztherapie Bedeutung erlangt. Diese

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Verfahren verstehen sich entweder als psychotherapeutische Verfahren im direkten Sinn oder stellen einen integrativen Bestandteil tiefenpsychologisch orientierter Behandlungs-Settings dar. Die Verbindung der genannten Körperpsychotherapieverfahren mit tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie wird zwar wie etwa bei der aus der Gymnastik von Elsa Gindler (Gindler 1926) hervorgegangenen Konzentrativen Bewegungstherapie (Becker 1989, Gräff 1989, Stolze 1989) nur als »eine der therapeutisch möglichen Kombinationen« verstanden, stellt »jedoch die wichtigste« und de facto bisher einzige therapeutische Ausformulierung dieser Methode dar (Stolze in Becker 1989, S. VIII). Eine ähnliche Verbindung zwischen tiefen psychologisch fundierter Psychotherapie und körperbezogenem Verfahren besteht auch im Falle der Funktionellen Entspannung (Fuchs 1984, Uexküll et al. 1994) oder der Tanztherapie (Siegel 1991). Tiefen psychologisch geprägte Terminologie und Vorstellungen überwiegen schließlich auch in den Körpertherapieschulen, die eher den Humanistischen Verfahren zugerechnet werden und unter dem Begriff »Klinische Bewegungspsychotherapie« (Petzold 1990) zusammengefasst werden können. Für diese Entwicklungen spielen historische Gründe eine nicht unwesentliche Rolle. Die Festlegung auf die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie beinhaltet jedoch erhebliche Implikationen für die inhaltliche Gestaltung von Körperpsychotherapie, nämlich als »Verfahren, die den Körper eher als ,Mittel< betrachten, um bisher unzugängliche Emotionen, Affekte, Vorstellungen zu erreichen« (Müller-Braunschweig 1997). Das heißt: Körperpsychotherapie dient in diesen Konzepten grundsätzlich einer (letztlich verbalen) Psychotherapie mit Unterstützung einer Arbeit »über« den Körper statt »am« Körper und wird von Techniken zur Verbesserung der Lebensqualität (sie!) unterschieden (Fortini & Tissot 1997). Die Zuordnung zur Psychotherapie wird dabei in der Regel grundsätzlich so verstanden, dass Körperarbeit als Quelle psychotherapeutisch zu bearbeitender Inhalte und Themen dient und den klassischen verbalen Psychotherapieverfahren untergeordnet wird. »Psychotherapeuten nutzen Signale des Körpers, um verdrängte Gefühle zu entschlüsseln« und »die Botschaften des Körpers zu entziffern« (Geuter 1997). Beispielhaft seien dazu die von Schütz 35

(1987) formulierten Grundthesen zur »Körperpsychotherapie analytischer Orientierung« angeführt: 1. Trost und Wohlbehagen als Inhalt und/oder Ziel körperbezogener Psychotherapie seien ein Missverständnis. Der Zugang zu den dahinter liegenden psychischen Konflikten werde verschüttet, »wenn mittels entlastender Angebote die Schmerzen oberflächlich und kurzfristig durch entsprechende Maßnahmen verschwinden«. 2. Eine analytisch orientierte Körperpsychotherapie könne deshalb nicht an »Krankengymnastinnen oder Vertreter ähnlicher Sparten« delegiert werden. Inhalt dieser Arbeit sei Psychotherapie und setze somit eine psychotherapeutische Aus- bzw. Weiterbildung voraus. 3. Die durch die Körperarbeit bewirkte verbesserte Wahrnehmungsfähigkeit, die Sensibilisierung und die Bewusstwerdung von Erlebnisinhalten stellten noch keine Psychotherapie mit dem Medium Körper dar, sondern seien lediglich »die Vorstufe für das Durcharbeiten vorhandener und bewusst werdender Konflikte.« Diese Akzentuierung von Körperpsychotherapie führt dazu, dass in den meisten Falldarstellungen körperliche Symptome, auch wenn sie noch so sehr somatischer Natur sind, durchweg nur von der psychologischen bzw. psychotherapeutischen Seite her wahrgenommen und behandelt werden und in der Regel nur spärliche Mitteilungen über die körperliche Entwicklung des Patienten edolgen.

3.2 Körpertherapien Von der Gruppe der Körperpsychotherapien unterscheidet sich die Gruppe der Körpertherapien im Wesentlichen durch ihre »Betonung von Körperbewusstsein, Anatomie, sensorischer und kinästhetischer Erziehung und der nichtverbalen Kommunikation als Grundlage therapeutischer Einsichten« (Johnson 1998). Zur Gruppe der körperorientierten Psychotherapien bestehen je nach Blickwinkel Überschneidungen und gemeinsame historische Wurzeln in der Gymnastikbewegung in Nordeuropa um die Jahrhundertwende. Befruchtet durch die Arbeit des amerikanischen Esalen Institute und die gesellschaftliche Gegenkultur der 60er Jahre, wurde in den Vereinigten Staaten die »somatische Bewegung« oder die Somatik als »das Fachgebiet« formuliert, »welches das 36

Soma erforscht, d. h. den Körper, wie er von innen, durch die Wahrnehmung der ersten Person, erlebt wird« (Hanna 1998). Zahlreiche Gymnastiksysteme und -schulen entstanden bis 1933 vor allem in Deutschland unter den Aspekten von Körperwahrnehmung, Bewegungsausdruck, Entspannung und Atmung. Erwähnt seien die Gymnastikschulen von Isodora und Elizabeth Duncan, Genevieve Stebbins, Hedwig Kallmeyer, Bess Mensendieck, die Loheland-Schule, Elsa Gindler (1885-1961) und später in Kopenhagen Gerda Alexander ( 1908-1994 ). Von den genannten Richtungen ist vor allem die Arbeit Elsa Gindlers sowohl pädagogisch als auch therapeutisch aufgegriffen worden (Gindler 1926, Zeitler 1991, Franzen 1995). Sie fand Eingang in die musikpädagogischen Konzepte der »rhythmischen Erziehung« von Emile Jaques-Dalcroze (1865-1950), der »Neuen Schule für angewandten Rhythmus« in Dresden-Hellerau und der »Ausdrucksgymnastik« von Rudolf Bode (1881-1970). Im therapeutischen Kontext berufen sich auf den Ansatz Elsa Gindlers mehrere V erfahren, wie die tiefenpsychologisch orientierte Konzentrative Bewegungstherapie (Becker 1989, Gräff 1989, Stolze 1989), die Eutonie Gerda Alexanders (Alexander 1980, 1985), die von Charles V. W. Brooks und Charlotte Selver (geb. 1900) entwickelte Arbeit mit »Sensory Awareness« (Brooks 1991, Selver 1998) sowie verschiedene »Atemlehren«, wie die von Lily Ehrenfried und Frieda Goralewski (Ehrenfried 1986), von Carola Speads (Speads 1983) oder die Atemlehre von Ilse Middendorf (Middendorf 1995). In den Tanzschulen des Tänzers und Choreographen Rudolf Laban (1879-1958), der bis 1936 in Deutschland arbeiten konnte, ging es um die bewusste Kontrolle über die grundlegenden Bewegungsfaktoren Raum, Zeit, Kraft und Bewegungsfluss. Auch Labans Arbeit wurde später für therapeutisches Arbeiten genutzt (Friedmann 1993, S. 17-50; Lit. dort). Bereits um die Jahrhundertwende entwickelte der Australier Frederic Matthias Alexander (1869-1955) eine Technik der bewussten Körperbeherrschung zum Erreichen einer wahren und primären Bewegung in jeder Handlung, die er später in London unterrichtete (Alexander 1985; 1988; Maisel 1985; Barlow 1989; Auburn 1990; Friedmann 1993, S. 51-72; Lit. dort). Bei vielen »Gründern« dieser somatischen Methoden, so bei E. Gindler, F. M. Alexander, G. Alexander, I. Middendorf oder M. 37

Feldenkrais, findet sich als biographische Besonderheit die persönliche Erfahrung einer Erkrankung, von der sie sich durch eigenes Bemühen und Forschen heilen konnten. So konnte Eisa Gindler einen durch Tuberkulose eingefallenen Lungenflügel durch intensive Atemarbeit wieder benutzen. Eine chronische Kehlkopfentzündung, die F. M. Alexander an seiner Berufsausübung hinderte, war die Herausforderung, die ihn zur Entwicklung seiner Körpermethode anregte. Und auch M. Feldenkrais lernte an der Verbesserung eines traumatisierten Knies (siehe unten Kap. 4.1). Sie lebten damit selbst vor, was als gemeinsamer Nenner dieser Körpertherapien ausgemacht werden kann: dass verbesserte Selbstwahrnehmung zu verbesserter Selbst-Regulation führt. Die genannten Körpertherapieschulen im weitesten Sinne folgen mit der Feldenkrais-Methode einer Reihe gemeinsamer Grundauffassungen: sie gehen von den Möglichkeiten menschlicher Fähigkeiten und Gestaltungskreativität als positiver Ressource aus und vertrauen auf die Selbstheilungsmöglichkeiten des Menschen. Die tiefste reflektorische theoretische Durchdringung dieses Ansatzes erfolgte aus pädagogischer Sicht durch Heinrich Jacoby (siehe unten Kap. 4.9), aus bewegungs- und psychophysiologischer Sicht durch Feldenkrais. Beide entwickelten ihre Anschauungen aus Beobachtungen kindlicher Entwicklung und menschlicher Bewegungs- und Selbsterfahrung. Das zielgerichtete und doch so sinnlich unbeschwerte kindliche Lernen nicht zu stören, menschliche Selbsterziehung zu erleichtern, auf die Genialität menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten zu vertrauen und die Verbesserung körperlicher Bewegung als Mittel höherer und zweckmäßiger Leistungsfähigkeit ohne Anstrengung zu begreifen, gehört zu den Maximen dieser Schulen.

3.3 Körperverfahren in der Verhaltenstherapie Im Unterschied zur historisch gewachsenen Einbindung verschiedener Körperverfahren in die tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie haben Körperverfahren in der verhaltenstherapeutisch orientierten Psychotherapie und Rehabilitation bisher keinen festen Platz gefunden. Eine Übernahme solcher Verfahren, wie Konzent-

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rative Bewegungstherapie, Funktionelle Entspannung, Bioenergetik usw., in die verhaltenstherapeutische Praxis erscheint wegen ihrer psychodynamischen Grundlagen und des (noch) weitgehend fehlenden Nachweises spezifischer Effekte nicht ohne weiteres möglich. Während der Körper in den psychoanalytischen Körpertherapien wesentlich als Ausdruck und »Sprachorgan« psychischer Vorgänge verstanden wird, kommt Körperlichkeit und Bewegung in der verhaltenstherapeutischen Diagnostik (Bedingungsanalyse) als »Organismusvariable« eine grundsätzlich andere, individuell unterschiedliche Funktionalität zu. Nach der sogenannten »kognitiven Wende« in der Verhaltenstherapie erscheint heute eine Hinwendung zur Organismusvariable und Entwicklung einer Körperverhaltenstherapie konsequent und auf dem Hintergrund der in diesem Buch geschilderten Erfahrungen sinnvoll, wenn nicht sogar zwingend. Allerdings wurde das Konzept einer »Körperverhaltenstherapie«, d. h. einer therapeutischen Beeinflussung diesbezüglicher Kognitionen (z.B. Körperbild) oder Verhaltensweisen (z.B. Bewegung), bis heute nicht formuliert (Bielefeld 1991). Ebenso wirft der bisherige Einsatz einzelner Körperverfahren im verhaltenstherapeutischen Kontext noch zahlreiche Fragen auf: Praktisch alle gegenwärtig in Zusammenhang mit Verhaltenstherapie eingesetzten Körperverfahren wurden unabhängig von den dort angewandten kognitiv-behavioralen Verfahren entwickelt. Zudem sind ihre psychologischen und auch physiologischen Effekte sowie ihr Stellenwert als Einzel- oder kombinierte Verfahren noch in vielen Aspekten klärungsbedürftig (vgl. Vaitl & Petermann 1993). Bezüglich der in der verhaltenstherapeutischen Praxis häufig eingesetzten Entspannungsverfahren bestehen in Bezug auf Stellenwert, Indikationsstellung und Kontraindikationen noch erhebliche Diskrepanzen (z. B. Fliege! 1989, Bischoff 1989, Kanfer et al. 1991, Linden 1993, Hamm 1993, Klinkenberg 1996a. Vgl. auch Kap. 7.1 ). Schließlich erfreuen sich im Rahmen kognitiver Verhaltenstherapie »körper- und gefühls-« oder »erlebnisorientierte Interventionen« zunehmender Beliebtheit (Görlitz 1998a, b ). Solche Übungen dienen in der Regel der experimentellen Erforschung physiologischer Reaktionen (z.B. Hyperventilationsübung im Rahmen der Angstbehandlung), der Exposition und Verhaltensbeobachtung (z.B. Übung »Drängeln« bei soziophobischen Patienten) 39

oder der spielerischen Konkretisierung und Erprobung neuer Verhaltensweisen. Die Interventionen tragen häufig Züge »haptischen Lernens« über Anfassen und körperliche Bewegung. Sie sind wie das klassische »Rollenspiel« sinnvolle Ergänzung und Bestandteil kognitiv-verhaltenstherapeutischer Verfahren, stellen jedoch keinen eigenständigen körpertherapeutischen Ansatz dar. Vielmehr soll im Folgenden versucht werden, Begründungen und Konturen einer möglichen Akzentuierung kognitiver Verhaltenstherapie zu beschreiben, die sich als »Körperverhaltenstherapie« (in einer ersten pointierten Formulierung) an folgenden Grundsätzen orientiert: 1. Körperverhaltenstherapie begreift Körperlichkeit als gleichwertige und ebenso elementare menschliche Wesensäußerung wie Kognitionen und Emotionen. 2. Sie berücksichtigt Stellenwert und Besonderheiten von Bewegung für die ontogenetische Entwicklung und menschliches Lernen. 3. Sie behauptet, dass Körpererfahrung und Bewegung ebenso einer lerntheoretisch begründeten Beschreibung und Verhaltensveränderung zugänglich sind wie Denken und Fühlen. 4. Sie zielt ab auf eine Bewusstheit von Bewegung als konstituierendem Faktor des Selbst-Bildes. Sie begrenzt sich nicht auf eine Arbeit mit dem physiologischen Anteil psychisch nicht bewusster Affekte und verzichtet deshalb auf das weit verbreitete, tiefenpsychologisch begründete Paradigma von Körper als »Sprachorgan der Seele«.

3.4 Notwendigkeit der Entwicklung einer kognitiv-behavioralen Körpertherapie Zur Unterscheidung der vielen sich anbietenden Körperverfahren ist es hilfreich, die theoretischen Voraussetzungen des Einbezugs von Körpertherapien in den verhaltensmedizinischen Kontext zu klären. Über den Wirknachweis des Einzelverfahrens hinaus ist dies auch unerlässlich, um Einbeziehungsversuche körperpädagogischer und -therapeutischer Elemente in multimodale Behandlungssettings zu evaluieren. 40

Körperliche Komorbidität psychosomatischer Patienten Der Mangel an verhaltenstherapeutischen Körperverfahren ist besonders unbefriedigend, da in der verhaltenstherapeutischen Praxis Patienten mit konkreten körperlichen Beschwerden, organbezogenen Kognitionen und ebenso dysfunktionalen somatischen wie psychischen Verhaltensweisen betreut werden. So wird die verhaltenstherapeutische Rehabilitation psychosomatischer Patienten nicht nur durch eine hohe psychiatrische, sondern auch somatische Komorbidität erschwert (vgl. Rief & Hiller 1992, Zielke 1993, Potreck-Rose & Koch 1994, Grawe 1998). Komorbidität, Zugehörigkeit zur sozialen Unterschicht und chronisches Krankheitsverhalten gehören zu den prognostisch schlechten Faktoren psychosomatischer Patienten. Sie korrelieren invers mit der Motivation zu einer verhaltenstherapeutischen Behandlung. Zu den häufigsten Diagnosen von Komorbidität zählen bei psychosomatischen Patienten Erkrankungen des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes. In der verhaltensanalytischen Diagnostik werden solche konkreten Beschwerden zumeist als Ursache, aufrechterhaltende Bedingung oder Folge entsprechender Verhaltensweisen, Emotionen und Kognitionen identifiziert und müssen therapeutisch berücksichtigt werden. Sie werden anders als in den psychodynamischen Konzepten nicht primär als körpersprachlicher Ausdruck intrapsychischer Konflikte gesehen, sondern als konkrete Bedingung oder Folge innerhalb eines Krankheits- und Verarbeitungsprozesses (z.B. Pfingsten & Hildebrandt 1995). Aus lerntheoretischer Sicht kann es durch die mit Schmerzerfahrung verbundenen entlastenden Konsequenzen (Schonung, Zuwendung usw.) zu einer operanten Konditionierung, durch die Verbindung zwischen schmerzhafter Reaktion und einem ursprünglich neutralen Reiz (wie z.B. Bewegung) zu einer respondenten (klassischen) Konditionierung und im weiteren Verlauf zu Generalisierungen und Vermeidungsverhalten kommen. Entsprechende Lernvorgänge können auf die damit verbundenen Mechanismen der Gedächtnis- und Informationsverarbeitung (Erwartungen, Selbstwirksamkeitsüberzeugung usw.) oder sozialpsychologische Determinanten (Arbeitsplatz, Familiensystem usw.) einwirken.

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Perzeptive, kognitive und Verhaltensdefizite im Zusammenhang mit Körper und Bewegung Neben diesen konkreten somatischen Beschwerden fallen bei psychosomatischen Patienten perzeptive und kognitive Probleme auf, wie »Körperschema«-Störungen, eine geringe körperliche Wahrnehmungsfähigkeit, eine Fixierung auf Schmerzsymptome und gewohnte Bewegungsmuster, Verzerrungen des Selbstbildes als nicht verbesserungs- und lernfähig und fast immer ein Zuviel an Anspannung und Haltearbeit. Die motorischen Eigenheiten psychosomatischer Patienten sind so deutlich, dass sie in einer gemischten Bewegungsgruppe mit Gesunden immer erkennbar sind, auch für den darin ungeschulten Therapeuten. Eine Anwendung traditioneller Methoden der Physikalischen Medizin und Rehabilitation allein, wie krankengymnastische Verfahren, Massage, manuelle Medizin, balneologische Verfahren usw., ist verständlicherweise bei derart Betroffenen unzureichend. Das gilt auch für Verfahren der Patientenschulung, wenn sie sich lernpsychologisch betrachtet auf »Modelllernen« beschränken und unter bewegungspädagogischen Aspekten lediglich bisherigen krankengymnastischen Traditionen von »Dehnen«, »Kräftigen« und »Mobilisation« einzelner Muskeln oder begrenzter Muskelgruppen unter dem Primat »richtiger Haltung« nach »richtigen Regeln« folgen (z. B. Von Der Burg et al. 1993, Keck & Kruse 1994), einer »rein mechanisch-funktionalistischen Denkweise« (Reck 1998) anhängen und kognitiv-behaviorale Elemente vernachlässigen. So zeigen Rückenschulen nach einer Metaanalyse auch »nur geringe Effekte bei gesundheitsökonomischen Variablen (z.B. Inanspruchnahme des Gesundheitssystems) und keine Effekte bei klinischen Variablen (z.B. Schmerzintensität)« (Maier-Riehle & Härter 1996). Die bloße Kombination traditioneller Behandlungselemente der Schulmedizin, wie Krankengymnastik, physikalische Therapie oder sportliche Ausdauerprogramme mit verhaltenstherapeutischen Verfahren, macht noch keine Körperverhaltenstherapie aus, auch wenn solche Kombinationen organischen Mitbedingungen und organischer Attribution ausgewählter Patientengruppen entgegenkommen (z. B. Kosarz et al. 1985, Ehrhardt u. Sturm 1990).

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Propädeutische Funktion von Körpertherapie für Verhaltenstherapie Für verhaltensmedizinisches Arbeiten erscheinen körpertherapeutische Verfahren wünschenswert, die nicht nur Störungen des Bewegungsapparates direkt positiv beeinflussen können, sondern auch zu einer Verhaltensveränderung motivieren, mit anderen kognitiv-behavioralen Verfahren unter möglichst vielen Aspekten sinnvoll kombinierbar sind und diese vorbereiten oder ergänzen. Dies impliziert eine strukturelle und inhaltliche Kompatibilität des körperbezogenen Verfahrens mit der psychotherapeutischen Grundorientierung (Margraf & Lieb 1995) und dem eigenständigen therapeutischen Ansatz (W estmeyer 1998) von V erhaltenstherapie: Begründung in der empirischen Psychologie, individuelle Problemdiagnostik und aktive Beteiligung des Patienten. Verhaltenstherapeutische Maßnahmen verfolgen »konkrete und operationalisierte Ziele auf verschiedenen Ebenen des Verhaltens und Erlebens, leiten sich aus einer Störungsdiagnostik und individuellen Problemanalyse ab und setzen an prädisponierenden, auslösenden und/oder aufrechterhaltenden Problemänderungen an« (Margraf 1996). Therapeutische Ansatzpunkte richten sich in der V erhaltenstherapie bevorzugt auf die Ebene, welche im konkreten Fall im Vordergrund der Beschwerden steht. Kognitive Therapieansätze richten sich auf das System der Informationsverarbeitung, behaviorale Ansätze auf Verhaltenskompetenzen und Verhaltensdefizite, physiologische Ansätze auf die autonom-physiologische oder andere Organismus-Komponenten (Lang 1973). Eine ähnliche ganzheitliche Sichtweise nimmt der bio-psycho-soziale Ansatz von Engel und Schwanz ein (Engel 1977, Schwanz 1982). Insbesondere bietet der Selbstmanagement-Ansatz von Kanfer ein Systemmodell für verhaltensmedizinisches Arbeiten. Selbstmanagement und die dabei wahrgenommene Kontrolle erhöhen die Motivation und Selbsteffizienz, verringern Widerstand und Gegenkontrolle und erleichtern die Generalisierung von Therapieeffekten (Kanfer et al. 1991; siehe oben Kap. 2.3). Körperlichkeit als hedonistischer Erfahrungsraum Daneben besteht in der verhaltenstherapeutischen Praxis häufig die Notwendigkeit, euthymes Erleben zu fördern, durch das die 43

gesunden Anteile und Ressourcen des Patienten, seine Positiva, Genussfähigkeit und positive Lebensereignisse als in sich wertvoller Erlebens- und Handlungsbereich begriffen und verbessert werden sollen. Das euthyme Konzept stellt insbesondere als Behandlungskomponente in stationären Settings eine Bereicherung des verhaltenstherapeutischen Angebots dar, durch die basale Fertigkeiten vermittelt werden, mit Positiva umzugehen. Fürsorglichkeit für sich selbst und euthyme Handlungen, Genießen und angenehme Selbstinstruktion stellen wesentliche Bestandteile verhaltenstherapeutischer Verfahren und Therapieansätze dar (Lutz 1996a, b; Koppenhöfer 1996).

Körperliche Aspekte des Gesundheitsverhaltens Ergebnisse zahlreicher kontrollierter Studien weisen darauf hin, dass der Einsatz von Körperverfahren in multimodalen Therapiesettings sinnvoll ist und dass körperlicher Aktivität generell ein protektiver Nutzen für Gesundheit zukommt (z. B. Morgan u. Goldston 1987, Rost 1991, Schwarzer 1992, Blair et al. 1992, Vaitl & Petermann 1993, Petermann & Vaitl 1994). Metaanalytisch lässt sich aber bisher nur für einzelne sportliche Aktivitäten und bestimmte Zielgruppen der vage bleibende Zusammenhang aufzeigen, dass sportliche Aktivität auch zu psychischer Gesundheit führt (z. B. Kleine & Schwarzer 1991, Broocks et al. 1997). Als Erklärung scheinen am ehesten kontrollbezogene Erwartungs- und Passungseffekte infrage zu kommen (Schlicht 1993). Entsprechend ist von einer kognitiv-behavioralen Körpe~therapie zu fordern, dass sie zu überdauernder Verhaltensänderung beiträgt und - in allgemeinster Zielformulierung - zu einem aktiveren und bewussteren Selbstmanagement im Zusammenhang mit der »Organismusvariable« führt. Zu wünschen ist schließlich, dass solche Verfahren auch für ein breites Patientenspektrum anwendbar sind und schließlich organisations- und kostenanalytisch vertretbar sind.

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3.5 Kognitiv-behaviorale Grundlagen von Körpertherapie Grundlagen einer kognitiv-behavioralen Körpertherapie ergeben sich in erster Linie aus den Erkenntnissen der Physiologie, Neurophysiologie, Medizin, Sportwissenschaft, Psychomotorik, Motopädagogik und Psychologie, darüber hinaus aus den theoretischen Annahmen und Vorgehensweisen der Verhaltenstherapie. Die Bewegungsforschung hat im letzten Vierteljahrhundert eine fast unübersehbare Fülle von Detailbefunden und immer wieder neuen, häufig überraschenden erkenntnistheoretischen und methodologischen Fragestellungen hervorgebracht. Folgende für eine verhaltenstherapeutische Körperarbeit bedeutsame Grundorientierungen lassen sich ausmachen: 1. Jede psychotherapeutische Arbeit mit dem Körper impliziert mehr oder weniger ausgesprochen eine ganzheitliche Sicht, die von einem Zusammenhang zwischen Denken, Emotionen und Bewegung ausgeht. So vielfältig die damit verbundenen Fragen sind, so grundlegend darf der Zusammenhang als solcher angenommen werden. Über Bewegung nimmt der Mensch Beziehung auf und übt Einfluss auf seine Umwelt aus. Seit den klassischen Beobachtungen und Hypothesen Piagets über die »sensomotorische Konstruktion« kindlicher Realität (Piaget 1937; Übersicht: Montada 1995) gehört die elementare Bedeutung von Bewegung zum Bestandteil entwicklungspsychologischer Theorien des Lernens und der Informationsverarbeitung. Ohne Bewegung findet eine normale menschliche Entwicklung nicht statt. Sensomotorische Erfahrungen bilden die Grundlage menschlicher Gehirnreifung. Ungestört bauen sie in einer charakteristischen Folge aufeinander auf. Kognitiv-behaviorale Körpertherapie greift somit grundsätzlich Fähigkeiten auf, die in der normalen Entwicklung jedes Individuums bereits einmal eine wesentliche Rolle gespielt haben, ihm aber prinzipiell auch später jederzeit zur Verfügung stehen. Darüber hinaus haben zahlreiche Tierexperimente und humanmedizinische Untersuchungen gezeigt, dass die »Plastizität« des Gehirns eine grundlegende Eigenschaft des Nervensystems auch im Erwachsenenalter darstellt. Es wird in jüngster Zeit zunehmend versucht, diese Erkenntnisse auch therapeutisch zu nutzen. So kann senso-

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motorisches Training zu einer Veränderung funktioneller »Hirnkarten« führen und Wahrnehmungen verändern (Knecht & Ringelstein 1999). 2. Motorik wird in der Forschung als der umfassende Vorgang der Steuerung und Kontrolle von Haltung und Bewegung verstanden, der sensorische, perzeptive, kognitive und motivationale Prozesse mit einschließt. Bewegung ist eine überaus komplexe Tätigkeit des Nervensystems und nur »zuallerletzt« eine Funktion von Muskulatur und Skelett. Sie kann über rein motorische Aspekte hinaus nur unter Einbeziehung kognitiver und emotionaler Aspekte adäquat betrachtet werden (z. B. Baur et al. 1994, Wiemeyer 1997). Die besondere Leistung des menschlichen Gehirns liegt beim Erlernen von Bewegungsfunktionen in der Entwicklung neurologischer Aktivitätsmuster, bei denen Bewegungen als »dynamische Muster« mit emotionalem und kognitivem Verhalten verknüpft werden (Kelso 1995). Bewegung ist mit Gedanken und Gefühlen untrennbar (und viceversa) verbunden. In der Biologischen Psychologie gelten motorische Ausdrucksreaktionen als unverzichtbarer Bestandteil der Entwicklung, Ausprägung und Speicherung emotionaler Reaktionsmuster (sog. James-Lange- Kontroverse) (Birbaumer & Schmidt 1996, S. 647 ff.). Physiologische Veränderungen im Körper und Nervensystem sowie motorisch-expressive Komponenten gehören untrennbar zu einer gesunden, vollständigen Emotion (Walter 1999). Kognitiv-behaviorale Körpertherapie kann die peripher-physiologische Komponente emotionaler Vorgänge und damit den Ablauf von Gefühlsreaktionen beeinflussen. Als verhaltenstherapeutisches Modell bietet sich beispielsweise die Erzeugung einer unvereinbaren peripher-physiologischen Reaktion an, wie sie im Rahmen der Systematischen Desensibilisierung (Wolpe 1958) zu den Standardinterventionen der Verhaltenstherapie gehört. 3. Modeme Möglichkeiten, Bewegung unter vielfältigen Kriterien zu messen, haben eine kritische Revision bisheriger Theorien in Gang gebracht. Die Funktionalität von Bewegung und die Bedeutung einer Bewegungsorganisation des ganzen Körpers stehen stärker als früher im Zentrum der Forschungen. Beispielsweise scheinen traditionelle Auffassungen überholt zu sein, die die Funktion der Wirbelsäule in einer eher passiven, brückenähnli-

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chen Verbindung zwischen Becken und Schultern (z.B. Brügger 1980) sehen. Aufgrund funktionsbezogener Forschungen wäre sie vielmehr als die »primary engine driving the pelvis« anzusehen (Gracovetzky 1988). Daraus ergeben sich Konsequenzen für herkömmliche Diagnosestellungen und Therapie: »Without an understanding of what the spine is about, a diagnosis is difficu!t at best. The so-called >unspecific diagnosis, is a reflection of a Jack of real understanding of the subject. Even if a correct diagnosis (a specific one, that is) can be reached, the decision as to what treatment is required is generally a statistical exercise. Indeed, treatment means restoration of the normal function of the spine ... If the spine is not a passive supporting column but rather the primary engine driving the pelvis, then the interpretation of signs and symptoms should be reviewed and rehabilitative procedures modified accordingly« (ebd. s.290 f.). 4. Während zwischen Bewegungslernen und allem anderen Lernen auf neurologischer Ebene keine grundsätzlichen Unterschiede bestehen (Cratty 1975), finden sich jedoch spezifische Besonderheiten: Erstens geschieht menschliche Bewegung in ständiger Auseinandersetzung mit der Schwerkraft und unterliegt somit physikalischen Gesetzen. Gleichzeitig impliziert individuelle Bewegungsentwicklung zum aufrechten Gang die Herausbildung innerer Sollgrößen in dieser Auseinandersetzung, etwa von leichter, angenehmer und effektiver Bewegung. Der psychologische, emotionalaffektive Teil von Körpererfahrung, das »Körperbild« ist somit immer auch eine Funktion des sog. »Körperschemas«, d. h. der neurophysiologischen und perceptiv-kognitiven Körpererfahrung in der Auseinandersetzung mit der physikalischen Welt (Bielefeld 1986). Diese darf als Basis psychologischer und psychotherapeutischer Interventionen nicht vernachlässigt werden. Zweitens können normalerweise unbewusst ablaufende motorische Eff erenzen willkürlich und ohne Übung bewusst werden und in sensomotorische Kontroll- und Wahrnehmungsprozesse integriert werden (Überblick bei Wiemeyer 1995, S. 22 f.). Die »Automatisierung« von Bewegungen erfolgt zumeist unbewusst und außerordentlich schnell. So findet beispielsweise die schnelle Adaptation an eine fahrende Unterlage, auf der eine Person gleichzeitig weitergeht, wie es etwa auf einer Rolltreppe der Fall sein kann, 47

subkortikal und in Bruchteilen von Sekunden statt. Aber auch komplizierte Bewegungen, die nur bewusst unter kortikaler Beteiligung ausgeführt werden können, können gespeichert werden und mit Fortschritt des Lernprozesses automatisch zur Verfügung stehen. Automatisch ablaufende Bewegungen können schließlich auch wieder bewusst wahrgenommen und kontrolliert werden. Selbst die auf Spinalebene ablaufenden Reflexe stellen einen »Vorrat elementarer Haltungs- und Bewegungsabläufe dar, die in weitem Maß an die Bewegungsintention angepasst werden können« (Birbaumer & Schmidt 1996, S. 253 ). Mit anderen Worten: Im Bereich von Bewegung können unbewusste motorische Aktivitäten bewusst gemacht werden und bewusste Aktivitäten automatisiert werden. Für eine verhaltensmodifizierende Körperarbeit besteht somit die Möglichkeit, motorische Abläufe bewusst zu planen, zu erleben (feedback), bewusst (z. B. unter Qualitätsgesichtspunkten) zu modifizieren und in das Bewegungsrepertoire zu integrieren, d. h. zu lernen. Verglichen mit der bewussten Veränderbarkeit von Emotionen und Kognitionen sind die Selbstwahrnehmbarkeit und Leichtigkeit, mit der eine solche »Programmierung« neuronaler Aktivität beim Bewegungslernen erfolgen kann, einzigartig. 5. Der an sich selbst beim Bewegungslernen beobachtbare Lernfortschritt wird unzureichend optimistischen Kompetenzerwartungen und ungünstigen Attributionsstilen begegnen und Handlungs- und Selbstwirksamkeit fördern können (Bandura 1977, W einer 1986, Schwarzer 1992). So werden die positiven Ergebnisse kognitiv-behavioraler Managementprogramme bei chronischen Schmerzpatienten (z.B. Flor et al. 1992, Hasenbring 1996) neben einer physiologischen Lernkomponente wesentlich durch psychologisches Lernen im Sinne einer gesteigerten Selbstwirksamkeitsüberzeugung erklärt (Ruoß 1998). Dies scheint sogar dann der Fall zu sein, wenn der Schwerpunkt in dem betreff enden Therapieprogramm stärker auf körperorientierten sportmedizinischen Maßnahmen liegt und kognitives Wissen eher in geringem Ausmaß erworben wird (Hildebrandt et al. 1996). 6. Darüber hinaus wird eine kognitiv-behaviorale Körpertherapie methodische Bedingungen berücksichtigen, die Lernen, d. h. dauerhafte Verhaltensänderung, optimieren. So führt bereits die Imagination von Bewegung zur Aktivierung peripher-motorischer wie 48

motokortikaler Strukturen, was in der sportwissenschaftlichen Bewegungsforschung unter dem Begriff des mentalen Trainings genutzt wird. Zu berücksichtigen ist das »psychophysische Grundgesetz« der Wahrnehmungspsychologie (Weber-Fechner-Gesetz) bzw. die psychophysische Beziehung von Stevens (1971), wonach die Empfindungsintensität für schwache Reize verhältnismäßig größer ist als für starke. Kleine, langsame und leichte Bewegungen werden besser wahrgenommen als große und schnelle (vgl. S. 107 f.). Andererseits beeinträchtigen emotionale Belastungen wie hoher Stress (Yerkes-Dodson-Gesetz, Wiwemeyer 1997) oder Angst (Kleine u. Schwarzer 1991) den Prozess des Bewegungslernens. 7. Schließlich ergeben sich aus der komplexen Diskussion über die Theorien motorischer Kontrolle und motorischen Lernens interessante Folgerungen für systemische Ansätze in der Verhaltenstherapie. Diese Diskussion wird durch die sog. Motor-ActionKontroverse (Meijer & Roth 1988), durch entwicklungspsychologische Erkenntnisse (Kelso & Clark 1982) und neurobiologische Modellvorstellungen (Informationsprozess- Modelle, SchemaTheorie, Modelle neuronaler Netzwerke) des Bewegungslernens geprägt (Tyron 1995). Nach den zugrunde liegenden lernpsychologischen Modellen gilt die mechanistische Betrachtung von Bewegungen ohne ihren funktionellen und Umgebungskontext als »biologische Fiktion«. Diese Vorstellungen divergieren mit traditionellen seriellen und hierarchischen Kontrolltheorien von Bewegung, durch die beispielsweise die konventionellen physiotherapeutischen Methoden und Übungen noch weitestgehend bestimmt werden (Bate 1994). Sie berücksichtigen den funktionellen Zusammenhang motorischer Fähigkeiten mit der Umwelt in einer allgemeinen Handlungstheorie (Bernstein 1967, 1988, 1996; Whiting 1984) und ökologischen Psychologie (Gibson 1966). Handlungen können durch eine Vielzahl unterschiedlichster Bewegungsmuster ausgeführt werden und erfordern senso-motorische Prozesse, die nicht in linearen »Antworthierarchien« organisiert sind, sondern in vernetzten und zusammenwirkenden Strukturen sich anpassender Bewegungen und Haltungen (Reed 1982, 1988). Schließlich weist die entwicklungspsychologische Forschung auf die Bedeutung der Motorik als Teil eines dynamischen Systems der kognitiv-emotionalen Entwicklung und Handlungsgestaltung hin und 49

fordert eine entsprechende Berücksichtigung systemischer Zusammenhänge für das Vorgehen in der physikalischen Therapie (Kamm et al. 1990, Thelen & Smith 1994). Die genannten Aspekte von Körperlichkeit therapiesuchender Patienten und die formulierten Postulate einer neuen Körperorientierung in der Verhaltenstherapie sollten bei einem reflektierten Einsatz von Körperverfahren in der Verhaltenstherapie beachtet werden. Es erscheint wünschenswert, dass die Verhaltenstherapie der Körperlichkeit und Bewegung mehr Aufmerksamkeit schenkt und die darin liegenden therapeutischen Chancen nutzt. Vielleicht ist die Entwicklung reif für eine »körpertherapeutische Wende«, vergleichbar mit der so genannten »kognitiven Wende« der Verhaltenstherapie durch Einbezug der kognitiven Therapie in den vergangenen 30 Jahren. Im folgenden Teil des Buches wird die Feldenkrais-Methode als eine Lernmethode vorgestellt, die im verhaltenstherapeutischen Kontext aus guten Gründen unterwiesen und angewendet werden kann und für eine »Körperverhaltenstherapie« innerhalb der Verhaltenstherapie Modellcharakter besitzt.

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4. Praxisund Theorieder Feldenkrais-

Methode 4.1 Moshe Feldenkrais (1904-1984) Moshe Pinchas Feldenkrais entstammt einer jüdischen (chassidischen) Familie in Slavuta in der Ukraine, die später nach Baranowiecze (Polen) umsiedelte (Kraus 1998; biograph. Notizen: Feldenkrais 1986, 1987; Newell 1992; Friedmann 1993, 75-107; Krauss 1996, 155-159). Im Alter von 14 oder 15 Jahren wanderte Moshe Feldenkrais in das damals unter britischem Mandat stehende Palästina aus, wo er sich der Haganah-Bewegung zur Gründung eines unabhängigen jüdischen Staates anschloss. Aus dieser Zeit stammte sein Interesse an Jiu-Jitsu als unbewaffneter Verteidigungsform, da es den jüdischen Siedlern im Gegensatz zu ihren arabischen Gegnern verboten war, Waffen zu tragen. Weil die jüdischen Siedler häufig angegriffen und getötet wurden, erarbeitete Feldenkrais ein Selbstverteidigungssystem, das von der allerersten spontanen Bewegungsreaktion auf einen unerwarteten Angriff ausging und in einem Buch unter der Haganah-Bewegung Verbreitung fand (Feldenkrais 1986). Nach dem Abitur als 23-Jähriger in Tel Aviv emigrierte Feldenkrais 1928 nach Paris, wo er Ingenieurwissenschaften studierte. Nach seiner Promotion in Physik arbeitete er im berühmten »Institut du Radium« des 1938 mit einem Nobelpreis ausgezeichneten Ehepaars Irene und Frederic Joliot-Curie, WO er an den ersten Experimenten zur Kernspaltung beteiligt war. In dieser Zeit traf Feldenkrais mit Jigoro Kano, dem Gründer des Judo-Sports und damaligen japanischen Erziehungsminister, zusammen. Im Alter von 32 Jahren erwarb Feldenkrais als erster Europäer den »schwarzen Gürtel« des Judo und gründete 1936 in Paris den ersten französischen JudoClub. Kniebeschwerden, die in diesen Jahren aufgrund einer alten Verletzung beim Fußballspiel wieder akut wurden, veranlassten Feldenkrais, sich intensiv mit der Bewegungsfunktion seines Knies zu beschäftigen, wobei er sein Wissen von Mechanik und Physik anwandte und sich mit Neurophysiologie zu befassen begann. 51

»Als junger Mann spielte ich Fußball und dabei riss mir em Kreuzband des Knies. Später stellte sich heraus, dass in allen Stresssituationen meines Lebens, während der deutschen Invasion in Frankreich usw., das Knie anfing weh zu tun und den ganzen Tag geschwollen war: Ich konnte nicht laufen. Nach ein paar Jahren konsultierte ich einen Chirurgen. Er untersuchte das Knie und meinte nach einer Röntgendiagnose, es müsse operiert werden. Ich fragte ihn, ob es wahrscheinlich sei, dass die Operation erfolgreich verlaufen würde. Er antwortete, es bestünde eine 50%ige Wahrscheinlichkeit. Ich verabschiedete mich von ihm, ohne mich operieren zu lassen, obwohl er noch sagte, ich könnte mit diesem Knie nicht mehr laufen ... Bevor ich mit dem Knie Ärger bekam, hatte ich dreißig Jahre Erfahrung damit. Ich verwandte eine Menge Zeit dafür, das Knie richtig zu gebrauchen ... Nun, als das Knie wieder in Ordnung war, rutschte ich auf einer Bananenschale aus, und die ganze Sache war wie vorher. Dies hat mich erschreckt, weil ich zu diesem Zeitpunkt der Meinung war, dass ich lediglich das tun würde, wozu ich mich entschlossen hatte. Ich entdeckte, dass ich im Moment des Fallens meine Theorie vergessen hatte und genau wieder das Falsche tat. Ich rutschte aus, wie jeder andere ausgerutscht wäre. Es war etwas Neues für mich, dass Dinge entgegen meinem Bewusstsein, entgegen meiner Entscheidung abliefen. Ich erkannte, dass ich mich bewegte, ohne zu wissen wie. Ich brachte mich dadurch in eine Krise. Dann erkannte ich, dass die meisten Leute in diesem Sinne nicht wussten, was sie taten. Sie wussten noch nicht einmal, dass sie es nicht wussten. Ich las eine Menge Physiologie- und Psychologiebücher, und zu meinem großen Erstaunen fand ich heraus, dass in Bezug auf diese Sache die Menschen dumm, abergläubisch und idiotisch sind. Es gab kein einziges Buch, in dem zu finden war, wie wir funktionierten« (Feldenkrais 1990, S. 4 f.).

