Familiäre Räume: Eine Ethnographie des ›gewohnten‹ Zusammenlebens als Familie [1. Aufl.] 9783839423691

Mit der Dynamisierung von Familienformen geht eine wachsende Sensibilisierung für die alltäglichen Leistungen einher, di

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Familiäre Räume: Eine Ethnographie des ›gewohnten‹ Zusammenlebens als Familie [1. Aufl.]
 9783839423691

Table of contents :
1. Einleitung: Familienleben in ›gewohnter‹ Form
2. Befestigtes Zusammenleben
Haushalt und Verwandtschaft
Familienleben im ›kleinen Kreis‹
Gefestigte Häuslichkeit
Alltagsroutine und ›gewohntes‹ Zusammenleben aus praxistheoretischer Sicht
Zum Erfahrungsraum im Rahmen des Zusammenlebens
3. Wegbeschreibung
Positionsbestimmungen
Im Vorfeld
Vorgehen
Fokussierte Aufzeichnungen
Verschriftlichung
4. Ausformungen des Familienlebens
›Gewohntes‹ Miteinander
Kopräsenz und technikbasierte Interaktion
Zusammensein im Rahmen des Zusammenlebens
Der Wohnbereich als räumliche Synthese
Präsenzzeiten, Zusammensein und zentrierte Arrangements
4.1 Koordination und Koordinaten: Abstimmungsprozesse und Gestaltungsweisen
Divergente Zeitordnungen, individuelle Alltagsrhythmen und phasenweise Synchronisierungen
Bei Müller/Franke
Alltägliche Arbeit am gewohnten Rhythmus
Die (zeit-) räumliche Organisation des Zusammenlebens
Tradierungen eines Familienmodells
Alltagspraktische Aufteilungen von Handlungsressorts
Die Arbeit am Alltag und die Arbeit an sich
De- und Rezentrierungen: Multilokalität im Rahmen des Zusammenlebens
Bei Bauer/Lange
Verbindende und verbindliche Regelmäßigkeit im Wochenrhythmus
Divergente Lokalisierungen
Konzentriertes Zusammensein an einem separaten Ort
Ortseinbindungen im separierten Wochenalltag
Verbindende Mobilität
Zugehörigkeit
Bei Dübner
Sich arrangieren in einer ambivalenten Erhebungssituation
Familiales Zusammenleben als Leitbild der Lebensführung
Getrennt- und zusammen sein
Exklusive Positionierungen
Herstellung von Kontinuität im getrennten Zusammenleben
Einpassung und Eigensinn im ›gewohnten‹ Zusammenleben als Familie
4.2 Arrangements und Reglements: Objektivierter ›Familiensinn‹
Gefestigte Arrangements
Der Esstisch: ›Installation‹ des Familienlebens
Bei Woellmer
Im Wohnzimmer bei Woellmer
Eine formale Statik im Arrangement bei Tisch
Eine eingerichtete Regel zur Absicherung von ›Familienzeit‹
Stabilisierungen des Arrangements
Bei Schneider/Rocchi
Im Wohnzimmer bei Schneider/Rocchi
Eine Perspektivverschiebung
Routinisierte Reglements, individualisierte Handlungsbereiche
Reproduktion und Spielraum des Arrangements bei Tisch
Prädisponierte Handlungsräume des Eigenen
Objektivierung und Inkorporierung einer Ordnung des Familienlebens
5. Situiertes Zusammenleben als Familie
Zeichenverwendung der Gesprächs-Transkription
Literatur
Dank

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Sebastian Schinkel Familiäre Räume

Band 3

Editorial Der geologische Terminus »Konglomerat« bezeichnet ein Steingemenge aus Geschiebestücken, die sich durch ein Bindemittel verfestigen. Die beiden lateinischen Wörtchen »con« und »glomerare« weisen auf das bunt Zusammengewürfelte, den Knäuel, Klumpen, Kugelball, Globus. Die Reihe Konglomerationen verwendet diesen geologischen Tatbestand als Gleichnis für das Verhältnis und das Verhalten der Subjekte in Gesellschaften der ausgehenden Moderne. Der Vergleich zielt auf das, was zwischen dem Geschiebe und dem Globus geschieht, auf die Prozesse der Verfestigung, der Konglomeration in den Alltagen der Menschen. Die Reihe will – einerseits – die Sedimente, Geschiebestücke, die neben gewohnten Gebirgen liegen, kulturlesend sammeln, auslesen und in den Fluss der sozialen Ballungen zurückgeben und – andererseits – den Mechanismen und Resultaten der Versteinerung dieser heterogenen Alltagspartikel in der Zeit und in der Lebenszeit nachgehen. Herausgeber/-innen, Schreiber/-innen und Leser/-innen können so ein Kolleg auf Zeit bilden, das Vergangenes in der Subjektbildung der Gegenwart auf zukünftige Konstellationen hin liest. So soll am Scheideweg der Gegenwart das labile Verhältnis von Absicherung und Entsicherung für künftige Alltagswelten geklärt werden und prinzipiell offen bleiben. Die Reihe wird herausgegeben von Helga Peskoller, Bernhard Rathmayr und Maria A. Wolf. Wissenschaftlicher Beirat: Birgit Althans, Anna Bergmann, Michaela Ralser, Edith Seifert, Hanne Seitz und Gabriele Sorgo.

Sebastian Schinkel (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialisationsforschung, Kindheits- und Familienforschung, Kultursoziologie des Alltagslebens, Praxistheorien sowie Methoden qualitativer Forschung, insbesondere Ethnographie.

Sebastian Schinkel

Familiäre Räume Eine Ethnographie des ›gewohnten‹ Zusammenlebens als Familie

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Sebastian Schinkel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2369-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Einleitung: Familienleben in ›gewohnter‹ Form | 9

2

Befestigtes Zusammenleben | 27

Haushalt und Verwandtschaft | 29 Familienleben im ›kleinen Kreis‹ | 37 Gefestigte Häuslichkeit | 44 Alltagsroutine und ›gewohntes‹ Zusammenleben aus praxistheoretischer Sicht | 51 Zum Erfahrungsraum im Rahmen des Zusammenlebens | 63 3

Wegbeschreibung | 71

Positionsbestimmungen | 72 Im Vorfeld | 80 Vorgehen | 83 Fokussierte Aufzeichnungen | 88 Verschriftlichung | 94 4

Ausformungen des Familienlebens | 99

›Gewohntes‹ Miteinander | 104 Kopräsenz und technikbasierte Interaktion | 106 Zusammensein im Rahmen des Zusammenlebens | 111 Der Wohnbereich als räumliche Synthese | 115 Präsenzzeiten, Zusammensein und zentrierte Arrangements | 118 4.1 Koordination und Koordinaten: Abstimmungsprozesse und Gestaltungsweisen | 122

Divergente Zeitordnungen, individuelle Alltagsrhythmen und phasenweise Synchronisierungen | 123

Bei Müller/Franke | 128 Alltägliche Arbeit am gewohnten Rhythmus | 130 Die (zeit-) räumliche Organisation des Zusammenlebens | 140 Tradierungen eines Familienmodells | 146 Alltagspraktische Aufteilungen von Handlungsressorts | 150 Die Arbeit am Alltag und die Arbeit an sich | 157 De- und Rezentrierungen: Multilokalität im Rahmen des Zusammenlebens | 158 Bei Bauer/Lange | 162 Verbindende und verbindliche Regelmäßigkeit im Wochenrhythmus | 165 Divergente Lokalisierungen | 170 Konzentriertes Zusammensein an einem separaten Ort | 177 Ortseinbindungen im separierten Wochenalltag | 183 Verbindende Mobilität | 188 Zugehörigkeit | 190 Bei Dübner | 191 Sich arrangieren in einer ambivalenten Erhebungssituation | 193 Familiales Zusammenleben als Leitbild der Lebensführung | 196 Getrennt- und zusammen sein | 200 Exklusive Positionierungen | 204 Herstellung von Kontinuität im getrennten Zusammenleben | 208 Einpassung und Eigensinn im ›gewohnten‹ Zusammenleben als Familie | 209 4.2 Arrangements und Reglements: Objektivierter ›Familiensinn‹ | 212

Gefestigte Arrangements | 213 Der Esstisch: ›Installation‹ des Familienlebens | 217 Bei Woellmer | 222 Im Wohnzimmer bei Woellmer | 224 Eine formale Statik im Arrangement bei Tisch | 226 Eine eingerichtete Regel zur Absicherung von ›Familienzeit‹ | 233 Stabilisierungen des Arrangements | 240

Bei Schneider/Rocchi | 242 Im Wohnzimmer bei Schneider/Rocchi | 243 Eine Perspektivverschiebung | 245 Routinisierte Reglements, individualisierte Handlungsbereiche | 248 Reproduktion und Spielraum des Arrangements bei Tisch | 250 Prädisponierte Handlungsräume des Eigenen | 257 Objektivierung und Inkorporierung einer Ordnung des Familienlebens | 258 5

Situiertes Zusammenleben als Familie | 263

Zeichenverwendung der Gesprächs-Transkription | 271 Literatur | 273 Dank | 305

1 Einleitung: Familienleben in ›gewohnter‹ Form

»Bevor er ›in die Welt geworfen‹ wird, wie die eiligen Metaphysiker lehren, wird der Mensch in die Wiege des Hauses gelegt.« (Gaston Bachelard) »Home is ›here‹, or it is ›not here‹. The question is not ›How?‹ nor ›Who?‹ nor ›When?‹ but ›Where is your home?‹ It is always a localizable idea. Home is located in space, but it is not necessarily a fixed space.« (Mary Douglas)

Am Eingangsbereich befindet sich eine verschlossene Tür. In Greifnähe sind eine Klingel, um sich im Wohnbereich bemerkbar machen zu können, und in gleicher Blickrichtung häufig ein Namensschild angebracht, das für Außenstehende auf die Bewohner hinweisen soll. Hinter der Tür befindet eine eigene kleine Welt – nicht vollständig isoliert, aber deutlich separiert. In der Binnensphäre des Wohnraums, in dem zusammen als Familie gelebt wird, sind die Dinge, die Räume und Atmosphären, die regelmäßigen Abläufe und Umgangsweisen den Bewohnern hochgradig vertraut. Das Wortgefüge ›Zuhause‹ verweist in diesem Zusammenhang auf einen Orts- und Raumbezug des Eigenen wie auch auf eine ›Familiarität‹ mit der spezifischen materiellen und mitmenschlichen Umgebung. Das Zusammenleben als Familie basiert auf konkreten Orten und Räumen und ist grundlegend auf solche bezogen, damit von einem Zusammenleben die Rede sein kann. Seine besondere Sozialität setzt eine verbindende Geschichte des Wohnens voraus, die jedoch keineswegs auf einen einzigen Ort festgelegt sein muss. Folgt man dem Historiker John R. Gillis, so hat sich die Lokalisierungsweise im Familienleben mit den modernen Dezentrierungen im Prozess der Industrialisie-

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rung gravierend gewandelt. Das moderne ›Zuhause‹ mit seiner ausdifferenzierten Binnensphäre und seinen vielfältigen Ritualisierungen gebe dem Familienleben gerade in Hinblick auf seine gewachsene ›virtuelle‹ Dimension Form und Kontinuität (vgl. Gillis 2003). Der gemeinsame Ortsbezug liegt dabei einem ›Kernverständnis‹ von Familie zugrunde,1 denn er schafft einen »Bezugsrahmen« für die wiederkehrende Interaktion, wie der Soziologe Anthony Giddens schreibt. »In Orten (›locales‹) wird der Raum als Bezugsrahmen für Interaktion verfügbar gemacht, während umgekehrt diese Interaktionsbezugsrahmen für die Spezifizierung der Kontextualität des Raumes verantwortlich sind. [...] Orte sorgen für einen guten Teil der ›Stabilität‹, die Institutionen zugrunde liegt, obwohl es keine eindeutige Richtung gibt, in der sie diese ›Beständigkeit‹ ›determinieren‹.« (Giddens 1997: 170)

In der vorliegenden Studie werden die Ortsbezüge und eine Verräumlichung des Familienlebens in ihrer Bedeutsamkeit für die gemeinsame Sozialität und entsprechende Differenzbearbeitungen im Rahmen einer gemeinsamen Sozialisation als Familie fokussiert. Diese Perspektive ist deswegen aktuell und relevant, weil das Zusammenleben als Familie in einem Spannungsverhältnis von Lokalität, Mobilität und Virtualität gelebt wird, das mit den gesellschaftlichen Dynamisierungsprozessen der vergangenen Dekaden auch selbst verstärkt in Bewegung geraten ist. Eine vormals größere Selbstverständlichkeit von Dauerhaftigkeit und Beständigkeit wird hinsichtlich dieser gesellschaftlichen Fliehkräfte wiederkehrend in Frage gestellt. Im Vergleich zum Familienleitbild der 1950er und 60er Jahre können in der Gegenwart die Beziehungskonstellationen und Zugehörigkeiten im Rahmen des Zusammenlebens als Familie zusehends variieren – nicht nur in Hinblick auf die Pluralität privater Lebensformen, sondern auch in diachroner Perspektive hinsichtlich der Entwicklungsverläufe, deren allgemeine Aussicht unbeständiger geworden ist (vgl. Beck-Gernsheim 2010). Bereits seit den 1970er Jahren zeichnet sich eine Tendenz zur Dynamisierung und Diversifizierung ab, in der die zeit-räumliche Beständigkeit privater Beziehungsrahmen ebenso in Frage steht, wie die Orientierung an Leitmotiven des Familienlebens, die sich im 19. Jahrhundert weitgehend durchgesetzt hatten (vgl. Lenz 2009a: 75ff.; 2003: 486ff.).2 Vor dem modernitäts-

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Vgl. den Ausdruck einer ›bi-nuklearen‹ Familienform im Beispiel der Mehrfachzugehörigkeit von Kindern zu zwei Haushalten in sogenannten ›Nachtrennungsfamilien‹. Eine ›Zerfallsbefürchtung‹ liegt bereits in den Anfängen der europäischen Familienforschung bei Wilhelm Heinrich Riehl und Frédéric Le Play begründet, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts, »infolge ihrer wertkonservativ-restaurativen Absichten«, die Veränderungsprozesse im familialen Zusammenleben allerdings noch nicht auf einen sozial-

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theoretischen Hintergrund einer Individualisierung der Lebensführung sind solche Dynamisierungen durch sich verändernde Lebensumstände oder aufgrund identitärer Suchbewegungen für das Zusammenleben als Familie wie für die Familienplanung mit Risiken und Belastungen verbunden, die organisatorisch und emotional zu bedenken und zu bewältigen sind – und Entwürfe von Familienleben immer auch scheitern lassen können.3 Einerseits haben sich in den vergangenen Dekaden die normativen Familienbande gelockert; andererseits sind Familienbeziehungen, verstanden als primär verwandtschaftlich konnotierte Alltagsverflechtungen, aufgrund der rapiden Entwicklungen von Transport- und Kommunikationstechnologien auch über Haushaltsgrenzen hinaus räumlich ›näher zusammengerückt‹. Mit diesen Technologien sind überregionale Interaktionsmöglichkeiten intensiviert und verdichtet worden – als Telekommunikation, als materielle oder finanzielle Transaktionen oder auch durch Stippvisiten. Diese Entwicklungen haben in der Familienforschung seit den 1980er Jahren mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für Beziehungsnetzwerke eine entsprechende Resonanz erhalten. Mit dem Bedeutungszuwachs individueller Mobilitätspotentiale, damit einhergehender Mobilisierungszwänge und technikbasierter Kommunikationsräume verändern sich auch die lokalen Bezüge. Der Soziologe Manuel Castells prognostiziert vor diesem Hintergrund sogar ein »Verschwinden der auf Wohnzusammenhängen gegründeten Gemeinschaft als wichtiger Form der Soziabilität« (Castells 2005: 139). Dem steht allerdings die Beobachtung entgegen, dass trotz einer wiedergekehrten Zunahme erwerbsbedingter Mobilität weiterhin überwiegend ›sesshaft‹ gelebt wird und kaum etwas darauf hindeutet, dass sich diese fundamentale Grundeinstellung der Lebensweise in absehbarer Zeit wandeln könnte. Eine Praxis des Wohnens wird vielmehr als selbstverständlich vorausgesetzt, wenn mit Blick auf technikbasierte Vernetzungen deren schwindende Bedeutsamkeit in Hinsicht

3

strukturellen Wandel, sondern auf rechtlich-politische und moralisch-sittliche ›Fehlentwicklungen‹ zurückführten (Schneider 2002: 379f.; vgl. Nave-Herz 1998). Zur breiten Debatte seit den 1970er Jahren hinsichtlich Pluralisierung oder Auflösung ›der‹ Familie vgl. Koschorke 1972; Lüscher/Schultheis/Wehrspaun 1988; Rerrich 1988; Burkart/Kohli 1989; Peuckert 1989; Trotha 1990; Meyer 1992; Beck-Gernsheim 1994a, 2010; Pieper 1994; Nave-Herz 1998, 2009; Hoffmeister 2001. Zur Theorie der Individualisierung als Effekt wie Antriebskraft gesellschaftsstruktureller Modernisierungsprozesse vgl. Schulz 1983; Beck 1986; Burkart/Kohli 1989; Beck/BeckGernsheim 1994, 2005; Beck-Gernsheim 1990, 1994b. Hinsichtlich einer Vereinbarkeit von Familienleben und Beruf unter dem Leitkonzept der Lebensführung vgl. Jurczyk/ Rerrich 1993; Voß/Weihrich 2001; Weihrich/Voß 2002; Gottschall/Voß 2003; Mischau/ Oechsle 2005; Heitkötter u.a. 2009; Jurczyk u.a. 2009; siehe auch Bauer u.a. 2006.

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auf die Soziabilität konstatiert wird. Dagegen fragt die vorliegende Untersuchung, wie das Familienleben auf gemeinsame Lokalisierungen und daraus hervorgehende Räume des ›Familiären‹ bezogen ist.4 Die Prognose eines »Verschwindens der auf Wohnzusammenhängen gegründeten Gemeinschaft als wichtiger Form der Soziabilität« wird mit Blick auf das Zusammenleben als Familie – vor allem mit kleinen Kindern – als ebenso fragwürdig angesehen, wie die wiederkehrende Diagnose einer allmählichen ›Auflösung der Familie‹. Vor dem Hintergrund der intensivierten Mobilität und Vernetzung bilden die Dynamisierungen und Fragmentierungen familialer Lebenszusammenhänge im Zeitverlauf den Ankerpunkt für Krisenszenarien, die als Variation der Debatten zu einer Pluralisierung privater Lebensformen gesehen werden können. So fragt Günter Burkart mit einem überspitzt gezeichneten Szenario, in dem die häusliche Verfasstheit als lokalisierende, materielle Grundlage des familialen Zusammenlebens zu verschwinden droht, in seiner Einleitung zu einem Sammelband über die »Zukunft der Familie«: »Was werden unsere Kinder und Kindeskinder im Jahr 2050 unter ›Familie‹ verstehen? Vielleicht ein Ensemble aus technisch vernetzten mobilen Individuen, die kaum einmal zusammen an einem Tisch sitzen, um zu reden oder zu essen, und die sich überwiegend per Video-Telefonie verständigen. Gibt es dann überhaupt noch ›Familien‹, verstanden als zusammenwohnende Gemeinschaft naher Verwandter, wenn doch ein Großteil der Regenerationsfunktion der klassischen Familie ausgelagert sein wird? Wozu eine feste Familienwohnung, wenn viele Familienangehörige für längere Zeit an anderen Orten der Welt wohnen; wird man nicht viel lieber mit Freunden zusammen leben, in flexiblen, temporären Hausgemeinschaften?« (Burkart 2009: 9f.)

Das von Burkart umrissene Zukunftsszenario hochgradig autarker Individuen, »die kaum einmal zusammen an einem Tisch sitzen, um zu reden oder zu essen, und die sich überwiegend per Video-Telefonie verständigen«, provoziert anthropologische Rückfragen nach dem zugrunde gelegten Menschenbild, vor allem in Hinsicht auf die Grenzen einer sozio-kulturellen ›Durchformbarkeit‹ von Bedürfnissen im Kindesalter. Denn die skizzierte Eigenständigkeit hat einen kindlichen Entwicklungsprozess in Abhängigkeit von anderen zur Voraussetzung; sie ist keine realistische ontogenetische Ausgangslage. Zumindest das Aufwachsen kleiner Kinder ist an Generationenbeziehungen mit einer regelmäßig wiederherstellbaren körperlichen Nähe gebunden (vgl. Hopf 2005). Mit der unhintergehbaren Voraussetzung

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›Familiär‹ wird hier nicht synonym zu ›familial‹ verwendet. Während das Wort ›familial‹ in den Sozialwissenschaften als Adjektiv zum Wort ›Familie‹ fungiert, verweist das ›Familiäre‹ darüber hinaus auf den Aspekt der Vertrautheit.

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persönlicher Fürsorge schafft gerade die Einbindung in enge Familienbeziehungen ein »Höchstmaß an Personengebundenheit« und an »Zuständigkeit der Generationenbeziehungen« (Lenz 2009a: 81). Daher sei weder zu befürchten, wie Karl Lenz schreibt, »dass Familien verschwinden, noch gibt es Anzeichen dafür, dass Familien durch ein anderes Sozialarrangement für das Aufwachsen der Kinder abgelöst werden« – andere Sozialarrangements mit Erziehungsaufgaben fungieren überwiegend nicht als ›Familienersatz‹, sondern als Ergänzung oder deren Entlastung.5 Aus dieser Perspektive ist das Zusammenleben als Familie keine vom Verschwinden bedrohte Kulturform, die techno-sozialen Modernisierungsprozessen allmählich zum Opfer fällt, sondern ein ›gefestigter‹, primär verwandtschaftlich bestimmter Lebenszusammenhang, in dem das Aufwachsen von Kindern kulturgeschichtlich gar nicht immer im Zentrum stand, der aber zunehmend auf diesen Prozess spezialisiert worden ist und sich besonders in dieser Hinsicht bewährt (vgl. Parsons/Bales 1955: 354; Kaufmann 1994: 50).6 Inwieweit das Zusammenleben als Familie hingegen im Zeitverlauf ›dauerhaft‹ beständig bleibt, ob z.B. die aufwachsenden ›Kinder‹ vorzugsweise bei ihren Eltern oder eines Tages »an anderen Orten der Welt« wohnen, ob sich allgemeiner ausgedrückt die Beziehungskonstellation in Koresidenz im Zeitverlauf wandelt, ist eine andere Frage, die den grundlegenden ›Tat-Bestand‹ des Zusammenlebens mit kleineren Kindern nur wenig tangiert. Grundsätzlich temporär und dynamisch ist das Zusammenleben

5

6

Entsprechend hält Peter Büchner für die Gegenwart fest, auch wenn er hinsichtlich der vielen ›Außenbezüge‹ im heutigen Kinderalltag eine partielle »Entfamiliarisierung« des Kinderlebens sieht, dass trotz der Prophezeiungen einer Auflösung des Familienlebens »die überwältigende Mehrheit der heranwachsenden Kinder in Deutschland in familialen Lebensgemeinschaften« aufwachsen und erzogen werden. »Hinter dem ›Normalentwurf‹ einer modernen Vater-Mutter-Kind-Familie verbirgt sich zwar eine wachsende Vielfalt von Familienverhältnissen und familialen Lebensformen, aber die – wenn auch zunehmend individualisierte und pluralisierte – Familienkindheit als Grundmuster kindlicher Lebensrealität gehört auch weiterhin zu den zentralen biographischen Erfahrungen der heutigen Kinder- und (Eltern-)Generation.« (Büchner 2010: 519) Allerdings hinterfragt Günter Burkart in seinen hypothetisch gefassten Zukunftsentwürfen gerade diese diskursive Gewissheit, indem er ein Szenario nach Aldous Huxleys Brave New World ausmalt, in dem alternative Erzeugungs- und Organisationsformen des Aufwachsens als allgemein sinnvoll und auch wünschenswert angesehen werden (vgl. Burkart 2009: 10). Bezüglich eines kulturhistorischen Funktionswandels greift er besonders die Tendenzen einer ›kommerzialisierten‹ Auslagerung der biologischen Reproduktion (z.B. die sogenannte ›Leihmutterschaft‹) wie auch sozialer Reproduktionsaspekte der Fürsorge im Familienleben auf (vgl. Burkart 2006: 184f.).

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als Familie aufgrund von Geburt oder Adoption, Ablöseprozessen in der Jugendphase, Pflegeverhältnissen und menschlicher Sterblichkeit vielmehr schon immer gewesen (vgl. Freitag 1988: 11ff.; Beck-Gernsheim 2010: 29ff.). In Hinblick auf die sozialhistorischen Wandlungsprozesse merken Hans und Birgit Bertram an, es sei sinnvoll davon auszugehen, dass Individuen unter den jeweils gegebenen Umständen stets versucht hätten, »ihr individuelles Wohlbefinden und ihre individuelle Zufriedenheit gemeinsam mit den Menschen, die ihnen nahestehen, aktiv zu gestalten« (Bertram/Bertram 2009: 32f.). Mit dieser Grundannahme stellt das Zusammenleben als Familie in der westeuropäischen Gegenwart eine Option der Lebensführung dar, die mit dem Schritt in die soziale Elternschaft gewählt wird und die aufgrund einer damit verbundenen (rechtlich verbindlichen) Rollenverantwortung dann auszugestalten ist.7 In der Regel resultiert daraus das Einrichten eines gemeinsamen, ›festen‹ Lebenszusammenhangs, durch den das Zusammenleben mit Kind in eine ›gewohnte‹ Form eingebettet wird. Die Tendenzen zur Pluralisierung und Dynamisierung privater Lebensformen stellen die Bedeutsamkeit ›fester‹ Wohnzusammenhänge für ein Leben mit Kindern als eng aufeinander abgestimmtes Zusammenleben nicht grundsätzlich in Frage. Vielmehr sensibilisieren die Veränderungen in der empirischen Wirklichkeit für die grundsätzliche Kontingenz und die individuellen Leistungen, die der Alltagsorganisation des ›gewohnten‹ Familienlebens zugrunde liegen (vgl. Lange/Lüscher 2000: 27). Mit dem Zuwachs der Mobilitäts- und Vernetzungsmöglichkeiten und -zwänge in den vergangenen Dekaden ist der jeweilige Abstimmungs- und Koordinationsbedarf ›größer‹ geworden – auch im Sinn einer Aufmerksamkeitslenkung innerhalb der Familienforschung. Dabei ist auch eine Differenz zwischen dem Rahmen des Zusammenlebens und dessen eindeutiger Lokalisierung hervorgetreten, die im Verständnis von Familie während der letzten beiden Jahrhunderte weitgehend deckungsgleich geworden waren. Mit den technischen Möglichkeiten wandeln sich die Bedingungsverhältnisse von Sesshaftigkeit und Mobilität, so dass Markus Schroer auch von einer »Ausdehnung des Unterwegsseins« und der »Mobilisierung des Wohnens« schreibt (Schroer 2006: 119ff.). Zur Geltung kommen entsprechende Dynamisierungen

7

In Hinblick auf das Familienleben wird zwischen ›biologischer‹ und ›sozialer‹ Elternschaft differenziert, da ›biologische‹ Elternschaft zum einen nicht notwendig bedeutet, dass sich langfristig auf eine ›soziale‹ Elternschaft eingelassen wird (entsprechende Beispiele sind Abtreibung, Kindstötung, Aussetzung, verleugnete Vaterschaft oder eine ›Freigabe‹ zur Adoption), und zum anderen die ›soziale‹ Elternschaft als alltagspraktisch wahrgenommene Elternschaft kein biologisches Abstammungsverhältnis voraussetzt (vgl. Lenz 2005: 15ff.; Peuckert 2005: 233ff.).

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durch eine quantitative Zunahme von Wohnungsumzügen und durch vielfältige Migrationsphänomene (›residenzielle‹ Mobilität), aber auch durch verschiedene Formen von ›zirkulärer‹ Mobilität wie Dienstreisen, Saisonarbeiten oder Pendeln (Schneider/Ruppenthal/Lück 2009: 113; vgl. Schneider/Limmer/Ruckdeschel 2002) – z.B. auch bei Mehrfachzugehörigkeiten, indem sich Kinder zwischen ihren getrennt lebenden Eltern hin- und herbewegen. Trotz der technologischen Vernetzungsmöglichkeiten finden Prozesse sozialer Integration aber auch weiterhin primär in den kleinen und vertrauten Sozialverbänden statt, die durch körperliche Nähe charakterisiert sind: in Familie, Freundeskreis und weiteren persönlichen Netzwerken (Tully/Baier 2006: 76; vgl. Boden/ Molotch 1994). »Je flexibler und kommunikativer der Alltag«, so Claus J. Tully, »umso umfassender wird die Suche nach Verlässlichkeit« (Tully 2009: 12). Allein durch technikbasierte Kommunikation ist diese ›basale‹ Form der Soziabilität nicht substituierbar, weshalb Telekommunikation auch nicht als Alternative zu Mobilität anzusehen ist, sondern eher noch zu deren Intensivierung beiträgt (vgl. Urry 2003). Gemeinsames Wohnen und individuelle Mobilität bilden daher die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille, um in einer ausdifferenzierten Gesellschaft, in der das Alltagsleben vielerorts dezentriert organisiert ist, einen gemeinsamen Lebenszusammenhang mit vertrauten Beziehungen verlässlich wiederherstellen zu können (vgl. Bonß/Kesselring 1999: 39). Mit einer einfachen Entgegensetzung zu den intensivierten Telekommunikations- und Fortbewegungsmöglichkeiten sind gemeinsame Ortsbezüge nicht adäquat erfasst. Mit den Raumverhältnissen wandeln sich vielmehr die Konstruktionsweisen gemeinsamer Lokalisierungen, ohne dass eine Bedeutsamkeit ›fester‹ Orte für gemeinschaftliche Bezüge deshalb im Verschwinden sein muss. Mobilität bezweckt nicht nur ein ›Fortkommen‹, sondern zielt auch auf Ankunft und Rückkehr. Telekommunikation ersetzt körperliche Präsenz nicht einfach, sondern kann Abwesenheit überbrücken helfen (was nicht das Gleiche ist). Entgegen einem generalisierten Bedrohungsszenario angesichts gesellschaftlicher Veränderungen, das so alt ist wie die Familienforschung, wird das Zusammenleben als Familie hier als ein Lebenszusammenhang in einer dynamischen Verfasstheit zwischen Kopräsenz und Absenz, Zusammenhalt und Individualität, Kontinuität und Wandel unter sich verändernden Rahmenbedingungen gesehen. Die Zeit-, Raum- und Verhaltensordnungen des Zusammenlebens sind dabei in einem immer wieder auszutarierenden Verhältnis zwischen Lokalität, Mobilität und Virtualität als Familienleben hervorzubringen. Dieses in einer Alltagspraxis ausbalancierte Familienleben wird hier als ›gewohntes‹ Zusammenleben gefasst. Die Wortwahl des ›gewohnten‹ soll dabei dreierlei akzentuieren: Erstens die individuelle Orientierung der Lebensführung an tradierten Organisationsweisen

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des Zusammenlebens auf der Grundlage eines Erfahrungsraums der individuellen biographischen Herkunft. Zweitens die Relevanz vertrauter Ortsbezüge und darauf bezogener Strukturierungsweisen für eine verbindende Alltagspraxis des Zusammenlebens. Und drittens die Bedeutsamkeit dieser situierten Praxis zur Konstituierung eines Erfahrungsraums des ›Familiären‹ als ein gemeinsamer Sozialisationsrahmen, in dem sich vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Praxisgeschichte wiederkehrend miteinander abzustimmen und aufeinander einzustellen ist (vgl. Kreppner 1991, 1999; Schuster 2005). Das Konzept des ›gewohnten‹ Zusammenlebens verweist dabei auf die etymologische Nähe von ›wohnen‹ und ›Gewohnheit‹, die besonders in der Phänomenologie reflektiert worden ist (vgl. Hahn 1998). Es verweist auf eine alltagspraktische Ordnung räumlicher und zeitlicher Strukturierungen, die einerseits aktiv hervorgebracht und in die sich andererseits eingelebt und eingepasst wird. So versteht Lenelis Kruse den ›gewohnten‹ Raum »als das Gesamt der Plätze und Wege, denen sich der Mensch besonders zugehörig fühlt, die ihm bekannt und vertraut sind«, wobei der Wohnung und dem Wohnen eine »ausgezeichnete Bedeutung innerhalb dieses Bereiches des Vertrauten und Gewohnten« zukomme (Kruse 1974: 40f.). Diese Konzeptualisierung lediglich unscharf eingrenzbarer räumlicher Verhältnisse reflektiert eine Sprachgeschichte des Wortes ›wohnen‹, das »primär nicht an eine bestimmte Räumlichkeit, an eine begrenzte häusliche Umwelt gebunden ist«, sondern auf im Zeitverlauf vertraut gemachte Aufenthaltsmuster verweist (ebd.: 41f.; vgl. Bollnow 2004: 127f.; Heidegger 2004: 140ff.). In die räumliche Ordnung eines Wohnbereichs muss sich eingelebt werden, wobei diese zugleich in der Praxis des Wohnens mit hervorgebracht wird. Die konkreten Orts- und Raumbezüge gehen dabei, so Kruse, als ein »Lageschema« allmählich in »Fleisch und Blut« über, wodurch »im Wohnen das Bewohnte zum Gewohnten« werde (Kruse 1974: 52).8 In ihrer vertrauten Materialität haben entsprechende ›Sphären des Eigenen‹ eine modellierende und stabilisierende Wirkung auf die Alltagspraxis. In ihrer relativen Beständigkeit fungieren die Materialitäten als Gedächtnisträger der Praxis – nicht nur hinsichtlich aktueller Verhaltensmuster

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Durch die eigene Gestaltungstätigkeit verdichten sich »Zonen der Vertrautheit«, schreibt bereits Otto F. Bollnow, die in einem ›Zuhause‹, als eine hervorgebrachte ›Sphäre des Eigenen‹, besonders ausgeprägt seien (Bollnow 2004: 131, 284). In diesem Sinne ist Peter L. Berger und Hansfried Kellner zu widersprechen, die mit Blick auf die Hervorbringung einer gemeinsamen Wirklichkeit durch Gespräche der Ansicht sind, eine familiale Binnenwelt könne »ohne Schwierigkeiten aus ihrer Umwelt herausgelöst und in eine andere verpflanzt werden, ohne daß damit merkbar in ihren Ablauf eingegriffen würde« (Berger/Kellner 1965: 231).

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und -reglements, sondern auch in biographischen Bezugnahmen auf die eigene Vergangenheit (vgl. Muxel 1996; Groppe 2007).9 Das Alltagsleben ›zuhause‹ ist vergleichsweise orientierungssicher, weil die vertraute Umgebung mit ihren räumlichen Routinen ›inkorporiert‹ wird und diese Routinen von der Materialität der Umgebung mit getragen werden. Auf der Grundlage dieses materiellen Zusammenhangs wird das Erfordernis von Herstellungsleistungen typischer Situationen im Familienleben reduziert. Im Wohnzimmer kann z.B. ein ›Familientisch‹ an einem festen Platz stehen, der von Stühlen umgeben wird, die nicht nur als Sitzvorgaben fungieren und Bewegungsmöglichkeiten versperren, sondern auch eine etablierte Verhaltensordnung verkörpern, die einer familienspezifischen Logik des Zusammenlebens folgt.10 Für eine grundlagentheoretische Einbindung mit vielseitigen Anschlussmöglichkeiten kann dieser kontingente Zusammenhang des ›gewohnten‹ Zusammenlebens als ein Dispositiv gefasst werden, das sich durch eine Alltagspraxis des Wohnens konstituiert. Der vornehmlich diskurstheoretisch verwendete Begriff des Dispositivs bietet eine konzeptuelle Klammer für »Diskurse, Praktiken, Institutionen, Gegenstände und Subjekte als Akteure, als Individuen und/oder Kollektive, als Handelnde oder ›Erleidende‹« (Bührmann/Schneider 2008: 68). Für die Konturierung des Forschungsgegenstands fungierte dieser theoretische Referenzrahmen jedoch in erster Linie als eine orientierende Hintergrundfolie, von der sich auch die sozialhistorischen Schlaglichter herleiten, die der Empirie vorangestellt sind. Diese theoretische Folie ist konzeptuell interessant, weil sie dazu einlädt, das ›gewohnte‹ Zusammenleben als Familie als ein Konglomerat von Praktiken, Materialitäten, diskursiv präformierten Deutungsmustern und Subjektverhältnissen zu begreifen, das sozialhistorisch wie im empirischen Einzelfall in vielerlei Hinsicht permanenten Verschiebungen und vielfältigen gesellschaftlichen Einflüssen unter-

Gaston Bachelard hebt in seiner Poetik des Raumes vor dem Hintergrund der Psychoanalyse die konkreten Lokalisierungen des biographischen Gedächtnisses in den Räumen der Kindheit hervor. Durch die Träume, in denen solche Räume wieder erlebt werden, auch wenn sie vielleicht einer fernen Vergangenheit angehören, wird nach Bachelard eine Verbindung zwischen ›inkoporierter‹ Topographie und biographischer Erinnerung offenkundig. »Die Bilder des Hauses bewegen sich in zwei Richtungen: sie sind in uns ebenso, wie wir in ihnen sind« (Bachelard 2003: 26f.; vgl. auch Baudrillard 2001: 24). 10 Zum Mitwirken von Artefakten an der Alltagspraxis vgl. aus einer wissenssoziologischen Perspektive Latour 2001, 2002: 211ff. Auch in der Familienforschung wird dieser ›Sachverhalt‹ einer Wirksamkeit ›vorarrangierter‹ Umgebungen reflektiert. Denn Eltern nutzen ein mehr oder weniger implizites oder reflexives Wissen dieser Wirkkräfte, um Erziehungsziele an eine gestaltete Umgebung zu delegieren (vgl. Parke/Buriel 1997: 468; Schneewind 2000: 193f.). 9

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liegt. Vor diesem Hintergrund wird das ›gewohnte‹ Zusammenleben als ein alltagspraktischer Lebenszusammenhang konturierbar, in dem sich einerseits eingerichtet wird, der andererseits jedoch mit den Entwicklungen der Familienmitglieder und ihrer Lebensbedingungen auch grundsätzlich dynamisch und im Wandel ist. Empirisch wird das ›gewohnte‹ Zusammenleben als Familie in dieser Studie durch kontrastierte Fallanalysen mit zwei unterschiedlichen ›Blickeinstellungen‹ fokussiert. Zum einen in Hinblick auf eine Lokalisierungspraxis im Rahmen des Zusammenlebens durch die Strukturierung und Organisation des Alltags innerhalb der Lebensführung. Diese ist nicht auf ein ›Zuhause‹ begrenzt, sondern auf eine translokale Koordination von Aufenthalts- und Bewegungsmustern bezogen, die durch Mobilitäts- und Kommunikationsmittel miteinander verbunden werden. Die zweite Blickeinstellung rückt gewissermaßen ›näher‹ an die Alltagspraxis des Wohnens heran, indem ihre Einbettung in Materialitäten und darauf bezogene Positionierungsweisen und Verhaltensmodellierungen fokussiert werden. Mit dem Arrangement bei Tisch, als hochgradig standardisierte Realisierungsweise von Kopräsenz im Familienleben, wird dessen ›Feinabstimmung‹ in ihrer räumlichen Situierung in den Blick genommen. Für die beiden Blickeinstellungen sind primär zwei methodische Verfahren genutzt worden: Erstens wurden Gruppeninterviews zur Praxisgeschichte und Alltagsorganisation geführt, sozusagen für eine ›diachrone‹ und eine ›strukturelle‹ Perspektive, und zweitens wurde die alltagspraktische Ordnung in situ teilnehmend und videobasiert beobachtet. Hinsichtlich der Hervorbringung eines gemeinsamen Alltags im Zusammenleben ist seit den 1990er Jahren mit dem Konzept der alltäglichen Lebensführung untersucht worden, welche Organisationsprozesse und individuellen Leistungen, die als Kooperationsmuster im Familienleben gemeinhin ungleich verteilt sind, einem verbindenden Familienalltag zugrunde liegen (vgl. Jurczyk 1993; Rerrich 1988, 1993, 1994).11 Damit das Zusammenleben als Familie »nicht zu einer Summe von

11 Auch im siebten Familienbericht wird festgehalten, dass eine partnerschaftliche Arbeitsteilung der Eltern im Haushalt als Idealvorstellung inzwischen weit verbreitet sei, jedoch »insbesondere routinemäßig anfallende Arbeiten der täglichen Versorgung sowie die Gesamtkoordination und -organisation des Alltags und schließlich auch die ›Gefühlsarbeit‹ [mit Blick auf heterosexuelle Paarbeziehungen] weitgehend den Frauen überlassen« blieben (BMFSFJ 2006: 91f.; meine Einfügung). Seit der Nachkriegszeit habe zwar eine intensive technische Rationalisierung zu Entlastungen in der ›klassischen‹ Hausarbeit geführt, dafür sei aufgrund der Zunahme von Verflechtungen jedoch »an den Schnittstellen zu den verschiedenen Institutionen, von denen Haushalte Güter und Dienstleistungen beziehen«, eine »neue Hausarbeit« hinzugekommen (Thiele-Wittig 2003: 4). Mit der Technisierung der Haushaltsführung sind außerdem auch die Ansprüche gestiegen (vgl. Rinderspacher 1992: 14). Zur Aufgabenverteilung von Fürsorgeleistungen

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Einzel-Leben« zerfranse, sondern alltagspraktisch für die Familienmitglieder auch Relevanz hat, seien vielseitige Organisationsleistungen zu erbringen (Jürgens 2001: 36). Tagesrhythmen und -abläufe müssen phasenweise aneinander angeglichen und koordiniert, die Familienbeziehungen »aktiv gestaltet und gepflegt« werden, wofür »nicht nur gemeinsame Interpretations- und Deutungsschemata, sondern auch konkrete Arrangements individuellen Verhaltens« erforderlich seien. Kerstin Jürgens sieht das Familienleben daher auf einer separaten emergenten Organisationsebene, die sie von der individuellen Lebensführung unterscheidet (ebd.: 38ff.). Diese »familiale Lebensführung« resultiere aus einem Zusammenspiel verbindender Praktiken und semantischer Sinnkonstruktionen, wie Alma von der Hagen-Demszky weiter ausführt.12 Sie werde zwar durch individuelle ›Herstellungsleistungen‹ hervorgebracht, sei als »System von Lebensführungen« aber weniger steuerbar (vgl. Hagen-Demszky 2006). Die Bandbreite an Aktivitäten, die in Auseinandersetzung mit den sich wandelnden Lebensumständen und den sich weiterentwickelnden Orientierungen geleistet werden, ist im Anschluss an das Konzept der Lebensführung auf interaktionstheoretischer Grundlage mit dem programmatischen Schlagwort einer ›Herstellung von Familie‹ bzw. auch als Doing Family gefasst worden.13 Weil der Fokus aus einer interaktionstheoretischen Perspektive primär auf das Ausagieren persönlicher Beziehungen gerichtet ist (vgl. Schier/Jurczyk 2007), wird aber eher am Rand angemerkt, dass eine verbindende Praxis des Familienlebens nicht ›im leeren Raum‹ stattfindet, sondern durch Objektivationen des Familienlebens mit getragen wird (vgl. Jürgens 2001; HagenDemszky 2006). Die Objektivationen im Zusammenleben als Familie sind in einem Forschungsprojekt des Sonderforschungsbereichs ›Kulturen des Performativen‹ mit ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt worden, das in kulturwissenschaftlicher Blickweise gemeinsame Rituale wie die Familienmahlzeit unter dem Konzept des Per-

und Haushaltsführung bei doppelter Erwerbstätigkeit vgl. Schulze Buschoff 1996; Blossfeld/Hakim 1997; Setzwein 2004; Solga/Wimbauer 2005; Schulz/Blossfeld 2006, 2010; Grunow/Schulz/Blossfeld 2007; Burkart 2007; Bauer 2009. 12 ›Lebensführung‹ kann als ein habituelles Schema der Alltagsgestaltung gefasst werden, das durch Entwürfe geleitet ist. Der Begriff ist in der Handlungstheorie Max Webers verwurzelt (vgl. Raab/Soeffner 2004: 342) und handlungstheoretisch eher ›individualistisch‹ angelegt, was die Konzeption einer separaten Organisationsebene ›familialer‹ Lebensführung zur Konsequenz hat (vgl. Nissen 2001; Jurczyk 2002). 13 Vgl. Jurczyk/Lange 2002; Hagen-Demszky 2006; Schier/Jurczyk 2007; Jurczyk/Lange/ Thiessen 2014. Das Doing kehrt eine sozialkonstruktivistische Perspektive auf ›soziale Tatsachen‹ hervor; vgl. etwa »Doing Gender« (West/Zimmerman 1987) oder »Doing Culture« (Hörning/Reuter 2004).

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formativen untersucht hat.14 Durch Rituale sind die Familienmitglieder in besonders dichter und verbindlicher Weise aufeinander eingestellt und in einer kollektiven Praxis untereinander abgestimmt. In familienspezifisch gestalteten Arrangements werde Gemeinschaftlichkeit füreinander ›in Szene gesetzt‹, indem die Beteiligten körperlich in gemeinsame Ablaufmuster eingebunden sind. In Einzelfallanalysen wird daher rekonstruiert, wie ein familiengeschichtlich generierter Erfahrungsraum, die konkreten Materialitäten des Wohnbereichs und die gewohnte Organisation von Zeit und Raum an der Hervorbringung von Gemeinschaftlichkeit und der Bearbeitung von Differenzen im Rahmen des Zusammenlebens beteiligt sind (vgl. Audehm/Zirfas 2000, 2001). Das Interesse richtet sich in diesen Studien besonders auf einen familienspezifischen Stil der alltagspraktischen Ordnung im Ritual, der im Umgang miteinander wie auch mit den Artefakten zur Geltung kommt und die Familienmitglieder verbindet. Ritualen komme dabei die »Funktion der kommunikativen Stabilisierung, der Identifikation, der Normierung von Haltungen und Erwartungen« zu, wobei sich in einem familiengeschichtlich generierten Modus der Differenzbearbeitung wiederkehrend aneinander ›abgearbeitet‹ und habituell angeglichen wird. Denn ein gemeinsamer Umgangsstil werde ebenso in Konfliktsituationen wie im einvernehmlichen Miteinander bekräftigt (Audehm/Zirfas 2001: 112f.; vgl. Gebauer/Wulf 2003).15 Besonders zu den gemeinsamen Mahlzeiten verdichte sich das Familienleben als ›gewohntes‹ Zusammenleben in einem formalisierten und repetitiven Arrangement der wechselseitigen Abstimmung von Verhaltensweisen, das aus diesem Grund als ein bedeutsamer Rahmen gemeinsamer Sozialisation wie auch als ein prädestinierter Ort für Erziehungsgeschehen im Generationenverhältnis aufgefasst wird (vgl. Zirfas 2004, Audehm 2007, 2008; Audehm/Wulf/

14 Der Begriff des Performativen wird interdisziplinär mit Bezug auf Sprach- und Kulturphilosophie sowie Ritual- und Performance-Theorien disparat verwendet, betont aber mehrheitlich die Prozesshaftigkeit eines szenischen Vollzugsmoments, durch das soziale Wirklichkeit hervorgebracht wird – und befindet sich daher in theoretischer Nähe zum ethnomethodologischen Schlagwort des ›Doing‹. Beide betonen einen ›Anti-Essentialismus‹ hinsichtlich vermeintlich stabiler sozialer Kategorien. Das Konzept des Performativen reflektiert besonders die Körperlichkeit mit ihrer Einbettung in ein soziales Handlungsfeld, dessen Vollzugsbedingungen nicht vollständig verfügbar und überschaubar sind (vgl. Fischer-Lichte/Wulf 2001; Wulf/Göhlich/Zirfas 2001; Wirth 2002; Hempfer/ Volbers 2011). 15 In dieser Hinsicht schreibt auch Angela Keppler über das Tischgespräch im Familienleben, dass bei Ansichten zu Alltagsthemen zwar wenig Einigkeit bestehen müsse, im Zusammenleben jedoch gemeinsame Verfahrensweisen ausgebildet würden, sich darüber zu verständigen (Keppler 1995: 10).

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Zirfas 2007).16 Die vorliegende Studie ist aus diesem Forschungszusammenhang hervorgegangen und schließt an diesen an, richtet den Fokus jedoch weniger auf das Rituelle des Familienlebens. Im ›gewohnten‹ Zusammenleben als Familie bildet sich ein Erfahrungsraum gemeinsamer Sozialität, der die Zugehörigen habituell verbindet. Mit Blick auf die empirische Bildungsforschung der vergangenen Jahre und ihr aktuelles Interesse am Familienleben hat Hans-Rüdiger Müller darauf hingewiesen, dass eine Fokussierung auf Fähigkeiten und Kompetenzen hinsichtlich der Zugangschancen von Kindern zu Bildungsinstitutionen und eine entsprechende Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit zwar äußerst wichtig seien (vgl. Nauck/Diefenbach/Petri 1998; Baumert/Schümer 2001; Ehmke u.a. 2004). Potentiell könne aber auch eine normative Blickverengung drohen, da die Bedeutsamkeit des Familienlebens für Sozialisations- und Bildungsprozesse nicht auf soziale Platzierungschancen reduziert werden sollte (vgl. Büchner 2003; Grundmann u.a. 2003). Aus kulturanthropologischer Perspektive begreift Müller das familiale Zusammenleben als einen »Ort eigendynamischer Prozesse und vielfältiger Differenzerfahrungen«, deren Bearbeitung sozialisationstheoretisch bereits für sich »ein genuines Bildungspotential« zuzusprechen sei (Müller 2007: 143). Den »Moment der Differenz« betrachtet er als die strukturelle Vorbedingung für einen Prozess kultureller Reproduktion, die durch eine »Überschreitung des jeweils Gewordenen« angetrieben werde und das Familienleben in seinem eigenen

16 Unter Sozialisation wird aus subjektorientierter Perspektive gemeinhin die Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der sozial durchformten Umwelt mit einem Fokus auf die Entwicklung sozialer Handlungsfähigkeit verstanden (vgl. Geulen/Hurrelmann 1980; Tillmann 2007: 10), wobei diese im Anschluss an Pierre Bourdieu – unter Berücksichtigung der sozialräumlichen Bedingungen des Aufwachsens – auch als Habitus-Genese formuliert werden kann, hinsichtlich einer Persönlichkeitsstruktur mit relativ dauerhaften »Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen«, die körperlich fundiert sind (vgl. Hurrelmann/Grundmann/Walper 2008: 25). Erziehung kann in Relation dazu als ein Interaktionsverhältnis gefasst werden, das im Rahmen einer pädagogischen Ordnung auf eine Erziehungsabsicht (und -legitimation) bezogen ist, wobei sich pädagogisches Handeln und Gestalten gar nicht trennscharf gegenüber anderen Interaktionsund Gestaltungsprozessen des Familienlebens abgrenzen lässt (vgl. Schneewind 2000: 193f.). In der vorliegenden Studie wird der Sozialisationsbegriff aus praxistheoretischer Perspektive in zwei ›Blickrichtungen‹ gefasst – sowohl als Subjektivierungsprozess, im Sinn einer Entwicklung der Persönlichkeit, wie auch als Prozess der Herausbildung gemeinsamer Sozialität, im Sinn einer »Kultivierung des Zusammenlebens« – wobei sich beide Prozesse wechselseitig bedingen (vgl. Grundmann 2006: 24ff.; Hurrelmann/ Grundmann/Walper 2008: 16f.).

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Modus Operandi wiederkehrend aktualisiere. In der Bearbeitung ihres Zusammenlebens würden allen Beteiligten reflexive Distanznahmen gegenüber der gemeinsamen Alltagspraxis und ein »Sichverhalten zu den eigenen Dispositionen« abverlangt, wodurch sich in dieser gemeinsamen Entwicklungsgeschichte habituell aufeinander eingestellt werde (ebd.: 144, 147). Von Dieter Claessens übernimmt Müller die Charakterisierung des Familienlebens als eine »vibrierende Einheit«, »in der ein komplexes Geflecht von unterschiedlichen sozialen Beziehungen und Sphären immer wieder in ein labiles Gleichgewicht gebracht werden muss« (ebd.: 154). Mit dem Fokus auf die »kollektive Erlebnisschichtung« durch eine verbindende Praxisgeschichte, aus der ein familialer »Eigensinn« emergiere, greift er auch den Begriff des ›konjunktiven‹ Erfahrungsraums auf, den Ralf Bohnsack im Anschluss an Karl Mannheim ausgearbeitet hat – als habituelle Übereinstimmungen innerhalb eines gemeinsamen Lebenszusammenhangs, »in dem die kollektiv geteilten Erzeugungsregeln konkreten Verhaltens, Wahrnehmens, Denkens und Fühlens als fraglos gegeben fungieren« (ebd.: 149). In der vorliegenden Untersuchung wird dieser Erfahrungsraum in Hinsicht auf die Orts- und Raumbezüge im Familienleben befragt – mit Blick auf eine Alltagspraxis, die eine ›gewohnte‹ Ordnung einerseits hervorbringt und die andererseits in diese eingebettet ist. Damit einher geht eine Konzeptualisierung des ›gewohnten‹ Zusammenlebens als Ausformung in einem fallspezifischen Verhältnis von Virtualität, Objektivation und performativer Aktualisierung. Einerseits bezieht der Rahmen des Zusammenlebens seine Kontinuität aus einem ›Familiensinn‹, dem der Erfahrungsraum einer gemeinsamen Praxisgeschichte zugrunde liegt. In der Virtualität dieser Rahmung kann eine spezifische Verbundenheit (auch als lokale Zugehörigkeit) über längere Abwesenheiten unbeschadet bleiben. Andererseits wird insbesondere seit dem 19. Jahrhundert eine befestigte Sphäre des Zusammenlebens durch Objektivationen symbolisch stabilisiert und abgesichert, die auf das gemeinsame Zusammenleben verweist und Zusammenhalt manifestiert – ohne diesen gewährleisten zu können. Der Begriff der Objektivationen ist dabei nicht auf dingliche Materialitäten beschränkt. Er kann ebenso auf Narrationen, kodifizierte Verhaltensmuster wie Rituale oder auch auf Bilder bezogen werden. Das Zusammenleben als Familie ist weder durch seine spezifische Subjektivierung noch durch Objektivationen einfach gegeben. Von Zusammenleben kann nur dann die Rede sein, wenn der Rahmen wiederkehrend aktualisiert wird – wofür Situationen der Kopräsenz konstitutiv sind. Das ›gewohnte‹ Zusammenleben ist daher als etwas Dynamisches aufzufassen, das zwar materiell stabilisiert, aber nur performativ, in einer Praxis des Zusammenlebens, aufrecht erhalten und lebendig gehalten werden kann. Seine Kontinuität wird abgesichert, indem sich nicht nur durch Interaktion aufeinander eingestellt, sondern innerhalb eines dynamischen

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Lebenszusammenhangs von Subjektverhältnissen, verbindender Alltagspraxis und Materialitäten eingerichtet wird. Das ›gewohnte‹ Zusammenleben ist aber nicht nur hinsichtlich der fallspezifischen Ausformungen einer gemeinsamen Alltagspraxis dynamisch. Auch in sozialhistorischer Perspektive haben sich das diskursive Verständnis, die soziale Organisationsweise und die Bedeutsamkeit des Zusammenlebens als ›Familie‹ gewandelt. Weil dieser institutionalisierte Lebenszusammenhang eine Geschichte hat, aus der heraus sich die Ausformungen des Familienlebens in ihrer Vielfalt wie auch in ihrer schematischen Ähnlichkeit bestimmen, beginnt das zweite Kapitel mit sozialhistorischen Schlaglichtern und einer damit verbundenen Begriffsgeschichte zwischen Haushaltszugehörigkeit und Verwandtschaftlichkeit. Dabei wird nachgezeichnet, wie sich in der west- und mitteleuropäischen Sozialgeschichte allmählich sowohl das Verständnis wie auch die Bedeutung des Zusammenlebens als Familie auf einen verwandtschaftlich begründeten ›Kern‹ beschränkt und sich die Organisationsweise naher persönlicher Beziehungen auf den familialen Lebensbereich ›konzentriert‹. Diese mentalitätsgeschichtliche Eingrenzung des Zusammenlebens als Familie wurde von einem Wandel der Wohnform begleitet, durch die ein moderner ›Familiensinn‹ objektiviert und historisch sozusagen ›befestigt‹ worden ist. Das häusliche Familienleben wurde durch diese Art des Wandels ›nach außen‹ hin immer wirksamer abgeschirmt und innerhalb der Binnensphäre zunehmend durch Verhaltensstandards reglementiert. Das Konzept des ›gewohnten‹ Zusammenlebens soll diesen Zusammenhang von verbindender und verbindlicher Alltagspraxis, der stabilisierenden ›Einbettung‹ in Materialitäten und entsprechender Subjektivierungen aus einer praxistheoretischen Perspektive aufgreifen. Als Grundlage einer primär virtuellen Rahmung des Zusammenlebens wird zum Ende des Kapitels ein Erfahrungsraum bestimmt, durch den eine Kontinuität auch dann gewahrt bleiben kann, wenn die individuellen Mobilitäts- und Aufenthaltsmuster der Familienmitglieder stark divergieren und sich die ›äußeren‹ Umstände im Zeitverlauf wandeln. Als Übergang zum Hauptteil werden im dritten Kapitel erstens der ethnographische Weg bis zur rekonstruktiven Ausarbeitung der empirischen Fallstudien sowie zweitens, und damit verbunden, die methodologischen und grundlagentheoretischen Positionen dargelegt. Während die empirischen Rekonstruktionen zuvorderst auf audio-visuelle Aufzeichnungen bezogen sind, ist der ethnographische ›Feldaufenthalt‹ mit einer Positionierung des Forschenden innerhalb der Erhebungssituation in erster Linie ›epistemologisch‹ begründet. Die körperliche Involvierung, ein sinnlich multimodaler Kontakt mit der Erhebungssituation, wird als Voraussetzung für eine zur Lebenswirklichkeit der Forschungsteilnehmenden hin sich öffnende Erfahrungswelt desjenigen gesehen, der anschließend über diese

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Lebenswirklichkeit der Teilnehmenden schreibt. Diese Haltung der Ethnographie beruht auf der Annahme, dass eine körperliche Kontaktnahme in anderer Weise für die Wirklichkeit der Teilnehmenden sensibilisiert, als es allein die distanzierte Betrachtung des Aufzeichnungsmaterials vermag. Der Hauptteil im vierten Kapitel enthält zwei empirisch ausgerichtete Unterkapitel, die von einer Reflektion zum familialen Wohnen eingeleitet werden. In diesen Überlegungen werden ein abgesicherter Möglichkeitsraum für Kopräsenz und deren Aktualisierung in Situationen, die in einer familiären Umgebung lokalisiert sind, als konstitutiv für das Zusammenleben als Familie angesehen. Vor dem Hintergrund einer Bedeutungszunahme virtueller Räume für die Organisation persönlicher Beziehungen findet in Hinblick auf das Familienleben eine ausführliche Diskussion von Phänomenen der Kopräsenz und der Anwesenheit ›zuhause‹ in Abgrenzung zu technikbasierten Kontaktmöglichkeiten statt. Die anschließenden beiden Unterkapitel rekonstruieren die Organisation von Kopräsenz in zwei unterschiedlichen ›Blickeinstellungen‹ anhand von kontrastierten Falldarstellungen. In Hinblick auf die ›Koordination und Koordinaten‹ zur Hervorbringung ›geplanter‹ Kopräsenz stehen die Strukturierungen einer gemeinsamen Zeitordnung und die Konstruktion von Ortsbezügen im Vordergrund, auf deren Grundlage ›familiäre‹ Räume des Zusammenlebens hervorgebracht werden. In dieser ersten, ›weiten‹ Blickeinstellung auf die alltägliche Lebensführung ist eine Binnensphäre des Zusammenlebens weder in zeitlicher noch in räumlicher Hinsicht einfach gegeben, sondern muss in Abstimmung mit anderen institutionellen Einbindungen und divergierenden Interessen im Rahmen des Zusammenlebens ausgestaltet werden, woran nicht alle Familienmitglieder in gleicher Weise und gleichem organisatorischen Aufwand und Umfang beteiligt sind. Die erforderliche Synchronisierung in Bezug auf ›gewohnte‹, für alle Zugehörigen selbstverständliche Orte erfordert nicht nur Einpassungen der Lebensführung, sondern auch eine Differenzbearbeitung zwischen gemeinschaftlicher Rahmung und den darin eingebundenen, sich auch ›außer Haus‹ weiterentwickelnden Subjektivitäten. Die Blickeinstellung rückt im zweiten Unterkapitel gewissermaßen ›näher‹ an die alltagspraktische Ausformung des Familienlebens heran. Mit der Fokussierung auf ›Arrangement und Reglements‹ steht nicht mehr die Alltagsorganisation in der Lebensführung, sondern die situative ›Feinabstimmung‹ der Verhaltensweisen in einer für das Familienleben besonders typischen, kulturhistorisch standardisierten Realisierungsweise im Vordergrund. In der zeitlichen und räumlichen Organisation von gemeinsamer Kopräsenz bei Tisch zeigt sich besonders verdichtet, wie eine alltagspraktische Ordnung mit ihren wechselseitigen Positionierungen unter Einbeziehung der Materialitäten aktualisiert und innerhalb der ›gewohnten‹ Umgebung stabilisiert wird. In der Montage von szenischen Rekonstruktionen werden

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Divergenzen und Konvergenzen der Orientierungen konturiert und familienspezifische ›Logiken‹ aufgezeigt, in denen die Spielräume ausagiert werden. Jürgen Hasse sieht im Wohnen eine »Subjektivierungspraxis«, in der sich das eigene Leben als »Verräumlichungspraxis« ausdrücke (Hasse 2009: 32, 39). Eine solche Verräumlichungspraxis schlägt sich im familialen Zusammensein besonders bei Tisch auch als eine spezifische Machtkonstellation nieder, indem mehr oder weniger erfolgreich Verhaltensweisen modelliert und sich selbst wie auch gegenseitig auf je spezifische Weise im Fühlen, Denken und Tun Raum gegeben wird.

2 Befestigtes Zusammenleben

Seit dem ausgehenden Mittelalter hat sich in Europa das Zusammenleben als Familie umfassend gewandelt – hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Muster der alltäglichen Lebensführung, der Umgangsformen und -normen, der rechtlichen und moralischen Kodifizierung sozialer Verhältnisse, der alltagspraktischen Beziehungen zu den Dingen, ihrer räumlichen Organisation, und nicht zuletzt auch in Hinblick auf die Verhältnisse der Menschen zu sich selbst. Das Zusammenleben als Familie hat in seinen unterschiedlichen Realisierungsweisen eine Geschichte, der in diesem Kapitel ebenso nachgegangen werden soll, wie einer Konzeptualisierung des ›gewohnten‹ Zusammenlebens als ein Dispositiv aus Materialitäten, Subjektverhältnissen und einer Alltagspraxis des Wohnens, die sich in verbindenden Rhythmen und Raumbezügen des Familienlebens konstituiert. Ausgehend von einer sozialgeschichtlichen Sicht auf das Zusammenleben in West- und Mitteleuropa wird zu Beginn des Kapitels kenntlich gemacht, weshalb dabei nicht einfach von ›Familie‹, sondern vom ›Zusammenleben als Familie‹ die Rede ist. Die Formulierung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass der Familienbegriff einerseits historisch und empirisch nicht ohne Weiteres auf einzelne Wohn- und Haushaltsgemeinschaften eingrenzbar ist, sondern unscharfe Grenzen aufweist, andererseits im alltäglichen Sprachgebrauch aber unproblematisch auf einen Rahmen des Zusammenlebens bezogen wird. Auch diese Rahmung kann allerdings uneindeutiger sein, als die Wortwahl glauben lässt; und sie bleibt auf eine performative Bekräftigung in der Alltagspraxis verwiesen. Die Auseinandersetzung mit dem Familienbegriff im ersten Teil des Kapitels kann als programmatisch dafür angesehen werden, was das gesamte Kapitel für die Thematik leisten soll. Zum einen werden der empirischen Blickweise historische ›Schlaglichter‹ zur Genese des modernen Verständnisses eines ›Zuhause‹ als familiäre Binnensphäre vorangestellt. Der für die europäische Gegenwart typischen Ausformung einer alltagspraktisch, architektonisch und emotional vergleichsweise exklusiven familiären ›Sphäre‹ des häuslichen Zusammenlebens ging ein langer

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und keineswegs homogener mentalitätsgeschichtlicher Wandel voraus, der über mehrere Jahrhunderte institutionalisiert und als gelebte Wirklichkeit allmählich objektiviert wurde. Aktuelle Tendenzen der Pluralisierung und Dynamisierung des Zusammenlebens als Familie erhalten dadurch einen historischen Hintergrund, der die Kontingenz der Realisierungsweisen vor Augen führt. Die sozialgeschichtlichen ›Schlaglichter‹ dienen der Beleuchtung einer ›genealogischen‹ Dimension, die bei einer ausschließlich gegenwartsbezogenen Blickweise verborgen bleiben muss. Zweitens galt es in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material, Begriffe zur grundlagentheoretischen Einbindung herauszubilden, deren Erläuterung nicht nur in diesem Kapitel, sondern auch ›zwischendrin‹ Raum gegeben wird. Nach einer Klärung des Familienbegriffs im ersten Teil wird darauf folgend der historische Wandel des Familienverständnisses in Europa unter einem veränderten Blickwinkel wieder aufgegriffen. Der Fokus richtet sich hier auf einen fundamentalen Wandel der häuslichen Lebensweise, die seit dem 18. Jahrhundert vor allem im städtischen Bürgertum auf ein modernes Leitbild der ›bürgerlichen Kernfamilie‹ konzentriert ist. Mit einem anfangs in Adel und Großbürgertum aufkeimenden, dann im Bürgertum florierenden ›Familiensinn‹ gehen praktische und architektonische Abgrenzungen einher, die einen allmählichen Wandel des Familienverständnisses befördern, dessen Eingrenzung auf ein emotional begründetes Familienleben ›im kleinen Kreis‹ bis heute fortwirkt. Der Historiker Philippe Ariès lenkt hinsichtlich dieses sozialstrukturellen Wandlungsprozesses die Aufmerksamkeit auf ein Zusammenwirken von Mentalitäten, Alltagspraxis und Materialitäten, das er an den Veränderungen des Wohnens, der Architektur und der Möblierung beschreibt. So werden Einrichtungsgegenstände wie Tisch und Bett zunehmend weniger provisorisch aufgestellt, sondern als ›feste‹ Anlaufstellen des häuslichen Lebens dauerhafter installiert. Der historische Bedeutungszuwachs einer nunmehr stärker ausgestalteten und emotional unterfütterten Binnensphäre des Familienlebens wird schließlich im dritten Teil mit Blick auf ihre kulturhistorische Objektivierung reflektiert. Diese Blickweise schließt an die vorausgehende Sicht auf einen Mentalitätswandel mit seinen materiellen Befestigungen an, indem separierte Raumordnungen und ihre Auswirkungen auf gewandelte Verhaltensstandards fokussiert werden. Im Anschluss an die Arbeiten von Norbert Elias benennt der Begriff der Verhäuslichung eine Inkorporierung von Bewegungs- und Umgangsformen im Modus einer disziplinierenden Konditionierung durch das Zusammenwirken von Architektur, Diskursen und routinierter Alltagspraxis. Der Begriff charakterisiert in seiner Ausarbeitung durch Jürgen Zinnecker ein allgemeines kulturhistorisches Prinzip der festen Einrichtung ausdifferenzierter und vorarrangierter Handlungsräume mit jeweils spezifisch geltenden Verhaltensstandards. Diese erfordern die habituelle

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›Kultivierung‹ eines flexiblen Verhaltensrepertoires in Hinblick auf gesellschaftlich ausdifferenzierte und materiell abgeschirmte Sozialräume – wobei das ›gewohnte‹ Zusammenleben als Familie als ein spezifischer Erfahrungsraum im Sozialisationsprozess fungiert. Im vierten Teil dieses Kapitels findet in Hinblick auf die Empirie eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des ›gewohnten‹ Zusammenlebens statt. Dazu wird eine theoretische Differenzierung der Begriffe ›Routine‹ und ›Gewohnheit‹ aufgegriffen und aus praxistheoretischer Perspektive diskutiert, um aus dieser Diskussion ein eigenes begriffliches Konzept zum ›gewohnten‹ Zusammenleben zu entwickeln. Dieses fasse ich nicht allein als personalen Beziehungsrahmen, sondern als einen vertrauten und verhältnismäßig dauerhaften Zusammenhang von ›eingelebter‹ Umgebung, typischen Situations- und routinierten Verhaltensmustern, der durch eine Praxis des Wohnens zusammengehalten und wiederkehrend aktualisiert wird. Der Rahmenbegriff verweist diesbezüglich auf eine Kontinuität des Zusammenlebens, auch wenn die Zugehörigen im Alltag divergierenden Interessen und ganz verschiedenen Mobilitätsmustern nachgehen. Hinsichtlich des Zusammenlebens als Familie wird schließlich im fünften und letzten Teil dieses Kapitels der Begriff des Rahmens als eine virtuelle soziale Form reflektiert, die durch eine Praxis des Wohnens aktualisiert und ›lebendig‹ gehalten wird. In diesem Teil wird auch vom Erfahrungsraum die Rede sein, der aus dem ›gewohnten‹ Zusammenleben hervorgeht. Der Begriff des Erfahrungsraums verweist auf die strukturierende Kraft, die von dem gemeinsamen Lebenszusammenhang auf die habituellen Dispositionen jedes Einzelnen ausgeht. Einerseits machen alle Familienmitglieder fortwährend individuelle Erfahrungen – zumal sie sich alltäglich an unterschiedlichen Orten, im Kontakt mit verschiedenen Milieus bewegen. Andererseits bringt die Einbettung in diesen vertrauten Lebenszusammenhang mit seiner Alltagsroutine, den eingelebten Räumen und emotionalen Beziehungen habituelle Gemeinsamkeiten im Fühlen, Denken und Handeln hervor.

H AUSHALT UND V ERWANDTSCHAFT In Hinblick auf die europäische Sozialgeschichtsschreibung zum Familienleben erläutert Michael Mitterauer, dass es grundsätzlich zwei verschiedene Kriterien gebe, nach denen der Familienbegriff bestimmt werden könne: das Kriterium der Haushaltsgemeinschaft und das Kriterium der Verwandtschaftlichkeit (Mitterauer 1978: 75). In Bezug auf die Gegenwart der ›westlichen‹ Wohlstandsgesellschaften erscheint die Verwandtschaftlichkeit gegenüber dem stärker wandelbaren Faktor des Zusammenlebens als das stabilere Definitionsmerkmal. Im Alltagsverständnis

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können Personen auch dann Teil der Familie sein, wenn sie nicht gemeinsam in einem Haushalt leben – z.B. eine nahestehende Tante, mit der niemals zusammengelebt wurde, oder wenn Jugendliche ihr Elternhaus verlassen haben, um in einer Wohngemeinschaft mit Gleichaltrigen zu leben. Diese mehr oder weniger engen ›Familienbande‹ zwischen Familienangehörigen bleiben zumindest solange bestehen, wie Beziehungen auf der Grundlage von Interaktion gepflegt werden – und juristisch besehen ändert auch fehlender Kontakt nicht unbedingt etwas am formalen Stand der Verwandtschaft als Familienzugehörigkeit. Andererseits weist das Kriterium der Haushaltsgemeinschaft nicht nur im Alltagsverständnis eine besondere Evidenz für den Familienbegriff auf. Das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt erweist sich auch in der historischen Familienforschung als tragfähiges Konzept für eine Blickweise, die über die letzten Jahrhunderte hinaus in die westeuropäische Geschichte zurückreicht. Daher werde die Familie in der englischen Familienforschung auch als »coresident domestic group« bestimmt (vgl. Mitterauer 2009: 96). Diese Fassung des Familienbegriffs auf der Grundlage häuslichen Zusammenlebens ist aus historischer Perspektive jedoch nicht einfach als kleinere personale Einheit unter das Kriterium der Verwandtschaftlichkeit subsumierbar. Denn entgegen dem heute vorherrschenden Verständnis waren Verwandtschaftsbeziehungen in früheren Jahrhunderten der europäischen Geschichte für die Zugehörigkeit und Stellung im Zusammenleben gar nicht unbedingt maßgeblich. So hebt Mitterauer »eine Besonderheit der europäischen Familienverfassung« hervor, die im Kontrast zu vielen außereuropäischen Kulturen »für die Integration von Nichtverwandten in die Haushalts- und Familiengemeinschaft relativ offen« gewesen sei. Die Offenheit sieht er dadurch begründet, dass dem Abstammungsdenken kaum religiöse Bedeutung zukam, so dass unter dem Druck wirtschaftlicher Erfordernisse »freiere Familienformen« anstelle strikt genealogisch orientierter Sozialverbände möglich wurden. »Zumindest vom Hochmittelalter an bis weit ins 19. und 20. Jahrhundert hinein waren europäische Haushalte in Stadt und Land, in den Ober- wie in den Mittelschichten durch das Mitleben solcher zumeist nicht verwandter Personen charakterisiert.« (Ebd.: 99, 18ff.; vgl. Tadmor 2001) Als lokalisierende Metapher für einen häuslich zusammenlebenden Sozialverband ebenso wie für den wirtschaftlichen Gesamtzusammenhang von Gebäudekomplex und Territorium, Menschen, Tieren und Sachgütern, kommt dem ›ganzen Haus‹ in der mittel- und westeuropäischen Sozialgeschichte große Bedeutsamkeit zu. »Das stark am Haus orientierte Gruppenbewusstsein kommt in der Entstehung der Familiennamen sehr anschaulich zum Ausdruck. In Mittel- und Westeuropa sind viele Familiennamen von Hofnamen abgeleitet, insbesondere in Einzelhofgebieten. Im Selbstund Fremdverständnis der Gruppe steht hier der lokale Bezugspunkt im Vordergrund.

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Das kann so weit gehen, dass bei Hofwechsel auch der Familienname gewechselt wird. […] Selbst Dienstboten wurden oft nach dem Hof, auf dem sie jeweils dienten, bezeichnet und nicht nach ihrer Herkunftsfamilie. Diesem stark an der Örtlichkeit der Behausung orientierten Familienverständnis steht ein stärker an der genealogischen Abstammung ausgerichtetes in anderen Regionen gegenüber.« (Mitterauer 2009: 24; vgl. Mitterauer/ Sieder 1977: 23)

Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde das vom lateinischen familia abstammende Wort ›Familie‹ in der deutschen Alltagssprache gebräuchlich, das sich in Anlehnung an das französische Wort famille etablierte (vgl. Schwab 1975: 266; Mitterauer/Sieder 1977: 19). Die beiden vergleichsweise jungen, im Deutschen wie im Französischen damals noch vieldeutigen Worte bezeichneten bis ins 18. Jahrhundert hinein nicht nur Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch interpersonale Abhängigkeitsverhältnisse wie Diener- und Knechtschaft. Sie wurden ebenfalls synonym zur Bezeichnung des ›ganzen Hauses‹ verwendet, im Französischen la maison, womit der häusliche Wirtschaftszusammenhang adressiert sein konnte, oder auch der auf Subsistenzwirtschaft gegründete Verband von Personen, in dem der Verwandtschaftlichkeit nur wenig Bedeutung zugemessen wurde (vgl. Schwab 1975: 268; Mitterauer/Sieder 1977: 14ff.). Sowohl die persönliche Stellung wie auch die Zugehörigkeit richteten sich innerhalb des Sozialverbands vorrangig nach wirtschaftlichen Erfordernissen und den substanziellen Ressourcen. Die Gruppengröße des Hauses war daher je nach wirtschaftlichen Bedingungen fluktuierend. Das ›ganze Haus‹, als lokalisierbare Adresse wie Sinnbild der Haushaltsgemeinschaft, lässt sich bis auf die Lebensform des oikos der griechischen Antike zurückführen, die vormals neben den Bediensteten auch Sklaven mit einschloss (vgl. Brunner 1968). Die »Knechte, Mägde und andere – verwandte oder nicht verwandte – in Hausgemeinschaft lebende Personen« im historischen Rückblick generell als ›familienfremd‹ zu bezeichnen hieße daher, so Mitterauer, von einem Vorverständnis von ›Familie‹ auszugehen, in dem »das Resultat einer späteren historischen Entwicklung als stets vorgegeben« angenommen wird (Mitterauer 1978: 79). Mitterauer zitiert den Definitionsversuch anlässlich einer Volkszählung im Jahr 1777, der eine Phase des begrifflichen Umbruchs im 18. Jahrhundert dokumentiere, bevor der gerade erst in Gebrauch kommende Familienbegriff seine vermeintliche Eindeutigkeit als Verwandtschaftszusammenhang erlangte: »Zu einer Familie sollen alle diejenigen gerechnet und folglich auf dem nämlichen Familienbogen eingeschrieben werden, welche nicht für sich selbst kochen, sondern unter einem und dem nämlichen Hausvater oder Mutter am gemeinschaftlichen Tisch und Brot genährt werden, sie seien verheiratet oder nicht; mithin wird jeder, der andere bei sich zu nähren hat, als ein Familienoberhaupt angesehen.« (Zitiert nach Mitterauer 1978: 80)

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Konzeptionell erschienen »Haus und Familie […] hier schon grundsätzlich getrennt«, so Mitterauer, aber noch immer sei »die Familie ein lokal von der Haushaltsgemeinschaft, nicht von Verwandtschaftsbindungen her definierter Personenverband« (Mitterauer 1978: 80). Die scheinbar eindeutige Greifbarkeit des Familienlebens in dieser Konzeptualisierung als Tisch- und Hausgemeinschaft erweise sich für die sozialhistorische Forschung jedoch gleichwohl als Problem, denn seit der Frühen Neuzeit gehörten gar nicht immer alle miteinander wohnenden Personen »zur Familie als einer Gruppe gemeinsamen Handelns und gemeinsamen Bewusstseins«, sondern konnten graduell sehr unterschiedlich integriert sein, was sich nicht allein nach den Verwandtschaftsverhältnissen bemaß. »Die Stellung von Mägden, Knechten, Inwohnern zur bzw. in der Familie war nicht unterschiedlich je nachdem, ob sie in einem Verwandtschaftsverhältnis standen oder nicht. Die besondere Berücksichtigung von Verwandten kommt aus unserem heutigen Familienverständnis, freilich aus einem Bedeutungsfeld, das von dem der Haushaltsfamilie zu unterscheiden ist. Wenn wir auf der einen Seite vom ›Familienbudget‹ sprechen, auf der anderen Seite von einem ›Familientreffen‹, dann gebrauchen wir den gleichen Begriff auf zwei völlig unterschiedliche Personengruppen bezogen.« (Mitterauer 2009: 96)

Offensichtlich sind im Begriffsverständnis von ›Familie‹ diese zwei verschiedenen Definitionskriterien unterschiedlicher Reichweiten und kultureller Gebrauchsweisen miteinander vermengt und können im alltäglichen Sprachgebrauch auch nicht ohne Weiteres auseinander gehalten werden. Einmal ist der Begriff auf einen kleinen ›Kern‹ beschränkt und darin vorrangig am Kriterium des Zusammenlebens, dem gemeinsamen Haushalten und einem wechselseitigen Zugehörigkeitsgefühl orientiert. Im anderen Fall kann die Extension des Begriffs eine größere Anzahl von Personen umfassen, wobei die Familienbeziehungen – durch modernes biologisches Wissen bestärkt – formal, auch rechtlich, als verwandtschaftlich definiert sind. Die empirischen Grenzen der Familie bleiben besonders in diesem zweiten Fall unscharf. Angehörige, die sonst keinen Kontakt zueinander haben, kommen zu einem ›Familientreffen‹ zusammen oder bleiben diesem fern; zuvor unbekannten Verwandtschaftsbeziehungen kann durch Ahnenforschung nachgegangen werden. Die Soziologin Martine Segalen hebt hervor, dass Verwandtschaftlichkeit vor allem diskursiv organisiert sei, als ein »System sozialer Kennzeichnung, die durch Terminologie erfolgt« (Segalen 1990: 66). Ebenso schreibt die Anthropologin Françoise Zonabend, dass Verwandtschaft »als ein im wesentlichen soziales Faktum« zu verstehen sei, »das sich zwar auch nach biologischen Gegebenheiten von Zeugung und Fortpflanzung richtet, aber symbolisch manipuliert und willkürlich festgelegt werden kann« – was durch die jeweiligen sprachlichen Möglichkeiten

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der Anrede und Benennung von Verwandtschaftsbeziehungen in unterschiedlichen Kulturräumen besonders deutlich werde (Zonabend 1996: 23ff.).1 Im europäischen Alltagsverständnis von ›Familie‹ finden je nach aktuellem Verweisungszusammenhang pragmatisch sowohl das Kriterium der Haushaltsgemeinschaft wie auch dasjenige der Verwandtschaft Anwendung. Zur Differenzierung zwischen der ›eigentlichen‹ Familie und einer ›entfernten‹ Verwandtschaft fungiert ein beweglicher Maßstab persönlicher Nähe. Dabei muss sich im Zentrum der unterschiedlich entfernten Familienangehörigen, sozusagen im engsten Kreis, kein gemeinsamer Haushalt befinden. Ich kann auch alleine leben und dennoch eine Familie haben. Im Bemühen um eine sozialwissenschaftliche Begriffspräzisierung wenden sich Karl Lenz und Lothar Böhnisch gegen eine willkürliche Gleichsetzung von Familie und Haushaltsgemeinschaft, die in vielen Forschungsarbeiten implizit enthalten sei, und plädieren für eine Differenzierung dieser beiden Begriffe (Lenz/ Böhnisch 1997: 47; Fegebank 1997: 168). Sie nehmen dafür eine empirisch begründete Argumentation von Walter Bien und Jan Marbach auf, die vornehmlich in Hinblick auf amtliche Statistiken kritisieren, dass die »Haushaltsbrille« ein verkürztes Bild der Familienbeziehungen zeichne (Bien/Marbach 1991: 13). Diesen könne auch über Haushaltsgrenzen hinaus starke Bedeutsamkeit zukommen, die als solidarisches Unterstützungssystem oder als Interaktionsnetz gepflegt werden. Einer »auf die Haushaltszugehörigkeit verengten Sicht« entziehe sich die komplexe Vielfalt gelebter familialer Beziehungen und somit auch die gelebte Wirklichkeit von ›Familie‹ (ebd.: 4).

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Das Verwandtschaftskriterium wird durch die beiden Achsen der Filiation und der Assoziation begründet: Erstens konstituieren sich Familienbeziehungen durch die Generationenbeziehungen legitimer Abstammungsverhältnisse, die ebenso durch Geburt wie durch Adoption zustande kommen können (Filiation). Zweitens werden verwandtschaftliche Bande auch durch intime Paarbeziehungen bzw. Affinität (›Bruderschaft‹ etc.) geschaffen, die auf der Grundlage von Allianz legitimiert und beglaubigt werden (Assoziation) – wobei diese in manchen Kulturen grundsätzlich niedriger bewertet wird als das reproduktionsorientierte Abstammungsverhältnis (vgl. Tyrell 1983). Winfried Freitag merkt aus historischer Perspektive an, dass Verwandtschaft nichts sei, »was die Betroffenen lediglich in die Pflicht nimmt und in bestimmte Rollen drängt. Bestimmte Eheverbindungen anstrebend, andere meidend, bestimmte Verwandtschaftsbande pflegend, andere vernachlässigend, der Spaltung ihrer Abstammungsgruppe entgegen arbeitend oder sie beschleunigend, sind es die Menschen selber, die die Geschichte ihrer Verwandtschaftsbeziehungen schreiben.« (Freitag 1988: 19) Zu einer ›Denaturalisierung‹ von Verwandtschaftsbeziehungen in neueren Forschungsansätzen der Sozialanthropologie vgl. Carsten 2000.

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Enge Familienbande bestehen auch über einen Rahmen des Zusammenlebens hinaus. So kann sich die Konstellation einer Haushaltsgemeinschaft in diachroner Perspektive wandeln, ohne dass dadurch Familienbeziehungen abgebrochen würden (vgl. Bertram/Marbach/Tölke 1989). Es lassen sich vielseitige Formen von Verflechtungen haushaltsübergreifender Beziehungen in »Mehrgenerationenfamilien« aufzeigen (vgl. Bertram 1995, 2000, 2002; Büchner/Brake 2006) – mitunter auch als ›Hausgemeinschaften‹, die gemeinsam ›unter einem Dach‹, jedoch in getrennten Haushalten lokalisiert sind (vgl. Ecarius 2002; Fuchs 2003). Selbst dauerhafte Paarbeziehungen einschließlich der gesetzlichen Ehe sind nicht in jedem Fall auf einen einzelnen Haushalt begrenzt, was seit den 1980er Jahren unter dem Begriff des ›living apart together‹ reflektiert wird (vgl. Straver 1980; Schlemmer 1995; Schneider 1996). Gegenwärtig rückt auch das Pendeln von Kindern in den Fokus, die unabhängig von ihrer amtlichen Meldung in mehreren Haushalten als zugehörig gelten, z.B. aufgrund einer Trennung ihrer Eltern (vgl. Jensen 2007; Schier/ Proske 2010), und mit dieser Mehrfachzugehörigkeit in verschiedenen Haushalten leben, die unterschiedlich eng miteinander vernetzt sein können. Aus einer interkulturellen Perspektive muss eine Gattenbeziehung mit gemeinsamer Haushaltsführung auch gar nicht unbedingt vorgesehen sein, so wie in matrilinearen Wohnfolgeordnungen, in denen ehelichen Verbindungen nur wenig Bedeutung zugemessen wird und Männer ihre Frauen besuchen, aber nicht mit ihnen zusammen wohnen (vgl. Zonabend 1996: 56ff.). Bezogen auf die Pluralität gegenwärtiger Lebens- und Wohnformen argumentieren Lenz und Böhnisch zudem, ähnlich wie Mitterauer aus historischer Perspektive, dass sich die verschiedenen Angehörigen innerhalb eines gemeinsamen Haushalts unterschiedlich gut integriert fühlen können und von den anderen Haushaltsmitgliedern auch gar nicht unbedingt als ›vollwertige‹ Familienmitglieder empfunden werden müssen, so dass Unterschiede sowohl hinsichtlich der alltagspraktischen und emotionalen Integration wie auch hinsichtlich der rechtlichen Stellung möglich sind – z.B. bei Kostgängern im Haushalt, bei verwandtschaftlichen Pflegeverhältnissen, neu eingezogenen Lebenspartnern und deren ›mit eingebrachten‹ Kindern (Lenz/Böhnisch 1997: 49). Auf der Grundlage einer empirischen, multifaktoriellen Begriffsbestimmung – die unter anderem die Intensität der Kommunikationsbeziehungen, gemeinsame Freizeitaktivitäten und besonders die gegenseitige Wahrnehmung als Familienmitglied berücksichtigt – fassen Bien und Marbach den Familienbegriff deshalb als ein »ego-zentriertes« Netzwerk, das auch nicht-verwandte Mitglieder eines gemeinsamen Haushalts mit einschließen kann (vgl. Bien/Marbach 1991). Die Konzeption als Netzwerk wollen sie allerdings nicht als ein Gegenmodell zum Haushaltsansatz, sondern eher als dessen Ergänzung verstanden wissen, da für sie

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unbestritten sei, dass »gemeinsames Wohnen und Wirtschaften auch heute noch konstitutiv für das Leben in Kernfamilien« sei (ebd.: 4).2 Zwar wenden sie sich gegen eine strikte Beschränkung des Familienbegriffs auf eine Haushaltsgemeinschaft, doch lockern sie andererseits das Verwandtschaftskriterium und stellen eine alltagspraktisch gelebte emotionale Verflechtung von Individuen in den Vordergrund, die durch einen gemeinsamen Haushaltszusammenhang bekräftigt und auf Dauer gestellt wird. Ein Lebenszusammenhang als ›Familie‹ wird durch gemeinsame räumliche und zeitliche Strukturierungen sozusagen ›verdichtet‹, so dass sich besonders im häuslichen Rahmen einer ›gelebten‹ Familienwirklichkeit ein Kernverständnis von Familie bildet.3 Im Kontrast zu dieser »ego-zentrierten« Konzeption stellen Lenz und Böhnisch eine spezifische Beziehungsform in das Zentrum ihres Familienbegriffs – als die kleinste mögliche Einheit realisierten Familienlebens. Diese elementare Beziehung fassen sie mit Bezug auf den Forschungsstand in einer ersten Annäherung als die Mutter-Kind-Dyade (vgl. Eickelpasch 1974: 337), um sie anschließend mit mehr Allgemeinheitsanspruch als zwei aufeinander bezogene Positionen mit einer Generationendifferenz in einem Versorgungs- und Fürsorgeverhältnis zu reformulieren

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Der Begriff network wird auch bereits vom Anthropologen Alfred R. Radcliffe-Brown verwendet, allerdings hinsichtlich der ›Mehrgenerationenbeziehungen‹ zwischen mehreren »Familiensystemen«, wie er das Zusammenleben als Familie in systemtheoretischer Terminologie nennt (vgl. Radcliffe-Brown 1952: 52f.). Nicht nur zwischen biologischer und sozialer Elternschaft ist zu unterscheiden – zu bedenken sind diesbezüglich die medizinischen Fortpflanzungstechnologien oder althergebrachten Möglichkeiten dauerhafter Fürsorge und Adoption (vgl. Peuckert 2005: 233ff., 2007: 36). Auch die Geschlechterrollen sind seit dem 19. Jahrhundert weniger als biologische, sondern vielmehr als historische, sozial bestimmte Rollen interpretierbar geworden (vgl. Nave-Herz 2009: 38ff.; Burkart/Kohli 1989), wobei insbesondere die empirische Gegenwart sogenannter ›Regenbogenfamilien‹, also gleichgeschlechtlicher Elternpaare (vgl. Fthenakis 2000; Stacey/Biblarz 2001; Maier 2009; Rupp 2009), nicht nur geschlechtsbezogene Rollenbilder (gender), sondern auch die vorherrschenden Bilder geschlechtlicher Identität (sex) in Frage stellt. Eine Nominaldefinition von Familie, die auf kirchliche Normvorstellungen heterosexueller Elternschaft beschränkt ist (vgl. Hill/Kopp 2006: 13), erscheint zur Beschreibung sozialer Wirklichkeit hingegen kaum überzeugend – und auch das von Hill und Kopp angeführte Argument einer höheren Begriffspräzision ist keine hinreichende Begründung, wenn kulturelle Kontingenz und Historizität dieser Eingrenzung übergangen werden. Aufgabe der Familienforschung sei eher, so Karl Lenz, die an die verschiedenen »Positionen gerichteten Verhaltenserwartungen in einer Gesellschaft (Rollen), die Umsetzung dieser normativen Vorgaben im Beziehungsalltag von Mutter, Vater, Kind (Rollenhandeln) sowie die Selbstdefinitionen der Positionsinhaber (Rollenidentitäten) zu erfassen« (Lenz 2009: 80).

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– ein Verhältnis, das als konstitutive Voraussetzung für die (Re-)Generierung von Familienleben gelten kann.4 Das anthropologische Erfordernis naher persönlicher Beziehungen, damit Familienleben ebenso wie menschliches Leben überhaupt regeneriert werden kann, fassen sie in Absetzung vom akademischen Essentialismus der 1970er Jahre, in dem Vätern eine solche Versorgung noch gar nicht zugetraut wird, als konstitutives Rollenverhältnis von Kind und sozialer Elternschaft (Lenz/ Böhnisch 1997: 30; vgl. Lenz 2003: 489f.). Mit diesem anthropologischen, reproduktionsorientierten Begriffsverständnis kann von einer Familie dann gesprochen werden, wenn »mindestens eine Mutter-Kind oder Vater-Kind-Beziehung vorhanden ist«, in der für eine nachwachsende Generation Sorge getragen wird (Lenz 2009: 80; vgl. Leeder 2004: 22ff.). Diese analytische Grundlegung des Familienbegriffs bleibt mit ihrer Hervorhebung der Reproduktionsfunktion ebenfalls eng an das Kriterium des Zusammenlebens gebunden. Familienbeziehungen werden zwar über Haushaltsgrenzen hinaus lebendig gehalten und die individuell gelebte Familienwirklichkeit ist auch gar nicht notwendig ›ein Leben lang‹ an Abstammungsverhältnisse gebunden, doch geht das Familienverständnis ›im Kern‹ von den primären, existentiellen Beziehungen während des Aufwachsens aus.5 Das analytische Begriffsverständnis einer elementaren Beziehungsform erfüllt den Zweck, zum einen die Bedeutung sozialer Elternschaft als konstitutiv für den Familienbegriff zu betonen, und zum anderen der eher normativen als deskriptiven Unterscheidung zwischen ›vollständiger‹ und ›unvollständiger‹ Familie entgegenzuwirken (vgl. Lenz 2003: 489; 2005: 11). Das Modell der ›bürgerlichen‹ Kernfamilie aus dem 19. Jahrhundert, verstanden als Gruppe von Mutter, Vater und mindestens einem zugehörigen Kind, bildet weder in kulturvergleichender noch in sozialhistorischer Perspektive eine durchgängig ›standardisierbare‹ Wirklichkeit ab. Wie Heidi Rosenbaum auf den Punkt bringt, impliziert der Begriff der Kernfamilie »trotz seines hohen Abstraktionsgrades« spezifische Realitätsdeutungen. Mit einem bestimmten kulturell geprägten

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Im Alltagsverständnis wird von einer ›Familiengründung‹ gesprochen, wenn durch Geburt oder Adoption eine neue Generation hinzu kommt. Die Rede von ›Ein-Generationen-Familien‹ in Hinblick auf kinderlose Ehepaare ist mit dieser Begriffsbestimmung ein Selbstwiderspruch. Einige sozialphilosophische Ansätze bestimmen den Familienbegriff allein durch eine relative Dauerhaftigkeit persönlicher Beziehungen und geteilter Ressourcen innerhalb eines gemeinsamen Haushalts mit einem Fürsorgeverhältnis (vgl. Rössler 2001: 281ff.). Sie legen sich damit radikal auf das Haushaltskriterium fest, wodurch der Familienbegriff vollständig vom Verwandtschaftskriterium und einem genealogischen Verhältnis abgelöst wird.

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Erfahrungs- und Erwartungshorizont werde vorausgesetzt, »dass die Gruppe aus Eltern (verstanden als Gattenbeziehung) mit ihren Kindern in allen gesellschaftlichen Zusammenhängen als gesonderte lebenspraktisch existiert und erkennbar ist« (Rosenbaum 1982: 27). Ein empirisch generalisierbarer Begriff ist hingegen darauf verwiesen, die kulturhistorisch wandelbare Hervorbringung von sozialer Wirklichkeit zu reflektieren. Einerseits ist das Familienleben zwar als »institutionelles Gefüge mit Werten, Normen, Rollenleitbildern und -vorgaben« zu begreifen, so Werner Schneider, und insofern kommt den gesellschaftlichen Leitbildern eine wirklichkeitserzeugende Kraft zu. Andererseits wird das Familienleben in der konkreten Alltagspraxis und durch fortwährende Deutungen dieser Praxis realisiert und ausgestaltet (Schneider 2010: 243f.). In ›Bottom-up‹-Prozessen verändern sich daher mit dem alltagspraktisch realisierten Familienleben auf lange Sicht auch die vorherrschenden gesellschaftlichen Leitbilder.