1940, nach der Invasion der Deutschen in Frankreich, konnte Feldenkrais mithilfe der französischen Exilregierung und der Unterstützung von Joliot-Curie nach England fliehen, wobei es ihm gelang, wichtige Unterlagen über die Atomspaltung aus dem Forschungslabor von Joliot-Curie vor dem Zugriff der Deutschen zu retten und an die Alliierten zu übergeben. Zusammen mit anderen Wissenschaftlern interniert, arbeitete er an der Westküste Schottlands für die Unterwasser-Abwehr. In der Freizeit interessierte er auch andere Wissenschaftler des Camps für Judo und seine ersten Studien zu Haltung und Bewegung und unterrichtete sie in einer Gruppe. Aus einer 1943/44 im Camp gehaltenen Vortragsreihe 52

entstand die 1949 veröffentlichte Arbeit: »Body and Mature Behaviour. A Study of Anxiety, Sex, Gravitation and Learning«. Nach Kriegsende zog Feldenkrais nach London, wo er sich neben Judo-Unterricht weiter mit der Entwicklung seiner Bewegungsmethode beschäftigte. In dieser Zeit kam es zu befruchtenden Kontakten mit Frederic Matthias Alexander (1869-1955) und dem Psychoanalytiker George Morgan in London sowie später Heinrich Jacoby in Zürich, durch den Feldenkrais schließlich auch indirekt mit der Arbeit von Elsa Gindler in Berlin bekannt wurde. 1951 folgte Feldenkrais einer Berufung zum Leiter der Elektronikabteilung der israelischen Streitkräfte, nicht ohne in Haifa seine bewegungspädagogischen Interessen weiter zu verfolgen. Nach ersten, teilweise spektakulären Erfolgen mit Patienten arbeitete Feldenkrais seit Mitte der 50er Jahre nur noch ausschließlich an der Fortentwicklung seiner körperorientierten Lernmethode und unterrichtete eine kleine Zahl von Schülern. Während seine internationale Anerkennung zunächst auf einen kleineren Kreis von Bewegungspädagogen begrenzt war (z. B. »Eutonie-Kongress« Kopenhagen 1959: Alexander 1964), wurde eine breitere Öffentlichkeit erst in den 70er Jahren durch Vortragsreisen und Workshops in den Vereinigten Staaten mit den Erkenntnissen des Physikers bekannt. Gleichzeitig begann ein intensiver Gedankenaustausch mit führenden geistigen Persönlichkeiten und Fachleuten auf den Gebieten der Anthropologie, Erkenntnistheorie und Psychotherapie, wie Margaret Mead, Karl Pribam, Heinz M. von Foerster, Jonas Salk, Milton Erickson und Gregory Bateson. Zahlreiche Angebote, einen Lehrstuhl zu bekleiden, schlug Feldenkrais aus. Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre vermittelte er in zwei mehrmonatigen Ausbildungskursen in San Francisco und in Amherst seine Erfahrungen an einen weiteren Schülerkreis, von denen viele zusammen mit seinen langjährigen unmittelbaren Mitarbeitern die »Feldenkrais-Methode« auch nach seinem Tod 1984 weiter unterrichten und fortentwickeln.

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4.2 Grundbegriffe der Lernmethode von

M. Feldenkrais Anstelle einer dualistischen Auffassung des Menschen als Körper und Psyche verwendet Feldenkrais in einer ganzheitlichen Sicht vom Menschen die Begriffe: Bewegung, Sinnesempfindung, Gefühl und Denken. Diese sind Bestandteile jeden Tuns, allen Verhaltens, des an jeder Handlung beteiligten Ich-Bildes, ja des Lebensprozesses schlechthin. Und sie konstituieren durch ihre unauflösbare Verbindung die integrative und individuelle Einheit des Menschen. Der zum Teil flexible Umgang mit diesen Begriffen in seinem Buch »Bewusstheit durch Bewegung« (Feldenkrais 1978, S. 31, 56, 64, 67; Erstveröffentlichung 1972) zeigt exemplarisch, dass es Feldenkrais nicht um Begriffsdefinitionen, sondern um sprachliche Annäherung an ein jedermann zugängliches, evidentes Erleben ging. Bewegung, Sinnesempfindung, Gefühl und Denken sind als Bestandteile jeder Handlung miteinander unlösbar verbunden. Entwicklung in einem der vier Tätigkeitsbereiche menschlichen Tuns führt unmittelbar auch zur Veränderung der anderen.

Legen Sie nun das Buch einen Moment beiseite und zählen Sie in Gedanken von 1 bis 10. Tun Sie das jetzt. Dann zählen Sie von 21 bis 30. Tun Sie das jetzt. Für welche Zahlenreihe haben Sie mehr Zeit benötigt? In der Zusammenfassung eines Seminars, das Feldenkrais 1959 in Kopenhagen hielt (Alexander 1964, Feldenkrais 1985), hat er auf verschiedene Beispiele für die Verbindung der motorischen mit der übrigen Aktivität des Nervensystems aufmerksam gemacht, die zeigen, »dass eine Verbesserung in der Geschwindigkeit und Klarheit des Denkens durch eine Verringerung motorischer Aktivität und durch einen reibungslosen Ablauf der Muskelfunktionen zu erreichen ist«. Feldenkrais schreibt zu diesem Versuch: » Wir brauchen länger, die Zahlen von 21 bis 30 als von 1 bis 10 zu denken, obwohl die numerischen Zwischenräume zwischen 1 und 10 und 21 und 30 gleich sind. Der Unterschied liegt in der Tatsache, dass die Zwischenräume zu der Zeit im Verhältnis stehen, die wir benötigen würden, die entsprechenden Zahlen laut zu äußern. Dies deutet 54

darauf hin, dass wir beim Zählen tatsächlich den Gehirnbereich, der für den Stimmapparat zuständig ist, einsetzen. So wird eine der reinsten Abstraktionen unentwirrbar durch die Organisation des Nervensystems mit der Muskelaktivität verbunden . ... Ich habe keinen Zweifel daran, dass die motorischen Funktionen und vielleicht die Muskeln selber wesentlicher Bestandteil der höheren Funktionen des Menschen sind. Dies trifft nicht nur für die höheren Funktionen wie Singen, Malen und Lieben zu, die ohne Muskelaktivität unmöglich sind, sondern auch auf das Denken, Erinnern und das Gefühl« (Feldenkrais 1985, S. 176, 178). Das Bild, das einer von sich als Handelnder hat, nennt Feldenkrais das Ich-Bild. »Es ist teils ererbt, teils anerzogen; zu einem dritten Teil kommt es durch Selbsterziehung zustande« (Feldenkrais 1978, S. 19; dazu weiter unten Kap. 7.5). Von den drei Faktoren Erbgut, Erziehung und Selbsterziehung kann letztere vom Individuum selbst beeinflusst werden. Positiv gewendet bedeutet dies, dass für jeden Einzelnen eine eigene Kompetenz bezüglich Begreifen, Verstehen und Veränderung besteht. Lernen ist für Feldenkrais »eine biologische, um nicht zu sagen: eine physiologische Notwendigkeit« (Feldenkrais 1987, S. 58). Feldenkrais hat lange, bevor dies durch neurobiologische Untersuchungen bestätigt wurde, die Notwendigkeit von Lernprozessen für die Reifung des Nervensystems postuliert. Die ungestörte Entwicklung menschlicher Lernintelligenz bezeichnet er als »organisches Lernen«, das sich von den gesellschaftlich gängigen und akademischen Lernformen wesentlich unterscheidet. Zur W eckung von Lernfähigkeit spricht Feldenkrais der Bewegung eine hervorragende Rolle zu. Dieser Primat des Bewegungslernens (vgl. dazu Kap. 4.4) beruht nicht zuletzt auf der unmittelbaren Einsichts- und Erlebnisfähigkeit des menschlichen Nervensystems, Bewegung mit »Bewusstheit« zu planen, auszuführen und zu erlernen (automatisieren). Leichter, als dies für Emotionen und Denken sei, könne die Lernfähigkeit des Nervensystems und des ganzen Ichs durch bewusste Bewegung angesprochen werden. Die Feldenkrais-Methode vereint in sich sowohl eine Lernpädagogik als auch eine Lernpsychologie. Sie tut dies, indem sie in ihrem Unterricht physikalische, neurophysiologische und lernpsychologische Aspekte berücksichtigt. Der Schüler beschäftigt sich damit, 55

eine Bewegung gedanklich zu entwerfen und ihr bei ihrer Realisierung im Raum zu folgen. Er wird in die Lage versetzt, die kinästhetischen Empfindungen, die vor der Ausführung einer Handlung entstehen, bewusst wahrzunehmen und das mental empfundene körperliche Bewegungsbild als effektive Handlung auszuführen. Während der Bewegung kann er bewusst wahrnehmen, mit welcher Qualität dies geschieht, d. h., ob die Realisation dem Entwurf entspricht, und welche Wirkungen - in jeder Hinsicht - aus der Bewegung resultieren. Ob sich die Bewegungsorganisation verbessert hat (»genauer, zweckmäßiger, organischer« usw.) und ob eine Qualitätsverbesserung der Handlung (»leichter, angenehmer, zweckmäßiger«) erreicht wurde. Mit anderen Worten: die bewusste Tätigkeit des Gehirns wird darin geschult, die zumeist unbewussten Aktivitäten des Nervensystems, die jedoch einer Wahrnehmung zugänglich sind, mit Bewusstheit zu erleben. Oder mit Worten der Neurophysiologie ausgedrückt: Die neokortikale Aktivität schult sich in bewusster Wahrnehmung und Lenkung der überwiegend subkortikalen motorischen und emotionalen Aktivitäten des Nervensystems. »Bewusstheit« meint: Bewusstes bei Bewusstsein sein und sich selbst in seinem Tun inne sein (Feldenkrais 1978, S. 55). Mit Bewusstheit können dem Nervensystem neue Bewegungsmöglichkeiten und -muster angeboten werden, auf die es zurückgreifen kann. Den Unterricht seiner Methode, bei dem die Schüler verbalen Bewegungsanweisungen des Lehrers folgen, nannte Feldenkrais »Bewusstheit durch Bewegung« (nicht: »Bewegung durch Bewusstheit«!) (siehe Kap. 4.4). Daneben wird in Form einer primär nicht-verbalen Einzelarbeit unterrichtet, bei der der Klient durch einen Feldenkrais-Lehrer bewegt wird und die Feldenkrais »Funktionale Integration« nannte (siehe Kap. 4.8). Gruppen- und Einzelarbeit ergänzen einander. Patienten können durch die Kombination beider Arbeitsformen lernen, die in der Gruppenarbeit vermittelten Methoden auf Art und Weise des inneren Dialogs der Einzelarbeit für sich anzuwenden. Funktion im Sinne der Feldenkrais-Methode »ist alles, was Sie tun, wie Gehen, Stehen, Sich-Drehen usw. Eine Funktion ist integriert, wenn Sie sie mit ihrem ganzen Selbst, ohne sich selbst zu hemmen, ausführen« (Ginsburg in: Feldenkrais 1990, S. 19). Zumeist nichtbewusste Handlungen (Bewegungen), die den eigent56

lieh intendierten Handlungsablauf behindern und stören, nennt Feldenkrais »parasitäre Bewegungen«. Legen Sie das Buch nun wieder einen Moment beiseite. Setzen Sie sich bequem mit den Füßen in Bodenkontakt auf einen Stuhl oder sonstigen Sitz. Legen Sie die Finger einer Hand etwas gespreizt und nur leicht auf Ihren Nacken und stehen Sie auf Welche Bewegung macht Ihr Kopf? Viele Menschen neigen dazu, beim Aufstehen den Kopf nach hinten zu bewegen und die Halswirbelsäule rückwärts zu krümmen. Dies ist ein Beispiel für eine unsinnige, dem Aufstehen entgegenwirkende parasitäre Bewegung. Beobachten Sie, welche Bewegung Ihr Kopf und Ihre Halswirbelsäule machen, wenn Sie ein Glas Wasser trinken. Vergleichen Sie dies mit der entsprechenden Bewegungsorganisation kleinerer Kinder beim Trinken. Eindrucksvollstes Beispiel parasitärer Bewegungen sind die ungewollten Bewegungen von Patienten mit einer Spastik, die beispielsweise einen Löffel zum Mund führen wollen, dabei jedoch durch störende Mitbewegungen anderer Körperteile behindert werden. Bewegungslernen, aber auch Lernen schlechthin »besteht nicht darin, dass man die Willenskraft stärkt und übt, sondern im Aneignen der Fertigkeit, parasitäre Handlungen zu hemmen, und der Fähigkeit, auf Grund von Selbsterkenntnis klare Motivationen zu lenken« (Feldenkrais 1991, S. 21). Beobachtung, Erforschung und Verbesserung von Bewegung sind Mittel auf dem Weg einer bewussteren, kreativeren und freieren Gestaltung der Körperbewegung und des ganzen Selbst. Mit dem Verändern von Bewegungsmustern lösen sich gleichzeitig damit verbundene Empfindungsmuster auf. Es wird ein Zugang eröffnet zu der Vielfalt von Möglichkeiten, die einem Menschen zur Verfügung stehen. Diese sind weitaus größer und reichhaltiger als normalerweise aktiv genutzt. Die Feldenkrais-Methode liefert damit einen Beitrag zur Entwicklung von Kreativität, Lernfähigkeit, Kompetenz und Selbstständigkeit.

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4.3 Die Biologische Psychologie

der Feldenkrais-Methode Eine heutige Definition von »Psychologie« bezeichnet sie als »die Wissenschaft vom Verhalten, dem Erleben und der (rückbezüglichen) Erfahrung aus beiden« (Krech, Crutchfield et al. 1992, I, S. 13). »Biologische Psychologie« erforscht »die Zusammenhänge zwischen biologischen Prozessen und Verhalten« (Birbaumer & Schmidt 1996, S. 3). In mehrfacher Hinsicht kann im Sinne dieser Definitionen von einer »Psychologie der Feldenkrais-Methode« gesprochen werden: Methodisch ist sie weniger eine Bewegungslehre im Sinne physiotherapeutischer oder sport- und bewegungspädagogischer Verfahren als vielmehr eine psychologische Unterrichtung in Beobachtung und Verbesserung des eigenen Bewegungsverhaltens. Ihre Zielsetzung scheint gleichfalls stärker auf psychologischem Gebiet zu liegen: in der methodischen Vermittlung von Lernen und der Verbesserung des »Ich-Bildes« statt bloß körperlicher Beweglichkeit oder Fitness, kurz: in »Bewusstheit durch Bewegung« (vgl. dazu unter Kap. 7.5). Dennoch unterscheidet sich die Feldenkrais-Pädagogik von den meisten psychologischen Schulrichtungen dadurch, dass sie in einem biologischen und physikalischen Sinn konkret ist. Verbesserung des Ich-Bildes meint nicht nur eine Verbesserung der psychologischen Empfindung, sondern die eigene Ganzheitlichkeit einschließlich der körperlichen Organisation besser zu realisieren. Verbesserung des »Ich-Bildes« meint synonym Verbesserung des »Verhaltens« in allen Dimensionen. Als Feldenkrais gebeten wurde, das Ziel seiner Arbeit in einem knappen Satz zu beschreiben, soll er geantwortet haben, es ginge ihm lediglich darum, dass sich menschliches Verhalten leichter zur Schwerkraft organisieren möge. Was steckt dahinter? An der Begrifflichkeit des »dynamischen Gleichgewichts« kann nachvollzogen werden, welche Bedeutung Feldenkrais dem physikalischen Gleichgewicht für das innere Erleben beimaß, oder mit anderen Worten und in dualistischem Sprachgebrauch: wie wesentlich und grundlegend das äußere, physikalische, körperliche Gleichgewicht für das innere, psychische ist. An Medizin und Physiotherapie kritisierte der Physiker grundsätzlich falsche Postulate, wie etwa die Auffassung von aufrechter

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Haltung als »gerader Haltung« als »weder genau noch nützlich« (Feldenkrais 1978, S. 99) oder von Stabilität der Körperorganisation als einer »statischen Größe«. Bereits, wenn man ein Skelett betrachte, zeige sich, dass Haltung angesichts der fast nirgendwo vertikalen Anordnung der Skelettteile kaum wirklich statisch sein könne. Aufrechte Haltung folgt für den Physiker den Naturgesetzen, indem das Skelett »gegen den Zug der Schwerkraft« wirkt und die Muskeln frei sind für die Bewegung des Skeletts im Raum (ebd. S. 100). Unter dem ständigen Einfluss der Schwerkraft entwickeln sich Nervensystem und Körperstruktur gemeinsam so, dass diese Aufgabenverteilung idealerweise mit geringstem Energieaufwand möglich ist. Dies ist nicht der Fall, wenn die Muskulatur Teile der Arbeit des Knochensystems übernehmen muss und dadurch an der eigentlichen Aufgabe gehindert wird, Ort und Haltung der Körperteile durch Bewegung zu ändern. Am leichtesten und am geringsten ist der Kraftaufwand, wenn der Körper vom Skelett getragen wird und nur geringe Muskelarbeit aufgewandt werden muss, um den Körper gegen die Schwerkraft in der gewünschten Position zu halten. Deshalb wird mit Anfängern in der Feldenkrais-Methode häufig überwiegend im Liegen gearbeitet, um anfänglich weniger gegen die Schwerkraft arbeiten zu müssen.

Eine interessante Übung kann bereits im Liegen mit dem Problem des dynamischen Gleichgewichts bekannt machen: Wir studieren den Bereich, in dem die Haltung der im Liegen aufrecht gestellten Beine so organisiert werden kann, dass der Aufwand gleich oder zumindest gegen Null geht. Legen Sie sich auf den Boden. Nachdem Sie Ihre Haltung im liegen und die Rückmeldungen, die Sie durch Ihre Auflage auf dem Boden erhalten, wahrgenommen haben (z. B. wie oben im Kap. 1.2 angegeben), stellen Sie in Rückenlage die Füße an einem bequemen Ort auf dem Boden auf Wo ist der bequemste Platz? Neigen die Knie dazu, zu einer Seite hin zu fallen? Können Sie unnötige Haltearbeit identifizieren, die Sie ungewollt verrichten? Vergleichen Sie den Aufwand, der verhindern soll, dass die Knie auseinanderfallen, mit dem Aufwand, den Sie aufbringen, damit die Knie nicht gegeneinander kommen. Auf welcher Seite stellen Sie den geringeren muskulären Aufwand 59

fest; an den Außen- oder den Innenseiten der Oberschenkel, an beiden Oberschenkeln gleich oder unterschiedlich? Wie liegt Ihr Becken auf? Entdecken Sie unnötige Arbeit im Rumpf; liegt erbequem? Strecken Sie jetzt die Beine lang und ruhen Sie aus. Kommen Sie nach einer kurzen Pause wieder zurück zu Ihrer Erkundungsarbeit und forschen Sie, welche Auswirkung es hat, ob Ihre Füße enger oder weiter auseinander stehen. Welche Bewegungstendenz zeigen die Knie, wenn die Füße weiter auseinander stehen? Wozu neigen die Beine, wenn Sie die Füße nahe zusammenbringen? Wo verrichten Sie jeweils muskuläre Arbeit? Stellen Sie die Füße dort auf, wo es für Sie bequem ist. Spüren Sie, wie weit Sie die Füße vom Becken entfernt aufgestellt haben? Stehen sie parallel, oder befindet sich ein Fuß näher, einer weiter entfernt von Ihrem Becken? Was verändert sich in der Organisation Ihres Beckens, Ihres Rückens, ja Ihres ganzen Körpers, wenn Sie die Füße weiter entfernt aufstellen? Was, wenn sie näher zum Becken aufgestellt werden? Stellen Sie die Beine erneut so auf, dass der muskuläre Aufwand, den Sie betreiben müssen, damit die Beine aufgestellt sind, so gering ist wie möglich. Liegt das Gewicht mehr auf den Fersen, dem Mittel- oder dem Vorfuß? Wie sind die Fußspitzen und die Fersen positioniert? Spüren Sie, welche Auswirkungen es für die Organisation Ihrer aufgestellten Beine hat, wenn Sie die Fußspitzen nur ein ganz klein wenig mehr nach außen zeigen lassen? ... wenn sie mehr nach innen zeigen? Was verändert sich, wenn Sie die Fersen nur ein wenig mehr nach außen aufstellen? ... was, wenn sie mehr nach innen zusammenkommen? Spüren Sie jeweils die Auswirkungen auf ein Mehr oder Weniger an muskulärem Aufwand, um Beine und Knie aufgestellt zu haben ... - Ist es Ihnen ein wenig klarer geworden, wo der bequemere Ort dazu ist? Um die »Biologische Psychologie« der menschlichen Aufrichtung zu verstehen, ist es notwendig, näher auf die physikalischen Gesetzmäßigkeiten des »stabilen Gleichgewichts« der meisten uns umgebenden Dinge und die des »labilen« oder »dynamischen Gleichgewichts« der menschlichen Aufrichtung einzugehen: »Stabilität« ist, um den Herausforderungen des Lebens zu begegnen, physikalisch betrachtet weniger funktional als Instabilität. »Stabi-

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lität ist angenehm. Sie bedeutet aber auch: die Schwierigkeit, Bewegungen zu beginnen oder bewegt zu werden .... Instabilität ist zwar labil, also riskant, bedeutet aber bereite Beweglichkeit: ein Wachtposten steht. Beides ist biologisch wichtig« (Feldenkrais 1987, S. 70). Bewegung, egal in welche Richtung, ist möglichst leicht und einfach nur aus dem »Gleichgewicht« heraus zu bewerkstelligen. Befindet sich ein Körper nicht im Gleichgewicht, kann er eine Bewegungsänderung in eine beliebige Richtung nicht ohne zusätzlichen Aufwand vornehmen. » Wenn

ich z. B. normalerweise mit weit gespreizten Beinen stehe, stehe ich zwar stabil, kann aber nicht gehen, ohne mich vorher komplett umzulagern. Obwohl dies per Definition die ,besteHerrschaft, über die Tätigkeit des Körpers aus« (»and when it is complete it maintains a harmonious >rule, over the body's activities«) (Feldenkrais 1978, S. 237). »Während meiner Ausbildung bei Moshe Feldenkrais lag ich eines Abends auf dem W ohnzimmerfußboden und experimentierte mit einer Lektion in ,Bewusstheit durch Bewegung,, die wir an diesem Tag durchgenommen hatten. Als ich auf der Seite lag, merkte ich, dass ich durch Anheben des Beines spüren konnte, wie sich mein Becken auf ganz neue Weise bewegte. Ich war fasziniert und veränderte während der Lektion meine Absicht, um weiteren Einzelheiten dieser Entdeckung nachzugehen. Als ich das Becken bewegte, spürte ich eine überraschende Empfindung im unteren Rückenbereich. Ich verlagerte meine Aufmerksamkeit und spürte zu meinem großen Erstaunen, dass sich die fünf Lendenwirbel alle differenziert untereinander bewegten! Ich konnte die einzelnen Wirbel zählen, während jeder seinen Beitrag zur Seitwärtsbeugung der Wirbelsäule leistete. Als der erste Lendenwirbel an die Grenzen seines Bewegungsumfangs stieß, spürte ich, wie sich der zwölfte Brustwirbel bewegte und gleichzeitig die zwölfte Rippe mitnahm. Mein sensorisches Empfinden war von einer Schärfe, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Als ich ein paar Minuten später aufstand, hatte das sensorische Feedback über die Bewegungsmöglichkeiten meiner Wirbelsäule die Muster meines Stehens, Gehens und Atmens völlig verändert, sodass sie mühelos und geschmeidig wurden. Was war passiert?« (Russell 1999, S. 37 f.)

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Strukturen der Gruppenarbeit

Die Gruppenstunden folgen in der Regel einer ähnlichen Struktur. Zunächst wird versucht, ein inneres Bild über die momentane Verfassung des Körpers zu erhalten. Dieses innere Bild wird gegen Ende der Stunde zumeist mit dem durch die Übungen veränderten Eindruck verglichen, anders oder deutlicher im Kontakt mit dem Boden zu liegen, anders zu stehen, über ein neues inneres Bild von sich zu verfügen, »schief« oder »aufrecht« zu sein usw. In den Übungen, die die Teilnehmer zumeist alleine für sich auf Anregung durch den Lehrer durchführen, werden die eigenen Handlungen und Bewegungen wie in einer »Laborsituation« mithilfe von Aufmerksamkeit untersucht. Das von M. Feldenkrais 1968 unter dem Titel »Der aufrechte Gang. Verhaltensphysiologie oder Erfahrungen am eigenen Leib ... «, später unter dem Motto seiner Gruppenarbeit »Bewusstheit durch Bewegung«, herausgegebene Buch (Feldenkrais 1978) enthält u. a. zehn praktische Lektionen, die diese Vorgehensweise exemplarisch illustrieren können. Dabei kann die Erforschung der eigenen Bewegungen grundsätzlich in jeder Ausgangshaltung vorgenommen werden, anfänglich jedoch häufiger im Liegen, um die notwendige Haltearbeit des muskuloneuralen Systems gegen die Schwerkraft zu reduzieren und dadurch die Wahrnehmung von Unterschieden und eine qualitative Beurteilung zu erleichtern. Sorgfältig werden die Ausgangslage und die Veränderungen aufgrund der Bewegungen erforscht: »Schließen Sie die Augen und versuchen Sie [im Liegen auf dem Boden, der Verf.J die Körperstellen zu spüren, die mit dem Boden in Berührung sind: Beachten Sie, wie Ihre Fersen auf dem Boden liegen, ob beide den Boden gleich stark drücken und ob die Stelle, mit der Sie den Boden berühren, an beiden Fersen die gleiche ist; prüfen Sie auf die gleiche Weise, wie Ihre beiden Waden den Boden berühren, Ihre Kniekehlen, Ihre Hüftgelenke, die falschen Rippen und die Schulterblätter; beachten Sie, ob und wie weit die Schultern, die Ellbogen, die Handgelenke vom Boden entfernt sind ... « (ebd. S. 128 f.). Die Bewegungen - zum Beispiel im Liegen ein Bein, dann einen Arm, dann den Arm und das Bein auf der gleichen Körperseite zusammen zu heben - sind eher langsam und sollen immer leicht und angenehm sein. Sie sollen nicht im Sinne einer gymnastischen Übung repetiert, sondern unter stets neuen 68

Aspekten und Veränderungen studiert werden. »Ihre jeweils nächste Bewegung soll eine völlig neue und selbstständige Handlung sein« (ebd. S. 130). Systematisch werden die Teilnehmer angeregt, die Wirkungen einer Bewegung auf die gesamte Körperorganisation zu erforschen und die Unterschiede wahrzunehmen, die bereits durch kleine Variationen verursacht werden: »Heben Sie jetzt abwechselnd Arm und Bein. Beobachten Sie, ob die Lendenwirbel sich ein wenig vom Boden heben, wenn nur das Bein (ohne den Arm) gehoben wird, und ob diese Wirbel sich überhaupt bewegen, wenn mit dem Bein auch der Arm gehoben wird. . .. Drehen Sie das Bein auswärts, d. h., drehen Sie Hüftgelenk, Knie und Fuß [des rechten Beins, d.Verf.J nach rechts. Heben Sie jetzt sehr, sehr langsam in dieser Stellung das Bein und beobachten Sie, wie sich die veränderte Stellung des Beins auf die Bewegung der Lendenwirbel (in der Hüftgegend) auswirkt ... « (ebd. S. 133 f.). In der zitierten Lektion werden weiter die Bedeutung der Atmung auf den Bewegungsablauf, die Änderung des Muskeltonus durch leichte und kleine Bewegungen zuerst selektiv auf einer Körperseite sowie die Möglichkeit einer einfachen und leichten Bewegungsorganisation von den großen Muskeln der Körpermitte her untersucht. Andere Lektionen beschäftigen sich mit verschiedenen Organisationsmöglichkeiten der Atmung, mit der Koordination der Beuge- und Streckmuskeln, der Differenzierung von Kopf- und Rumpfbewegungen, dem Erkennen unnützer und unbewusster Anstrengungen in der Beckenmuskulatur, mit einer Verfeinerung des Kraftaufwandes, mit den Auswirkungen gedachter Bewegungsentwürfe auf deren Ausführung oder einer bewussten Koordination von Körper- und Augenbewegung, um nur einige der Themen zu nennen, die in den Lektionen aufgegriffen werden. Im Fortlauf des Gruppenunterrichts entdeckt der Schüler mehr und mehr »Strategien«, auf die er wie auf Werkzeuge immer wieder zurückgreifen kann, um sich auf lebendige, interessante und effektive Weise mit der eigenen Bewegungsorganisation zu beschäftigen. Solche »Werkzeuge« sind: Qualitätsorientierung statt Zielorientierung, Beachtung von ausreichenden Pausen, die Bevorzugung kleiner und langsamer Bewegungen, die Überprüfung, ob die Bewegung fließend und mit gleichem Aufwand umkehrbar ist, und die Benutzung von Vorstellung usw. Die Anwendung dieser Werkzeuge geschieht idealerweise zunehmend aufgrund eines in-

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neren Dialogs, weniger im Sinne einer Technik, sondern vielmehr als ein gewähltes strategisches Vorgehen (vgl. auch Kap. 4.6): für Patienten häufig ein erster Schritt, sich aus ihrer Leidensrolle zu befreien und auf ausschließlich externe Hilfestellung zu verzichten. Das Ergebnis der Gruppenarbeit »Bewusstheit durch Bewegung« ist weitgehend vorhersagbar und reproduzierbar. Dies kontrastiert gewissermaßen mit der Vorgehensweise des Unterrichts, der keineswegs in dem Sinne zielorientiert ist, dass ein bestimmter Standard von Haltung oder Bewegungsorganisation favorisiert oder »eingeübt« wird, wie das bei vielen anderen Methoden der Fall ist. Vielmehr dient die Unterrichtung einer in jeder Hinsicht offenen Erforschung, bei der das »wie« entscheidender ist als das »was« und die Vorgehensweise von jeder Zielfixierung abgekoppelt wird. Dennoch kommt es zu vorhersagbaren Veränderungen von Haltung, Bewegungsorganisation, kinästhetischer Wahrnehmung und Selbstbild. Vergleicht man die Körperhaltung und Bewegungsorganisation der Teilnehmer einer Gruppe vor der Lektion, zum Beispiel die Art zu stehen und zu gehen, sieht man zahlreiche individuelle und unterschiedliche Möglichkeiten der Realisation bis hin zu manchmal seltsamen, dysfunktional, unmöglich und bizarr erscheinenden Varianten. Dies ist am Ende einer Gruppenlektion anders. Obwohl sich die Teilnehmer im Liegen mit ihrem individuellen, jeweils »anderen« Thema beschäftigt haben und jeder seinen eigenen Forschungen nachgegangen ist, sind die interindividuellen Unterschiede in der Art zu stehen oder zu gehen in ihren Extremen nicht mehr zu finden. Vielmehr nähern sich alle Teilnehmer jetzt in ihrer Bewegungsorganisation einem physikalisch und physiologisch idealeren Variationsspektrum an. Spielräume zwischen Vorstellung, Handlung und Empfindung

Bewusstheit gewährt einen Spielraum zwischen Vorstellung und Handlung, webt in das Geflecht unreflektierter Aktivität Phasen des Innehaltens und des Lauschens nach innen. Durch diese innere Aufmerksamkeit lernt der Schüler, innere Signale zu erkennen, mit denen der Körper seine Lage, seine Wünsche und Bedürfnisse kundtut. Sie ist kein introvertiertes Insichkehren, sondern ein Filter, der in Bruchteilen von Sekunden erlaubt, Unnötiges zu lassen, Optimierung und eine bessere Qualität anzustreben, hinderliche 70

Bremsen zu entfernen und alles wegzulassen, was zwischen Intention und Ausführung treten könnte. Jede Bewegung, die mit Bewusstheit ausgeführt wird, wird durch diese bereits verändert. Um zu beobachten, was sich geändert hat, sind viele kleine Pausen nötig; Pausen zwischen den Handlungen und danach. Wenn man sofort von einer Handlung zur nächsten startet, versäumt man, mögliche Wirkungen wahrzunehmen. Einer der auffälligsten Unterschiede zwischen der Feldenkrais-Methode »Bewusstheit durch Bewegung« und anderen Körperübungen in Gymnastik oder Sport liegt darin, dass Pausen nicht primär der Erholung von Ermüdung dienen, sondern »um zu beobachten, was sich während der vorangegangenen, bei völliger Bewusstheit ausgeführten Handlung geändert hat« (Feldenkrais 1978, S. 181). Lernen wird erst durch den Rhythmus der Pausen ermöglicht. Dabei scheint es so, als wenn das innerliche Aufnehmen und Verarbeiten der zuvor untersuchten Bewegungsinformation erst in den Pausen geschieht (zur lernpsychologischen Erklärung vgl. unten S. 104). »Dass eine Pause möglich ist zwischen der Entstehung der Denkfigur zu irgendeiner bestimmten Handlung und deren Ausführung als Handlung«, schreibt Feldenkrais, bilde »die physische Grundlage der Bewusstheit« (Feldenkrais, ebd. S. 73). Diese Feststellungen beinhalten Kritisches für heute gängige Erziehung: Viele Lehrer lassen in ihrem Unterricht zu wenig Zeit dazu, die Nachwirkung von verändertem Handeln, »auch so abstrakter wie des Denkens« (ebd. S. 181), zu bemerken. Eindrücke, die Wirkung, Folgen haben sollen, brauchen Zeit und Aufmerksamkeit für die Empfindungen des Körpers. Es entspricht der ganzheitlichen Sicht der Feldenkrais-Pädagogik, die von einer stets vorhandenen Verknüpfung von Denken, Emotion und Bewegung ausgeht, dass das zu Verstehende nur über die Beachtung der mitverknüpften Ebenen organisch integriert werden kann. »Wer seine Muskeln gebraucht, ohne zu beobachten, zu unterscheiden und zu verstehen, handelt wie eine Maschine: seine Bewegungen haben einen Wert einzig darin, dass sie - mechanisch - geschehen ... Zu solcher Arbeit bedarf es nicht des hoch entwickelten Nervensystems des Menschen. Wenn einer abstrakte (geistige) Eindrücke empfängt, so bleibt dies ein rein mechanischer Vorgang, sofern er sich (oder man ihm) nicht auch die Zeit lässt, sich der Aufmerksamkeit, die er daranwendet, bewusst zu werden und auch dessen, 71

dass diese Aufmerksamkeit genügt, damit er verstehen kann. Sonst werden solche Eindrücke nichts anderes sein als die vorgezeichneten Figuren in den Rillen einer Schallplatte: er wird im besten Fall den geistigen Vorgang mechanisch wiederholen können, aber der Vorgang wird nicht ein organisch integrierter Teil des ganzen Menschen geworden sein« (ebd.). Bewusstheit als Alltagsstrategie zwischen Wissen und Vitalität

Bewusstheit ist das Bindeglied zwischen kognitivem Wissen und Vitalität. Eine Mitarbeiterin von Feldenkrais, R. Alon, spricht von Bewusstheit als der »Grammatik verlorener Spontaneität« (Alon 1993). Bestandteil dieser »Grammatik«, um im Bild zu bleiben, ist ein besseres Differenzierungsvermögen. Für alle sensorischen Qualitäten des Menschen gilt, dass es kleine Details, quantitativ eher »kleine« Veränderungen sind, die als bedeutsame Veränderung wahrgenommen werden: die Veränderung der Klangfarbe eines Orchesters durch einen anderen Bogenstrich, die Tönung einer Farbe usw. Gleiches gilt für die Qualität einer Bewegung, etwa ihre Durchgängigkeit in Abhängigkeit von Ein- oder Ausatmung. Bewusstheit hilft dem Schüler herauszufinden, was seine Aufmerksamkeit stört. Bewusstheit macht Hemmungen klar auch im Verhalten, Hemmungen, sich selbst zu zeigen, sich zu interessieren oder nur im Lernprozess zu bleiben. Ebenso kann der Schüler in den Blick nehmen, was er gerade vermeidet zu tun. Dies ist oft mindestens ebenso aufschlussreich. Oder er studiert, wie er seine Aufmerksamkeit verschiedenen Bereichen zuwenden kann, im Wechsel oder »gleichzeitig«. Wenn der Schüler lernt, weniger zu tun, Überflüssiges wegzulassen, reduziert sich mehr und mehr auch das in unreflektierten Verhaltensmustern zwanghaft Vorgegebene. Auf diese Weise kommt es zu einer weniger arbeitsaufwändigen Organisation und zu einer verbesserten Koordination. Solche Beobachtungen an Details und ihre Auswirkungen lassen den eigenen (Bewegungs-)Stil erkennen und die Einstellung, die jemand zu dem hat, was er tut. Ist mein Tun verbissen und anstrengend oder leicht, spielerisch und doch »bei der Sache«? Wie sehr ist der Lernende bereit, den Prozess der Entwicklung zu genießen? Inwieweit kann er die Vorstellung und wachsende Erfahrung akzeptieren, dass alles und jedes auf mehrere verschiedene 72

Arten gemacht werden kann? Wie fühlt sich Bewegung im Tun an, wie danach? Schließlich öffnet sich hier die Möglichkeit zur Entwicklung eines sicheren Qualitätsbegriffs, ob der Handelnde im Einklang mit sich und im Kontakt mit seinem Tun ist. Und ob er sich seinem individuellen »Ideal« nähert, das er nicht vorgegeben bekommt, sondern selbst entwickelt. Auf diese Weise ist der Schüler in den Lektionen »Bewusstheit durch Bewegung« zugleich Handelnder und Zeuge seines Handelns, Ausführender und Beobachter, Schüler und Lehrer. Bewusstheit befreit somit von den Vorgaben anderer, sei es in Bezug auf die Ausführung, die Qualität, auf Richtig oder Falsch. Sie befreit vom Einerlei eigener Strategien, ausgetretenen Pfaden und lässt neue, verborgene Wege entdecken. Und sie erlaubt schließlich sogar, den Lernprozess der Bewusstheit als Strategie hinter sich zu lassen. »Bewusstheit durch Bewegung« ist ein Lernmittel, kein Endziel und erst recht kein esoterischer Bewusstseinszustand, sondern bleibt ein Hilfsmittel zum Zweck. Bewusstheit ist nur so lange notwendig, wie der jeweilige Lernprozess andauert. Ist eine Handlung einmal erlernt und verinnerlicht, so bekommt sie einen jederzeit verfügbaren, »automatischen« Charakter und ist leicht zu erinnern und auszuführen. Ist ein bestimmter Bewegungsablauf - etwa sich harmonisch zu setzen oder zu drehen - erst einmal verbessert, bedarf es nicht mehr einer übermäßigen Aufmerksamkeit, ihn zu aktivieren. »Nutzen Sie Ihr Bewusstsein, um in einen Zustand zu kommen, in dem Sie es nicht mehr brauchen« (Alon 1993). Das heißt nicht, dass die Übung in »Bewusstheit durch Bewegung« erschöpflich wäre. Das von keinem Menschen je ausgeschöpfte Potential seiner geistigen Fähigkeiten lässt reichlich Spielraum für immerwährende Verbesserung des Tuns und seiner Qualität. Auch in diesem Bereich lässt sich ein elementarer Unterschied der Feldenkrais-Methode zu gymnastischen und sportlichen Übungen feststellen. Während in Gymnastik und Sport Bewegungen (immer noch) mechanisch wiederholt werden, wie um sie »einzuschleifen«, wird der Feldenkrais-Schüler systematisch ermuntert, Bewegungen nicht identisch zu repetieren (außer es handelt sich um ein entsprechendes interessantes Experiment). Vielmehr wird er angeregt, eine Anweisung nur wenige Male auszuführen, um sie dabei stets ein wenig zu variieren und seine Aufmerksamkeit auf neue Aspekte oder Beziehungen zu richten. 73

Wenn ich auf dem Rücken liege, die Beine aufgestellt habe und die Knie mit der Schwerkraft nach einer Seite hin in Richtung zum Boden sinken lasse: wann beginnt das Becken zu rollen, von Anfang an oder etwas verzögert? Welche Bewegung ist im Bereich der Rippen zu spüren? Welches Schulterblatt zeigt eine Tendenz, über den Boden zu scheren? Setzt sich die Bewegung über die Wirbelsäule bis zum Kopf fort? Bewusstheit ist der Schlüssel für neue Organisationsmöglichkeiten und Varianten einer Bewegung, indem sie diese aus dem Bereich der unbewusst ausgeschlossenen Möglichkeiten befreit. In dieser inneren Offenheit für neue Bewegungsmöglichkeiten und Bewegungsbeziehungen liegt eine wesentliche Brücke zur Transformation der Feldenkrais-Arbeit in den Alltag. Das Leben, das immerwährende Bewegung ist und sich Tag für Tag in abertausenden Bewegungen realisiert, bietet ebenso viele Gelegenheiten für Bewusstheit und systematische Verbesserungen. Eine theoretische Abfolge alltäglicher Momente von Bewusstheit kann mit dem morgendlichen Erwachen beginnen: In welcher Lage werde ich wach? Ist es die, in der ich eingeschlafen bin? Werde ich immer in dieser Lage wach? Wie sehr und wo liege ich auf der Unterlage auf? Was bin ich bereit zu tun? Wie mag ich mich im nächsten Moment bewegen, räkeln oder strecken? Gibt es hier bereits eine Tendenz, zu viel zu tun? Wie organisiere ich mein Aufsetzen? Wie stehe ich auf? Wie organisiert sich mein Körper zur Schwerkraft? ... Die Zahl der Alltagssituationen, in denen Bewusstheit durch Bewegung die Qualität unserer Handlungen verbessern kann, ist so unendlich wie die Zahl der möglichen Situationen, die wir erleben, und Funktionen, die wir ausüben. Wir bügeln (Rotation), spülen (Stehen), putzen (Bücken), staubsaugen und kehren und nehmen lieber Unbequemlichkeiten und sogar Schmerzen in Kauf, als einen Moment lang nach einer Verbesserung unserer Tätigkeiten zu suchen. Wenn wir kurz innehalten, kann uns rasch bewusst werden, wie unsinnig wir uns oft gebrauchen - etwa wenn sich unser Becken und unsere Körpermitte in mehr als paradoxer Weise zum vor- und zurückfahrenden Staubsauger bewegen. Statt innezuhalten und nach Verbesserung zu suchen, mögen wir als Auto-

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fahrer lieber fortdauernd leiden, weil wir uns nach rückwärts drehen, ohne unseren ganzen Körper zu benutzen. Wir drehen einen ansonsten eher unbeweglichen Körper beim Ein- und Aussteigen allein über ein früher oder später schmerzendes Knie, das dafür nicht gebaut ist, und vernachlässigen die Beweglichkeit unserer Rippen, bis uns unser »Brust-Kasten« schließlich gar nicht mehr beweglich erscheint. Wie können wir unseren Körper einladen, lebendig zu reagieren? Wer beginnt, die eigenen alltäglichen Bewegungen, wie gerade formuliert, »so oft wie möglich, den Tag über immer wieder« mit dem inneren kinästhetischen Sinn zu registrieren, wird häufig in einem ersten Schritt nichts anderes tun, als dadurch bemerkte nicht-funktionale Bewegung zu unterlassen: ein Zuviel von Arbeit im Schultergürtel und im Unterkiefer etwa oder eine nicht sinnvolle, »gedankenlose« Verschränkung und Verwringung der Gliedmaßen. »Bewusstheit« bezieht sich nicht nur auf die konkrete Bewegungshandlung, sondern auch auf das damit verbundene »Such- und Erkundungsverhalten«, die Rückerinnerung von Bewegungsalternativen oder die Vorstellung von inneren Haltungen dazu.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie würden ständig zu viel arbeiten, ohne es zu merken; wäre das nicht furchtbar? Erscheint es nicht sinnvoll, wir wüssten besser darüber Bescheid, besser noch: wir handelten angemessen, ohne ein Zuviel an Arbeit zu verrichten? Natürlich sind Sie in der Lage, eine Kaffeetasse oder einen Stuhl zu heben. Aber wissen Sie sich auch so zu organisieren, dass Sie nur das an Kraft aufwenden, was notwendig ist? Noch mehr: dass es sich auch angenehm anfühlt? Stehen Sie auf und nehmen Sie einen Stuhl oder einen Hocker in beide Hände. Fassen Sie ihn dabei seitlich in Höhe der Sitzflächen an. Heben Sie den Hocker und tragen ihn ein Stück, um ihn dann wieder abzusetzen. Können Sie dasselbe noch einmal tun, nur deutlich langsamer? Spüren Sie einzeln den folgenden Aspekten nach und machen Sie Pausen dabei: die Haltung der Arme (gestreckt, gebeugt), das Greifen der Hände (was unterscheidet »Greifen« von einer Anstrengung der Hände, Finger, Handgelenke?), die Bewegung in den Hüftgelenken, die Beugung und Aufrichtung des Rumpfes, die 75

Bewegung der Halswirbelsäule und des Kopfes, der Kontakt der Füße mit dem Boden, die Stellung der Knie im Raum, der Hüftgelenke darüber, die Atmung (fließend oder angehalten, ein- oder ausatmend); von wo geht die Bewegung aus, wo ist die »Mitte« der Bewegung? Wie nah oder entfernt tragen Sie den Hocker von Ihrem Körper? Welche Bahn im Raum durchschreitet der Hocker beim Anheben und Absetzen? Was erleben Sie, während Sie dies alles tun? Ruhen Sie aus und denken Sie ein wenig darüber nach.

4.5 Spielend leicht lernen In der Sprache der Psychologen bedeutet Lernen eine objektiv beobachtbare und überdauernde Veränderung des Verhaltens. Häufig beobachten Feldenkrais-Schüler sozusagen im »Nachhinein«, dass sich Bewegungs-, Beurteilungs- und Denkgewohnheiten aus der Feldenkrais-Arbeit heraus verändert haben. Mehr zufällig und überrascht stellen sie plötzlich fest, dass sie sich angenehmer und länger im Sitzen organisieren konnten, sich leichter im Liegen drehen oder bei einem unvorhergesehenen Sturz Kraftenergien in eine überraschende Bewegung umgesetzt haben, reaktionsbereiter waren und sich weniger verletzt haben. Dieser Effekt der Feldenkrais-Arbeit ist so durchgängig zu beobachten, dass viele Feldenkrais-Lehrer dazu neigen, in der zugrunde liegenden »automatischen Aktivität des Nervensystems« den eigendichen Wirkmechanismus ihrer Methode zu sehen: Was immer der FeldenkraisSchüler tut, wenn es denn nur mit angenehmer und teilnehmender Qualität geschieht - das Nervensystem werde sich seine Informationen daraus holen. In der Tat ist das menschliche Nervensystem so sehr auf Lernen ausgerichtet, dass es für gesunde Menschen unter normalen Bedingungen geradezu unmöglich ist, nicht zu lernen. Wirklich aktiv nicht zu lernen, das heißt die Veränderungsund Lernbereitschaft des Nervensystems aktiv und mit Bewusstheit zu unterdrücken, ist ohnehin praktisch unmöglich. Dennoch entzieht sich der Lernprozess von Bewusstheit durch Bewegung einem willentlichen Herbeizwingenwollen von Lernen und Er-

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folg, auch wenn er häufig dann doch immer wieder »schneller ist, als man denkt«. Der Prozess bleibt ein schrittweiser und ist auf eigenartige Weise abhängig von Absichtslosigkeit. Dem Bewusstsein erscheint diese Dynamik oft sprunghaft und überraschend. Auf der anderen Seite kann dieser Prozess auch nicht von reiner Absichtslosigkeit leben. Ebenso wie er sich nicht in der Anregung einer unreflexen, »automatischen« Lernfähigkeit des (motorischen) Nervensystems erschöpft. Worin liegt die Essenz zu lernen, die Dinge leichter, angenehmer und in befriedigenderer Qualität tun zu können? Fragt man nach den wesentlichsten Charakteristika der Pädagogik von »Bewusstheit durch Bewegung«, so findet sich als hervorstechende Besonderheit das Phänomen des spielerischen Lernens. Mithilfe von Bewusstheit können wir uns die gleiche Offenheit und Methode zunutze machen, mit der wir schon als Kinder gelernt haben. Sie lädt ein, mit mehr als nur einer Art und Weise zu experimentieren. Und sie gibt Zeit, neue Möglichkeiten auszuprobieren, die dem Kind auf spontane Weise kommen. Was der Erwachsene in Arbeit, Lernen und Freizeit trennt, ist im kindlichen Spiel eins. Spielen wird in unserer Gesellschaft als eine dem Erwachsenen und dem »Ernst« von Schule und Lernen gegenüber fremde Tätigkeit bewertet (Schiffer 1997), obwohl das Spiel zum »Ursprung der Kultur« (Huizinga 1956) und zu den »Grundlagen des Menschseins« (Maturana & Verden-Zöller 1997) gehört. Ein Blick auf Art und Funktion kindlichen Spielens beweist, wie unsinnig die gesellschaftliche Ächtung des Spiels durch die Erwachsenenwelt ist. Für den Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896-1980) war Spiel nicht nur der authentischste Ausdruck, sondern auch das wirksamste Lernmittel des Kindes (Piaget 1937, 1992; Piaget & Inhelder 1998). Diese These ist durch neurobiologische Erkenntnisse wesentlich gestützt worden. Wir wissen heute aufgrund von (vor allem tierexperimentellen) Forschungen der Neurowissenschaften, dass Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen des Gehirns unter dem Einfluss von Aktivität und Erfahrung gebildet werden. Diese aktivitätsabhängige Plastizität des Gehirns ist die Voraussetzung dafür, dass sich der diesbezüglich nur mit begrenzter genetischer Information ausgestattete Organismus an Herausforderungen der Umwelt anpassen, d. h. lernen kann. Solche Anpassungsvorgänge erfolgen in bestimmten Ent77

wicklungsphasen, vornehmlich in den sogenannten »kritischen Perioden« des Kindesalters, grundsätzlich aber lebenslang. Mit anderen Worten: In den verschiedenen aktiven Formen des Lernens schafft der menschliche Organismus an die entsprechenden Herausforderungen angepasste neuronale Verschaltungen und damit seine eigene Gehirnstruktur (Überblick z.B. Menzel 1996). Oder, wie es die Pädagogin Rebeca Wild formuliert hat: »Ein Kind drückt sich in seinem Spiel aus und macht sich selbst« (Wild 1996). Hierin liegt »der biologische Sinn des Spiels« (Vester 1997a). Spielendes Lernen ist eine der höheren Formen des (assoziativen) Lernens und der Hauptmotor des neuronalen Entwicklungsprozesses im Kindesalter (Hengstenberg 1993; Pickler 1988, 1997; Pickler & Tardos 1994). Das freie und phantasievolle Spiel kommt im Alter von etwa zwei bis sieben Jahren zu seiner vollen Blüte. In erster Linie handelt es sich dabei um motorisches Lernen. An Kindern kann man deutlich beobachten, dass Verstehen und »Begreifen« abstrakt unmöglich und an das konkrete körperliche Be-greifen, Bewegen und Erleben gebunden sind. Jedem Verstehen gehen motorische Nachahmung und bewegtes Erleben voraus. Kinder spielen dabei auf eine besondere Weise, ganz ernst. Sie spielen nicht die Rolle etwa von Vater und Mutter, sondern sie sind im Spiel Vater und Mutter. Sie tun mit formbarer Materie, Sand, Wasser, Matsch usw., nichts Nebensächliches, sondern sie »begreifen« diese Materie und lernen die Gesetze der Physik. Sie klettern nicht nur auf Bäume, sondern üben Koordination und Gleichgewicht. Spielen ist ein authentisches Entwicklungsbedürfnis von Kindern. Der Drang nach Bewegung, Aktivität, Neugierde, der Wunsch nach schöpferischer Gestaltung, das Bedürfnis nach Geborgenheit, Bindung und Gemeinschaft, alle Grundbedürfnisse werden im ernsten Spiel von Kindern befriedigt. Als eine der wesentlichen Vorbedingungen des spielenden Lernens kann im Anschluss an das pädagogische Konzept Maria Montessoris (1870-1952) die »entspannte Umgebung« (Montessori 1997; Wild 1996, 1998; Milz 1999) genannt werden. Sinnvollerweise funktioniert das menschliche Gehirn so, dass assoziatives Denken unter dem Einfluss von Stress blockiert wird. Bei Gefahr und unter Stress sind reflexartige Reaktionen gefordert. »Erst wenn wieder Entspannung eingetreten ist, beginnen die Assoziationsfelder des Gehirns erneut zu arbeiten, das Lebewesen beginnt wieder 78

mit der Umwelt zu >spielenMachen-WollenInstrumentes< Mensch durch Erziehung und Unterricht nicht ablenkt, sondern dass man möglichst so fragt, dass die biologische Ausrüstung zwangsläufig ungestört funktioniert und damit durch jeden Gebrauch auch wirklich entfaltet wird« Gacoby 1991, S. 18 f.). Diese Formulierungen implizieren den ganzen pädagogischen Optimismus der FeldenkraisMethode: die jedem Menschen mögliche Selbsterziehung, die nicht durch »Machen-Wollen«, sondern durch Schaffung geeigneter Bedingungen und die unverstellte Einbeziehung menschlicher Biologie und Körperlichkeit ermöglicht wird. »Wenn zweckmäßiges Verhalten und zweckmäßige Frage- und Aufgabenstellung zusammentreffen, werden immer qualifizierte Leistungen entstehen, und dann kann auch ein sogenannter unbegabter Mensch nicht länger >unbegabtzuständigendas Üben ein eigenartiges Wiederholen ohne Wiederholung, ist und dass ein motorisches Training, das diese Grundsätze ignoriert, nur ein mechanisches Einpauken darstellt, eine Methode, die schon seit langem in der Pädagogik diskreditiert ist« (Bernstein 1988, S. 187). Eine überholte Theorie der Bewegungsentwicklung nimmt an, wiederholte Bewegungen würden zur Festlegung eines bestimmten motorischen Programms führen. So richtig der damit angesprochene Grundgedanke einer Bildbarkeit (Plastizität) des Gehirns ist, so unrealistisch ist nach Auffassung der Neurowissenschaften die Annahme, dass durch Bewegungswiederholungen präzis wiederholbare neuronale oder Verhaltensaktivitäten in unterschiedlichen Kontexten geschaffen werden könnten (Edelman 1993). Lernen und Erinnern sind physiologisch unterschiedliche Phänomene. Nach Ansicht heutiger Bewegungsforscher beruhen motorische Fähigkeiten und Bewegungsmuster nicht auf einem dem Gehirn gleichsam eingeprägten Schema, sondern auf der Fähigkeit des Organismus, dem Spektrum variierender Umweltbedingungen für ein motorisches Problem Rechnung tragen zu können. Bewegung entspricht damit der Definition Reeds von

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»Handlung« als die Fähigkeit, die sich verändernde Beziehung zur Umwelt zu kontrollieren (Reed 1982). Die Selektion von Verhaltensmustern, die besser mit den spezifischen Umweltbedingungen harmonieren, kann als das natürliche Ergebnis einer W echselwirkung zwischen intrinsischen und umweltbedingten Erfordernissen verstanden werden (Kelso 1995, S. 185). Die pädagogische Unterweisung variierender Bewegungen in der Feldenkrais-Methode ist durch die genannten Zusammenhänge begründbar. 3. Steuerung der kinästhetischen Information Ermuntert man Feldenkrais-Schüler, eine bestimmte Bewegung sehr genau zu untersuchen, um möglichst alle dadurch verursachten Veränderungen in der Bewegungsorganisation genau zu registrieren, greifen sie zumeist bereits automatisch zu einem Mittel, dem in der Feldenkrais-Arbeit große Bedeutung zukommt: sie bewegen sich langsamer und neigen dazu, die Bewegung kleiner zu machen. Andersherum reagieren viele Schüler, wenn man sie auffordert, eine Bewegung leicht zu gestalten, dazu, schnellere und größere Bewegungen zu machen. Im ersten Fall berücksichtigen die Feldenkrais-Schüler die menschliche Sinnesphysiologie auf angemessenere Weise, um mehr Informationen zu erhalten. Im zweiten Fall handelt es sich um eine weit verbreitete Strategie des »Darüber-Hinweghuschens«, bei der die Eigenart menschlicher Wahrnehmung zum Selbstbetrug benutzt wird. Die Zeit zur angemessenen Wahrnehmung der verrichteten Arbeit wird nur verkürzt. Feldenkrais-Schüler werden immer wieder aufgefordert, Bewegungen langsam auszuführen und im Radius klein zu gestalten, bis hin zum kaum noch von außen merklichen Tun. Sie können dabei erfahren, dass Informationsqualität und -quantität zunehmen, desto langsamer und kleiner die Bewegungen gestaltet werden. Die zugrundeliegenden psychophysischen Beziehungen werden im Wesentlichen durch die Weber-Regel und das Weber-FechnerGesetz, auf die schon Feldenkrais hinwies (Feldenkrais 1994, S. 173 ff.), sowie durch die psychophysische Beziehung von Stevens erklärt (Hajos 1991, Birbaumer & Schmidt 1996, S. 317 ff.). Diese Gesetze gelten für alle menschlichen Sinnesqualitäten und besagen im Wesentlichen Folgendes: 1. Nach der Weber-Regel ist 107

der Reizzuwachs, der erforderlich ist, um merklich wahrgenommen zu werden, abhängig von der Größe des Ausgangsreizes. So wird der Lichtschein von zwei Kerzen in einem dunklen Raum gegenüber nur einer Kerze als merklich stärkere Empfindung wahrgenommen. Ob der Raum jedoch von 100 Kerzen oder 101 Kerzen erhellt wird, wird nicht als veränderter Reiz empfunden. Setzt man einer Versuchsperson völlig gleich aussehende, aber unterschiedlich schwere Gewichte auf die Hand, so wird der Unterschied zwischen einem Gewicht von 100 g und 102 g noch nicht bemerkt, wohl wird aber ein Gewicht von 103 g Schwere als unterschiedlich wahrgenommen. Gibt man der Person nun ein Gewicht von 200 g in die Hand, wird ein Gewicht von 203 g noch nicht, jedoch eines von 206 g als unterschiedlich schwer wahrgenommen. 2. Nach dem psychophysischen Grundgesetz (WeberFechner-Gesetz) entspricht der lineare Zuwachs der Empfindungsstärke einem logarithmischen Zuwachs der Reizstärke. Das heißt, bei schwachen Reizen ist die Wahrnehmungsempfindlichkeit hoch, bei starken Reizen geringer, auch wenn die relative Unterschiedsempfindlichkeit in beiden Fällen erhalten bleibt. 3. Diese logarithmische Beziehung zwischen Reiz- und Empfindungsstärke gilt für mittlere Reizstärken, wird jedoch für sehr kleine und sehr große Reizstärken besser durch die Potenzfunktion von Stevens beschrieben (Stevens 1971). 4. Vorstellung von Bewegung Auf verschiedenste Weise nutzt die Feldenkrais-Methode die Vorstellung bewusster Bewegung anstelle bewusst ausgeführter Bewegung. Vorstellung dient der Überwindung motorischer Schwierigkeiten, einer qualitativen Verbesserung von Handlung oder einer Umgehung eingefahrener Bewegungsmuster. Der Physiker Feldenkrais liebte es, in öffentlichen Auftritten der 70er Jahre den »Energie«-Begriff esoterischer Schulen zu konterkarieren und »imagery« als »the highest possible energy in the world« und als Voraussetzung zu wirklicher Gesundheit zu bezeichnen. Worte und Vorstellungen in Aktion umzusetzen, stelle eine originäre Leistung des menschlichen Gehirns dar. Die bewusste Planung, einen Arm zu heben, und ihre Verwirklichung seien eine größere Leistung, als dies bloß zu tun, und bedeuteten eine »Transforma108

tion von niedriger zu höherer Energie«. Die neurophysiologischen Hintergründe bewusster Vorstellung sind in groben Zügen bekannt. Bei Vorstellung und Durchführung von Bewegung werden dieselben Hirnareale aktiviert. Vorstellungen lösen dabei im Zentralnervensystem komplexere Vorgänge als reale W ahrnehmung aus. Bei der Vorstellung einer Bewegung lassen sich schließlich auch, ohne dass eine Bewegung sichtbar wird, elektromyographische Reaktionen in der Muskulatur nachweisen, die in der vorgestellten Bewegung aktiviert wird (Birbaumer & Schmidt 1996, 681 ff.). Die funktionelle Wirkung von Vorstellung ist derjenigen bewusst ausgeführter Bewegung vergleichbar. Voraussetzung ist allerdings, dass die Vorstellung der Innenperspektive einer Bewegung entspricht. Unter dieser Voraussetzung spielt es für die Veränderungen der Bewegungsorganisation von Feldenkrais-Schülern keine grundsätzliche Rolle, ob diese durch bewusste Bewegung oder bewusste Vorstellung initiiert wurde. Dieser Umstand hat auch als »idiomotorisches Training« Eingang in die mentalen Trainingsformen von Sportlern gefunden (z. B. Eberspächer 1990). Bewusste Vorstellung führt dabei schneller zu gewünschten Lernveränderungen als eine zuvor etwa mit der anderen Körperhälfte durchgeführte Handlung. Es ist noch unklar, ob dies allein daran liegt, dass zuvor »auch viele falsche oder schlechte Bewegungen gemacht« wurden, »wie das, wenn man eine neue Bewegung versucht, eben der Fall zu sein pflegt« (Feldenkrais 1978, S. 189 f.), oder ob bei einem solchen Vorgehen, wie die Neuropsychologie annimmt, leichter zuvor bei der Handlung geprägte »Propositionen« abgerufen und auf die andere Gehirnhälfte übertragen werden können.

s.

5. Beeinflussung des Gesamtbewegungsmusters Eine andere Strategie liegt in der Beeinflussung von Verhaltensmustern durch Einbringung antagonistischer Reaktionen. So kann durch Beobachtung einer gleichmäßigen und ungestörten Atmung eine gleichzeitige komplexe und eher schwierige motorische Aktion leichter auf organische und harmonische Weise realisiert werden (vgl. Kap. 6.5).

Ein leichtes Öffnen und Schließen der Hand in einem mittleren Bereich, in dem gerade noch die Öffnung der Handwurzel, der 109

Finger und ihre Schließbewegung voneinander differenziert werden können, ist als ruhige und fließende Bewegung (wie eine Blume, die sich eben schließen oder öffnen will) auch für komplexe Bewegungen von Bedeutung. Während die »Handblume« sich leicht und angenehm öffnet und ein wenig schließt, werden gleichzeitig ausgeführte komplexe Bewegungen ebenfalls fließender, harmonischer und leichter, wie z. B. sich aus der Rückenlage auf den Bauch drehen, Rollen, Aufstehen, Setzen usw. Es bietet sich an, die Wirkweise dieser Strategie - ähnlich wie bei der Systematischen Desensibilisierung nach Wolpe (1958) - lerntheoretisch zu begründen. W olpe hatte ein V erfahren entwickelt, bei dem sich Patienten in der Vorstellung oder in der Exposition angstauslösenden Stimuli aussetzen, sich dabei jedoch von vornherein in einem Zustand der Entspannung befinden, der mit der üblichen Reaktion auf diese Angstauslöser nicht vereinbar ist. W olpe sah den Wirkmechanismus seiner effektiven und auch heute noch viel angewendeten Methode in der Hemmung der Angstreaktion durch die »antagonistische Reaktion«. Auf unsere Beispiele übertragen hieße das: Während die komplexe und in ihrer Ausführung schwierige motorische Reaktion normalerweise zu einer Stockung der Atmung führt, verhindert die bewusst fließende Atmung den üblichen Ablauf der Stimulus-ResponseVerbindung. Die harmonische Handbewegung ist mit dem üblichen, auf die komplexe Bewegung des Drehens oder Rollens auftretenden motorischen Reaktionsmuster einer Anspannung unvereinbar. Die theoretischen Grundannahmen W olpes gelten unter Fachleuten jedoch zwischenzeitlich als »heterogen und umstritten«. Zur Erklärung des »am detailliertesten empirisch untersuchten Verfahrens der Verhaltenstherapie« wurden zahlreiche andere Erklärungsversuche formuliert (Übersichten: Fliege! et al. 1989, S. 152-180; Reinecker 1995, S. 67-76). Überdenkt man die Vorschläge von Feldenkrais zum »körperlichen Verhaltensmuster der Angst« in Bezug auf das Verfahren W olpes, so würde sich anbieten, den Zustand der muskulären Entspannung als unvereinbar mit der konditionierten Körperreaktion der Angst zu verstehen, d. h. als gegen die Beugerreaktion der angeborenen Fallangst gerichtet (vgl. Kap. 6.4). Dieser Ansatz ließe sich differenziert überprüfen, wurde bisher aber nicht aufgegriffen. 110

6. Unterweisung der kontralateralen Seite Bei einer weiteren, häufig angewandten und effektiven Strategie wirkt der Boden des zur Verfügung stehenden Grundlagenwissens noch unsicher, obwohl er auf das sich in stürmischer Entwicklung befindliche Gebiet der Hemisphärenforschung in der Neurologie verweist. Feldenkrais-Lehrer arbeiten unter mehreren Gesichtspunkten zumeist nicht direkt mit einer Behinderung. So verbietet sich die direkte Behandlung eines schmerzhaft in seiner Funktion eingeschränkten Körperteils durch die damit verbundenen aversiven Empfindungen oder eine Verhinderung neurologischen Lernens durch zu starke Zielfixierung. Von Interesse sind vielmehr die Auswirkungen einer Schädigung für die restliche Körperorganisation. Im Extremfall kann nämlich die funktionelle Fähigkeitsstörung (»disability«) hartnäckiger sein als die ursprüngliche Schädigung (»impairment«), wie ja auch körperliches Schonverhalten häufig wesentlich länger als notwendig aufrechterhalten wird. Im Mittelpunkt des Interesses steht stets die Gesamtfunktion und -Organisation der Bewegung, deren Verbesserung zumeist auch zu Verbesserungen des Problemfokus führt. Ein häufig zu beobachtendes Phänomen ist die Verbesserung einer Funktion, z.B. der Schulter-Arm-Bewegung auf der linken Seite, obwohl nur mit der Funktion der anderen Körperhälfte, d. h. mit der rechten Schulter-Arm-Region, »gearbeitet« wurde. Diese Vorgehensweise ist zusätzlich geeignet, Zielfixierungen und gewohnheitsmäßige behindernde Denk- und Reaktionsmuster von Patienten zu umgehen. Frau R., 48 Jahre, leidet nach Aussagen der zuweisenden Ärzte an einer »reaktiven Depression« im Anschluss an einen Schlaganfall vor vier Jahren. Von der damaligen Symptomatik ist noch eine leichte Parese des linken Arms übrig geblieben. Frau R. erlebt sich durch den »schlechten Arm« als erheblich behindert und öffentlich stigmatisiert. Zu ihrer Genugtuung nimmt sich der Feldenkrais-Lehrer beim ersten Kontakt sehr viel Zeit, die Behinderung zu verstehen. Er lässt sich berichten, erklären und zeigen, wie Frau R. »den« Arm gebraucht, interessiert sich aber offensichtlich auch für andere Körperteile, den Schultergürtel, das Becken und für »den« Arm, wenn sich Frau R. hinlegt oder aufsetzt usw. Ein wenig erstaunt reagiert Frau R., als der Feldenkrais-Lehrer Frau R. bittet, auch den gesunden Arm auf die Art und Weise zu bewegen wie den behinderten Arm ...

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Besonderes Interesse scheint eine Beobachtung zu verdienen, die von R. Alon »the neurological diplomacy« genannt wurde: Erforscht man beispielsweise das Stehen auf beiden Beinen, wird der Schüler häufig bemerken können, dass er sich auf dem einen Bein stabiler, auf dem anderen weniger stabil organisiert. Die V erteilung zwischen einer klareren oder weniger klaren Übersetzung der Kräfte, zwischen mehr oder weniger notwendiger Haltearbeit und einem befriedigenderen oder weniger zufrieden stellenden Körpergefühl können der Funktion von Standbein und Spielbein entsprechen, brauchen es aber nicht. Beobachtet der Schüler sehr differenziert die Besonderheiten seiner Körperorganisation auf dem als weniger befriedigend erlebten Bein, wird er in der Lage sein, diese Organisation auf das »bessere« Bein zu übertragen. Der Vorgang ist also gegenüber den üblichen Bemühungen ein paradoxer: das Stehen auf dem »besseren« Bein wird so organisiert, dass es der »schlechteren« Organisation auf dem anderen Bein entspricht. Diese Übertragung und willentliche »Verschmutzung« des befriedigenderen Organisationsmusters kann wirklich oder auch nur in der Vorstellung erfolgen, wenn sie nur so genau wie irgend möglich vorgenommen wird. Das Ergebnis ist reproduzierbar und doch immer wieder verblüffend, wenn nach Ende dieser Übertragung plötzlich das Stehen auf dem ursprünglich »schlechteren« Bein objektiv verändert ist und subjektiv als befriedigender, integrierter und sicherer erlebt wird.

Evaluation der Feldenkrais-Methode Arbeitsweise und Effektivität der Feldenkrais-Methode werden durch zahlreiche Kasuistiken (z.B. Feldenkrais 1981, Ginsburg 1986, Talmi 1996) sowie Videodokumentationen (z.B. Korentayer 1980) belegt. Darüber hinaus liegen derzeit einzelne Studien vor, die unterschiedliche Aspekte der Bewegungsphysiologie (z. B. Brown & Kegerreis 1991, Jackson-Wyatt et al. 1992, Ruth & Kegerreis 1992, Goldfarb 1994), physiotherapeutische Effekte (z. B. Saraswati 1989, De Rosa et al. 1992, J ackson 1991, Lake 1985 und 1992, Narula et al. 1992, Narula 1993) sowie psychologische Wirkungen untersuchen (z.B. Hutchinson 1981, Laumer 1993, Schneider 1987, Steisel 1993). Einige Untersuchungen berichten über Effekte bei bestimmten Zielgruppen, wie älteren Menschen

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(z.B. Gutman et al. 1977, Elsässer 1991), Sportlern (z.B. Haller 1988, Ruth et al. 1992), cerebral geschädigten Kindern (z. B. Delman & Evans-Delman 1987, Shelhav-Silberbush 1988, 1999), Schülern (Howell 1982, Shelhav 1997), Multiple-Sklerose-Patienten (Bost et al. 1993, Johnson et al. 1999) oder Künstlern mit medizinischen Problemen (z. B. Spire 1989). Andere Arbeiten beziehen sich auf die pädagogische Arbeit mit Tänzern (Blank 1987) oder Musikern (z.B. Nelson 1989, Eikmeier 1992, Hoffmann 1994). Zwei deutschsprachige Arbeiten weisen positive Effekte der Feldenkrais- Methode bei psychosomatischen Patienten nach, nämlich die Arbeit von Laumer (1993) mit essgestörten Patienten einer psychosomatischen Klinik und eine vergleichende Studie von Schneider (1987) zur Beeinflussung von Körperbild und Selbstkonzept durch die Feldenkrais-Arbeit. Klinkenberg (1996b) und Olbrich et al. (1997) berichteten über die Integration der Feldenkrais-Arbeit in die therapeutische Arbeit psychosomatischer Rehabilitationskliniken. Die in diesen Arbeiten dargelegten Effekte erlauben die Feststellung, dass die Feldenkrais-Methode in der Lage ist, in verschiedenen Anwendungsbereichen neue und sinnvolle Perspektiven zu eröffnen, dass sie zu einer Verbesserung körperlicher Bewegung führt und psychologische Effekte zeigt, die für eine gleichzeitige Verhaltenstherapie günstig sein können, dass sie von unterschiedlichsten Personengruppen angewendet werden kann und schließlich in einem befriedigenden Kosten-Nutzen-Verhältnis steht. Einschränkend muss jedoch auf die insgesamt noch wenigen Untersuchungen, die geringen Fallzahlen in diesen Studien und - bei manchen Arbeiten - auf methodologische Schwächen und die nicht immer ausreichende Beachtung fachlicher und statistischer Kriterien hingewiesen werden. In zwei deutschsprachigen »Reviews« zur Wirksamkeit der Feldenkrais-Methode sind die vorliegenden Studien kritisch bewertet worden: Während Bender und Kreck (1996) aufgrund einer - allerdings recht rudimentären - Literaturübersicht einen hinreichenden Nachweis zur medizinischtherapeutischen Wirksamkeit der Feldenkrais-Methode als nicht gegeben konstatieren, stellt Schmidt (1996) fest, dass »die wenigen vorliegenden Studien mehrheitlich positive Veränderungen bei unterschiedlichen Zielkriterien (z.B. Bewegungsparameter, psychologische Parameter) zeigen und diese Effekte mit der beanspruch113

ten Wirksamkeit in Einklang stehen«, was »eme weitere Evaluierung notwendig und sinnvoll« mache. Gemessen an der Zahl akademischer Arbeiten und laufender Forschungsprojekte (Bibliographische Angaben zuletzt bei Kraus 1999) nimmt das wissenschaftliche Interesse an der FeldenkraisMethode offensichtlich zu. Auch wenn manche Interventionsformen vergleichbarer therapeutischer Anwendungsfelder, beispielsweise in der Physiotherapie oder Krankengymnastik, heutigen Validierungskriterien nicht standhalten würden, werden bei der Implementierung eines neuen therapeutischen Verfahrens heutzutage strenge Kriterien angelegt (z. B. Petrak et al. 1999). Allerdings ist die Evaluation eines Therapiebausteines innerhalb eines multimodalen Behandlungsansatzes erheblich schwieriger als beispielsweise der Nachweis der Effektivität eines Medikaments zur Senkung des Blutdrucks, da eine Unzahl von Variablen zu beachten und der zu überprüfende Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nur schwer nachzuweisen sind. Für die zukünftige Beforschung der Feldenkrais-Methode im therapeutischen Kontext sollten insbesondere folgende Aspekte beachtet werden: 1. Fragen der Grundlagen- und Anwendungsforschung sind getrennt voneinander zu betrachten. 2. Es muss geklärt werden, welche Effekte der Feldenkrais-Methode sich wie objektivieren lassen. Die eingesetzten Messinstrumente müssen anerkannten Gütekriterien entsprechen. 3. In klinischen Anwendungsstudien müssen die spezifischen Ziele der Feldenkrais-lntervention definiert und operationalisiert werden. (Ob die Effekte der Methode auf das »Körperbild«, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung oder die Fähigkeit zu aktiver Aufmerksamkeitslenkung überprüft werden sollen, macht wesentliche Unterschiede für das Studiendesign und für die Auswahl der eingesetzten Messinstrumente aus.) 4. Wenn eben möglich, sollten dabei die Effekte der FeldenkraisPädagogik auf verschiedenen Verhaltensebenen überprüft werden (State- und Trait-Veränderungen, Bewegungs-, Kognitions- und emotionale Parameter, subjektive, semiquantitative, kinesiometrische, psychometrische Messinstrumente usw.).

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5. Wünschenswert sind kontrollierte Studien mit sauber definierten Experimental- und Kontrollgruppen, möglichst im Crossover-Design und vor allem mit Follow-up-Untersuchungen.

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5. Gemeinsamkeiten zwischen Feldenkrais-Pädagogik und Körperverhaltenstherapie Bevor Beispiele geschildert werden können, die den Modellcharakter der Feldenkrais-Arbeit für eine Körperverhaltenstherapie illustrieren, sollen Gemeinsamkeiten zwischen der FeldenkraisMethode und Grundbedingungen einer Körperverhaltenstherapie herausgestellt werden. Verhaltensänderung kann nur der Therapeut anstoßen, der diese Grundbedingungen berücksichtigt. 1. Verhaltenstherapie und Feldenkrais-Methode erkennen experimentelle und naturwissenschaftliche Grundlagen als ihre Basis an und greifen auf die gleichen Grundlagen- und Bezugsfächer zurück wie Lernpsychologie, Entwicklungspsychologie, Medizin, Anatomie, Gesundheitswissenschaften, Motowissenschaften, lerntheoretisch fundierte Psychotherapie und erkenntnistheoretische Wissenschaften.

2. Ebenso finden sich weitgehende Übereinstimmungen im zugrunde liegenden Menschenbild, beispielsweise in so prinzipiellen Aspekten wie dem Charakter des Arbeitsbündnisses zwischen Lehrer und Schüler bzw. Therapeuten und Klienten und in der Auffassung des Entwicklungs- und Lernprozesses als originäre und nur durch den Schüler selbst zu leistende Tätigkeit. Hieraus folgt in der Verhaltenstherapie die explizite Beauftragung durch den Patienten und die Bildung einer kooperierenden Arbeitsbeziehung mit verlässlichen Regeln und Absprachen. Für den Therapeuten gelten in besonderer Weise die Beachtung von Vertraulichkeit und Schweigepflicht, eine grundsätzliche Parteilichkeit für den Klienten als dessen Anwalt sowie die persönliche Enthaltsamkeit und Distanz zum Schutz des Patienten vor Übergriffen. Feldenkrais-Pädagogen haben diese typisch therapeutischen Voraussetzungen bisher wenig reflektiert; im sog. Berufsbild der deutschen Feldenkrais-Gilde werden sie nicht genannt (Pieper & Weise 1996). Sie entsprechen aber der pädagogischen Haltung des

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Feldenkrais-Lehrers (siehe Kap. 4.7) und besitzen für FeldenkraisArbeit im therapeutischen Kontext automatisch Gültigkeit. 3. Selbstmanagement (bei Feldenkrais: Selbsterziehung) stellt eine gemeinsame Zielbestimmung dar, die sich aus der Ressourcenorientierung der Verhaltenstherapie und dem besonderen Gesundheits-/Krankheitsverständnis der Psychosomatik begründet. Feldenkrais spricht von dem jedem Patienten zur Verfügung stehenden »Motivationskapital «, dessen Verwaltung erlernt werden könne (Feldenkrais 1991, S. 303). Der Selbstmanagementansatz impliziert besondere methodische Postulate: so die Orientierung an dem jeweiligen Wissens- und Erkenntnisstand des Klienten, die Information (Aufklärung) des Patienten über den Therapieprozess, die Würdigung des Therapieprozesses als therapeutischer Wert (Ziel) an sich sowie die Reflexion des Verhaltens als erste Annäherung an eine Problemlösestrategie; ferner »learning by doing«, hypothesengeleitetes Vorgehen und ständige Evaluation der therapeutischen Schritte, nach der Feldenkrais-Terminologie im Sinne einer stetigen »Verbesserung« und eines »Hinzugewinns neuer Handlungsoptionen«. Die pragmatische, positive und zukunftsgewandte Arbeitsweise des kognitiv-verhaltenstherapeutischen Selbstmanagement-Ansatzes kann durch 6 »Mottos« charakterisiert werden (Kanfer et al. 1991, S. 411-420): »1. verhaltensorientiert denken, 2. lösungsorientiert denken, 3. positiv denken, 4. in kleinen Schritten denken, 5. flexibel denken, 6. zukunftsorientiert denken«. Die für die kognitive Verhaltenstherapie typische Verknüpfung von diagnostischem und therapeutischem Prozess (Kanfer et al. 1991, Klinkenberg & Rüddel 1996) kennzeichnet auch den Prozess der Feldenkrais-Arbeit: Gleichzeitig finden in der Gruppenarbeit Selbstexploration und Veränderung, im Einzelunterricht Exploration und Intervention statt (siehe Kap. 4.8). 4. Schließlich misst sich der Erfolg von Körperverhaltenstherapie und Feldenkrais-Unterricht am Maß der erreichten Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von pädagogischer oder therapeutischer Hilfestellung. Gute Feldenkrais-Arbeit und Körperverhaltenstherapie intendieren immer das Sicherübrigen, die »Abschaffung« des Lehrers oder Therapeuten (siehe oben Kap. 4.7). 117

5. Der Förderung von größerer Selbstwirksamkeit und Autonomie liegt ein humanistisches Weltbild zugrunde, worin sich beide Verfahren ebenso treffen wie in den hedonistisch gefärbten Zielsetzungen eines Abbaus unnötiger Arbeit und Spannung und einer leichteren, angenehmeren und befriedigenderen Lebensweise. Als »Ergebnisse« der Feldenkrais-Methode werden originäre Ziele psychotherapeutischer und kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlungsansätze formuliert, wie z.B. eine Verbesserung und Zunahme von Selbstvertrauen, Lernvermögen, Handlungskompetenz, Leistungsfähigkeit und Eigenwahrnehmung oder eine Erweiterung des Selbstbildes und Körperschemas (Pieper & Weise 1966, 2000).