F AMILIENLEBEN › IM KLEINEN K REIS ‹ In der europäischen Sozialgeschichte des Zusammenlebens als Familie zeichnet sich seit dem 17. Jahrhundert ein markanter historischer Wandel ab. Das im 20. Jahrhundert als weitgehend typisch geltende Verständnis der ›Kernfamilie‹, die in eine geschlossene häusliche Sphäre eingebettet und an einem ebenso verbindlichen wie exklusiven Familiengefühl orientiert ist, resultiert aus einer Entwicklungsgeschichte moderner Bürgerlichkeit innerhalb eines umfassenden gesellschaftsstrukturellen Wandels. Der moderne ›Familiensinn‹, mit dem die nächsten Verwandtschaftsverhältnisse für das Zusammenleben als Familie maßgeblich bestimmend wurden, breitete sich seit dem 18. Jahrhundert sukzessive auf alle sozialen Schichten aus und hatte sich als allgemeine Lebenswirklichkeit schließlich nach dem zweiten Weltkrieg in Europa weitgehend etabliert (vgl. Peuckert 2005: 9ff.). Bis in das 19. Jahrhundert, bei ärmeren Verhältnissen auch darüber hinaus, wurden Kinder häufig in den Dienst fremder Häuser gegeben (vgl. Herlihy 1985: 159), und in großbürgerlichen und adeligen Familien wurden Kinder noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts »wirkungsvoll vom Leben ihrer Eltern getrennt gehalten«, in denen auch »die Ehegatten in hohem Maß ein voneinander getrenntes Leben mit gesonderten Wohnungen« leben konnten, wie Abram de Swaan erläutert. »Form der Anrede und Art des Umgangs unterschieden sich oft nicht von Formen, die gegenüber Bekannten gleichen Rangs üblich waren« (Swaan 1988: 325). Distanz und persönlicher Umgang in den Beziehungen, die jeweiligen Abgrenzungen und Kontaktmuster im individuellen Sozialleben, formierten sich ausgehend von der Frühen Neuzeit über mehrere Jahrhunderte grundlegend um. Mit der Freisetzung aus traditionellen sozialen Positionierungszwängen, Funktions-

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zusammenhängen und Verbindlichkeiten wurden verwandtschaftlich begründete, nahe Familienbeziehungen allmählich emotional stärker ›unterfüttert‹ und durch eine exklusive häusliche Privatsphäre nachhaltig stabilisiert. Hinsichtlich dieser Entwicklung eines verkleinerten und näher zusammenrückenden Familienkreises ist ein Blick auf die Herkunft des Familienbegriffs frappierend. Das antike Wort familia ist vom lateinischen famulus abgeleitet, das paradoxerweise ›Diener‹ bedeutet, also gerade für den Teil einer vormaligen Haushaltsgemeinschaft steht, der im modernen Sinn des Familienhaushalts schließlich ganz aus dem Familienleben herausgedrängt worden ist. Die familia, vormals ein Begriff der antiken römischen Rechtssprache mit einem »sehr gestreuten Bedeutungsbereich«, bezeichnete die Haussklaven oder auch das Hausvermögen, enthielt aber ebenso eine verwandtschaftliche Bedeutungskomponente. In der Antike wies der Gebrauch des Wortes jedoch »überwiegend auf Abhängigkeitsverhältnisse hin« (Schwab 1975: 256f.). Dieser familia stand der pater familias als Herr des Hauses gegenüber, der im öffentlichen Leben allein als Bürger anerkannt war. »Der ›pater familias‹ und Vollbürger war nicht primär Familienvater, sondern Herr eines Großhaushaltes, im Rahmen dessen Frau, Kinder, Sklaven und Klienten einen abhängigen Rechtsstatus besaßen, wobei die Verfügungsgewalt des Familienoberhaupts ursprünglich selbst das Recht zu ihrer Tötung umfaßte. Sein Rechtsnachfolger war häufig nicht ein leiblicher, sondern ein Adoptivsohn.« (Kaufmann 1990: 14)

Erst während des 18. Jahrhunderts bildeten sich in dem deutschen Wort ›Familie‹ einige der alten Bedeutungsvarianten ganz zurück, »so etwa die Sinnbeschränkung auf das ›Gesinde‹ allein« (Schwab 1975: 270). In der alltäglichen Lebenspraxis des modernen Bürgertums wurde die Ausgrenzung der Bediensteten aus der Haushaltsgemeinschaft zusammen mit einer intensivierten Zuwendung zum eigenen Nachwuchs symbolträchtig forciert – infolge eines historisch gewandelten Statusbewusstseins, das sich nun eher auf die nächsten Verwandtschaftsverhältnisse als auf die Subsistenz einer gemeinsamen Wirtschaftsgemeinschaft richtete. Diese neuen Familienverhältnisse wurden gerade auch bei Tisch in ihrer Ausschließlichkeit in Szene gesetzt und zur Geltung gebracht. »So sind die Dienstboten z.B. bei den Familienmahlzeiten ausgeschlossen. Sie müssen in der Küche bleiben und dürfen nur noch zur Bedienung hereinkommen. Das Glöckchen auf dem Tisch, das dazu dient, sie herbeizurufen, ist zugleich ein Zeichen für das Bedürfnis der Eltern (des Bürgertums), mit ihren Kindern zusammenzusein. Die Bediensteten gehören nicht mehr zur Familie. Folgt man den Bestimmungen des Begriffs ›Familie‹ in verschiedenen Lexika, taucht die Unterscheidung zwischen der Kernfamilie und den anderen Verwandten sowie den Dienstboten zum ersten Mal im Lexikon von Richelet von 1680 auf. Die Gleichsetzung des Begriffs ›Familie‹ mit ›Vater, Mutter,

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Kinder‹ wird erst im 19. Jahrhundert zur Selbstverständlichkeit. Noch 1835 vermerkt das Lexikon der Académie Française bei dem Begriff ›Familie‹: ›Er wird manchmal für Verwandte verwendet, die zusammenleben, speziell für Vater, Mutter und Kinder.‹« (Singly 1994: 27)

Als historische Antriebskräfte einer »Ablösung der traditionellen Haushaltsfamilie durch den modernen Familienhaushalt« (Reyer 2004: 285) sieht der Historiker Richard van Dülmen gravierende Wandlungsprozesse in drei gesellschaftlichen Bereichen: im »Prozess der Verstaatlichung bzw. Bürokratisierung«, im »Prozess der Verstädterung und Protoindustrialisierung« sowie in einer voranschreitenden »Verschulung«. Dülmen hebt dabei fünf Aspekte besonders hervor: Als ersten Punkt nennt er den »Ausbau des frühmodernen Gerichtswesens« mit der Folge einer formalen »Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen«, durch welche die alte Rechtsgewalt des Hausherrn signifikant eingeschränkt wird. Eine zentrale Funktion des ›ganzen Hauses‹ sei zweitens die des Schutzes gewesen, die allmählich an öffentliche Institutionen wie die dörfliche Gemeinde und die Zünfte übergeht. Die »Entstehung von Krankenkassen, Witwen- und Waisenkassen im 18. Jahrhundert« bedeutete eine Entlastung und Abmilderung wirtschaftlicher Risiken in familialen Lebenszusammenhängen. Drittens ist die allmähliche Auslagerung der Produktionsfunktion aus dem häuslichen Zusammenleben bedeutsam, wodurch einer ›Intimisierung‹ in den Familienbeziehungen der Weg bereitet wurde. Außerdem führt Dülmen viertens die Ausgliederung der Bildung und die Übertragung von Sozialisationsfunktionen auf öffentliche Bildungseinrichtungen an, besonders durch die Einführung eines allgemeinen Volksschulsystems im 18. Jahrhundert, was ein gesteigertes Erziehungsbewusstsein im Familienleben zur Folge hat. Fünftens nennt er schließlich die Veränderungen »im generativen Verhalten« im 19. Jahrhundert, da mit dem medizinischen Fortschritt und einer verbesserten Hygiene die Kindersterblichkeit abnimmt und systematische Familienplanung und Geburtenkontrolle einsetzen (Dülmen 1995: 19ff.). Die Entlastungen des Zusammenlebens durch den gesellschaftlichen Wandel brachten veränderte Lebensbedingungen und individuelle Freiräume hervor, wobei Dülmen zwei Entwicklungen besonders akzentuiert. Zum einen minderte die »Einbuße von Schutz-, Gerichts- und auch der Produktionsfunktion die patriarchalische Stellung des Hausherrn«, wodurch »langfristig wichtige Voraussetzungen für die Emanzipation von Frau und Kindern« in den Familienbeziehungen geschaffen wurden. Zweitens gewannen die emotionalen Beziehungen mehr Eigenständigkeit, weil größere individuelle Freiräume entstanden, die individuelle Lebensführung »im ›Privaten‹ nach eigenen Wünschen zu gestalten« (ebd.: 22; vgl. Freitag 1988). Auch der Historiker Philippe Ariès sieht die Herausbildung des modernen ›Familiensinns‹ durch die verwaltungspraktische Vorgeschichte eines modernen

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Staatswesens begründet. Neben der ökonomisch bedingten Auslagerung der Produktionstätigkeit aus dem Haushaltsleben begreift er besonders den verbreiterten Zugang zur Institution Schule und schließlich die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht für Kinder als Wegbereiter einer Transformation im Erziehungsverständnis und der Familienbeziehungen. Diese nehme mit einer veränderten Sicht auf das ›Wesen‹ von Kindern ihren Lauf. Mit den ersten Anfängen in der Frühen Neuzeit vollziehe sich ein allmählicher Mentalitätswandel, in dem die ›Kindheit‹ als Konzeption einer spezifischen Entwicklungsphase im Unterschied zum Erwachsensein ›entdeckt‹ bzw. als gesellschaftliche Wirklichkeit hervorgebracht und zunehmend anerkannt wird (vgl. Hendrick 2009). Ariès schreibt in diesem Kontext von einer bürgerlichen »Revolution auf dem Gebiet der schulischen Erziehung und der gefühlsmäßigen Einstellung« (Ariès 2007: 48), durch die den Kindern ein Zukunftswert zukam, in den nun emotional ›investiert‹ werden konnte. So hätte man im 18. Jahrhundert nicht mehr gewagt, »sich über den Verlust eines Kindes mit der Aussicht hinwegzutrösten, ein neues in die Welt setzen zu können, wie man noch ein Jahrhundert früher offen eingestand. Das kleine Wesen ist nun unersetzlich, sein Verlust nicht wiedergutzumachen« (ebd.: 552). Die emotionale Aufwertung der nahen Familienbeziehungen und ein entsprechender Wandel des alltäglichen Umgangs miteinander – sowohl innerhalb der Paarbeziehungen als auch im Generationenverhältnis – gehen im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts mit einer alltagspraktischen Konzentration auf die nächsten Verwandtschaftsbeziehungen einher, aus der das heute weitgehend gebräuchliche Verständnis des Familienhaushalts resultiert. Eine »Erwärmung« der häuslichen Binnensphäre, wie Edward Shorter diese ›Intensivierung‹ der emotionalen Beziehungen charakterisiert, nimmt aus seiner Sicht in der Mutter-Kind-Beziehung eine erste Gestalt an, als intensivierte Sorge um das kindliche Wohlergehen, und entspinne sich als Gefühlszuwendungen sukzessive auch zwischen den weiteren Familienmitgliedern. Die bürgerliche ›Kernfamilie‹ sei in erster Linie ein ›Bewusstseinszustand‹ gewesen; was sie »von anderen Modellen des Familienlebens in den westlichen Gesellschaftsformen« unterscheide, sei vor allem »das spezielle Zusammengehörigkeitsgefühl, das diese Einheit von der sie umgebenden Gemeinschaft trennt« (Shorter 1977: 235f.). Mit diesem ›Familiengefühl‹ wurde das häusliche Zusammenleben »zu einem Ort unabdingbarer affektiver Verbundenheit«, so bereits Ariès, »was es zuvor nicht gewesen war«, und diese Verbundenheit sei gerade auch am gestiegenen Stellenwert der Erziehung ablesbar (Ariès 2007: 48).6

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Besonders die Schule setze »das Kind in den Schoß der Familie«, fasst der Soziologe François de Singly diese Sichtweise paradox zusammen. Die Familie in der Moderne könne »ohne eine Berücksichtigung der historisch zu beobachtenden, zunehmenden

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Die emotionale ›Aufwertung‹ der Familienbeziehungen ist allerdings nicht in diametraler Entgegensetzung zur ökonomischen Orientierung subsistenzwirtschaftlicher Hausbeziehungen zu sehen. Zum einen gab es auch dort Gefühle; zum anderen entsteht das spezifische ›Familiengefühl‹ des Bürgertums im Zusammenhang mit einem Wandel sozialräumlicher Positionierungen, durch den das Kind als »Träger von Bildungskapital« ins Zentrum der Familie rückt (Singly 1994: 29). Unter dem Druck eines umfassenden Strukturwandels verändern sich die Vererbungsstrategien zur Reproduktion von sozialem Status (vgl. Bourdieu 1983; Krais 1983; Büchner/Brake 2006; Stecher/Zinnecker 2007).7 François de Singly zeichnet in Hinblick auf das bürgerliche Familienleben des 19. Jahrhunderts zwei große Entwicklungstendenzen nach, die Emile Durkheim in seiner familiensoziologischen Vorlesung von 1892 bereits erfasst habe: einerseits die Privatisierung und Emotionalisierung des Zusammenlebens, mit einer zunehmend abgeschirmten häuslichen Binnensphäre und einer (nicht zuletzt von Disziplinierung begleiteten) Aufwertung der persönlichen Beziehungen; andererseits intensivierte staatliche Maßnahmen in Bezug auf das Familienleben (Singly 1994: 9ff.). Denn in dem gesellschaftlichen Strukturwandel, der diesen Wandel des Familienverständnisses mit sich bringt, kommt familien- und sozialpolitischen Maßnahmen eine zunehmend hohe Bedeutsamkeit zu. Neben der Kirche wirken nun staatliche Verwaltungsorgane mehr als zuvor auf die Lebensverhältnisse ein

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Verschulung nicht verständlich« werden (Singly 1994: 24ff.). Durch die Schule werden die Kinder zumindest phaseweise aus der gemeinsamen Arbeitswelt herausgenommen. »Erst die Schule läßt eine bestimmte Vorstellung von Kindheit entstehen (die uns heute allerdings vollkommen natürlich erscheint), welche mit der Forderung verbunden ist, ›sich der Unschuld und der Schwachheit des Kindes und der folglich damit verbundenen Pflicht der Erwachsenen bewußt zu werden, erstere zu schützen und letztere mit dem notwendigen Rüstzeug auszustatten‹. […] Auch wenn die Schule anfangs zur geographischen Entfernung des Kindes von seiner Familie beiträgt, führt sie doch gleichzeitig zu einer gesteigerten gefühlsmäßigen Annäherung.« (Ebd.: 26) Singly verweist auf Bourdieus Differenzierung des Kapitalbegriffs: »In dem Maße, wie nicht mehr das ökonomische Kapital im Mittelpunkt familialer Strategien steht […], wo die moderne Familie also durch ihre, den Einzelpersonen gewidmete Aufmerksamkeit charakterisiert wird, wächst das Risiko einer Idealisierung durch die Vorstellung, die hauptsächliche Funktion der Familie bestehe darin, die Qualität der innerfamilialen Beziehungen und die Selbstverwirklichung ihrer Mitglieder möglichst gut zu gewährleisten. Das Verdienst der Sichtweise Bourdieus ist, das Weiterbestehen eines gesellschaftlichen Wettkampfes zur Erringung von Positionen innerhalb des sozialen Raumes zu unterstreichen, was auch schon den Moment der Paarbildung selbst betrifft.« (Singly 1994: 41)

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und wenden sich im Rahmen moderner demographischer Regierungspraktiken dem Familienleben zu.8 Nicht zuletzt hat auch die Rechtssprache, mit der dem Zusammenleben schon in der Antike durch fixierte Rechte und Pflichten eine legitimierte Form gegeben wurde, Einfluss auf das Alltagsverständnis von Familie und ihre Institutionalisierungsgeschichte (vgl. Schwab 1975; Bourdieu 1996). Die Abschirmung einer häuslichen Privatsphäre und die Bedeutungszunahme gefühlsmäßiger Beziehungen führten im modernen Bürgertum zur Aufwertung eines familialen Zuhause als Bezugsort persönlicher Nähe in der Lebensführung, wohingegen nahe persönliche Beziehungen vormals zerstreuter und ›außenorientierter‹ organisiert waren. Das moderne Zuhause entspricht daher auch keineswegs einer quasi-naturwüchsigen Binnensphäre in Entgegensetzung zum öffentlichen Gesellschaftsleben, wie es besonders im 19. Jahrhundert propagiert wurde; es ist in seiner Verfasstheit durch die gesellschaftlichen Entwicklungen vielmehr bedingt (vgl. Rybczynski 2001: 51). Das Zusammenleben als Familie ist auch deswegen intensiv mit gesellschaftlicher Öffentlichkeit verwoben, so Klaus Harney und Mitautoren, »weil dort die kollektiven Erwartungen entstehen, die die Normalität des Familienlebens definieren und den Raum ausbilden, in dem die Praxis des Familienlebens auf gesellschaftliche Anerkennung stößt. […] Von daher gesehen ist die Privatsphäre der Familie zugleich ein hoch regulierter, mit starken Erwartungen, mit Tabus und Leitbildern besetzter Bereich des gesellschaftlichen Lebens […] Gerade das im 18. und 19. Jahrhundert entstehende Privatheitskonzept der Familie, dessen Intimitätsideal die Idealisierung der selbstverantworteten und daher für Regelverletzung verantwortlichen ›Freiheit‹ einschließt, stimuliert auch heute noch hochgesteckte Erwartungen von massiver Regulationskraft.« (Harney/Groppe/Honig 2006: 180)

Die städtische Architektur des 18. Jahrhunderts bot dagegen noch gar nicht jeder Familie eine vom sozialen Umfeld getrennte Wohneinheit. Die Wohnung der kleinen Stadtbürger sei noch nicht so gebaut gewesen, schreibt Jürgen Schlumbohm, »dass sie eine akustische Abschirmung des Familienlebens gewährleistet« hätte.

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Michel Foucault hat das politische Interesse an den Lebensverhältnissen und darauf bezogenen Regulierungsmöglichkeiten in seinen Analysen zur modernen »Gouvernementalität« untersucht und schreibt unter dem Schlagwort der »Bio-Politik« von einem Wandel der politischen Rationalitäten mit einem neu definierten Feld der Intervention: »der Bevölkerung als politischem Problem«. Die moralischen, politischen und wissenschaftlichen Interventionen setzen besonders an der Sexualität an, in ihrer Position »zwischen Organismus und Bevölkerung, zwischen den Körpern und den globalen Phänomenen« (Foucault 1999: 278-291; vgl. Foucault 1997, 2004; Lemke 1997: 134ff.).

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Sie war auch zu eng, »als dass die Kinder sich den ganzen Tag in ihr hätten aufhalten können und wollen«, so dass sich die Kinder viel auf der Straße bewegten und vornehmlich auch dort ihre sozialen Beziehungen pflegten (Schlumbohm 1979: 706f.). Die Behausungen der einfachen Leute hätten das Zusammenleben noch nicht so sehr »vor den Szenen, Blicken, Gerüchen und Geräuschen von außen« geschützt, erläutert auch Swaan. Konfrontationen mit Familienszenen von Nachbarn seien damals kaum vermeidbar gewesen. Auch die räumlichen Verhältnisse innerhalb des Wohnbereichs boten kaum Möglichkeiten, sich voneinander abzugrenzen und zurückzuziehen. »Essen, Schlafen, Körperpflege, Lieben und Streiten fand vor den Augen aller statt« und Aktivitäten »in aktiver oder passiver Rolle, gewollt oder ungewollt« wurden miteinander geteilt (Swaan 1988: 326). Auch in den »großen Häusern«, die Ariès als das soziale Milieu beschreibt, in dem ein modernes Verständnis von Kindheit und Familie als erstes kultiviert wurde, waren die Zimmer bis zum 17. Jahrhundert noch kaum spezialisiert. »Man lebte in Allzweckräumen. Dort aß man auch, aber nicht etwa an für diesen Zweck reservierten Tischen: den berühmten ›Eßzimmertisch‹ gab es nicht; stattdessen stellte man für die Mahlzeit Klapptische auf, die man mit einem Tischtuch bedeckte […] wie überhaupt ein großer Teil des Mobiliars zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch zusammenlegbar war« (Ariès 2007: 541). Im 17. Jahrhundert wird in denselben Räumen, die meist ineinander übergehen, geschlafen, gegessen, getanzt, Besuch empfangen oder wirtschaftlichen Geschäften nachgegangen. In dieser räumlichen Organisation des Soziallebens ließen sich Herr und Diener im Haus noch nicht wirksam voneinander trennen und »so mischt sich die Dienerin auch ganz selbstverständlich in die Unterhaltung ein«, wenn Besuch zugegen ist (ebd.: 546). Für das französische Großbürgertum datiert Ariès einen »Rückzug der Familie von der Straße, dem Platz und aus dem Gemeinschaftsleben und ihre Einkapselung im Inneren des Hauses« auf das Ende des 17. und das 18. Jahrhundert (ebd.: 61). Mit dieser »Einkapselung« im Familienkreis geht ein wachsendes Individualitätsbewusstsein einher, das zusammen mit der Verbundenheit eines Familiengefühls unter dem Dach der modernen Privatsphäre Raum erhält. Einerseits wird die häusliche Binnensphäre seit dem 18. Jahrhundert zunehmend abgeschirmt und das Sozialleben auf diese Binnensphäre konzentriert; andererseits wird sie in sich untergliedert – durch eine Spezialisierung und gegenseitige Abgrenzung der einzelnen Zimmer, die nicht mehr ausschließlich als Durchgangszimmer konzipiert, sondern durch einen Flur miteinander verbunden sind. Durch diese räumliche Segmentierung werden auch Voraussetzungen für Rückzugsräume innerhalb des Hauses geschaffen, wohingegen zuvor in die Öffentlichkeit des Straßenlebens ausgewichen werden musste. Mit der räumlichen Konzentrierung und Differenzierung

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des Zusammenlebens wurden in den »großen Häusern« mitunter auch Klingelanlagen installiert – nicht, damit sich Besuch von draußen bemerkbar machen konnte, sondern um im Haus eine Dienerschaft herbeizurufen, die nun auf Distanz gehalten wurde (ebd.: 548). Als private Sphäre in ideeller Entgegensetzung zur gesellschaftlichen ›Außenwelt‹ wird das Zusammenleben allmählich auch architektonisch zu einer ›eingekapselten‹ und differenzierten Binnensphäre, die als Grundlage für ein verbindendes Familiengefühl wie auch für Individualisierungsprozesse fungiert.9 Unter dieser Maßgabe bildete sich im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg, mit dem anwachsenden Wohlstand in Europa ein familialer Wohnstandard heraus: in Form der Mittelklassewohnung mit einer Küche, Badezimmer mit eigenem WC, Schlafzimmern sowie einem Wohnzimmer. »Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ging die Entwicklung dahin, daß man in einer hochgradig geordneten räumlichen Umgebung lebte. Die Standardwohnung in nahezu allen modernen Ländern besteht zunächst aus einem Wohnzimmer, zu dem alle Familienmitglieder unbeschränkt Zugang haben und wo sie sich zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenfinden, allem voran zum gemeinschaftlichen Abendessen.« (Swaan 1988: 327; vgl. Häußermann/Siebel 2000: 183)

Wie der gesamte Wohnraum ist auch das zentrale Wohnzimmer in sich untergliedert und der nun fest platzierte Tisch, an dem die Familienmitglieder trotz individuell divergierender Aktivitäten wiederkehrend im kleinen Kreis zusammenkommen, wird zu einem Sinnbild des häuslichen Familienlebens, das gerade dort füreinander in Szene gesetzt wird.

G EFESTIGTE H ÄUSLICHKEIT Der kulturhistorische Wandel des Zusammenlebens mit der ›Einkapselung‹ einer familialen Binnensphäre im Bürgertum korreliert im Zuge der Urbanisierung mit einer allgemeinen Tendenz zur architektonischen Abschirmung einer persönlichen Privatsphäre. In Hinblick auf die sozialstrukturellen Veränderungen im städtischen

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Für die Tendenz einer historisch zunehmenden häuslichen Binnendifferenzierung mit individuell zugeordneten Wohnbereichen kann die junge Geschichte des Kinderzimmers als beispielhaft gelten, das erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine schichtübergreifende Verbreitung gefunden hat (vgl. Buchner-Fuhs 1998). »Privater Raum als Raum der Entfaltung von Intimität und Individualität […] verlangt eine zusätzliche Binnendifferenzierung des Wohnens.« (Häußermann/Sieber 1996: 33).

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Alltagsleben, als gewandelte Rahmenbedingungen des Kinder- und Familienlebens im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, übernimmt Jürgen Zinnecker vom Soziologen Peter Gleichmann den Begriff der Verhäuslichung, den dieser im Anschluss an Norbert Elias ausgearbeitet hat.10 Gleichmann untersucht die Wechselwirkungen zwischen einem architektonischen und städtebaulichen Wandel im 18. und 19. Jahrhundert und den sich verändernden Verhaltensstandards. Er benennt mit dem Begriff der Verhäuslichung eine historische Verlagerung ›intimisierter‹ Verhaltensweisen in geschlossene Binnenräume und hebt hervor, dass »behausen« nicht allein Geborgenheit, sondern auch verbergen bedeute – etwas werde von seinem ›drum herum‹ abgekapselt und vor der Außenwelt verhüllt (Gleichmann 2006: 77). In seiner Studie fokussiert Gleichmann eine zunehmend achtsamere »Einhausung« der »leiblichen Vitalfunktionen« und der – aus heutiger Sicht – intimen Verhaltensweisen, wie sich zu waschen, sich zu be- oder entkleiden, die Verrichtungen der Notdurft und dem Sexualgeschehen. »Der Umgang der Menschen mit ihrem eigenen Körper, ihren Gefühlen und den Gerüchen wandelt sich grundlegend. […] Die Orte der körperlichen Verrichtungen werden allmählich immer stärker abgetrennt von den sonstigen Aufenthaltsräumen.« (Ebd.: 63) Eine Abschirmung solcher Verrichtungen ist in der aristokratischen Gesellschaft bei Hofe bereits im 17. Jahrhundert beobachtbar, und Norbert Elias hat anhand historischer Quellen zur Kenntnis gebracht, inwieweit diese Verhaltensweisen zuvor noch nicht derart verborgen wurden. »Weder die Verrichtungen selbst, noch das Sprechen darüber oder Assoziationen dazu sind in dem Maße intimisiert, privatisiert, mit Scham- und Peinlichkeitsgefühlen belegt, wie später.« (Elias 1995: 181; vgl. dazu relativierend Duerr 1988: 211ff.) Nach Gleichmann geht die Verhäuslichung von Intimsphären im 18. und 19. Jahrhundert mit dem beschleunigten Prozess der Verstädterung einher. Die anwachsende Wohndichte in den Stadthäusern und der »höhere Verflechtungsgrad« im städtischen Sozialleben erzwang intensivierte »Körperregulierungen«, die sich in den Verhaltensstandards ebenso wie der räumlichen Organisation des Wohnens und den architektonischen Bauweisen niederschlugen. So werden bspw. die Aborte »aus den Ställen, Gärten und Höfen näher an die Häuser, bald inner-

10 Elias schreibt mit seinem Fokus auf die höfische Aristokratie des 17. Jahrhunderts von einer »Verhofung« (Elias 1983: 320ff.). Im Zuge einer Konzentration des ehemals ländlichen Adels bei Hofe im 16. und 17. Jahrhundert »mussten sich Adelige, die noch auf den Gütern ihrer Väter aufgewachsen waren, an das verfeinerte, vielfältigere, beziehungsreichere, aber darum auch weit größere Selbstkontrolle verlangende Hofleben gewöhnen.« (Ebd.: 321)

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halb der Wohnbauten an die Eingänge, Treppen, Flure, Verkehrswege platziert; die peinlicher gewordenen und stärker verborgenen Verrichtungen werden in die bestehenden Gefüge der Menschen in Zimmern und Wohnungen eingepaßt.« (Gleichmann 2006: 65) Es wurden eine Vielzahl an Verwaltungsgutachten verfasst, Anordnungen erlassen und Handbücher ausgearbeitet, die auf diskursiver Ebene eine zunehmende Standardisierung der »Einhausung« dieser Verrichtungen sowohl auf städtebaulicher Ebene wie im subjektiven Empfinden vorantrieben. Elias betont mit seinem Fokus auf die höfische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts die Bedeutsamkeit des Ineinandergreifens von Materialitäten, praktischem Wissen und normativen Verhaltenserwartungen. »[D]ie Aussonderung der natürlichen Verrichtungen aus dem öffentlichen Leben und die entsprechende Regelung oder Modellierung des Trieblebens war nur möglich, weil mit der wachsenden Empfindlichkeit zugleich ein technischer Apparat entwickelt wurde, der dieses Problem der Ausschaltung solcher Funktionen aus dem gesellschaftlichen Leben und ihre Verlegung hinter dessen Kulissen einigermaßen befriedigend löste. […] Der Prozeß der seelischen Veränderung, das Vorrücken der Schamgrenze und der Peinlichkeitsschwelle ist nicht von einer Seite, und ganz gewiß nicht aus der Entwicklung der Technik oder der wissenschaftlichen Entdeckungen zu erklären. […] Aber nachdem einmal mit einer generellen Umlagerung der menschlichen Beziehungen eine Umformung der menschlichen Bedürfnisse in Gang gesetzt war, bedeutete die Entwicklung einer dem veränderten Standard entsprechenden technischen Apparatur eine außerordentliche Verfestigung der veränderten Gewohnheiten. Diese Apparatur diente zugleich der ständigen Reproduktion des Standards und seiner Ausbreitung.« (Elias 1995: 189f.)

Für das 18. und 19. Jahrhundert sieht Gleichmann im Zusammenwirken der dinglichen Materialität städtischer Wohnverhältnisse mit geltend gemachten Verhaltenserwartungen eine primäre ›Schule‹ für grundlegende Verhaltensstandards und inkorporierte Selbstregulierungen, die als zivilisatorisches Programm besonders die Kindheit adressieren. »Wir erlernen den Umgang mit der eigenen und der fremden Leiblichkeit in der Wohnung. Hier erfahren wir Grundprinzipien sozialer Distanz und Nähe; lernen unser Schamgefühl zu handhaben, mit unseren ›Affekten hauszuhalten‹.« Er beschreibt diesen kulturhistorischen Wandlungsprozess als »Verhäuslichung der Techniken unserer Affektbeherrschung« (Gleichmann 2006: 77). Durch die eingekapselte Häuslichkeit – seit dem 18. Jahrhundert eine Binnensphäre, die zunehmend auch als ein pädagogischer ›Kontrollraum‹ fungiert – wird die historische Fortentwicklung tiefreichender Verhaltensstandards im Umgang mit dem eigenen Körper und den darauf bezogenen Empfindungen nachhaltig vermittelt und gefestigt. Die Organisation der Raumordnung und der Dinge im Wohnbereich fungiert dabei nicht nur als Gedächtnisträger und stumme Auf-

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forderung, sondern strukturiert auch Möglichkeitsräume vor, in denen manches nahe gelegt oder erleichtert, anderes verhindert oder erschwert wird. Vor diesem Hintergrund greift Jürgen Zinnecker das Konzept der Verhäuslichung auf, das wie das englische domestication auf eine »geschichtlich hergestellte Bindung an das Haus als geschlossenen sozialen Handlungsraum« wie auch auf die »dort spezifisch geltenden Verhaltensstandards« verweise (Zinnecker 2001: 27).11 In dieser Lesart weitet Zinnecker den Begriff aus und fasst darunter nicht mehr nur das Verbergen körperlicher Verrichtungen, sondern ein Organisationsprinzip des modernen Alltagslebens. Als ›Verhäuslichung‹ bezeichnet er ein »gesellschaftliches Gestaltungsprinzip, das darauf basiert, soziale Handlungen mit Hilfe befestigter Einhausungen voneinander zu isolieren und auf diese Weise stabile und berechenbare Handlungsräume zu schaffen« (ebd.: 28). Mit Bezugnahme auf Erving Goffman differenziert er dabei zwischen den Metaphern der »Verpackung« und der »Verschachtelung«, um erstens eine Entwicklung der Versiegelung von Binnenräumen gegenüber ihrer ›Außenwelt‹ zu charakterisieren, die zweitens von einer funktionalen Segmentierung und Spezialisierung von Handlungsräumen begleitet werde (ebd.: 29).12 Mit den entwickelten technischen Möglichkeiten sei der häusliche Wohnbereich immer besser nach außen hin isoliert worden – nach oben, unten und zu den Seiten gegenüber einer ›natürlichen‹ Umwelt (wie den wechselnden Witterungs- und Lichtverhältnissen) und ebenso gegenüber sozialen Ereignissen und

11 Zinnecker schließt an ein zivilisationstheoretisches Projekt zum urbanen Kinderleben um 1900 an. Vgl. Behnken/Zinnecker 1987; Behnken/du Bois-Reymond/Zinnecker 1988, 1989; Zinnecker 1990. Norbert Elias schreibt in Hinblick auf das Erlernen der »gesellschaftlich notwendigen Affekt-Regulierung und -modellierung« wiederholt auch von »Konditionierung« (Elias 1995: 182, 186). 12 Mit Bezug auf Goffmans Essay über Die Territorien des Selbst (Goffman 1982) sieht Zinnecker in der »Verpackung« und »Verschachtelung« von Handlungsräumen zivilisationsgeschichtliche Prinzipien einer Abschirmung und Distanzwahrung, die als Ableitungen der Erfahrung modernen Wohnens überall zu entdecken seien: Verkehrsmittel als »mobile Raumschachteln«, mitunter in separate Kabinen untergliedert (vgl. Baudrillard 2001: 86ff.); Waren und Alltagsdinge, in »Raumschachteln und -kästen« verpackt; eine Vielzahl »persönlicher, verschlossener und geschützter ›Depots‹ wie Handtaschen, Akten- und Reisekoffer«; schließlich ein inkorporiertes (kulturell variables) Gefühl für persönliche Territorien und angemessene »sozial-räumliche und psycho-räumliche ›Distanzen‹« (Zinnecker 2001: 31). Entsprechend sind Raumkonstitution und Distanzwahrung auch bei fehlenden Trennelementen untersucht worden, so z.B. von Stefan Hirschauer in Fahrstuhlkabinen und von Jean-Claude Kaufmann in Hinblick auf Nacktheit und Blickregime am FKK-Strand (vgl. Hirschauer 1999; Kaufmann 2006a).

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Handlungsorten von ›Außenstehenden‹. Durch die versiegelte Materialität der Behausung werden die »Sinneswahrnehmungen von draußen nach drinnen und in umgekehrter Richtung […] erschwert. Das betrifft beispielsweise Hör- oder Seh-, aber auch Geruchskontakte« (ebd.). Die von Ariès beschriebene »Einkapselung« des Familienlebens wird von Zinnecker in Hinblick auf das 19. und 20. Jahrhundert mit der Metapher der »Verpackung« wieder aufgegriffen, die auf eine substanzielle Untermauerung des Mentalitätswandels im ›gewohnten‹ Zusammenleben verweist. Ebenso wie Einblicke von außen durch die technische Weiterentwicklung von Bausubstanz und architektonischer Gestaltung, durch Einrichtungsgegenstände wie z.B. Vorhänge, nicht zuletzt durch Konventionen (gegen unbotmäßige Neugierde und zuviel Freizügigkeit) reduziert werden, seien auch die Wohnenden von einem »weiten, offenen Raumhorizont« abgeschirmt. Aufgrund dieser Ausblendung der ›Außenwelt‹ werden sie verhältnismäßig wenig »vom Geschehen ›vor Ort‹ abgelenkt«, so dass »eine größere Konzentrierung und ›Verinnerlichung‹ von Tätigkeiten« ermöglicht werde (ebd.). Die Konzentrierung des Aufmerksamkeitsfeldes auf die Binnensphäre steigert eine Empfänglichkeit und Empfindsamkeit für die Geschehnisse innerhalb dieser ›Sphäre des Eigenen‹, die umso mehr als eine persönlich relevante aufgefasst werden muss, wie Überraschungen durch fremde Personen und Ereignisse zu einem hohen Maß ausgegrenzt sind. Weil Zugänglichkeit und sinnliche Durchlässigkeit der Binnensphäre verhältnismäßig gut kontrollierbar sind, werden individuelle und gemeinsame Abläufe mit dieser Ausblendung ›störender‹ Einwirkungen planbarer und steuerbarer.13 Die wechselseitigen Erwartungen gehen im häuslichen Zusammenleben mit einer gesteigerten Erwartbarkeit des Geschehens einher. Die Binnensphäre bietet daher eine kontinuierliche Grundlage für hochgradig typisierbare Abläufe wiederkehrender Routinen mit vertrauten Personen, Materialien und Räumen. Hinsichtlich dieser Vorstrukturiertheit einer Binnensphäre und entgegen einer raumsoziologischen Überbewertung der situativen Hervorbringung von Räumen in actu schreibt Markus Schroer, dass der befestigte, eingerichtete Raum das Verhalten präge und ihm seinen Stempel aufdrücke. »Räume helfen zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befinden. Sie strukturieren vor, in welche Situationen wir kommen können, welche Erwartungen wir haben können, sie strukturieren Inter-

13 Technikbasierte ›mediale Durchlässigkeiten‹ stellen eine entsprechende Kontrolle, die insbesondere von Eltern gegenüber ihren Kindern beansprucht wird, allerdings in Frage. Zwar können mit mäßigen Erfolgsaussichten technische Maßnahmen ergriffen werden, um diese ›mediale Durchlässigkeit‹ zu regulieren, aber letztendlich ist deren Regulation auf Vertrauen und individuelle Selbstregulierung angewiesen.

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aktionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich.« (Schroer 2006b: 176)14 Auch die subjektiven Sinngehalte von Orten und Räumen würden nicht immer wieder aufs Neue hervorgebracht. »Vielmehr entlasten vorgegebene räumliche Arrangements gerade von der Situationsdefinition, weil die Bedeutungen und Wertigkeiten der Akteure bereits in sie eingeschrieben sind.« (Ebd.: 176f.) Die Ordnung des häuslichen Lebens verlangt nach einer disziplinierten Bewegungsart, so Zinnecker, »nach Körpern, die sich mit einer gewissen Präzision und Berechenbarkeit in der umgrenzten und durchgestalteten Umwelt bewegen können« (Zinnecker 2001: 29). »Die Wand bremst den Bewegungsdrang und bringt den Menschen in einen Abstand zu sich selbst«, wie auch Hajo Eickhoff aus einer anthropologischen Perspektive formuliert. »Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie eines, hier die Natur, zudeckt, um ein anderes, hier das kollektive Leben des Menschen, in den Vordergrund treten zu lassen« (Eickhoff 1997a: 222). Im Prinzip der Verhäuslichung sieht Zinnecker einen objektivierten kulturhistorischen Disziplinierungseffekt, den er für ›eingehauste‹ Handlungsräume insgesamt unterstellt.15 Das Prinzip der Einkapselung und Separierung von Handlungsräumen sei vorzüglich geeignet, »gesellschaftliches Handeln langfristig zielgerichtet, planund präzise wiederholbar, somit über Zeiten und beteiligte Personen hinweg berechenbar zu gestalten« (Zinnecker 2001: 28). In dieser Stoßrichtung dehnt er sein Konzept der Verhäuslichung noch weiter auf den gesamten urbanen Raum aus – in Hinblick auf eine historische Ausbreitung ›häuslicher‹ Standards »von drinnen nach draußen«, die mit der Strukturie-

14 Erving Goffman greift von Roger Barker den Begriff des »stehenden Verhaltensmusters« auf. Durch eine symbolische Vorstrukturiertheit der Situation – und die materielle Organisation von Räumen schafft in dieser Hinsicht eine manifeste symbolische Strukturierung – wird je nach Vertrautheit der Organisationsweise gewusst, wie zu agieren ist (vgl. Goffman 2001a: 61f.). 15 Vgl. die mentalitätsgeschichtlichen Analysen Michel Foucaults zu den Disziplinierungsmechanismen in den von ihm beschriebenen regulativen ›Staatsapparaten‹ (Gefängnis, Schule, Krankenanstalt) als ordnungspolitisches Kontrastprogramm zu der sich herausbildenden bürgerlichen Idee häuslicher Privatheit. Von zeitgemäßen Ordnungsvorstellungen abweichende Individuen werden in dieser Ideengeschichte (Benthams Entwurf eines Panoptikums wurde z.B. nicht realisiert) einer idealisierten »pädagogischen Maschine« (Foucault 1994: 223) überantwortet, die auf räumlicher Separierung und Einschließung beruht, dabei aber die Beobachtbarkeit von außen als drohende Überwachung zum Prinzip erhebt. »Noch allgemeiner geht es um eine Architektur, die ein Instrument zur Transformation der Individuen ist: die auf diejenigen, welche sie verwahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflussbar macht, die Wirkungen der Macht bis zu ihnen vordringen lässt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert.« (Ebd.: 222)

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rung städtischen Raums einhergehe.16 Die Urbanisierung lasse sich »als Geschichte eines unablässigen Versuchs« verstehen, »Elemente von Verhäuslichung auf den städtischen Raum zu übertragen«. Bodenflächen werden versiegelt, Infrastruktureinrichtungen wie Energiezufuhr und Kanalisation verborgen, Flächen überdacht, Bewegungsordnungen geregelt, Wegstrecken beleuchtet, Übergangs- und Pufferzonen etabliert. In den Grenzbereichen privater Wohnsphären fungierten Flure, Treppenhäuser, Terrassen, Balkone, Vorgärten und Innenhöfe wie »Außen-Polster zum Schutz der verhäuslichten Privatheit« (ebd.: 34f.). Hinsichtlich des Aspekts einer funktionalen Segmentierung und Spezialisierung ›eingehauster‹ Binnensphären, verweist Zinnecker aber auch auf die ›postmoderne‹ Tendenz, architektonische Räume offen zu gestalten – im Sinn einer fest gerahmten, aber dennoch flexiblen Raumkonstitution mit variablen Nutzungsmöglichkeiten, wie z.B. das modulierbare Großraumbüro (ebd.: 33). Diese ›dynamisierte‹ Segmentierung schafft genauso wie die Übertragung des Prinzips der Verhäuslichung auf ›Mobilitätsmaschinen‹ (Urry 2007: 63) – Eisenbahn, Auto, Flugzeug als immer optimaler isolierte und segmentierte Fortbewegungsgehäuse – eine Flexibilität und Dynamik innerhalb der prinzipiell ›eingehausten‹ Lebensweise.17 Auch technikbasierte virtuelle Räume führen nicht zur Überschreitung dieses Zivilisationsprinzips, denn architektonisch abgeschirmte Binnenräume bilden gerade optimale Voraussetzungen zur Nutzung von Medienapparaturen und darauf aufbauende ›globale‹ Vernetzungen. Eine Öffnung der häuslichen Sphäre durch vielfältige Außenorientierungen und Mobilitätsmuster – Beziehungsnetzwerke, institutionelle Anbindungen, Freizeitaktivitäten, telekommunikative Vernetzungen – stellt die historisch gefestigte Häuslichkeit, durch die das Familienleben organisiert ist, daher nicht prinzipiell in Frage. Befestigte und abgeschirmte häusliche Bezugsorte bleiben eine Sozialisationsinstanz im Rahmen des Zusammenlebens, auf die mit einer gemeinsamen Praxis des Wohnens im Alltagsverlauf zurückgekommen wird. Thomas Meyer macht vielmehr darauf aufmerksam, dass die urbane »Verinselung« von Ortsbezügen – gerade als Folge einer verhäuslichten Lebenswelt – und damit korre-

16 Der bei Gleichmann in Bezug auf die »Einhausung« von Verhaltensweisen fokussierte Aspekt der Empfindung (wie z.B. Scham), als ›Verinnerlichung‹ von Disziplin, die auch bei Elias zentral ist, wird bei Zinnecker aufgrund seiner Ausdehnung auf eine generelle Isolierung und Segmentierung von Handlungsräumen allerdings an den Rand gedrängt. 17 So betont auch Norbert Elias mit Blick auf eine vergleichsweise große Freiheit und Unbefangenheit in der Zurschaustellung von Körperlichkeit im 20. Jahrhundert – gemessen an den Restriktionen der letzten drei Jahrhunderte – dass es sich um eine partielle »Lockerung im Rahmen des einmal erreichten Standards« handele (Elias 1995: 190).

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spondierende Mobilitätsmuster allen Beteiligten disziplinierte Verhaltensweisen abverlangen. Sie erzeugen einen frühen Druck auf Kinder zur Selbstständigkeit, vor allem in Hinsicht auf ein eigenes Zeitmanagement, dessen Organisationsbasis und Referenzrahmen die Binnensphäre eines Zuhause ist. Die Erziehung im Familienleben dränge denn auch immer mehr »auf eine möglichst frühzeitige Verfeinerung der Körpermotorik sowie auf die selbstdisziplinierte Kontrolle des Affekt- und Gefühlshaushalts der Kinder«, um sich mit den wachsenden Anforderungen eines individuellen Raum- und Zeitmanagements zur Alltagsorganisation zwischen den verschiedenen Handlungssphären zurechtfinden zu können (Meyer 2002b; vgl. Zeiher/Zeiher 1994; Zeiher 2005).

A LLTAGSROUTINE UND › GEWOHNTES ‹ Z USAMMENLEBEN AUS PRAXISTHEORETISCHER S ICHT In den vorausgegangen drei Teilen dieses Kapitels sind ›Schlaglichter‹ auf einen historischen Wandel des häuslichen Zusammenlebens geworfen worden – zu der Tendenz einer Konzentrierung auf die nächsten Familienbeziehungen ›im kleinen Kreis‹ während des 18. und 19. Jahrhunderts, mit der ein Wandel architektonischer und städtebaulicher Gestaltungsweisen einherging. Das ›gewohnte‹ Zusammenleben im Rahmen nächster Familienbeziehungen erhielt für die individuelle Lebensführung als moderner Idealtypus mehr Gewicht. Mit einer intensivierten Abschirmung häuslicher Binnensphären wurden zudem raumbezogene, differenzierte Verhaltensstandards bedeutsamer. Der Begriff des ›gewohnten‹ Zusammenlebens ist vor diesem sozialhistorischen Hintergrund nicht allein auf inkorporierte Verhaltensrepertoires in diesem Beziehungsrahmen, sondern auch auf die ›gewohnte‹ Umgebung bezogen. Der Rahmen des Zusammenlebens ist zwar als personale Einheit zwischen verschiedenen Wohnsitzen übertragbar und nicht an einen Ort gebunden; aufgrund der Feinabstimmungen der Alltagspraxis in Bezug auf die lokalen Begebenheiten markiert jede Wohnsitzmobilität jedoch einen Bruch in der Alltagsroutine, in die sich wieder eingefunden werden muss. So dient der folgende Teil einer begrifflichen Klärung dieser Alltagsroutine und des ›gewohnten‹ Zusammenlebens, wobei auf gleichem Weg auch die praxistheoretische Einbindung dieser Studie erläutert wird. Dafür wird anfangs eine kritische Position zu praxistheoretischen Ansätzen von Gregor Bongaerts aufgegriffen, um in diesem Rahmen eine Unterscheidung von Routine und Gewohnheit zu diskutieren und daraus ein genaueres Verständnis von Alltagsroutine und ›gewohntem‹ Zusammenleben aus einer praxistheoretischen Perspektive zu entwickeln.

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Mit einer kontrastierenden Bezugnahme auf verschiedene ›klassische‹ Sozialtheorien kritisiert Bongaerts, vornehmlich in Hinblick auf Theodore R. Schatzki und Andreas Reckwitz, dass aktuelle (und keineswegs einheitliche) praxistheoretische Ansätze zu einer paradigmatischen Wende in der Theoriebildung stilisiert würden (vgl. Schatzki/Knorr Cetina/Savigny 2001; Reckwitz 2003).18 Bongaerts moniert diesbezüglich eine Unschärfe der begrifflichen Konzeptualisierung, da ›Praxis‹ und ›soziale Praktiken‹ teils auf der gleichen kategorialen Ebene mit sozialem Handeln gesehen würden, teils als undifferenzierte Begriffe für alle sozial relevanten Tätigkeitsmodi im Sinne sozialer Verhaltensweisen fungierten. So werde gerade der Praxisbegriff oft als »Kontext« konkreter Tätigkeitsvollzüge thematisiert, in den diese eingebettet seien (Bongaerts 2007: 249). Grundsätzlich würdigt er andererseits die »materialistische« Blickverschiebung praxistheoretischer Ansätze, die einen Phänomenbereich erschlössen, den »intentionalistische« Handlungstheorien verfehlten. Er wendet sich aber gegen eine pauschale Abwertung »klassischer« Handlungskonzepte und eine – aus seiner Sicht – daraus resultierende Polarisierung. »Die Praxistheorie will sich in Abgrenzung von althergebrachten und mehr oder minder verdienten Theorien des Sozialen durch eine Neubestimmung vor allem der ›Verortung des Sozialen‹ im Körper begründen; sie betont die damit einhergehende Unbewusstheit des sozialen Sinns sowie die Bedeutung gerade ritueller Routinetätigkeiten im Kontext ebensolcher Praktiken als Tätigkeiten im Vollzug, und sie plädiert für die stärkere Einbeziehung auch der nicht-menschlichen materiellen Welt.« (Ebd.: 253)

18 Bongaerts bezieht sich auf die Handlungs- und Strukturtheorien von Emile Durkheim, Max Weber, Alfred Schütz, Talcott Parsons und Niklas Luhmann. Eine Zuschreibung wie ›klassisch‹ oder ›althergebracht‹ ist für eine Kontrastierung zu den aktuellen Praxistheorien allerdings irreführend, da ein theoretisch gefasster Praxisbegriff über Karl Marx bis Aristoteles zurückreicht (vgl. Bien 1989; Kleger 1989). Die theoretische Wende ist daher weder als wissenschaftsgeschichtlicher Bruch noch als kurzweilige Theoriemode zu verstehen, sondern eher als Plädoyer für eine grundlagentheoretische Abwendung von einer ›Subjektzentrierung‹, indem ein Geschehen nicht vornehmlich hinsichtlich einer zugrundeliegenden Absicht fokussiert wird. Vor Aristoteles ist der Praxisbegriff bereits bei Homer und den antiken Tragikern auf die Erfahrung eines Handlungsverlaufs bezogen, der sich als wirksam und erfolgreich erweisen, aber auch einen schlechten Ausgang haben und »so auch ›schweres Los‹ oder ›Qual‹ bedeuten« kann, weil der Ausgang nicht nur in der Hand eines Handelnden liegt (Bien 1989: 1277). Im antiken Praxisbegriff steht ein Prozess im Fokus, der sowohl eine aktive Steuerung wie auch unbeherrschbare Bedingungen enthält, so dass dieser Prozess zugleich auch ein erfahrendes Erleiden ist (vgl. Szakolczai 2008: 92ff.).