6. Darüber hinaus treffen sich Psychosomatik, Körperverhaltenstherapie und Feldenkrais-Pädagogik in einem prinzipiell ganzheitlichen und bio-psycho-sozialen Ansatz, der nicht auf den Bereich theoretischer Vorüberlegungen beschränkt bleibt, sondern sich in der praktischen Arbeit konkretisiert. Verhaltenstherapie und Feldenkrais-Pädagogik sind grundsätzlich für die Analyse aller relevanten Verhaltensvariablen offen. Allerdings bleibt die »Organismusvariable« in vielen verhaltenstherapeutischen Bedingungs- und Störungsanalysen blass und wird als »biologische Bedingung« gegenüber anderen Variablen (Kognitionen, Emotionen, soziale Bedingungen usw.) häufig eher gestreift (Übersicht: Schulte 1996). Auf der Mikro-Ebene einer situativen (im Gegensatz zur kontextuellen) Verhaltensanalyse betont die Feldenkrais-Arbeit demgegenüber, dass die körperliche Bedingungsvariable mit jeder geistigen, emotionalen oder kognitiven Tätigkeit und viceversa verknüpft ist. Die Stärke der klassischen Verhaltensanalyse liegt darin, dass sie auch Rückschlüsse auf übergeordnete Zusammenhänge mit anderen Problemen oder auf relevante Lebensbedingungen zulässt (Schulte 1996, S. 141 f.). Die Stärke von »Bewusstheit durch Bewegung« liegt aus therapeutischer Sicht in der systematischen Analyse körperlicher Bewegungsmuster und damit verbundener Kognitionen. Die Feldenkrais-Arbeit schult die bewusste Wahrnehmung eigener Bewertungen, Erwartungen, Normsetzungen und Selbstinstruktionen und führt zur Bevorzugung positiver Verstärkung, darüber hinaus zur Erfahrung von Lernfähigkeit des eigenen Nervensystems und zum Erleben emotional positiver, ge118

sunder Anteile und Ressourcen. Für Feldenkrais spezifisch ist, dass er die Modifikation von Verhalten durch die Veränderung der »Bedingungsvariable Bewegung« als die dem Menschen am leichtesten zugängliche Möglichkeit zur Verhaltensänderung überhaupt einschätzte. 7. In wesentlichen Grundannahmen besteht zwischen Feldenkrais

und der kognitiven Verhaltenstherapie Übereinstimmung: so in der Betonung des Verhaltens als unabhängiger Variable gegenüber Anlage- oder Charaktereinflüssen oder in der Einschätzung, dass jegliches Verhalten durch Triebe initiiert oder zumindest modifiziert wird, und in der Berücksichtigung der kognitiv-verbalen, motorisch-behavioralen und physiologisch-humoralen Mehrdimensionalität von Verhalten. Feldenkrais sieht Sinnesempfindung, Gefühl, Denken und Bewegung als untrennbare und stets miteinander verbundene Bestandteile jedes Verhaltens an. Er betont entschieden die Veränderung der motorischen Ebene als »besten Weg« zur Veränderung von Stimmung, Einstellungen und Selbsteinschätzungen (Feldenkrais 1978, S. 58 ff.) und trifft sich damit in der verhaltenstherapeutischen Auffassung, dass »verhaltensorientierte Methoden in den meisten Fällen hoch effiziente Möglichkeiten zur Veränderung überdauernder Kognitionen sind« (Kanfer et al. 1991, S. 394 ff., Lit. dort). »Aus theoretischen Gründen« war Feldenkrais »überzeugt, dass die Vererbbarkeit von Intelligenz widerlegt werden wird«, die er als eine »Funktionsweise und nichts sonst« bezeichnete (Feldenkrais 1991, S. 22). Die »analog zur Theorie der Energie« formulierte »Libido-Theorie« kritisierte der Physiker als den Fehlschluss einer unzulässigen Übertragung der thermodynamischen Wärmelehre und Potentialtheorie: »Die Energie-Analogie lässt sich auf emotionalen Drang nicht anwenden, weil es sich hier nicht um Energie handelt, sondern um Handlungsweisen. Aggression ist eine Verhaltensweise, nicht eine Energie« (ebd. S. 27). »Die Art, wie ein lebendiger Organismus funktioniert, kann mit den Erscheinungen von Energie in der physikalischen Welt höchstens redensartlich verglichen werden« (ebd. S. 30). Zwischen Theorien der »kognitiven Dissonanz«, die sich besonders zur Erklärung der Entstehungsbedingungen dysfunktionalen Verhaltens eignen (Überblick: DGVT 1986), und der Feldenkrais-Arbeit bestehen Parallelen. Nach Feldenkrais entspricht 119

»die ideale bewusste Handlung« einer einzigen und klar erkannten Motivierung, sie ist »monomotiviert«. Schließlich deckt sich das Selbsterziehungskonzept von Feldenkrais mit den psychologischen Konzepten zur »intrinsischen« oder »selbstregulatorischen Motivation« als bestem emanzipatorischen Weg (Überblick: Kanfer et al. 1991, S. 69 ff., Lit. dort). Wenn hier von Gemeinsamkeiten zwischen der FeldenkraisPädagogik und einem therapeutischen Ansatz die Rede ist, darf nicht übersehen werden, dass kritische Stimmen auch auf gegensätzliche und unvereinbar erscheinende Faktoren hinweisen. Die bislang formulierten Einwendungen treffen jedoch auf eine Integration der Feldenkrais-Pädagogik im verhaltensmedizinischen Kontext kaum zu. So bezeichnete der amerikanische Psychologe und Feldenkraislehrer M. Reese die Lernhaltung der Feldenkrais-Methode als »atypisch für die meisten somatischen Ansätze« (Reese 1991a). Dies ist nur richtig, wenn man - wie Reese unter letzteren schulmedizinische Arbeitsweisen versteht, die »a) spezifische strukturelle oder psychische Probleme diagnostizieren und isolieren und b) versuchen, diese Probleme zu heilen oder zu korrigieren durch c) die Anwendung von autoritären, direktiven Formen der Manipulation und Verhaltensverschreibungen«. Im Gegensatz dazu sehe Feldenkrais »a) das Problem im Zustand der Verfügbarkeit oder Nichtverfügbarkeit von Wahlmöglichkeiten für die Person, b) engagiert er sich in einer freundschaftlichen Suche nach neuen Möglichkeiten des Verhaltens und der Erfahrung, die zu erfolgreichen Ergebnissen führen können, c) benutzt [er] bereits vorhandene Fähigkeiten und arbeitet indirekt zur Unterstützung der Fähigkeiten des Einzelnen, Lösungen durch Bewusstwerdung und Lernen zu entdecken« (Reese 1991a, S. 12). Neben Organ- und Fremdattribuierung von Krankheit oder rollentypischem Verhalten in der Arzt-Patient-Beziehung werden von anderen Feldenkrais- Lehrern die äußeren Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems als inkompatibel ausgemacht. Sie befürchten eine »Vereinnahmung« »der Definitionsmacht der Mediziner« als medizinischer Hilfsberuf »subsumiert« zu werden, wodurch das Verständnis von Feldenkrais als Lernmethode unmöglich werde. Denn »die Rahmenbedingungen des Gesundheitssystems« vertrügen sich »weder mit den Inhalten noch der Bezie120

hungsdynamik der Feldenkrais-Arbeit« (Pieper 1993). Die grundsätzlich bedenkenswerten Argumente beziehen sich auf fachliche, institutionelle, finanzielle und gesellschaftliche Bedingungen und Widerstände gegen eine »Lernmethode« zur »Selbsterziehung« und »Entdeckung des Selbstverständlichen«. Die in solchen kritischen Äußerungen angesprochenen Probleme, die letztlich Lernen verhindern, betreffen nicht nur die Feldenkrais-Methode sondern auch die Verhaltensmedizin, der im Rahmen eines gesellschaftlichen Systems Patienten »zugewiesen« werden, und stellen sich bei jedweder Anwendung der FeldenkraisPädagogik in jedem Lebensbereich. Methoden zur »Bewusstheit, Selbsterziehung, Autonomie, Verantwortung« und »Beweglichkeit« im übertragenen (»Handlungsfähigkeit«) wie konkreten Sinne des Wortes bergen zwangsläufig kritisches Potential in sich. Das im Auftrag der deutschen Feldenkrais-Gilde erstellte Berufsbild für Feldenkrais-Lehrerlnnen beschreibt deren Tätigkeit als »quer zur Struktur bestehender Berufe« liegend und listet »verschiedenste Tätigkeitsbereiche« auf, in »Arbeit und Beruf (Kommunikationstraining, Management, Ergonomik), Bildung (Kindergarten, Schule, Berufsschule, Hochschule, Sonderpädagogik, Erwachsenen- und Persönlichkeitsbildung, Jugendarbeit, Altenbildung), Freizeit, Gesundheit (Gesundheitsvorsorge und -erziehung, Rehabilitation, Arbeit mit Behinderten, Psychosomatik, Psychotherapie, Physiotherapie, Ergotherapie, Geburtsvorbereitung, Geriatrie), Kunst (z.B. Tanz, Musik, Theater, Gesang), Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Resozialisierung, Sport (z. B. Skifahren, Laufen, Reiten, Golf, Tennis« (Pieper & Weise 1996). Was bedeutet die Feldenkrais-Methode als »ein spezielles Verfahren zur Gestaltung von Lernprozessen« für alle diese Bereiche des Lebens? W eiche Anregungen mögen in der Methode noch für unser Bildungssystem, die Arbeitswelt, den Sport oder den Kunstbetrieb stecken? »Feldenkrais für Tennisspieler« oder »Feldenkrais für Musiker« kann ebenso fruchtbar sein wie »Feldenkrais für Patienten«, aber ebenso am Ziel vorbeigehen, wenn die Eigenheit der Feldenkrais-Methode als Lernmethode nicht gewahrt ist. Für eine Anwendung der Feldenkrais-Methode im therapeutischen Kontext bedeutet dies eine ebenso große Herausforderung wie das ethische Postulat an jede Medizin, sich selbst überflüssig zu machen. 121

6. Feldenkrais-Pädagogikin der

Körperverhaltenstherapie 6.1 Indikationsspektrum in der Verhaltensmedizin Das vorgestellte Modell der Lernmethode nach Feldenkrais impliziert eine empirisch gewonnene, systemische Sicht- und Vorgehensweise, die als Bereicherung kognitiver Verhaltenstherapie verstanden und als ein Beitrag zur Formulierung kognitiv-behavioraler Körpertherapie genutzt werden kann. Der therapeutische Nutzen dieser pädagogischen Methode reicht über eine Gesundheitsprävention und Rehabilitation bei Bewegungsstörungen hinaus. Zu den verhaltenstherapeutisch erwünschten Effekten der Feldenkrais-Arbeit gehören: die verbesserte Wahrnehmung lokomotorischer Muster durch die Patienten, eine Erleichterung für das Erleben positiver Veränderung sowie eine Hilfe bei der Anleitung zu Selbstmanagement und Eigenkontrolle auch primär wenig psychotherapiemotivierter Patienten. Häufig auftretende Probleme psychosomatischer Patienten, wie ihr geringes Vertrauen in Körpersignale, ein Zuviel an Anspannung und Haltearbeit, Körperschema-Störungen, Fixierung auf Schmerzsymptome, ängstliche Einengung und Fixierung auf eingeschliffene Bewegungsmuster oder ihre Neigung zu schmerzhafter Körpererfahrung können positiv beeinflusst werden. Darüber hinaus können zahlreiche Elemente der Feldenkrais-Arbeit verhaltenstherapeutisch genutzt werden, um z.B. eigene Lernfähigkeit und Kompetenz zu erleben, Selbsterziehung und Selbstständigkeit zu fördern, Vertrauen, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl zu wecken, Wahrnehmung und Sensibilität zu verbessern, eigene Körperlichkeit und körperliches Wohlbefinden zu erleben und eigene Kreativität sowie neue Möglichkeiten durch Überwindung eingefahrener Muster und zwanghafter Verhaltensweisen zu erfahren. Entspannungsfähigkeit, Wachheit und Aktionsbereitschaft können geweckt werden. Der Wert einer Verhaltensmodifikation dieser Variablen für die klassischen Themen psychosomatisch-psychotherapeutischer Behandlung, wie Selbst122

sicherheitstraining oder Angst- und Depressionsbehandlung, ist offensichtlich. Schließlich verdienen die theoretischen Reflexionen von M. Feldenkrais zur Verbesserung des Ich-Bildes (vor allem Feldenkrais 1978) und zur Entstehung des körperlichen Verhaltensmusters der Angst (vor allem Feldenkrais 1994, S. 139-154; 1987, S. 91-109) Beachtung. Forderungen, funktionelle neurobiologische Mechanismen bei der Erforschung depressiver Störungen (Aldenhoff 1997) oder integrative Sichtweisen von »motorischen« (nicht psycho-motorischen!) Phänomenen der Depression (Lemke 1999, Bader et al. 1999) stärker zu beachten, dürfen als vielversprechende Indikatoren für zukünftige fruchtbare Auseinandersetzungen mit der Feldenkrais-Arbeit gewertet werden. Bei einer Vielzahl von Patienten mit chronischen oder therapieresistenten Verläufen können durch die Feldenkrais-Arbeit Ansatzpunkte zur Behandlung entwickelt werden, vor allem bei chronischen Schmerzpatienten insbesondere mit Beschwerden des Bewegungsapparats (vgl. Kap. 7.2), aber auch bei der Tinnitus-Behandlung (vgl. Kap. 7.3), Schlafstörungen (vgl. Kap. 7.4), Körperbildstörungen (vgl. Kap. 7.5), bei Torticollis, psychogenem Schwindel, Migräne oder Spannungskopfschmerzen. Dem »Indikationsspektrum« der Feldenkrais-Methode gehören schließlich auch die traditionell krankengymnastisch angegangenen Probleme an, wie neurologische Störungen, rheumatische und degenerative Erkrankungen des Bewegungsapparats oder Überlastungs-Syndrome (vgl. Kap. 7.2), sofern über eine Symptommilderung hinaus eine Erweiterung persönlicher Autonomie und der Bewegungs- und Handlungskompetenz angestrebt werden.

6.2 Einblick in den inneren Dialog - propädeutische Funktion für die Psychotherapie In einer multimodalen psychosomatischen Therapie werden Feldenkrais- Lehrer und Psychotherapeut in der Regel zumeist nicht ein und dieselbe Person sein. Voraussetzung für eine Einbindung der Feldenkrais-Arbeit in die des Verhaltenstherapeuten sind für diesen jedoch zumindest Grundkenntnisse und persönliche Erfahrungen in der Feldenkrais-Gruppen- und -Einzelarbeit, um darü123

ber mit dem Patienten einen Dialog führen zu können. Zur Eröffnung eignen sich offene Fragen, wie sie auch Laumer im Rahmen seiner Untersuchung Patienten nach einer Feldenkrais-Gruppenstunde vorlegte (Laumer 1993, S. 148-170): wie es dem Patienten in der Feldenkrais-Arbeit geht, welche Erfahrungen er dort macht oder ob er in diesem Zusammenhang derzeit mit einer bestimmten Frage beschäftigt ist. Solche Fragen erlauben in der Regel einen Blick auf Verhalten, Einstellungen und Denkstrukturen des Patienten. Im Sinne eines »Verhaltenstests« wird rasch deutlich, ob sich der Patient bereits aktiv mit der Methode auseinander setzt, ob er Fragen formuliert, begonnen hat, nach Antworten zu forschen, oder in einer passiven Erwartungshaltung verharrt: »Es interessiert mich, wie es Ihnen in den Feldenkrais-Stunden geht«; »haben Sie Ihren Körper nach der Stunde anders wahrgenommen als vorher?«; »haben Sie Schwierigkeiten während der Übungen, was machen Sie dann?« usw. Der Umstand, dass weitaus die meisten Patienten von einer Gruppen- oder Einzelstunde nach Feldenkrais auf irgendeine Weise profitieren, selbst wenn sie sich subjektiv nur »entspannt« oder angenehm verändert fühlen, erlaubt die Frage nach den möglichen »Ursachen« oder Wirkmechanismen dieser erlebten Veränderungen. Damit treten neben die subjektive Ätiologievorstellung zur Krankheitsentstehung, die kein Therapeut übergehen sollte (z. B. Ahrens & Elsner 1981, Ahrens 1981, Überblicke bei Kanfer et al. 1991, Schuth 1993), Vorstellungen zur Entstehung von Veränderung und Informationen über Grundeinstellungen, Überzeugungen und Selbstwahrnehmung. Ein weiterer günstiger Umstand liegt darin, dass sich psychosomatisch erkrankte Patienten im Bereich der Körperarbeit oft leichter tun als bei scham- oder angstbesetzten »Psycho-Themen«, dem Therapeuten Einblick in ihre Umgehens- und Verhaltensweisen zu geben. Hierin liegt eine wertvolle propädeutische Funktion der Feldenkrais-Methode für psychotherapeutisches und psychosomatisches Arbeiten. Einern weit verbreiteten (letztlich terminologischen) Missverständnis folgend, siedeln viele Patienten die Psycho-Komponente der »Psychosomatik« im Bereich unheilbarer Geisteskrankheiten an. Selbst wenn man die zugrunde liegenden fachlich-terminologischen Missverständnisse aufklären kann, bleibt an psychosomatischem Arbeiten noch viel Gewöhnungsbe124

dürftiges. Die Feldenkrais-Methode erleichtert jedoch den Einstieg, weil der beginnende Schüler von Anfang an in dem weniger aversiv empfundenen Bereich der Körperarbeit bereits den notwendigen Paradigmenwechsel vollzieht und - salopp formuliert schon »Psychologie betreibt« und Nutzen daraus zu ziehen beginnt, ehe er Abwehr dagegen aufbaut. Da Feldenkrais-Lehrer, soweit dies nur eben möglich ist, auf Direktivität, Invasivität oder Modellvorgaben verzichten und vielmehr die Teilnehmer »nur« zu animieren versuchen, alternative Bewegungs- und Verhaltensmöglichkeiten auszuprobieren und bewusst zu erleben, fällt es in der Regel leicht, aufgrund der positiv erlebten Effekte des Feldenkrais-Unterrichts den Blick auf die gesunden Eigenanteile des Patienten zu lenken. Alles, was in einer Feldenkrais-Lektion geschieht, geschieht in Abhängigkeit von der eigenen inneren Haltung und Vorgehens- und Umgangsweise mit sich selbst. Der Blick dafür muss von psychosomatischen Patienten häufig erst entwickelt werden, da sie zumeist die Möglichkeit nicht mehr in Betracht ziehen, selber Ursache positiver Empfindungen sein zu können. Psychologisch können hierdurch schrittweise eigene Kontrollmöglichkeiten im Sinne eines »internal locus of control « und einer verbesserten Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura 1977) unterstützt werden. In die gleiche Richtung führt die Feldenkrais-Pädagogik durch ihre Zurückhaltung, ja Abstinenz bezüglich Wertungen von »schlecht« und »gut«, Klassifizierungen von »krank« oder Fixierungen auf körperliche Defekte. Feldenkrais-Lehrer stellen im eigentlichen Sinne keine Diagnosen; »nicht nur deshalb, weil nur ein Arzt berechtigt ist, Diagnosen zu stellen, sondern auch - und wichtiger noch-, weil es der Lehrer bei der funktionalen Integration niemals mit einer statischen Situation zu tun hat, die nach einer festgelegten Benennung oder Kategorie verlangte, sondern vielmehr mit einem Lernprozess« (Rywerant 1998, S. 226). Die funktionsorientierte Betrachtungsweise der Feldenkrais-Pädagogik unterstützt damit den von den meisten psychosomatischen Patienten erst noch zu vollziehenden »Paradigmenwechsel« von einer überwiegend externalen zu einer internalen Attribuierung und zur Entdeckung eigener Ressourcen. Der Glaube an den zugrunde liegenden Strukturdefekt einer »verkorksten Wirbelsäule« verurteilt zu einem Leben mit Schmerzen, in Abhängigkeit und 125

Depression. Die Entdeckung funktioneller Möglichkeiten der Verbesserung, die immer gegeben sind, befreit. Berichten Patienten über »Schwierigkeiten« während FeldenkraisÜbungen, kann dies zumeist genutzt werden, um gemeinsam den inneren Dialog im Umgang mit den Übungsanweisungen zu untersuchen. Häufig fehlt psychosomatisch erkrankten Patienten das Zutrauen, den mehr oder minder expliziten Empfehlungen zu folgen von »weniger ist mehr«, nicht über Grenzen hinauszugehen, sich befriedigungsorientiert zu verhalten, sich bei physischer Begrenzung nur in der Vorstellung zu bewegen, sich konsequent an eigenen statt an fremden Normen auszurichten oder ausreichend Pausen ganz nach eigenem Gutdünken einzulegen. Nach Meichenbaum (1979) kann Verhaltensänderung kognitiv durch einen kontrollierten »inneren Dialog« initiiert werden. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung liegt zunächst in einer zunehmenden Selbstbeobachtung und Bewusstheit des Patienten. Der entscheidende therapeutische Schritt liegt darin, dass problematisches Verhalten einen inneren Dialog auslöst, der dann zur Entwicklung einer neuartigen, erwünschten Verhaltenskette führt. überträgt man dieses Modell auf den Diskurs über die Feldenkrais-Erfahrung des Patienten, liegt der Vorteil in zwei Aspekten: 1. die notwendige Selbstinstruktion ist qualitativ angenehm, sich selbst verstärkend und leicht umzusetzen, beispielsweise mit einer Bewegung im angenehmen Bereich (»grüner Bereich«) zu bleiben, bevor unnötige Anstrengung auftritt, eher »faul« oder auch »nachlässig« zu sein, ja schließlich sogar darauf zu verzichten, es »richtig« machen zu wollen oder zu müssen. 2. Diese Strategie - und nur sie - garantiert für das Bewegungslernen Erfolg, denn das Nervensystem lernt »von selbst« eben nur unter nicht-aversiven Bedingungen.

6.3 Übertragung von »Feldenkrais-Strategien« Die Feldenkrais-Methode eignet sich für jede Form bewusster Verhaltensmodifikation als Erfahrungsraum und kann als Ressource wie als Paradigma therapeutischer Prozesse genutzt werden. Besitzt der Patient bereits einige Erfahrung mit der Methode, 126

fällt es leicht, danach zu fragen, welche der dort angewandten »Strategien« sich auch im Zusammenhang mit alltäglichen Problemen bewähren könnten. Strategien der Wahrnehmungs- und Handlungsverbesserung sind beispielsweise: langsames Tun Tun mit kleinerem Aufwand - mit kleinerem Radius Bewegungen fließend gestalten - Bewegungen umkehrbar gestalten Übertragung weniger »perfekter« Bewegung auf die »bessere Seite« Imagination statt Tun insbesondere bei (noch) nicht optimaler Handlung Imagination von Teilqualitäten oder Teilaspekten, z.B. antizipatorische Vorstellung der Bewegungsumkehr Lassen aller Zielgerichtetheit bewusstes (richtiges) Falschmachen - Verfolgen eigener Interessen Pausen, wann immer gewünscht, usw. Eine 44 Jahre alte Lehrerin, Frau R., wurde in unserer Klinik aufgrund einer anhaltenden Anpassungsstörung mit überwiegend depressiv-ängstlicher Symptomatik sowie Spannungskopfschmerzen behandelt. Bereits das vom behandelnden Therapeuten nach einer ersten Kennenlernphase zur Eigenkontrolle formulierte Spektrum der Behandlungsziele weist Parallelen zur Feldenkrais-Arbeit auf: »Identifikation und Modifikation selbstüberfordernder Denkund Verhaltensmuster; Verbesserung der Selbstfürsorge und Genussfähigkeit; Aufbau positiver, genussvoller Aktivitäten; Identifikation und Modifikation depressiogener Kognitionen; Verbesserung der Fähigkeit, die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und adäquat auszudrücken; Verbesserung der Fähigkeit, sich gegen eine übermäßige Verantwortungsübernahme sowie gegen fremde Forderungen adäquat abzugrenzen.« Letzteres war Thema in einem der therapeutischen Gespräche. Anhand einer konkreten Entscheidungssituation erarbeitete die Patientin Argumente für und gegen die Übernahme einer zusätzlichen, von ihrem Vorgesetzten gewünschten Aufgabe. Frau R. konnte zwar Gesichtspunkte für Pro und Contra genau benennen, war aber in der Entscheidungsfindung völlig hilflos. Weder der Vorschlag einer Entscheidungsmatrix bezüglich kurzfristiger und langfristiger Folgen der einen oder anderen Entscheidung, noch der Ver-

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such einer Gewichtung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten schien weiterzuhelfen. Vielmehr zeigte sich die Patientin in ihren Gedankengängen sehr ablenkbar: »Wie kann ich nur wissen, was ich will?« Als hilfreich erwies sich in dieser Situation eine gemeinsame Rückerinnerung an ihre bisherigen Feldenkrais-Erfahrungen. Die Patientin berichtete über ihre dort durchgeführten Versuche, auf Konkretes zu fokussieren, ein körperliches Gefühl für die Qualität einer Option zu entwickeln, ihr Tun aus verschiedenen Perspektiven, Innen- und Außenansicht zu betrachten oder verschiedene Möglichkeiten »durchzuspielen«. Sie übertrug dann diese »Strategien« auf ihre Argumente pro und contra, stellte sich eine entsprechende Situation vor, »schmeckte« ihre Empfindungen, betrachtete die Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln und spielte in ihrer Vorstellung Varianten durch. Fast ein wenig verblüfft nahm sie zur Kenntnis, wie überzeugt und sicher sie in ihrer plötzlichen Entscheidung war. Am eindrücklichsten war für sie dabei die Vorstellung der körperlichen Empfindung ihrer emotionalen Gestimmtheit ...

Die Vermittlung eines systematischen Vorgehens zum Lösen von Problemen gehört zu den zentralen Themen kognitiver Verhaltenstherapie (z.B. Zielke 1994). Gegenüber einem herkömmlichen, »statischen« Problemlöse-Modell plädieren Kanfer et al. (1991, S. 40-55) für ein »dynamisches« Problemlöse-Modell, das der Variabilität und Fluktuation von Problemen und Zielen durch eine mehrdimensionale, eher systembezogene Betrachtungs- und Herangehensweise besser Rechnung trägt. Für solches Vorgehen bietet sich die Feldenkrais-Methode als Ergänzung an. Den primär verbal vermittelten und dadurch tendenziell abstrakten und trockenen »Problemlösestrategien « bietet sie als Selbstregulationsprozess par excellence einen konkreten Erfahrungsraum und fördert alle Ebenen des Prozesses: sie schärft Selbstbeobachtung und stärkt den Prozess der Selbstbewertung und Selbstverstärkung durch Entwicklung erlebbarer qualitativer Kriterien. Vor allem hilft die Feldenkrais-Pädagogik bei der Umgehung inadäquater Blockaden von Lösungswegen, indem sie auf die Optimierung und Erleichterung von Lernprozessen rekurriert. Dazu gehören beispielsweise erlebnisorientierte oder paradoxe Interventionsalternativen, wie sie sich in den oben (Kap. 4.6) genannten »Ratschlägen« zum Lernen ausdrücken. Durch solche Interventionen werden intrinsische oder selbstregulatorische Motivationen geför128

dert (ebd. S. 69-72) und Lösungsalternativen ermöglicht, die das bisherige Bezugssystem von Einstellungen und Verhaltensweisen verlassen (sog. »Lösungen zweiter Ordnung« nach Watzlawick, ebd. S. 54).

6.4 Bewegung als V erhaltensvariable und

die Veränderung von Verhaltensmustern Die bewusste Wahrnehmung der Bewegungsorganisation des Patienten kann für den Therapeuten außerordentlich hilfreich sein. Wie, wenn nicht vorrangig über die körperliche Bewegung, kann ein Psychotherapeut die Befindlichkeit seines Patienten wahrnehmen? Wie, wenn nicht vorrangig über seinen kinästhetischen Sinn, kann der Patient sich selbst empfinden? Psychotherapeuten arbeiten mehr oder weniger bewusst schon immer mit dieser Wahrnehmung. Denn, wie anders als über Bewegung, kann der Therapeut bereits beim Eintritt seines Klienten in das Behandlungszimmer dessen Befindlichkeit wahrnehmen, noch bevor der Klient spricht? Oder selbst dann, wenn er etwas ganz anderes sagt? Die Feldenkrais-Methode gibt dem Psychotherapeuten Möglichkeiten, die Wahrnehmung der Körperlichkeit des Patienten zu schärfen und auf eine rationalere Grundlage als seine bloße Empfindung zu stellen. Erste Fragen können sich darauf richten, welche Körperteile in die Bewegungen des Patienten integriert sind, welche außen vor gelassen, nicht oder sogar zur Bewegungsrichtung gegenläufig benutzt werden oder welche Gewohnheitsbildungen und Bewegungsmuster sich beobachten lassen. Die menschliche Fähigkeit zur Bildung komplexer Bewegungsmuster ist sinnvoll und praktisch. Sie birgt aber insbesondere mit zunehmend einseitigen Tätigkeiten im Alltag Gefahren einer einseitigen Belastung. Die Bildung motorischer Muster beginnt sehr früh in der Kindesentwicklung. Beispielsweise bevorzugen bereits Babys stabile Muster der Streckung oder der Beugung, je nachdem, ob sie sich von der Rückenlage über die eine oder die andere Seite auf den Bauch rollen. »Bei korrekter Handlung« ist nach Feldenkrais »die Arbeit so verteilt, dass die großen Muskeln mehr und die kleineren weniger 129

leisten, jeder im Verhältnis zu seiner Größe. Jede Handlung, die man als leicht empfindet und bei der man nicht das Gefühl hat, Muskeln anzustrengen, ist auf diese Weise ausgeführt« (Feldenkrais 1991, S. 248). Harmonische Bewegung organisiert sich vorrangig vom Becken aus, das das Gewicht der Wirbelsäule der Länge nach trägt. Der Unterleib sollte ohne Spannung sein. Der Kopf sollte vollkommen frei sein und auf der Wirbelsäule wie schwebend und ohne Spannung im sonstigen Körper getragen werden. Dabei geht es nicht und nie um ein Idealbild der »Haltung« einzelner Körperteile, wie es noch weit verbreitet ist, sondern um eine funktionsbezogene Sichtweise. »Es ist sinnlos, von korrekter Haltung einzelner Teile zu reden, des Unterleibs etwa, des Beckens, des Brustkorbs, des Halses; solange einer davon sich nicht frei bewegen kann, sind auch alle übrigen mehr oder weniger festgehalten, und jede Handlung wird trotz dieser Spannungen und über sie hinweg ausgeführt werden und daher schlecht koordiniert sein« (ebd. S. 250). Zu den Grundannahmen der Verhaltenswissenschaften gehört, dass Erleben und Verhalten Reaktionen auf emotionaler, gedanklicher und motorischer Ebene auslösen können. Horizontale und vertikale Verhaltensanalysen legen nahe, dass solche Prozesse Lerngesetzmäßigkeiten und Gewohnheitsbildung unterliegen. Feldenkrais hat sich in seinen theoretischen Schriften intensiv mit den Wirkungen emotionaler Zustände auf körperliche Bewegungsmuster und viceversa auseinander gesetzt. Bereits in der Publikation von 1949 widmete er ein ganzes Kapitel dem »körperlichen Verhaltensmuster der Angst« (Feldenkrais 1988). In dem postum erschienenen Buch »Das starke Selbst« reflektiert Feldenkrais beispielhaft das menschliche Sexualverhalten. Der Klarheit halber muss betont werden, dass Feldenkrais Körperverhalten nicht im Sinne des tiefenpsychologischen und bisweilen bis zur Psychologisierung herabgewürdigten Axioms von Körpersprache als Ausdruck seelischer Empfindungen interpretiert. Auch folgt er nicht einem heute ebenfalls häufig als Platitüde in Managerkursen missbrauchten sozialkommunikativen Konzept von körperlichem Ausdruck (Molcho 1983). Vielmehr beschreibt Feldenkrais die Psychophysiologie von Bewegungsorganisation, die auch heute noch- ein halbes Jahrhundert, nachdem Feldenkrais die ersten Beobachtungen dazu formulierte - psychotherapeutisch kaum berücksichtigt wird. Dies ist umso unverständlicher, als die diesbe130

züglichen Grundthesen von Feldenkrais heute als bewiesen gelten dürfen: nämlich dass körperliches Bewegungsverhalten und emotionales Erleben miteinander verknüpft sind und einander bedingen. Feldenkrais folgte - wie heute die meisten Psychophysiologen - den Vorstellungen einer Verknüpfung von Bewegung und Emotion im Sinne der Theorien von James und Lange, wonach emotionale Zustände im Wesentlichen nur als Ausdruck motorischer Veränderungen empfunden werden können. »Jedem emotionalen Zustand entspricht ein persönliches, konditioniertes Muster an Muskelkontraktionen, ohne die er nicht existieren könnte« (Feldenkrais 1994, S. 152). Dabei sind die entsprechenden Bewegungs- und Verhaltensmuster im Wesentlichen erlernt. Allerdings konnte Feldenkrais 1949 zeitbedingt nur auf das Konzept der klassischen Konditionierung zurückgreifen. (Den behavioristischen Ansatz von Watson rezipierte er nur oberflächlich.) Feldenkrais sah in der Kenntnis der physiologischen Grundlagen und Ursachen emotionaler Zustände »völlig neue Möglichkeiten, wie wir die Behandlung von Neurosen verbessern und in bestimmten Fällen verändern können« (ebd. S. 146 f.). Ursachen für Rückfälle bei der Behandlung neurotischer Störungen sah er in der »Unvollständigkeit der psychiatrischen Behandlung ... , die alle somatischen Verbindungen und alle beteiligten Nervenbahnen unberührt lässt ... Bei Unterbrechung einer Behandlung, bei der die Gewohnheiten der Muskulatur nicht beachtet wurden, wird die alte konditionierte Reaktion sich allmählich wieder einstellen, d. h. technisch gesprochen, sie wird erneut verstärkt« (ebd. S. 147). »Jede Behandlung« sollte nach Feldenkrais »die Auslöschung der konditionierten Reaktion und die Bildung einer stellvertretenden Reaktion zum Ziel haben« (ebd.). Der von ihm postulierte Zusammenhang ist derart, dass Verhalten in jedem Augenblick auf der von ihm so genannten »Integration« der zugrunde liegenden »vier miteinander untrennbar verbundenen Teile« von »mobilisierten Muskeln, Sinnesempfindung, Gefühl und Denken« beruht. Dabei kommt der lnterozeption körperlicher Bewegung und Spannung für das Bewusstwerden innerer Vorgänge die Hauptrolle zu. Für Verhaltensänderung sah er den Hauptschlüssel in einer »Änderung der motorischen Grundlage jeder beliebigen Integrationsfigur«. »In diesem Zustand ist es viel leichter, Änderungen im Denken und Fühlen herbeizuführen: die Muskulatur, durch die einer 131

sich seines Denkens und Fühlens bewusst wird, hat sich geändert und drückt nun nicht mehr die Ordnungsschemata aus, die ihm bis dahin geläufig waren. Gewohnheit hat ihre stärkste, die Stütze der Muskeln verloren. Jetzt lässt sie sich ändern« (Feldenkrais 1978, s.64-66). Die dargestellte Theorie zeigt eine Nähe zu kognitiv verhaltenstherapeutischen Interventionen auf. Diese zielen darauf ab, pathologische Denk- und Verhaltensmuster dadurch zu verändern, dass automatisch ablaufende, respondent oder operant ablaufende Verhaltensketten willkürlich unterbrochen oder verändert werden. Feldenkrais geht bei jeder Verhaltensänderung von einem Primat des Bewegungslernens aus. Bewegung liegt - in einer vertikalen Verhaltensanalyse betrachtet - jeder anderen menschlichen Tätigkeit zugrunde. Aufgrund des kinästhetischen Sinnes ist sie in besonderer Weise der Wahrnehmung und dem Lernen zugänglich. Einige verhaltenstherapeutische Strategien wenden prinzipiell bereits einen entsprechenden Ansatz auf der körperlichen Verhaltensebene an. So verändert die systematische Desensibilisierung nach Wolpe vor der Exposition mit dem gewöhnlich angstauslösenden Stimulus die körperlich-motorische Reaktion. Entspannung erscheint mit der gewohnheitsmäßigen Reaktion von Angst unvereinbar (siehe oben S. 110). Angstexposition, d. h. das motorische »Herantreten« an den angstauslösenden Stimulus und das »Bleiben« in der Situation, verhindert die gewohnheitsmäßige Fluchtund Vermeidungsreaktion. Während Emotionen willkürlicher Steuerung kaum zugänglich sind, ist dies für die Willkürmotorik durchaus der Fall. Das macht verständlich, weshalb auftretende seelisch-emotionale Störungen Menschen veranlassen, motorisch Haltungen anzunehmen, die als weniger aversiv und sicherer und als Schutz vor einer unerwünschten emotionalen und damit verbundenen motorischen Haltung erlebt werden. Aus Beobachtungen der motorischen Angstreaktion folgerte Feldenkrais die von ihm beobachtete überwiegende Hemmung der Streckermuskulatur psychosomatisch erkrankter Menschen. Diese entspricht der initialen Beugekontraktion bei der angeborenen Angstreaktion. Die emotionalen Reize, die durch die Beugekontraktion ausgelöst werden, vermitteln ein Gefühl der Sicherheit und gehen mit einer Normalisierung der Herzund Atemfrequenz einher. »Dieses Verhaltensmuster der Beuger132

kontraktion tritt immer dann auf, wenn sich das Individuum auf passive Weise schützen will ... Die Strecker oder Anti-Schwerkraft-Muskeln sind zwangsläufig teilweise gehemmt« (Feldenkrais 1994, S. 152). Über Gewohnheitsbildung wird die willkürliche Gegensteuerung schließlich nicht mehr bewusst und stört die Konfiguration der normalerweise durch Reflexe gesteuerten aufrechten Haltung und organischer Bewegungsabläufe. Die gesamten Körperfunktionen werden durch die willkürlichen, wenn auch zumeist unbewussten, Eingriffe gestört. »Die niederen AntiSchwerkraft- Mechanismen haben die Tendenz, den Körper in den >aktionsbereiten Zustand< zu versetzen. Die konditionierte Gewohnheit hingegen löst eher das Verhaltensmuster der Ruhe und Sicherheit aus. Die bewusste Aufmerksamkeit schlägt sich einmal auf die eine, dann wieder auf die andere Seite. Die Anti-Schwerkraft-Mechanismen arbeiten ohne Pause. Wie alle ermüdeten Nervenfunktionen sind sie zunächst überaktiv, daher auch die tonische Kontraktion und die verhärtete strickartige Gewebestruktur der Anti-Schwerkraft-Strecker. Die übergeordnete Kontrolle des Bewusstseins verhindert jedoch eine reflektorisch gesteuerte aufrechte Haltung« (ebd. S. 153 f.). Folgt man dieser Argumentation, erscheinen die Beschwerden psychosomatischer Patienten schlagartig in einem anderen Licht: In der aufrechten Haltung sind Nacken- oder Hüftgelenke ungewöhnlich weit nach vorn geneigt. Der Schwerpunkt liegt häufig nicht über den Sprunggelenken und Fersen, sondern weiter vorne. Kompensatorisch werden die Hals- und Lendenwirbelsäule übertrieben weit nach hinten gekrümmt (Hyperextension), die Brustwirbelsäule neigt zur Vorwärtskrümmung (Kyphosierung). Im Sitzen überwiegen die Kyphosierung der Brustwirbel und die Hyperextension der Halswirbelsäule. Die funktional und lerntheoretisch begründete Auffassung von Feldenkrais macht auch Rigidität und Muskelverhärtungen der Streckmuskulatur, die funktionale Einengung der Bewegungsorganisation auf eine »Vor- und Zurück-Dimension« beim Aufstehen und die Behinderung von Rotation und Seitneigung verständlich. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die »sternosymhysale Belastungshaltung« nach Brügger zwar das gleiche Erscheinungsbild beschreibt, wenn auch ätiologisch nicht erklärt (Brügger 1980, S. 135-153; Erstbeschreibung 1967). 133

Verhaltenstherapeuten könnten aus diesen Beobachtungen die Konsequenz ziehen, die motorischen Variablen pathologischen Verhaltens umfassender und differenzierter wahrzunehmen. »Tiefgreifende Veränderungen sind ohne eine Verbesserung der Muskel- und Haltungsgewohnheiten nicht möglich. Verdauungsstörungen, falsche Atmung, verkrümmte Zehen und Füße, gestörtes Sexualverhalten, steife Körperhaltung und Muskelverspannungen gehen mit emotionalen Störungen einher. Das gesamte Selbst, Ernährung, Atmung, Sex, Muskel- und Haltungsgewohnheiten müssen direkt behandelt werden und die emotionale U merziehung begleiten« (Feldenkrais 1994, S. 254 f.). Die Wahrnehmung der motorischen Variablen pathologischen Verhaltens sollte differenzierter sein, als es in den groben Kategorien etwa von »Bleiben« oder »Fliehen« bei der Expositionsbehandlung geschieht. Das Erkennen motorischer Besonderheiten beginnt bei der Wahrnehmung des Bewegungsflusses und der Körperintegration und umfasst differenzierte Einzelheiten von Bewegungsteilen und deren Beitrag zur Gesamtheit der Bewegungsorganisation. Es setzt eine Schulung voraus, kann aber von jedermann erlernt werden. Anhand von Videoaufnahmen therapeutischer Gespräche, die in der Verhaltenstherapie oft aus Gründen der Therapie oder Supervision aufgezeichnet werden, kann erkannt werden, wie - zumeist verblüffend deutlich - Gesprächsinhalte und Bewegungsvariablen einander bedingen und emotionale Schilderungen eines Patienten von unterschiedlichen Bewegungsmustern begleitet werden. Umgekehrt beeinflussen bereits so äußerliche Faktoren, wie die Sitzordnung, das Gegenüber oder Nebeneinander der Gesprächspartner die Inhalte des Gesprächs. Wie organisieren sich Becken und Wirbelsäule beim Sitzen? Wo befinden sich Beine und Füße? Fließt die Atmung frei? Wann stockt der Atem? Wann signalisiert die Atmung Erleichterung? Wie viel Spannung wird im Kiefer aufgebaut? Wie klingt die Stimme? Bestehen Resonanzräume im Körper oder nicht? Verrichten die Schultern unnötige Arbeit? Ist der Unterbauch frei? überwiegt Beuge- oder Streckertonus? Ist die Gesamthaftung integriert oder behindern sich Körperteile? Das Bewusstmachen kinästhetischer Empfindungen des Patienten kann therapeutisch Brücken zu einer vorgestellten oder später rea134

lisierten Verhaltensmodifikation bauen. »Rufen Sie sich mit allen Sinnen das angenehme Körpergefühl in Erinnerung, das Sie am Ende der letzten Feldenkrais-Stunde gespürt hatten. Wie würden Sie mit einem solchen Körpergefühl in dieser oder jener Situation handeln, sprechen, auftreten?« Der physiologische Zusammenhang wurde als sog. Carpenter-Effekt beschrieben (nach dem Physiologen W. B. Carpenter, 1813-1885). Danach führen bereits die Wahrnehmung und Vorstellung von Bewegungen zu Tonusveränderungen in der entsprechenden Muskulatur. Aus der Schmerzforschung ist bekannt, dass bereits der erinnerte Schmerz oder Stress zu erhöhter Muskelspannung führen kann. Umgekehrt kann die Rückerinnerung positiv und angenehm erlebter muskulärer Aktivität zu einer normalisierten oder entspannten Tonisierung beitragen. Da sich kinästhetische Empfindungen sprachlich nur ungenau fassen lassen, kann es hilfreich sein, dass der Patient solche Empfindungen nicht beschreibt, sondern allenfalls mit einem Kennoder Schlüsselwort belegt, gleichermaßen eher untertitelt oder mit einem Namen »tauft«, damit diese Empfindungen wachgerufen werden können, ohne sich in der sprachlichen Benennung oder der motorischen Realisierung eines oberflächlichen Teilaspekts (»Brust raus, Bauch rein«) zu erschöpfen. Frau G. empfindet sich nach einer Gruppenlektion mehr aufgerichtet und beschreibt das Gefühl in ihrem Rücken »wie die Verspannung der Takelage eines Segelschiffs im vollen Fahrtwind«. Am Ende einer Funktionalen Integration beschreibt Herr S., dass er sich »leicht und sicher zugleich« fühle, er beschreibt einzelne Veränderungen: das Gewicht auf den Füßen, die nicht durchgedrückten Knie, die Haltung des Beckens, den gestreckteren Nacken. Auf Nachfrage gibt er an, im Unterkiefer weniger Spannung zu empfinden. Er fühle sich »wie im Wasser«. Das Gefühl »wie im Wasser« und die Anspannung im Unterkiefer können später im therapeutischen Vorgehen genutzt werden.

Sosehr »Bewusstheit durch Bewegung« einerseits im Mittelpunkt der Feldenkrais-Pädagogik steht, ist eine positive Veränderung der Bewegungsorganisation jedoch andererseits durch bewusstes und willkürliches Tun nur begrenzt möglich. Wie vorhin ausgeführt, beruht die Entwicklung nicht-funktionaler (pathologischer) Bewegungsorganisation ja bereits auf dem mehr oder weniger bewussten Aktivwerden der Willkürmotorik, die einer organischen 135

Bewegungsentwicklung zuwiderlaufen kann. Eine reflektorisch gesteuerte aufrechte Haltung wird in den meisten Fällen gerade durch bewusste Kontrollbemühungen verhindert. Bewusste Steuerung wird allenfalls nur Teilaspekte positiv beeinflussen können, weshalb Feldenkrais ausdrücklich vor einer »Überschätzung der bewussten Steuerung« warnt, »die etwas leisten soll, wozu die reflektorische Nervenaktivität viel besser geeignet ist ... Die bewusste Steuerung ist bei der Integration der zahlreichen Funktionen in Bezug zur unmittelbaren Situation von entscheidender Bedeutung. Die inneren Mechanismen, die zum Erfolg führen, sollte man besser der selbstregulativen Koordination der Nerven überlassen« (Feldenkrais 1994, S. 154; vgl. dazu auch oben S. 65).

6.5 Eigenwahrnehmung als Mittel zur Autonomie: Atmung, Kieferspannung und Augenbewegung Funktionelle Atmung Die Relevanz einer Unterrichtung in funktioneller Atemarbeit ergibt sich aus dem breiten Spektrum entsprechender körperlicher Symptome in der klinischen Psychosomatik. Funktionelle Atemstörungen treten im Zusammenhang mit verschiedensten psychosomatischen Störungen auf (Herrmann & Radvila 1999). Hierzu zählen beispielsweise das akute oder chronische Hyperventilationssyndrom, Atembeschwerden als vegetatives Symptom bei Angststörungen, Atembeschwerden im Rahmen einer Somatisierungsstörung oder psychisch mitbedingtes Asthma. Körperpädagogen wie Feldenkrais oder die »Atemlehren« in der Tradition Elsa Gindlers (Gindler 1926, Speads 1983, Ehrenfried 1986, Middendorf 1995) haben natürliche und frei fließende Atmung besonders berücksichtigt. Zwei Lektionen von Feldenkrais, die er in sein Buch »Bewusstheit durch Bewegung« aufnahm, zeigen auf originelle Weise, wie bewusstes Wahrnehmen, Vorstellen und Experimentieren mit der Atmung über eine Verbesserung der Atmung hinaus zu tiefgreifenden Veränderungen der gesamten Bewegungsorganisation führen (Feldenkrais 1978, S. 138-147, 224-235). Feldenkrais, aber auch bereits vor ihm Gindler, hat her136

vorgehoben, dass Atmung als sicherer Indikator für die Befindlichkeit des menschlichen Organismus genutzt werden kann. Bei allen nichtorganischen Handlungen neigt der Atem dazu zu stocken oder unbewusst angehalten zu werden. Frei fließende Atmung begleitet ebenso untrüglich jede klare, monomotiviert, sicher und mit Befriedigung ausgeübte Handlung, egal ob sie real ausgeführt oder vorgestellt wird. Dieser psychosomatische Zusammenhang kann körperverhaltenstherapeutisch hervorragend genutzt werden. Er ermöglicht eine treffsichere Diagnostik für die innere Freiheit und Qualität von Handlungen, die von Therapeuten selbst erlebt und sicher erlernt werden kann. Freie, leichte, unter Normalbedingungen kaum beschwerliche Atemarbeit ist so sehr mit positiven Erlebnisqualitäten verknüpft, dass sie als »conditio sine qua non« bei der Realisierung oder Vorstellung von Verbesserungen genutzt werden kann. Die Handlung wird erleichtert, wenn sich die innere Aufmerksamkeit dabei auf die Durchführung einer freien und angenehmen Atmung richtet. Hierdurch werden parasitäre Bewegungen eliminiert, da diese nicht in dieses Organisationsmuster passen. Psychologisch gehören parasitäre Handlungen zur Sequenz einer Reiz-Reaktion-Verbindung: unklare Handlung-> stockender Atem und passen nicht zu der Erfahrung, dass fließende Atmung eine wiederkehrende Reaktion auf einen angenehmen Reiz und klare Handlung darstellt. Lenkt man beispielsweise die Aufmerksamkeit depressiver oder eher passiver Patienten auf diese Zusammenhänge, so können sie durch eine Verbesserung ihrer Atmung leichter befriedigendere Handlungen realisieren.

Versuchen Sie einmal, auf einem Bein und Fuß stehend, die Schnürsenkel Ihres Schuhes zu lösen, diesen Schuh und vielleicht Ihre Socke auszuziehen. Beobachten Sie sich bei zwei/drei Versuchen in möglichst allen Aspekten: Was macht der Atem? Wie sicher stehen Sie auf dem einen Fuß, während Sie den Schuh am anderen Fuß ausziehen wollen? Was setzen Sie ein, um die Balance zu halten? Was tun die Zehen des Fußes, auf dem Sie stehen? Ziehen Sie auf gleiche Weise, stehend auf einem Bein, Ihren ganzen Körper beobachtend, Socke und Schuh wieder an. Lassen Sie diese Versuche für eine kurze Weile und suchen Sie eine für Sie bequeme Haltung auf, im Liegen, Sitzen oder Stehen, um 137

die Aufmerksamkeit auf Ihre Atmung zu richten. Lassen Sie den Atem normal fließen, ohne ihn in irgendeiner Weise zu forcieren oder zu korrigieren. Beobachten Sie: Wie ist das Verhältnis der Dauer zwischen der Einatem- und Ausatemphase? Beobachten Sie den Moment zwischen Ein- und Ausatemphase und den nach dem Ausatmen, bevor Sie wieder einatmen. Sind beide Pausen gleich lang? Benutzen Sie die kleinen Pausen zwischen Ein- und Ausatemphase, um sich vorzustellen, wie die Atembewegung im nächsten Moment beginnen wird. In welcher Körperregion »startet« die Bewegung? Welcher Teil Ihres Rumpfes engagiert sich als letzter? Welche Körperteile bewegen sich bei der Einatmung, welche bei der Ausatmung? Hebt sich Ihre Brust beim Einatmen und senkt sie sich mit der Ausatmung? Wird Ihr Bauch flach, wenn Sie einatmen, oder wölbt er sich? Beobachten Sie Ihr Atemmuster, ohne es zu verändern. Sei es, dass Sie mehr in die Brust oder den Bauch atmen: beobachten Sie, ob sich auch die Seiten des Rumpfes mitbewegen; dann beobachten Sie die entsprechenden Partien im Rücken. Atmen Sie ein und halten Sie die Luft für einen kurzen Moment an, indem Sie den Teil vorwölben (Bauch oder Brust), der sich beim Einatmen nicht gefüllt hat. Lassen Sie gleichzeitig den Teil (Brust oder Bauch) flach werden, den Sie beim Einatmen gefüllt haben. Lassen Sie die Luft gleichsam ein paarmal zwischen Brustund Bauchraum hin- und herfluten. Welches auch immer Ihr Atemmuster war, versuchen Sie, es einmal umzudrehen. Wenn sich Ihre Brust beim Einatmen wölbte, lassen Sie sie jetzt flach und wölben den Bauch; lassen Sie den Bauch beim Ausatmen flach werden. Wenn Sie in den Bauch eingeatmet haben, lassen Sie ihn jetzt beim Einatmen flach und wölben Sie ihn beim Ausatmen ... Lassen Sie alle Absicht und lassen Sie den Atem fließen. Beobachten Sie die Wirkungen Ihrer Untersuchungen auf Ihr Stehen, den Kontakt der Füße mit dem Boden, die Position des Beckens, die Schwingung Ihrer Wirbelsäule, das Gefühl in Ihren Schultern ... Lassen Sie Ihren Atem ungestört fließen und stellen Sie sich, ohne ihn in seinem Fluss zu stören, wieder auf ein Bein. Heben Sie den 138

freien Fuß; lösen Sie die Schnürsenkel des Schuhs und ziehen Sie Schuh und Socke aus und danach wieder an, immer auf dem einen Bein stehend und den Atem fließen lassend. Was können Sie beobachten? Wahrnehmung der Kieferspannung Ein effektives Hilfsmittel zur Selbstkontrolle stellt die bewusste Wahrnehmung der Kieferspannung dar. Aufgrund der so genannten somatotopischen Gliederung des Endhirns ist die MundKiefer-Region sehr ausgedehnt in den verschiedenen überwiegend motorisch oder sensorisch aktiven Regionen des Cortex repräsentiert. Ordnet man die anatomischen Regionen einer Gehirnhälfte den mit ihnen afferent oder efferent verbundenen Körperteilen zu, ergibt sich das Bild eines auf dem Kopf stehenden »Homunculus« mit (vermutlich ontogenetisch bedingter) großer Ausprägung von Hand, Gesicht und Zunge. Den größten Bezirk nehmen Finger und Hand ein, den relativ kleinsten der Rumpf. Je größer das entsprechende Areal, desto empfindlicher und differenzierter sind Wahrnehmung und Bewegungen der Muskulatur. Die Spannung des Kiefers entspricht der Grundspannung im übrigen Körper. Bewusste Entspannung der Kiefermuskulatur führt zu einer objektiv und subjektiv nachvollziehbaren Tonussenkung der übrigen Muskulatur und ermöglicht in gewissen Grenzen bereits eine bessere Organisation des Skeletts. Die Spannung des Kiefers kann gut von außen durch den Lehrer oder Therapeuten beobachtet werden. Entspannung führt aufgrund der Anatomie der Kiefergelenke zu einer charakteristischen Bewegungsfolge (Schiebebewegung nach vorn / Drehbewegung zum Öffnen), sodass von außen auch sicher beurteilt werden kann, ob der Klient wirklich entspannt oder - in bester Absicht - nur den Unterkiefer bewegt. Wer die Spannung des Kiefers als Signal benutzt, wird zumeist damit konfrontiert, wie häufig und wiederholt Spannung im Zusammenhang mit schwierigen Bewegungen, Gedanken oder Gefühlen auftritt. Schrittweise wird es aber mehr und mehr möglich sein, das »Kiefersignal« als Einladung zur Tonusnormalisierung und zu einer leichteren Organisation der Halswirbelsäule, der Schulterregion, des Sitzens usw. zu erleben.

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Frau G., eine 25-jährige Psychologiestudentin, hat ihre Wahrnehmungen nach Einzelunterricht in der Feldenkrais-Methode aufgeschrieben. Parallel übte die Klientin nach Audiokassetten. In ihren Aufzeichnungen spielt die Wahrnehmung der Kieferspannung eine wiederkehrende Rolle: (Nach der zweiten Unterrichtsstunde:) Zusammenfassend beschreibe ich vielleicht einfach die Erfahrungen der letzten Woche nach der letzten Lektion: Besonders deutlich in Erinnerung ist mir dabei, dass ich schon bei der kleinsten Muskelanspannung, z. B. beim Heben eines Beines, die Kiefermuskulatur angespannt und die Zähne zusammengebissen habe. Gleichzeitig war es mir nahezu unmöglich, Bewegungen im Schulter-Nacken-Bereich weich und fließend auszuführen. Selbst die kleinste Bewegung war nur stockend und mit unverhältnismäßigem Kraftaufwand verbunden .... Nach der letzten Stunde merke ich insgesamt eine deutliche Lebendigkeit in den Bewegungen und das Gefühl, mehr Auswahl an Bewegung zu haben, mehr Variationen. Sehr viel deutlicher war diesmal das Gespür für den Bereich ab Brustwirbelsäule aufwärts und in den Schultern. Dieser Bereich fühlt sich jetzt eher angenehm und stabil an, so als würde es sich tragen ohne mein Zutun und als hätte alles seinen guten Platz. Zugegebenermaßen ist es ungewohnt: ich habe das Gefühl, größer zu sein, der Brustbereich kommt deutlich vor. Das Faszinierendste ist, dass es von selbst geschieht, dass ich also nichts machen muss. Dasselbe gilt für die Schultern, sie sind tief und entspannt, wobei ich merke, dass die Arme mehr in der Bewegung mitgehen. Außerdem habe ich beim Gehen festgestellt bzw. beim Treppensteigen, dass sich die Beine leichter heben lassen. Während ich dies schreibe, stelle ich fest, dass ich auf dem Bauch liege, mit den Füßen in der Luft, ohne mir dessen aber vorher bewusst gewesen zu sein - eine Lage, die ich die letzten Jahre vermieden habe, weil ich sie immer als sehr unangenehm empfunden habe. Was mir im Anschluss nach unserer letzten Lektion noch aufgefallen ist, war eine schnell einsetzende Müdigkeit, die den darauf folgenden Tag anhielt, so als ob durch die Entspannung der Muskulatur die ganze Anstrengung der letzten Woche gelöst würde. (Nach der dritten Lektion:) Am auffallendsten ist sicherlich, dass der Kopf sich nahezu von selbst trägt und sich angenehm und leicht zur Seite wenden lässt, wobei im Moment kein Unterschied zwischen den Seiten feststellbar ist. Interessanterweise verändert sich dabei das Blickfeld. Ich merke, dass ich mehr geradeaus sehe bei wiederkehrender Tendenz, den Blick nach unten zu richten. Insgesamt habe ich das Gefühl, zu den Seiten mehr Spielraum und

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Bewegungsraum gewonnen zu haben, überhaupt Bewegung und Drehung bewusst zu erleben. Insgesamt fühlt sich die Aufrechthaltung ungewohnt an, gleichzeitig aber auch stimmig und selbstverständlich. Insgesamt war das Wochenende geprägt von einem deutlichen Bewegungsdrang. Ich war seit langem wieder laufen ... (Nach der vierten Lektion:) Eine wesentliche Folge der letzten Stunde war sicher das Gefühl der Wirbelsäule als einer Einheit. Es gelingt mir jetzt bei manchen Bewegungen, die Wirbelsäule in ihrer ganzen Länge wahrzunehmen und nicht wie sonst in zwei Teilen oder gar drei. Ich habe zwischendurch die erste Lektion auf der (Audio-)Kassette wiederholt, auch weil mir durch das ewige Sitzen momentan die Lendenwirbelsäule zu schaffen macht. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Bewegungen im Schulterbereich deutlich einfacher werden und die Muskelanspannung der Bewegung angemessen ist. Auch bleibt der Kieferbereich deutlich lockerer ...

Befreiung der Augen Von besonderer Bedeutung ist die Befreiung der Augenbewegungen. Zwischen Körper- und Augenbewegungen bestehen enge Verbindungen. Zumeist machen die Augen irgendetwas, was der betreff enden Person nicht klar ist. Sie werden eher wenig bewegt, vielmehr starr fixiert, auch wenn der restliche Körper etwa eine Drehung vollzieht, und können kaum unabhängig von der Bewegung des Rumpfes und der Extremitäten organisiert werden. Im Sinne eines Bewegungsmusters fixiert eine nicht adäquate Augenbewegung eine ungenügende Organisation des übrigen Körpers.

Stehen Sie auf und beugen Sie sich zu Boden, als wenn Sie bei der Ernte einer am Boden wachsenden Frucht helfen, wobei Sie sich immer wieder bücken und aufrichten. Sie können dabei langsam vorwärtsgehen. Beobachten Sie, was Ihre Augen machen: Liegen sie eher unbewegt in den Augenhöhlen oder bewegen Sie sich zusätzlich zur Bewegung Ihres Rumpfes und Kopfes? Beginnen Sie die Augen zusätzlich zu senken, wenn Sie sich bücken, und aufwärts zu bewegen, wenn Sie sich aufrichten. Beobachten Sie die dadurch bedingten Effekte. Wird Ihre Bewegung leichter oder schneller? Sobald Menschen beginnen, sich mit der Bewegung ihrer Augen zu beschäftigen, zeigen sich vielseitige und überraschende Effekte. 141

Eine Unterrichtung bedarf zumeist etwas Vorbereitung und Behutsamkeit, da es - gerade bei psychosomatisch erkrankten Patienten - rasch zu Überforderung bis hin zu Übelkeit und Schwindelsymptomen kommen kann. Das Wichtigste bei Lektionen, die die bewusste Arbeit mit den Augen einbeziehen, sind Pausen. Eine effektive Möglichkeit, die Augen zu entspannen, ist es, sie in den hohlen Handflächen auszuruhen (sog. »Palmieren« der Augentherapeuten) und die Augen am besten mit der Schwerkraft in die Hohlhand »sinken« zu lassen. Die Augen werden so abgedunkelt, die Handflächen berühren die knöchernen Strukturen um die Augenhöhlen, nicht die Augen selbst; die Augenmuskeln können so entspannen.

In zahlreichen Feldenkrais-Gruppenlektionen wird die Bewegung der Augen erforscht und in Bezug auf andere Körperbewegungen, des Kopfes, des Rumpfes usw. untersucht. Ergänzende Anregungen finden sich auch in »Augenübungsbüchern«, beginnend mit den Klassikern von W. H. Bates (1986) und A. Huxley aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1982). Zunächst erscheint es meistens als erster Schritt sinnvoll, die Augenbewegungen aus ihrer Fixierung zu befreien und zu den übrigen Körper-Bewegungen zu differenzieren. Beispielsweise werden die Augenbewegungen in den fortgeschrittenen Varianten der sog. »Beckenuhr«-Lektion (Feldenkrais 1978, S. 157-167) im Verhältnis zu den Bewegungen des Beckens und des Kopfes beobachtet und variiert. Legen Sie sich auf den Rücken und fühlen Sie den Kontakt mit dem Boden. Stellen Sie die Beine bequem auf und schließen Sie die Augen. Bewegen Sie Ihre Augen langsam einige Male von links nach rechts, dann von rechts nach links. Was fühlt sich leichter an? Vielleicht spüren Sie, dass die Bewegung nicht immer klar, fließend und leicht ist. Machen Sie im Folgenden immer wieder eine Pause, bevor(!) die Übung anstrengend zu werden droht. Konzentrieren Sie sich auf die Bewegung des linken Auges und folgen Sie mit ihm einem immer wieder von links nach rechts nicht zu schnell vorbeiziehenden Gegenstand, den Sie sich vorstellen. Was stellen Sie sich vor? Wie weit ist der Gegenstand entfernt? Beginnen Sie, auch Ihren Kopf von links nach rechts zu bewegen? Lassen Sie den Kopf zunächst still liegen und folgen Sie dem imaginären Gegenstand nur mit dem linken Auge. Tun Sie dasselbe jetzt mit dem rechten 142

Auge. Was fällt Ihnen leichter? Kann Ihr Atem währenddessen ungehindert weiterfließen? Machen Sie eine Pause und spüren Sie die Lage Ihres Kopfes, den Tonus der Halsmuskulatur, die Auflage Ihres Schultergürtels auf der Unterlage. Erlauben Sie dem Kopf jetzt eine Mitbewegung von links nach rechts, indem Sie zuerst mit dem linken, dann mit dem rechten und dann mit beiden Augen dem vorgestellten Gegenstand folgen. Beginnen Sie zu experimentieren, indem Sie einmal dem Kopf erlauben, sich etwas schneller von links nach rechts zu bewegen, dann den Augen. Ruhen Sie aus und spüren Sie, wie Ihr Kopf jetzt liegt; wie fühlen sich die Halsund Nackenmuskeln an, wie die Augen in den Augenhöhlen, der Schultergürtel? - Wenn Sie möchten, wiederholen Sie die ganze Übung mit einer Bewegung der Augen und später des Kopfes und der Augen von rechts nach links. - Stehen Sie langsam auf und spüren Sie die Auswirkungen dieser Lektion auf Ihre Körperhaltung im Stehen, die Organisation Ihres Kopfes und Ihre Stimmung ... Feldenkrais hat mehrfach auf die Bedeutung der menschlichen Sinnesentwicklung für Wahrnehmung und Lernverhalten hingewiesen. Pränatal und bis weit in die ontogenetische Entwicklung hinein dominiert die sensorische und auditive Erfahrung der Außenwelt. Diese Rolle wird später mehr und mehr vom Sehen übernommen, zumindest zunächst allerdings um den Preis einer Wahrnehmungseinschränkung: » Während das Kind lernt, seine Aufmerksamkeit auf das zu richten, was seine Augen sehen, verändert sich seine allgemeine Wachsamkeit, und der größere Teil des Raumes um es herum tritt in den Hintergrund« (Feldenkrais 1988b). » Wenn

Sie zu Hause oder in einer vertrauten Umgebung sind, verbinden Sie sich bitte die Augen und leben Sie nur mithilfe Ihrer Ohren. Anfangs vielleicht nur eine halbe Stunde. Sie werden schnell bemerken, wie sehr Ihre Bewusstheit gewöhnlich auf das reduziert ist, was Sie sehen können. Keine Kreatur könnte überleben und seine individuelle Sicherheit garantieren, wenn sie zwei Drittel des Raums um sich herum ignorieren würde und er nicht in der Bewusstheit wäre.

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Wenn wir auf das achten, was wir sehen, können wir nicht anders, als unsere Aufmerksamkeit dem uns umgebenden Raum zu entziehen. Ein wildes Tier, das keine samuraiartige Bewusstheit von dem besitzt, was um und über ihm passiert, wird nicht lange am Leben bleiben. Sie und ich können das erreichen, was ein geschulter Samurai erreicht hat: wir können unsere Bewusstheit über die Realität um uns herum beibehalten und ausdehnen. Die Ohren taten genau dies, bevor ihre Information begann, teilweise ignoriert und vernachlässigt zu werden, und bevor das Sehen beherrschend wurde statt vorherrschend. Wenn Sie dieses Experiment ausdehnen und sich für einige Stunden nur auf Ihre Ohren verlassen, werden Sie bemerken, wie armselig wir unsere Möglichkeiten nutzen, selbst wenn unsere Augen geöffnet sind. Sie werden nicht nur eine Veränderung hinsichtlich erhöhter Aufmerksamkeit bemerken, sondern Ihr gesamtes Selbst wird schwungvoller und frischer sein. ... Auf dieser Stufe wird Ihr Gedächtnis mehr dem gleichen, wie es in der frühen Kindheit war, bevor Sie lernten zu lesen. Mehr noch: Ihre Fähigkeit zu lernen und zu behalten wird sich gleichzeitig verbessern« (Feldenkrais 1988b).

6.6 Selbstsicherheit und Vertrauen auf das Nervensystem Selbstsicherheitstraining und - als Teilaspekte - Übungen sozialer Kompetenz und Kommunikation gehören zu den bei psychosomatischen Patienten häufig eingesetzten verhaltenstherapeutischen Behandlungsmodulen, vor allem in Form von Gruppentherapie (Fiedler 1996, Hautzinger 1998). »Selbstsicherheit« meint in diesen Programmen »bei weitem mehr ... als >sichdurchsetzen,, nämlich eine Einheit aus Kognition, Emotion und Handeln: Die eigenen Gefühle und Rechte kennen und akzeptieren, ein inneres Gefühl von Selbstsicherheit haben ... und verantwortungsbewusstes, effektives Handeln bei der Behauptung der eigenen Rechte und beim Erleben von Gefühlen« (Schneider 1994, S. 395). Das heißt: so sehr selbstsichere Verhaltensweisen, wie sich frei zu äußern, Gefühle auszudrücken oder Kontakte herzustellen, in der verbal144

tenstherapeutischen Arbeit konkret geübt werden, so wenig erschöpft sich das angestrebte Verhalten allein in Fertigkeiten und Techniken ohne Bezug zur Persönlichkeit der Patienten. Nur eine tiefer greifende Verhaltensänderung, für die die psychologischen Konstrukte von Selbstwahrnehmung, Selbstwirksamkeit, Kontrollüberzeugung oder Selbstmanagement stehen, kann von Störfaktoren einer inneren Entwicklung, wie Konformitätsdruck oder sonstigen sozialen Bestrafungen und Belohnungen, frei machen. Für das zugrunde liegende Problem hat Juul (1997) in der Familientherapie die begriffliche Unterscheidung zwischen »Selbstgefühl« und »Selbstvertrauen« eingeführt: Selbstgefühl ist eine existenzielle Qualität, »der Grundton in unserer psychischen Existenz, und es kann quantitativ und qualitativ das ganze Leben hindurch entwickelt werden. Selbstvertrauen handelt von dem, was wir können, worin wir gut und tüchtig sind oder dumm und schlecht« (ebd. S. 97). Selbstgefühl gründet in uns selbst und in unserem Kern; Selbstvertrauen hingegen ist eine äußere, angelernte, wenn auch nicht überflüssige Qualität. Beiden Aspekten eines Selbstsicherheitstrainings, dem durch konkrete Fertigkeiten erworbenen Selbstvertrauen und einem inneren Selbstgefühl, arbeiten körperpädagogische Ansätze zu. Ihr zentrales »Lernziel« richtet sich darauf, Vertrauen in sich selbst und die eigene Kompetenz zu entwickeln. (Beides drückt sich nur in verbesserter Handlung aus. Wahres Wissen und Können liegen nur im persönlichen Handeln, alles andere kann höchstens als »cerebrale Beschäftigung« bezeichnet werden.) Insbesondere drei Aspekte der Feldenkrais-Methode scheinen dazu besonders günstig zu sein: 1. die Konkretisierung von Körperlichkeit, 2. die Erschließung wachstumsabhängigen Lernens, 3. die Befreiung von äußeren Zwängen: Konkretisierung von Körperlichkeit

In der Feldenkrais-Methode wie in der Pädagogik Gindlers und Jacobys wird Körperlichkeit in allen Sinnesqualitäten und Dimensionen ernst genommen bis hin zu der gesellschaftlich und kulturell ungewöhnlichen Perspektive, dass jedes menschliche Tun körperlich ist und befriedigend sein darf. Feldenkrais spricht von nicht willkürlich gestörter, »monomotivierter« Handlung, Jacoby 145

von »zweckmäßigem Verhalten«, Gindler von »Erfahrbereitschaft« und Einklang zwischen Absicht und Körper.

Aus dem Unterricht Elsa Gindlers wird berichtet, dass sie einmal einer Schülerin die Aufgabe stellte, das Studio zu säubern, um sie nach einer Weile zu unterbrechen: »Sie sind nicht dabei. ... Sie verkörpern nicht das, was Sie tun . ... Eigentlich wollten Sie doch nur mit dem Saubermachen fertig werden, stimmt's? Warum verkörpern Sie nicht die Frau, die sauber macht; warum leben Sie nicht das, was Sie tun?« (Zeitler 1991, S. 29 f) Allerdings beruht die Fähigkeit zu Verkörperung und Realisation unterschiedlicher Verhaltensmöglichkeiten aus Sicht der Feldenkrais-Methode auf bestimmten Voraussetzungen. Einern häufig zitierten Feldenkrais-Diktum folgend kann nur derjenige realisieren, was er will, der weiß, was er tut. Genauer: . . . der weiß, wie er etwas tut, »denn wie wir etwas tun, ist meistens wichtiger als was wir tun« (Feldenkrais 1988a). »Für den Erwerb einer neuen Handlungsweise braucht man ontogenetisch und individuell erworbene Bewusstheit« (Feldenkrais 1990). Und konkret: »Gute Bewegung« zeichnen Umkehrbarkeit an jedem Punkt der Bewegung aus und ein körperlicher »Status ... , von dem aus er eine Bewegung ohne Einleitung beginnen kann ... Wenn man sich einer Bewegung voll bewusst ist, kann man Intensität, Geschwindigkeit, Rhythmus, und im Falle der Stimme die Intonation verändern« (ebd., vgl. auch Kap. 4.3, 4.4, 7.1). Selbstsicherheit bedeutet in diesem Sinne weniger eine neue Handlung anstelle einer alten als vielmehr eine Änderung in der Art und der Dynamik des Handelns.

Erschließung wachstumsabhängigen Lernens Wie Feldenkrais immer wieder betont und jeder Erwachsene an sich selbst beobachten kann, unterscheidet sich das ursprüngliche menschliche Lernen im Sinne eines selbstkonstituierenden Wachstumsprozesses von akademischem Lernen. Einklang zwischen Absicht und Körper - eine wesentliche Voraussetzung von Selbstsicherheit - entsteht nicht durch die Versklavung des Körpers durch den Willen oder - häufiger - sogar gegen den eigentlichen Willen. Selbsterziehung ist nicht allein ein Prozess des Machenwollens, sondern impliziert so widersprüchlich erscheinende Ele146

mente wie Abwarten, Wahrnehmen, Geschehenlassen und »zu etwas werden«. Das hat seine Gründe: Eine Handlung kann entweder ein Reflex, unbewusst-automatisch oder bewusst sein. Die hervorragende Leistung des menschlichen Nervensystems besteht in der lebenslangen Fähigkeit, mithilfe von Bewusstheit und qualitativer Unterscheidung Handlungen zu erlernen und neurobiologisch, strukturell zu »verankern«. Dabei kann bewusst erlebt werden, wie Handlungen automatisiert werden und zunächst vielleicht nur experimentell erprobte Verhaltensmöglichkeiten zu verfügbaren Optionen innerster Willensbildung werden. »Individuelles Leben mit absichtsvollen Handlungen und Reaktionen kann leichter durch Lernen verändert werden als durch die eher rigiden Strukturen ... (Knochen, Muskeln, Nervensystem, Raum-KulturZeit usw.)« (Feldenkrais 1988a). Im Vordergrund traditionellen Lernens steht, was wir lernen; tiefer greifendes, wesensveränderndes Lernen berücksichtigt die Bedingungen von Lernprozessen und reflektiert, wie man lernt. »Um diese Art von Lernen zu ermöglichen, ist es notwendig, das Ziel, etwas zu erreichen, vom Lernprozess selbst abzutrennen .. Der Prozess ist das Wichtigste und sollte beim lernenden Erwachsenen so ziellos wie bei einem Baby sein. Das Baby ist weder an einen Zeitplan gebunden, noch besteht irgendeine Notwendigkeit zu erhöhtem Nachdruck, um den Lernprozess zu beschleunigen. Die Erziehung des Erwachsenen ist durch die traditionellen Lernmethoden im Schulsystem und ganz allgemein im akademischen Lernen verdorben worden ... Nicht Lernen, sondern Leistung ist das Ziel ... Solch ein Lernen hat natürlich nichts mit Wachstum zu tun: es kann willentlich verzögert oder sogar ganz aufgegeben werden. Das wachstumsabhängige Lernen kann jedoch weder ungestraft verzögert noch über das normale Maß hinaus beschleunigt werden« (ebd.). Selbstsicherheit gestaltet sich demnach zu einem bewussten Prozess erwachsener Selbsterziehung. Der zugrunde liegende Prozess unterscheidet sich völlig von dem, was gemeinhin unter »Spontaneität« gefasst wird. (»If you look at it properly, what we mean by spontaneity is just to be an idiot.«, Feldenkrais 1990.) Passender erscheint der Begriff »Vitalität«, wie er von Alon (1993) benutzt wird. Sich an Ressourcen zu orientieren, gehört zu den Merkmalen einer auf Selbstmanagement ausgerichteten Verhaltensmedizin. Dazu 147

zählen auch das Entdecken und Beleben innerer Kräfte und »gesunder« Fähigkeiten der Patienten. Oft ist das Vertrauen auf diese »Selbstheilungskräfte« und an die eigenen Fähigkeiten, Herausforderungen bewältigen zu können, aber verschüttet oder verstellt. Die Feldenkrais-Methode kann helfen, solche Fähigkeiten wieder zu aktivieren. Bei der Untersuchung und Erforschung der eigenen Bewegungsorganisation erfahren Feldenkrais-Schüler, wie ihr Nervensystem lernt, und zwar »wie von selbst« und ohne Anstrengung. W eiche Bedingungen dafür günstig sind und welcher zeitliche Lern- und Reaktionsrhythmus dem Nervensystem eigen ist: »langsamer, als man will, und doch schneller, als man denkt«, aber mit der Zeit immer leichter aktivierbar und verfügbarer. Und sie lernen die Verlässlichkeit ihres Nervensystems und ihres Körpers kennen und einzusetzen. Frau R., 39 Jahre, Mutter von vier Kindern, leidet unter einer Anpassungsstörung mit depressiven und ängstlichen Zügen und einem quälenden chronisch-komplexen Tinnitus. Ihr Leben ist überschattet von häuslichen Belastungen, der Erkrankung ihrer Mutter und der drohenden Invalidität ihres Ehemannes. Eine multimodale Behandlung der Patientin umfasste Elemente von Information, kognitiver Behandlung (bezüglich ihrer Neigung, zu katastrophisieren, zu generalisieren und depressiven Gedanken nachzuhängen), Aufmerksamkeitslenkungstraining, Erlernen eines Entspannungsverfahrens und F eldenkrais- Lektionen. Das Auftreten des Tinnitus war im Rückblick am ehesten als Überlastungssymptom zu verstehen. Die Chronifizierung war eine Folge des ständigen und angestrengten Bemühens der Patientin, auch diese bedrohlich erscheinende Herausforderung zu meistern und - eine typische Formulierung - »in den Griff« zu bekommen. Sich selbst traute sie nur noch wenig zu. Sie ärgerte sich über ihre körperlichen Reaktionen, »bei jeder Kleinigkeit« Herzklopfen und Aufgeregtheit zu empfinden. Wenn sie ein Martinshorn hörte, reagierte sie mit panikartigen Symptomen, da eines ihrer Kinder verunglückt sein könnte. Bei jedem Klingeln des Telefons dachte sie an den Anruf der Polizei nach einem Unfall ihres Mannes und reagierte mit entsprechender Anspannung. Ihren körperlichen Reaktionen gegenüber erlebte sich die Patientin wie ausgeliefert. In einer Feldenkrais-Lektion, in der es um Aufstehen vom Sitzen aus geht, erlebt die Patientin die enorme Arbeit und Anstrengung, die sie - für den Vorgang des Aufstehens sinnlos - im Bereich der Schultern und des Nackens verrichtet. Der Nacken beugt sich

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beim Aufstehen zurück und verkürzt sich, die Schultern werden nach oben gezogen. Wie viel leichter fühlt sich das Aufstehen an, als die Patientin beginnt, den Nacken lang zu lassen und Kopf und Schultern wie absichtslos mehr und mehr nach vorne der Schwerkraft zu überlassen. Eine besondere Verbesserung erlebt sie, als sie beim Aufstehen gedanklich das »Risiko« in Kauf nimmt, das Becken in dem Moment, wo sie es über die Sitzkante nach vorne schiebt, der Schwerkraft zu überlassen und ein wenig zu Boden sinken zu lassen. Zu ihrer Überraschung fällt sie nicht. Im Moment des »Beinahe-Fallens« reagieren ihre Becken- und Oberschenkelmuskeln: das Aufstehen geschieht leichter. Die Patientin erlebt, dass sie das Aufstehen »dem Nervensystem überlassen« und darauf vertrauen kann, dass es sicher funktioniert. Wenn sie so aufsteht, dass sie die Absicht des Aufstehens minimiert und dem Nervensystem überlässt, fällt ihr das Aufstehen und Hinsetzen nicht nur leichter, sondern sie kann die Bewegung an jedem Punkt in die Gegenrichtung umlenken, was ihr im gewohnten Aufstehmuster nicht möglich war, und erlebt Reversibilität als untrügerisches Zeichen für eine organische Bewegungsorganisation. Dieses Erlebnis der inneren Sicherheit des Nervensystems ist für die Patientin der Beginn eines wiedergewonnenen Vertrauens in ihren Körper.