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Aus einer praxistheoretischen Perspektive werden Tätigkeiten primär hinsichtlich des Wie ihres Vollzugs und ihrer Abstimmung fokussiert, anstatt soziales Geschehen vornehmlich als Resultat vorausgehender Entwürfe oder normativer Regeln zu begreifen (vgl. Reckwitz 2001: 117ff.). Eine praxistheoretische Perspektive hat deswegen auch »eine andere Empirizität« als Handlungskonzepte, wie Stefan Hirschauer anmerkt. »Eine Handlung muss in Gang gesetzt werden, sie verlangt nach einem Impuls und einem Sinnstiftungszentrum« (Hirschauer 2004: 73), wohingegen bei Praktiken mit einem Fokus auf ihren Vollzug von einer Beobachtbarkeit ausgegangen werde, um aus dem Beobachtbaren implizite Wissensgrundlagen zu rekonstruieren.19 Dieses implizite Wissen wird als ein praktisches Wissen gedacht, das im Verlauf der Sozialisation durch wiederholtes Tun im Rahmen sozialer Praktiken mit dem ganzen Körper erlernt wird und daher zwar Kreativitätspotentiale bereit hält, sich andererseits aber einer vollständigen Verfügbarkeit entzieht (vgl. Polanyi 1985). In den aktuellen praxistheoretischen Konzeptionen bleibe allerdings weitgehend ungeklärt, so kritisiert Bongaerts, wie dieses praktische Wissen eigentlich erworben werde. Mit dem Ziel genauer zu bestimmen, inwiefern der Praxisbegriff ein Tätigkeitsspektrum theoretisch erfasst, das über einen Handlungsbegriff »klassischer« Sozialtheorien hinausreicht, führt Gregor Bongaerts daher eine Unterscheidung der beiden Begriffe ›Routine‹ und ›Gewohnheit‹ ein. Um eine Differenz dieser Begriffe herauszuarbeiten fragt er danach, wie Routinen und Gewohnheiten jeweils erworben werden, wobei aus seiner Sicht der Aspekt einer Steuerbarkeit in der jeweiligen Aneignung zentral ist. Mit der begrifflichen Unterscheidung von Routine und Gewohnheit sieht er eine deutliche Differenz in Hinblick auf grundsätzlich verschiedene Aneignungsweisen eines praktischen Wissen – und damit die Möglichkeit gegeben, »Formen des Wissens und so auch differierende sozial relevante Tätigkeiten zu unterscheiden« (Bongaerts 2007: 249). Soziale Praktiken versteht Andreas Reckwitz in Anknüpfung an Theodore R. Schatzki als »know-how abhängige und von einem praktischen ›Verstehen‹ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern handelnder Subjekte ›inkorporiert‹ ist, die andererseits aber die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und den von ihnen ›verwendeten‹ materialen Artefakten annehmen« (Reckwitz 2003: 289). Reckwitz greift dessen Formulierung eines »nexus of actions« auf und bezeichnet Praktiken als typisierte, routinisierte und sozial »verstehbare« Bündel von Aktivitäten, die durch sozial

19 Die ›Beobachtbarkeit‹ ist hier metaphorisch zu verstehen und nicht allein auf Visuelles beschränkt, sondern in der Ethnographie, der sich Hirschauer zuordnet, auf den gesamten Sinnesapparat beziehbar (vgl. Hirschauer 2001; Schmidt/Volbers 2011).

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geteiltes, implizites Wissen zusammengehalten werden (ebd.). Schatzki führt diesbezüglich aus: »Any practice, consequently, embraces two overall dimensions: activity and organization. […] a practice is an organized constellation of actions […] In my account, practices are open, temporally unfolding nexuses of actions«, wobei unter ›actions‹ körperliche Vollzugsmomente zu verstehen sind (Schatzki 2002: 71f.). Das Alltagsgeschehen sozial konzertierter Lebensführungen wird in dieser Perspektive durch ein dynamisches Geflecht sozialer Praktiken ausgeformt (vgl. ebd.: 70) – mit wiederkehrenden Situationen, die durch Wahrnehmungsroutinen als typische Situationen der alltäglichen Lebensführung erlebt und durch ein praktisches Wissen bewältigt werden, dem aufgrund von nicht-identischen Situationen neben Routine immer wieder auch Innovativität abverlangt wird. Bongaerts kritisiert mit dem Ziel einer Klärung ihres handlungstheoretischen Status an diesen Entwürfen einer Theorie der Praktiken, dass von Routinen und praktischem Wissen geschrieben werde, ohne deren Generierung zu thematisieren, besonders hinsichtlich der Frage, »ob Routinen ehemals bewusstem Handeln entspringen oder aber konstitutiv nicht-bewusst angeeignet werden« (Bongaerts 2007: 249). In dieser Frage der Aneignungsweise sieht er einen fundamentalen Unterschied zwischen Routine und Gewohnheit. Seine Sichtweise verdeutlicht er mit Bezug auf die Alltagssprache: So werde von einem »Gewohnheitstrinker« oder einem »routinierten Trinker«, von »schlechter Angewohnheit« oder »schlechter Routine« gesprochen, und auch die Redeweisen »man gewöhnt sich daran« und »man bekommt Routine darin« meinten Verschiedenes. Er schlussfolgert: »Es lässt sich leicht feststellen, dass ›Routine‹ offenkundig ein ursprünglich bewusst trainiertes Handeln bezeichnet, während ›Gewohnheiten‹ ihrem Bedeutungsgehalt nach auch und gerade auf der Aneignung von Verhaltensweisen beruhen, die nicht das Bewusstsein im Sinne eines Entwurfs, Ziels oder Plans durchlaufen haben müssen …« (ebd.: 256).20

20 In seinen Überlegungen zu unterschiedlichen Wissenstypen – knowing how und knowing that – unterscheidet auch der Philosoph Gilbert Ryle bereits verschiedene Arten von knowing how: Gewohnheit und eine andere Art von »zweiter Natur«, die er »Fähigkeiten der Intelligenz« nennt. »Diese Unterscheidung zwischen Gewohnheiten und Fähigkeiten der Intelligenz kann durch die parallele Unterscheidung zwischen den Methoden erläutert werden, die für die Einübung der zwei Arten von zweiter Natur verwendet werden. Abrichtung erzeugt Gewohnheiten, Ausbildung Fähigkeiten der Intelligenz.« (Ryle 1992: 50f.) Mit Gewohnheit werde gemeint, dass jemand etwas automatisch tue, »ohne dabei auf das, was er tut, achten zu müssen«. Als Beispiel für »blinde« Gewohnheit verwendet Ryle das Beispiel des Gehens: »Wenn wir dem Kriechalter entwachsen sind, gehen wir den Gehsteig entlang, ohne auf unsere Schritte zu achten.« (Ebd.) Dagegen setzt er die »Fähigkeit, Regeln anzuwenden« und verweist auf das Schachspiel (ebd.: 48f.).

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Im Anschluss an diese Feststellung greift er den Begriff der Habitualisierung von Peter L. Berger und Thomas Luckmann auf, der den Aneignungsprozess von Routinen nach einem »Gesetz der Gewöhnung« bezeichne (vgl. Berger/Luckmann 2000: 56ff.), wobei Bongaerts den Begriff der Habitualisierung einer primär intentionalen Aneignung von Routinewissen zuordnet.21 Den Alltagsroutinen und ihrer Aneignung als Habitualisierung nach Berger und Luckmann stellt er das Konzept des Habitus von Pierre Bourdieu gegenüber. Denn »Routinehandeln«, verstanden als »ein ursprünglich bewusst trainiertes Handeln«, meine Bourdieu in seinem Verständnis von habitueller Praxis gerade nicht, da es ihm primär um die vorreflexive Einübung sozial relevanter Verhaltensweisen gehe. Bourdieu habe »denn auch den Verhaltensmodus ›Gewohnheit‹ am deutlichsten zur Grundlage seiner Theorie sozialer Praxis gemacht« (Bongaerts 2007: 256). Nach Bourdieu bilden sich die grundlegenden Wahrnehmungs-, Beurteilungsund Handlungsschemata des Habitus durch eine fortwährende praktische Mimesis innerhalb einer sozialen Welt aus, die durch praktische Teilhabe und emotional gesteuerte Identifikationen primär ohne »bewusstes Bemühen um Reproduktion« oder reflexive Distanz erlebt wird. »Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.« (Bourdieu 1993:

21 Bongaerts charakterisiert die Habitualisierung als »ehedem bewusste[s] Handeln, das durch Einübung zur Gewohnheit wurde« (Bongaerts 2007: 256). Es kann jedoch hinterfragt werden, ob die ausschließliche Zuordnung zu einer vormals intendierten Routinisierung dem Konzept von Berger und Luckmann gerecht wird. Ihre explizit nicht-empirische Beschreibung von Prozessen der Habitualisierung, als Erklärung für ein Zustandekommen von »Institutionalisierungen«, ist m.E. als heuristisches Modell zu verstehen. Vergleichbar mit Thomas Hobbes’ Gründungsmythos des Staates im Leviathan gehen sie von einem hypothetisch modellierten ›Ursprungszustand‹ aus. Sobald in dem »Schulbeispiel« Kinder »in der Frühphase ihrer Sozialisation« hinzugedacht werden, »verdichtet« und »verhärtet« sich die »Objektivität« eines Routinehintergrunds – dieser wird zu einer »Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenübersteht« (Berger/Luckmann 2000: 59ff.). Die in ihrem Modell an einem hypothetischen Anfang selbst geschaffenen Habitualisierungen entziehen sich zunehmend der individuellen Verfügbarkeit, wenn eine Geschichtlichkeit des Soziallebens und die »Institutionalisierungen« einer Routinewelt hinzugedacht werden. »Den Kindern ist die von den Eltern überkommene Welt nicht mehr ganz durchschaubar. Sie hatten nicht Teil daran, ihr Gestalt zu geben. So steht sie ihnen nun als gegebene Wirklichkeit gegenüber – wie die Natur und wie diese vielerorts undurchschaubar. Jetzt erst wird es möglich, von einer gesellschaftlichen Welt im Sinne einer in sich zusammenhängenden, gegebenen Wirklichkeit zu sprechen, die dem Menschen wie die Wirklichkeit der natürlichen Welt gegenübersteht. Nur so, als objektive Welt, können die sozialen Gebilde an eine neue Generation weitergegeben werden.« (Ebd.: 63)

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135) Dieses System individueller Dispositionen bildet sich in einer geschichtlich präexistenten Praxiswelt »von bereits realisierten Zwecken, Gebrauchsanleitungen oder Wegweisungen, und von Objekten, Werkzeugen oder Institutionen«, die nicht einfach objektiv ›da‹ ist, sondern auf der Grundlage früherer Erfahrungen erlebt wird und Erfahrungen dementsprechend mit prägt (ebd.: 100ff.). »Nun heißt die Fokussierung auf habituelle Dispositionen bei Bourdieu nicht, dass bewusstes oder ehedem bewusstes Handeln nicht vorkäme oder nicht auch ein relevanter Modus sozialer Praxis wäre; aber sie bedeutet, dass dem Handeln abgesprochen wird, der primäre Modus sozialer Praxis zu sein. […] Es geht also um eine Fundierungslogik, in der bewusstes Handeln noch auf eine soziale Praxis zurückverweist, in der sozial relevante, aber konstitutiv nicht bewusste Tätigkeitsweisen gelernt werden. […] Alles soziale Tun ist dann in habituellen Dispositionen fundiert, die auch den bewussten Entwurf intentionalen Handelns konstituieren.« (Bongaerts 2007: 256ff.)

Bourdieu lenke das Augenmerk, so Bongaerts, auf die »habituellen Prägungen«, »die konstitutiv nicht-bewusst waren und sind: echte Gewohnheiten also, nicht Routinen«, wodurch die »empirische Vielfalt körperlich feinjustierten Abstimmungsverhaltens wie auch emotionalen Erlebens und affektiver Reaktionen« verstärkt mit in den Blick geraten (ebd.: 258). Als fundamentalen Begriff für »diese sozial relevanten Tätigkeiten, die konstitutiv nicht bewusst sind und waren«, schlägt Bongaerts im Anschluss an »die handlungstheoretische Tradition« den Begriff des Verhaltens vor. Eine adäquate Begriffsverwendung sei allerdings von einer behavioristischen Auffassung abzulösen und eher »im Sinne des englischen conduct im Unterschied zum behaviour« zu verstehen – so wie »in der soziologischen Tradition« bei George Herbert Mead oder Alfred Schütz, der alle »automatischen Handlungen« als Verhalten bezeichne, »gewohnheitsmäßige, traditionelle, affektive« (ebd.: 257).22 Diese Unterscheidung von Routine und Gewohnheit, in der Bongaerts den Bourdieu’schen Praxisbegriff in Bezug zum Verhaltensbegriff

22 Die Charakterisierung geht auf die Handlungstheorie von Max Weber zurück, auf den Bongaerts bereits zu Beginn seines Essays verweist: Webers Definition der Handlung als Verhalten, das mit einem subjektiv gemeinten Sinn verbunden ist, bedeute »schließlich nicht, dass jedes Verhalten durch bewusste Sinngebung gesteuert sei«. Insbesondere für den Typus des traditionalen Handelns konstatiere Weber »ein affektgesteuertes oder gewohnheitsmäßiges Handeln«, dessen Sinn mehr gefühlt als gewusst werde (Bongaerts 2007: 252; vgl. Weber 1972: 12). Schütz – der zwischen Handlung und Handeln, zwischen Entwurf und vollendeter Handlung differenziert – konzipiere das Handeln in erster Linie als ungeplantes Routinehandeln im körperlichen Vollzug und nicht als bewusstes Handeln (Bongaerts 2007: 251).

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setzt und die Routinen nach Berger und Luckmann bzw. Praktiken nach Schatzki eher einem ›klassischen‹ Handlungsbegriff zuweist, wird im Folgenden mit einer praxistheoretischen Perspektive aufgegriffen, um in Hinblick auf das ›gewohnte‹ Zusammenleben als Familie eine andere begriffliche Unterscheidung von Routine und Gewohnheit zu entwickeln, in der das jeweilige Selbst- und Weltverhältnis stärker in den Vordergrund gerückt wird. Zum einen kann hinterfragt werden, ob Bourdieus Konzeptualisierung von Praxis, die durch Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsschemata eines Systems von Dispositionen gesteuert wird, das sich insbesondere in der frühen Kindheit entwickelt, mit dem Begriff der Gewohnheit adäquat charakterisiert ist (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006: 154f.). Als ein dynamisches System von Dispositionen ist der Habitus nicht allein durch eine biographische Herkunft und lebensgeschichtliche Erfahrungen im Sinn äußerer ›Prägungen‹, sondern auch durch eine Spontaneität organisch fundierter, biographisch gewachsener Begehrensstrukturen konstituiert. Der Begriff der Gewohnheit bleibt dagegen auf erworbene Verhaltensweisen bezogen, ohne in Hinblick auf die systematischen Beziehungen zwischen organisch verfasster Körperlichkeit, individueller Lebensgeschichte, spezifischem Handlungsfeld und situationsoffenem Agieren hinreichend beweglich zu sein – ohne daher einer relativen Offenheit des Habitus gerecht zu werden, der lediglich ein Spektrum wahrscheinlicher Handlungs- und Reaktionsweisen eingrenzt, in dem es Dynamiken und Spielräume gibt, deren Offenheit selbst wiederum maßgeblich durch den Habitus bestimmt wird. »Als ein Produkt der Geschichte ist er ein offenes Dispositionensystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und damit unentwegt von ihnen beeinflußt wird. […] Der Habitus – man darf nicht vergessen, dass es sich um ein System von Dispositionen handelt, das heißt von Virtualitäten, Potentialitäten – wird erst im Verhältnis zu einer bestimmten Situation manifest.« (Ebd.: 167f.)

Daran schließt sich als zweite Frage an, ob der Begriff des Verhaltens (conduct) adäquat ist, um das Verhältnis von Praxis und der lokal situierten gesellschaftlichen Wirklichkeit (und Wirksamkeit) eines Feldes kenntlich zu machen. Im Gegensatz zum conduct sind Praktiken oder eine Praxis auch nicht strikt einzelnen Individuen zuzuordnen, da sie auf überindividuellem Wissen beruhen und sich in konkreten Vollzügen oft auch eher zwischen Individuen ereignen können (z.B. als Teamarbeit oder im Spiel) – im Fokus steht mit den Worten von Erving Goffman eher eine »Situation und ihre Menschen« (Goffman 1986: 9). So können auch Artefakte konstitutiv (d.h. unverzichtbar für das Zustandekommen) beteiligt sein. Bongaerts fokussiert mit dem Begriff des Verhaltens vornehmlich individuelles Agieren, was eher der Konzeption bei Schatzki als Bourdieu entspricht. Besonders in ethno-

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graphischer Ausrichtung wird individuelles Tun als integraler Bestandteil eines größeren Zusammenhangs, »als ein Tun betrachtet, das Dinge geschehen macht oder geschehen lässt«, wobei sich diese Blickweise über den menschlichen Körper hinaus für andere Entitäten öffnet, »die auf eine für sie spezifische Weise in den Vollzug von Praktiken involviert sind« (Hirschauer 2004: 74f.). Obwohl Bongaerts auf diesen Aspekt hinweist, bleibt er einem ›handlungstheoretischen Individualismus‹ verbunden (vgl. Schmidt 2009: 39, 2011: 95). Drittens kann in Frage gestellt werden, ob es angemessen ist, den Begriff der Routine aus wissenssoziologischer Perspektive auf »ursprünglich bewusst trainiertes Handeln« zu beschränken und sie der Gewohnheit als ausschließlich ›unbewusst‹ erworbene entgegen zu stellen. So geht bspw. auch Robert Schmidt der Frage nach, wie Praktiken angeeignet werden. Er verweist ebenso wie Bongaerts mit Bourdieu auf ein mimetisches Erklärungsmodell der kulturellen Tradierung von Wissen als »stumme Weitergabe«, indem im Mitmachen, durch Partizipation, »sozial ›trainierte‹ Körper« hervorgebracht werden. In sogenannten communities of practice wachsen die Beteiligten in überindividuelle Wissensbestände hinein (Schmidt 2008; vgl. Lave/Wenger 1991; Gebauer/Wulf 2003).23 Wie sollte hinsichtlich einer lebenspraktischen Involvierung ›von klein auf‹ zwischen bewusster und unbewusster Aneignung unterschieden werden? Die Frage, ob und inwiefern etwas »bewusst« oder »konstitutiv nicht-bewusst« bzw. ›vorreflexiv‹ angeeignet wird, ist nicht einfach zu entscheiden, da es hierbei nicht um eine kategorische, sondern um eine graduelle, mithin unscharfe Unterscheidung geht (vgl. Knoblauch 2003: 194).24 Ein deutlicherer, wenn auch gleichfalls nicht diametraler Gegensatz zum Bewussten wäre die Bewusstlosigkeit. Gerade die Berücksichtigung der Sozialisation im Kindesalter lässt die Unterscheidung hinsichtlich der Entwicklung von Routinen problematisch erscheinen.

23 Bongaerts kommt nur in Bezug auf Gewohnheiten darauf zu sprechen, »dass habituelle Dispositionen durch Mitmachen in typischen Situationen angeeignet werden«, wobei er das Mimesiskonzept von Gunter Gebauer und Christoph Wulf aufgreift (Bongaerts 2007: 259; vgl. Gebauer/Wulf 1998). 24 Ebenso wie Gilbert Ryle ordnet der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty, auf den Bongaerts in einem früheren Essay ausführlich eingeht (vgl. Bongaerts 2003), das körperliche Bewegungswissen dem Begriff der Gewohnheit zu. »Der Leib ist es, so sagten wir, der im Erwerb einer Gewohnheit ›versteht‹.« (Merleau-Ponty 1966: 174) MerleauPonty verweist auf die Beispiele des Tastens mit einem Blindenstock und des Schreibmaschineschreibens, also eher Routinen in Bongaerts’ Unterscheidung. Merleau-Ponty geht es jedoch nicht um eine ›bewusste‹ oder ›unterbewusste‹ Aneignungsweise, sondern unabhängig von dieser Frage um den Erwerb eines praktischen Sinns, eines körperlichen ›Gefühls‹ für den Umgang, in das sich eingelebt wird.

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Kinder sind sozusagen ontogenetisch auf einen praktischen Wissenserwerb ›programmiert‹, sie möchten viel können und wissen; sie sind entsprechend aufmerksam für Vorbilder – aber sie entwickeln nicht nur dort Routine, wo sie ›bewusst‹ etwas einüben. Wenn jemand Routine in etwas ›bekommt‹, muss das nicht heißen, diese Routine ›bewusst‹ angestrebt zu haben oder auch planmäßig gelehrt worden zu sein.25 Hinsichtlich des Routinebegriffs schreiben Berger und Luckmann von Typisierungen in Wahrnehmung und Verhalten. Aus ihrer Perspektive wird die erlebte Wirklichkeit von vielfältigen Routinen getragen, die im Umgang mit dieser Wirklichkeit angeeignet werden, wobei Kinder in eine bereits bestehende, hochgradig technologisch durchformte Routinewelt hineinwachsen, bevor sie diese reflektieren können. »Die Wirklichkeit […] ist einfach da – als selbstverständliche, zwingende Faktizität. Ich weiß, daß sie wirklich ist. Obgleich ich in der Lage bin, ihre Wirklichkeit auch in Frage zu stellen, muß ich solche Zweifel doch abwehren, um in meiner Routinewelt existieren zu können.« (Berger/Luckmann 2000: 26) Pierre Bourdieus soziale Welt ist von dieser Konzeption einer vorgängigen Routinewelt nicht allzu weit entfernt, in der die alltagspraktischen Lebenszusammenhänge einem Bewusstsein vorausgehen, das sich unter Umständen reflexiv in die Lage versetzt, diese Wirklichkeit partiell zu hinterfragen oder zu kritisieren. In beiden Ansätzen ist ein körperlich verfasstes Selbst nicht nur in eine Routinebzw. Praxiswelt involviert, sondern wird als soziales Wesen auch alltagspraktisch durch diese konstituiert. »Ich bin in der Welt enthalten, aber sie ist auch in mir enthalten, weil ich in ihr enthalten bin; weil sie mich produziert hat und weil sie die Kategorien produziert hat, die ich auf sie anwende, scheint sie mir selbstverständlich, evident.« (Bourdieu/Wacquant 2006: 161) Diese Wirklichkeit wird aus einer wissenssoziologischen Perspektive nicht als eine objektiv Gegebene weitergegeben und angeeignet, sondern individuell und kreativ reproduziert. So kritisiert z.B. William A. Corsaro, ›klassische‹ Konzepte der Sozialisation implizierten häufig die Vorstellung einer sukzessiven Aneignung objektiver Wirklichkeit. Man denke bei diesem Begriff daher unweigerlich an die Erziehung und Vorbereitung von Kindern in Hinsicht auf ihre Zukunft in einer vorgegebenen Welt – wobei darüber hinweg gegangen werde, dass soziale Wirklichkeit von allen Beteiligten hervorgebracht wird. Kinder übernähmen nicht eine vorgelebte Erwachsenenwelt, sondern spielten kreativ mit den wahrgenom-

25 Vieles, das routiniert ausgeübt wird, ist eher durch eine praktische Involvierung in bestimmte Umstände ›ankonditioniert‹, als ›bewusst‹ aneignet worden. Im gemeinsamen Familienleben geht das Eltern ähnlich wie ihren Kindern (vgl. Bell 1968; Rheingold 1969; Kuczynski/Parkin 2007).

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menen Routinemustern, die sie aus ihrer Perspektive deuten und reproduzieren. »From a sociological perspective, socialization is not only a matter of adaption and internalization but also a process of appropriation, reinvention, and reproduction.« (Corsaro 1997: 18) »Children’s participation in cultural routines is a key element of interpretive reproduction. The habitual, taken-for-granted character of routines provides children and all social actors with the security and shared understanding of belonging to a social group. On the other hand, this very predictability empowers routines, providing a framework within which a wide range of sociocultural knowledge can be produced, displayed, and interpreted.« (Ebd.: 19)

Corsaro veranschaulicht seine Perspektive auf den Erwerb sozialer Praktiken, die er mit ethnomethodologischen Anleihen als ›kulturelle Routinen‹ fasst, mit Erkenntnissen des Psychologen Jerome S. Bruner und Kollegen. Kinder sind schon bald nach ihrer Geburt in soziale Interaktionen eingebunden, in denen mit ihnen umgegangen wird, als seien sie bereits sozial kompetente Interaktionspartner, und die Interaktion wird von den Kindern durch ihre Verhaltensäußerungen mit strukturiert. Von diesen ›als ob‹-Unterstellungen ausgehend wachsen sie mit der Zeit über anfänglich eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten in eine zunehmend ›volle‹ und eigenständige Teilhabe an ›kulturellen Routinen‹ hinein. Die Partizipationsmöglichkeiten an ›kulturellen Routinen‹, die den Akteuren maßgeblich vorgängig und anfangs noch äußerlich sind, verweist auf ein überindividuelles praktisches Wissen, das individuell im Tun erschlossen werden muss. Die perspektivische Aneignung ›vorgelebter‹ Modelle geschieht dabei vorrangig durch ein allmähliches Einüben im Mitmachen, das anfangs noch gar nicht umfassend verstanden werden muss. Da das zugrundeliegende Wissen jedoch immer eines individuellen praktischen Verstehens zur Teilhabe bedarf, sind Reproduktionen von Routinen nicht mit ihren Vorläufern identisch, sondern beinhalten in ihrem Vollzug stets ein kreatives Potential. Dieser Routinebegriff ist nicht weit von Bourdieus Begriff der Praxis entfernt, den er nicht als bloße Ausführung verstanden haben will, sondern eine »schöpferische Dimension« darin sieht (Bourdieu 1992: 30). Vor diesem Hintergrund wird anstelle der Unterscheidung von bewusster und »konstitutiv nicht-bewusster« Aneignung praktischen Wissens eine begriffliche Differenzierung von Routine und Gewohnheit vorgeschlagen, die ebenfalls an der Alltagssprache orientiert ist. Demnach verweist der Begriff der Routine, gerade auch mit Blick auf sich wiederholende Arbeitsprozesse, in erster Linie auf eine erworbene Kompetenz im Sinn eines inkorporierten Rezeptwissens zur Situationsbewältigung aus einer vorrangig ›technischen‹ Perspektive – ein ›knowing how‹. Der Begriff der Gewohnheit ist im alltäglichen Sprachgebrauch dagegen nicht

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auf Fragen des Könnens gerichtet, sondern thematisiert eine Regelmäßigkeit von Verhaltensmustern in Korrelation zu typischen Umständen innerhalb der Lebensführung aus einer ›ethischen‹ Perspektive. Gewohnheiten spiegeln die Vertrautheit mit bestimmten Umständen einer materialen Umwelt, in die sich mit darauf eingestellten, mehr oder weniger automatisierten Verhaltensmustern alltagspraktisch eingerichtet worden ist.26 Um ein schon genanntes Beispiel aufzugreifen: Der Unterschied zwischen Routine und Gewohnheit besteht hinsichtlich des »Trinkers« weniger in der Aneignungsweise seiner ›Trinkfestigkeit‹, als in einer unterschiedlichen Blickweise auf den Trinker. Beim »Gewohnheitstrinker« ist der Blick auf ein Verhaltensmuster der Lebensführung gerichtet; beim »routinierten Trinker« wird dessen Fähigkeit in den Vordergrund gestellt, eine Anforderung ›gut‹ zu bewältigen – es wird umgangssprachlich eine gewisse ›Könnerschaft‹ unterstellt. Dabei muss sich der Trinker seine Routiniertheit gar nicht willentlich antrainiert haben; sie kann auch schlicht daraus resultieren, dass er zu einem Gewohnheitstrinker geworden ist. Die Rede von cultural routines bzw. sozialen Praktiken verweist auf ein überindividuelles Wissen von Kulturtechniken (Körpertechniken wie auch sozial komplexere routinierte Abläufe), die auf der Grundlage angeeigneter Kompetenzen reproduziert werden. Im Kontrast dazu sind Gewohnheiten nicht direkt ›zu etwas gut‹, auch wenn sie den Tagesrhythmus stark bestimmen können. Sie fungieren eher als eine Art Grundsicherheit, im Sinn einer Reproduktion von bereits vertrauten Welt- und Selbstverhältnissen durch ›eingeschliffene‹ Verhaltensweisen im Verhältnis zu typischen Umständen – wobei das Können im Hintergrund bleibt und eher eine Vertrautheit, ein ›bereits Kennen‹, im Vordergrund steht. Etwas wird zur Gewohnheit, oder mitunter auch ›bewusst‹ zur Gewohnheit gemacht, wobei die zugrundeliegenden Tätigkeiten zunehmend routiniert ausgeführt werden. In Hinblick auf die gleichen Vorgänge kann also Verschiedenes akzentuiert werden, wobei die Begriffe nicht immer scharf voneinander abgrenzbar sind.27 Im Begriff der Alltagsroutine verwischt diese analytische Unterscheidung. Als Alltagsroutine werden komplexe Verflechtungen von Praktiken in der alltäglichen Lebensführung bezeichnet, die in Abfolge oder als Multitasking vielseitige tech-

26 »Man ist gewohnt, was man bewohnt« und andererseits ist die »gewohnte Umwelt […] das, was die Gewohnheiten prägt«, schreibt auch Jörg M. Kastl in Anspielung auf den gemeinsamen Wortstamm, der im Lateinischen gleichfalls besteht (Kastl 2007: 375). 27 Der alltagssprachliche Wortgebrauch ist vom Alltagsverständnis gelenkt. So wird zwar aus Gewohnheit ferngesehen, aber im Computerspielen kann Routine entwickelt werden – beim Computerspielen wird ein technisches Können zuerkannt, das beim Fernsehen als nicht gegeben angesehen wird.

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nische Aspekte des Könnens beinhalten, deren wiederkehrende Bewältigung zur Gewohnheit geworden ist. In der alltäglichen Lebensführung wird der sich regelmäßig wiederholende Alltag trotz seiner Varianzen sozusagen im Ganzen zur Routine – zu einem komplexen und dynamischen Set ineinander verschachtelter, teilweise auch einander bedingender Praktiken, die routiniert ausgeführt werden, jedoch immer auch Kreativitätspotential abfordern. »Praktiken begründen eine bestimmte Handlungsnormalität im Alltag«, so Karl H. Hörning. »Durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die sich zu kollektiven Handlungsmustern und Handlungsstilen verdichten und so bestimmte Handlungszüge sozial erwartbar werden lassen« (Hörning 2001: 160). Die Handlungsgepflogenheiten im Rahmen des ›gewohnten‹ Zusammenlebens beinhalten dabei nicht nur gemeinsames Tun, sondern auch vielzählige Praktiken, die derart arbeitsteilig geregelt sind, dass Familienmitglieder unterschiedlich eingebunden sind – oder auch nicht. Das Badezimmer wird z.B. eher selten gemeinsam geputzt, und es gehen auch nicht unbedingt immer alle zusammen einkaufen. Dennoch haben die einzelnen Tätigkeiten konstitutiv Anteil an der Ausformung einer verbindenden Praxis des Wohnens – mit Handlungsgepflogenheiten, in denen der eine vielleicht routiniertes Kochen und Wäschewaschen, der andere lediglich regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten und frische Wäsche im Schrank gewohnt ist. Die jeweiligen Praktiken konstituieren daher eine geteilte Alltagsroutine des Zusammenlebens in einem doppelten Sinn: als Gemeinsames und Aufgeteiltes. Die einzelnen Praktiken, die zu einer Praxis des Wohnens amalgamieren, formen auf materieller Grundlage eine dynamische Ordnung des ›gewohnten‹ Familienlebens. Im Rahmen des Zusammenlebens sind die individuellen Tagesverläufe in einem schematisch vertrauten Geflecht routinierter Praktiken miteinander vernetzt, an dem individuell unterschiedlich partizipiert wird. Die Zugehörigen entwickeln in je verschiedenen Praktiken Routine und blenden anderes aus, das von anderen Zugehörigen wiederum routiniert erledigt wird. Einerseits ist die Lebensführung im Rahmen des Zusammenlebens auf eine gemeinsame Praxis des Wohnens bezogen; andererseits sind alle Beteiligten in ganz unterschiedliche Alltagsabläufe involviert und können auch eine entsprechend differente Sicht darauf haben. Wenn der Begriff der Gewohnheit auf mehr oder weniger ›eingeschliffene‹ Beziehungen zu typischen Umständen in einer materialen Umwelt und darauf eingestellten Verhaltensweisen verweist, so wird das Konzept des ›gewohnten‹ Zusammenlebens hier auf ›gefestigte‹ Beziehungen zwischen materieller Umgebung, typischen Situationen und routinierten Verhaltensmustern als ein dynamischer Zusammenhang bezogen, in den sich gemeinsam eingelebt bzw. auch eingerichtet wird. In diesem dynamischen Zusammenhang familiärer Räume und

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einer darauf abgestimmten Praxis gehen alle Beteiligten einer unterschiedlichen Ausgestaltung ihres Alltags nach. Allerdings sind besonders im 19. Jahrhundert verstärkt ritualisierte Formen konzentrierter und konzertierter Zusammenkünfte geschaffen worden, um das Gemeinsame im Rahmen des Zusammenlebens als Familie für- und miteinander zu bekräftigen.28

Z UM E RFAHRUNGSRAUM IM R AHMEN DES Z USAMMENLEBENS Mit Blick auf die viktorianische Mittelklasse Englands im 19. Jahrhundert beschreibt der Historiker John R. Gillis, wie das Konzept der ›Familienzeit‹ mit der Sorge entstanden sei, zuwenig davon zu haben. Denn in Folge der Urbanisierung und Industrialisierung, mit einer Auslagerung von Erwerbsmöglichkeiten aus dem häuslichen Umfeld und schließlich einer ›massenhaften‹ Ausweitung von ›Freizeit‹ und Freizeitkultur (vgl. Maase 1997), sind die verschiedenen Tätigkeitsfelder im individuellen Tagesverlauf zunehmend ›dezentriert‹ organisiert und haben an zeitlicher und räumlicher Kohärenz verloren (vgl. Giddens 1995: 28ff.). Vor dem Hintergrund eines gesteigerten ›Familiensinns‹ wurden die Kräfte der modernen Ökonomie für eine kritisch beargwöhnte Mobilisierung und Dezentrierung der alltäglichen Lebensführung verantwortlich gemacht – aus der Befürchtung, sich im Zusammenleben als Familie voneinander zu entfremden (Gillis 2001: 19ff.). »As early as the 1830s and 1840s, we begin to encounter the now familiar laments of time famine and homelessness among the group most committed to the acceleration of time and the separation of public and private space. But the middle classes not only complained about the vanishing present and the loss of a sense of place, they did something about it, creating new kinds of compensatory time and space. They created what today are universally recognized as modern ›family times‹ and ›family places‹. In the course of the nineteenth century virtually all our daily, weekly, and annual family occasions were invented.« (Gillis 2003: 2)

Da eine Konzentrierung auf die nächsten Familienbeziehungen und eine dezidierte Bildungsorientierung im Strukturwandel der Moderne zunehmend bedeutsamer wurden, sieht Gillis in der Ritualisierung verbindender ›Familienanlässe‹, in der

28 Kathrin Audehm, Christoph Wulf und Jörg Zirfas machen diesbezüglich allerdings deutlich, dass solche Rituale nicht nur für eine Dar- und ›Herstellung‹ von Gemeinsamkeit bedeutsam sind, sondern stets auch Unterschiede, z.B. hinsichtlich Alter und Status, aufgezeigt und bekräftigt werden (vgl. Audehm/Zirfas 2000; Audehm/Wulf/Zirfas 2007; Wulf/Zirfas 2004).

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intensivierten Verräumlichung des Familienlebens mit einer Ausdifferenzierung des Wohnbereichs wie auch in den populär werdenden Familienportraits moderne ›mediale‹ Strategien, um sich einer Kontinuität im Zusammenleben als Familie zu versichern (vgl. Gillis 1996: 82ff., 2001: 27ff., 2005: 154ff.).29 In diesen Strategien sieht er eine ›Virtualisierung‹ des Familienlebens. Die rituelle Aufladung gemeinsamer Zeiten und Orte, die ›vergegenständlichten‹ Repräsentationen und zyklischen Rhythmen dienten dazu, Abwesenheit zu überbrücken und entgegen der ›linearen‹ Zeit der Moderne eine organische Verbindung zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart zu bekräftigen (Gillis 2001: 27; vgl. Myerhoff 1984: 306). Diese Einrichtung ›fester‹ Räume und Routinen resultierte nach Gillis aus dem Bestreben in der Mittelklasse, einem verbindenden ›Familiensinn‹ Ausdruck zu geben und den Rahmen des Zusammenlebens performativ zu stabilisieren.30 Im heutigen Sprachgebrauch ist von einem Rahmen des Zusammenlebens vor allem in Hinblick auf eine gemeinsame Praxis des Wohnens die Rede. Es bestehen zwar auch darüber hinausgehende Konnotationen sozialer Rahmungen – von der Nachbarschaft über einen Dorfzusammenhang oder ein Stadtviertel bis hin zum gesellschaftlichen Zusammenleben in den gleichen Stadt- oder Staatsgrenzen. Doch stehen solche ›weiteren‹ Bezugnahmen aus heutiger, zumindest aus europäischer Sicht hinter einer primären Erfahrung des Wohnens zurück. Hinsichtlich einer ›performativen‹ Auffassung des Rahmenbegriffs eignet sich eine Lesart von Karl Mannheim, der diesen auf die Sozialform der polis in der griechischen Antike bezieht. Die polis existiere zu ihrer Zeit als »eine eigentümliche ›Rahmenform‹ der Zusammenexistenz« – und zwar unabhängig »von jener Daseinsform, die in den Reflektionen der an ihr teilhabenden und in ihr existierenden Individuen Gehalt gewinnt«. Die polis sei nicht nur die »Summe der Beziehungen, sondern zugleich auch ihr Zusammenhang, ihr System, ihre Totalität.«

29 Innerhalb der Wochen- und Tagesrhythmen finde im 19. Jahrhundert eine intensive Ritualisierung der verschiedensten ›Familienanlässe‹ statt (vgl. Rybzcinski 1991: 71ff.). Gillis verweist auch auf eine ›Verhäuslichung‹ (domestication) traditioneller Feierlichkeiten wie Weihnachten, die vormals in offeneren Gemeinschaftszusammenhängen begangen wurden, bevor sie zu einem kalendarischen Fixpunkt der Familienbesinnung geworden seien (Gillis 2001: 27; vgl. Pleck 2000: 8). Ebenso schreiben Frykmann und Lofgren mit Blick auf Schweden von einer »Ritualisierung des Familiengefühls« seit Mitte des 19. Jahrhunderts (Frykman/Lofgren 1987: 139). 30 Der Begriff des Performativen richtet sich hier auf eine ebenso regelgeleitete wie emergente Hervorbringung von sozialer Wirklichkeit auf der Grundlage einer alltagspraktischen Ausformung des Familienlebens sowohl durch Tätigkeiten als auch durch ›vergegenständlichte‹ symbolische Gedächtnisträger (vgl. Wulf/Göhlich/Zirfas 2001).

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»Dieser gegliederten, sinnvoll zusammenhängenden Totalität gegenüber sind die jeweiligen Handlungen, Sich-Inbeziehungsetzungen nur partielle Aktualisierungen eines über sie hinausreichenden Zusammenhanges. Diese Aktualisierungen sind zwar für die Existenz der Rahmenform selbst unerläßlich nötig (ihre Geschichte, ihr Schicksal hängt ja auch vom Wandel der einzelnen Vollzüge und Aktualisierungen ab) und dennoch fällt sie weder mit diesen einzelnen noch mit der Summe aller individuellen Vollzüge zusammen, da weder der einzelne noch die koexistierenden einzelnen die systematische Ganzheit der polis-Wirklichkeit in sich zu fassen imstande sind, sondern nur an ihrer Verwirklichung teilhaben können.« (Mannheim 1980: 247f.)

In vergleichbarer Weise ist eine gemeinsame Praxis des Wohnens in der Rahmenform des Zusammenlebens aufgrund der räumlichen Mobilität, der individuellen Kompetenzen und divergierenden Perspektivität jedes Einzelnen notwendig partiell und dynamisch; zu ihrer Alltagsrealisierung wird auch ganz unterschiedlich beigetragen. Die Beteiligten haben auf je verschiedene Weise an diesem Praxiszusammenhang teil, der über die Summe der einzelnen Vollzüge hinaus eine Kontinuität des Zusammenlebens schafft. Sie können in variierenden Konstellationen mehr oder weniger kurzfristig zusammenfinden und sich räumlich zerstreuen (auch über Nacht oder längere Zeitspannen hinweg), um sich außerhalb dieses Rahmens zu bewegen, vorübergehend in anderen sozialen Formationen ›außer Haus‹ Anschluss zu finden, z.B. einer Freundes-Clique oder im Urlaub. Trotz der Divergenzen individueller Ansichten und Interessenlagen, unterschiedlicher Mobilität und überregionaler Vernetzungen bleibt der Rahmen des Zusammenlebens in der Regel für verhältnismäßig lange Zeitspannen stabil – weil die Zugehörigen ein Gedächtnis und ein emotional fundiertes, diskursiv organisiertes und biographisch orientiertes Verständnis davon haben, was das Zusammenleben für sie jeweils bedeutet. Sie verorten sich in diesem Zusammenhang, in den sie biographisch eingebunden bleiben, bis sie sich von dort herausgelöst haben. Nach Ansicht des Architekturtheoretikers Achim Hahn bringt die Praxis des Wohnens eine unvergleichliche Erfahrungsdichte an sozialer Integration hervor. »Bleibend gewöhnen wir uns an den Ort, werden vertraut mit seinen Menschen, seiner Umgebung und richten unser Leben darin ein.« (Hahn 2008: 157) Eine in diesem Kapitel zivilisationstheoretisch thematisierte ›Verhäuslichung‹ zeichnet er aus phänomenologischer Perspektive als Bildung körperlich fundierter Selbstund Weltverhältnisse innerhalb der vertrauten räumlichen Umgebung nach. Der Leib, so schreibt er mit Bezugnahme auf Maurice Merleau-Ponty, wohne den Raum auf Dauer immer gekonnter ein, »dank der Bewegungserfahrungen, die er macht« (ebd.: 147). Das Wohnen als alltagspraktische Einbettung in einen lokalen, objektivierten Lebenszusammenhang sei ein »Prozess, der eine bestimmte Lebenszeit qualifiziert«, so dass entsprechende Erfahrungen gerade auch während der Kind-

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heit biographisch viel Raum einnehmen. Es zeichne sich durch einen erfahrungsgemäßen Verlauf aus, auf dessen wiederkehrende Situationen und deren Bewältigung sich ein bestimmter »Umgangs-Habitus« einstelle, so dass eine an vielen Praxisfällen erprobte soziale Kompetenz erworben werde. »Das Wohnen bekommt damit ein Reifungsmerkmal, das sich in konstanten Subjekt- und Objektrelationen, also in dauerhaften Beziehungen zu Menschen und Dingen zeigt« (ebd.: 175; vgl. Hahn 1994: 304ff., 1998). Die an den wiederkehrenden Praxisfällen gemeinsamen Wohnens erworbene und erprobte soziale Kompetenz kann mit Karl Mannheim als ein ›konjunktives‹ Wissen gefasst werden, das im Rahmen des Zusammenlebens herausgebildet wird und diesen Rahmen über die einzelnen Vollzugsmomente seiner Aktualisierung hinaus stabilisiert. Karl Mannheim unterscheidet zwischen einem ›konjunktiven‹ Wissen, das durch Teilhabe an einem konkreten Praxiszusammenhang gebildet wird, und einem verallgemeinerbaren ›kommunikativen‹ Wissen, das ohne vergleichbare lokale Situierung aus diskursiv organisierten Vermittlungs- und Aneignungsprozessen bezogen werden kann. So ist in Hinsicht auf ein Verständnis von ›Familie‹ in verschiedenen Diskursarten, z.B. sozialpolitischen Beschlüssen oder auch im gewöhnlichen Alltagsgespräch, ein allgemeiner Begriff in Gebrauch. ›Familie‹ wird dann als eine gesellschaftliche Institution thematisiert – in einer »objektivierten Bedeutung«, wie Ralf Bohnsack an Mannheim anschließend erläutert, »die auf institutionalisierten Erwartungen und z.B. rechtlichen Definitionen beruht« (Bohnsack 2001: 231). Diese Bedeutung entspricht dem »kommunikativen« Wissen nach Mannheim, weil es diskursiv organisiert ist, so dass sich auch bei sehr unterschiedlichen biographischen Hintergründen verhältnismäßig einfach über ein Familienverständnis kommunizieren lässt. »Eine darüber hinaus gehende und zum Teil völlig andere Bedeutung erhält der Begriff ›Familie‹ hingegen für diejenigen, die die Gemeinsamkeiten und Besonderheiten einer konkreten familialen Alltagspraxis miteinander teilen. In dieser Hinsicht gewinnt die Familie dann den Charakter eines Milieus, welches in einem ›kollektiven Gedächtnis‹ (Halbwachs) oder – in der Perspektive der Chicagoer Schule – einer milieu- und auch je fallspezifischen ›natural history‹, einer ›naturwüchsigen Ablaufgeschichte‹ begründet ist.« (Ebd.)