Befreiung von äußeren Zwängen Die Befreiung von äußeren Zwängen ist, wie bereits oben (Kap. 4.6) ausgeführt, ein hervorragendes Merkmal eines durch die Feldenkrais-Methode geprägten Lernprozesses und für die Entwicklung von Selbstsicherheit und »Selbstgefühl«, ja letztlich von »Menschlichkeit« außerordentlich bedeutsam. In der Einleitung zu seinem postum erschienenen Buch »The Potent Self«, in dem Feldenkrais bereits in den 40er Jahren die Psychologie seiner Methode reflektierte, weist er - wie in einer Nagelprobe seiner Auffassungen - auf die soziale und kulturelle Dimension der zugrunde liegenden Zusammenhänge hin. So betont er, wie unmöglich es sei, das »Herzstück« menschlicher Kultur und aller Religionen, die Nächstenliebe, zwanghaft ins Werk zu setzen. Zum »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« gehöre vielmehr der symmetrische Satz: »Liebe dich wie deinen Nächsten.« »Viele Menschen werden ,gut< nicht dadurch, dass sie erlernen, mit anderen gute Nachbarschaft zu halten, sondern weil sie für sich selbst nicht ein149

treten, für sich keinen Einsatz leisten, sich in eigener Sache nicht behaupten können .... Zwanghafte Freundlichkeit und Güte dieser Art sind Symptom und Ergebnis gehemmter Aggression« (Feldenkrais 1991, S. 17). Dabei versteht Feldenkrais Aggression als »eine Verhaltensweise, nicht eine Energie« und wendet sich damit gegen die Konstruktion der psychologischen Libido-Theorie analog zur (thermodynamischen) Theorie der Energie (ebd. S. 27). Jeglicher Zwang beim Versuch einer Verhaltensänderung sei, »um es mit einem Modewort zu sagen, buchstäblich kontraproduktiv« (ebd. S. 20). Zwang und »Willenskraft« würden nur dort gebraucht, wo es an Handlungsfähigkeit fehle: »Lernen, so wie ich es verstehe, besteht nicht darin, dass man Willenskraft stärkt und übt, sondern im Aneignen der Fertigkeit, parasitäre Handlungen zu hemmen, und in der Fähigkeit, auf Grund von Selbsterkenntnis klare Motivationen zu lenken« (ebd. S. 21). Diese Fähigkeit des Nervensystems entspricht einer so abgestimmten Körperspannung, »dass die Funktionen der Selbstbehauptung und der Erholung uns abwechselnd beherrschen. Dieser Zustand des labilen Gleichgewichts befähigt uns, das, was wir tun möchten, zweckmäßiger und unseren eigenen Funktionen gemäßer auszuführen« (ebd. S. 25). Diese von Feldenkrais an anderer Stelle »Neutralzustand« genannte zweckmäßige Ausgangslage ist auch körperlich frei von Zwängen: er geht »mit dem Gefülltsein des unteren Unterleibs einher«; »der Körper ist mehr aufgerichtet, die Atmung gleichmäßiger, die Muskeln, die den Unterkiefer schließen, lassen etwas nach, die Mundmuskulatur entspannt sich, und der Kopf kann den Augen nach allen Richtungen folgen, ohne an der Stellung der Hals- und Schultergelenke vorher etwas ändern zu müssen. Körper und Geist sind nun ausgerüstet und bereit, jede eindeutige Motivation in Handlung umzusetzen« (ebd. S. 273). Feldenkrais glaubte an die gesellschaftsverändernde Kraft wachsender Bewusstheit im Sinne einer Selbsterziehung zur Humanität. »Der Vorgang entspricht einem Erziehungsprozess. Je mehr sich einer seiner selbst bewusst wird, desto eher wird er seine Bedürfnisse und Leidenschaften befriedigen können, ohne dabei oder dadurch seiner Bewusstheit Abbruch zu tun ... es wird dann jede seiner Handlungen menschenähnlicher, dem Menschen gemäßer geworden sein« (Feldenkrais 1978, S. 238).

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7. Feldenkrais-Pädagogik in der

Psychosomatik Im Folgenden soll der Beitrag der Feldenkrais-Pädagogik für einige zentrale Aufgabengebiete und Fragestellungen der Psychosomatik dargestellt und exemplarisch veranschaulicht werden:

7.1 Willkürliche Spannungsregulation Physiologische Kennzeichen einer Entspannungsreaktion sind eine Abnahme des Muskeltonus, kardiovaskuläre Veränderungen (periphere Gefäßerweiterung, Pulsverlangsamung und Senkung des arteriellen Blutdrucks), Verlangsamung der Atmung, Zunahme der Hautleitfähigkeit und Veränderungen der hirnelektrischen Aktivität. Psychologisch treten eine affektive lndiff erenz und eine Erhöhung der Wahrnehmungsschwellen gegenüber Außenreizen ein; idealerweise fühlen sich die betreffenden Personen nach einer Entspannungsübung körperlich und geistig ausgeruht (Vaitl & Petermann 1993, S. 27). Entspannungsreaktionen mit diesen Merkmalen können auch infolge der Feldenkrais-Arbeit auftreten, stellen aber keine eigentliche Zielgröße der Feldenkrais-Arbeit dar. Vielmehr wurde »Entspannung« - vor allem als unreflektierter Allheilmittelbegriff der 70er Jahre - von Feldenkrais mehrfach kritisiert (z.B. Feldenkrais 1994, S. 187 f.). Anekdotisch wird berichtet, dass die beste Garantie für werdende Feldenkrais-Trainer, nicht akkreditiert zu werden, darin bestehe, die FeldenkraisMethode als Entspannungstraining zu werten. Der amerikanische Titel »Relaxercise« eines Feldenkrais-Buches (Zemach-Bersin et al. 1992) führte unter Feldenkrais-Lehrern zu Irritationen. In der Tat scheint Feldenkrais in seinen Büchern bis auf wenige Ausnahmen den Begriff »Entspannung« zu vermeiden und spricht eher von »tonischem Zustand« oder »parasympathischer Dominanz« (Feldenkrais 1991, S. 245). Dieser Wortgebrauch weist auf die kritische Einstellung von Feldenkrais gegenüber einer »missverstandenen Entspannung« (Feldenkrais 1978, S. 100) hin. Denn wäre 151

so Feldenkrais - »Entspannung, von der die Mode lallt, der richtige Zustand, so müsste der Unterkiefer frei hinunterhängen und der Mund weit offen stehen. Tatsächlich findet man diesen äußersten Grad der Entspannung nur bei geborenen Idioten oder nach lähmenden Schocks« (ebd. S. 101). Diese Distanzierung von einem missverstandenen Konzept der Entspannung wird verständlich, wenn man einen Blick auf die - weithin - unreflektierte Praxis und die Rezeptionsgeschichte der Progressiven Muskelrelaxation wirft: In Psychosomatik und Psychotherapie werden Entspannungsverfahren vielfach eingesetzt, sei es als Bestandteil spezifischer verhaltenstherapeutischer Standardmethoden oder - wesentlich häufiger - als ubiquitär eingesetztes »Körperangebot« in multimodalen Therapiesettings. Leider zeigen sich aber erhebliche Diskrepanzen in Bezug auf Stellenwert, Indikationsstellung und Formulierung möglicher Kontraindikationen von Entspannungsverfahren (Vaitl & Petermann 1993, Petermann & Vaitl 1994, Klinkenberg 1996a). Ein genereller Tenor der Wertschätzung ist deshalb auch in der verhaltenstherapeutischen Literatur gepaart mit dem Hinweis auf widersprüchliche oder enttäuschende Einzeluntersuchungen sowie unklare Grundsatzfragen (z.B. Fliege! et al. 1989, Kanfer et al. 1991, Ohm 1994, Petermann 1995, Stetter 1998) bis hin zur Feststellung, dass es letztlich doch nur auf die »Veränderung kognitiver Variablen« ankomme, wodurch ein Entspannungsverfahren in vielen Fällen überflüssig werde (z. B. Linden 1993). Andere Darstellungen verhaltenstherapeutischer Methoden kennen Entspannungsverfahren lediglich als Teilkomponente eines verhaltenstherapeutischen Verfahrens, wie der Systematischen Desensibilisierung (z.B. Reinecker 1987, 1995). Schließlich dürfen nicht alle der vielfältig genannten Indikationen für den Einsatz von Entspannungsverfahren als gesichert gelten (z.B. Hamm 1993, Petermann & Vaitl 1994). Kurzum: die weit verbreitete Praxis der Entspannungsverfahren in Verhaltenstherapie, Verhaltensmedizin und verhaltenstherapeutisch orientierter Rehabilitation (z.B. BfA 1995a, 1995b) steht ebenso, wie ihre Festschreibung in Ausbildungs- und Weiterbildungsordnungen, in einem nicht unerheblichen Kontrast zu ihrer dürftigen theoretischen Begründung, lückenhaften wissenschaftlichen Fundierung und heterogenen verhaltenstherapeutischen Beurteilung. 152

Das auch von Verhaltenstherapeuten am meisten eingesetzte Entspannungsverfahren dürfte die Progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson (1956; 1. Aufl. 1929) in ihren unterschiedlichen Formen sein. Jacobson behandelte mit seinem Verfahren, das er seit den 20er Jahren entwickelte, eine Vielzahl psychosomatischer Krankheitsbilder und dokumentierte seine Behandlungen teilweise außerordentlich umfassend (Jacobson 1956). Eingang in die Verhaltenstherapie fand die PMR erst Ende der 50er Jahre durch Joseph Wolpe im Rahmen eines lerntheoretisch begründeten verhaltenstherapeutischen Verfahrens, nämlich der Systematischen Desensibilisierung. Hierbei führt die unvereinbare Reaktion des Entspanntseins nach der schrittweisen Darbietung des gefürchteten Reizes zum Abbau der konditionierten Furchtreaktion. Da es hierbei nur auf den - wie auch immer erreichten - Zustand des Entspanntseins ankam, nahm W olpe aus praktischen Überlegungen eine Reduktion des Entspannungstrainings von Jacobson vor, indem nur noch mit wenigen bestimmten Muskelgruppen geübt werden sollte (Wolpe 1958). Diese Kurzversion prägte die folgende Rezeptionsgeschichte der PMR in der Verhaltenstherapie eingehender als die Originalversion Jacobsons selbst. Spätere Bearbeitungen des Verfahrens, z.B. in den 70er Jahren durch Bernstein und Borkovec (Bernstein & Borkovec 1995), beinhalteten im Wesentlichen weitere Kürzungen in der Zahl der Instruktionen, Therapeuten- und Übungssitzungen bis hin zu Kurzformen von vier Sitzungen (Gröninger & Stade-Gröninger 1996). De facto wurde das Verfahren dabei in wesentlichen Punkten verändert. In der ursprünglichen Version hatte Jacobson über 50 Instruktionssitzungen mit Training von nur drei Muskelgruppen pro Sitzung über eine Gesamtzeit von drei bis sechs Monaten vorgesehen unter der Auflage, dass die Patienten täglich ein bis zwei Stunden üben sollten. In den mitgeteilten Fallberichten lässt sich nachlesen, dass er einige der Patienten auf diese Weise zwei bis drei Jahre lang wöchentlich unterrichtete. Das ursprüngliche Verfahren betonte vor jeder Sitzung: 1. dass es sich nicht um eine gymnastische Übung oder eine Art Training handelte (»These are NOT exercises.«), 2. dass es darum gehe, mit der Kontrollierbarkeit aller Körperteile vertraut zu werden (»control sensation in each part«), damit es schließlich 3. mög153

lieh sei, in allen Lebenslagen Anspannung zu vermeiden (»so that you can learn really to run yourself properly relaxed under all conditions«) Qacobson 1970). Ziele der Unterweisungen und Übungen waren das Erlernen von Körperwahrnehmung und Körperkontrolle mit einer eher homöostatischen oder eutonischen Zielsetzung, ein verbesserter Umgang mit dem eigenen Körper und viel mehr eine Verhaltensänderung auf Dauer als bloß das unmittelbare Erlangen eines Entspannungszustandes. Beim Studium der ursprünglichen Version fallen weitere gewichtige Unterschiede zu heutigen Gepflogenheiten auf. So vermeidetJacobson bei der Unterrichtung die ausdrückliche Anweisung anzuspannen. Vielmehr ist überwiegend von »Beugen«, allenfalls noch von »nach unten pressen« eines Körperteils die Rede. Besonders fallen die Ruhe und Langsamkeit der Instruktionen bei Jacobson auf: allein die ausdrücklichen Zeitangaben pro Muskelgruppe (d. h. konkret, etwa eine Hand dreimal zu beugen) belaufen sich auf zwanzig Minuten; bei drei Muskelgruppen also auf eine volle Stunde. Im Gegensatz dazu dauern die modernen Entspannungsinstruktionen nur 15 bis 20 Minuten (Bernstein & Borkovec 1995, Florin 1975, Echelmeyer & Zimmer 1977, Kaluza & Basler 1991) und beinhalten beispielsweise in einer »Musterstunde« mit zwölf Muskelgruppen bei Florin innerhalb einer Viertel Stunde nicht weniger als 50-mal die wörtliche Aufforderung anzuspannen und über 30-mal, auf die Spannung zu achten, ohne die zusätzlichen Aufforderungen zur Wiederholung einer Anspannung mitzuzählen. Vaitl spricht von einer »systematisierten Sequenz von Anspannungs- und Lockerungsübungen« (Vaitl 1993, S. 34). Der unterstellte Zusammenhang ist der, dass es mittels unmittelbar vorhergehender Anspannung möglich sei, tiefer zu entspannen. Kaluza & Basler (1991, S. 68) sprechen von einer »Technik«: »Indem Sie eine Muskelgruppe anspannen und dann die so entstandene Spannung plötzlich und völlig lockern, ermöglichen Sie diesen Muskeln, sich weit unter ihr normales Spannungsniveau zu entspannen.« Der vermutete physiologische Mechanismus, den die Autoren mit einem >»fliegenden Start< in die tiefe Entspannung« vergleichen, ist jedoch - vorausgesetzt, es ist nicht Ermüdung statt Entspannung gemeint - nicht bewiesen. Gröninger und StadeGröninger begründen die kurze Muskelanspannung stärker psy154

chologisch damit, »dass wir uns das Loslassen leichter vergegenwärtigen können, wenn wir mit der muskulären Polarität, also dem Anspannen, beginnen« (Gröninger & Stade-Gröninger 1996, S. 19). Im Gegensatz dazu dient das bewusste Erleben von Anspannung nach Jacobson nicht dem Anstoßen einer reaktiven Entspannung, sondern allein dem Zweck, dem Patienten zu zeigen, was er nicht tun sollte Qacobson 1956, S. 43). Die Muskelkontraktionen waren ausdrücklich »not designed to be an aid to relaxation« (ebd.). Während Anspannen in den heute gebräuchlichen PMR-Versionen als eine Art von bedingtem Reiz von Entspannung trainiert wird, diente Anspannen in der Originalversion lediglich dem Zweck, dem Patienten zu Beginn des Unterrichts unter Aufsicht die gegensätzliche Richtung von dem zu zeigen, was er erlernen sollte. Er sollte nicht regelhaft vor dem Entspannen anspannen, sondern vielmehr lernen, in jedem denkbaren Zustand von Spannung zu entspannen »he should not as a rule contract before he relaxes, but should begin to relax at whatever stage he finds himself« (ebd. S. 53). Bei genauer Betrachtung zeigen sich also fundamentale Gegensätze in Durchführung und Intention zwischen Originalversion und späteren Bearbeitungen der PMR, aus denen sich möglicherweise Ungereimtheiten in der Wirkforschung der Methode (Lit. bei Hamm 1993) oder hohe Abbruchraten bei den Patienten (vgl. Ohm 1994) erklären lassen. Statt einer Entspannungstechnik ging es bei Jacobson eher um eine Unterrichtung, in jeder Lebenslage Spannungszustände wahrnehmen und zum entspannten Pol hin verändern zu können. In vielen seiner detailliert beschriebenen Übungen näherte sich Jacobson stärker Themenbereichen einer bewussten Wahrnehmung von tonischen Zuständen, der neuromuskulären Funktion, der Bewegungsfunktion (etwa der Augenmuskeln) oder imaginativen Übungen. Man kann sagen, dass Jacobsons ursprüngliche Arbeit mehr gemeinsame Aspekte mit der Feldenkrais-Methode aufweist, als heutige PMR-Praxis vermuten lässt. Wenn Sie bereits Erfahrungen mit der Progressiven Muskelrelaxation nach ]acobson gesammelt haben, können Sie durch einfache visuelle Kontrolle überprüfen, ob Sie in der Lage sind, einzelne Muskelgruppen selektiv anzuspannen und zu entspannen. Egal, ob Sie sitzen oder liegen, legen Sie Ihren Unterarm und die Hand bequem auf einer Unterlage, dem Boden oder der Tischplatte ab, mit 155

der Handfläche nach oben: spannen Sie die Muskulatur Ihrer Hand kurz so an, dass sich die Finger Ihrer Hand zur Faust beugen, und lassen Sie sie dann los. Beobachten Sie, ob die Bewegung der Finger und der Handinnenfläche beim Loslassen kleiner ist als beim Ballen der Faust. Wenn die Loslassbewegung zu groß ist, entspannen Sie nicht nur die beugenden Muskeln, sondern spannen gleichzeitig die antagonistischen Streckermuskeln an. Beugen Sie zusätzlich im Handgelenk, so spannen Sie zusätzliche Muskeln im Unterarm an, die für den Faustschluss nicht notwendig sind. Lassen Sie schrittweise die Beugebewegung der Finger zum Faustschluss kleiner und kleiner werden, bis die Loslassbewegung kaum noch sichtbar ist. Spüren Sie, welche Finger eher einen großen Weg zurückzulegen bereit sind und welche weniger beteiligt sind. Eine andere Überprüfung kann im liegen stattfinden, wenn Sie in Rückenlage die Oberarmmuskulatur allein so aktivieren, dass sich der Unterarm zur Zimmerdecke hebt. Beobachten Sie, ob Ihre Hand im Handgelenk gestreckt ist oder gebeugt, wenn der Unterarm zur Zimmerdecke weist. Wenn Ihre Hand gestreckt ist, haben Sie unbewusst zusätzliche Muskeln aktiviert, die Sie eigentlich nicht aktivieren wollten. Beobachten Sie, wohin die Finger der im Handgelenk gebeugten Hand zeigen, wenn Sie in Rückenlage ausschließlich die Muskulatur anspannen, die den Unterarm zur Zimmerdecke hebt. Ohne zusätzliche Aktivierung weiterer Unterarmmuskeln weisen die Finger eher in Richtung auf Ihren Unterleib oder Ihre Beine. Denken Sie daran, dass Jacobson die Anspannung nur benutzte, um zu zeigen, was nicht getan werden sollte. Können Sie in den beiden Muskelgruppen das Gefühl der Entspannung auch ohne vorherige Anspannung erzeugen? Einwände gegen eine einseitige Favorisierung von »Entspannungsübungen« hatte bereits 1926 von einem funktionellen Verständnis ausgehend Eisa Gindler formuliert. Als Mittel ihrer Arbeitsweise nannte sie neben »Atmung und Entspannung« auch »Spannung« (Gindler 1926). Allerdings ist nach Gindler »nur wer wirklich entspannen kann« auch zur Spannung fähig. »Darunter verstehen wir den schönen Wechsel der Energien, der auf jeden Reiz reagiert, 156

der zunehmen, abnehmen kann nach der Beanspruchung. Wir verstehen darunter vor allem jenes starke Gefühl der Kraft, der Mühelosigkeit einer Leistung, kurz ein gesteigertes Lustgefühl. Spannung, wie wir sie verstehen, ist die Möglichkeit, die größten Widerstände mit einer gesteigerten Atmung zu überwinden. Spannung ist für uns der größte Gegensatz zum Krampf. Ausarbeiten wollen wir uns gern, aber nicht verarbeiten« (ebd. S. 89). Auch für Feldenkrais schließt eine autonome Selbstregulation des Individuums Entspannungs- wie Anspannungsfähigkeit ein. Die bekannten Entspannungsverfahren greifen sämtlich an der Skelettmuskulatur an. Der durch sie beeinflusste Muskeltonus steht vornehmlich, ja fast ausschließlich im Dienst der Haltetätigkeit der Muskulatur (tonische Funktion). Ein überwiegend herabgesetzter Muskeltonus ist für das alltägliche Leben aber ebenso wenig wünschenswert, wie eine »entspannte« statische oder dynamische Kraft- und Bewegungsentwicklung. Pointiert gesagt ist Entspannung als Sollgröße der Stütz-, Willkür- und Zielmotorik physiologisch unsinnig. Angesichts von Bewegung als Hauptfunktion der Muskulatur erscheinen die psychologischen Interpretationen von Muskelspannung als Indikator von Beanspruchung und Stress fraglich und einseitig. Beispielsweise kann eine vermehrte Anspannung ebenso aus einer einseitigen Bewegungsorganisation resultieren, die einer »Hyperflexibilität der Gelenke« entgegensteuert oder »durch Lernprozesse überformt« ist (Bischoff 1989, S. 14). Schließlich wurde die häufige Auffassung, die hauptsächliche Wirkung der Entspannungsverfahren bestehe in der »arousal reduction «, von einigen Verhaltenstherapeuten als »Uniformitätsmythos« kritisiert (Vaitl & Petermann 1993). Entspannung ist für eine organische Körperorganisation vielmehr nur insofern von Wert, als im wirklich entspannten Zustand eher unbewusste willkürliche Arbeit unterlassen wird, die einer reflektorisch gesteuerten organischen Haltung entgegenwirkt. »Wenn man diese bewusste Kontrolle durch Hypnose oder andere Methoden entspannt, verbessert sich die aufrechte Körperhaltung sofort in dem Maße, wie es die anatomische Deformation der Gelenkzwischenräume gestattet« (Feldenkrais 1994, S. 154). Mit anderen Worten: Entspannung als Lassen muskulärer Aktivität ist für Feldenkrais lediglich eine Voraussetzung zur physikalischen Übernahme von Arbeit durch die Skelettstruktur und den Boden. »Die Reduktion der Anspannung 157

ist notwendig, weil effiziente Bewegung ohne unnötige Anstrengung abläuft.« Sie ist »nötig, um kinästhetische Sensibilität zu fördern, ohne die ein Mensch nicht selbstregulierend werden kann« (Feldenkrais 1990). Entspannung ist hineinverwobener Bestandteil der harmonischen, leichten Aktivität im dynamischen Gleichgewicht (siehe oben Kap. 4.3). Zumal Entspannungsverfahren Bestandteile der meisten multimodalen Behandlungsverfahren für psychosomatische Patienten sind, liegt es nahe, Entspannung in dem vorgeschlagenen Sinn körperverhaltenstherapeutisch zu nutzen. Bedingung wäre dabei allerdings, dass der Fokus auf einer Bewusstheit der Körperorganisation und nicht allein auf dem der muskulären Entspannung liegt. An einigen Feldenkrais-Lektionen, die bei oberflächlicher Betrachtung Übungen der Progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson oder dem Autogenen Training von Schultz zu ähneln scheinen, wird dieser Unterschied sofort deutlich: In der bereits oben (S. 68 f) erwähnten Feldenkrais-Lektion, die in einer Variante die Bezeichnung »minimal Lifting« trägt (Feldenkrais 1994-1997, I, S. 179-184), wird die Beobachtung des mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken liegenden Schülers auf unbewusste Muskelarbeit und Anstrengung gelenkt: »Damit die ganze Wirbelsäule auf den Boden zu liegen kommt, müssen wir die Arbeit abstellen, welche die Muskeln ohne unser Wissen tun. Aber wie sollen wir das anstellen, wenn es der absichtlichen, bewussten Anstrengung nicht gelingt?« (Feldenkrais 1978, S. 129 f) In der Lektion schlägt Feldenkrais eine »indirekte Methode« vor: Langsam und mit Pausen werden wenige kleinste Bewegungen ausgeführt, um die eigene Bewegungsorganisation zu beobachten und unnötige Anstrengung schrittweise zu eliminieren (z.B. beim Heben eines Arms »von der Schulter aus« das zumeist beobachtbare Mitheben der Hand). Formal zeigt die Lektion große Ähnlichkeit zu Übungen der Progressiven Muskelrelaxation; inhaltlich ist sie etwas völlig anderes und bewirkt statt bloßer Entspannung die Möglichkeit, Bein und Arm leichter zu heben, eine Vorstellung von Bewegungsintegration zu entwickeln, die Erfahrung, dass »Heben« anatomisch kein zweidimensionaler Vorgang ist, Auswirkungen auf das Körperbild zu erleben und an einem kognitiven, emotional befriedigenden Bewegungslernen zu partizipieren. Schließ/ich hat sich am Ende der Lektion zumeist auch die eingangs festgestellte Haltearbeit entlang der Wirbelsäule reduziert.

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Einseitige, überwiegende Anspannung, wie sie sich bei vielen psychosomatischen Patienten findet, ist für Feldenkrais vornehmlich der Zustand nicht klar motivierten Handelns, das von widersprüchlichen, »parasitären« Motivationen und Impulsen durchsetzt ist. Der unter Gesichtspunkten optimaler Handlungsentwicklung anzustrebende Zustand ist der eines »labilen Gleichgewichts«, von dem aus bewusste Kontrolle in jede Richtung hin beliebig ausgeübt werden kann (vgl. oben Kap. 4.3). »Da labiles Gleichgewicht der Konfiguration entspricht, in der die potentielle Energie eines Systems am größten ist, bedarf es eines minimalen Kraftaufwands, um das Gewicht in eine beliebige Richtung zu verlagern« (Feldenkrais 1991, S. 244). Dieses labile Gleichgewicht kann praktisch stets aufs Neue durch die menschliche Fähigkeit angestrebt werden, »durch mentale Tätigkeit zu lernen, während die Ausführung der kortikalen Impulse durch die Muskulatur gehemmt ist«. Um spontan, ohne inneren Widerstand und ohne parasitäre Motivationen handeln zu können, müssen Selbstlenkung und Ausführung bewusst voneinander dissoziiert werden, »bis einem dies so geläufig ist, dass es fast gleichzeitig mit der Ausführung geschieht«. Dabei soll der Lernende »sich im Lernprozess selbst näher an die Haltung der Umkehrbarkeit« bringen, »gerade genug, um starken Zwang aufzuheben« und »im gleichen Augenblick ... die offenkundige übermäßige Muskelspannung ... und die Motivation, die ihr zugrunde liegt«, zu merken. Im Gegensatz zur muskulo-neuronalen Wirkungsrichtung gängiger Entspannungsübungen geht Feldenkrais von einer wechselseitigen kortikomuskulären Beeinflussung aus, die zum »tonischen Zustand« und »parasympathischer Dominanz« führt. »Solcherart also ist die Verkettung: Im Hinblick auf Hemmung und Erregung erleichtert der Zustand der Hirnrinde den Abbau von Spannung, und der Abbau von Spannung führt zu einem Zustand, der Umkehrbarkeit leichter macht, Spannung wird weiter abgebaut, die Atmung wird rhythmisch usf.: Das ganze Gefüge Mensch ist dann so eingestellt, dass es für jede beliebige Handlung leicht, fließend, zweckmäßig über sich verfügen kann. Gelassen wird die Handlung entworfen, der Körper hält sich tonisch und fühlt sich warm an, mit kühler Stirn, und keine Stelle an ihm macht sich vereinzelt bemerkbar; man fühlt sich als ein geschlossenes Ganzes, der untere Unterleib wird als Quelle des Selbst empfunden, das Becken führt alle Bewe159

gung an - und so ist spontanes Verhalten erreicht« (Feldenkrais 1991, S. 245). Die zentrale Aufgabe besteht für Feldenkrais in der Anleitung zu »Bewusstheit im Handeln«, gleichzeitig mit dem eigenen Skelett, den Muskeln und der Umgebung in Kontakt zu sein. »Dies ist keine Entspannung, da echte Entspannung nur durch Nichttun [when doing nothing) erreicht werden kann. Das Ziel ist gesunde, kraftvolle, leichte und angenehme Anstrengung (Eutonie)« (Feldenkrais 1990). Umfassende Zielsetzungen, wie sie häufig mit Entspannungsverfahren verbunden werden, wie Wahrnehmungskompetenz, Fähigkeit zur willkürlichen Spannungsregulation oder der gewünschte »Muskelsinn« (Vaitl & Petermann 1993, S. 34), bedürfen eher einer pädagogischen, individuellen und differenzierten Unterstützung, wie sie die Feldenkrais-Methode bietet. Nach Gröninger und Stade-Gröninger »decken sich« die Auffassungen von Moshe Feldenkrais »mit den gesamten Überlegungen und Ergebnissen aus der Entwicklungspsychologie und der Progressiven Relaxation« (1996, S. 25). Stößt diese Auffassung auf Resonanz, dürfte die Feldenkrais-Pädagogik zu einem differenzierten Einsatz von Entspannungsverfahren im Rahmen verhaltensmedizinischer Ansätze beitragen.

7.2 Schmerzstörungen Der Nutzen verhaltenstherapeutischer Interventionen bei der multimodalen Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen ist mehrfach belegt (Ruoß 1998). Dennoch handelt es sich um ein schwieriges Aufgabenfeld, in dem vor allem über die differenzielle Wirksamkeit einzelner Therapiebausteine noch wenig bekannt ist. Hinsichtlich der Ätiologie und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzsyndrome kennzeichnen folgende Grundannahmen den Ansatz der Verhaltenstherapie: Organische Faktoren können ebenso wie psychosoziale Faktoren beteiligt sein; zu den relevanten psychologischen Faktoren gehören Lernprozesse, soziale lnteraktionsprozesse und kognitive Verarbeitungsprozesse (nach Kröner-Herwig 1996). Für die Behandlung psychosomatischer Patienten mit körperlichen Schmerzen stellt die Feldenkrais160

Arbeit aus mehreren Gründen eine Bereicherung des therapeutischen Vorgehens dar: 1. Die Feldenkrais-Pädagogik beschäftigt sich mit den konkreten Funktionen konkreter Körper und versucht, ebenso wenig strukturelle wie funktionelle körperliche Probleme durch einseitige psychologische Wahrnehmungsweise und Deutung »zu verflüchtigen«. Die Beschwerden der Patienten werden ernst genommen; Thema ist die Verbesserung der Funktion.

2. Da ein durch Schmerzen gebundenes Nervensystem nicht lernen kann, suchen Feldenkrais-Lehrer zunächst nach Möglichkeiten, die Bewegungsorganisation des Patienten so zu unterstützen und zu entlasten, dass neue Informationen überhaupt aufgenommen werden können. 3. Feldenkrais-Arbeit ist stärker prozess- als zielorientiert und verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, die zumeist vorliegende Zielfixierung von Schmerzpatienten zu unterlaufen. 4. Schmerzhafte Körperteile werden in der Regel nicht direkt manipuliert; schmerzhafte Bewegungen nicht direkt ausgeführt. Vielmehr wird die neurologische Information so gestaltet, dass sie unter Ausnutzung des funktionell orientierten Lernverhaltens des Zentralnervensystems ihr Ziel indirekt erreicht. 5. Die Orientierung der Feldenkrais-Methode auf die funktionellen Aspekte der gesamten Bewegungsorganisation erlaubt selbst beim Vorliegen struktureller körperlicher Defekte immer eine Funktionsverbesserung. 6. Die »Doppelfunktion« einer Lernmethode, die vielen Patienten auf den ersten Blick wie eine Bewegungsmethode erscheint, erlaubt Schmerzpatienten den Brückenschlag von einer somatisch fixierten zu einer psycho-somatisch interessierten Grundhaltung. Die Veränderung der subjektiven Sicht des Patienten über die Bedeutung seiner Schmerzen im individuellen Kontext ist möglicherweise »die wesentliche Variable ... , die in ihrer Ausprägung bzw. ihrer Veränderung den Behandlungserfolg bestimmt« (Pfingsten et al. 1997). Wie ein viel zitiertes Diktum von Feldenkrais beschreibt, erleben viele Schmerzpatienten durch die FeldenkraisMethode, dass »das Unmögliche möglich, das Mögliche leicht und das Leichte angenehm« wird. Der pädagogische Weg ist oft an161

dersherum: zu lernen, das Leichte angenehm, dann das Mögliche leicht zu gestalten, und zu erleben, dass das angeblich Unmögliche möglich geworden ist. Frau N., eine 56-jährige, zwischenzeitlich berentete kaufmännische Angestellte, die seit 10 Jahren an einer rezidivierenden depressiven Episode und seit drei Jahren an einem sie schwer beeinträchtigenden Fibromyalgiesyndrom leidet, schreibt am Ende ihres achtwöchigen Aufenthaltes in unserer Klinik, in der sie auch die Feldenkrais-Pädagogik kennen lernte: »Der letzte Winter war für mich so fürchterlich, dass ich mein Leben beenden wollte. Ich wollte einfach keine weiteren Schmerzen mehr aushalten. Sie zogen vom Knie aufwärts über die Arme und zum Schluss auch ins Gesicht. Sogar das Sprechen fiel mir immer schwerer. Es fiel sogar Leuten auf, die mich von früher her kannten. Die Schmerzen waren oft so stark, dass ich tags darauf nicht mehr wusste, was ich am Vortag erlebt hatte. Da hörte ich von meinem behandelnden Arzt von der Klinik. Mein Mann setzte alle Hebel in Bewegung, damit ich aufgenommen wurde. Von Feldenkrais war die Rede. Was ist Feldenkrais? Zu Hause versuchte ich mich noch kundig zu machen. Keiner konnte mir konkret etwas sagen. So kam ich ziemlich neugierig hierher. .. Die Schnupperstunde machte irgendwie alles noch geheimnisvoller. Das Erzählen darüber verwirrte mich. Nach den Übungen war ich ärgerlich, dass wir nur eine Körperseite bewegt hatten, denn da bemerkte ich schon einen Unterschied. Im Nachhinein denke ich, dass ich ja ziemlich tief in der Depression war und dadurch auch nicht positiv empfinden konnte. Dann bekam ich eine Feldenkrais-Einzelstunde. Danach wusste ich gar nicht, wie mir geschah: ich schwebte die Treppe hinauf, es ging mir ganz toll und ich überanstrengte mich körperlich total. Ich erzählte davon dem Feldenkrais-Lehrer, und in der nächsten Stunde wurde ich ruhig und müde. Ich hatte am Anfang auch wahnsinnig Angst, irgendwie in eine Art Trance versetzt zu werden, und war dadurch auch in Anspannung. Ich merkte allerdings sehr schnell, dass ich zu den Therapeuten Vertrauen haben konnte. Mit der Zeit bekam ich nun etliche Einzel- und Gruppenstunden. Auf einmal merkte ich morgens, dass es für mich gar nicht mehr selbstverständlich war, einfach aus dem Bett zu steigen, sondern ich war auf meinen Körper bedacht, wie ich ihn möglichst schonend aus dem Bett bringe. Wenn ich lief, achtete ich plötzlich auf meine Haltung. In der Einzelstunde bemerkte ich, wie beweglich meine Knochen sind. Der Durchbruch passierte aber in einer Gruppenstunde, als wir Druck über die Ferse zum Boden gaben. Danach spürte ich, dass meine Wirbelsäule lebt, mein ganzer

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Rücken ist beweglich. Es war für mich wie ein Wunder. Die ganze starre Masse war weg. Zum Schluss erlebte ich heute, wie toll Feldenkrais in der Wanne anwendbar ist. Die Atemübungen lassen sich darin gut machen, aber viel besser noch die Beckenuhr. Das ist ein Erlebnis.« Am Ende der stationären Behandlung hatten sich in der psychometrischen Testung die Scores für Depression (ADS) von initial T-W ert 84 auf T-W ert 64, für Angst (STAI) von 84 auf T-W ert 72 reduziert. Ebenso kam es zu einer Normalisierung der initial erhöhten Scores für Erschöpfung, Magenbeschwerden, Gliederschmerzen und Beschwerdedruck im Gießener Beschwerdebogen (GBB).

Bischoff und Traue haben die »Überformung« motorischer Haltungen und Bewegungen durch Lernprozesse postuliert und angenommen, dass »Reflexe insbesondere durch klassische Konditionierung, motorische Willkürakte vor allem durch operante Konditionierung« gelernt würden (Bischoff 1989, 14). Aus der bisherigen Forschung zur Schmerzsymptomatik psychosomatischer Patienten darf gefolgert werden, dass der Fehlwahrnehmung muskulärer Arbeit eine ursächliche Rolle zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Schmerzen zukommt, wie Bischoff (1989) für Patienten mit Spannungskopfschmerzen und Sarnoch (1995) für Fibromyalgiepatienten nachweisen konnten. Ziel der Therapie muss es nach Bischoff sein, »mit dem Patienten die auslösenden Muskelverspannungen in ihrer Bedeutung für die Handlungsregulation zu analysieren und alternative Verhaltensweisen zu erarbeiten«. »Nur wenn wir auf allen Ebenen des Handelns über unsere Funktionen in ihrem Gesamtumfang verfügen«, heißt es bei Feldenkrais, »können wir Zwang so weit ausschließen, dass unsere Handlung Ausdruck unseres spontanen Selbst wird.« Beide Vorschläge treffen sich in der gleichen Forderung nach einem kontinuierlichen (Bio-)Feedback (Feldenkrais 1991, S. 258; Bischoff, ebd. S. 170). Mithilfe der Feldenkrais-Arbeit können Patienten mit Muskelkontraktionskopfschmerzen wichtige Hilfsmittel zur kontinuierlichen Selbstwahrnehmung und zur Regulation ihrer Handlungen und Handlungsqualität erlernen. So kann ein Patient erlernen, auf den ganzen Bewegungsablauf »von Kopf bis Fuß« zu achten, sicherer das Gefühl zweckmäßiger Haltung zu identifizieren und zu erkennen, wenn gegenläufige Motivationen unterhalten werden, »dann werden seine Kiefernmuskeln gespannt, die Zähne 163

zusammengepresst, die Augenbrauen zusammengezogen, die Augen angestrengt sein« (Feldenkrais, ebd.). An drei Beispielen sollen im Folgenden Aspekte der Feldenkrais-Pädagogik bei der Behandlung funktioneller Schmerzstörungen illustriert werden: Somatoforme Störungen und funktionelle Störungen des Bewegungsablaufs Körperliche Beschwerden ohne organische Ursache treten häufig auf, können chronifizieren und stellen einen wesentlichen Teil der in Einrichtungen des Gesundheitswesens vorgetragenen Beschwerden dar. Dennoch stellen solche »somatoformen Störungen« noch immer ein »großes unbekanntes Land zwischen Psychologie und Medizin« dar und weisen auf »Schwachstellen unseres Gesundheitssystems« hin (Rief 1996, Rief & Hiller 1992). Nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD10) besteht bei der »anhaltenden somatoformen Schmerzstörung« über mindestens sechs Monate ein kontinuierlicher, an den meisten Tagen anhaltender, schwerer und belastender Schmerz in einem Körperteil, der nicht adäquat durch den Nachweis eines physiologischen Prozesses oder einer körperlichen Störung erklärt werden kann und der anhaltend der Hauptfokus für die Aufmerksamkeit der Patienten ist (Dilling et al. 1994, ähnlich DSM- IV Saß et al. 1998). Allerdings ist die Verwendung dieser Diagnosebezeichnung für eine integrative Beschreibung von Schmerzen sehr problematisch, da sie das traditionelle dichotome Konzept von »entweder« psychogenen oder somatogenen Schmerzen beibehält und keine Möglichkeit bietet, den somatischen Anteil der Schmerzen mit anzugeben (Klinger et al. 1997). Denn bei psychosomatischen Patienten finden sich nicht nur »Somatisierungsstörungen«, sondern wesentlich häufiger »Mischbilder« organmedizinischer, wenn auch zumeist in ihrer Dignität weniger gravierender Befunde mit auffallender Beeinträchtigung der Funktion. Rückenschmerzen sind für Patienten statistisch gesehen der zweithäufigste Grund, einen Arzt aufzusuchen. Während die Häufigkeit von aktuellen Rückenschmerzen Ende der 40er Jahre unter 20 Prozent lag, erreicht die Punktprävalenz unter Erwachsenen inzwischen in verschiedenen Städten der Bundesrepublik mit 40 Prozent die Dimensionen einer »Epidemie unserer Tage«. Be164

troffen sind zunehmend jüngere Menschen (Raspe & Kohlmann 1993); diese Tendenz ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten ständig steigend (Schumacher & Brähler 1999). Die in Deutschland allein durch Rückenschmerzen jährlich verursachten Gesamtkosten werden auf etwa 34 Milliarden DM geschätzt (Bolten et al. 1998). Erkrankungen von Skelett, Muskeln und Bindegewebe stellen fast die Hälfte der ursächlichen Diagnosen für eine Rehabilitationsbehandlung dar (Rohe & Rompe 1995, Hagen et al. 1997). Funktionelle Störungen des Stütz- und Bewegungsapparats führen am häufigsten zu anhaltenden somatoformen Schmerzen. Bei psychosomatischen Patienten finden sich Kreuz-, Rücken-, Nackenoder Gelenkschmerzen deutlich häufiger, als es dem Vorkommen in der Bevölkerung insgesamt entspricht (Zielke 1993). In einer eigenen Stichprobe von fast 600 psychosomatischen Patienten fanden sich entsprechende Beschwerden von Krankheitswert bei nicht weniger als 63 %. Im Vordergrund stehen funktionelle Beschwerden ohne entsprechenden organmedizinischen Befund. Trotz der unübersehbaren Bedeutung psychosomatischer Ursachen für das Krankheitserleben und die Aufrechterhaltung dieser Krankheitsbilder spielen psychosomatische Behandlungsansätze immer noch eine untergeordnete Rolle. Die verhaltensmedizinische Behandlung funktioneller Schmerzsyndrome stellt allerdings nicht immer eine dankbare Aufgabe dar. Bei den betroffenen Patienten wurden im Vorfeld zumeist bereits fast alle zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Die Betroffenen selbst betreiben häufig zwangsläufig einen Schmerz- und Schlafmittelmissbrauch, begegnen ihren Therapeuten aufgrund ausbleibender Besserung verständlicherweise mit Misstrauen und suchen ihr Heil mitunter bei paramedizinischen Helfern. Besonders unbefriedigend ist, dass diese Patienten zumeist nur sehr spät und nach vielen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen der Organmedizin in Kontakt mit einem Psychosomatiker gebracht werden. Eine jatrogene, d. h. durch Versagen des medizinischen Systems verursachte Chronifizierung erscheint bei dieser Patientengruppe nahe liegend, auch wenn dieser Umstand nicht für das gesamte psychosomatische Klientel angenommen werden darf (Potreck-Rose & Koch 1994). Wesentlich für das Verständnis chronischer Schmerzen ist, dass psychosoziale Belastung, Fähigkeitsstörung (»disability«) und (so165

ziale) Beeinträchtigung (»handicap«) nicht mit den somatischmedizinischen Befunden etwa eines Bandscheibenvorfalls korrellieren Qensen et al. 1994). Vielmehr werden die psychologischen Faktoren einer Chronifizierung unabhängig von der Schwere eines organischen Befundes wirksam (Hasenbring 1992, Hildebrandt et al. 1996) und beeinflussen schließlich sogar den Erfolg operativer Maßnahmen (Longinus et al. 1997). Auf die Bedeutung von Lernprozessen und Verhaltensbedingungen für diese Funktionsstörungen aus verhaltenstherapeutischer Sicht wurde bereits hingewiesen (Kap. 3.4). Auf der Basis empirischer Studien wurden drei Erklärungsmodelle formuliert, die zur Chronifizierung von Schmerzen im Sinne von »Teufelskreisen« beitragen und an denen entsprechende kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren ansetzen: das psychosoziale Stress-Muskelspannung-Schmerz-Modell, das Angst-Vermeidungs-Modell und das Vermeidungs-oder-Durchhalte-Modell (Überblick: Hasenbring 1996). Nach dem ersten Modell führen unterschiedlichste Belastungssituationen zu einer Erhöhung muskulärer Anspannung und über vermehrten Anfall von Stoffwechselmetaboliten und eine verminderte Durchblutung zu einer Sensibilisierung und Aktivierung von Schmerz-Nozizeptoren in Muskeln und Sehnen. Das Angst-Vermeidungs-Modell beschreibt die Tendenz chronischer Schmerzpatienten zur Vermeidung schmerzauslösender Aktivitäten und zu körperlichem Schonverhalten, das zu muskulärer Insuffizienz mit nachfolgender Schmerzauslösung bereits durch geringere, alltägliche Muskelaktivität sowie zu sozialer Isolation und depressiven Stimmungslagen führt. Mit dem Vermeidungsoder Durchhalte-Modell werden zwei gegensätzliche Verarbeitungsstile chronischer Schmerzpatienten beschrieben, die über den Teufelskreis der Schonung oder der dauerhaften Überlastung zur Aufrechterhaltung von Schmerzen führen. Ab Mitte der 60er Jahre wurde mit der so genannten »Gate-Control-Theorie« erstmals die Theorie eines auf neuronaler Ebene verankerten »Schmerzgedächtnisses« aufgestellt (Melzack & Wall 1965). Obwohl diese Theorie kritischen Einwänden nicht standhielt (Geissner 1992), gelten neuroplastische Veränderungen als Grundlage chronischer Schmerzstörungen heute als gesichert und wurden in jüngster Zeit durch Verfahren funktioneller Bildgebung in der Neurologie und Psychiatrie bestätigt. Neuroplastische Ver-

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änderungen durch Schmerzen lassen sich auf der Ebene der Schmerz-Nozizeptoren in der Muskulatur, auf Rückenmarksebene und supraspinal in vergleichweise stärker aktiven Arealen des Gehirns nachweisen (Zimmermann 1998, Mense 1999). Mit diesen Erkenntnissen wird die Hypothese von Feldenkrais, dass Veränderungen der Funktion auch zu einer Veränderung neuronaler Strukturen führen, gestützt. Aus Sicht der Feldenkrais-Methode heißen die therapeutischen Konsequenzen, die synaptische Reorganisation gestörter neuronaler Strukturen durch »Bewusstheit durch Bewegung« anzuregen, wie es prinzipiell auch durch die heutige Hirnforschung postuliert wird (vgl. Kap. 3.5), und alles zu unterlassen, was zur Aufrechterhaltung des »Schmerzgedächtnisses« beitragen könnte, d. h. beim Bewegungslernen niemals über Schmerzgrenzen hinauszugehen. Aus Sicht der Feldenkrais-Methode ergeben sich Ergänzungen zu den Konzepten zur Aufrechterhaltung chronischer Schmerzzustände. Nach Feldenkrais verursacht Schmerz eine Störung des Ich-Bildes, und zwar sowohl des (psychischen) Körperbildes wie des Körperschemas. Durch Erhöhung der »nervösen Spannung« verringert sich die Empfindlichkeit der Wahrnehmung so, dass die Wahrnehmung kleiner Abweichungen von der idealen Haltung im Sinne des »dynamischen Gleichgewichts« (vgl. Kap. 4.3) nicht mehr wahrgenommen wird. Damit wird Schmerz nicht nur im Sinne des Stress-Muskelspannung-Schmerz-Modells bzw. Durchhalte-Modells aufrechterhalten, sondern durch eine tiefer gehende Störung der homöostatischen Bewegungsorganisation, ihrer Sollgrößen und Rückkopplungssysteme. »Die Kontrolle kann so weit verfälscht werden, dass einer überhaupt nichts zu tun meint, während er in Wirklichkeit seine Muskeln unnütz zusammenkrampft und zerrt« (Feldenkrais 1978, S. 109). Physikalisch betrachtet ist der Moment der idealen aufrechten Haltung, der beim Gehen, Setzen, Aufstehen usw. durchkreuzt wird (wie ein Pendel durch den Ort des Gleichgewichts hindurchschwingt), mit »keinerlei Anstrengung der Muskeln von Seiten der willkürlichen Kontrolle« verbunden (ebd. S. 110). Psychologisch bedeutet dies, alle willkürliche Kontrolle und Anstrengung gerade an dem Punkt zu lassen, an dem das instabile Gleichgewicht allein durch das »automatische System«, das heißt durch die nicht-willkürliche Halteund Stützmotorik, reguliert wird. Organische Bewegungssteue167

rung bedeutet physikalisch einen ständigen Wechsel von muskulärer Arbeit gegen die Schwerkraft und ein weitgehendes Überlassen dieser Arbeit an die stabile Struktur des Skeletts, das gegen die Schwerkraft ohne muskuläre Anstrengung trägt und in diesen Momenten lediglich eines minimalen, von älteren Anteilen des Nervensystems gesteuerten, nicht als Arbeit empfundenen Tonus bedarf. Organische Bewegung bedeutet den ständigen Wechsel von (bewusster oder unbewusster) willkürlicher Arbeit und des Lassens dieser Arbeit, d. h. des Überlassens an die automatischen Selbstregulationsmechanismen von Bewegung. Es liegt auf der Hand, dass dieses Zusammenspiel durch die vermeidenden oder überbeanspruchenden Verhaltensweisen chronischer Schmerzpatienten nachhaltig gestört wird. Dazu passen möglicherweise Untersuchungsbefunde, die auf Abweichungen basaler Prozesse der Informationsverarbeitung bei Schmerzpatienten hinweisen (Ruoß 1999). In der klinischen Feldenkrais-Arbeit werden die genannten Aspekte chronischen Schmerzverhaltens auf vielfache Weise bestätigt: das Zuviel an muskulärer Haltearbeit einerseits und die systematische Aussparung von Körperteilen, die nicht in Bewegungen einbezogen werden. Das subjektive Gefühl von Leichtigkeit, das organische Bewegungsorganisation und funktionelle Integration auszeichnet, ist den betreffenden Patienten fremd. Sichere Unterscheidungskriterien für qualitativ leichte oder schwere Bewegungen stehen nicht zur Verfügung. Selbst bei objektiv beobachtbarer »leichter« und fließender Bewegung wird diese nicht als solche erlebt. Umgekehrt stellen sich subjektiv als leicht und angenehm ausgegebene, gewohnte Bewegungen objektiv als angestrengt dar (Muskelzittern, Krampfneigung, Nichtreversibilität der Bewegung, Mitbewegung benachbarter Muskelgruppen [parasitäre Bewegungen] usw.). Die Fähigkeit, sich in einem nicht-aversiven Bereich und innerhalb von Schmerzgrenzen bewegen zu können, muss erst noch schrittweise erlernt werden.

Fibromyalgie Die primäre Fibromyalgie ist ein funktionelles Beschwerdebild chronischer Muskel- und Sehnenschmerzen. Ursachen und Mechanismen der Entstehung des Krankheitsbildes sind noch weitgehend unklar. Die Diagnose beruht auf typischen, rein klinischen 168

Kriterien einer Druckschmerzhaftigkeit an typischen Schmerzpunkten (sog. tender-points; Kriterien des American College of Rheumatology bei Wolfe et al. 1990) und weiteren psychosomatischen Beschwerden (Überblick: Pongratz & Späth 1998). Die Symptome können durch körperliche Aktivität, Wettereinflüsse, Angst oder Stress verstärkt werden (Yunus et al. 1981). Daneben finden sich vegetative Symptome, wie kalte Akren, Dermographismus und orthostatische Beschwerden oder funktionelle Störungen, wie Schlafstörungen, funktionelle Herz- oder Magen-DarmSymptome usw. (Müller & Lautenschläger 1990). Die Übergänge zu chronischen Schmerzsyndromen und zu Syndromen chronischer und schwerer Erschöpfung (Chronisches Müdigkeitssyndrom, Hoffmann et al. 1996) scheinen fließend zu sein. Wichtige Differenzialdiagnosen sind das myofasziale Schmerzsyndrom und die sekundäre, d. h. durch internistische Erkrankungen verursachte Fibromyalgie. Von einigen Autoren wird vermutet, dass sich hinter dem Krankheitsbild unterschiedliche Subgruppen mit unterschiedlichen psychosozialen und Verhaltensmerkmalen verbergen (Turk et al. 1996). Dies passt zu eigenen Beobachtungen, wonach vor allem jene Fibromyalgiepatienten von einer multimodalen psychosomatischen Behandlung profitieren, deren Symptomausprägung auch zahlreiche psychosomatische Beschwerden umfasst. Die Patient-Therapeuten-Beziehung gestaltet sich bei Fibromyalgiepatienten aufgrund ihrer meist langjährigen negativen Erfahrungen häufig eher schwierig. Viele Patienten zeigen Merkmale einer Chronifizierung, berichten über eine lange diagnostische Odyssee und viele vergebliche Therapieversuche. Häufig findet sich ein Rentenbegehren. Nicht immer erscheint die Organisation in einer Selbsthilfegruppe heilsam. Auffallend ist bei vielen Patienten ein Festhalten an einem organmedizinischen Verständnis ihrer Erkrankung, worin sie sich häufig durch vorrangig pharmakologische Behandlungsversuche (bis hin zu einem »SchmerzmittelMissbrauch«) bestärkt sehen. Prothesen oder krankengymnastische Maßnahmen werden oft mit einer ambivalenten Überzeugung ertragen; mehr habe die Medizin in ihrem Falle eben nicht zu bieten. In der Bedingungsanalyse des Krankheitsverhaltens finden sich nicht selten aufrechterhaltende Faktoren, die das Verlassen der Krankenrolle erschweren. 169

Bei der Behandlung therapieresistenter Schmerzen des Bewegungsapparats haben sich Kombinationen von Information, kognitiv-verhaltenstherapeutischen Schmerzkontrolltechniken, Entspannungstraining und Trainingstherapie in mehreren kontrollierten Studien mit Rückenschmerz- oder Fibromyalgiepatienten bewährt (Überblick bei Keel et al. 1997). Hauptziele der Behandlung sind eine Veränderung des Verhaltens zur Erkrankung, eine Veränderung der Krankheitsattribution und eine verbesserte Bewegungswahrnehmung und -organisation. Gegenüber einem Nebeneinander von polypragmatischer Krankengymnastik, Physiotherapie und Verhaltenstherapie hat sich für verhaltenstherapeutisches Arbeiten die Integration der Feldenkrais-Methode als hilfreich erwiesen, nicht zuletzt weil die Feldenkrais-Methode bereits wesentliche Elemente der genannten Ansätze in sich trägt. folgendes Vorgehen hat sich in der Praxis als hilfreich erwiesen: 1. Akzeptanz der Bewegungsproblematik als Behandlungsgegenstand: Sofern der Schmerzpatient nicht einen anderen Auftrag erteilt, wird der Verhaltenstherapeut häufig akzeptieren müssen, dass die Schmerzen und Bewegungsprobleme der Patienten im Vordergrund stehen. Häufig berichten Patienten über elementare Schwierigkeiten im Alltag, etwa über die Unfähigkeit, sich schmerzfrei hinzulegen oder vom Bett oder einem Stuhl aus aufzustehen. Eine erste Zielbestimmung kann in der Übereinkunft bestehen, nach so vielen vergeblichen Untersuchungen, Behandlungs- und Erklärungsversuchen Möglichkeiten zur Bewältigung bestehender Bewegungsprobleme zu suchen - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zu vermeiden ist, dass der Patient das Gefühl erhält, gegen seine Überzeugung auf eine » Psycho-Schiene« gesetzt zu werden. In der Konsequenz beinhaltet dies auch eine flexiblere Handhabung verhaltenstherapeutischer Vorgehensweisen, z. B. eine letztlich gemeinsam zu erarbeitende und notwendige Bedingungsanalyse im frühen Stadium der therapeutischen Beziehung nicht künstlich zu erzwingen, wenn auch nicht grundsätzlich aus dem Blick zu verlieren. Der Aufbau eines Arbeitsbündnisses und die subjektiv empfundene Problemlage des Patienten stehen zu diesem Zeitpunkt im Vordergrund.

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2. Feldenkrais-U nterricht: Mithilfe der Feldenkrais-Methode können den Patienten praktisch immer neue und interessante, weil weniger schmerzhafte, Anregungen zur Verbesserung ihrer Bewegungsorganisation vermittelt werden. Dabei ist es günstig, bereits vom Patienten erarbeitete Strategien zu würdigen (positive Verstärkung). In welcher Form der Patient Feldenkrais-Unterricht erhält, hängt von den individuellen Fragestellungen ab. Ideal ist es, wenn der Verhaltenstherapeut zumindest über Grundkenntnisse der Feldenkrais-Arbeit verfügt und in der Lage ist, darüber mit dem Patienten zu kommunizieren, indem er sich beispielsweise für die Fragestellungen, Beobachtungen und inneren Dialoge des Patienten in den Feldenkrais-Lektionen interessiert. Bei fortgeschrittenen Beeinträchtigungen ist es notwendig, den Patienten zu seinem Schutz zu instruieren, wie er sich während der Feldenkrais-Lektionen geeigneterweise lagert, wie er zum Liegen kommt und leichter aufstehen kann, oder ihn zu motivieren, auch wirklich ausreichende Pausen einzulegen, wann immer er möchte; insbesondere, dass er alles, was er sich körperlich nicht zutraut, in der Vorstellung oder mit der anderen Körperhälfte durchführen kann. Für manche Patienten ist die Vorstellungsarbeit der erste Zugang zur Umsetzung von Übungen überhaupt. 3. Brücken von der Körper- zur Psychotherapie: Was bis hierhin zunächst als »Umweg« erscheint, zahlt sich durch die Aktivierung und kognitive Einbindung des Patienten aus. Hinzu kommt eine Fülle von Informationen und Ansatzpunkten für ein verhaltenstherapeutisches Störungs- und Veränderungsmodell. Die gemeinsame Feldenkrais-Arbeit des Patienten mit dem Therapeuten umfasst bereits Merkmale einer kognitiven Vorbereitung, wie sie von Fiegenbaum gefordert werden: 1) »Der Therapeut muss Strategien einsetzen, die die wissenschaftlichen und subjektiven Erklärungen kompatibel machen«; 2) »das erarbeitete Modell muss so konstruiert sein, dass es nicht durch Einzelerfahrungen des Patienten falsifiziert werden kann«; 3) Erklärungsmuster, die Veränderungsperspektiven beinhalten, sind zu bevorzugen; 4) aktive Einbeziehung des Patienten und möglichst einfache Erklärungen erhöhen die Plausibilität des dem Patienten vermittelten Modells (Fiegenbaum & Tuschen 1996, 302-305). Besonders 171

wichtig ist im weiteren Verlauf, die psychologischen Aspekte der Feldenkrais-Arbeit gemeinsam zu reflektieren. Dadurch kann dem Patienten eine Brücke gebaut werden, das zumeist vorherrschende organmedizinische Krankheitsmodell zu verlassen. Indem die bis dahin vom Patienten in den Feldenkrais-Lektionen erworbene Bewegungs-, Einstellungs- und Verhaltenskompetenz vom Verhaltenstherapeuten gewürdigt wird, beginnt dieser interdisziplinäre Ansatz Früchte zu tragen. Konkret bedeutet dies z. B. den Versuch, vom Patienten zu erfahren, ob er kognitiv-antidepressive Strategien in der Feldenkrais-Arbeit benutzt oder umgekehrt »Bewusstheit durch Bewegung« z.B. während einer psychotherapeutischen Gruppensitzung anwendet. Zu den kognitiven Auffälligkeiten bei Schmerzpatienten gehören Schwierigkeiten der Konzentration und aktiven Aufmerksamkeitslenkung (vgl. dazu auch Kap. 7.3) und oft bizarre Einstellungen zu ihrem Krankheitserleben und ihrer Schmerzwahrnehmung. Auffälligkeiten in der konkreten Bewegungsarbeit mit Schmerz- und Fibromyalgiepatienten bestehen beispielsweise in einseitiger Bewegungsorganisation infolge von Schonhaltung besonders schmerzhafter Körperpartien, in einer dysfunktionalen Bewegungsorganisation mit Überdehnen und Überspannen von Muskeln und Sehnen und einem hohen Anteil an unnötiger Haltearbeit. Wie bei anderen chronischen Schmerzpatienten konnte nachgewiesen werden, dass auch Fibromyalgiepatienten hinsichtlich ihrer Muskelaktivität ein deutliches Wahrnehmungsdefizit aufweisen (Sarnoch 1995). Auf diesem Hintergrund erscheint eine Übungsmethode wie die Feldenkrais-Methode indiziert, die zu einer sichereren Einschätzung und Wahrnehmung der Muskelaktivität führt. Frau L., eine 45-jährige Krankenschwester, leidet seit mindestens zwei Jahren an Symptomen einer (reaktiven) Depression bei »ständigen Schmerzen« im Sinne eines Fibromyalgiesyndroms. Die Patientin berichtet, dass sie früher und auch heute im Rahmen ihrer Möglichkeiten noch viel Sport ausübe. Sie sei »zwar nicht olympiareif«, habe aber bisher nicht weniger als 39 Pferde zugeritten. So sei sie auch am Vortag noch drei Stunden mit dem Pferd unterwegs gewesen; teilweise habe sie neben dem Pferd herlaufen müssen. Während des Gesprächs fällt eine Reihe dysfunktionaler Bewegungsmuster auf. Die Patientin wringt die Finger und Handgelenke gegeneinander, sitzt dem Therapeuten mit hochgezogenen

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Schultern gegenüber, hat das rechte Bein über das linke geschlagen und zieht über lange Zeit intensiv den Rist des rechten Fußes nach oben. Darauf angesprochen erklärt sie dies damit, dass sie, wenn sie den Fuß nicht so dauerhaft anspanne, einen nicht erträglichen Schmerz im Bereich der Fußhebersehnen auf dem Fußrücken verspüre. In den Feldenkrais-Gruppenstunden neigte die Patientin dazu, immer wieder über ihre Grenzen hinauszugehen, insbesondere wenn sich aus dem Aufbau der Lektion für sie auch nur der entfernteste Anklang an Gymnastikstunden ergab. Verhaltensanalytisch zeigten sich bei der Patientin aufrechterhaltende Bedingungen, wie überzogenes Leistungsdenken und Harmoniebedürfnis, aufgrund dessen sich die Patientin auch in ihrer Arbeit häufig überforderte, Überstunden machte, zusätzliche Dienste übernahm usw. Ihren Wunsch nach Entlastung und ihr Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung konnte sie nicht direkt formulieren, sondern nur durch den Ausdruck von Schmerz und Depression vor sich und anderen rechtfertigen. Schmerzen und depressiver Rückzug wurden so zusätzlich verstärkt. Im Rahmen der Behandlung war der Beitrag der Feldenkrais-Methode außerordentlich hilfreich: die Patientin lernte, ihre unbewussten dysfunktionalen Bewegungs- und Verhaltensmuster frühzeitiger zu erkennen und Bewegungsstrategien zu entwickeln, die nicht erst über den »Umweg der Überforderung«, sondern direkt als angenehm, leicht und befriedigend erlebt werden konnten. Das Ausprobieren der hedonistischen, selbstfürsorglichen Grundhaltung in der Feldenkrais-Arbeit erleichterte es der Patientin, ihre übergeordneten Einstellungen, wie ihr überzogenes Leistungsdenken und Harmoniebedürfnis, zugunsten einer direkteren Wahrnehmung und Äußerung eigener Wünsche in Frage zu stellen. Die Schmerzsymptomatik besserte sich nach Angaben der Patientin während der insgesamt sechswöchigen teilstationären Behandlung »nur« leicht um etwa 20% auf der visuellen Analogskala. Nach einem halben Jahr und nach Durchführung der von der Klinik angeregten Umsetzung am Arbeitsplatz in eine mehr verwaltungstechnische EDV-Tätigkeit wurde eine Besserung von 40-60% angegeben. Die Patientin hat weiterhin Möglichkeiten der Feldenkrais-Arbeit wahrgenommen.

Überlastungs-Syndrome

Ein dankbarerer Ansatzpunkt für die Feldenkrais-Methode sind Überlastungssyndrome (Overuse-Syndrome) des Bewegungsapparats, die infolge einseitiger beruflicher Tätigkeiten entstehen. Betrof173

fen sind Menschen, die in Berufen mit länger dauernder einseitiger körperlicher Beanspruchung arbeiten, z.B. Schreibkräfte, Bildschirmarbeiter oder Berufsmusiker (Blum 1995). Auf Letztere soll etwas näher eingegangen werden: Musiker vollbringen körperliche Höchstleistungen, benutzen ihren Körper jedoch zumeist weniger ökonomisch, als eigentlich möglich. Obwohl offensichtlich ist, dass Berufsmusiker ausdauernd und über lange Zeit feinste und diffizilste einseitige Bewegungen ausführen müssen, finden sich entsprechende Curricula zur Verbesserung körperlicher Organisation in ihren Ausbildungen nur rudimentär. Viele Musiker bemerken während des M usizierens muskuläre Verspannungen oder sogar Schmerzen. Um über lange Zeit feine Bewegungen so delikat wie möglich ausführen zu können, ist es wichtig, jedem Muskel, jedem Körperteil die Funktion zukommen zu lassen, die seinem anatomischen Bau entspricht. Erst wenn alle Teile harmonisch integriert sind, kann ein Musiker koordinierte und effiziente Bewegungen ausführen. Die Harmonisierung der Bewegung und Reduzierung muskulärer Kraft hat viele große Musiker beschäftigt. (Artur Rubinstein: »Der Unterschied zwischen mir selbst und anderen Pianisten ist der Mangel an Kraft in meinen Handgelenken.«) Weltberühmte Musiker, wie Yehudi Menuhin, Shlomo Mintz, lvo Pogorelich, Leonard Bernstein und Daniel Barenboim haben sich mit der Feldenkrais-Methode auseinander gesetzt. Die Feststellung eines »Overuse-Syndroms« sollte Ausgangspunkt einer Analyse und nicht abschließende Diagnose sein. Wer entsprechende Patienten behandeln will, muss das Aufgabenfeld und seine potentiellen Konflikte kennen und über die Arbeitsbedingungen genau informiert sein (Wagner 1995). Es ist nicht unwesentlich, dass es bei »Feldenkrais für Musiker« niemals nur um die körpermechanischen Aspekte des Musizierens gehen kann. Eine reflektierte Auffassung von Musizieren beinhaltet, dass das Instrument als »Organ« des Musikers und nicht als Fremdkörper verstanden wird und impliziert entsprechende Auffassungen von musikalischer Ästhetik und Pädagogik Qacoby 1984, 1986, 1991; Biesenbender 1992, Hoffmann 1994). »Vor einigen Jahren war ich zusammen mit einer Anthropologin im Innern Venezuelas. Hin und wieder hatte ich dort mit Menschen zu tun, die nur bis fünf zählen können, die keine Namen in unserem Sinne haben und noch kaum den Umgang mit Geld kennen. Ihre täglichen Beschäftigungen - Rudern im Einbaum, Waschen im

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Fluss, Zuschnitzen der Blasrohre usw. - kamen mir manchmal wie ein alltäglicher Tanz vor, ausgeführt mit Leichtigkeit, Eleganz und Ausgewogenheit. Jede Bewegung wirkte gelassen und genau, erfüllt von ruhiger Aufmerksamkeit und Zweckmäßigkeit. Nachdenklich zog ich Parallelen zu meinem eigenen Beruf: Könnte man nur in solch nüchterner Hingabe und Selbstverständlichkeit mit dem eigenen Arbeitsgerät umgehen wie diese Menschen mit ihren Jagdbögen, dann wäre man vermutlich ein Geiger von ziemlich hohem Rang. Schon oft hatte ich dies vage Gefühl gehabt, dass irgendetwas in meiner Ausbildung zu kurz gekommen war und dass manche Ausdrucksmöglichkeiten in mir verschüttet waren« (Biesenbender 1992, S. 15).

7.3 Aufmerksamkeitslenkung und andere

Ansatzpunkte bei der Tinnitusbehandlung »Tinnitus« bezeichnet subjektive Ohr- und Kopfgeräusche, die von den Betroffenen als unangenehmes Pfeifen, Zischen, Klingeln oder Rauschen ohne identifizierbare äußere Schallquelle auf beiden oder einem Ohr wahrgenommen werden. Fast die Hälfte aller Erwachsenen bemerkt irgendwann einmal ein Tinnitusgeräusch. Nach ersten Ergebnissen einer von der Deutschen Tinnitus-Liga in Auftrag gegebenen epidemiologischen Studie leiden ca. 3 Millionen Bundesbürger über 10 Jahren an einem chronischen Tinnitus; ungefähr die Hälfte von ihnen »mittelschwer bis zur Unerträglichkeit« (Knör 1999). Diese Patienten mit einem sog. »chronischen, komplexen (dekompensierten) subjektiven Tinnitus« stellen die Zielgruppe verhaltensmedizinischer Behandlungskonzepte dar. Tinnitus ist keine Erkrankung per se, sondern ein Symptom. Aufgrund von Daten, die eine psychische Komorbidität bei Patienten mit chronisch komplexem Tinnitus bereits vor Auftreten der Ohrgeräusche zeigten, entwickelten Hiller & Goebel (1992) ein Konzept der psychischen Vulnerabilität. So geht chronisch komplexer Tinnitus häufig mit Depression, Dysthymie, Angststörungen (Panik, Agoraphobie, soziale Phobie) und dem Missbrauch psychotroper Substanzen einher. Diese psychischen Erkrankungen können nicht nur aus der Tinnitusbelastung resultieren, sondern dem Auftreten der Tinnitussymptomatik vorausgehen und zugrunde liegen. 175

In einem informationstheoretisch begründeten Modell der dysfunktionalen Aufmerksamkeitsfokussierung geht Hallam (1987) von einer gestörten zentralnervösen Gewöhnung (Habituation) chronisch komplexer Tinnituspatienten an die empfundenen Ohrgeräusche aus. »Demnach ist Tinnitus eigentlich keine Krankheit, sondern eine durch Stressfaktoren hervorgerufene Entgleisung normaler Kontrollmechanismen« des Gehirns, »Tinnitus entsteht im Gehirn« (Langner 1998). Bezüglich der größeren lrritierbarkeit von Aufmerksamkeit bestehen Parallelen zu chronischen Schmerzpatienten (Eccleston et al. 1997). Fichter und Goebel (1996) weisen auf von ihnen häufig beobachtete »Grundhaltungen« von Betroffenen mit chronisch komplexem Tinnitus hin, die allerdings einer empirischen Analyse nur schwer zugänglich sind: hohes Kontrollbedürfnis, eine ausgeprägte »Kopfbezogenheit«, Schwierigkeiten, Kränkungen emotional zu verarbeiten, Perfektionismus in bestimmten Bereichen, hohe Verantwortungsbereitschaft, eine Grundhaltung des »Durchhaltenmüssens« oder ein Leben in innerer Unruhe, Hektik und unter Zeitdruck. Möglicherweise bestehen Beziehungen zwischen diesen kontrollierenden Verhaltensweisen und zentralnervösen Mechanismen der Fehlererkennung und Fehlerkorrektur, wonach eine pathologisch verstärkte Fehlermeldung bzw. Aufmerksamkeitsfokussierung zu kontrollierenden Verhaltensweisen führt (Spitzer 1999). Die vorgeschlagenen Modelle zum Verständnis der Chronifizierung weisen Parallelen zum Konzept »erlernter Hilflosigkeit« (Abramson, Seligman & T easdale 1987) und zum Stressmodell von Lazarus und Folkman (1984) auf. In diesem Modell wird besonders die Rolle von Faktoren der Wahrnehmung und Bewertung von Stimuli für die Art der Verarbeitung hervorgehoben. Gefken und Kurth (1992) identifizierten bei Betroffenen mit chronisch komplexem Tinnitus verschiedene Faktoren zur Aufrechterhaltung des Symptomkomplexes, wie erlernte Hilflosigkeit, ein negatives Selbstkonzept, geringes Vertrauen in eigene Erwartungen, hohe Erwartungen an externe Hilfe, dysfunktionale Einstellungen zur Wahrnehmung eigener Gefühle und Bedürfnisse. Sie verwiesen insbesondere auf die Möglichkeit operanter psychosozialer Faktoren, wie den Tinnitus als Sündenbock, als Grund für Vermeidung, erhöhte Aufmerksamkeit oder Zuwendung zu nutzen. 176

An diesem »Interaktionsmodell somatischer und psychologischer Faktoren« zur Entstehung und Aufrechterhaltung des chronisch komplexen Tinnitus (Fichter & Goebel 1996) setzen verschiedenste therapeutische Ansätze an. So sieht die verhaltensmedizinische Behandlung des chronisch komplexen Tinnitus interdisziplinäre und multimodale Maßnahmen in medizinischer, psychophysiologischer, kognitiv-emotionaler und interaktionaler Hinsicht vor (Literaturüberblick bei: Goebel & Hiller 1998). Gegebenenfalls besteht zusätzlich natürlich die Indikation zur psychotherapeutischen Behandlung begleitender psychosomatischer Störungen und psychischer Erkrankungen. Mehrere kontrollierte Studien haben die Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Verfahren bei der Tinnitusbehandlung im Rahmen eines multimodalen, überwiegend gruppentherapeutischen Behandlungssettings nachgewiesen (Überblick bei Frenzel & Kröner-Herwig 1998). Dabei erwies sich die Kombination von Interventionen wie Entspannungsübungen, Einstellungs- und Verhaltensänderungen sowie selektiver Aufmerksamkeitslenkung als effektiver als die Anwendung eines Entspannungsverfahrens allein. Eine Tinnitus-Behandlung muss zwangsläufig immer in hohem Maß auf die individuellen Problemlagen des einzelnen Patienten abgestimmt sein. Dem kommt die Feldenkrais-Methode als eine Lernmethode mit vielen Möglichkeiten zur individuellen Schwerpunktbildung entgegen, die von Spannungsregulation und Stressbewältigung bis zu Maßnahmen eines Aufmerksamkeitstrainings und Behebung funktioneller HWS-Störungen reichen. Im Einzelnen lassen sich folgende Ansatzpunkte nennen: Der Beitrag der Lernmethode zur autonomen Spannungsregulation wurde bereits oben (Kap. 7.1) dargestellt. Feldenkrais-Praktizierende können im Alltag erfahrungsgemäß ihren Spannungszustand genauer einschätzen und unmittelbarer steuern. Ein für das unmittelbare Erleben der Tinnituspatienten zentrales Problem ist ihre die Störung aufrechterhaltende Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das quälende Ohrgeräusch. Eine schwedische Arbeitsgruppe hat in mehreren Studien den Nutzen spezieller Aufmerksamkeitstrainings für Tinnitusbetroffene überprüft (Zusammenfassung: Lindberg & Scott 1992): ein »Aufmerksamkeitstraining« zur bewussten Ablenkung vom Tinnitus weg hin auf imaginierte oder neutral besetzte Bilder und Szenen und ein »Ex177

positionstraining«, in dem die Betroffenen angeleitet wurden, sich tinnitusprovozierenden Geräuschen mit einer zunehmenden akustischen Komplexität auszusetzen. Beide im Prinzip sehr unterschiedliche Arten von Aufmerksamkeitslenkung erwiesen sich (in Ergänzung eines Entspannungstrainings) als gleich gut wirksam. Dieser Befund legte nahe, das »therapeutische Agens« der Aufmerksamkeitslenkung in der wiedergewonnenen Kontrollierbarkeitsüberzeugung über das aversive Tinnitusgeräusch zu sehen, gleich ob dieses Coping mittels Exposition oder Ablenkung erfolgte. Eine dritte Form des Aufmerksamkeitstrainings für Tinnituspatienten versteht dies schließlich als Übung zum geplanten und reflektierten Erleben von Sinnesqualitäten und genussreichen Aktivitäten, um »sich aktiv andere Reize zu schaffen, die den Tinnitus zurücktreten lassen und so seine Bedeutsamkeit im Gesamterleben abschwächen« (Pritsche et al. 1997, S. 69). Zu bewusster Aufmerksamkeitslenkung bietet die FeldenkraisMethode folgende Zugangswege: Veranlasst man Patienten zu einer entsprechenden physiologischen »Dosierung« von eher kleinen (z.B. langsamen, leichten) Wahrnehmungsreizen, werden sie automatisch in den Prozess bewusster Aufmerksamkeit eingebunden, wie es das psychologische Weber- F echner-Gesetz beschreibt. Ein solches Vorgehen führt schneller und intensiver zu einer Neuorientierung von Aufmerksamkeit als die Präsentation ablenkender Reize, die der Patient gewohnheitsmäßig aufnimmt. Es macht einen nicht unwesentlichen Unterschied, ob der Therapeut dem Patienten Aufmerksamkeitsobjekte zur Ablenkung anbietet oder ob er ihn in der aktiven Wahrnehmung, Selektion, »Dosierung« und Gestaltung von Reizen unterrichtet, die für die Wahrnehmung von besonderer (deutlicher, intensiver, angenehmerer) Qualität sind. Der grundsätzliche Zusammenhang zwischen Bewegung und Aufmerksamkeit ist dabei der gleiche, wie er in der kindlichen Entwicklung beobachtet wird, in der Bewegung die Umwelt erschließt und die Wahrnehmung prägt: Wahrnehmung und Orientierung sind eine Funktion motorischer Entwicklung und Kompetenz. Die Feldenkrais-Methode bietet neben der Verbesserung von Bewegungskompetenz die Möglichkeit zum Training von Metakognitionen der Aufmerksamkeitslenkung, wie sie für eine Kompetenzentwicklung, Handlungsplanung und handlungsbegleitende Steuerung wesentlich sind (Lauth & Schlottke 1999, S. 13). Durch 178

Fokussierung auf Metakognitionen der Aufmerksamkeitslenkung wird die Lösung der Patienten aus ihrer auf den Tinnitus gerichteten Fixierung wesentlich erleichtert. Tinnituspatienten, deren Aufmerksamkeit besonders störbar ist, neigen nämlich dazu, sich in Aufmerksamkeitstrainings »gegen den Tinnitus« auf die initial ungenügend erscheinende »Beeinflussbarkeit« des Tinnitus zu fixieren. Dies ist während einer komplexeren Tätigkeit, bei der der Wahrnehmungsreiz erst noch selbst gestaltet und nicht nur aufgenommen wird, nur noch schwer möglich. Auf keinen Fall sollte man Tinnituspatienten ein Training zur Aufmerksamkeitslenkung als Methode zur Beseitigung des Tinnitus anbieten. Vielmehr empfiehlt es sich, diese Patienten nach einer Feldenkrais-Lektion eher »nebenbei« zu befragen, ob und wie sie den Tinnitus währenddessen wahrgenommen haben. Initial kann die größere Ruhe im Raum wie bei einem Entspannungsverfahren zu einer lauteren Wahrnehmung des Tinnitus führen. Für die wenigen Patienten, die den Tinnitus während der Feldenkrais-Arbeit länger als störend wahrnehmen, ist es erfahrungsgemäß hilfreich, sie durch eine Einzelunterweisung gezielter für die Bewegungsarbeit zu interessieren und störende Einstellungen zu identifizieren. Darüber hinaus dient die Feldenkrais-Methode für den Tinnituspatienten als Erfahrungsfeld für den Wiedergewinn eigener Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Die Wirkungen der Gruppenwie Einzellektionen können unmittelbar erlebt werden und hängen vornehmlich von innerer Haltung und Aufmerksamkeit ab. Schon nach wenigen Lektionen verfügen Patienten als Feldenkrais-Schüler in der Regel über erste »Umgehungsstrategien« für auftretende Schwierigkeiten, wie das Üben mit »der besseren Seite«, das systematische Aussparen der Schwierigkeiten bereitenden Aktion, die Komplettierung einer Aktion durch Imagination, das Fallenlassen aller Zielgerichtetheit durch absichtliches »Falschmachen«, das bewusste Fokussieren auf neue, andere Bereiche, die wiederholte Pause usw. Solche Strategien können sprachlich im Sinne von Selbstinstruktionen gefasst sein und vom Verhaltenstherapeuten durchaus im Sinne eines Selbstinstruktionstrainings aufgegriffen werden (Meichenbaum 1979). Sie bergen aber gleichzeitig kaum oder gar nicht sprachlich fassbare Erlebnisinhalte. Nach Planung etwa einer Exposition tinnitusprovozierender Reize im Sinne eines Stressimpfungstrainings ist es deshalb leicht möglich, 179

die Belastungssituation auch durch bewusste Rückerinnerung an (positive und bewältigende) sensomotorische und kinästhetische Empfindungen zu bewältigen. Neben und auch an die Stelle von Selbstverbalisationen - z. B. »entspanne dich. Du kannst die Situation bewältigen. Bleibe ruhig und konzentriere dich auf das W esentliche« - können bei der Exposition z. B. das Gefühl von Entspannung im Schultergürtel, von Stärke in der Aufrichtung der Wirbelsäule und von Sicherheit im Kontakt mit dem Boden erinnert, d. h. wiederempfunden werden. Über diese Bereicherung der Kontrollmöglichkeiten hinaus stellt die Feldenkrais-Methode zudem eine hedonistische Erfahrung im Sinne der Ablenkung zu sinnvollem und fürsorglichem Verhalten für sich selbst dar, wie es bereits mehrfach angesprochen wurde. Schließlich ist die Feldenkrais-Methode aufgrund der positiven Bewegungseffekte für Tinnituspatienten besonders attraktiv. Tinnitus ist häufig vergesellschaftet mit funktionellen Störungen der Halswirbelsäule. Je nach untersuchter Patientengruppe geben bis zu 55% der Tinnitusbetroffenen ihren Tinnitus als »durch die Halswirbelsäule bedingt« an (Goebel 1997). In einzelnen Fällen scheinen Zusammenhänge zwischen Tinnitus, dem kraniozervikalen Übergang und der Halswirbelsäule offensichtlich zu sein, ohne dass ein schlüssiges und wissenschaftlich begründetes Erklärungsmodell vorliegt (Brügger 1980). So wird in verschiedenen Kasuistiken berichtet, dass das Tinnitusgeräusch in Abhängigkeit von Kopfbewegungen oder nach Traumen der Halswirbelsäule auftrat oder gegenteilig durch Infiltrationsanästhesie, Operationen oder manualtherapeutische Manipulation an der Halswirbelsäule gebessert wurde. Unabhängig von solchen möglichen Kausalzusammenhängen gewinnt der Untersucher häufig den Eindruck, dass Verhalten, Bewegungsorganisation und die oft bestehende Schwerhörigkeit der Tinnituspatienten zu dysfunktionalen Bewegungen im Bereich der Halswirbelsäule führen. Unter bestimmten anamnestischen und diagnostischen Voraussetzungen ist deshalb bei Tinnituspatienten die gleichzeitige Behandlung der funktionellen Störung der Halswirbelsäule indiziert. Die Behandlung sollte in hohem Maß funktionell ausgerichtet sein und Techniken beinhalten, die der Patient schließlich alleine anwenden kann. Biesinger (1992) empfiehlt unter anderem auch die Feldenkrais-Methode. Ein wissenschaftlicher Effektivitätsnachweis steht in diesem Punk180

te aber, wie praktisch zum gesamten Thema der funktionellen Störungen der Halswirbelsäule bei Tinnitus, noch aus. Im Rahmen eines gruppenpsychotherapeutischen Behandlungsprogramms bei chronisch komplexem Tinnitus (Klinkenberg et al. 1999) laden wir Tinnitusbetroffene zur Feldenkrais-Arbeit ein und haben ein zusätzliches standardisiertes »Bewegungsprogramm für Tinnitus-Patienten« erarbeitet, dessen Evaluation jedoch noch nicht abgeschlossen ist. In dem Programm sollen mithilfe teilweise »klassischer« Feldenkrais-Lektionen offen oder verdeckt therapeutisch sinnvolle Lernvorgänge angeregt werden. Zu Beginn wird den Patienten als Ziel des »Bewegungsprogramms« zunächst »nur« eine verbesserte Bewegungskompetenz insbesondere für die Probleme im Bereich der Halswirbelsäule vorgestellt. Sukzessive und selbstverständlich im Verlauf immer offener werden dann mehr und mehr methodische Reflexionen im Sinne der oben geschilderten Metakognitionen angeregt. Beispielsweise wird bei der Meisterung eines Hindernisparcours in der ersten Stunde, der nach einer Feldenkrais-Lektion gewandter, leichter und mit einem verbesserten Körpergefühl absolviert werden kann, gleichzeitig Aufmerksamkeit bewusst »geteilt«, und zwar durch Fokussierung auf die eigene Bewegungsorganisation und die Bewegung im Raum. Wie bereits betont wurde, wird aktive Aufmerksamkeitslenkung in diesem Programm nicht verstanden als unreflektierte Zerstreuung oder verbesserte Konzentrationsfähigkeit auf einen Punkt, sondern in der Fähigkeit, Aufmerksamkeitsfoci differenziert zu richten, zu wechseln und Aufmerksamkeit gemäß den Erfordernissen des Lebens zu »teilen«. Die gleichzeitige freie Verfügbarkeit über mehrere Wahrnehmungsdimensionen entspricht im Übrigen der menschlichen Aufrichtung mit der Bewegungsfreiheit der um die vertikale Achse des Körpers und der Wirbelsäule beweglichen Telerezeptoren des Kopfes. Sie steht Kindern erst sukzessive zur Verfügung und muss immer erst erlernt werden.