Das zugrundeliegende Wissen wird durch die körperliche Einbindung in einen ›gewohnten‹ gemeinsamen Lebenszusammenhang ›Familie‹ generiert. Die hier eher ›gefühlte‹ Bedeutung von ›Familie‹ gründet sich auf eine sinnlich multimodale, ganzkörperliche Teilhabe an typischen Situationen, atmosphärisch gestimmten Räumen und schematischen Abläufen. Dieser Bedeutungszusammenhang wird auf einer ›vorreflexiven‹, nicht umfassend verbalisierbaren Ebene hervorgebracht –

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auch wenn konkrete Ereignisse sprachlich zu einem Familiengedächtnis verarbeitet werden und sich beide analytisch unterschiedenen Wissensformen auch gar nicht wechselseitig ausschließen. Aus der sinnlichen und sinnhaften ›Verstrickung‹ in einen kollektiven Erlebnisraum emergieren verbindende Erfahrungen. Hinsichtlich dieser biographischen »Erlebnisschichtung« aufgrund einer gemeinsamen Praxisgeschichte spricht Bohnsack mit Mannheim von einem »konjunktiven Erfahrungsraum«, aus dem habituelle Übereinstimmungen und gemeinsame Orientierungsmuster hervorgehen, so dass aufgrund von ähnlich strukturierten Erfahrungen ein gemeinsames Verstehen auch ohne viele Erklärungen möglich wird (ebd.). Die Praxis fungiere gegenüber der verbalen Semantik als »primordiale« Sinnebene (Bohnsack 2003: 61ff.). Ein entsprechend geteilter Sinnzusammenhang ist nicht umfassend explizierbar, da es sich um Erfahrungen handele, die »auf der Grundlage gemeinsamer Erlebniszusammenhänge« gewachsen sind (ebd.: 108). Das Konzept des konjunktiven Erfahrungsraums ist bei Mannheim wie bei Bohnsack aber nicht unbedingt auf eine miteinander geteilte Praxisgeschichte beschränkt, sondern kann auch auf strukturelle Ähnlichkeiten der biographischen »Erlebnisschichtung« ohne einen konkreten gemeinsamen Praxishintergrund bezogen sein. So lässt sich z.B. in Hinblick auf das Dorfleben von einem konjunktiven Erfahrungsraum sprechen. Zwar gibt es ein Allgemeinverständnis und ein entsprechend generalisierbares diskursives Wissen zu dörflichen Lebensweisen, doch ist dieses Wissen nicht damit vergleichbar, ›aus eigener Erfahrung‹ zu wissen wie es ist, in einem Dorf aufzuwachsen (vgl. Bohnsack 1998: 121). Biographisch begründete Gemeinsamkeiten sind nicht unbedingt an gruppenhaftes Zusammenleben gebunden. Einzelne Individuen können sich noch nie begegnet sein und aufgrund ihrer strukturähnlichen Erfahrungsaufschichtung dennoch die ›gleichen‹ Erfahrungen gemacht haben. Ein konjunktiver Erfahrungsraum wird nicht notwendig durch physische Räume konstituiert, sondern ist vergleichbar mit dem Milieubegriff als analytisches Konstrukt zu verstehen, das auf Gemeinsamkeiten des ›Schicksals‹ oder der Sozialisationsgeschichte bezogen ist. Er konstituiert sich nicht allein durch die gemeinsame Teilhabe an spezifischen Ereignissen, sondern durch strukturelle Ähnlichkeiten der Erfahrung. Der Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums befindet sich formal auf einer anderen konzeptuellen Ebene als eine ›Gruppe‹ oder ›Gemeinschaft‹ (ebd.: 125f.; 2003: 111f.). »Gruppenhafte oder gemeinschaftliche Milieus (wie z.B. Ehen, Familien, Nachbarschaften) stellen spezifische Ausprägungen konjunktiver Erfahrungsräume oder Milieus dar. Sie zeichnen sich durch eine spezifische Art von Gemeinsamkeit der Erlebnisschichtung, als von biographischen Gemeinsamkeiten aus, nämlich dadurch, dass große Strecken der Biographie miteinander, d.h. in direkter interaktiver Beziehung der Milieuangehörigen, in einer ›face-to-face‹-Beziehung verbracht worden sind.« (Bohnsack 2003: 112)

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Der spezifische Erfahrungsraum im Zusammenleben als Familie ist durch eine gemeinsame ›lebensweltliche Situierung‹ begründet, in der die gemeinschaftliche Zugehörigkeit alltagspraktisch gelebt wird (vgl. Bohnsack 1998: 123). Hinsichtlich dieser Zugehörigkeit im Zusammenleben argumentiert Aron Gurwitsch aus phänomenologischer Perspektive gegen die Annahme, vor allem Gefühle würden dessen Kontinuität gewährleisten. Entgegen der häufig ambivalenten und schwankenden Gefühle wirke vor allem die Objektivierung des Zusammenlebens als Stabilisator. Entsprechend bestehen die Grundlagen dieses Lebenszusammenhangs für ihn aus dem gemeinschaftlichen »Besitz« – worunter er zum einen die Materialitäten wie den Wohnbereich und »das Handgreifliche«, zum anderen die habituelle Mentalität begreift, die er als »Familientradition« fasst. Es herrsche »ein bestimmter ›Geist‹ im Hause«, schreibt er, »der einen bestimmten Lebensstil« vorgebe (Gurwitsch 1997: 175f.).31 »Der Geist der konjunktiven Gemeinschaft«, schreibt auch Karl Mannheim, sei in den »Objektivationen ausgestaltet und lebt nicht nur in der Seele des Subjekts, sondern auch in dem sie umgebenden Raum« (Mannheim 1980: 257). Als Objektivation bezeichnet Mannheim verschiedene Typen »geistiger Realitäten«, die er als ›geistig‹ bezeichnet, weil er die soziale Wirklichkeit als »sinnumhüllt«, als »geistig gestaltet« begreift. Mit Verweis auf Emile Durkheim fasst er darunter institutionalisierte Sozialformen, diskursive Sinngebilde und Artefakte, wie z.B. Bilder, Geräte, Kleidung, Häuser etc., nicht zuletzt auch die Sprache und kulturell kodifizierte Verhaltensweisen (ebd.: 258f.). Ähnlich bezeichnen auch Berger und Luckmann, die mit ihrer sozialkonstruktivistischen Perspektive unter anderem an Mannheim anschließen, alle typisierten Verhaltensäußerungen und praktischen Erzeugnisse als ›Vergegenständlichungen‹ bzw. ›Objektivationen‹, insofern sie ein erkennbarer »Bestandteil der Wirklichkeit« geworden sind: »Die Wirklichkeit ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivationen wirklich.« (Berger/Luckmann 2000: 37)

31 Gurwitsch schrieb im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, als die strukturellen Abhängigkeitsverhältnisse im Rahmen des Zusammenlebens noch weitaus gravierender waren als zum Ende des 20. und im 21. Jahrhundert. Aus heutiger Sicht müsste eher von einer Melange aus Rahmenbedingungen und Motiven ausgegangen werden, mit der längerfristige Gefühlslagen für die Kontinuität des Zusammenlebens durchaus bedeutsam sind und von kurzlebigeren Affekten zu unterscheiden wären. Sozialhistorisch besehen haben sich im Individualisierungsprozess auch die ›Gefühlsnormen‹ gewandelt (vgl. Lewis/ Saarni 1985; Gordon 1989; Hochschild 1998), die innerhalb einer ›Gefühlskultur‹ an der Frage beteiligt sind, inwiefern Gefühle in der Organisation sozialer Beziehungen relevant gemacht werden.

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Der Rahmen des Zusammenlebens zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass der entsprechende Erfahrungsraum nicht auf die Interaktion der Familienmitglieder zu reduzieren ist, sondern auch auf der Grundlage von geographischen Räumen und Rhythmen hervorgebracht wird. Objektivierungen des Zusammenlebens, besonders auch ein geteilter Wohnbereich als gemeinsamer Ortsbezug, eröffnen und stabilisieren Möglichkeitsräume eines verbindenden Familiensinns im Wechselspiel von Zusammensein und Separierung – und verweisen auf eine virtuelle ›Klammer‹ von Kontinuität, auch wenn phasenweise an getrennten Orten gewohnt wird. Wer als Familie zusammenlebt, verortet sich mit diesem ›Familiensinn‹, als ein modernes Orientierungsmuster, in einem verbindenden Lebenszusammenhang, der mit mehr oder weniger Beständigkeit alltagspraktisch in Raum und Zeit ausgeformt wird. Diese ›Rahmenform‹ bleibt andererseits, insbesondere wegen einer gewachsenen Bedeutsamkeit intersubjektiver ›Gefühlsbande‹, auf eine Absicherungsprogrammatik verwiesen. Das Zusammenleben als Familie ist durch ein ›Sich einfinden‹ in die gemeinsame Alltagspraxis und durch situationssensitive Feinregulierungen in wiederkehrenden ›Vollzugsmomenten‹ performativ zu aktualisieren, um als gemeinsame Wirklichkeit fortzubestehen. Individuelle Einsätze, auch emotionaler Art, sorgen für eine Stabilisierung des Lebenszusammenhangs, an dem die Familienmitglieder auf verschiedene Weise und unterschiedlich weitreichend mitwirken und orientiert sind, mitunter auch im Konflikt ›re-orientiert‹ werden. Die Einhegung, Abschirmung und emotionale Aufladung eines ›Zuhause‹ bedeutet daher auch, sich bei ungleichen Gestaltungs- und Ausweichmöglichkeiten in Alltagsstrukturen und spezialisierte Handlungsräume mit auszuagierenden Positionen einpassen zu müssen und dabei ungleichen, allerdings auch wandelbaren Kräfteverhältnissen ausgesetzt zu sein.

3 Wegbeschreibung

Die Hinwendung zum Familienleben als Untersuchungsbereich ist durch ein empirisches Forschungsprojekt zu Gesten initiiert worden, in dem die Familieninteraktion in ihrer Körperlichkeit untersucht werden sollte.1 Verschiedene Faktoren führten bereits während der konzeptuellen Vorbereitung zum Interesse an einer gemeinsamen Rahmung des Zusammenlebens durch eine Praxis des Wohnens. Erstens stand bereits anfangs die Frage im Raum, wie der ethnographische Untersuchungsbereich präzise zu fassen sei, da der Familienbegriff zur Ein- und Abgrenzung nur bedingt geeignet erschien. Die Frage einer Eingrenzung verwies auf einen Rahmen des Zusammenlebens, der vor allem im gemeinsamen Wohnen realisiert wird, wohingegen die Rede von einer Familie auch über den Rahmen des Zusammenlebens hinausweisen kann. Zweitens lenkte die sozialgeschichtliche Hintergrundlektüre das Interesse auf die kulturelle und historische Kontingenz des Zusammenlebens als ein Dispositiv, das sich in West- und Mitteleuropa seit dem 17. Jahrhundert in seiner alltagspraktischen, räumlich-materiellen Realisierung gravierend gewandelt hat. Drittens verwies auch das Phänomen der Geste auf einen Raum- und Gegenstandsbezug, so dass die Räumlichkeit und Geschichtlichkeit des Zusammenlebens in das Feld der Aufmerksamkeit rückte. Mit einer praxistheoretischen Voreinstellung bildete sich auf dem Weg in die empirische Untersuchung ein anfänglich orientierendes Schlagwort heraus, das aus einer sozialkonstruktivistisch motivierten Forschungsperspektive auf eine lokalisierende Rahmung im Zusammenleben verwies: ›Doing Home‹. Im gemeinsamen Zusammenleben wird sich räumlich eingerichtet und eingelebt, doch ist dieser Rahmen durch eine gemeinsame Praxis des Wohnens zu realisieren, die nicht umfassend objektivierbar, sondern im Zusammenleben als Familie wiederkehrend

1

Dieses Projekt schloss eine Untersuchungsreihe zur ›Hervorbringung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen‹ innerhalb des Sonderforschungsbereichs ›Kulturen des Performativen‹ an der Freien Universität Berlin ab (vgl. Wulf u.a. 2011).

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aktualisiert werden muss, um fortzubestehen. Dabei zeigt sich in den Fallstudien, dass dieser Rahmen des Zusammenlebens auch ›dezentriert‹ organisiert sein kann. In diesem Kapitel wird jedoch vorerst das empirische Vorgehen dargelegt. Dazu setzt der erste Teil mit einer grundlagentheoretischen und methodischen Positionsbestimmung ein, in der die Untersuchung als eine Ethnographie des Alltagslebens mit fallrekonstruktiven Detailanalysen charakterisiert wird. Anschließend wird die Vorgehensweise während der Planung und Durchführung der Erhebungen erläutert und methodologisch reflektiert. Der letzte Abschnitt des Kapitels gibt dem Prozess der Verschriftlichung sowohl hinsichtlich der Umgangsweise mit dem Datenmaterial wie auch hinsichtlich der Ergebnisdarstellung Raum.

P OSITIONSBESTIMMUNGEN In Hinblick auf die grundlagentheoretische und methodologische Positionierung in empirischen sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten schlagen Andrea D. Bührmann und Werner Schneider vor, zwischen einer Forschungsperspektive und dem Forschungsstil zu unterscheiden. Während eine Forschungsperspektive aus den erkenntnistheoretischen und begrifflich-theoretischen Grundlagen resultiere, sei die empirische Umsetzung, mit den forschungspraktischen Konsequenzen der Perspektive, als Forschungsstil charakterisierbar. Dieser zweite Begriff ziele »auf den Zusammenhang zwischen der theoretischen Orientierung der Forschenden und der praktischen Ausgestaltung des Forschungsprozesses: Die aus den jeweiligen theoretischen Grundlagen resultierende Forschungshaltung findet gleichsam ihren Ausdruck in der dazugehörenden Forschungspragmatik als je eigene Kombination von Feldzugang, Datenerhebungs- und Datenauswertungsprozeduren bis hin zur Ergebnisdokumentation.« (Bührmann/Schneider 2008: 15)

Innerhalb dieser Terminologie gründet sich die vorliegende Studie auf eine kulturwissenschaftliche, wissenssoziologisch orientierte Forschungsperspektive mit einer praxistheoretischen Ausrichtung.2 Eine solche Perspektive verhält sich tendenziell »subjekt- und gesellschaftstheoretisch zurückhaltend« und ist auf die lokale Hervorbringung sozialer Wirklichkeit durch alltagskulturelle Aktivitäten fokussiert, wie Helga Kelle mit Blick besonders auf ethnomethodologische Forschungen anmerkt (Kelle 2006: 121). Hinsichtlich der grundlagentheoretischen Ausrichtung

2

Der Kulturbegriff wird hier in erster Linie grundlagen- und nicht gegenstandstheoretisch aufgenommen. Zur Diskussion verschiedener Konzeptualisierungen von ›Kultur‹ und entsprechenden Kulturtheorien vgl. Reckwitz 2001, 2008a; Hörning 2004a, 2004b.

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sind dabei in den vergangenen zwei Dekaden vermehrt interaktionstheoretische durch praxistheoretische Bezüge abgelöst worden.3 In beiden, einander ähnelnden theoretischen Ausrichtungen wird mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung danach gefragt, wie soziale Wirklichkeit in situierten Handlungssituationen konkret reproduziert und dabei ein ›kulturelles‹ Wissen zur Geltung gebracht wird, das nicht in vollem Umfang verbal explizierbar ist, da es sich um ein im Lebensverlauf erworbenes, praktisches Wissen handelt, das durch die körperliche Involvierung in konkrete Situationen der Alltagspraxis aktualisiert wird. Die Bezeichnung der Forschungsperspektive als ›kulturwissenschaftlich‹ legt einen ethnographischen Forschungsstil nahe. Ethnographie in ihrer anthropologischen Herkunftslinie war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ausschließlich auf die Erkundung fremder kultureller Lebensweisen ausgerichtet.4 Nach einer paradigmatischen Umbruchzeit zur Jahrhundertwende um 1900 interessierte sich die nachfolgende Ethnologen-Generation jedoch nicht mehr vorrangig für die evolutionstheoretische Klassifizierung sogenannter ›wilder‹ Kulturen, von der die Ethnologie im 19. Jahrhundert noch maßgeblich bestimmt war. Vielmehr sah der britische Anthropologe Bronisław K. Malinowski in den 1920er Jahren dezidiert das ›gewöhnliche‹ Alltagsleben, »die alltäglich gelebten, routinierten [...] Beziehungen und Aktivitäten in fremden Lebenswelten« als den zentralen Untersuchungsfokus einer modernen Ethnologie an. Mit einer empirischen Annäherung an die alltäglichen Lebensweisen ging auch ein methodologischer Umbruch einher, den Martin Fuchs und Eberhard Berg als den »Übergang von einer an der Naturbeobachtung orientierten Haltung zu einer auf sozialer Partizipation gegründeten Forschung« bezeichnen – realisiert durch teilnehmende Beobachtung während eigener Aufenthalte im Forschungsfeld (Fuchs/Berg 1993: 26f.). Die ethnologischen Erkenntnisse zu fremden Lebensweisen mussten unvermeidlich als voranschreitende Relativierung des Selbstverständlichen innerhalb der eigenen Gesellschaft zurückwirken – zumal ein modernes Verständnis von Kultur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend »mit dem Bewusstsein der Kontingenz menschlicher Lebensformen« verbunden war (Reckwitz 2008a: 19).

3

4

Der Praxisbegriff bezieht eine ›historische‹ Dimension sowie die materielle Situationsbeschaffenheit stärker mit ein. Letztere wird interaktionstheoretisch tendenziell als bloße ›Umwelt‹ des Geschehens und weniger als eigene strukturierende Kraft in den Blick genommen (vgl. Streeck/Mehus 2005). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind ethnologische Forschungen institutionell etabliert. Während die akademische Disziplin im Deutschen als ›Ethnologie‹ oder als ›Volkskunde‹ bezeichnet wird, heißt sie in Frankreich ›Anthropologie‹, in Großbritannien ›Sozialanthropologie‹, in den USA ›Kulturanthropologie‹ (vgl. Wulf 2004: 83).

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Im 19. Jahrhundert verblassten auch bereits die normativ-bürgerlichen Konnotationen, die den Kulturbegriff im Jahrhundert zuvor noch dominiert hatten. An die Stelle eines aus der Antike adaptierten Begriffs im Sinn einer Kultivierung der Lebensform trat nicht zuletzt durch die Ethnologie ein historisierter und kontextbezogener Begriff von Kulturen, der im Plural nun auf große Kollektiveinheiten wie Völker, Gemeinschaften oder Nationen bezogen wurde. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bestand auf dieser begrifflichen Grundlage in den Worten von Andreas Reckwitz »eine gewisse Arbeitsteilung darin, die ›fremden‹, nicht-modernen Sozialitäten von außen als einzelne ›Kulturen‹ analysieren zu können, während die ›eigenen‹ Sozialitätsformen in der Soziologie nicht als Kulturen, sondern als soziale Strukturen interpretiert wurden«. Die »disziplinkonstitutive Differenz zwischen dem Fremden/Anderen und dem Eigenen« mit den entsprechenden akademischen Repräsentationsleistungen sind im 20. Jahrhundert jedoch erkenntnis- wie auch sozialtheoretisch verstärkt unter Druck geraten und durch die intensivierte globale Vernetzung und Hybridisierungen nachhaltig unterminiert worden (ebd.: 32f.; vgl. Rapport/Dawson 1998: 5ff.; Coleman/Collins 2006: 9f.). Infolgedessen ist der Kulturbegriff zunehmend auch auf die ›eigenen‹ gesellschaftlichen Zusammenhänge gewendet und bezüglich der Verschiedenheit von Milieus, Lebensstilen und -wirklichkeiten ›ausdifferenziert‹ worden. Entsprechend heißt es auch in der Einleitung eines Standardhandbuchs zur Ethnographie: »Anthropologists no longer define their research sites or ›fields‹ exclusively in terms of exotic cultures and distant places. Anthropologists have been and are continuing to explore cultural settings closer to ›home‹.« (Atkinson u.a. 2001: 2) Dabei wird der Kulturbegriff weniger auf ›essentialisierte‹ Kollektive als auf ganz verschiedene Untersuchungsbereiche bezogen, deren Gegenständlichkeit durch den ›kulturwissenschaftlichen‹ Blick mit konstituiert wird. Parallel zu dem modernen Paradigma ethnologischer Feldforschung mit ihrem Fokus auf das Alltagslebens ›anderer‹ Kulturen entstand – von zeitgenössischen Anthropologen wie Bronisław K. Malinowski, Alfred R. Radcliffe-Brown oder Margaret Mead durchaus beeinflusst – in der US-amerikanischen Stadtsoziologie eine zweite Herkunftslinie der Ethnographie (vgl. Knoblauch 2001; Kalthoff 2006; Lindner 2007). Seit den 1920er Jahren bildeten vor allem in Chicago auch journalistische Erfahrungen aus investigativen Reportagen eine Methodengrundlage für experimentelle Forschungsdesigns zu Milieustudien im urbanen Raum – wobei damals, wie Rolf Lindner anmerkt, Soziologen und Ethnologen des Department of Sociology and Anthropology noch im gleichen Haus arbeiteten (Lindner 2007: 11). In etwa dem gleichen Zeitraum wird Chicago auch für einen methodologischen Wendepunkt in der Familienforschung bedeutsam. So habe die fünfbändige Studie The Polish Peasant in Europe and America (1918-1920) von William I. Thomas

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und Florian Znaniecki nachhaltig einer nicht-standardisierten Forschung Anerkennung verschafft und weiteren sozialkonstruktivistischen Forschungsansätzen mit einem Fokus auf die Hervorbringung gemeinsamer Wirklichkeit im Familienleben den Weg bereitet (vgl. LaRossa/Wolf 1985). Die kulturwissenschaftliche Hinwendung zum Alltagsleben im 20. Jahrhundert – die als epistemologische Bewegung auch in der Philosophie betrieben worden ist (Phänomenologie, Pragmatismus, Sprachphilosophie) – sieht Reckwitz innerhalb eines disziplinübergreifenden ›Forschungsprogramms‹, das spätestens seit den 1970er Jahren als Cultural Turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften bezeichnet werden könne. Die Theorieentwicklungen in der Kultursoziologie und die Ausdehnung der Ethnographie auf die Lebensweisen in der ›eigenen‹ Gesellschaft bezeugen für ihn einen Bedeutungszuwachs der empirischen Kulturwissenschaften für ein reflexives Selbstverhältnis ›moderner‹ Gesellschaften. Jeden potentiellen Forschungsgegenstand »als kulturelles Phänomen« zu betrachten heißt in dieser Programmatik, die erfassbare Wirklichkeit – einschließlich des ›Natur‹-Erlebens und eines ohnehin kulturell sehr variablen Naturkonzepts – letztlich als kontingent und durch Wissensordnungen ›hervorgebracht‹ zu begreifen (Reckwitz 2008a: 16). Soziale Praktiken sind vor diesem Hintergrund als Ausdruck spezifischer Wissensordnungen zu verstehen (die Reckwitz auch als »Systeme ›kultureller Schemata‹« von Sinn bezeichnet; vgl. Reckwitz 2001: 147). Dabei sind Praktiken nicht nur Ausdruck, sondern sozusagen auch der ›Betriebsmodus‹ solcher Ordnungen, durch den soziale Wirklichkeit aktualisiert wird.5

5

Je nach zugrundeliegender Sozialtheorie werden diese Wissensordnungen eher strukturoder akteursbezogen thematisiert. Reckwitz skizziert diesbezüglich zwei wissenschaftshistorische ›Traditionslinien‹: eine »strukturalistisch-semiotische« und eine »phänomenologisch-hermeneutische«. »Die strukturalistische Perspektive ermöglicht ein Verständnis kultureller Reproduktion, eine Analyse der Mechanismen, in denen symbolische Ordnungen auf Dauer gestellt werden«. Prozesse jedoch, »in denen individuelle oder kollektive Akteure routinisiert, innovativ oder konflikthaft Interpretationsleistungen vollziehen« werden »zugunsten der strukturellen Voraussetzungen und Ergebnisse dieser Prozesse eingeklammert«, sodass »kulturelle Transformation und situative Destabilisierungen« nicht hinreichend erklärbar seien. Umgekehrt betrachtet vermöge die ›hermeneutische‹ Sichtweise zwar »einen theoretischen Hintergrund für die Analyse dieser situationsspezifischen Mikroprozesse zu liefern, tut sich jedoch schwer mit einer Analyse der übersubjektiven und bestimmte Kontexte transzendierenden kulturellen Reproduktionen« (Reckwitz 2008a: 39ff.). Nach Reckwitz konvergieren beide Traditionslinien mit ihrer wechselseitigen Rezeptions- und Innovationsgeschichte seit den 1970er Jahren in verschiedenen Praxistheorien (vgl. Reckwitz 2001: 186ff.). Hinsichtlich dieser Ansätze differenziert Theodore R. Schatzki auf einem abstrakteren Niveau zwischen ›Kontextua-

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Hinsichtlich der Kontingenz greift Karl H. Hörning eine in den 1990er Jahren vorgebrachte Kritik an jüngeren Ansätzen der Kulturanthropologie auf, die sich vornehmlich auf kollektive symbolische Ordnungssysteme konzentriert hätten, ohne die »pragmatische Dimension des Umgangs, des Gebrauchs, des ständigen Wieder- und Neuhervorbringens« von Kultur in ihren lokalen Vollzügen hinreichend zu würdigen.6 Zwar sei das Alltagsleben voller Routinen und Gepflogenheiten mit vergleichsweise hoher Beharrungskraft; es weise in seiner Heterogenität aber auch viele Problemlagen auf, die kreativ und situationsadäquat zu bewältigen sind, so dass in der Alltagspraxis Widersprüche, Konflikt- und Innovationspotentiale generiert werden (Hörning 2004a: 140). Die dynamische Verflechtung von Menschen, Tieren, Pflanzen, Artefakten, Technologien etc. bildeten ein dichtes »Handlungs- und Verweisungsgefüge, das für den einzelnen Handlungsvollzug den Resonanzboden darstellt« und das Handeln immer wieder aufs Neue auch herausfordere (2004b: 30). Eine praxistheoretisch ausgerichtete Forschungsperspektive geht daher davon aus, dass gelebte Alltagswirklichkeit und Orientierungsschemata im Spannungsfeld von Wiederholung und Veränderung am besten in Hinblick auf den Modus Operandi der Alltagsbewältigung zu untersuchen sind – wobei der im vorangegangenen Kapitel thematisierte Begriff der Objektivation darauf verweist, dass diese Alltagswirklichkeit nicht nur Spuren der Vergangenheit aufweist, sondern durch mehr oder weniger dynamische Wissensordnungen organisiert ist, die sich auch in gebauten und gestalteten Umwelten, dinglicher Technik, Bildern, Narrativen, sozialen Regelungen und Diskursen historisch sedimentiert haben – und

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listen‹ und ›sozialen Nominalisten‹. »In social theory, contextualism is the position that the character and transformation of the social affairs are beholden to contexts. Typical examples of such contexts are abstract structures, systems of action, worldviews, social practices, and fields of various sorts. […] a nominalist such as the actor-network theorist Callon (Latour, too) replies that all that exists are the orders themselves. […] all that exists are constellations of particulars.« (Schatzki 2002: 65f.). Diese Kritik wird besonders an Clifford Geertz, dem prominenten Vertreter der semiotischen Kulturanthropologie der 1970/80er Jahre festgemacht (vgl. Fuchs/Berg 1993: 43ff.; Bonnell/Hunt 1999). Geertz konzeptualisiert ›Kultur‹ als »Bedeutungsgewebe« (1983: 9) und übernimmt von Paul Ricœur seine »Metapher vom ›Handeln als Text‹«. Nach Ansicht von Hörning übergeht er aber die »unterschiedlichen, widersprüchlichen, unentschiedenen ›Lesarten‹ dieser Texte«. Weil er »um ein integriertes, einheitliches, kohärentes Bild« bemüht sei, schenke er den Macht- und Konfliktverhältnissen in der Hervorbringung zu wenig Aufmerksamkeit. An Kultur interessiere ihn vor allem »das Gewebe, nicht das Weben« (Hörning 2004a: 141; 2001: 158f.; zur Metaphorik von Text und Kontext vgl. auch Schatzki 2002: 61ff.)

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innerhalb derer sich jede Praxis nicht nur bewegt, sondern an denen sie auch orientiert ist. »Soziale Praktiken stützen sich auf Vorhandenes, auf Repertoires, denn wir beginnen niemals von Grund auf. Praktiken sind fraglose Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wiederholte Aneignungen, sind immer wieder erneuerte Realisierungen von bereits Vorhandenem. Aber zur gleichen Zeit müssen Praktiken auch produktiv gedacht werden, gesehen als eingespieltes In-Gang-Setzen von Verändertem, als neuartige Fortsetzung von Eingelebtem, als andersartige Hervorbringung von Vertrautem. [...] In der Handlungsnormalität des Alltags werden die praktischen Handlungsmuster und -stränge von den Handelnden keineswegs immer neu in Gang gesetzt, sondern eher in konkreten Gebrauchsakten aktualisiert. So wird immer wieder der soziale Alltag erschlossen und hervorgebracht.« (Hörning 2001: 163f.)

Hörning beschreibt die Alltagspraxis, die er wie ein dynamisches Geflecht sozialer Praktiken konzipiert, als einen »Komplex von vielfältigen Handlungssträngen und Prozeduren, eine Mischung von Handlungsmustern und Handlungsmodalitäten«. Als typisierte, sozial erwartbare Verfahrensabläufe, die auf typische, oft institutionalisierte Erfordernisse abgestimmt sind, begründen soziale Praktiken eine alltägliche Handlungsnormalität, »in deren Vollzug die Handelnden nicht nur Routinen einüben und Gebrauchswissen erlangen, sondern auch Einblick in und Verständnis für die Mithandelnden und die Sachwelt gewinnen und sich so allmählich und weithin unthematisch gemeinsame Handlungskriterien und Beurteilungsmaßstäbe herausbilden« (ebd.: 162f.). Weil diese ›Handlungsnormalität‹ aber nicht allein aus den verbindenden Selbstverständlichkeiten gemeinsamer Ordnungsvorstellungen, sondern aus lokal ausgeführten Praktiken emergiert, an denen eigensinnige Akteure mit ihrer je eigenen Lebensgeschichte partizipieren, gilt es, die jeweiligen Perspektiven der Beteiligten gerade in ihrer Divergenz zu berücksichtigen. Die Entwicklungen innerhalb der Ethnographie haben im 20. Jahrhundert eine Sensitivität für fallspezifische Besonderheiten und divergente Perspektiven dezidiert zu ihrem Arbeitsprogramm gemacht. Dabei ist Ethnographie nicht als Methode im engeren Sinn, sondern eher als eine bestimmte Forschungshaltung mit strategischen Voreinstellungen aufzufassen, in der keine spezifische Verfahrenstechnik, sondern eine grundsätzliche Offenheit für den Einsatz verschiedener Verfahren, vor allem auch die intensive Auseinandersetzung mit Einzelfällen angelegt ist (vgl. Atkinson u.a. 2001: 1ff.). Zum Verhältnis von Empirie und Theorie in der Auseinandersetzung mit Feldaufenthalt und Datenmaterial schreibt Helga Kelle mit Bezug auf Karin Knorr Cetina von einem »Symmetriepostulat«. Dem Forschungsgegenstand sind keine Konzepte ›überzustülpen‹, sondern diese sind aus dem Feld heraus, in Auseinandersetzung

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mit dem Gegenstand zu generieren (Kelle 2010: 104.).7 Klaus Amann und Stefan Hirschauer grenzen die Ethnographie entsprechend scharf von hypothesenprüfenden Verfahren ›standardisierter‹ Forschungsvorhaben ab. Die Grundhaltung sei im »Unterschied zur Konzentration auf beweisführende Tatsachenfeststellungen oder selbstinduzierte theoretische Problemlagen [...] durch einen Erkenntnisstil gekennzeichnet, der in einer zunächst naiv anmutenden Weise auf (disziplinäre) Wissensinnovation zielt: es ist der des Entdeckens« (Amann/Hirschauer 1997: 8f.). Diese ›explorative‹ Haltung der Ethnographie ist allerdings noch kein Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen nicht-standardisierten Verfahrensweisen (vgl. Bohnsack 2005).8 Was die Ethnographie methodisch in der nicht-standardisierten Forschung heraushebt, ist eine konsequente Positionierung der Forschenden innerhalb des Forschungsfeldes unter besonderer Berücksichtigung der eigenen Körperlichkeit. Ethnographisch Forschende arbeiten nicht allein rekonstruktiv aus einer technisch erzeugten Distanz mit dem erhobenen Datenmaterial, sondern sollen sich gerade auch unter Bedingungen der Teilnahme ein Bild machen, unter den »Handlungszwängen« des Feldes (vgl. Breidenstein/Kelle 1998: 138). Mit ihrem Körper setzen sie sich einer Sinnlichkeit des Feldes aus, um eigene Erfahrungen durch ein »Mitempfinden« zu generieren (Amann/Hirschauer 1997: 25) – womit kein ›Sich einfühlen‹ in die Teilnehmenden, sondern die Einsetzung des Forscherkörpers als multimodal irritierbares Untersuchungsinstrument gemeint ist. Die Teilnahme folgt nach Karin Knorr Cetina zuvorderst dem ›epistemischen‹ Zweck,

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Zum Anspruch der empirisch begründeten Theoriegenerierung vgl. insbesondere die Methodologie der Grounded Theory als ein Forschungsansatz, der in der Ethnographie genutzt wird (vgl. Glaser/Strauss 2005; Charmaz/Mitchell 2001). Hubert Knoblauch betont allerdings auch, dass es wenig sinnvoll wäre, den bereits bestehenden Forschungsstand zum Untersuchungsgegenstand außer Acht zu lassen und plädiert für eine theoretisch informierte Ethnographie (Knoblauch 2001: 138). Innerhalb der Grounded Theory war die Frage der Einbeziehung theoretischen Vorwissens nach Jörg Strübing ein Streitpunkt, der in den 1990er Jahren zum öffentlich ausgetragenen Zerwürfnis ihrer Gründer Barney G. Glaser und Anselm L. Strauss führte (vgl. Strübing 2008: 281). Anstatt zwischen quantitativen und qualitativen bzw. interpretativen Ansätzen zu unterscheiden, plädiert Bohnsack für die Unterscheidung zwischen standardisierten und nichtstandardisierten Forschungsprojekten (Bohnsack 2005; vgl. auch Soeffner 1989: 51ff.). Denn in sogenannten quantitativen Forschungen wird notwendig auch ›qualitativ‹ operiert, da Interpretationen grundsätzlich unumgänglich sind; und in sogenannten qualitativen Forschungen bleiben quantitative Angaben nicht unbeachtet. Ebenso betont Hans Oswald, dass die früher gängige Unterscheidung zwischen quantitativer und qualitativer/ interpretativer Forschung nicht ohne grobe Vereinfachungen zu haben sei (vgl. Oswald 2010).

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die jeweilige Erfahrungswelt der Forschenden hinsichtlich der ›Standortgebundenheit‹ des eigenen Denkens zu öffnen – wodurch dem Feldaufenthalt ein Gewicht zugemessen wird, das durch die methodisch kontrollierte Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial kaum aufzuwiegen ist.9 »Die Nähe zu einem Untersuchungsfeld, die Intimität mit dessen Bestandteilen dient hier nicht in erster Linie der Verifikation bzw. Verbesserung von Deskription, sie ist nach vorliegender Auffassung Bedingung der Möglichkeit und Motor von Entdeckung. Will man über den Rand eines Erfahrungsraums hinwegblicken, so muß man sich an dessen Rand begeben.« (Knorr Cetina 1989: 94f.)

Wenn man daher »von einem Konzept der Ethnographie sprechen kann«, so Herbert Kalthoff, »dann ist es die paradox klingende Verknüpfung von Teilnahme und Distanznahme, Präsent-Sein und Re-Präsentieren« (Kalthoff 2006: 152). Die Forschenden nehmen innerhalb der sozialen Welt des Forschungsfeldes eine Position mit einer Rolle als ›besondere Andere‹ ein (Kalthoff 1997: 242) – sie müssen sich vorübergehend im Feld einen Platz schaffen, und ihre Positionierung wirkt in die Hervorbringung der Wirklichkeit hinein, die zur Grundlage des erhobenen Datenmaterials wird. Dieser Sachverhalt betrifft formal besehen alle Vorgehensweisen rekonstruktiver wie standardisierter Forschungen, da die forschenden ›Subjekte‹ nicht außerhalb ›der Welt‹, sondern perspektivisch zum Forschungsgegenstand positioniert sind. Zur Ermöglichung des Erhebungsvorhabens wird zudem häufig auch Kontakt aufgenommen. Zur Datengenerierung wird befragt oder beobachtet, eventuell werden auch Aufzeichnungsapparaturen im Feld installiert. In der Regel sind die konzeptuellen Anstrengungen jedoch darauf ausgerichtet, die Präsenz des Forschenden aus dem erhobenen Material möglichst herauszuhalten. In der Ethnographie wird die Datenproduktion dagegen konsequent als interaktiver Prozess betrachtet, in den sowohl die Forschungsteilnehmenden wie die Forschenden involviert sind. Der Aspekt einer unverhohlenen Beteiligung am Forschungs-

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In der Geschichte der Ethnologie schafft diese Differenz den wesentlichen Unterschied zum sogenannten ›Lehnstuhl-Ethnologen‹ des 19. Jahrhunderts (vgl. Fuchs/Berg 1993: 25). Die Fassung des Forscherkörpers als Untersuchungsinstrument geht auf Malinowski zurück, der mit seinem ›Methodenmanifest‹ von 1926 als Begründer der systematischen teilnehmenden Beobachtung in der Feldforschung gilt (vgl. Hirschauer 2001: 439). Im Zuge einer Entwicklung »verstärkter Selbstobjektivierung« in der Wissenschaft ist nach Fuchs und Berg die ethnologische Sichtweise auf den Erkenntnisprozess des Ethnographen ausgedehnt worden, indem nun versucht wird, »die Teilhabe des Forschers an diesem Prozess [mit] zu beobachten und zu beschreiben« (Fuchs/Berg 1993: 14f.; meine Einfügung).

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prozess wird auch im Schreiben berücksichtigt, denn in Verbindung mit den ›objektiven‹ Auswertungsverfahren und der Ergebnispräsentation erhält auch das ›subjektive‹ Moment wissenschaftlicher Autorschaft Raum zur Reflektion (vgl. Fuchs/Berg 1993: 42; Atkinson/Hammersley 1994: 254ff.).10 Dementsprechend habe ich mich in Schilderungen des empirischen Vorgehens grammatisch für die erste Person Singular entschieden, von der ich in den Szenenbeschreibungen des videographischen Materials und den Rekonstruktionen abweiche, indem ich Bezugnahmen auf meine körperliche Präsenz im Datenmaterial in der dritten Person formuliere, da ich mich in diesen Fällen auf Bild- und Tonmaterial beziehe, in dem ich ein beobachtbarer Teilnehmer neben anderen bin.

I M V ORFELD Ein gangbarer Weg zu den späteren Forschungsteilnehmern führte über die Institution Schule. Nachdem die ersten Kontaktgesuche zu Eltern von 9 bis 12-jährigen Kindern in Berlin über ein Eltern-Forum im Internet sowie Zeitungsannoncen in zwei Berliner Stadtmagazinen erfolglos blieben, suchte ich nach einem persönlicheren und daher potentiell verbindlicheren Zugang. Die entsprechenden Möglichkeiten boten die bereits bestehenden Kontakte zu den Schulleitungen zweier Grundschulen in verschiedenen Berliner Bezirken, sodass hier weit mehr Aussicht auf Erfolg bestand, mit Erziehungsberechtigten der Grundschulkinder in Kontakt zu kommen. Die schon bestehenden Verbindungen boten den großen Vorteil, Fürsprecher/ innen gewinnen zu können, die zur Vermittlung des Forschungsanliegens eine Vertrauensgrundlage schaffen konnten. Es wurden zuerst Gesprächstermine mit der Schulleiterin bzw. einer stellvertretenden Schulleiterin der beiden Grundschulen vereinbart, um das Forschungsprojekt an dieser Adresse vorzustellen und für ein Engagement zu werben. Im einen Fall sprach die stellvertretende Schulleiterin daraufhin eigenständig mehrere Eltern an; im anderen Fall folgte auf das Gespräch

10 So schreibt James Clifford vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Theorien zu den epistemologischen Grundlagen: »Even the best ethnographic texts – serious, true fictions – are systems, or economies, of truth.« (Clifford 1986: 7) Nach der RepräsentationsDebatte zur Ethnographie, die Mitte der 1980er Jahre vor allem durch den Sammelband Writing Culture (Clifford/Marcus 1986) befördert wurde, ist Norman K. Denzin ein besonders vehementer Verfechter dieses Aspekts, der die ethnographische Arbeit und gerade auch das Schreiben als ›Kunst des Forschens‹ auffasst (vgl. Denzin 1996, 2003; vgl. Clifford 1986: 6).

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mit der Schulleiterin die Einladung zu einer Team-Sitzung mit mehreren Klassenlehrerinnen. Dort erhielt ich im Rahmen der Sitzung eine Möglichkeit, die anwesenden Lehrerinnen für das Anliegen zu gewinnen, Eltern anzusprechen und an mich weiterzuvermitteln. Die stellvertretende Schulleiterin erklärte sich in der Team-Sitzung bereit, den ›Rücklauf‹ eventueller Einverständnisse aus den einzelnen Klassen an mich weiterzuleiten. Im weiteren Verlauf dieser Erstkontaktphase erwies sich der Zugang nur an der zweiten Grundschule als erfolgreich, doch muss eine Frage nach konkreten Ursachen weitgehend offen bleiben.11 Zwar hatten auch an der ersten Grundschule zwei Erziehungsberechtigte ihr Anfangsinteresse bekundet, doch schlossen beide nach einem ersten direkten Kontakt via E-Mail, noch vor einem persönlichen Vorgespräch, unter Nennung unterschiedlicher Gründe ihre Teilnahme aus. Weitere Erziehungsberechtigte konnten hier auch für eine erste Kontaktaufnahme nicht gewonnen werden. An der zweiten Schule war das Vorgehen im Vorfeld erfolgreicher. Von der stellvertretenden Schulleiterin erhielt ich insgesamt fünf Telefonnummern von Erziehungsberechtigten, die Interesse signalisiert hatten. Nach einem ersten Telefonat konnten vier Vorgespräche mit Eltern vereinbart werden, von denen ich daraufhin alle vier für den Forschungsprozess gewinnen konnte. Die Instanz der Vermittlung durch Fürsprecher/innen aus dem persönlichen Umfeld der Forschungsteilnehmer erwies sich als ein maßgeblicher Faktor für eine erfolgreiche Kontaktaufnahme, da auf diese Weise ein Anfangsvertrauen gegeben war – eine erste Vertrauensgrundlage, die im signalisierten Interesse an einer direkten Kontaktaufnahme wirksam wird. Die Kehrseite dieser Vermittlung ist, dass keine methodisch kontrollierte ›systematische‹ Vorauswahl stattfindet.

11 Nichtsdestotrotz können Unterschiede in den Herangehensweisen festgehalten werden: In der zweiten Schule wurde das Anliegen von der Schulleiterin an eine Gruppe von Klassenlehrerinnen delegiert; in der ersten Schule übernahm die stellvertretende Schulleiterin die Kontaktaufnahme allein. Es unterscheiden sich auch die jeweiligen ›Schulkulturen‹ (ohne diesen Begriff systematisch entfalten zu wollen): In der zweiten Schule wird sich auffallend um ein ›familiales‹ Klima mit starkem elterlichen Engagement im Kiez bemüht; es wird nicht nur in jahrgangsübergreifenden Stammgruppen unterrichtet, sondern Eltern werden auch intensiv mit einbezogen, die besuchsweise am Unterricht teilnehmen und in der Unterrichtsbetreuung mithelfen dürfen. In der ersten Schule besteht aufgrund des spezifischen ›Schulprofils‹ eine höhere Fluktuation der Schüler/innen und auch der räumliche Einzugsbereich der Schule ist größer. Ein bedeutsamer Unterschied in Hinsicht auf Erfolg und Misserfolg der Kontaktnahmen könnte außerdem darin bestehen, dass aus der einen Schule nach elterlicher Einwilligung E-Mail-Adressen mitgeteilt wurden, in der zweiten jedoch Telefonnummern. Anrufe schaffen mehr Verbindlichkeit und auch die Möglichkeit, direkter auf Bedenken reagieren zu können.

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Mehrere Lehrerinnen haben in der Teamsitzung, an der ich teilnehmen durfte, ihre Überlegungen geäußert, welche Eltern für das Forschungsprojekt wohl in Frage kämen, und welche eher nicht. Dabei wurde zum einen das ironisch eingefärbte Bild ›alteingesessenen Adels‹ im Schulbezirk gezeichnet: einkommensschwache, sogenannte ›bildungsferne‹ Familien, die ihre Freizeit vor dem Fernseher, aber wenig planvoll koordinierte Zeit miteinander verbrächten und für ein derartiges Forschungsvorhaben unzugänglich seien; zweitens das weniger ironisch gefasste Bild aggressiv auftretender Familienangehöriger, die der Institution Schule generell misstrauisch bis feindselig gegenüberstünden. Es ist daher naheliegend davon auszugehen, dass Eltern nach Kriterien ›sozialer Nähe‹ und einer hohen Aussicht auf Zustimmung angesprochen wurden – Eltern, die sich z.B. in der Schule engagieren. Die Auswahl konnte auch nicht durch konzeptuelle Kontrastbildungen auf Grundlage eines Theoretical Sampling wie in der Grounded Theory erfolgen, in dem analytische Typisierungen mit dem Erhebungsprozess verschränkt werden (vgl. Strauss 1998: 70; Strübing 2008: 285ff.). Aufgrund der Schwierigkeiten des Zugangs und aufgrund einer projektbedingt strikten Zeitplanung waren analytische Kontrastierungen dem Erhebungsprozess nachgeordnet. Die Anzahl dieser Forschungsteilnehmer wurde zusätzlich mit der Unterstützung einer Kollegin ergänzt, die zwei Telefonnummern weiterer Teilnehmer aus anderen Berliner Bezirken vermittelte. Auch hier konnten nach dem Erstkontakt am Telefon in einem Fall ein Vorgespräch vereinbart und schließlich die Teilnehmenden für den Erhebungsprozess gewonnen werden. Im zweiten Fall wandte sich nach einem ersten aussichtsreichen Telefonkontakt der Ehepartner gegen eine Teilnahme am Forschungsvorhaben. Insgesamt wurden mithilfe der verschiedenen Vermittlungstätigkeiten also zu neun potentiellen Teilnehmern Erstkontakte hergestellt, von denen sich fünf am Telefon zu einem Vorgespräch bei sich zuhause bereit erklärten.12 Von diesen fünf Kontakten konnten alle für eine Teilnahme am Forschungsvorhaben gewonnen werden und alle blieben bis zum Abschluss der Erhebung am Prozess beteiligt. Teilgenommen haben im Einzelnen:

12 Zwei der vier Absagen resultierten daraus, dass der (jeweils männliche) Partner der (jeweils weiblichen) Kontaktperson nicht mit dem Forschungsvorhaben einverstanden war. In diesen beiden Fällen kamen jeweils ein Kontakt per Telefonanruf und einer per EMail zustande. Zwei weitere Absagen ergaben sich aus dem Umstand, dass die Kontaktperson (jeweils eine männliche und eine weibliche) mit Verfahrensmodalitäten der Erhebung nicht einverstanden waren: In einem Fall stand der erforderliche Zeitaufwand im Vordergrund, der mit den vielfältigen Aktivitäten der Familienmitglieder unvereinbar erscheine; im anderen Fall wurde explizit zurückgewiesen, im Wohnbereich gefilmt zu werden. Auch in diesen beiden Fällen kamen jeweils ein Kontakt per Telefonanruf und einer per E-Mail zustande.

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Birgit Müller und Fabio Franke mit ihren beiden gemeinsamen Kindern, der 9-jährigen Haya und dem 6-jährigen Luis; Sabine Bauer, Markus Lange und ihre drei Kinder, der 15-jährige Mathis, die 13-jährige Sarah und die 10-jährige Tabea; Silke und Mahmud Dübner sowie ihre drei Kinder, die 11-jährige Miriam, der 9-jährige Fatih und die 6-jährige Jara; Monika und Helmut Woellmer mit ihren beiden Kindern, dem 15-jährigen Andreas und der 12-jährigen Isabel; Susanne Schneider und Davide Rocchi sowie ihre drei Kinder, die 9-jährige Rebecca, der 6-jährige Lorenzo und die 3-jährige Anna.

Alle verwendeten Personennamen sind mittels ›Google-Suchbewegungen‹ willkürlich ausgewählte Pseudonyme und auch einzelne Altersangaben wurden je nach Geburtsdatum teils um ein Jahr nach oben oder unten abgewandelt. Ebenso wurden Orts- und Jahresangaben in den Transkriptionen von verbalen Gesprächsanteilen systematisch ersetzt, ohne dass darauf im Folgenden weiter hingewiesen wird. Da sich einige der Forschungsteilnehmer/innen aus mehreren Familien aufgrund des Zugangs über eine Grundschule wechselseitig kennen, habe ich mich trotz dieser Anonymisierungsmaßnahmen dazu entschieden, einige biographische Informationen aus dem Interviewmaterial nicht zu verwenden.

V ORGEHEN In Hinblick auf die Erhebungen hatte ich im Vorfeld geplant, nach Möglichkeit alle Zugehörigen an einem Vorgespräch teilnehmen zu lassen, die im Rahmen ihres gemeinsamen Zusammenlebens auch während der Erhebungen anwesend sein würden – im ersten Telefongespräch wurde darauf verwiesen, jedoch nicht insistiert. So wurden sowohl mit Frau Woellmer als auch mit Frau Dübner die Vorgespräche jeweils allein geführt. Zum Vorgespräch war die Anwesenheit von Herrn Woellmer zwar angedacht, doch hatte er aufgrund seiner Erwerbstätigkeit im nächtlichen Spätdienst vorgezogen, seinen versäumten Schlaf nachzuholen. Ebenso wie Frau Woellmer wollte auch Frau Dübner das Vorgespräch ohne ihre Kinder führen, wobei Herr Dübner zu diesem Gespräch gleichfalls nicht anwesend war. Herr Lange war ebenso beim Vorgespräch nicht dabei, sondern hielt sich zu dieser Zeit beruflich außerhalb Berlins auf. Die Vorgespräche dienten vornehmlich dazu, ein vertrauenbildendes wechselseitiges Kennenlernen zu ermöglichen, das Vorgehen im Erhebungsprozess zu erläutern und entsprechende Fragen der Teilnehmenden zu beantworten, doch waren diese ersten Treffen auch ein ›Realitätstest‹ für die Umsetzbarkeit des Er-

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hebungsdesigns hinsichtlich der Akzeptanz, weshalb diese Gespräche in das weitere methodische Vorgehen hineinwirkten. So äußerten sich während des ersten Vorgesprächs sowohl Frau Bauer als auch der 16-jährige Mathis skeptisch gegenüber der Umsetzung einer videobasierten Beobachtung, zu der anfangs noch der Plan bestand, mit einer dynamischen Kameraführung innerhalb des Wohnbereichs zu beobachten. Kritische Nachfragen und geäußerte Zweifel an der Umsetzung führten zu Korrekturen des geplanten Vorgehens – insbesondere auch zu einer starken Eingrenzung des Erhebungsumfangs in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Unter Berücksichtigung der ausgedrückten Vorbehalte wurde das Vorhaben auf vier Erhebungstermine pro Haushalt beschränkt, zu denen nun jeweils ein deutlich gerahmtes Setting anvisiert wurde: eine gemeinsame Mahlzeit, ein gemeinsames Spiel sowie zwei halbstrukturierte Gruppeninterviews mit einem offenen ersten Teil in Anlehnung an das Gruppendiskussionsverfahren (vgl. Bohnsack 2003): einmal zu typischen Alltagsabläufen; das zweite Mal zum familiengeschichtlichen Hintergrund.13 Im Erhebungsdesign bildete die Familienmahlzeit aufgrund ihres verbindenden Potentials den Anfang der vier Erhebungstermine. Da ich die Gruppeninterviews in ihrer zeitlichen Ausdehnung für die jüngeren Kinder als langweilig antizipierte (tatsächlich suchten sie sich währenddessen häufig andere Beschäftigungen), wurde das Familienspiel als ein ›versöhnlicher Lichtblick‹ zwischen den beiden Gesprächsterminen platziert. Da zudem davon auszugehen war, dass die Erzählungen zum Familienalltag unverfänglicher und für das familiengeschichtliche Gespräch eine gewisse Vertrautheit hilfreich sein würden, bildete der familiengeschichtliche Termin den Abschluss der vier Erhebungen. Mit dem Aufbau der technischen Apparatur (Kamera und Stativ) wurde zu den Gruppeninterviews ebenso verfahren, wie zu den weiteren Terminen. In Hinblick auf die Gespräche bietet die videobasierte Beobachtung gegenüber ausschließlich auditiven Aufzeichnungen den Vorteil, dass non-verbale Anteile der Gesprächsführung, wie z.B. Gestik und Mimik, berücksichtigt und die einzelnen Äußerungen auch leichter zugeordnet werden können. Die performative Körperlichkeit bietet zusätzliche Informationen, die innerhalb des Gesprächs mit einbezogen werden und daher auch zur Interpretation des Gesprächsverlaufs hilfreich sind.

13 Die Aufzeichnungsdauer während der verschiedenen Erhebungen variierte zwischen 35 Minuten und annähernd zwei Stunden. In Ergänzung zu den vier Erhebungsterminen wurden zudem Fragebögen an alle Beteiligten im Rahmen des Zusammenlebens verteilt, um orientierende Angaben zu einigen persönlichen Grunddaten zu erhalten (vollständiger Name, Geburtsdatum, Religionszugehörigkeit, Ausbildungs- und Berufsstand, regionale Herkunft, der letzte Wohnungsumzug).

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Mit der Festlegung auf diese Settings wurde der Schwierigkeit Rechnung getragen, während der Erhebungen eine Balance wahren zu müssen zwischen dem Interesse, Szenen in Kopräsenz videobasiert zu beobachten, und einer potentiell die Privatsphäre verletzenden Eindringlichkeit bzw. ›zeitraubenden‹ Aufdringlichkeit dieses Anliegens. Das anfängliche Vorhaben einer dynamischen, ›fokussierenden‹ Kameraführung ohne statischen Kamerastandort (vgl. Mohn 2008) wurde fallengelassen, weil die ausgedrückten Bedenken zu dem Schluss führten, dass ein solches Vorgehen als zu ›invasiv‹ bzw. als ›okkupierend‹ empfunden würde und daher die weitere Teilnahme am Forschungsprozess gefährdet gewesen wäre.14 Wie Herbert Kalthoff schreibt, ist die ethnographische Forschungsaktivität in der offenen Beobachtung stets an einen Aushandlungsprozess gebunden, in dem die Erhebungssituation gemeinsam hervorgebracht wird (vgl. Fuchs/Berg 1993: 14ff.; Coffey 1999: 26; Jordan 2006: 172). »In seinen konkreten Forschungsaktivitäten setzt der Ethnograph in vielfältiger Weise auf Kooperation mit denen, die er beobachtet; sein Beobachten-Können ist von ihrer Bereitschaft zu einer solchen Kooperation abhängig. [...] Die Aushandlungen markieren nicht nur die Verständigung über die Machbarkeit des Projekts und die Sichtbarkeit von Ethnographen, sondern insbesondere die Frage, ob und auf welche Weise sich die Beforschten auf deren Anliegen einlassen. In den Aushandlungen klären die Teilnehmer daher ihre Rolle im Rahmen der Beobachtung und den Status des Fremden in ihrer Sozialität; [...] Zentrales Moment der Reziprozität ist die Vertrauenswürdigkeit, die zwischen den Beforschten und Forschern hergestellt werden kann; sie gleicht einem Wechsel auf die Zukunft, über die die Akteure im Augenblick ihrer Entscheidung, die Forschung zuzulassen und auf sie einzugehen, wenig Sicheres sagen können.« (Kalthoff 2006: 155f.)

Dabei ist der Zugang zum Feld, wie Georg Breidenstein formuliert, kein »einmal zu bewältigender ›Schritt‹, den man dann ›vollzogen‹ hätte, sondern ein komplexer und vielschichtiger Prozess, der vor allem die laufende Gestaltung der Beziehungen zu den beforschten Personen einschließt« (Breidenstein 2006: 22; vgl. Gottdiener 1979: 61; Burgess 1991: 52). Um möglichst alle Familienmitglieder für eine Teilnahme am Forschungsvorhaben zu gewinnen und diese auch über die gesamte Prozessdauer abzusichern, wurde der Erhebungsrahmen möglichst fassbar und überschaubar konturiert. In der Beschränkung der Aufzeichnungen auf die vier Settings war das unausgesprochene Zugeständnis einer gewissen Kontrollier-

14 Zwar wurden auch schon Studien mit bewegten videobasierten Beobachtungen an verschiedenen Orten des Wohnbereichs durchgeführt (vgl. Kreppner/Paulsen/Schütze 1982; Kreppner 2005), doch sind hinsichtlich der Privatsphäre die Vorbehalte der konkreten Teilnehmenden maßgeblich.

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barkeit und Ausweichmöglichkeit seitens der Teilnehmenden enthalten. Wenn die Kamera auf einem Stativ befestigt, der Fokus eingestellt und ich mich zu den anwesenden Familienmitgliedern setzen würde, gäbe es keinen mobilen Kamerafokus, der Aktivitäten beweglich ›verfolgen‹ könnte. So wurde allen Familienmitgliedern ermöglicht, ohne viel Aufsehen aus der Bildfläche zu treten. Die Loslösung des Beobachters von der Kamera hatte dabei den zweifachen Vorteil, dass ich parallel aus einer anderen Perspektive teilnehmend beobachten und die Kamera für die Beteiligten in den Hintergrund rücken konnte.15 Auf den Einsatz einer zweiten statischen Kamera-Apparatur, wie vor allem in der videobasierten Schulunterrichtsforschung praktiziert, habe ich im Wohnbereich verzichtet, um ein potentielles Unbehagen gegenüber einem großen Technik-Aufgebot zu vermeiden. Diese Entscheidung beruhte auf der Vorannahme, dass es für die Teilnehmenden einen Unterschied machen würde, ob sie eine einzelne Kamera mental lokalisieren – und durch ihre Einbindung in das Interaktionsgeschehen auch wieder ›vergessen‹ – oder ob sie aus mehreren Perspektiven regelrecht ›in die Zange genommen‹ werden. Ich bin davon ausgegangen, dass mehrere Kamerastandorte insbesondere im Privatbereich zur wiederholten Abklärung und Fokussierung der Beobachtungssituation anreizen würden. Mit dieser methodischen Zurückhaltung blieben eine zum Ausdruck gebrachte Ängstlichkeit oder Vorbehalte gegenüber der videobasierten Beobachtung hingegen Ausnahmen.16 Die Möglichkeit, den Familienmitgliedern in Abwesenheit des Forschenden eine Digitalkamera zur ›Selbst-Dokumentation‹ zu überlassen – wie mit auditiven Aufzeichnungsgeräten bei Tisch im Bereich der Konversationsanalyse wieder-

15 Mehrmals wurde in kurzen Abschlussgesprächen erwähnt, dass die statische Kamerainstallation während der Erhebungen kaum irritiert hätte und ich wie ein ›normaler‹ Gast wahrgenommen worden sei, wohingegen meine Positionierung im Hintergrund bei der Kamera durch ein Unwohlbefinden begleitet gewesen wäre. Es galt also zu berücksichtigen, dass die Kamera ein Instrument ist, das in seinen Gebrauchsweisen performativ in unterschiedlichem Ausmaß ein Machtgefälle, eine in der Situation wirksame soziale Distanz etabliert. Durch die räumliche Loslösung des Forschenden von der Aufzeichnungsapparatur und seine Integration in das beobachtete Geschehen hat sich der Forschende nicht zuletzt auch einer videobasierten Beobachtung mit ausgesetzt. 16 Während des ersten Erhebungstermins bekundete Miriam Dübner (die älteste von drei Geschwistern) auf meine Nachfrage hin ihr Unbehagen gegenüber der Kamera, erklärte sich aber mit dem Erhebungsprozess einverstanden und zeigt bald darauf kaum noch Befangenheit. Vielmehr glaubte ich, bei ihr eine grundsätzlich distanzierte Haltung zur Forschungssituation inklusive meiner Anwesenheit zu registrieren, die zu überwinden mir nicht recht gelang.

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holt praktiziert – wurde ebenfalls verworfen.17 Erstens, weil die Auswertung in Hinsicht auf die Kameraführung, Perspektiven, Bildrahmung und Auswahl der Aufnahmezeiten deutlich komplexer geworden wäre (vgl. zur Rekonstruktion formaler Gestaltungsaspekte in der Bildkomposition Bohnsack 2007b, 2009: 32ff.); und zweitens, weil zu befürchten war, dass die Kamera zum Zankobjekt zwischen den Geschwisterkindern oder einseitig durch die Eltern bedient werden würde – entsprechende Bedenken wurden im Vorgespräch geäußert. Die zu klärende Frage der jeweiligen Bild-Autorschaft hätte eine Auswertung des Datenmaterials auch weitaus komplizierter gemacht und szenische Vergleichsmöglichkeiten erschwert. Die Vorgehensweise, anstatt langer ›Feldaufenthalte‹ fokussierte Ausschnitte bzw. bestimmte Aspekte des Lebens zu untersuchen, um diesbezüglich spezifische Wissens- oder auch Organisationsstrukturen zu rekonstruieren, bezeichnet Hubert Knoblauch auch als ›fokussierte Ethnographie‹, wohingegen sich aufgrund der häufig genutzten Aufzeichnungstechnologien im angelsächsischen Sprachraum die Bezeichnung wired ethnography etabliert habe. Die Charakterisierung als ›fokussiert‹ hebt dagegen eine Konzentration auf bestimmte Aspekte oder szenische Ausschnitte hervor und schließt Verfahrensweisen mit ein, die (wie bspw. bei Erving Goffman) auch ohne Apparaturen auskommen (vgl. Knoblauch 2001: 126ff.).18 Seit den 1960er Jahren ist außerdem von ›Mikroethnographie‹ die Rede – eine Bezeichnung, die von Louis M. Smith und William Geoffrey in ihrer Studie The complexities of an urban classroom (1968) eingeführt und wenige Jahre später von Frederick Erickson aufgegriffen wurde. »What was ›micro‹ about these ethnographic studies«, erläutern Jürgen Streeck und Siri Mehus, »were the ›cultures‹ that they described« (Streeck/Mehus 2005: 381). Wie Knoblauch kritisch dazu anmerkt, hat die Bezeichnung ›Mikroethnographie‹ allerdings einen ›mikrosoziologischen‹ Beiklang. Aus einer wissenssoziologischen Perspektive werde jedoch nach »Prinzipien der gesellschaftlichen Konstruktion des untersuchten Phänomenbereichs« gefragt, so dass eine Unterscheidung von ›Mikro‹ und ›Makro‹ missverständlich sei (Knoblauch 2001: 136).

17 Für den deutschen Sprachraum vgl. besonders Keppler 1995. Zu einer praxistheoretischen Perspektive jenseits der Konversationsanalyse und eine Auseinandersetzung mit deren methodologischen Voreinstellungen vgl. Audehm/Zirfas 2001; Audehm 2007: 72f. 18 Während eine Konzentration auf bestimmte Ausschnitte oder Aspekte des Alltagslebens vornehmlich seit den 1950er Jahren, gerade auch durch die US-amerikanische Soziolinguistik mit Fokus auf die Alltagskommunikation, vorangetrieben wurde, hat der Einsatz von Videotechnik zur fokussierten Beobachtung bereits eine lange Geschichte, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht (vgl. Schändlinger 2006: 350f.) und seit den 1920er Jahren, z.B. von Kurt Lewin, auch zur Verhaltensforschung in der Psychologie angewandt wird (vgl. Knoblauch/Schnettler/Raab 2006: 17).

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Die Festlegung in der Untersuchung auf vier vereinbarte Settings mit einem weitgehend konstanten Aufzeichnungsmodus beschränkt die videobasierte Beobachtung auf einen kleinen Bereich des segmentierten Wohnraums und auf ein schmales Spektrum vielseitiger Gestaltungsweisen der Lebensführung im Rahmen des Zusammenlebens. So fanden die Erhebungen ausschließlich im Wohnzimmer oder auf angrenzendem Terrain des Wohnbereichs statt (außer dem Wohnzimmer auch in einer zum Wohnzimmer hin offenen Küche und auf einer an das Wohnzimmer angrenzenden Terrasse). Zudem wirkt der Erhebungsprozess an der Hervorbringung der beobachteten Settings mit. Die Erhebungssituationen wurden zumindest für Gruppeninterviews oder auch beim Spiel zum Zweck der Erhebung geschaffen und selbst die Mahlzeiten wurden zeitlich mit dem Erhebungstermin abgestimmt. Dennoch ermöglicht die Verfahrensweise als fokussierte Ethnographie vor allem durch die rekonstruktive Arbeit am gewonnenen Datenmaterial Erkenntnisse über die jeweilige Logik der Praxis im Zusammenleben als Familie. In den Gruppeninterviews informieren die Teilnehmenden dabei nicht nur über Alltagsstrukturen und in einer ›diachronen‹ Dimension zur familiengeschichtlichen Entwicklung, sondern sie bringen auch Orientierungen zur Geltung, die im Fokus auf die Alltagspraxis in situ beobachtbar werden. Die Verfahrensweisen der audiovisuellen Aufzeichnung und der teilnehmenden Beobachtung zielen dabei nicht auf eine möglichst umfassende Abbildung des Familienlebens im Detail. Das Erkenntnisinteresse richtet sich auf diese Orientierungen im ›gewohnten‹ Familienleben.

F OKUSSIERTE A UFZEICHNUNGEN Zu allen Erhebungsterminen ist ausnahmslos ein Tisch mit den umher gruppierten Sitzgelegenheiten ein einvernehmlicher Ort der videobasierten Aufzeichnungen. Diese Voreinstellung der Fokussierung ist nicht nur durch methodische Verfahrensentscheidungen (vgl. Kelle 2001: 198), sondern auch durch ein soziokulturelles Selbstverständnis der Beteiligten, einschließlich des Forschenden, präformiert. Am Tisch treffen das Selbstverständnis der Beteiligten hinsichtlich ihrer Darstellbarkeit als Familie mit einem forschungsstrategischen Interesse zusammen, adäquate ›Ausschnitte‹ des Familienlebens im Wohnbereich fokussiert beobachten bzw. aufzeichnen zu können. Um Szenen des gemeinsamen Zusammenlebens zu fokussieren, eignet sich der Tisch als Erhebungsschauplatz wie kaum ein anderer. Denn das Familienleben ist dort nicht nur räumlich besonders konzentriert – das hochgradig standardisierte Arrangement bei Tisch bietet sich auch aufgrund seiner Vergleichbarkeit an. Küche und Wohnzimmer, und dort insbesondere die Ensembles von Tisch und Sitzgelegenheiten, sind kulturhistorisch zu selbstverständlichen Ver-

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sammlungsorten geworden,19 die auch zu Beginn des 21. Jahrhundert für gemeinsame Zusammenkünfte im Zusammenleben als Familie weitaus ›typischer‹ sind, als z.B. gemeinsame Fahrten in einem Auto, eine Gartenlaube oder eine Fernsehecke, die gar nicht in jedem Fall gegeben sind oder besonders häufig gemeinsam genutzt würden. Wie an kaum einem anderen Ort wird das gemeinsame Familienleben am Tisch routiniert mit- und füreinander in Szene gesetzt – wobei Tische familienspezifisch hinsichtlich der Rhythmik und Zusammensetzung unterschiedlich genutzt werden können.20 Gemeinsame Mahlzeiten wurden neben den beiden Gruppeninterviews als Erhebungsschauplatz gewählt, weil diese Einrichtung im Tagesverlauf wie keine andere Aktivität im Familienleben einen Anlass schafft, in variierenden Zusammensetzungen am Tisch Platz zu nehmen. Besonders maßgeblich für einen Fokus auf die Mahlzeit ist aber auch die Relevanz, die ihr von den Beteiligten selbst zugemessen wird. Der Erhebungsprozess ist nur von einer Person durchgeführt worden. Das hat mit Blick auf die teilnehmende Beobachtung den Nachteil, dass auf dieser Verfahrensebene keine ›ergänzende‹ Beobachterperspektive als ›Korrektiv‹ mit einbezogen ist. In Hinsicht auf ein Vertrauensverhältnis können solche ›Alleingänge‹

19 Unter einem ›Arrangement‹ wird hier eine temporäre räumliche Anordnung verstanden, die sich als dynamische Konstellation von Menschen und Dingen, mitunter auch Tieren oder Pflanzen charakterisieren lässt, die aufgrund von Wahrnehmungskonventionen verhältnismäßig deutlich gerahmt ist (vgl. Schatzki 2001: 43). Dieses Verständnis von ›Arrangement‹ ist nicht allein auf das dingliche Ensemble von Tisch und Sitzgelegenheiten, sondern auf einen dynamischen Praxiszusammenhang bezogen. In Hinsicht auf rituelle Rahmungen schreiben Christoph Wulf und Mitautor/innen auch von ›szenischen Arrangements‹ (vgl. Wulf u.a. 2001). Solche Arrangements sind nicht nur durch die räumliche Konstellation von Dingen ›präfiguriert‹, sondern auch durch die zeitliche Dimension einer gemeinsamen Praxisgeschichte mit entsprechenden Routinen und Gewohnheiten, in denen sich die Beteiligten aufeinander ›eingestellt‹ haben – auch infolge vorausgegangener Konflikte. Arrangements im Wohnbereich erfordern daher in der Regel keine Aushandlungen ›von Grund auf‹. Zusammenlebende Familienmitglieder haben sich in ihrem praktischen Wissen durch viele Selbstverständlichkeiten miteinander ›arrangiert‹. 20 Zur Geschichtlichkeit von Tisch und Mahlzeit im Familienleben vgl. das Kapitel 4.2. Insbesondere vor dem Fernseher ist das Zusammenleben als Familie räumlich mitunter gleichfalls für längere Dauer auf ein gemeinsames Aufmerksamkeitsfeld konzentriert. Sofern als Gruppe ferngesehen wird, ist dabei in der Regel gleichfalls ein standardisiertes Ensemble aus Tisch und Sitzgelegenheiten als ›typische‹ Couchecke involviert. Beim Fernsehen ist das Aufmerksamkeitsfeld allerdings nicht primär aufeinander, sondern zumindest phasenweise auf ›mediale‹ Inhalte gerichtet. Zu entsprechenden rezeptionsanalytischen Zugängen in Hinblick auf das Familienleben vgl. Morley 1986; Lull 1990; Hoover/Schofield Clark/Alters 2003.

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jedoch auch vorteilhaft sein (vgl. Girtler 2001). Ein vergleichbares Korrektiv der Beobachtung ist stattdessen im Verfahren der audio-visuellen Aufzeichnung zu finden. Die teilnehmende Beobachtung fungiert hier in Bezug zur Videographie auch als Ergänzung im Sinne einer »analytischen Verdichtung« (vgl. Kelle 2001: 206). Der teilnehmenden Beobachtung wird dabei das Gewicht zugemessen, die in sinnlicher Hinsicht nicht irritierbare Selektivität der technischen Aufzeichnung sowie die technische Distanz zu den Eigendynamiken im Raum zu kontrollieren. Denn wenn von einer ›Aufzeichnung‹ die Rede ist, so ist damit nicht gemeint, dass sich ein zeit-/räumlicher Ausschnitt des sozialen Geschehens festhalten ließe. Als Datenmaterial wird ausschließlich aufgenommen, was durch die technische Sensorik registrierbar ist. So verweist das Wort ›graphie‹ in der Ethnographie auch in erster Linie auf die Schreibtätigkeit von Forschenden, die auf Grundlage des erhobenen Datenmaterials und ihrer Erfahrung analytisch verdichtete Bilder des beobachteten Alltagslebens schaffen (vgl. Clifford/Marcus 1986; Fuchs/Berg 1993; Hirschauer 2001).21 Jörg R. Bergmann hat hinsichtlich der apparaturbasierten Beobachtung von einer »registrierenden Konservierung« geschrieben, was die Gerichtetheit und die kategorische Selektivität der Apparatur im Erhebungsprozess treffend zum Ausdruck bringt (Bergmann 1985: 305). So ist das videographische Material auf zwei Sinneskanäle reduziert. Ein räumlich-atmosphärisches, örtlich verstreutes Geschehen ist irreversibel in ein zweidimensionales Bewegungsbild mit scharf umgrenzten Bildrändern und eine dazu synchronisierte Tonspur transformiert worden, die entsprechend der Kameraperspektive und der Mikrofonausrichtung fokussiert sind (vgl. Wagner-Willi 2001: 135, 2004: 52). Unregistriert bleiben sinnliche Eindrücke wie »Geruchs- und Temperaturwahrnehmung, Körpergefühl und Tastsinn«, die vielfältig am Interaktionsverlauf und an räumlichen Atmosphären beteiligt sein können (Dinkelaker/Herrle 2009: 15). Während zu Beginn der Photographie im 19. Jahrhundert davon ausgegangen wurde, dass sich eine objektive Wirklichkeit in den technischen Apparaturen ›von selbst‹ aufzeichne (vgl. die Metapher des Pencil of Nature von William H. Fox Talbot) und Wirklichkeit in ihrer ›reinen‹ Objektivität, ohne ›Verunreinigungen‹ durch ein Forschersubjekt, abgebildet werden könne (vgl. Daston 2001), haben

21 Zum jeweiligen Status der teilnehmenden und videobasierten Beobachtung vgl. eine kurze Kontroverse in der Zeitschrift Sozialer Sinn (Knoblauch 2001, 2002; Breidenstein/ Hirschauer 2002). Insbesondere Elisabeth Mohn experimentiert mit Formen einer für Situationen und Stimmungen sensiblen Kameraführung, um Aspekte der leiblichen Teilnahme wie auch der Tätigkeit des Beschreibens in die videobasierte Beobachtung zu implementieren (vgl. Mohn 2002, 2008).

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apparaturbasierte Aufzeichnungen seit dem 20. Jahrhundert den Status von Artefakten, die unter spezifischen sozialen Bedingungen hervorgebracht und ›gelesen‹ werden. Durch die audio-visuelle Aufzeichnung wird ein Datenkorpus produziert, der durch formale Gestaltungsfaktoren wie die Wahl der Perspektive, der Bildweite, der Aufnahmezeiten sowie durch technische Eigenschaften und Möglichkeiten der Apparatur determiniert ist – so dass jedes Datenmaterial durch Vorentscheidungen und technische Voraussetzungen ›präformiert‹ ist (vgl. Knoblauch/ Schnettler/Raab 2006: 12; Mondada 2006: 56).22 Mit Bezug auf Bergmann hebt Hirschauer auch hervor, dass mit der Aufzeichnungen eine andere Zeitlichkeit erzeugt werde, da der Fluss des Geschehens nicht mehr uminterpretierbar sei (vgl. Hirschauer 2001: 434). Die Prozessualität des Geschehens wird als Datenmaterial fixiert und ist in dieser Fixiertheit für konträre Auslegungen offen, wohingegen die lebendige Praxis, wie Bourdieu schreibt, in der Zeit abrollt (vgl. Bourdieu 1993: 149). Die Prozessbeteiligten haben daher in ihrer Involvierung nur eng begrenzte Möglichkeiten, das voranschreitende Geschehen im Prozess distanziert zu reflektieren, wobei der Fortgang des Geschehens von ihnen zugleich beeinflusst wird. Gerade aufgrund des ›Ausschnitthaften‹ und der technischen Selektivität in der Aufzeichnung ermöglicht die audio-visuelle Datenkonservierung aber eine ›Multiperspektivität‹ sowohl in Hinsicht auf die Aufmerksamkeitslenkung bei wiederholten Ansichten fokussierter Szenen wie auch in Hinsicht auf wiederholbare ›Peer-Reviews‹ mit Kolleg/innen, die ihre Sichtweisen mit einbringen und mit denen unterschiedliche Interpretationen zur kommunikativen Validierung diskutiert werden können. Die technische Selektivität der Aufzeichnung wird dabei

22 Knoblauch, Schnettler und Raab (2006) verweisen darauf, dass grundsätzlich verschiedene Datensorten zu unterscheiden seien, z.B. anhand der Fragen, wer (Forscherpersonen oder Feldteilnehmer/innen) entsprechendes Material zu welchem Zweck aufgezeichnet hat; ob es sich um eine quasi-natürliche oder um eine für die Aufnahme erst geschaffene Situation handelt; ob die Positionen ›vor‹ und ›hinter‹ einer Kamera durch Selbstportraits (z.B. bei Videotagebüchern) vermischt werden; ob die Kamera selbst als Instrument der Analyse genutzt wird etc. Sie benennen zwei Dimensionen der Hervorbringung von Daten: (I) bezüglich der technischen Einstellungen und Bearbeitungsmöglichkeiten während und nach der Aufzeichnung sowie (II) hinsichtlich der verschiedenen praktischen ›Adressierungsweisen‹ in einer Erhebungssituation, z.B. mit einem statischen oder dynamischen Kamerafokus; einer jeweiligen Darstellungsabsicht etc. (vgl. Knoblauch 2005: 265f.). Es ist naheliegend, dass bei Datensorten, die nicht eigens zu Forschungszwecken von Forschenden selbst erhoben wurden, die technischen Gestaltungsfaktoren wie Perspektivität, Bildrahmung, Bildkomposition und Aufzeichnungszeiten (unter Umständen auch Kameraführung und Montageleistungen) mit ins Zentrum der Rekonstruktion gerückt werden müssen (vgl. Bohnsack 2009: 49, 118; 2010: 273).

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aufgewogen durch den Präzisionsgewinn in den fokussierter Szenen, denn innerhalb des visuellen und akustischen Fokus der Aufzeichnung werden audio-visuelle Aspekte detaillierter registriert, als es der gleichfalls selektive Wahrnehmungsapparat eines organischen Forscherkörpers innerhalb der Situation bzw. darauf bezogene Protokolltechniken vermögen (vgl. Gottdiener 1979; Knoblauch 2001, 2006). Weil teilnehmende Beobachter zudem nicht nur Beobachter, sondern immer auch Beteiligte der beobachteten Situation sind, entlastet die Möglichkeit der Beobachtung am videographischen Material von Zwängen, auf Wahrgenommenes unmittelbar zu reagieren, so dass mehr methodische Kontrolle über die Datengrundlage der Interpretation gewonnen wird (vgl. Dinkelaker/Herrle 2009: 44). In ihrer Ethnographie zum Schulalltag von Schüler/innen plädieren Lothar Krappmann und Hans Oswald dafür, sich während der teilnehmenden Beobachtung nicht allzu sehr um Unauffälligkeit zu bemühen und gleichsam Unsichtbarkeit zu simulieren (Krappmann/Oswald 1995: 43f.). Nichts irritiere Menschen und ihr Verhalten mehr, als Personen, die sich in ihre Nähe begeben, deren Identität ihnen jedoch unklar bleibe, weil sie den wechselseitigen Prozess der Interaktion zu unterbinden versuchen. Aus diesem Grund habe ich mich im Erhebungsprozess auch nicht aus dem Aufzeichnungsmaterial herausgehalten. Da ich mich als Ethnograph dezidiert für meine Sichtbarkeit im Forschungsprozess entscheide, gibt es keinen guten Grund, weshalb die Präsenz im Aufzeichnungsmaterial negiert werden sollte. Denn ein Datenkorpus ohne Sichtbarkeit des Forschenden bietet keinen höheren ›Echtheitsgrad‹ der beobachteten Situation, sondern eher eine Option zur ›Ausblendung‹ der eigenen Positionierung im Feld. Ich bin daher der Maxime gefolgt, dass diese Präsenz nicht als eine ›Verunreinigung‹ des Aufzeichnungsmaterials, sondern als konstitutiv für die ergänzende Verfahrensweise der teilnehmenden Beobachtung anzusehen ist (vgl. Fuchs/Berg 1993: 14; Kalthoff 2003: 72). In der Beobachtung habe ich als Forschender teil an der Erhebungssituation, mit mir wird interagiert und mir werden Entscheidungen abverlangt. Ein »Problem der Reaktanz« ist in der offenen Beobachtung – zumal mit technischer Unterstützung – zwar unvermeidlich gegeben, sollte aber auch nicht überbewertet werden. Vielmehr sind die Reaktionen der Beteiligten auf den Forschenden als interpretierbare Daten zu betrachten, die Aufschlüsse über die Logik der Praxis gewähren können (vgl. Knoblauch 2001: 134; Mohn 2006: 175). So sind in der Ethnomethodologie die Reaktionen von Teilnehmenden systematisch genutzt und durch sogenannte ›Krisenexperimente‹ sogar forciert worden (vgl. Garfinkel 1967: 37ff.). Wenn hier dennoch von einer »naturalistischen Beobachtung« gesprochen wird, so ist keine Situation gemeint, die von der Beobachtung ›unberührt‹ bliebe, sondern es wird die Differenz zu einem ›nicht-natürlichen‹ Umfeld wie bei Laborbeobachtungen markiert (vgl. Goffman 1982: 10).

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Die am Erhebungsprozess Teilnehmenden präsentieren sich zwar entsprechend der eigenen, stets auch normativ gefärbten Vorstellungen ihres ›Erscheinens‹ – wie in jeder Interaktionssituation machen sie sich ein Bild davon, wie sie ›rüber‹ kommen –, doch verweist dieser Aspekt nicht notwendig auf eine verschärfte Problematik von Authentizität und ›Verstellung‹. Diese idealtypische Entgegensetzung wird vorwiegend dann relevant, wenn die ›Echtheit‹ von Daten im Sinne ihres Wahrheitsgehalts in Frage steht.23 Auf einer methodologisch ›naiven‹ Ebene ist dem erstens zu entgegnen, dass Ethnographie konstitutiv auf einem erarbeiteten wechselseitigen Vertrauensverhältnis beruht, woraus aber nicht folgt, dass einander ›blind‹ vertraut werden müsste oder sollte. Insofern fließen inhaltliche Auskünfte in die Untersuchung mit ein, deren Wahrhaftigkeit solange gilt, wie keine Indizien dagegen sprechen. Die videobasierten Aufzeichnungen fungieren darüber hinaus aber auch gar nicht allein als Speichermedium für die Auskünfte ethnographischer Informanten, sondern als Datengrundlage zur Rekonstruktion von Orientierungen in der Alltagspraxis. Das genutzte rekonstruktive Analyseverfahren ist vorrangig an einer Logik der Praxis interessiert, die implizit zur Geltung kommt. Wie Bohnsack mit Mannheim in Hinblick auf die Rekonstruktion konjunktiver Erfahrungen in der Gesprächsanalyse schreibt, »interessiert nicht, ob die Darstellungen (faktisch) wahr oder richtig sind, sondern es interessiert, was sich in ihnen über die Darstellenden und deren Orientierung dokumentiert« (Bohnsack 2003: 64). Die Frage, ob eine isolierte Aussage oder ein singulärer Akt authentisch oder repräsentativ sind, wird im rekonstruktiven Modus der Auseinandersetzung mit dem szenischen Material hinter das Interesse zurückgestellt, eine Logik der Praxis und Ordnungsmuster des Zusammenlebens herauszuarbeiten, die in diesen Szenen als spezifischer Prozesszusammenhang zur Darstellung und zum Tragen kommen. Die verschiedenen Familienmitglieder werden durch die Forschungssituation nicht zu vollkommen anderen Menschen und sie machen nicht alles anders als gewohnt, sondern bewegen sich im Rahmen ihres alltäglichen Verhaltensspektrums. Auch bei einer potentiell intensivierten Selbstkontrolliertheit in der Erhebungssi-

23 Nach Goffman beinhaltet die Sozialisation eine zunehmend verfeinerte individuelle Arbeit an der Außendarstellung durch ein kulturell gegebenes Ausdrucksrepertoire, so dass diese Arbeit in verschiedenen Situationen lediglich graduell verschieden intensiv und forciert betrieben wird. Vgl. die Arbeiten von Erving Goffman zu den Weisen der Selbstdarstellung im Alltagsleben mit seinem Begriff der Ausdruckskontrolle [im Orig.: impression management] (Goffman 2001b: 23ff.), wie auch zu den »Techniken der Imagepflege« (Goffman 1986: 10-53). Mit George H. Mead lässt sich sagen, dass die Wahrnehmung durch andere und ein entsprechendes ›Sich-Einstellen‹ für das Selbstverhältnis konstitutiv ist, so dass ein resoluter Gegensatz zwischen authentischem Selbstverhältnis und ›Außendarstellung‹ hinterfragt werden muss (vgl. Mead 1973, 1987).

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tuation bleibt, mit Bourdieu ausgedrückt, der jeweilige Habitus das strukturierende Orientierungsmaß in der Alltagspraxis. Das individuelle Repertoire an Interaktionsweisen und die Umgangsweisen, in denen ein praktischer Sinn der Beteiligten zur Geltung kommt, dienen als grundlegende Verhaltenskapazitäten, über deren Potential und Grenzen nicht umfassend verfügt werden kann (vgl. Bourdieu 1993: 122ff.). In der eigenen Selbstdarstellung zu ›schauspielern‹ könnte zwar, wie bei professionellen Darstellern, ein Bestandteil dieses Alltagsrepertoires sein, hätte jedoch durch viel Übung ›in Fleisch und Blut übergegangen‹ sein müssen (vgl. Giddens 1997: 177). Die Alltagspraxis folgt im Rahmen des Zusammenlebens einer eingespielten Dynamik, in der ein ›Aus dem Rahmen fallen‹ registrierbare Irritationen auslöst.

V ERSCHRIFTLICHUNG Während Protokolldaten aus der teilnehmenden Beobachtung zu Papier gebracht und als fixierte Datengrundlage in einem späteren Zeitraum als Primärdaten nur noch geringfügig umgearbeitet werden, ist die Verschriftlichung in Hinblick auf die videographische Datengrundlage ein Prozess, der rekursiv auf diese fixierte Datengrundlage bezogen bleibt. Ein erster Arbeitschritt ist diesbezüglich das Verlaufsprotokoll, das über die gesamte audio-visuelle Datengrundlage angefertigt wird – wobei der Detaillierungsgrad bzw. die jeweilige Aufmerksamkeit für ›Nebenaspekte‹ bereits in diesem Protokoll ›mikrologische‹ Entscheidungen abverlangen, die für den weiteren Forschungsgang wegweisend sein können. Das Verlaufsprotokoll ist ein forschungspragmatischer Kompromiss – angesichts der ungeheuren Datendichte, innerhalb der potentiell alles interessant werden kann: räumliche Anordnungen und einzelne aufeinander bezogene Positionierungen, große ›raumdurchquerende‹ Bewegungsverläufe oder kleinere Gesten, die körperliche Expressivität, diverse ästhetische Ausdrucksmittel, multimodale Interaktionsweisen, zeitliche Strukturierungen und Ablaufmuster, atmosphärische Gestimmtheiten etc. Das Verlaufsprotokoll fungiert vordergründig als ein Arbeitsinstrument, um sich einen Überblick über thematische Verläufe und Verlaufsdynamiken im videographischen Material zu verschaffen, aber diese Übersicht schafft auch eine Entscheidungsgrundlage dafür, welche Passagen später vornehmlich fokussiert werden. Wenn diesbezüglich von einer Fokussierung die Rede ist, so ist die Wortwahl hinsichtlich der Datenauswahl an die Dokumentarische Methode angelehnt (vgl. Bohnsack 2003). Im Verhältnis zum vorherigen Wortgebrauch einer ›Fokussierten Ethnographie‹ handelt es sich hierbei um eine andere Ebene – um Fokussierungen, die innerhalb des erhobenen Materials relevant gemacht werden. Diese Fokussie-

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rungen richten sich nach Interaktionsmerkmalen im audio-visuellen Material, z.B. indem durch Intensivierungen des Interaktionsgeschehens bestimmte Passagen hervortreten. Hinsichtlich der Gesprächsanalyse schreibt Bohnsack von ›Fokussierungsmetaphern‹, wenn Passagen durch eine »besondere interaktive oder metaphorische Dichte« ausgezeichnet sind (ebd.: 136ff.). Fokussiert werden aber auch Szenen, die in thematischer Hinsicht besonders interessant sind. Zur rekonstruktiven Interpretation mit der Video-Interaktions-Analyse (vgl. Knoblauch 2004, 2005, 2006) wurden zuerst die verbalen Gesprächsanteile der fokussierten Szenenausschnitte transkribiert und anschließend durch Beschreibungen weiterer Beobachtungsaspekte, auch von Raum- und Zeitbezügen, ›angereichert‹, die in wiederholten Ansichten (teils im Stummmodus) Aufmerksamkeit auf sich zogen. Da aufgrund der audio-visuellen Datenfülle nicht alles beschrieben werden kann, gilt in erster Linie ein immanentes Relevanzkriterium in Hinblick auf den fokussierten Interaktionszusammenhang (Knoblauch 2005: 273). Dieser Prozess des Beschreibens ist ein hochgradig selektives Vorgehen, das ebenso wie Erinnerungsprotokolle in der Teilnehmenden Beobachtung durch einen individuellen Wahrnehmungsfilter geprägt ist – auch dann, wenn Beobachtungsaspekte methodisch systematisiert bzw. computergestützt kodiert werden. Beobachtungen am videographischen Material können allerdings mit Blickweisen weiterer Beobachter abgeglichen werden. Die Selektion im Sinn einer Datenreduktion ist jedoch auch deshalb unvermeidlich, weil aus einer Überfülle von Daten eine handhabbare Interpretationsgrundlage geschaffen werden muss. In dem Arbeitsschritt der Verschriftlichung geht es daher auch um eine Ausblendung von ›zu viel‹ Information (vgl. Soeffner/Raab 2004: 272; Nolda 2007: 488). Für den Prozess der Verschriftlichung verwende ich neben dem Begriff der Transkription auch den der ›Beschreibung‹, weil dadurch die Selektivität stärker akzentuiert wird. Von einer ›Übersetzung‹ in das Medium der Schrift kann m.E. in Hinblick auf audio-visuelle Aufzeichnungen nur dann die Rede sein, wenn primär verbale Inhalte fokussiert werden. Ansonsten werden detailreiche, aber auch sehr selektive Beschreibungen angefertigt, die einer anderen Logik folgen, als die Transkription vorwiegend sequenziell organisierter verbaler Äußerungen, mit der ein Gesprächsinhalt annähernd vollständig erfasst werden kann – auch wenn die körperlichen Aspekte der Stimmlichkeit in ihrer Differenz zur Textform lediglich rudimentär durch kodierte Zeichensetzung mit einbezogen werden. Die Aufzeichnungen weisen aufgrund ihrer Bildlichkeit eine Simultanstruktur und eine disparate Sequenzialität auf, in der synchrone Aspekte als simultanes Geschehen mehr oder weniger diskret aufeinander bezogen sind (vgl. WagnerWilli 2004: 49f.; Bohnsack 2009: 47ff.; Dinkelaker/Herrle 2009: 48ff.) – was besonders in Hinblick auf bewegte Körper relevant ist, da diese in ihrer Bewegtheit

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performativ bedeutsam werden und vielfältig Beziehungszeichen hervorbringen (vgl. Soeffner 1989: 140ff.). Zwar sind auch auditive Daten nicht ausschließlich sequenziell organisiert, weil vor allem in Alltagsgesprächen ›durcheinander‹ gesprochen wird und z.B. am Tisch auch parallele Gespräche geführt werden, die durch ›Einmischungen‹ konvergieren können. Nicht zuletzt beinhaltet auch eine Berücksichtigung der Stimmlichkeit eine Vielfalt simultaner Informationen. Die idealtypische Annäherung des Gesprächs an eine sequenzielle Textstruktur durch die Transkription ist jedoch ein forschungspragmatischer Arbeitsschritt zur Disziplinierung der Aufmerksamkeit auf die immanente Prozessstruktur mit einem methodischen Fokus auf die Entwicklung verbaler Gesprächsverläufe. Zu einer linearen Darstellungsform habe ich mich dennoch auch in den Beschreibungen der videographischen Szenenausschnitte entschieden, wobei ich für simultane Aspekte die zeitlichen und räumlichen Verweisungsmöglichkeiten verwende, die mit den sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten gegeben sind. Dabei bin ich in der Beschreibung der videographischen Datengrundlage unterschiedlich detailliert vorgegangen. Teilweise habe ich mich auf die Transkription auditiver Gesprächsausschnitte beschränkt, teils habe ich Gesten oder weitere körperliche Ausdrucksweisen wie Mimik, teils die Räumlichkeit oder zeitliche Aspekte mit einbezogen. Mit dieser Detailvarianz wird eine sekundäre Datengrundlage in Textform geschaffen, die weitaus mehr als Transkriptionen provisorisch bleibt. Die Beschreibungen der Szenenausschnitte zwingen zu wiederholten ›Revisionen‹ in Hinblick auf die videographische Datengrundlage. Aus diesem Grund kann »die Welt des Falles« auch nicht eindeutig mit der produzierten Datengrundlage in Textform gleichgesetzt werden, so wie z.B. in der Objektiven Hermeneutik hinsichtlich der Protokolle aus der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Allert 1998: 19). »Deskription und Transkription sind nicht das Abbild, das man sich (anstelle eines Originals) immer wieder angucken kann«, merkt Stefan Hirschauer dazu an, »sondern die Optik, durch die man ›hindurchgucken‹ muss, um neue Sichtweisen zu gewinnen« (Hirschauer 2001: 445). Letztes Endes fungieren Beschreibungen aber auch als »kommunikativer Akt«, denn sie haben Adressaten – die Leser (ebd.: 442). Insofern die erhobene Datengrundlage nicht zur Verfügung gestellt werden kann, fungiert die Beschreibung als Surrogat der videographischen Daten, an dem sich die Interpretationen in Hinblick auf ihre Nachvollziehbarkeit messen lassen müssen. Daher wird eine Trennung zwischen Beschreibung und Interpretation aufrechterhalten. Vor der Veröffentlichung bleiben diese Beschreibungen jedoch ein revidierbarer Arbeitsschritt – eine ›Optik‹, die im Gegensatz zur Transkription von ausschließlich auditivem Material im Interpretationsverlauf ›nachjustierbar‹ ist. Die einzelnen fokussierten Szenenausschnitte sind durch Interaktions-Sequenzanalysen interpretiert worden, wobei ich mich in zwei Analyseschritten zur Inhalts-

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ebene und Prozessstruktur auch an die Dokumentarische Methode angelehnt habe, ohne jedoch der Zielsetzung einer Typenbildung kollektiver Orientierungsmuster zu folgen (vgl. Bohnsack 2001, 2003). Die Interaktionsanalyse nach Knoblauch ist als Methode in der soziologischen Ethnographie angesiedelt und aus der Konversationsanalyse sowie den Workplace Studies hervorgegangen, die in videobasierten Studien über die zwischenmenschliche Interaktion hinaus auch den Umgang mit Materialitäten untersuchen (Knoblauch 2005: 266ff.; vgl. Suchman/Trigg 1991: 75). Die Rekonstruktion der Handlungssituationen ist dabei auf die Vollzugsstruktur von Interaktionszusammenhängen in ihrer zeitlichen und räumlichen Geordnetheit ausgerichtet, wobei davon ausgegangen wird, dass die Interaktionsordnung innerhalb der Situation performativ hervorgebracht wird. Indem die jeweiligen Akteure in Situationen mit ihrem sprachlichen und nicht-sprachlichen Tun füreinander indizieren, rahmen und kontextualisieren, wie ihre Handlungen zu verstehen sind und wie Vorhergehendes interpretiert wurde, an das sie anschließen, machen sie Prozesse des wechselseitigen Verstehens beobachtbar und analysierbar. Dabei richtet sich die Analyse auf das Verhalten, das eine Situation konstituiert, wie auch auf das prozessierende Wissen, das zum wechselseitigen Verstehen erforderlich ist (Knoblauch 2006: 75; vgl. Schmidt/Volbers 2011). Ralf Bohnsack schreibt vergleichbar von einer Doppelstruktur der beobachtbaren Vollzugsmomente einerseits, die sich in einer Situation ad hoc konstituieren, und der habituellen Grundlagen als inkorporiertes Wissen andererseits, das den beobachtbaren Aktivitäten wie auch den Redeinhalten zugrunde liegt (Bohnsack 2007a: 204; vgl. Hildenbrand/Jahn 1988: 204ff.). Unter Berücksichtigung der Simultanität stützt sich die Video-InteraktionsAnalyse nach Knoblauch besonders auf die sequentielle Struktur des beobachtbaren Geschehens, um zu untersuchen, wie sich innerhalb der Situation orientiert und koordiniert wird, wobei das Geschehen innerhalb des umfassenden materiellen Handlungszusammenhangs betrachtet wird (Knoblauch 2005: 272). Als Schritte der Interpretation unterscheidet Knoblauch die Ausformulierung dessen, was zu hören und zu sehen ist (vergleichbar zur formulierenden Interpretation eines ›immanenten‹ Sinngehalts in der Dokumentarischen Methode) von einer anschließenden Analyse des Prozessgeschehens in seiner fallspezifischen simultanen und sequentiellen Struktur (Knoblauch 2006: 75ff.). Durch das Ausformulieren eines thematischen Verlaufs und die Rekonstruktion eines Modus Operandi des Beobachtbaren wird Distanz zu den Alltagsauslegungen des Geschehens gesucht, wobei Handlungsintentionen und -bewertungen ausgeklammert werden, deren Unterstellung im Alltag mit der Betrachtung von Interaktionsgeschehen einhergeht. Das zentrale Moment dieser Schritte ist – neben einer analytischen Feingliederung – die Kontrolle über vermeintlich ›selbstverständliche‹ Motivzuschreibungen.

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Wenn Clifford Geertz in Hinblick auf Feldnotizen der teilnehmenden Beobachtung das Problem thematisiert, dass »das, was wir als unsere Daten bezeichnen, in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon sind, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen« (Geertz 1983: 14), dann zielt dieser Weg der Interpretation genau auf dieses Problem, das in der Auseinandersetzung mit technikbasierten Aufzeichnungen nicht weniger gegeben ist. Durch eine kontrollierte Ausformulierung des Beobachtbaren wird angestrebt, von den eigenen ›Alltagsauslegungen‹ Abstand zu gewinnen, um die konstitutiven Prozesse und Logiken zu rekonstruieren, die einer Interaktionsordnung zugrunde liegen und die sich in ihrer Beobachtbarkeit dokumentieren. Neben der Rekonstruktion von Orientierungen, sowohl über die geäußerten Inhalte wie auch aus dem Prozessgeschehen einer koordinierten und geordneten Situation, fließt in die Falldarstellung auch Kontextwissen mit ein, das für eine Verdichtung der Interpretationen genutzt wird. Dabei haben die einzelnen Falldarstellungen, und besonders im ersten empirischen Teil auch die berichteten Inhalte der Teilnehmenden, in der vorliegenden Untersuchung viel Raum erhalten. Der Aufbau der gesamten Untersuchung ist an einer kontrastierenden ›Konstellierung‹ von zueinander ins Verhältnis gesetzten Einzelfällen orientiert, wobei in den beiden empirischen Blickeinstellungen jeweils verschiedene Falldarstellungen kontrastiert wurden. Diese beiden Blickeinstellungen richten sich in unterschiedlichen ›Tiefeneinstellungen‹ auf zwei verschiedene Ebenen der Objektivierung einer Ordnung des Zusammenlebens als Familie. Im ersten Teil zu ›Koordination und Koordinaten‹ werden die zeitlichen und räumlichen ›Ordnungsmuster‹ des Familienlebens hinsichtlich der Alltagsorganisation in den Blick genommen, die durch Strukturierungsleistungen der Beteiligten hervorgebracht und aktualisiert werden, und in die sich durch eine alltagspraktische Involvierung individuell einzupassen ist. Die divergierenden Orientierungen, die der Realisierung des Familienlebens durch verbindende Zeitordnungen und gemeinsame Ortsbezüge zugrunde liegen, werden vornehmlich am Datenmaterial der Gruppeninterviews rekonstruiert. Der zweite Teil zu ›Arrangement und Reglements‹ rückt sozusagen näher an die Organisationsweisen des Familienlebens heran. Dort wird die Ausgestaltung von Zeiten und Räumen des Gemeinsamen im Arrangement bei Tisch fokussiert, wobei die Organisationsweise dieses Arrangements in ihren Beziehungen zu den Materialitäten einer ›gewohnten‹ Umgebung untersucht wird, die an der alltagspraktischen Hervorbringung des Arrangements einen konstitutiven Anteil haben.