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7.4 Schlafstörungen Entgegen der Laienmeinung, Schlaf sei ein passiver, dem aktiven Wachsein völlig entgegengesetzter Zustand, wissen wir aufgrund der Schlafforschung der letzten Jahrzehnte, »dass der Schlaf ein zyklisch strukturierter, aktiver Prozess ist« (Peter 1996). Während einer Nacht befindet sich der Schlafende in unterschiedlich tiefen, rhythmisch wiederkehrenden Schlafstadien, die durch das Verhalten vegetativer Variablen gekennzeichnet sind. So erreicht der Schlafende stufenweise ein Stadium des Tiefschlafes, in dem er schwerer weckbar ist und das durch eine Reduktion muskulärer Aktivität gekennzeichnet ist. Dem folgen Phasen erhöhter muskulärer Aktivität, rascher Augenbewegungen, einer Erhöhung von Herz- und Atemfrequenz sowie einer verstärkten Durchblutung der Geschlechtsorgane. In dieser sog. REM-Phase ist der Patient leicht weckbar und erinnert Träume. Schlafstörungen sind außerordentlich häufig. überwiegend sind sie nicht organisch bedingt oder treten im Zusammenhang mit psychiatrischen und psychosomatischen Störungen auf. Neben Störungen des zirkadianen Schlafrhythmus Qetlag-Syndrom oder bei Schichtwechsel-Beruf) können nach der Internationalen Klassifikation der Schlafstörungen (ASDA 1990) Schlafstörungen »von außen« gegenüber Schlafstörungen »von innen« unterschieden werden. Typische und häufige äußere Störfaktoren liegen in einer schlechten Schlafhygiene oder im Missbrauch von Schlafmitteln oder Alkohol. Bei psychosomatischen Patienten kann häufig ein obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom als Ursache der psychosomatischen Störungen identifiziert werden. Schlafstörende Ursachen, wie Alkohol oder Benzodiazepin-Schlafmittel, stören die zyklische »Schlafarchitektur« und führen zu einer Veränderung der muskulären und der Gehirn-Aktivität. Klinisch ist beispielsweise das »Parkbanksyndrom« alkoholisierter Obdachloser bekannt, bei denen es infolge ausbleibender wiederkehrender muskulärer Aktivität und des Fehlens körperlicher Lagewechsel zu einer Schädigung von Nervenbahnen kommen kann. Die meisten Schlafstörungen können durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen positiv beeinflusst werden (Überblick Bootzin 1996, Riemann et al. 1998). Mögliche therapeutische lnterventio182

nen beziehen sich auf Aufklärung über die Schlafarchitektur, eine Beratung zur Schlafhygiene, das Führen eines Schlafprotokolles, Anleitung zur Stimuluskontrolle, Schlafrestriktion, Stressbewältigung, Entspannungstraining und eine kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler und aktivierender Gedanken nach dem ungewollten Erwachen. Verbesserungen des Schlafverhaltens durch die Feldenkrais-Methode beziehen sich vor allem auf drei Aspekte: 1. die Verbesserung von Bewegung während des Schlafes, 2. eine leichtere Adaptation an den Untergrund, auf dem man liegt, und 3. die bewusstere Gestaltung der Aktivitäten vor und nach dem Schlaf: Obwohl durch Entwicklung wissenschaftlicher Beobachtungsmöglichkeiten des menschlichen Schlafverhaltens mittels polysomnographischer Ableitungen als erwiesen gelten darf, dass freie Körperbeweglichkeit ein konstituierendes Merkmal gesunden Schlafes darstellt, wird diesem Aspekt bislang wenig Beachtung geschenkt (Aaronson et al. 1982, Matthys & N etzer 1995, Penzel & Brandenburg 1996). Personen, die durch Operationen oder Verletzungen gehindert waren, sich während des Schlafes frei zu bewegen, wissen, in welchem Ausmaß dadurch ihr Schlaf gestört wurde. Feldenkrais-Schüler lernen u. a., sich harmonisch und auf organische Weise im Liegen zu drehen oder zu rollen. Derart ausgeführtes Drehen und Rollen unterscheidet sich qualitativ erheblich von dem, wie sich die meisten Menschen dazu organisieren. Statt eines Hebens, Ruckens oder Reißens von Körperteilen gegen die Schwerkraft erlaubt eine harmonische Integration der Grundbewegungen von Beugung, Seitneigung und Rotation ein leichtes Rollen wie von selbst. Solche organischen Dreh- und Rollbewegungen lassen sich an Kindern beobachten und standen in der Regel jedem Erwachsenen während seiner Kindheit zur Verfügung. Häufig berichten Feldenkrais-Schüler nach entsprechenden Lektionen, dass sie sich auch im Bett »wie im Feldenkrais-Unterricht« leicht bewegen und besser schlafen können. Eine verbesserte Anpassung an den Untergrund und die Fähigkeit, unnötige und unbewusste Haltearbeit während des Schlafens zu unterlassen und Gewicht an die Unterlage abzugeben, wirken sich gleichfalls positiv auf Schlaftiefe und einen ungehinderten Schlafrhythmus aus. Die bessere Adaptation an die Auflagefläche ermöglicht eine effektivere Senkung des muskulären Tonus. 183

In mehreren Lektionen unterrichtet R. Alon (1993, 160-185), sich in der horizontalen Lage selbst mit der zunächst so erscheinenden Unbequemlichkeit einer unter dem Rücken, den Schultern oder einer Körperhälfte liegenden zusammengerollten Decke zu arrangieren. Kinder besitzen die Fähigkeit, sich im Schlaf jeder Unterlage völlig anzupassen und dagegen arbeitende Aktivitäten zu unterlassen. In den Lektionen wird die Aufmerksamkeit primär auf die Reaktionen des Organismus gerichtet: »Nicht die Bewegung selbst ist wichtig, sondern vielmehr die Reaktion des Organismus darauf« So kann »beim Liegen auf einer zusammengerollten Decke ... jeder einzelne Wirbel des Rückgrats die seltene Erfahrung des Bodenkontakts machen. Das Hin- und Herrutschen auf der Rolle lässt den Brustkorb üben, seine festgesetzte Form zu lockern, und ermöglicht dem gesamten Körper, die diagonalen Wege nachzuzeichnen, die so wichtig sind für freies Gehen. Wenn Sie die Rolle entfernen, werden Sie erstaunt sein, wie unschuldig flach Ihr Rücken geworden ist.« Ein anderer Ansatzpunkt scheint im Verhalten vor und nach dem Schlafen zu liegen, indem Feldenkrais-Übungen vor dem Schlafengehen oder nach dem Aufstehen zu einer inneren Sammlung, Vorbereitung und Verbesserung des Nachfolgenden beitragen. Als Erklärungsmodelle bieten sich kybernetische Aspekte an, indem die neurophysiologischen und vegetativen Funktionsänderungen vor und im Schlaf als Rückkopplungskreise verstanden werden, die im Zusammenwirken als schlaffördernd oder schlafverhindernd wirken (Finke und Schulte 1979, S. 10). »Über viele Jahre hinweg bekam ich mehrere Male im Monat in der Nacht gegen 4 Uhr/ 5 Uhr sehr starke Kopfschmerzen. Schmerzmittel, die mir der Arzt verschrieben hatte, halfen nicht, und ich musste den Rest der Nacht im Gehen oder Sitzen verbringen. Eine Feldenkrais-Lehrerin zeigte mir irgendwann einmal einige Übungen, die ich von da ab mit wenigen Ausnahmen jeden Abend vor dem Schlafengehen machte. Nach kurzer Zeit wurden die Schmerzen seltener und traten nie mehr in der alten Stärke auf« (Frau N., 65 Jahre).

Schlafforschung und Chronobiologie verstehen den Schlaf heute als »Bestandteil eines kontinuierlichen Prozesses des gesamten Organismus« (Zulley 1996). Die Qualität des Schlafs entspricht der Qualität der Aktivitäten davor und danach. »Desynchronisie-

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rung« des zyklischen Wechsels von Schlafen und Wachen verursacht körperliche Missempfindungen. Regelmäßige körperliche Bewegung fördert die Schlafqualität und verringert Schlafstörungen (Sherill et al. 1998, Lit. dort). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die häufig zu machende Beobachtung, dass Feldenkrais-Lektionen nicht generell einen tonussenkenden und subjektiv zu Müdigkeit führenden Effekt haben, sondern eher den aktuellen Bedürfnissen der betreffenden Personen zu entsprechen scheinen. So führen Feldenkrais- Lektionen bei Personen mit erhöhter Grundspannung und anamnestisch bestehenden Schlafstörungen anfänglich eher zu einer Einschlafneigung, während sie später eher zu einem Frischegefühl und der Empfindung erhöhter Aktionsbereitschaft führen. Reine Entspannungsverfahren scheinen demgegenüber die sympatoadrenerge Erregungsbereitschaft andauernder zu reduzieren. Diese interessante klinische Beobachtung wurde jedoch bisher noch nicht ausreichend untersucht.

Säuglinge benutzen vielfach Bewegungen, um sich auf den Schlaf vorzubereiten. Dem Einschlafen gehen zum Teil heftige Bewegungen oder Weinen voraus, das dann langsam in einen entspannenden »Singsang« übergeht. Kleinkinder benötigen häufig ein oft ausgedehntes Ritual von Tätigkeiten, bevor sie schlafen können. Im Gegensatz dazu gestalten die meisten Erwachsenen ihre Aktivitäten vor und nach dem Schlafen kaum und vor allem wenig bewusst. Danach befragt wissen sie nur wenig Genaues zu berichten, wie sie »in den Schlaf fallen« oder eben auch nicht. Erwachen heißt zumeist, den Wecker zum Schweigen zu bringen und, so lange es nur geht, noch ein wenig zu »dösen«, um sich schließlich mit einem Gefühl des Unausgeschlafenseins in den Tag zu quälen. Was würde es bedeuten, wenn Sie morgens bemerken, wie Sie aufwachen? Wie öffnen sich die Augenlider? Wie fühlt sich der Körper beim Erwachen an? Erwachen alle Körperteile gleichzeitig? Wo spüren Sie noch Müdigkeit? Wo fühlen Sie Steifigkeit? Auf welche Weise atmen Sie? Sind Sie bereit, Ihren Körper auf den Tag vorzubereiten? Beginnen Sie noch im Bett mit kleinen angenehmen Bewegungen. Gähnen Sie, ohne den Kiefer zu zerren? Bewegen Sie sich hier und dort, jedoch ohne sich bis zu einem Krampf zu räkeln. Laden Sie Ihren Körper schrittweise ein, Sie aus dem Schlaf heraus in den Tag als ein Partner zu begleiten, mit dem Sie sich abstimmen ... 185

7.5 Ich- Bildund »Körperbildstörungen« Nach einer Feldenkrais-Lektion ergab sich der folgende Dialog zwischen einer Patientin (P) und dem Feldenkrais-Lehrer (L): L: Kommen Sie langsam zum Stehen und stehen Sie, wo der Boden fest ist und wo Sie frei stehen können. Wenn es möglich ist, schließen Sie die Augen und spüren Sie, wie Sie jetzt stehen. Was fällt Ihnen als Erstes auf? P: Ich bin schwerer geworden nach unten. Ich spüre meine Beine und mein Becken mehr, der Druck geht mehr in den Boden, so als hätte ich mehr Gewicht. L: Was fällt Ihnen als Zweites auf? P: Das Bild hat sich verändert. Zu Anfang war ich oben breiter und nach unten schmaler, jetzt ist es eher umgekehrt, dass die Schultern oben mehr zusammen sind und das Becken und die Beine breiter. L: Beginnen Sie langsam zu gehen und spüren Sie, ob die Lektion Auswirkungen auf Ihr Gehen hat. P: Die Schultern bewegen sich beim Gehen mehr mit und sind leichter; das ganze Gehen ist leichter, lockerer. L: Von wo geht die Bewegung aus, wo kommt die Kraft her beim Gehen? P: Aus dem Becken. L: Möchten Sie öfter so gehen? P: Oh ja, ja, gerne! (lacht) L: Können Sie, ja das können Sie. Und möchten Sie dieses Körpergefühl öfter haben? P: Oh ja (strahlt), ja öfter! L: Ja, das können Sie immer haben, immer öfter.

Das »Ich-Bild« als zentraler Gegenstand der Bewusstheit lässt die Feldenkrais-Methode besonders für »Körperbild«-Störungen geeignet erscheinen. Allerdings bestehen zwischen den verschiedenen psychologischen Meinungen vom Körperbild und der recht konkreten Sichtweise der Feldenkrais-Methode zu beachtende Unterschiede. Die medizinische und psychologische Erforschung der körperlichen Wahrnehmung des Menschen hat eine Fülle von Begriffen geprägt, die zwar oft benutzt werden, begrifflich aber unscharf sind. Begriffe wie »Körperbild«, »Körperschema«, »KörperKonzept«, »Körperbewusstheit«, »Körper-Selbst«, »Körper-Ich«, »Körper-Erleben« oder »Körper-Erfahrung« wurden, wie Biele186

f eld in den 80er Jahren in einer kritischen Übersicht resigniert feststellte, in einer Vielzahl und Vieldeutigkeit verwandt, dass sie »das Verständnis und die Vergleichbarkeit der Publikationen ... eher erschwert, als dass sie zu einer Fundierung und kontinuierlichen Weiterentwicklung dieses Untersuchungsfeldes beigetragen hätten«. Aus der Fülle der Begriffe für Teilbereiche oder das Gesamte der körperlichen Erfahrung sei fast jeder Terminus von irgendeinem anderen Autor auch im gegensätzlichen Sinne gebraucht worden (Bielefeld 1986). So verstand der englische Neurologe H. Head unter dem von A. Pick geprägten Begriff des »Körperschemas« (Pick 1908) einen neurophysiologischen Terminus. Für Head war »Körperschema« ein Begriff für die bewusste und unbewusste Speicherung und Repräsentation körperlicher Sinneseindrücke in bestimmten Arealen der Gehirnrinde (Head 1920). Anders für den Psychiater P. Schilder, der »Körperschema« psychologisch als das subjektive, emotional erlebte »Raumbild, das jeder von sich selber hat«, verstand. Dieses Körperbild sah er als dynamisch und in ständiger Veränderung begriffen an (Schilder 1923). Die sich hieran anschließende, wenig übersichtliche und teilweise widersprüchliche Diskussion um die genannten Begriffe soll an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden. Zur klareren begrifflichen Trennung schlug Bielefeld vor, anglo-amerikanischem und sportdidaktischem Sprachgebrauch folgend die Gesamtheit aller im Laufe der individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklung erworbenen Erfahrungen mit dem eigenen Körper »Körpererfahrung« (»Body Experience«) zu nennen, und begrifflich »Körperschema« und »Körperbild« als Teile dieser Körpererfahrung aufzufassen (Bielefeld 1986). »Körperschema« (»Body Scheme«) bezeichnet demnach den »neurophysiologischen Teilbereich der Körpererfahrung«: die »Körperorientierung« mithilfe der Oberflächen- und Tiefensensibilität und der kinästhetischen Wahrnehmung insgesamt, die Einschätzung der räumlichen »Körperausdehnung« und die faktische »Körperkenntnis« von Bau und Funktion des eigenen Körpers einschließlich der Rechts-Links-Unterscheidung. Der Begriff des »Körperbildes« (»Body Image«) bezeichnet hingegen den »psychologisch-phänomenologischen Teilbereich der Körpererfahrung«: das »Körperbewusstsein« als »die psychische Repräsentation des eigenen Körpers oder seiner Teile 187

im Bewusstsein des Individuums bzw. die auf den eigenen Körper gerichtete Aufmerksamkeit«, das Erleben der »Körperausgrenzung« als von der Umwelt abgegrenzt und die »Einstellung zum eigenen Körper« im Sinne von Zufriedenheit oder Unzufriedenheit usw. Körpererfahrung

Körper -schema

Körper -bild

(neurophysiologisch, perzeptiv-kognitiv)

(psychologisch, emotional-affektiv)

-orientierung

-bewusstsein

-ausdehnung

-ausgrenzung

-kenntnis

-einstellung

Tab.:Terminologievorschlag zur Begrifflichkeit von Körpererfahrung nach Bielefeld 1986 Das Konstrukt der Körperbild- oder Körperschemastörung, dem in der klinischen Arbeit für einige Diagnosen eine Bedeutung zugeschrieben wird, birgt jedoch vom Standpunkt der Neuropsychologie und Physiologie noch viele Rätsel (Landis 1997). Physiologisch stellt das »Körperschema« als Bewusstsein der räumlichen Ausdehnung unseres Körpers in der Umwelt einen fassbaren Teil der nichtvisuellen Raumvorstellung dar. Konzeptionalisierungen der »Körperbildstörung« und der Zusammenhang zwischen Körperschema und Körperbild bleiben zumeist vage und unüberprüfbar. In der klinischen Psychotherapie werden Störungen von Körperschema- und Körperbildvariablen in der überwiegend psychoanalytischen Literatur bei Patienten mit Depression (z. B. Zebrowski 1995), Schizophrenie (Röhricht & Priebe 1998) oder Essstörungen (Magersucht und Bulimie) angenommen, aber auch für eine Verhaltenstherapie von Angststörungen diskutiert (Schubert 1996). Auch soll sportliche Betätigung Diskrepanzen zwischen angenommenen und realen Faktoren des Körperkonzepts vermindern (Tschakert 1986). Allerdings gibt es durchaus Gründe, das Konzept der Körperbildstörung infragezustellen. So kommen Hsu & Sobkiewicz (1991) nach einer Metaanalyse von 19 KörperbildStudien bei Essstörungen zu dem Schluss, diese Konzeption lieber 188

zu verlassen. Gleichzeitig muss kritisch bemerkt werden, dass folgt man nun einmal einem Konzept von Körperbildstörungen solche Störungen vermutlich auch im Zusammenhang mit anderen Krankheitsbildern eine Rolle spielen dürften: bei somatoformen Störungen (einschl. Konversionssyndrom), Angsterkrankungen, sexuellen Störungen, Altersproblemen, chronischen körperlichen Erkrankungen, bei Patienten mit Lähmungen nach Schlaganfällen, nach Amputationen, Implantation von Prothesen oder eingreifenden Operationen. Bei der Objektivierung der stets subjektiven Körperwahrnehmung und ihrer Veränderung bestehen erhebliche Probleme (Knobloch 1995). Es bleibt zumeist unsicher, ob Verfahren zur Messung dieser Konstrukte selektiv den neurophysiologischen oder den psychologischen Anteil der Körpererfahrung erfassen (z.B. Zebrowski 1995). Methodisch werden apparative Verfahren (z.B. Größeneinschätzung des Körpers), projektive Verfahren (z.B. Rorschach-Psychodiagnostik), Fragebögen (z.B. FKB-20 zur Erfassung kognitiver und affektiver Bewertungen, Clement & Löwe 1996) oder halbstrukturierte Interviews eingesetzt (Guim6n 1997). Feldenkrais benutzt für die Begrifflichkeiten von Körperschema und Körperbild den Begriff Ichbild. Sein Konstrukt von Ichbild ist integrativ, dialektisch und dynamisch und begreift das, was Physiologie und Psychologie begrifflich trennen, so sehr als eine Einheit, dass er stellenweise begrifflich unscharf Ichbild (»selfimage«), Körperbild (»body-image«) und sogar Muskelbild (»muscle-image«) synonym gebraucht (Feldenkrais 1978). Im Sinne der oben angeführten begrifflichen Trennung bezeichnet »Ich-Bild« die Summe der Körpererfahrung insgesamt. Begriffe, wie »Ich«, »Individuum«, »Seele«, hat Feldenkrais vermieden und nicht zu definieren versucht. In einer eher schlichten Weise spricht er vielmehr vom menschlichen »Selbst« und seinen Möglichkeiten: »the potent seif«, das in der Lage ist, sich zu erfahren, sich und seine Handlungen zu reflektieren, zu entwerfen und zu realisieren. Mit den psychotherapeutischen Konzeptionen stimmt Feldenkrais in der Sichtweise einer integrativ-ganzheitlichen und dialektischen Beziehung zwischen Körperschema und Körperbild überein, insofern Wahrnehmung und Erleben, Körperschema und Körperbild stets untrennbar miteinander verbunden sind, in die Persönlichkeit des Individuums einfließen und als Orientierungs- und Bedin189

gungsgröße in den Prozess jeder folgenden Wahrnehmungs- und Erlebensempfindung mit eingehen. Fisher (1970) nimmt beispielsweise eine Zentrierung des Körperbewusstseins auf bestimmte Körperteile oder -regionen aufgrund früher Erfahrungen in der Kindheit an, die zu einer entsprechenden kognitiven Präsenz oder Amnesie führen. Fisher und Cleveland (1968) entwickelten anhand psychosomatischer Störungsbilder die These, dass die Fähigkeit des Erlebens eigener Körpergrenzen mit der Entwicklung von Autonomie, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl korreliert. Diese und ähnliche psychosomatische Konzepte gehen grundsätzlich von einem dynamischen Begriff und der Plastizität von Körperschema und Körperbild aus. Feldenkrais radikalisiert diese integrative Auffassung, indem er die unauflösliche Verknüpfung der vier Bestandteile jeder Handlung, nämlich von Bewegung, Sinnesempfindung, Gefühl und Denken betont. Diese Bestandteile des Tuns konstituieren das Ich-Bild. Die Beziehung der Bestandteile ist dialektisch, kein Bestandteil verändert sich ohne die anderen: kein Gefühl, ohne dass die Sinne empfinden, ohne Denken und ohne Bewegung; keine Wahrnehmung ohne gleichzeitige Reaktion von Emotion, Kognition und körperlicher Haltung. Das verbesserte Ich-Bild bedeutet das Vermögen zu bewusster Steuerung aller genannten Handlungsbestandteile, weshalb Feldenkrais »Ich-Bild« auch synonym gebraucht mit »Wachsein« (»waking state«) und »Verhalten« (»behavior«) (Feldenkrais 1978, S. 31, 56, 58, 64). Ich-Bild ist nicht identisch mit einem wie auch immer gearteten »Bild« (Imagination) von sich, nach dem sich Handlung realisiert, sondern bezeichnet die Realisation eigener Ganzheitlichkeit. Um Art und Weise des eigenen Tuns zu ändern, muss sich das Ich-Bild ändern. Dies bedeutet eine »Veränderung in der Dynamik der Reaktionen«, nicht bloß das Ersetzen einer Handlung durch eine andere (ebd. S. 31). Bei aller Sinnhaftigkeit konkreter und kleiner Veränderungsschritte gleicht demgegenüber die Korrektur einzelner Handlungen, wenn sie nicht auf eine gesamte Verbesserung des Ich-Bildes abhebt, dem Korrigieren eines musikalischen Spiels auf einem verstimmten Instrument (ebd. S. 48). Auch bezüglich der »Dynamik« pointiert Feldenkrais, indem er von einem zweifachen Begriff der dynamischen Eigenschaften des Ich-Bildes ausgeht: Die erwähnten psychologischen Konzepte 190

gehen einerseits von einem dynamischen Körperschema und Körperbild aus, das prinzipell durch therapeutische Interventionen beeinflusst und verändert werden könne. Andererseits neigen sie implizit dazu, diese Konstrukte als sich eher träge ändernde, die Einzelhandlungen überdauernde und diesen zugrunde liegende Persönlichkeitsmerkmale aufzufassen. Feldenkrais differenziert demgegenüber zwischen einem äußerst dynamischen Ich-Bild, das sich »von Handlung zu Handlung« ändert, und einer Gewohnheitsbildung, durch die »Handlungen . . . einen starren, schematisch immer gleichen Charakter« annehmen (ebd. S. 32). Darüber hinaus fasst Feldenkrais auch die Dynamik des Ich-Bildes im Sinne der Mechanik auf und bringt seine Auffassung von »Bewusstheit durch Bewegung« dadurch auf eine überraschende Weise auf den Punkt. In der für die deutsche Übersetzung seines Buches »Bewusstheit durch Bewegung« vorgenommenen Überarbeitung findet sich gegenüber der englischen Fassung ein bemerkenswerter erklärender Einschub über die Dynamik des Ich-Bildes als Voraussetzung zu tief ergreifender Änderung von Verhalten: »Der Begriff der >Dynamik< ist dabei im Sinn der Mechanik zu verstehen: als Lehre von der Bewegung der Körper unter dem Einfluss von Kräften und im Verhältnis zur Schwerkraft; und dazu gehört jeder Vorgang schlechthin« (ebd. S. 31). Mit anderen Worten: jede Sinnesempfindung, Gefühl und Denken sind mit Bewegung verbunden und unterliegen »im Sinne der Mechanik« den Gesetzen von Bewegung und Umwelt. Änderungen der anderen Sinnesqualitäten des Ich-Bildes können für Feldenkrais am leichtesten von der Bewegung her erlebt und angeregt werden. An der Psychoanalyse kritisiert Feldenkrais die »bequeme Abstraktion ... , wenn man über das psychische Leben spricht, ohne es mit dem Körper in Verbindung zu bringen, eine Abstraktion, deren Nutzen sich dann auch tatsächlich sehr bald erschöpft« (Feldenkrais 1994, S. 225). Durch Bewegung könne die Wahrnehmung für eine bessere Qualität von Handlung geschärft werden und das subjektive mit dem tatsächlichen Körperbild besser zur Deckung gebracht werden. Wie das Körperbild als Quelle des Bewegungsentwurfs und angenommener Grenzen durch Erfahrung verändert werden könne, so werde auch das Selbst durch einen bewussten Lernprozess anhand der Bewegung beeinflusst und das Ich-Bild verbessert. 191

Das, was eine gesunde Entwicklung des Ich-Bildes im Grunde behindert, liegt stärker in den anderen Bestandteilen des Ich-Bildes als in der Bewegung. Feldenkrais nennt eine Reihe psychosozialer Umstände, die die reife Entwicklung des Ich-Bildes behindern. So zählt er zu der Kehrseite menschlicher Leistungsfähigkeit, dass wir uns mit dem Erreichen eines unmittelbaren Ziels häufig bereits zufrieden geben, ohne das wirkliche Potential auszuschöpfen. Selbst bei basalen Fertigkeiten, dem deutlichen Sprechen oder dem Erlernen verschiedener Sprachen, nutzen Menschen nur einen Bruchteil ihrer Leistungsmöglichkeit. Ein vollständiges Ich-Bild erscheint demgegenüber als Ideal und ist entsprechend selten. Zu Prozessen, die die Entwicklung des Ich-Bildes hemmen können, zählt Feldenkrais Tätigkeiten, die einseitig die »Hemmung gewisser Zellen und die Mobilisierung anderer verlangen« und das nicht zur Reife Gelangen gesellschaftlich nicht geforderter oder ermöglichter Fähigkeiten. Menschliche Entwicklung werde durch gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Umstände behindert. Minimale Entwicklung entspräche den Bedürfnissen der Gesellschaften, wonach »die Jungen selbst in diesem niederen Entwicklungsstadium ihr nützliche Glieder sein« können. »In der Tat beschränkt sich das Lernen nach der Pubertät auf das Erwerben praktischer und fachlicher Kenntnisse, während die eigentliche, d. h. die nicht spezialisierte, Weiterentwicklung nur zufällig und in Ausnahmefällen fortgesetzt wird« (ebd. S. 39). Zusätzlich neigen Menschen dazu, ihren persönlichen Wert und ihre persönliche Entwicklung mit dem gesellschaftlich zugesprochenen sozialen Wert zu identifizieren. Feldenkrais spricht von der »vereitelnden Gewalt« dieser Einstellungsweise und weist auf subtile Mechanismen hin, wenn die gängige Pädagogik bereits Kinder nach ihrer Leistung beurteilt (ebd. S. 40 ff.). Um die Qualität der Selbstlenkung eines Patienten zu verbessern, ist es wichtig zu entdecken, wie das Bild eigentlich aussieht, das er von sich selbst hat. Die Haltung, die Position der Schultern, der Bauch, die Stimme, die Art zu stehen, der gesamte Ausdruck, alles beruht auf dem Bild, das ein Patient von sich hat. Für ihn selbst ist es oft schwer zu erkennen, was er sich vortäuscht und was wirklich er selbst ist. Ungewohnte Bewegungen können häufig ein unvollständiges Körperbild erkennen lassen. Umgekehrt sind es andererseits gerade die geläufigen und gewohnten Handlungen, die 192

unser Ich-Bild gestalten und zu fixieren drohen. Wird das Ich-Bild als offen für Wachstum und Veränderung erlebt oder als endgültig und beschädigt? Ein als unveränderbar erlebtes Ich-Bild hindert den Betreffenden daran, so zu sein, wie er ist, und sich organisch weiterzuentwickeln. In einem lebendigen Lernprozess wird das Bild, das der Lernende von sich selbst hat, immer wieder aktualisiert und verändert. Diese Aspekte des Ich- Bildes kontrastieren zu der bei Patienten häufig anzutreffenden Einstellung, den Grund der Behinderung des Ich-Bildes in unabänderlichen strukturellen Beschädigungen des Körpers oder des Bewegungsapparats zu sehen. Auf die Frage, welche Bewegung sie interessiert und sie gerne erlernen möchten, antworten Patienten häufig, dass sie dies und das nicht mehr können, weil dieses oder jenes mit ihrem Körper so sei. Das heißt, auf die Frage nach einer Funktion antworten sie mit Hinweis auf eine Struktur. Dieser Sichtweise liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Struktur maßgeblich für die Funktion sei und nicht - wie es die Feldenkrais-Methode betont - umgekehrt. Eine angenommene »Körperbildstörung« beispielsweise bei essgestörten Patientinnen als zu dick oder zu dünn wird der Komplexität von Körperschema und Körperbild nicht gerecht. Die Feldenkrais-Methode kann zeigen, dass ein vollständiges Ich-Bild selten ist und von vielen verschiedenen Umständen abhängt (z.B. Feldenkrais 1978, S. 45 ff.). So ist bereits die Selbsteinschätzung von Größenverhältnissen und Dimensionen des eigenen Körpers abhängig von den Gliedmaßen, mit denen dies angezeigt wird (z. B. ob mit zwei Fingern einer Hand oder mit beiden Händen) oder abhängig von Ausmaß und Qualität der zuvor dorthin gerichteten Aufmerksamkeit. Für adipöse Patienten kann die Erfahrung des eigenen »nicht adipösen« Skeletts und angenehmer, leichter Bewegungsqualität durch die Feldenkrais-Arbeit ein eindrucksvolles und oft wegweisendes Erlebnis zu einem verbesserten Ich-Bild sein. Dieses erschöpft sich aber nicht in der Fiktion, »schlank« zu sein. Vielmehr eröffnet eine vom »schlanken« Skelett her bestimmte neuartige Realisation von Bewegung neue Möglichkeiten selbstbewusster, dynamischer und befriedigender Körpererfahrung. So wie die Bewegungsorganisation veränderlich ist, ist auch das Ich-Bild dynamisch. Im Verlauf einer längeren Auseinandersetzung mit der Feldenkrais-Methode kommt es zunehmend 193

zu einer größeren Übereinstimmung zwischen den subjektiven und objektiven Aspekten der Körpererfahrung und zwischen Körperschema und Körperbild. Sie erklärt sich subjektiv vermutlich am ehesten aufgrund der leichteren und befriedigenderen Verfügbarkeit über das eigene Selbst. Diese erlaubt, auch die Begrenztheit oder bisher so empfundene Mangelhaftigkeit des eigenen Körpers zu akzeptieren. Dabei bleibt die verbesserte Übereinstimmung mit dem objektiven Körper immer eine Funktion der eigenen Wahrnehmungsvoraussetzungen, d. h., sie ist abhängig von dem jeweiligen Stand im Lernprozess und den damit verbundenen inneren Sollgrößen: Herr S. fühlt nach einer Funktionalen Integration, dass er »auf den Füßen eher vorne« stünde, auch sei jetzt »das Becken mehr vorne«. Relativ zur Haltung vor dem Unterricht befindet sich das Becken jedoch deutlich stärker hinten, und Herr S. steht eindeutig mehr auf den Fersen. Zum ersten Mal hat er aber im Anschluss an die Stunde seine gewohnheitsmäßige Neigung, das Becken vorne zu fixieren und besonders auf den Vorfüßen zu stehen, bemerkt. Frau G. neigt dazu, ihren Kopf leicht nach links zu drehen und etwas neigen. Nach einer Gruppenstunde in »Bewusstheit durch Bewegung« trägt sie ihren Kopf gerade auf dem Rumpf. Nase, Mund und Brustbein befinden sich in einer Mittellinie, der Abstand zwischen den Ohren und Schultern ist symmetrisch. Subjektiv erlebt Frau G. diese Veränderung gegenüber ihrem gewohnten Muster aber als Rechtsneigung und Rechtswendung des Kopfes.

7.6 Gesundheitsbildung »Wenn ein Mensch jahrelang keine ärztliche Behandlung benötigt und keine Beschwerden hat, heißt das, dass er gesund ist? Wenn andererseits derselbe Mensch ein langweiliges, uninteressantes Leben führt und Eheprobleme hat, die ihn zum Selbstmord treiben ist er ein gesunder Mensch? ... Es genügt bestimmt nicht zu sagen, die Gesundheit eines Menschen ist dadurch bewiesen, dass er keine medizinische oder psychiatrische Hilfe aufsucht« (Feldenkrais 1988c). Verhaltensmedizinische Zielsetzungen beinhalten eine prophylaktische und Rückfälle verhindernde Gesundheitsbildung. Gleichzeitig kommt körperlicher Bewegung ein protektiver Nut194

zen für die Gesundheit zu (siehe oben S. 31 f., 44). Die gesundheitsfördernden Aspekte der Feldenkrais-Methode im weiteren und engeren Sinne wurden bereits mehrfach angesprochen. Die »möglichen Ergebnisse der Feldenkrais-Methode«, wie sie im sog. Berufsbild der Feldenkrais-Gilde formuliert werden (Pieper & Weise 1996), beschreiben Gesundheitsindikatoren (vgl. Kap. 5). Als Indikatoren (seelischer) Gesundheit werden positive emotionale Befindlichkeit, hohe Antriebsstärke, Expansivität, optimales psycho-physisches Leistungsniveau, Selbsttranszendenz und Autonomie sowie Selbstwertgefühl und Selbstachtung verstanden (Becker & Minsel 1986, nach Wipplinger & Amann 1998). Der psychosomatischen Behandlungen zugrunde liegende medizinische und psychologische Gesundheitsbegriff wird durch die Feldenkrais-Methode um einen wesentlichen Aspekt erweitert. Gesundheit ist für Feldenkrais eine Funktion ontogenetischen, individuellen Lernens. Dieses Lernen führt zunächst neurobiologisch zu einer »Differenzierung des Nervensystems zu einer feineren und vollständigeren Vielfalt der Erfahrungen« und funktionell zu einer wachsenden Veränderungs- und Gestaltungsfähigkeit, unterliegt dann aber in unserer Kultur einer bedauerlichen, wenn auch durchaus nicht zwangsläufigen Verlangsamung und Einengung. Lernen bezieht sich zunehmend auf Spezialisierungen und einen immer enger werdenden Handlungs- und Erfahrungsraum. »Es kommt der Punkt, wo unsere Bildung und Erziehung, so wie sie sich entwickelt haben, uns nicht helfen können, sondern im Gegenteil uns einschränken und in Richtungen drängen, die unsere Gesundheit gefährden.« Dennoch gibt es selbst in unserer Kultur gesunde Menschen, »die übrigens einen Buckel oder andere Missbildungen haben können« (Feldenkrais 1988c). »Wenn man richtig damit umgeht, können einzelne Menschen trotz aller möglichen Behinderungen zu expandierenden und schöpferischen Erwachsenen werden. Es gibt dafür so zahlreiche Beispiele, dass es sich erübrigt, sie im einzelnen zu benennen« (Feldenkrais 1994, S. 253). »Das Ausschlaggebende, was diese Art gesunder Menschen von den anderen unterscheidet, ist, dass diese gesunden Menschen durch Intuition, Genialität oder das Glück, von einem gesunden Lehrer gelernt zu haben, entdeckt haben, dass Lernen das Geschenk des Lebens ist. Ein ganz besonderes Lernen: sich selbst kennen zu lernen. Sie lernen kennen, >wiewas