4 Ausformungen des Familienlebens

In ihrer empirischen Studie aus den 1950er Jahren zur psychosozialen Organisation von Familienwelten schreiben Robert D. Hess und Gerald Handel aus einer wissenssoziologisch orientierten, interaktionstheoretischen Perspektive, die Mitglieder eines gemeinsamen Lebenszusammenhangs ›Familie‹ wohnten in einer selbst geschaffenen »Gefühls- und Phantasie-, Aktions- und Gebotsgemeinschaft«. Diese eigene Welt des Zusammenlebens als Familie konzipieren Hess und Handel als Erfahrungsraum einer geteilten Familiengeschichte mit entsprechend ›tief‹ reichenden Vertrautheiten und Habitualisierungen, mit emotionalen Bindungen und Verbindlichkeiten im gemeinsamen wie individuellen Alltagsgeschehen. Für die Bewohner dieser Familienwelt, die für Hess und Handel vollkommen selbstverständlich in eine gemeinsame häusliche Sphäre eingefasst ist, bestehe das Zusammenleben aus einem endlosen »Kreisen in und um gegenseitiges Verstehen, von Zuneigung zu Auseinandersetzung zu Entfremdung – und so fort«, wobei das Familienleben als gemeinsam hervorgebrachte Wirklichkeit in wiederkehrenden Prozessen der Interaktion reproduziert und aktualisiert werde.1 In der alltagspraktischen und für alle Beteiligten sinnhaften Ausbildung eines »Schemas für Getrenntheit und Verbundenheit« sehen sie dabei »die zugrunde liegenden Bedingungen« des Familienlebens. Beidem, dem Getrennt- wie dem Verbundensein, eine Gestalt zu geben sei eine fortwährend gemeinsam zu lösende Aufgabe (Hess/ Handel 1975: 14ff.) – was nicht nur auf Muster der An- und Abwesenheit im Alltag des Zusammenlebens bezogen werden kann, sondern auch auf die Dynamiken von Nähe und Distanz, Zusammenhalt und Abgrenzung, von Übereinstim-

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In einer Vorarbeit zu ihrer Studie schreiben Handel und Hess mit Akzentuierung des gemeinsamen Gefühlshaushalts: »Through intimate interaction over a prolonged period, the family also comes to inhabit its own emotional life-space.« (Handel/Hess 1956: 99) Die Konzeption des Familienlebens als eine Einheit interagierender Persönlichkeiten geht auf Ernest W. Burgess zurück (Burgess 1926; vgl. LaRossa/Reitzes 2009: 140f.).

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mungen und Differenzen, Partizipation und Ausgrenzungen, Eigenständigkeit und Abhängigkeiten.2 Wenn unter ›Familienleben‹ eine solche Ausformung des alltäglichen Zusammenlebens im Modus der ›Ko-Konstruktion‹ verstanden wird, dann verweist dieser Begriff nicht allein auf sogenannte ›Familienzeiten‹, als wiederkehrende Phasen gemeinsamer Aktivitäten, sondern auf die Kontinuität eines Beziehungsrahmens, der die – häufig vorherrschende – zeit-räumliche Getrenntheit der individuellen Tagesverläufe überdauert.3 Wie der Soziologe Karl Lenz mit Bezug auf George J. McCall formuliert, befinden sich persönliche Beziehungen und Interaktionen auf unterschiedlichen Ebenen sozialer Wechselwirkung, denn während »eine Interaktion auf die Dauer der Anwesenheit der Beteiligten in einer Situation begrenzt ist, dauert eine Beziehung auch dann an, wenn die Beziehungspersonen getrennt sind« (Lenz 2009b: 42). Aus systemtheoretischer Perspektive wird daher zwischen Beziehungssystemen und Interaktionssystemen (wie sie z.B. Erving Goffman beschreibt) unterschieden, wobei persönliche Beziehungen auf Interaktionen aufbauen (vgl. Schneewind 2010: 24). Von einem ›Beziehungsrahmen‹ ist hier auch deshalb die Rede, weil das Zusammenleben als Familie in den meisten Fällen als Gesamtheit mehrerer ›Subsysteme‹ persönlicher Beziehungen betrachtet werden

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Neben der Hervorbringung eines gemeinsamen Schemas für Getrenntheit und Verbundenheit rekonstruieren Hess und Handel vier weitere Konzepte, die diesem Konzept untergeordnet werden können: a) die Herstellung einer Kongruenz von Vorstellungen durch Interaktion (ein Abgleichen wechselseitiger Bilder voneinander, von sich selbst wie auch der familialen Gemeinschaft); b) die Entfaltung eines gemeinsamen Interaktionsstils, insbesondere bei zentralen und sich wiederholenden Themen; c) die Festsetzung von Grenzen einer gemeinsamen Erfahrungswelt (was zugelassen wird oder nicht: z.B. an Eigensteuerung, dem Grad akzeptabler Gefühlsintensitäten; die Beschaffenheit und Reichweite des Interesses an Vorgängen innerhalb und außerhalb der Binnensphäre, die Tendenz Erfahrungen zu bewerten); d) die Bearbeitung bedeutungsvoller bio-sozialer Unterschiede wie weiblich/männlich, alt/jung etc. (Hess/Handel 1975: 17ff.). Aus einer ähnlichen Perspektive schreibt Bruno Hildenbrand mit Referenz auf die Strukturen der Lebenswelt von Schütz und Luckmann: »Familien konstruieren ihre Welt als eine ihnen vertraute, weil in ihren typischen Aspekten bestimmte. Dies gilt sowohl für die familiale Innenwelt als auch für die Welt außerhalb der Familie sowie für die Übergänge zwischen Innen und Außen« (Hildenbrand 2005: 12). So wird z.B. in qualitativen wie quantitativen Studien der Gebrauch von Mobiltelefonen im örtlich verstreuten Familienleben untersucht (vgl. Christensen 2009). Aus psychologischer Sicht hat Sigmund Freud der zwangsläufigen Ausbildung eines Schemas im Beziehungsleben, in das die Verfügbarkeit eines Bezugsobjekts ebenso wie sein zeitweiliger Entzug zu integrieren ist, mit dem kindlichen ›Fort-da‹-Spiel ein prägnantes Bild gegeben (Freud 1999: 12ff.).

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kann (Radcliffe-Brown 1952: 51f.; Mollenhauer/Brumlik/Wudtke 1978: 37f.). In den typischen Konstellationen: Eltern-Kind-Beziehungen, sehr häufig mindestens eine Paarbeziehung, in vielen Fällen Geschwister- und darüber hinaus auch weitere Verwandtschaftsbeziehungen.4 Nur aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit durch eine gemeinsame und erinnerbare Beziehungsgeschichte, die über einzelne Situationen hinaus trägt, können Beziehungen nach Lenz die typische Verlässlichkeit einer wechselseitig abgesicherten Rollenstabilität bieten. Position (bzw. Rolle) und Person seien in einer persönlichen Beziehung, im Gegensatz zur Sozialform einer Organisation, dabei gar nicht voneinander trennbar, denn eine persönliche Beziehung ließe einen Personalwechsel nicht zu; »sie kann nur durch eine neue persönliche Beziehung abgelöst werden« (Lenz 2009b: 42). Die Beziehungen sind in der Regel über individuelle und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse hinweg auf eine relative Dauerhaftigkeit des Beziehungsrahmens ausgerichtet (vgl. Schneider 1994: 57ff.; Huinink/Konietzka 2007: 42ff.). Die alltagspraktische Idealisierung, dass jede einzelne Beziehung, »so wie sie ist, auf absehbare Zeit sich fortsetzt« (Lenz 2009: 42) hat allerdings einen Kontrapunkt in dem thematisierbaren Wissen um die Zeitlichkeit, innerhalb der sich Beziehungen nicht nur verändern, sondern durch die sie auch begrenzt sind.5 Bei Hess und Handel verweist der Begriff des Familienlebens auf eine eigensinnige Ausformung des Zusammenlebens, in der Verhaltensweisen und Orientierungen der einzelnen Familienmitglieder sowohl aus der Kollektivität des Zusammenlebens hervorgehen wie auch miteinander verwoben und aufeinander eingestellt werden. Die alltagspraktische Ausformung durch das Bestreben, trotz divergierender Kräfte ein gemeinsames Schema des Zusammenlebens auszubalancieren,

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Hinsichtlich der Rahmung schreibt Dieter Claessens, die Beziehungen führten aufgrund ihrer Art, Richtung und Intensität »zu einer Integrationskonstellation [...], durch die sozusagen eine ›Gruppen-Außenhaut‹ entsteht« (Claessens 1972: 57). Die Metapher der Haut unterstreicht einerseits die Zeitlichkeit einer ›Gruppen-Identität‹. So kann sich in der Beziehungskonstellation z.B. schlagartig etwas ändern, in das die Zugehörigen erst noch ›hineinwachsen‹ müssen. Doch ist das ›naturwüchsig‹ Organische dieser Metapher andererseits problematisch ›naturalistisch‹. Die Rahmenmetapher akzentuiert dagegen die ›Virtualität‹ der Kohärenz. Sie ist offener für die Unterschiede in der ›Integrationskonstellation‹ des Zusammenlebens, für die individuellen Vernetzungen der einzelnen Zugehörigen und ihre divergierenden Orientierungen. Johannes Huinink schreibt von einer »Unendlichkeitsfiktion« (Huinink 1995), Tilman Allert von einer »Unterstellung ewiger Dauer« (Allert 1998), doch sind Ablösungs- und Trennungsprozesse, wie auch die Sterblichkeit, keine dermaßen verdrängten Themen, dass im Familienkreis nicht darüber gesprochen würde oder die Verhältnisse nicht häufig entsprechend vorausschauend geregelt würden.

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macht für sie die jeweils spezifische Form des Familienlebens aus. »Das ist die Interaktionsmatrix, in der eine Familie ihr Leben entfaltet. Die Familie versucht, sich in einer Weise zu verwirklichen, welche die Art und Weise befriedigt, in der ihre Mitglieder vereint sein wollen und getrennt.« (Hess/Handel 1975: 19) Entgegen einer Gleichsetzung mit den gemeinsamen ›Familienzeiten‹ wird hier unter ›Familienleben‹ ein Zusammenleben als Familie verstanden, das zwar erst durch wiederkehrende Interaktionen mit Leben gefüllt, dessen Fortbestand jedoch auch über einzelne Zusammenkünfte hinweg als weitgehend unproblematisch vorausgesetzt werden kann – eine Problematisierung des Beziehungsrahmens wirkt sich für die Beteiligten vielmehr krisenhaft aus. Das Konzept des ›gewohnten‹ Zusammenlebens ist auf die dynamische Ausformung eines Lebenszusammenhangs bezogen, dessen Dauerhaftigkeit durch eine Praxisgeschichte, daraus hervorgehende Orientierungen und Bilder gemeinschaftlicher Zugehörigkeit getragen wird, die emotional fundiert sind und in die Zukunft projektiert werden können – der aber auch materiell abgesichert wird. Über die interaktionstheoretische Perspektive von Hess und Handel wird hier deshalb mit einer praxistheoretischen Perspektive auf das Zusammenleben hinausgegangen. Interaktion in Kopräsenz ist für diese gemeinsame Welt zwar äußerst bedeutsam, doch konstituiert sich das Familienleben darüber hinaus auf der Grundlage einer Praxis des Wohnens mit konkreten Raumbezügen und Zeitstrukturen. Besonders im Betreten eines Wohnbereichs wird dessen eigene Bedeutsamkeit sozusagen atmosphärisch evident. Ein Rahmen des Zusammenlebens wird durch Objektivationen zum Ausdruck gebracht und bekräftigt, die diesen Lebenszusammenhang innerhalb des Zeitverlaufs stabilisieren – durch Routinen, Rituale sowie situierte Verhaltensregeln, durch Narrationen, Artefakte und in den meisten Fällen durch die Lokalisierung in einem ästhetisch gestalteten Wohnbereich als gemeinsamer Ortsbezug und Routinegrund.6 In der Praxis des Wohnens mit ihren Objektivationen wird durch die alltagspraktische Einbindung ein gemeinsamer Lebenszusammenhang reproduziert, in den sich die Familienmitglieder auf je individuelle Weise einpassen – auch dann, wenn sie allein ›zuhause‹ sind oder von unterschiedlichen Orten aus auf diesen bezogen bleiben. Dabei verweist die Rede von einer Praxis des Wohnens auch

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Die verschiedenen Komponenten können als partielle Gedächtnisträger des Zusammenlebens verstanden werden (vgl. Groppe 2007). Die der Ethnomethodologie entlehnte und in ihrer Bedeutung umgekehrte Bezeichnung eines ›Routinegrunds‹ soll in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass Routinen nicht nur Verhaltensweisen fundieren, sondern in ihrem Vollzug durch dingliche Gedächtnisträger und räumliche Anordnungen häufig auch selbst fundiert sind (vgl. Löw 2001: 199).

A USFORMUNGEN

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auf einen abgesicherten Möglichkeitsraum wiederherstellbarer Kopräsenz. Ein Erfahrungsraum des Zusammenlebens bildet sich zwar keineswegs ausschließlich, aber doch besonders aus den gelebten Interaktionsverhältnissen heraus. Technikbasierte Interaktion kann das Interagieren ›von Angesicht zu Angesicht‹ zwar umfassend ergänzen; sie kann dieses in ihrer konstitutiven Funktion für das Familienleben jedoch nicht vollständig ersetzen. Da insbesondere Kopräsenz als konstitutiv für das Zusammenleben als Familie anzusehen ist, wird den empirischen Falldarstellungen im Aufbau dieses Kapitels eine analytische Differenzierung des ›gewohnten‹ Miteinanders vorangestellt. Dieser erste Teil dient einer Blickerweiterung über die Bildrahmung der videobasierten Aufzeichnung hinaus, die auf vorarrangierte Settings des Familienlebens fokussiert bleibt. Die Szenen bei Tisch sind einerseits zwar aufgrund der konzentrierten, räumlich verdichteten Kopräsenz ideal für rekonstruktive Absichten hinsichtlich einer familienspezifischen ›Logik‹ der Alltagspraxis mit ihren gemeinsamen und divergierenden Orientierungen. Die Hervorbringung dieser Zusammenkünfte, an der nicht zuletzt der Erhebungsvorgang beteiligt ist, entspricht andererseits aber einem besonderen Modus, der für das Alltagsgeschehen mehr oder weniger typisch sein kann. Die theoretische Reflektion dient daher dem Zweck, diese im Erhebungsprozess standardisierte Beobachtungssituation zu relativieren – nicht hinsichtlich einer rekonstruktiven Aussagekraft dieser Szenen, sondern als ›Relationierung‹ in Bezug auf andere Aktualisierungsweisen von Kopräsenz und Interaktionsweisen im Zusammenleben als Familie. Ausgehend von einer die Beziehungen stabilisierenden (wie auch wiederkehrend selbst zu stabilisierenden) Vertrautheit wendet sich dieses Kapitel daher zuvorderst mit Bezug auf Erving Goffman und Alfred Schütz dem Begriff der Kopräsenz zu. Die Diskussion dieses Begriffs im Verhältnis zu einer für die Organisation des Familienlebens zunehmend bedeutsameren technikbasierten Interaktion bildet die Hintergrundfolie für die nachfolgenden Abschnitte zum ›gewohnten‹ Miteinander. Im Zusammenleben als Familie werden empirisch nicht nur divergierende Bedürfnisse und Orientierungen deutlich, sondern auch unterschiedliche Konzeptualisierungen hinsichtlich der Ausformung des Zusammenlebens – Konzeptualisierungen, die nicht zuletzt auch altersbedingt sind. Das subjektive Empfinden von ›Zusammensein‹ ist nicht allein auf verbindende Aktivitäten in Kopräsenz beschränkt, sondern kann ebenso auf eine räumliche Synthese des ganzen Wohnbereichs bezogen werden, dessen relativ abgeschirmte Binnensphäre einen abgesicherten Möglichkeitsraum gemeinsamer Präsenz vorformt. Trotz räumlicher Segmentierungen, die im Wohnbereich auch architektonisch vorgegeben sind, kann dieser von seinen Bewohnern als eine gemeinsame und verbindende Binnensphäre

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empfunden werden, in der anwesende Familienmitglieder trotz trennender Wände ›da‹ und vergleichsweise weniger voneinander als zur ›Außenwelt‹ abgegrenzt sind. Diese Binnensphäre des Wohnbereichs kann im doppelten Wortsinn als eine ›geteilte‹ Binnensphäre aufgefasst werden: als gemeinsame Sphäre in Abgrenzung zur sozialen ›Außenwelt‹ wie auch als segmentierte Sphäre mit ausdifferenzierten, mehr oder weniger gemeinsamen oder persönlich zugeordneten Bereichen. Hinsichtlich dieser spezifischen Potentialität von Kopräsenz ist zwischen unterschiedlichen Aktualisierungsweisen von ›Zusammensein‹ zu differenzieren. Aus individuellen ›Präsenzzeiten‹ resultieren nicht nur variable personale Konstellationen; es sind auch verschiedene Modi von Kopräsenz zu unterscheiden, die mehr oder weniger zentriert und sowohl beiläufig wie geplant zustande kommen können. Die dynamische, fallspezifische Ausformung des Familienlebens bewegt sich dabei, wie Hess und Handel bereits hervorgehoben haben, in einem Spannungsverhältnis von Gemeinsamem und Individuellem.

›G EWOHNTES ‹ M ITEINANDER Als Wissensfundament eines geteilten Erfahrungsraums des Zusammenlebens ist Vertrautheit die Grundlage für Verstehensleistungen auch ohne viele Worte, wobei diese Vertrautheit auf Aktualisierungen zu entsprechenden Gelegenheiten angewiesen ist – nicht ausschließlich, aber doch auch notwendig durch Kopräsenz. Räumliche Distanz und Abwesenheit sind aufgrund der unterschiedlichen Mobilitätsbedürfnisse und Mobilisierungszwänge, divergierender Interessen und emotionaler Dynamiken zwar Facetten des alltäglich gelebten Familienlebens – und Distanzierungen können für reflexive Verstehensleistungen und Wiederannährungen mitunter auch förderlich sein. Doch das spezifisch ›Familiäre‹ dieses Erfahrungsraums, das entgegen den Anklängen des doppeldeutigen Worts keineswegs nur glücklich und harmonisch ist, emergiert zuvorderst aus einer wechselseitigen körperlichen Gegenwärtigkeit (vgl. Ecarius 2010: 20). Die Qualität körperlicher Präsenz bringt in einzigartiger Weise einen Interaktionsraum hervor, in dem die jeweiligen Beziehungen mit allen physiologischen Sinnen ›realitätsnah‹ eingeschätzt werden können, wodurch sich ein entsprechender ›sozialer Sinn‹ herausbildet, der sich in Interaktionen immer wieder zu bewähren hat (vgl. Bourdieu 1993). Die spezifische Nähe zeichnet sich in ihrer Körperlichkeit durch eine räumlich kohärente, multimodale Beteiligung am Geschehen aus, weil der gesamte Körper kommunikativ involviert und gefordert ist, wobei ein habituelles Wissen von sozialen Regeln, den dynamisch variierenden sozialen Umständen wie auch ein intersubjektives Gespür für emotionale Befindlichkeiten unter ›Handlungsdruck‹ abverlangt wird. Über den Körperausdruck anderer und

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die eigenen Körperempfindungen lassen sich innerhalb solcher Situationen feinfühlige Eindrücke bilden, auf deren Basis ein persönliches Wissen von anderen, von sich selbst wie auch der Beziehungsqualitäten gebildet werden kann. Dieses geht in persönlichen Beziehungen nicht nur in jede erneute Begegnung mit ein und prägt deren Verlauf, sondern weist als verallgemeinerbares ›Rezeptwissen‹ auch über die Gegenwart und gegenwärtige Beziehungen hinaus (Lenz 2009: 42f.; vgl. Asendorpf/Banse 2000; Grundmann 2002). Das inkorporierte Wissen einer alltagspraktischen Vertrautheit schafft durch die Reduktion von Regulierungserfordernissen ›ad hoc‹ ein handlungsentlastendes Fundament, weil wechselseitige Verhaltensweisen und Verhaltenserwartungen aufeinander eingestellt und weitgehend erwartbar sind (vgl. Endreß 2001: 162). Vor dem Hintergrund einer zunehmenden technikbasierten Vernetzung und einer damit einhergehenden Herstellung von sozialer Nähe durch ›elektronisch vermittelte‹ Räume auch über größere geographische Distanzen hinweg wird aus wissenssoziologischer Perspektive die fundamentale Bedeutsamkeit von körperlicher Präsenz zur Stabilisierung und Sicherung von Vertrauen in persönlichen Beziehungen wie auch im Verhältnis zu sich selbst betont (vgl. Urry 2002: 259f.; Boden/Molotch 1994: 270ff.; siehe grundsätzlich Berger/Luckmann 2000: 24ff.). Das trifft besonders für so ›existentielle‹ Beziehungen wie zwischen Eltern und kleineren Kindern zu, gilt aber ebenfalls für andere persönliche Beziehungen, wie Alfred Schütz und Thomas Luckmann aus phänomenologischer Sicht erläutern. »Es gibt soziale Beziehungen, die sich wesentlich nur in der Unmittelbarkeit von lebendigen Wir-Beziehungen konstituieren können. Selbstverständlich gehören dazu Beziehungen, die mir biographisch auferlegt sind und biosoziale Rollen involvieren, wie Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, aber auch Wahl-Beziehungen, für die eine bestimmte Erlebnisnähe und -tiefe konstitutiv ist, wie zum Beispiel eine Liebesbeziehung, Freundschaft [...]. Abgesehen von der ursprünglichen Bildung solcher sozialer Beziehungen spielen dann die Chancen der Wiederherstellbarkeit einer lebendigen Wir-Beziehung eine wichtige Rolle. Wie lange kann man zum Beispiel Vater, Ehemann, Freund par distance sein? Zweifellos ist hier auch die soziale Durchformung der Zeit von großer Bedeutung.« (Schütz/Luckmann 2003: 114)7

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Schütz und Luckmann lassen den Ausnahmestatus historischer Phänomene gelten, wie z.B. romantische Brieffreundschafen, deren Status potentiell auf intensiv gepflegte Netzwerkfreundschaften im Web 2.0 des 21. Jahrhunderts übertragbar sein dürften, in denen gleichfalls ein hoher Grad an intimer oder exklusiver Vertrautheit erreicht werden kann. Dessen ungeachtet sind Beziehungen, die auf Erfahrungen körperlicher Nähe gegründet sind, aber möglicherweise emotional weniger leicht aufkündbar.

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Die soziale Durchformung der Zeit unterlag in West- und Mitteleuropa vor allem durch die Industrialisierung, mit dem Bedeutungszuwachs der mechanischen Uhr, einer tendenziellen Linearisierung des Zeitkonzepts und mit den beschleunigenden Produktions- und Transportmitteln einem tiefgreifenden Wandel (vgl. Daly 2001b; Thompson 1967; Zerubavel 1981).8 Doch hat sich ausgehend von der Frühen Neuzeit auch die soziale Organisation der Beziehungsformen gravierend verändert, denn erst vor dem Hintergrund eines »familienzentrierten Lebensstils« (Frykman/ Löfgren 1987: 91) erhalten die Vergewisserung eines gemeinsamen Wir-Gefühls im Zusammenleben als Familie und eine relative Geschlossenheit des Beziehungsrahmens die Bedeutsamkeit, die ihnen heutzutage noch immer zukommt. Kopräsenz und technikbasierte Interaktion Der Begriff der Kopräsenz ist in diesem Zusammenhang auf eine wechselseitige körperliche Präsenz bezogen, die es den Beteiligten einer gemeinsamen Situation ermöglicht, sich ›feinsinnig‹, durch eine multimodale Gegenwärtigkeit, aufeinander ein- und miteinander abzustimmen. Kopräsenz ermöglicht es in den Worten von Deirdre Boden und Harvey L. Molotch, sich in verhältnismäßig ›dichter‹ Weise intersubjektiv wahrzunehmen und ebenso vielseitig wie komplex zu interagieren. »Copresence is ›thick‹ with information. [...] It is this richness of information that makes us feel we need copresence to know what is really going on, including the degree to which others are providing us with reliable, reasonable accounts.« (Boden/ Molotch 1994: 259) Erving Goffman, der diesen Begriff maßgeblich prägte, grenzt damit sogenannte ›face-to-face‹-Situationen intersubjektiver körperlicher Gegenwärtigkeit ein und schließt technikbasierte Interaktionsmöglichkeiten aufgrund ihrer sinnlichen und perspektivischen Einschränkungen tendenziell aus. Sein Fokus richtet sich auf zwischenmenschliche Alltagskontakte und die mehr oder auch weniger ›lose‹ organisierten Ordnungen sozialer Zusammenkünfte, wobei er sich vornehmlich für das Phänomen der Interaktion in einem, wie er schreibt, »engeren Sinne« interessiert. Diese »ursprünglichen« Interaktionen ereignen sich in »sozialen Situationen« (die er als »Umwelten« des Interaktionsgeschehens bezeichnet), in denen mehrere

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So verweist Mechtild Oechsle auf Analysen zur Herausbildung eines »industriellen Zeitmusters« als »langfristigen und generationenübergreifenden Lernprozess [...], in dem technologische und arbeitsorganisatorische Rationalisierungen im Zusammenhang mit der Veränderung lebensweltlicher Zeitstrukturen und einem veränderten Zeitbewusstsein zu einem grundlegenden Wandel in den Mustern des Umgangs mit Zeit geführt haben« (Oechsle 2008: 86; vgl. Nowotny 1993).

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Menschen zugleich an einem Ort körperlich anwesend sind, »und zwar so, dass sie aufeinander reagieren können« (Goffman 2001a: 55).9 Diese Orte »primärer oder elementarer Interaktion« sind nach Hans Geser so beschaffen, dass sie idealiter »dank geringer Ausdehnung und des Fehlens physischer Hindernisse (Wände, allzu hoher Lärmpegel u.a.) für eine wechselseitige Wahrnehmung dieser Kopräsenz sowie für verschiedenste Prozesse interpersonellen Beobachtens, Einwirkens, Kooperierens und Kommunizierens keine Widerstände« bieten (Geser 1990: 207).10 Obwohl Goffman sein Interesse auf solche Situationen einer ›vollen‹ wechselseitigen Präsenz konzentriert, verweist die systemtheoretische Differenzierung von Interaktionsgeschehen und einer sozialen Situation als dessen Umwelt auf die Möglichkeit verschiedener geographischer Orte als Umwelt eines Interaktionsgeschehens. So schreibt er in seinem letzten Essay Die Interaktionsordnung, Telefonieren und Briefeschreiben seien vermutlich »eingeschränkte Varianten« des »ursprünglichen Phänomens« sozialer Interaktion (Goffman 2001a: 55). Schon zu Beginn der 1960er Jahre merkt er in einer Fußnote an: »Koppelt man das Telefon mit Fernsehen in beide Richtungen, ist endlich die einzigartige Möglichkeit direkter Interaktion von Personen geschaffen, die räumlich weit voneinander entfernt sind. In jedem Falle lassen sich diese mediatisierten ›Punkt-zu-Punkt‹Formen von Kommunikation kennzeichnen durch das Maß, indem sie die hier erörterten kommunikativen Möglichkeiten beschränken oder mindern.« (Goffman 1971: 27)

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Ebenso bezeichnen Berger und Luckmann die »Vis-à-vis-Situation« als den »Prototyp aller gesellschaftlichen Interaktion«. »Als Vis-à-vis habe ich den Anderen in lebendiger Gegenwart, an der ich und er teilhaben, vor mir. Ich weiß, auch ich habe für ihn dieselbe Gegenwärtigkeit. Mein und sein ›Jetzt und Hier‹ fallen zusammen, solange die Situation andauert. [...] diese ständige Reziprozität öffnet uns beiden gleichermaßen Zugang zueinander. Das heißt, in der Vis-à-vis-Situation erkenne ich das Subjekt-Sein des Anderen an einer Fülle von Anzeichen. [...] Nur als solches ist der Andere ausgesprochen ›nah‹. Alle anderen Wechselbeziehungen sind vergleichs- und gradweise ›entfernt‹.« (Berger/ Luckmann 2000: 31f.; vgl. Schütz/Luckmann 2003: 101) 10 Die Übersetzer des posthum veröffentlichten Vortrags The Interaction Order kommentieren in einer Fußnote, dass sie den Begriff »face-to-face« in der deutschen Fassung in Anlehnung an Alfred Schütz mit »unmittelbar« wiedergeben (Goffman 2001a: 57). Goffman schreibt im Original selbst von »unmittelbarer« (immediate) Interaktion. Die Wortwahl ist angesichts der Medialität jeder sinnlichen Wahrnehmung jedoch nicht unproblematisch. So können die konkreten Umweltbedingungen sehr verschieden beschaffen sein und die individuellen Möglichkeiten zur Sinneswahrnehmung variieren. Es wäre diesbezüglich z.B. auch danach zu fragen, wie es bei diesem Begriff um die Verwendung einer Prothese für das Gehör oder um Sehhilfen stünde.

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In seiner Beurteilung zukünftiger technischer Möglichkeiten geht Goffman von einem Primat des Sehsinns aus, den Georg Simmel in seinem Exkurs über die Soziologie der Sinne soziologisch begründet.11 Doch im Mittelpunkt steht für Goffman letztlich »die wechselseitige Verstricktheit der Teilnehmer und ihre gemeinsame Beteiligung (und sei es nur in Form von Aufmerksamkeit) am Geschehen« (Goffman 2001a: 57). Diesbezüglich sind Telefonieren und eine wechselseitige Briefkorrespondenz allerdings deutlich verschieden. Denn die Beteiligten können sich beim Telefonieren nicht nur durch Anzeichen ihrer Körperlichkeit (wie der Handschrift in persönlichen Briefen), sondern in einer wechselseitigen zeitlichen und räumlichen Gegenwärtigkeit erleben – wenn auch aufgrund der technischen Vermittlung mit vergleichsweise starken sinnlichen Einschränkungen und einer minimalen Verzögerung. Aufgrund ihrer synchronisierten Beteiligung am akustischen Interaktionsgeschehen können sie wechselseitig spontan aufeinander reagieren und verhältnismäßig ›unmittelbar‹ auf das jeweils andere Bewusstseinsleben einwirken. Schütz und Luckmann schreiben von graduellen Übergangsformen zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung.12

11 Simmel schreibt dazu: »Unter den einzelnen Sinnesorganen ist das Auge auf eine völlig einzigartige soziologische Leistung angelegt: auf die Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen, die in dem gegenseitigen Sich-Anblicken liegt. Vielleicht ist dies die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung, die überhaupt besteht. [...] der ganze Verkehr der Menschen, ihr Sichverstehn und Sichzurückweisen, ihre Intimität und ihre Kühle, wäre in unausrechenbarer Weise geändert, wenn der Blick von Auge in Auge nicht bestünde – der, im Unterschiede gegen das einfache Sehen oder Beobachten des Andern eine völlig neue und unvergleichliche Beziehung zwischen ihnen bedeutet. [...] Man kann nicht durch das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben. Das Auge entschleiert dem Anderen die Seele, die ihn zu entschleiern sucht. Indem dies ersichtlich nur bei unmittelbarem Blick von Auge zu Auge stattfindet, ist hier die vollkommenste Gegenseitigkeit im ganzen Bereich menschlicher Beziehungen hergestellt. [...] das Gesicht bewirkt, daß der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird [...] wofür es prinzipiell belanglos ist, daß auch hierbei genug Irrtümer und Korrigierbarkeiten vorkommen.« (Simmel 1992: 723ff.) 12 »Die Abstufungen der Unmittelbarkeit könnte man auch [...] verdeutlichen, indem man zum Beispiel typische Formen der Verständigung beschriebe, von dem Gespräch in einer Begegnung über ein Telefongespräch zum Briefwechsel, zu Nachrichten, die über Dritte vermittelt werden usw. In allen diesen Fällen läßt sich eine Abnahme der Symptomfülle nachweisen, durch die mir das Bewußtseinsleben des Anderen zugänglich ist. Während wir an der Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Erfahrung des Anderen festhalten dürfen, da es sich um mehr als bloß quantitative Unterschiede handelt, dürfen wir nicht vergessen, daß es sich um zwei Pole handelt, zwischen denen viele empirische Übergangsformen bestehen.« (Schütz/Luckmann 2003: 110f.)

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Goffman, der mit seiner Konzeption von Kopräsenz auf eine barrierefreie und alle Sinne umfassende körperliche Präsenz abzielt, so dass die Beteiligten im Idealfall einzelne Muskelbewegungen im Gesicht ebenso wie atmosphärische Stimmungen etc. registrieren können, weist mit dem begrifflichen Verhältnis von Interaktionsgeschehen und Umwelten ebenso wie Alfred Schütz (und für die Verhaltensforschung Jakob von Uexküll) in die Richtung eines differenzierten, relationalen Raumverständnisses. ›Nähe‹ und ›Distanz‹ sind in räumlicher wie auch zeitlicher Hinsicht relationale Begriffe, die nur durch einen mehr oder weniger komplex aufgebauten Referenzrahmen ihre Bedeutsamkeit erhalten. Aufgrund unterschiedlicher Reichweiten der verschiedenen Körpersinne ist Raum nicht gleich Raum. So schreibt Goffman zu den Territorien des Selbst von ständig wechselnden Ausmaßen des »persönlichen Raums« – im Unterschied zu den von ihm so benannten »Boxen« (wie Stühle, Zimmer, Parklücken oder ausgebreitete Handtücher am Strand), wo Raumansprüche durch materiell oder symbolisch markierte Begrenzungen fixiert sind (Goffman 1982: 56ff.). Die physiologischen Sinne werden in einer sozialen Situation an der Konstitution von Kopräsenz unterschiedlich stark beteiligt. Auch Goffman schreibt deshalb ›idealtypisch‹ von mehr oder weniger »vollen« Bedingungen und weist darauf hin, dass die Reichweiten wahrgenommener Präsenz kulturell variieren. Insgesamt sind ihre Bedingungen maßgeblich durch sinnliche Wahrnehmungs- und Verständigungsmöglichkeiten wie auch durch eine kulturell und historisch ›durchformte‹ Wahrnehmungssensibilität und soziale Konventionen geprägt (vgl. Goffman 1971: 28). »Die vollen Bedingungen von gemeinsamer Präsenz sind in wenigen variablen Umständen anzutreffen: die Einzelnen müssen deutlich das Gefühl haben, daß sie einander nahe genug sind, um sich gegenseitig wahrzunehmen bei allem, was sie tun, einschließlich ihrer Erfahrungen der anderen, und nahe genug auch, um wahrgenommen zu werden als solche, die fühlen, dass sie wahrgenommen werden.« (Ebd.)

Dieser »gemeinsamen Präsenz« (im Original: »Copresence«) liegen für Goffman »zwei entscheidende Merkmale der Interaktion« zugrunde: ein sinnlich möglichst »breiter Informationsfluss« sowie einfache, ›unmittelbar‹ gegebene Feedbackmöglichkeiten (ebd.). Blickt man auf technikbasierte Möglichkeiten der Interaktion, wie z.B. telefonieren, so ist vor diesem Hintergrund – je nachdem, inwiefern Beschränkungen der sinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten konzeptuell toleriert werden – ein Begriff graduell ›eingeschränkter‹, technikbasierter gemeinsamer Präsenz anschlussfähig (vgl. Knorr Cetina 2012). Auch bei einer Interaktion im ›engeren Sinne‹ sind idealtypische Bedingungen von Kopräsenz nur in gradueller Annäherung ›voll‹ einlösbar, obwohl die multimodale Wahrnehmung körperlicher Nähe technisch nicht substituierbar ist. Das

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Interaktionsgeschehen beurteilt Goffman mit einer ethnographischen Haltung daher auch nicht losgelöst von der Situationseinschätzung der Beteiligten selbst. Wie oben zitiert, müssen sie mit ihrer Aufmerksamkeitsausrichtung »deutlich das Gefühl haben« einander nahe genug zu sein, um »sich gegenseitig wahrzunehmen bei allem, was sie tun«. Das ist einerseits auch bei ›barrierefreier‹ körperlicher Nähe zueinander nicht immer der Fall – und genau genommen unmöglich, weil nicht alles Tun in seiner Körperlichkeit und seinem Sinn offensichtlich ist und die Aufmerksamkeit der Beteiligten zudem fortlaufend Informationen selektiert. Das Gefühl von Gewissheit, sich gegenseitig in allem Tun hinreichend wahrzunehmen, ist eine Idealisierung und kann in jeder Interaktion auch ›kippen‹. Dennoch bietet ›elementare‹ Interaktion die optimalen Bedingungen hinsichtlich eines ›breiten‹, multimodalen Informationsflusses und daher auch die facettenreichsten Spielräume zu willentlichem und unwillkürlichem Feedback. Andererseits können Telefonate oder auch Video-Telefonie – im Rahmen der technischen Möglichkeiten, einer Vertrautheit mit dieser ›eingeschränkten‹ Interaktionsweise und entsprechend zurückgenommener Erwartungen – ein ›authentisches‹ Gefühl gemeinsam erlebter Gegenwärtigkeit ermöglichen, durch das die sinnlichen Einschränkungen weitgehend in den Hintergrund treten.13 Die Beteiligten sind mit

13 In aktuellen medientheoretischen Arbeiten wird der Begriff der Kopräsenz häufig in Goffmans Sinn verwendet und von technikbasierten Interaktionsweisen kategorisch abgegrenzt. Diese Abgrenzung wird gegenüber ›neueren‹ Phänomenen technikbasierter Interaktion durch zusätzliche Attribute wie ›physisch‹, ›leiblich‹ oder ›körperlich‹ abzusichern versucht (vgl. Düvel 2008; Hahn 2009). So schreibt Kornelia Hahn mit Bezug auf Berger und Luckmann: »Unabhängig von der soziologischen Theorieorientierung besteht ein Grundsatz darin, dass nur unter der Voraussetzung wechselseitiger sinnlicher Wahrnehmung durch das Körpermedium, d.h. genauer: Wahrnehmung in leiblicher Kopräsenz der Akteure unter (potentieller) Beteiligung aller Sinne, Konstruktionen genuiner Realität entstehen können.« (Hahn 2009: 10). Zweifellos ermöglicht die Erfahrung körperlicher Nähe unter potentieller Beteiligung aller Sinne am gleichen Ort eine einzigartige, nicht substituierbare Wahrnehmungs- und Empfindungsqualität. In Frage stehen kann aber dennoch, ob dem Begriff der Kopräsenz in erster Linie die Funktion zukommen muss, die spezifische Qualität ›genuin realer‹ Räume ein- und abzugrenzen. Aus einer solchen Begriffsanbindung (primär an ›genuin reale‹ Räume anstatt an eine Intersubjektivität durch Interaktion) wird ersichtlich, weshalb der Soziologe John Urry den Begriff der Kopräsenz überstrapaziert. Urry beschäftigt sich mit dem Bedürfnis im ›virtuellen Zeitalter‹ des Internets, Orte und Ereignisse ›real‹ zu erleben und nennt – neben zwischenmenschlichen »face-to-face« Begegnungen – die Varianten »face-theplace« und »face-the-moment« als Phänomene von Kopräsenz (vgl. Urry 2002: 262). Für diese beiden Erlebnis-Varianten ist aber der Begriff ›Präsenz‹ prädestiniert, da keine Wechselseitigkeit von Wahrnehmung (Ko-Präsenz) gegeben ist.

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einem Telefonat körperlich in ein technikbasiertes, aber nichtsdestotrotz fokussiertes Interaktionsgeschehen involviert, durch das sie sich als zeit-räumlich miteinander verbunden wahrnehmen (sie müssen zu diesem Zweck ihren Körper und ein technisches Gerät routiniert zueinander positionieren und das Gerät adäquat bedienen). Mittels ihrer Stimmen, die elektrotechnisch übertragen werden, sind sie sich wechselseitig – in eingeschränkter Weise – körperlich präsent und können in einer annähernd synchron verfassten Reziprozität innerhalb dieser Situation auf entsprechende körperliche Regungen (wie eine brüchige Stimme, einen irritierenden Unterton) als Anzeichen ihres aktuellen Bewusstseinslebens intersubjektiv reagieren. Weil ein Gefühl wechselseitiger technikbasierter Präsenz von der grundlegenden Erfahrung ›elementarer‹ Interaktion geleitet und die Interaktion bei technischer Vermittlung notwendig eingeschränkt ist, bleibt es fragil und aufgrund der sinnlichen Einschränkungen gewissermaßen ›ungesättigt‹. Ein ›Gefühl‹ gemeinsamer Präsenz kann verstärkt mit Täuschungen verbunden sein, da z.B. Aufmerksamkeit leichter zu simulieren ist. Neuere Technologien (wie z.B. Videokonferenzen) sind deshalb auch kein Beleg für einen hin und wieder postulierten Bedeutungsverlust körperlicher Nähe, wie Boden und Molotch argumentieren. »Rather than being antithetical to advanced modernity, intimacy is the basis for it, just as sure as it was the bedrock of earlier tribal life.« (Boden/Molotch 1994: 258) »This need for copresence limits the degree and kind of organizational, temporal, and spatial reshaping that the new technologies can induce.« (Ebd.: 277) Zur Unterscheidung von ›elementarer‹ Interaktion in einer weitgehend barrierefreien körperlichen Nähe zueinander und einer technikbasierten gemeinsamen Präsenz ist hinsichtlich der technischen Verbindungsmöglichkeiten daher auch von »connected presence« die Rede (vgl. Licoppe 2004; Christensen 2009). Zusammensein im Rahmen des Zusammenlebens Gerade im Zusammenleben als Familie ist Kopräsenz als Voraussetzung ›elementarer‹ Interaktion nur begrenzt durch andere Formen der Beziehungspflege ersetzbar. Karin Jurczyk und ihre Mitautorinnen beschreiben an Fallbeispielen eine Tendenz, dass Erziehung, Betreuung und Fürsorge von Kindern notgedrungen »vermehrt aus der räumlichen Distanz über das Telefon« geleistet werden, insbesondere dann, wenn eine der Elternpersonen im Rahmen des Zusammenlebens berufsbedingt für mehrere Tage oder gar Wochen abwesend ist (Jurczyk u.a. 2009: 132ff.). Wird das Familienleben über längere Zeitspannen ›auf Distanz‹ geführt, bestehe eine besondere Herausforderung darin, »sich nicht voneinander zu entfremden, die emotionale Nähe und das Zusammengehörigkeitsgefühl aufrechtzu-

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erhalten sowie im Austausch miteinander zu bleiben«. Dazu würden unter Umständen Telefonkontakte mehr oder weniger stark ritualisiert – als »regelrechte ›Familientelefonkonferenzen‹«, die »zu festen Zeitpunkten vereinbart und als gemeinschaftliche Events inszeniert« werden. In den empirischen Daten werde allerdings auch deutlich, dass Telefonate die ›elementare‹ Interaktion nicht dauerhaft ersetzen können und »die Praxis des Telefonierens auch nur bedingt geeignet ist, um mangelnde Face-to-Face-Kontakte in Familien aufzufangen«. Abgesehen von den sinnlichen Beschränkungen der Telekommunikation gehe gerade »die beziehungsstiftende Beiläufigkeit mit der im Familienalltag [...] interagiert wird, [...] bei technisch vermittelten Interaktionen verloren, die meist sehr gezielt und zeitlich begrenzt ausgeführt werden« (ebd.: 135ff., im Original teilweise kursiv). Die Bedeutung individuell verschiedener Grenzen der Umsetzbarkeit und der emotionalen ›Verwertbarkeit‹ solch eingeschränkter Interaktionsweisen fallen im Familienleben besonders mit Blick auf altersbedingte Unterschiede ins Gewicht. »Besonders kleinen Kinder fällt es schwer, ihre Bedürfnisse nach Nähe ausschließlich über verbale Kommunikation auszugleichen sowie diese genau in dem Moment zu artikulieren, in welchem der elterliche Anruf kommt. Charakteristisch für kindliche Bedürfnisse ist gerade, dass sie spontan entstehen, häufig schwer aufschiebbar sind und deshalb mehr oder weniger in dem Moment darauf eingegangen werden muss, in dem sie auftauchen.« (Ebd.)

Die gemeinsame Präsenz im Wohnbereich ist innerhalb der häuslichen Binnensphäre gerahmt durch das sozialhistorisch gewachsene Selbstverständnis einer abgeschirmten und abgesicherten Wiederherstellbarkeit von Kopräsenz, die unter der Voraussetzung gemeinsamer Anwesenheit zuhause idealiter nicht geplant und verabredet werden muss, sondern beiläufig und spontan geschehen kann (vgl. Daly 2001a; Kremer-Sadlik/Paugh 2007).14 So schreiben Pia Christensen und ihre Mitautorinnen, dass die Binnensphäre des häuslichen Zusammenlebens für Kinder die konzeptuelle Grundlage für Erfahrungen und Verstehen des Familienlebens sei, das in räumlicher und zeitlicher Hinsicht allerdings erst durch alltägliche Aushandlungen und Organisationsleistungen strukturiert wird und dadurch seine jeweils spezifische Form erhält (Christensen/James/Jenks 2000: 143).

14 Das ›Zuhause‹ ist hinsichtlich der spontanen Verfügbarkeit ein idealisierter Raum, da es durch exklusive Räume wie das elterliche Schlafzimmer, das Arbeitszimmer oder durch verbotene Schubladen und Fächer in der Regel hochgradig segmentiert ist – wobei diese ›verhüllten‹ Räume als ›das Andere‹ des Zuhause in besonderer Weise zu Phantasien ›utopischer‹ Grenzverletzungen anregen, wie Werner Schneider mit Bezug auf Michel Foucaults Begriff der Heterotopien darlegt (Schneider 2010: 252; vgl. Foucault 2005).

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Anhand einer ethnographischen Studie zur Zeitwahrnehmung von 10- bis 12-jährigen Kinder machen die Autorinnen deutlich, dass diese in zeitlicher Hinsicht weit weniger zwischen den Arrangements fokussierter Kopräsenz und räumlich separierten Präsenzzeiten innerhalb des Wohnbereichs unterscheiden als Erwachsene, sondern die gemeinsame Anwesenheit zuhause insgesamt als ›Familienzeit‹ begreifen würden. Christensen und ihre Mitautorinnen argumentieren auf Grundlage von Interviewmaterial und teilnehmender Beobachtung, dass sich die Auffassung der Kinder deutlich von dem unterscheide, was Erwachsene unter ›quality time‹ verstünden. Die erlebte Familienzeit umfasse für die Kinder »an undifferentiated and unremarked temporal flow which is primarily realised through the social space of the home. […] For the most part, however, in their accounts, family time at home simply is.« Zumindest für manche der befragten Kinder sei ein Verständnis im engeren Sinn von Zusammensein (togetherness) bereits dadurch gegeben, dass andere Familienmitglieder gleichfalls ›da‹ sind (ebd.: 146; vgl. Christensen 2002: 83). Obwohl diese ›Unschärfe‹ der Differenzierung zuvorderst auf eine Schwierigkeit der Artikulation solcher Differenzen verweisen kann und die Autorinnen auch nicht schlussfolgern, dass die Kinder hinsichtlich der Anwesenheiten zuhause überhaupt keinen Unterschied machten, legt die Untersuchung eine divergierende Auffassung der erlebten Zeit nahe. Denn entgegen einem ›Erwachsenen-Verständnis‹ von ›Familienzeit‹ würden Zusammenkünfte in ritualisierter Kopräsenz (wie gemeinsame Mahlzeiten) von Kindern nur selten als besonders intensive Phasen des Familienlebens hervorgehoben, sondern vorwiegend als strukturierende Merkmale im Tagesverlauf bzw. als symbolische Übergänge von individuell getrennten Tagesverläufen zum gemeinsamen Feierabend zuhause verstanden (Christensen/ James/Jenks 2000: 147). Daraus lässt sich schließen, dass die Strukturiertheit des Zuhauseseins von Kindern mit mehr Selbstverständlichkeit erfahren wird und die Kontingenz der alltagspraktischen Hervorbringung gemeinsamer Situationen im Zusammenleben für Kinder tendenziell weniger deutlich hervortritt. Die gewohnte Strukturierung der eigenen Präsenzzeit zuhause und die Intensität auferlegter oder auch erfolgreich eingeforderter Partizipation an Aktivitäten erscheinen sozusagen als Merkmale einer ›quasi-natürlichen‹, ganzheitlichen Qualität des Zuhause. Unterscheidungen zwischen ›eigener‹ Zeit und gemeinsamer Zeit würden dagegen vornehmlich aufgrund der räumlichen Strukturierungen gemacht: »the kitchen, the dining table, the bedroom, the sitting room, the sofa […] are locations where children come to realise the boundaries between own time and space and family time and space« (ebd.: 148; vgl. Sibley 1995). Aus einer Verknappung gemeinsamer Präsenzzeiten kann deshalb eine Zuspitzung divergierender Bedürfnislagen resultieren: Erwachsene sind daran interessiert, knappe und

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mitunter spontan entstehende gemeinsame Präsenzzeiten gezielt und aus ihrer Sicht ›sinnvoll‹ und intensiv zu nutzen, so dass ein kindliches Desinteresse an dieser emotionalen Aufladung von ›family time‹ entsprechend hohes Frustrationspotential für letztendlich alle Beteiligten birgt (vgl. Daly 2001a: 290ff.; Schier/Jurczyk 2007; Jurczyk u.a. 2009: 180f.). Im familialen Wohnbereich ergibt sich aus der räumlichen Verteilung über verschiedene Zimmer – und in gradueller Abnahme auch aus dem ›Nahraum‹ einer variablen Reichweite außerhalb des Wohnbereichs, wie dem Treppenhaus, Garten, Hinterhof oder der Region in der nächsten Nachbarschaft (vgl. Baacke 1984, 1987) – eine räumliche Anwesenheit, die nicht notwendig in Kopräsenz gebündelt, aber durch den Bezug auf eine gemeinsame Binnensphäre in gewisser Weise lokal zentriert ist (vgl. Allan/Crow 1989: 8ff.; Allan 1989: 143). Über die konkreten Gelegenheiten zur Interaktion in Kopräsenz hinaus kann aufgrund dieser relativen räumlichen Nähe innerhalb der häuslichen Binnensphäre und ihren Grenzbereichen eine gemeinsame Präsenz empfunden werden, die aus Sicht der Beteiligten auch durch Wahrnehmungsbarrieren wie Zimmerwände nicht kategorisch unterbrochen wird. Wenn sich ein Elternteil z.B. darüber beschwert, dass die Tochter oder der Sohn kaum noch ›da‹ sei, dann wird damit nicht unbedingt mehr Kopräsenz eingefordert, sondern in erster Linie eine Anwesenheit, die durch die konzeptuelle Rahmung der häuslichen Binnensphäre zu einer gemeinsamen Präsenz gemacht wird. ›Da‹ zu sein bedeutet dann vornehmlich ›zuhause sein‹.15 Diese idealisierte gemeinsame Präsenz ist als ›häusliche Potentialität‹ von Kopräsenz beschreibbar, weil als hochgradig abgesichert gilt, dass sich körperliche Nähe spontan und ohne gravierende Hindernisse wiederherstellen lässt.16 Anthony Giddens bezeichnet das in seiner praxistheoretischen Konzeptualisierung von Orten

15 Begrifflich können ›Anwesenheit‹ und ›Präsenz‹ unterschieden werden, weil Anwesenheit vorwiegend als formale Bestimmung anzusehen ist (die z.B. durch eine Anwesenheitsliste im Universitätskurs belegt werden soll), wohingegen Präsenz auf eine körperlich-sinnliche Qualität von Anwesenheit bezogen ist (vgl. Fischer-Lichte 2004: 160ff.). Die Rede von ›Präsenzzeiten‹ zuhause bewegt sich zwischen der formalen Anwesenheit und ihrer körperlich-sinnlichen Gestalt. 16 Schütz und Luckmann schreiben von einer »leicht wiederherstellbaren Reichweite« als eine erste »Zone der Potentialität« (Schütz/Luckmann 2003: 74). Bei gemeinsamer Anwesenheit zuhause von ›räumlicher‹ Kopräsenz zu schreiben (vgl. Jurczyk u.a. 2009) ist hingegen ein missverständlicher Behelf, da Präsenz per se ein räumliches Phänomen ist. Auch technikbasierte Präsenz ist räumlich verfasst, da sie sich in einem gemeinsamen ›virtuellen‹ Raum ereignet. Ein ausschließlich ›territorial‹ verstandener Raumbegriff wäre daher inadäquat (vgl. Giddens 1995: 30; Löw 2001: 93ff.; Rapoport 2002: 479; Schroer 2006b: 173; Funken/Löw 2003).

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als eine »hohe Anwesenheits-Verfügbarkeit« (Giddens 1997: 176). Die physischen Wahrnehmungsbarrieren innerhalb des Wohnbereichs stehen einer gemeinsamen Präsenz nur bedingt im Weg, sie gliedern die im doppelten Wortsinn geteilte häusliche Binnensphäre. Grundsätzlich sind die anderen trotz trennender Wände auch im Nebenzimmer oder im Wohnungsflur relational weniger ›aus der Welt‹ als ein möglicherweise gleichfalls akustisch wahrnehmbarer Nachbar; die familialen Mitbewohner sind in einem kulturhistorisch voreingestellten, sozialisierten Modus räumlicher Nähe und Zugänglichkeit innerhalb dieser Binnensphäre ›da‹. Je nach Beschaffenheit der örtlichen Umgebung lässt sich auch zwischen zwei Zimmern oder zwischen Küche und Straße ›unvermittelt‹ interagieren – in einer spontan herstellbaren Kopräsenz unter barrierebedingten Einschränkungen. Der Wohnbereich als räumliche Synthese Martina Löw bietet mit ihrer soziologischen Raumkonzeption ein Modell zur Rekonstruktion des Phänomens, dass die häusliche Binnensphäre als ein gemeinsamer Raum, sozusagen als eine durch die Architektur gerahmte und strukturierte Binnensphäre gemeinsamer Präsenz gefasst werden kann. Löw unterscheidet hinsichtlich der sozialen Konstitution von Räumen analytisch zwischen zwei verschiedenen Prozessen. Mit Spacing bezeichnet sie das »Platzieren von sozialen Gütern und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen«.17 So können beieinander stehende, ins Gespräch vertiefte Menschen einen Raum als Gesprächsgruppe bilden oder mehrere spielende Kinder bewegen sich mit einem Ball im Raum eines durch wenige Striche markierten Spielfelds. Auch der Wohnbereich ist durch die Architektur, Bauvorrichtungen, Einrichtungsgegenstände und weitere symbolische Markierungen ein Resultat solcher Spacing-Prozesse. Um aber »(An-)Ordnungen« wie eine zusammenstehende Menschengruppe als etwas Zusammengehöriges (und demnach Abgrenzbares) wahrzunehmen, bedarf es nach

17 Löw differenziert »soziale Güter« mit Reinhard Kreckel (1992: 76ff.) »in primär materielle und primär symbolische Güter«, wobei die Bezeichnung »primär« darauf verweisen soll, dass »soziale Güter niemals nur materiell oder symbolisch sind, sondern beide Komponenten aufweisen, je nach Handlung jedoch eine Komponente stärker in den Vordergrund tritt« (Löw 2001: 153). Handeln stehe »immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den ›Bedingungen einer Handlungssituation‹«, die sich aus materiellen und symbolischen Aspekten zusammensetzen – ebenso weise das Tun selbst grundsätzlich sowohl materielle als auch symbolische Aspekte auf, »wenn auch in der Regel der eine oder der andere Aspekt überwiegt« (ebd.: 192f.).

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Löw außerdem kognitiver Syntheseleistungen, die organisch fundiert und habituell ausgebildet sind. Soziale Güter und Menschen werden durch »Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse« zu Räumen zusammengefasst (Löw 2001: 158f.). Auch Tiere erleben und organisieren ihren Raum (Nester und Höhlen, Jagdreviere, Fluchtdistanzen etc.) durch diese Prozesse des Spacing und der Synthese (vgl. Rapoport 2002: 461). Entgegen einem ›naturalistischen‹ Verständnis von Räumen als vorgegebene ›Behälter‹ müssen diese, so Löw, in ihren jeweiligen Beziehungsstrukturen »aktiv durch Syntheseleistung (re-)produziert werden«, wobei diese Syntheseleistung bestimmt wird durch die materielle bzw. symbolische Beschaffenheit des Orts und seiner Umgebung wie auch durch die »Außenwirkungen« der jeweils platzierten Güter und Menschen (Löw 2001: 225). Aus der kognitiven Syntheseleistung zur Konstitution von Räumen ist daher nicht zu schließen, wie Markus Schroer betont, dass die Materialität der Dinge und der räumlichen Arrangements ohne eigene Wirksamkeit blieben und erst aufgrund einer kulturell präformierten Wahrnehmung Gewicht bekämen (Schroer 2006b: 175ff.). Ein Sitzensemble wie z.B. eine Couchecke beinhaltet nicht erst dadurch Sitzgelegenheiten, dass sie als Couchecke erkannt und gekannt wird. Das Ensemble enthält in seiner materiellen Struktur einen gewissen Aufforderungscharakter mit verschiedenen Sitzmöglichkeiten, die einer typischen Physiognomie des Menschen entgegenkommen und entsprechend der kulturell ausgebildeten Wahrnehmung als mehr oder weniger angenehm empfunden und mit einer entsprechenden Körpertechnik des Sitzens in Beschlag genommen werden können. Durch kognitive Syntheseleistungen wird der konkrete Sitzplatz dagegen eingegrenzt (wohin genau sollte ich mich setzen; welchen Bewegungsraum nehme ich dafür in Anspruch, wie sind die ›richtigen‹ Distanzen innerhalb einer Sitzgruppe) und erst durch die menschliche Anordnung und Syntheseleistung werden z.B. aus Couchecke und Essbereich zwei weitgehend voneinander getrennte Areale innerhalb des Wohnzimmers. Mit Schroer übereinstimmend erläutert auch Löw: »Materielle Qualität erhält der Raum dadurch, daß die sozialen Güter, welche zu Räumen verknüpft werden, primär materielle Güter sind. Die Relationenbildung selbst ist ein primär symbolischer Prozeß. Der Raum als Ganzes hat demzufolge keine Materialität im Sinne eines physischen Substrats, sondern nur die einzelnen sozialen Güter und Lebewesen weisen Materialität auf. Er wird jedoch, wenn die Relationenbildung institutionalisiert ist, als gegenständlich erlebt. Der Raum wird zur Objektivation. Die Institutionalisierung hat zur Folge, daß (An)Ordnungen über das individuelle Handeln hinaus wirksam bleiben und erneut genormte Syntheseleistungen und Spacings nach sich ziehen. Das heißt, Räume werden als historisch vorfindliche Gebilde erlebt, die im Handlungsverlauf routiniert reproduziert werden.« (Löw 2001: 228f.)

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Die räumliche Synthese ist einerseits durch die materiellen Begebenheiten an einem Ort und seiner Umgebung, andererseits durch typische Raumvorstellungen, dem individuellen Habitus und nicht zuletzt durch »institutionalisierte Raumkonstruktionen« vorstrukturiert (ebd.: 225). Entsprechend können auch die Wahrnehmung und der Umgang mit dem ›persönlichen Raum‹ als verletzbare ›Außensphäre‹ des Körpers, oder auch die Wahrnehmung und der Umgang mit Privatsphären, kulturell und schichtspezifisch variieren und sich historisch wandeln. Das hatte in Europa seit dem 18. Jahrhundert nicht nur Konsequenzen für die Art zu bauen, sondern auch nachhaltig Einfluss darauf, welche individuellen Aktivitäten wo und in welcher Weise ausgeführt oder auch unterlassen wurden.18 Neben dem ›persönlichen Raum‹ des eigenen Körpers sind auch die wohnliche Binnensphäre sowie die ›Übergangsräume‹ an deren Außengrenzen gesellschaftlich präformiert und historisch wandelbar – als Synthesen von ›Räumen des Eigenen‹, über die ein persönlicher Kontrollanspruch besteht und die aus diesem Grund verletzbar sind (vgl. Taylor/Brower 1985; Allan 1989). Die Synthese eines gemeinsamen Wohnbereichs als vielfältig segmentierter Raum, in dem nicht nur miteinander gewohnt wird (Koresidenz), sondern in dem die Familienmitglieder zusammen sind, auch wenn sich zwischen ihnen Wände befinden, hat Auswirkungen auf die wechselseitigen Verhaltensweisen und Empfindungen. Eine aus dieser Synthese resultierende Präsenz anderer Familienmitglieder kann als beruhigend (die Wohnung ist nicht so ›leer‹) oder auch als störend empfunden werden, und solche Empfindungen können innerhalb des Familienlebens individuell verschieden sein.19 So äußert sich Mary Douglas auch zu einer »Tyrannei des Zuhause«, das z.B. im Jugendalter mitunter als ›fremdkontrollierter‹

18 Vgl. den dritten Teil des Kapitels ›Befestigtes Zusammenleben‹. 19 Der Gefühlshaushalt des Familienlebens ist nicht allein als ›liebevoll‹, sondern vielmehr als hoch ambivalent aufzufassen, was nicht zuletzt auch durch die gesellschaftlich ›präformierten‹ Positionierungen im Zusammenleben begründet ist, die »Kindern, Männern, Frauen, Alten und ihren Beziehungen einen bestimmten Platz im Sozialgefüge von Überund Unterordnung, von Zentrum und Peripherie, von Definitions- und Gestaltungsmacht« nahelegen (Jurczyk 2009: 39). Georg Simmel hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits auf eine grundsätzliche dynamische Gefühlsambivalenz zwischen Zuneigung und Feindseligkeit in engen sozialen Beziehungen aufmerksam gemacht (Simmel 1994; Coser 1972: 72f.). Vgl. den bissigen Kommentar von Kurt Tucholsky: »Als Gott am sechsten Schöpfungstage alles ansah, was er gemacht hatte, war zwar alles gut, aber dafür war auch die Familie noch nicht da. Der verfrühte Optimismus rächte sich, und die Sehnsucht des Menschengeschlechtes nach dem Paradiese ist hauptsächlich als der glühende Wunsch aufzufassen, einmal, nur ein einziges Mal ohne Familie dahinleben zu können.« (zit. nach Schneewind 2010: 12)

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Raum empfunden und erlitten werde (Douglas 1991: 287) – und diese zwiespältige ›Verhaftung‹ kann von Eltern ebenso empfunden werden, insbesondere bei Familienzuwachs (vgl. Thomä 2002). Im Zusammenleben kann mit individuell unterschiedlichen Spielräumen versucht werden, der häuslichen Potentialität von Kopräsenz durch Maßnahmen der Ausschließung und Isolierung (wie z.B. lauter Musik; Rückzug ins Arbeitszimmer) entgegenzuwirken – doch bleibt die Rahmung einer gemeinsamen Binnensphäre in der Regel stabil, ihre Ausblendung dagegen partiell. Die eingerichtete Binnensphäre verweist als Gedächtnisträger noch in der Abwesenheit anderer auf deren Zugehörigkeit und ein verbindendes wie verbindliches Zusammenleben. Die sozialen Prozesse des Spacing und der Synthese haben als ›soziale Durchformung‹ bzw. als Hervorbringung von Raum daher nicht unmaßgeblich Anteil an der Ausgestaltung eines Schemas von Verbundenheit und Getrenntheit im Familienleben – z.B. in Hinblick auf die Frage, inwiefern und auf welche Weise Rückzugsräume, gemeinschaftliche Räume oder ›exklusive‹ Räume (re-)produziert und respektiert werden. Diese Prozesse betreffen nicht allein die jeweiligen Zugangsregeln zu verschiedenen Zimmern, sondern sind auch innerhalb eines Zimmers von Relevanz. Auf der einen Seite können z.B. in einem gemeinsamen Arbeitszimmer zwei separate Arbeitsplätze vorgesehen sein, deren Einrichtung darauf ausgerichtet ist, Kopräsenz möglichst auszublenden, um auf diese Weise individuelle Arbeitsräume zu schaffen. Auf der anderen Seite kann durch kooperative Arbeitsprozesse oder auch durch rituelle Arrangements im Familienleben, z.B. in Form einer gemeinsamen Tischmahlzeit, ein Raum ›konzentrierter‹ Kopräsenz mit einem für alle in ähnlicher Weise überschaubaren gemeinsamen Aufmerksamkeitszentrum hergestellt werden, dem sich je nach familialen Reglements mehr oder weniger schwer entzogen werden kann.20 Präsenzzeiten, Zusammensein und zentrierte Arrangements Aus individuellen Präsenzzeiten ›zuhause‹ folgt noch kein häusliches Zusammensein, weil dafür mindestens zwei Beteiligte erforderlich sind, die gleichzeitig ›da‹ sind. Gemeinsame Präsenzzeiten aller Zugehörigen können im Rahmen des Zusammenlebens jedoch rar sein. So rekonstruieren Karin Jurczyk und Mitautorinnen in ihrer Studie über die Abgrenzungen zwischen Erwerbs- und Familiensphäre ver-

20 Eine ritualisierte Form von Kopräsenz im Zusammenleben als Familie wird tendenziell besonders an den Wochenenden zelebriert, indem bspw. zum gemeinsamen Frühstück die Zeit ›gedehnt‹ und der Tisch atmosphärisch aufgeladen wird (vgl. Heyer 2000: 20; Audehm 2007: 98ff.).

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schiedene familiale Muster gemeinsamer Präsenzzeiten, die durch unterschiedliche Typen erwerbsbedingter Zeitmuster begründet werden (Jurczyk u.a. 2009: 120ff.). Ein ›gewohntes‹ Miteinander ist auch dann vorhanden, wenn einzelne Zugehörige für längere Zeitabschnitte abwesend sind. Aus der gemeinsamen Präsenz ›zuhause‹ ergeben sich wiederum zwar Gelegenheiten zu Kopräsenz, jedoch noch kein ›familiärer‹ Rhythmus von Kopräsenz (vgl. Methfessel 1992: 89) – sei es beiläufig, von flüchtigen Augenblicken ›zwischen Tür und Angel‹ bis zu einer intensiv geteilten Aufmerksamkeit im Gespräch, oder seien es im Voraus geplante und organisierte Arrangements wie eine gemeinsame Mahlzeit. Mit Goffman kann diesbezüglich zwischen zentrierter und nicht-zentrierter Kopräsenz unterschieden werden (vgl. Goffman 1971: 35). Nicht-zentrierte Kopräsenz ist auch dann gegeben, wenn an einem weitgehend ›barrierefreien‹ Ort verschiedenen Tätigkeiten mit ganz unterschiedlichen Aufmerksamkeitszentren nachgegangen wird – wenn z.B. der 6-jährige Lorenzo auf der Couch im Wohnzimmer ein Mickey-Maus-Heft liest und Frau Schneider mit zwei Metern Abstand hinter dieser Couch die Wäsche bügelt. Dieser nicht-zentrierte gemeinsame Interaktionsraum, in dem sich beide ihrer fortwährenden Kopräsenz mehr oder weniger latent bewusst sind, erhält ein gemeinsames Zentrum, wenn die Beteiligten synchron am gleichen Geschehen partizipieren und ihre Aufmerksamkeit entsprechend auf das gemeinsame Geschehen ausrichten. Eine solche Zentrierung kann beiläufig und flüchtig hervorgebracht werden, z.B. durch ein kurzes Gespräch oder durch andere Formen spontaner Adressierung (Grimassen und Faxen machen; zuschauen etc.). Kopräsenz kann im Familienleben aber auch durch ein mehr oder weniger ›skriptförmiges‹, mehr oder weniger verbindliches Alltagsprogramm hervorgebracht werden, indem ›feste‹ Arrangements im Tagesverlauf vorgesehen sind, um z.B. gemeinsam miteinander zu essen, zu spielen, etwas zu basteln, zu musizieren oder gemeinsam fernzusehen. Kopräsenz ist also nicht mit einer konzentrierten, ritualisierten Form und auch nicht mit der synchronisierten Präsenz aller Familienmitglieder ›zuhause‹ gleichzusetzen. Die Konstellationen wechselseitiger Präsenz variieren und können im Tages- und Wochenverlauf mehr oder weniger typische, aber nichtsdestotrotz vorwiegend flüchtige Muster herausbilden. Eine große Regelmäßigkeit der Zusammenkunft aller in einem gemeinsamen ›Zuhause‹ ist daher äußerst voraussetzungsreich – sie ist sowohl durch die Rahmenbedingungen (Erwerbsbedingungen etc.) als auch durch die individuellen Orientierungen bedingt, die besonders im 19. Jahrhundert intensiv auf eine solche Regelmäßigkeit hin ausgerichtet wurden, wie im zweiten Kapitel nachgezeichnet worden ist. Kopräsenz wird im Familienleben zudem nicht ausschließlich ›zuhause‹, sondern in mannigfacher Weise auch ›außer Haus‹ gepflegt (vgl. DeVault 2000).

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Eine besondere Aufladung erhalten zentrierte, rituelle Arrangements im Familienleben nicht zuletzt dadurch, dass sie Organisationsaufwand und intensivierte Verhaltenseinpassungen von allen Beteiligten abverlangen. Ein Möglichkeitsraum zur differenzierten Beziehungspflege im Zusammenleben entfaltet sich allerdings gerade auch aus dem Umstand, dass nicht entweder alle ›konzentriert‹ an einem Ort oder aber räumlich voneinander getrennt sind. Die potentiell engen persönlichen Bande werden besonders auch durch die zeit-räumlichen Gelegenheiten zum Kontakt jenseits solcher ›fixen‹ Arrangements hervorgebracht. In diesen Möglichkeitsräumen zu beiläufiger, verhältnismäßig ungezwungener Kopräsenz können die unterschiedlichen persönlichen Beziehungen vertiefend, gerade auch exklusiv gepflegt werden, während andere vorübergehend ausgeschlossen bleiben. Die Abgrenzung intimer Räume in Paarbeziehungen oder auch spontane Allianzen und Ausschlüsse unter mehr als zwei Geschwistern (vgl. Gloger-Tippelt 2007) sind dafür typische Beispiele. Die folgenden beiden empirischen Unterkapitel fokussieren unterschiedliche Ebenen der alltagpraktischen Aktualisierung im Zusammenleben als Familie an ethnographischem Material. Im ersten Teil steht die aufeinander abgestimmte Koordination der zugehörigen Familienmitglieder im Fokus. Zwar kann die jeweils eindeutige Zuordnung zu einem Wohnbereich, als objektivierte Verräumlichung des Zusammenlebens, einen ›festen‹ Möglichkeitsraum auch für ungeplante Emergenz von Kopräsenz absichern. Doch konstituiert sich das Zusammenleben als Familie zuvorderst durch eine Praxis des Alltags, in der die zugehörigen Familienmitglieder mit ihren Tagesverläufen an einem verbindenden Rhythmus orientiert sind, den sie selbst hervorbringen und mit dem sie sich wiederkehrend synchronisieren. Die zugrundeliegende Koordination bedarf dabei nicht nur gemeinsamer zeitlicher Orientierungen, sondern auch gemeinsamer Lokalisierungen. Erstens, weil Einigkeit über den Ort von Geschehensabläufen bestehen muss – wo soll was stattfinden –, was nicht auf die Binnensphäre eines Wohnbereichs begrenzt bleiben muss, da Kopräsenz auch ›außer Haus‹ organisiert werden kann. Zweitens, weil eine gemeinsame Lokalisierung innerhalb eines gemeinsamen Wohnbereichs, dem alle Zugehörigen ausschließlich zugeordnet sind, im Rahmen des Zusammenlebens gar nicht in jedem Fall gegeben sein muss. Die zeitliche Koordination und eine Festlegung auf bestimmte Orte resultieren aus der alltagspraktischen Abstimmung von Tätigkeiten innerhalb der verschiedenen Lebensführungen. Im zweiten Teil wird ein kulturhistorisch besonders standardisierter Schauplatz zentrierter Kopräsenz fokussiert. Nachdem im ersten Teil die familienspezifischen Rhythmisierungen, Lokalisierungen und die Organisations- und Strukturierungsleistungen in der Hervorbringung des ›gewohnten‹ Zusammenlebens an kontrastierten Einzelfällen rekonstruiert worden sind, ist der Blick im zweiten Teil auf

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die Ausformung des Zusammenlebens in einer für das Familienleben hochgradig typischen ›Verdichtung‹ von Kopräsenz bei Tisch gerichtet. In den videobasiert beobachteten Szenen zeigt sich eine verräumlichte Ordnung des Zusammenlebens, die nicht auf eine Ausformung von Beziehungen durch Interaktion im ›leeren‹ Raum reduzierbar ist, sondern durch eine bewohnten ›Sphäre des Eigenen‹, durch Arrangements und darauf eingestellte Verhaltensweisen unter ›festen‹, teils auch gestalteten architektonischen Vorgaben objektiviert wird. Beschrieben wird eine dynamische Ausformung des Zusammenlebens als Familie, die von allen Beteiligten mit hervorgebracht wird und in die sich in dieser Hervorbringung auf je individuelle Weise eingepasst wird – nicht nur durch eigensinnige Weisen von Handlungsvollzügen, sondern auch durch eine auf das Zusammenleben bezogene Aus- und Umbildung von Orientierungen.

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4.1 Koordination und Koordinaten: Abstimmungsprozesse und Gestaltungsräume

Ein kontinuierlicher Rahmen des Zusammenlebens wird als familialer Lebenszusammenhang nicht einmalig hervorgebracht und hat als eine objektivierte Tatsache daraufhin Bestand. Der Rahmen bedarf in seiner Virtualität vielmehr der wiederkehrenden Aktualisierung und Restabilisierung durch eine Praxis des Wohnens und entsprechender habitueller Einstellungen, mit denen sich die Familienmitglieder in ihrer täglichen Lebensführung und ihren Verhaltensweisen wiederkehrend aufeinander abstimmen. Eine verbindende Praxis als Gesamtgeschehen der Aktivitäten mit Bezug auf diese Rahmung ist zwar keineswegs durchgehend planmäßig gesteuert und organisiert, wird jedoch durch individuelle Organisationsleistungen zusammengehalten, durch die das dynamische Zusammenleben eine mehr oder weniger regelmäßige Struktur erhält. Dabei sind die familienspezifischen Ausformungen des Zusammenlebens, die von individuellen, überwiegend routinisierten Aktivitäten getragen werden, für die verschiedenen Beteiligten nur insoweit überwiegend transparent, wie sie auch praktisch mit eingebunden sind. Andernfalls können individuelle Organisationsund Strukturierungsleistungen einzelner Familienmitglieder für die anderen mehr oder weniger ›am Rand‹ der Wahrnehmung oder weitgehend unregistriert bleiben. In einem gemeinsamen Fokus der Aufmerksamkeit stehen daher zuvorderst die wiederkehrend hervorgebrachten Arrangements, durch die gemeinsame Aktivitäten in Kopräsenz synchronisiert werden und eine verbindende Zeitordnung im Zusammenleben geschaffen wird. Abgestimmt und ausgestaltet wird das Zusammenleben dabei nicht nur unter zeitlichen Aspekten, sondern auch hinsichtlich der Räume und Verortungen, sowohl in geographischer wie in identitärer Hinsicht. Die gemeinsamen Orte verbindender Aktivitäten und aktualisierter Kontaktnahmen sind nicht voraussetzungslos auf ein gemeinsames Zuhause bezogen; vielmehr gründen sich auch die jeweiligen Ortsbezüge auf Übereinkünfte, routinisierte Nutzungsweisen von Räumen und individuelle Mobilitätspotentiale. Die familienspezifischen Ortsbezüge haben zu einem Konzept des ›gewohnten‹ Zusammenlebens geführt, das nicht allein Interaktionsmuster, darauf aufbauende intersubjektive Beziehungen und individuelle Dispositionen umfasst. Es bezeichnet einen Lebenszusammenhang, der auch durch Beziehungen zu adressierbaren Orten, zu Gütern und räumlichen Arrangements eine Vertrautheit und Bindekraft erhält. Die Familienbeziehungen werden im Rahmen des Zusammenlebens nicht ›im leeren Raum‹ gepflegt und stabilisiert, sondern sind auf je eigene und auch eigensinnige Art in einen zeitlich und räumlich ausgeformten Lebenszusammenhang

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eingebettet und ›geerdet‹. Die jeweiligen Organisations- und Strukturierungsleistungen verlangen dabei allen Beteiligten nicht nur alltagspraktische, sondern auch habituelle Einpassungen ab, die auf der Grundlage individueller Orientierungen, Verhaltensmuster und Perspektiven zu realisieren sind, so dass die Zugehörigkeit im Familienleben durch ein dynamisches Spannungsverhältnis zwischen Gemeinsamem und individuellem Eigensinn geprägt ist. Die Rekonstruktionen werden im Folgenden jeweils durch Akzente eingeleitet, die den Relevanzsetzungen innerhalb des empirischen Materials folgen.

D IVERGENTE Z EITORDNUNGEN , INDIVIDUELLE A LLTAGS RHYTHMEN UND PHASENWEISE S YNCHRONISIERUNGEN Je nach individuellen Fortbewegungsmöglichkeiten und Tätigkeitsprofilen, die zuvorderst auch altersbedingt sind, folgen alle Familienmitglieder im Rahmen ihres Zusammenlebens unterschiedlichen alltäglichen Bewegungsmustern. Grundsätzlich gehen alle auf verschiedene Weise unterschiedlichen Aktivitäts- und Aufenthaltsmustern nach; sie gehen oder fahren vielleicht auswärts zur Arbeit, in die Schule oder zum Kindergarten; sie verfolgen mehr oder weniger formal institutionalisierte Freizeitaktivitäten, z.B. im Sportverein, treffen sich mit Freunden, gehen in verschiedenen Konstellationen ins Kino, nach draußen spielen, im Sommer baden; sie gehen gemeinsam als Familie oder auch ohne einander auf Reisen – sie sind jedenfalls während unterschiedlich langer Zeitspannen nicht ausschließlich zuhause bzw. im Kreis der Familie, sondern auch außerhalb von beidem unterwegs. Das trifft auf Erwachsene und Jugendliche ebenso wie auf Kinder zu, deren Alltag häufig vom frühen Kindesalter an ›verinselt‹, über auseinanderliegende Orte verteilt organisiert ist (vgl. Büchner 2010: 520; Zeiher/Zeiher 1994). Unterschiedliche Zeitordnungen, im Büro, in der Schule oder im Kindergarten, beim Arzt oder Fußballtraining, in Behörden und Geschäften, geben den Takt dieser individuellen Choreographien zurückgelegter Wege, lokaler Aufenthaltsdauern und Tätigkeitsbindungen mit jeweils verschiedenen ›Zeitlogiken‹ vor. Doch nicht nur die ›externen‹, mehr oder weniger ›festen‹ oder beweglichen, verbindlichen oder fakultativen Termine mit entsprechenden Wegzeiten bestimmen die Rhythmen der alltäglichen Lebensführung, ihre Gangarten und Intensitäten, sondern auch die individuellen Ressourcen und habituellen Dispositionen. Der Tagesverlauf kann z.B. mehr oder weniger deutlich ›vorstrukturiert‹, Aktivitäten können mehr oder weniger dicht geplant, Tätigkeiten langsam oder schnell ausgeübt werden und die verfügbaren Hilfsmittel können mehr oder weniger hilfreich und ›zeitsparend‹ sein. Zwischen einzelnen Familienmitgliedern divergieren die Alltagsrhythmen, die Aufenthaltsorte und Tätigkeitsfelder, die Mobilitäts- und Vernetzungspotentiale.

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Nicht nur das Zeitmanagement, auch das »Raummanagement« unterscheidet sich individuell, wie Claus J. Tully die Umgangsweisen mit lokal verstreuten Zeitordnungen auf der Grundlage von Verbindungsmöglichkeiten durch Mobilität und technikbasierte Vernetzung bezeichnet (vgl. Tully 2009: 13). Durch die Verzahnung unterschiedlicher Zeitordnungen als zu erbringende Organisationsleistung in der Lebensführung sind die individuellen Tagesverläufe in stark ausdifferenzierten Gesellschaften notwendig weniger an lokalen Begebenheiten und habituellen Eigenzeiten, sondern zuvorderst an einem standardisierten, abstrakten Zeitmaß orientiert. Diese von konkreten Bezügen »entleerte« Zeit, auf der historischen Grundlage einer massenhaften Verbreitung der Uhrzeit (vgl. Giddens 1995: 29; Gadamer 1993), gibt eine allgemein verbindliche Taktung vor, der sich im gesellschaftlichen Leben nicht vollständig entzogen werden kann. Norbert Elias schreibt deshalb auch von einem inkorporierten »Zeitgewissen« (Elias 1988: XIX), das im Sozialisationsprozess individuell auszubilden ist, um in diesem ›Räderwerk moderner Zeiten‹ gut zurecht kommen zu können. Besonders in den ›westlichen‹, hochindustrialisierten Gesellschaften behalten wir die Zeit im Sinn, so Kerry J. Daly, weil Effizienz, Pünktlichkeit, Vorhersagbarkeit, der Abschließbarkeit von Prozessen und sozialer Verlässlichkeit gesellschaftlich große Bedeutsamkeit zukomme. Die abstrakten Zeitsymbole ermöglichen als Orientierungsmittel ein adäquates ›Timing‹ zur sozialen Koordinierung und Synchronisierung. »Time gives organization and structure through schedules and routines.« (Daly 2001b: 1; vgl. Zerubavel 1981; Elias 1988) Auch die vermeintlich selbstbestimmte Einteilung der Eigenzeit ist grundsätzlich durch soziale Zusammenhänge geregelt. Eine Zeiteinteilung ergibt sich erst aus dem Erfordernis der Synchronisierung, betont Hartmut Rosa, weil wir stets »an den komplementären Aktivitäten und Zeitmustern« anderer orientiert bleiben. »Rhythmus, Geschwindigkeit, Dauer und Sequenz unserer Aktivitäten und Praktiken werden so gut wie nie von uns als den individuellen Akteuren bestimmt, sondern sind fast immer in den kollektiven Zeitmustern und Synchronisationserfordernissen der Gesellschaft vorgezeichnet« (Rosa 2005: 33f.).21 Kinder erlernen im Familienleben bereits früh ein typisches Grundschema alltäglicher Zeitverläufe und ineinandergreifender Zeitordnungen, in das sie sich

21 »Wie eine Testflüssigkeit, die zum Nachweis bestimmter Stoffe und ihrer Wege durch den Körper fließt«, schreibt Helga Nowotny, »so rinnt ›Gesellschaft‹ und gesellschaftliche Zeit durch ein noch so individuell ausgeprägtes und eingerichtetes Leben. Denn Zeit, dieses zutiefst kollektiv gestaltete und geprägte symbolische Produkt menschlicher Koordination und Bedeutungszuschreibung, behält ihren Bezug zu anderen Menschen selbst in den Momenten ausgeprägten individuellen Empfindens.« (Nowotny 1993: 9)

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mehr oder weniger kooperativ einpassen müssen und das teilweise auch altersabhängig und ›kindgerecht‹ für sie gestaltet wird: Abendliches Zu-Bett-gehen und morgendliches Aufwecken, waschen und Zähne putzen, anziehen, frühstücken, in den Kindergarten oder zur Kita gehen, (zuhause, in der Schule oder auch am Straßenimbiss) Mittagessen etc. Auf der Grundlage dieser gewohnten Schemata, aber auch durch massenmedial vermittelte Vorbilder und Peer-Kontakte, lernen sie allmählich ihren Alltag zwischen divergierenden Zeitordnungen in einem eigenständigen Rhythmusgefühl zu organisieren. Die verregelmäßigte und doch flexible Einpassung und ›Eintaktung‹ individueller Alltagsrhythmen wird neben den individuellen Gestaltungsspielräumen wiederkehrend auch als äußerer Zwang erlebbar, z.B. wenn das Spielen oder Arbeiten zuhause unterbrochen werden muss, weil nun zusammen gegessen werden soll, oder wie im Beispiel der 3-jährigen Anna, die in einem der Gruppeninterviews bei Schneider/Rocchi erzählt, dass sie morgens im Kindergarten immer schlechte Laune habe, wenn sie aufgeweckt wurde anstatt schon vorher wach gewesen zu sein. Die komplexe und vielschichtige Taktung von Lebenszeit nach verschiedenen, mitunter konkurrierenden Zeitordnungen verliert auch für Erwachsene nicht ihren Zwangscharakter, insbesondere dann, wenn Zeit als ›knapp bemessen‹ oder terminliche Verpflichtungen als unwillkommene Einschnitte im Tätigkeitsverlauf empfunden werden. Auch im Zusammenleben als Familie wird, mehr oder weniger reflexiv und explizit, eine gemeinsame Zeitordnung herausgebildet, die als »familiales Timing« (Ecarius 2007: 146) Koordinationsleistungen erforderlich macht und nicht als gegeben vorausgesetzt werden kann.22 Um gemeinsame Präsenzzeiten mit gemeinsamem Ortsbezug vorauszuplanen, sind die Tagesabläufe und habituellen Eigenzeiten nicht nur auf die ›externen‹ Zeitordnungen von Relevanz sowie erforderliche Wegzeiten, sondern auch im Rahmen des Zusammenlebens aufeinander abzustimmen (vgl. Daly 1996: 121f.; Bertram 1997; Jurczyk 2002; Jürgens 2005). Die Koordination und wechselseitige Abstimmung zur phasenweisen Synchronisierung gemeinsamer Präsenz ist im Familienleben ebenso mit dem räumlichen Problem unterschiedlicher Aufenthaltsorte und Aufenthaltspflichten konfrontiert wie mit den verschiedenen Geschwindigkeiten, Zeitwahrnehmungen und divergierenden Interessen der Beteiligten. So herrscht nicht immer Einvernehmen hinsichtlich der anvisierten Aufenthaltsdauer oder erwünschter Kopräsenz zuhause, sondern ein mitunter disparates Streben nach gemeinsam verbrachter Zeit, Zeit

22 Die zeitliche Strukturierung des Familienlebens durch Routinen bleibt im Vergleich zur Hervorbringung einer räumlichen Ordnung des Zusammenlebens vornehmlich diskret, und zwar nicht nur für Außenstehende, wie Kimberly Dovey meint (vgl. Dovey 1985: 38), sondern häufig auch für andere im Rahmen des Zusammenlebens.

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›mit anderen‹ oder ›für anderes‹, Zeit ›für sich selbst‹ (vgl. Hochschild 2002) – letztendlich eine Divergenz hinsichtlich der Ausbalancierung und Ausgestaltung von Nähe und Distanz insgesamt, die aufgrund unterschiedlicher Bedürfnislagen verschieden wahrgenommen, interpretiert und auch forciert werden (vgl. Larson/ Richards 1994). Die individuelle Zeitverwendung steht daher in einem Spannungsverhältnis zwischen Strukturvorgaben ›von außen‹, gemeinsam hervorbrachten Strukturierungen bzw. spontanen Adressierungen im Rahmen des Zusammenlebens sowie den selbst gesetzten Relevanzen aufgrund von individuellen Bedürfnissen und Orientierungen.23 Neben möglichen ›inneren‹ Interessenkonflikten kann das auch zu ›Zeitkonflikten‹ zwischen den Beteiligten im Zusammenleben führen, weil sich die jeweilige Zeitverwendung aufgrund divergierender Orientierungen nicht einvernehmlich aushandeln lässt (vgl. Jurczyk 2009: 43; zum Generationenverhältnis King 2009). Mechtild Oechsle schreibt hinsichtlich der ›zeitraubenden‹ Haushaltsaktivitäten und Fürsorgeleistungen in Hinblick auf heterosexuelle Paarbeziehungen sogar von einem sprichwörtlichen »Zeitkrieg zwischen den Geschlechtern«, weil einerseits die Erwerbstätigkeit für beide zunehmend zur Normalität geworden sei, aber die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und alte Selbstverständlichkeiten weitgehend unverändert geblieben sind – so dass den Frauen die häuslichen Binnensphäre zusätzlich überlassen bleibe (vgl. Oechsle 2002: XV). Statistisch betrachtet setzt mit dem Übergang zur Elternschaft, als tiefgreifender Wandel im Zusammenleben, auch heute noch eine Tendenz zur »Traditionalisierung« heterosexueller Rollenverhältnisse ein, was entsprechend Zündstoff für die Paarbeziehung in sich bergen kann (Fthenakis/Kalicki/Peitz 2002: 97ff., 317ff.; vgl. Reichle 1996; Grunow/Schulz/Blossfeld 2007). Hinsichtlich der Einbindung in verschiedene Zeitordnungen besteht zwischen Erwerbs- und Familienleben in besonderem Maß ein potentielles Spannungsverhältnis. Zum einen können starre Strukturvorgaben den individuellen Bedürfnissen und Anforderungen im Zusammenleben als Familie entgegenstehen. In Deutsch-

23 Gegen eine konzeptuelle Trennung von Bedürfnissen und Orientierungen lässt sich einwenden, dass Bedürfnisse als Teil habitueller Orientierungen gefasst werden können. Bedürfnisse sollen durch die Nebeneinanderstellung nicht ›biologisiert‹ werden (als etwas, das vermeintlich nicht habituell durchformt wäre), sondern in ihrer besonderen organischen Bezogenheit gesondert hervorgehoben werden. Ebenso ist die begriffliche Unterscheidung zwischen innen und außen, sowohl in der Differenzierung von eigenen Interessen und denen anderer als auch in der Differenzierung von Binnensphäre und Außenwelt eine schematische Vereinfachung, da sowohl die Organisation der Binnensphäre in einem Wechselverhältnis zur Außenwelt steht als auch die Bedürfnisse und Orientierungen in einer fundamental intersubjektiven Verfasstheit gebildet werden.

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land sind solche Zeitkonflikte als Folge der Industrialisierung mit der Wende zum 20. Jahrhundert wissenschaftlich intensiv thematisiert worden – nicht zuletzt auch deshalb, weil die Ehescheidungszahlen anstiegen und die Geburtenquote sank (vgl. Nave-Herz 2003: 21). Nach der ersten Frauenbewegung befassten sich ab 1910 vor allem die ersten akademisch ausgebildeten Frauen in empirischen Sozialstudien mit den Wechselwirkungen von weiblicher Erwerbstätigkeit und Familienleben, mit den Eltern-Kind-Beziehungen und den Interaktionsweisen, die auf den »Grad der Familienverbundenheit« verweisen sollten. »Vor allem wurden immer wieder die Fragen nach dem Bestand, nach der möglichen ›Krise‹ und dem Wandel der Familie gestellt.« (Ebd.: 22)24 Zum anderen führen ›postfordistische‹ Flexibilisierungen der Arbeitswelt seit den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu »Entgrenzungen« zwischen Erwerbsund Familienleben, deren Dynamisierungen durch individuelle Organisations- und Strukturierungsleistungen auszugleichen bzw. aufzufangen sind (vgl. Garhammer 1994; Jurczyk 2002; Jurczyk/Lange 2002; Gottschall/Voß 2003; Jürgens 2005; Jurczyk/Lange/Szymenderski 2005; Jurczyk u.a. 2009). Mit dem Rückgang sogenannter ›Normalbiographien‹ im Berufs- wie im Privatleben führt eine Flexibilisierung von Zeitanforderungen und Ortsbezügen (wie auch der individuellen Zukunftsaussichten) zu neuen Fragen und differenzierten Perspektiven in Hinblick auf Chancen und Belastungen für eine zufriedenstellende Zeitgestaltung im Familienleben (vgl. Sennett 1998; Mischau/Oechsle 2005; Heitkötter u.a. 2009). Gemeinsame Präsenzzeiten mit verbindenden Ortsbezügen und entsprechende Synchronisierungen sind Voraussetzungen für das Zusammenleben als Familie. Doch inwiefern und in welcher Form die individuellen Alltagsrhythmen koordiniert und Momente der Kopräsenz realisiert werden, sind auf kulturhistorischer Grundlage jeweils familienspezifische Fragen der habituellen Einstellungen, der Ausdeutung von Rahmenbedingungen und einer gemeinsamen Praxisgeschichte mit ihren Selbstverständlichkeiten und Aushandlungsprozessen. Durch ihre alltagspraktische Einbindung in einen gemeinsamen Lebenszusammenhang wirken alle Zugehörigen mit ihren je eigenen Orientierungen auf unterschiedliche Weise an der jeweiligen Ausformung des Familienlebens mit.

24 So sucht z.B. eine Sozialstudie aus dem Jahr 1931, in der von Alice Salomon herausgegebenen Reihe zu Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart, nach den Auswirkungen der modernen Arbeitswelt auf den Rhythmus des Familienlebens, wobei detaillierte Zeitpartituren zu individuellen Aufenthaltsmustern im Rahmen des Zusammenlebens enthalten sind – und die Autorinnen stellen hinsichtlich der divergenten Anwesenheitszeiten im Rahmen des Zusammenlebens die Frage, ob denn überhaupt noch von Familienleben gesprochen werden könne (vgl. Baum/Westerkamp 1931: 6).

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B EI M ÜLLER /F RANKE Birgit Müller und Fabio Franke sind beide Mitte vierzig; er ist in etwa ein Jahr älter als sie. Sie leben unverheiratet zusammen mit ihren beiden gemeinsamen Kindern, der 9-jährigen Tochter Haya und dem 6-jährigen Sohn Luis, im Parterre eines Mietshauses, das mehreren Wohnparteien Platz bietet. Haya und Luis tragen beide den Nachnamen ihrer Mutter. Neben Haya und Luis hat Herr Franke noch eine weitere, inzwischen 18-jährige Tochter aus einer vorherigen Paarbeziehung. Franziska lebt allerdings nicht mehr in Berlin, sondern wohnt außerhalb Deutschlands in Mitteleuropa. Über Franziska wird in einem der beiden Gruppeninterviews als eine Familienangehörige gesprochen, die von allen sehr gemocht wird. Frau Müller erwähnt sie zum ersten Mal mit den Worten, dass sie eigentlich ja drei Kinder hätten, und Haya äußert ihre Begeisterung, wie toll Franziska sei. Haya und Luis besuchen seit Luis’ Einschulung die gleiche Grundschule, die ein paar Straßen weiter liegt und von Frau Müller voller Lob als ihre »Kiez«Schule bezeichnet wird, die viel zu einem »Heimatgefühl« beigetragen habe. Die Schule schaffe hinsichtlich der sozialen Einbettung »eine wunderbare Stabilität«, über die sie viele Bekanntschaften mit anderen Eltern im Wohnviertel gewonnen habe, denen man auf der Straße immer wieder begegne. Sie schätze diese soziale Vernetzung als eine empfundene »Verwurzelung«. Inzwischen sei zudem ihre Schwester in ein Nachbarhaus eingezogen. Herr Franke, der sich im Gespräch weniger auf das Wohnumfeld bezieht, scherzt über die morgendliche »Schulkarawane«, weil Haya und Luis zusammen mit anderen Kindern zur Schule gehen. Wenn sich die Schulzeiten von Haya und Luis unterscheiden, wird Luis bisher noch durch Frau Müller von der Schule abgeholt. Frau Müller ist im Norden der Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen, Herr Franke im Westen der Bundesrepublik Deutschland sowie später in West-Berlin. Sowohl Herr Franke als auch Frau Müller sind als freischaffende Musiker erwerbstätig und arbeiten überwiegend zuhause. Beide unterrichten in ihrem jeweiligen Instrumentalfach – Frau Müller im gemeinsamen Arbeits- und Musizierzimmer, das sie in der Wohnung eingerichtet haben; Herr Franke besonders über Mittag vorwiegend außer Haus. Herr Franke ist darüber hinaus auch mit verschiedenen Projekten beschäftigt, an denen er zuhause arbeitet. Als formalen Bildungsabschluss nennt er das Abitur; sie hat eine instrumentalpädagogische Ausbildung absolviert. Beide hatten sich während eines Kulturprojekts beruflich kennengelernt und kamen sich während der Projektarbeit persönlich näher. Herr Franke lebte damals noch in einer anderen Paarbeziehung. Nachdem Frau Müller mit Haya schwanger war, suchten sie und Herr Franke eine gemeinsame Wohnung. Geburt und Woh-

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nungswechsel lagen damals zeitlich so nahe beieinander, dass Frau Müller beide Ereignisse zusammen als ihre ›Familiengründung‹ begreift. Im zeitlichen Ablauf geht Hayas Geburt dem Umzug in die gemeinsame Wohnung so knapp voraus, dass Frau Müller erst nach der Geburt, zusammen mit Haya, aus dem Geburtshaus in die gemeinsame Wohnung einzog, in der sie noch lange »zwischen Kisten und Kästen« gelebt hätten. Die Wohnung nahmen sie damals, berichtet Frau Müller, eher »aus der Not heraus«. Sie sei nicht besonders groß, dafür allerdings sehr schön gewesen, wie auch Haya ausdrücklich bekräftigt. Der Umzug in die zweite gemeinsame Wohnung stand einige Monate nach Luis’ Geburt an. Zu diesem Anlass zogen sie aus einem der Nachbarbezirke in die gegenwärtige, nun größere Wohnung, obwohl der hiesige Stadtbezirk nie ihre »erste Wahl« war, wie Herr Franke anmerkt. Eine Cousine von Frau Müller, die damals bereits in einem Nachbarhaus der gegenwärtigen Wohnung wohnte, hatte ihnen telefonisch von der freien Mietwohnung im Parterre berichtet, erzählt Frau Müller. In dieser Wohnung müssen sich Haya und Luis weiterhin ein gemeinsames Zimmer teilen, womit Haya nicht zufrieden ist. Sie soll in der nächsten Zeit ihr eigenes Zimmer erhalten. Dazu ist kein Wohnungsumzug geplant, sondern es wird über Umbildungen innerhalb des Wohnbereichs durch eine Verlegung der Küchenfunktionen in das Wohnzimmer nachgedacht, aus dem dann eine offene Wohnküche entstehen soll. Die Wohnung von Frau Müller und Herrn Franke liegt ›nach hinten‹ und schließt an eine Terrasse mit dahinter befindlichem Garten an, der ihnen innerhalb des Erhebungszeitraums von der Hausverwaltung überantwortet wurde, nachdem ein älterer Mieter aus einem der Obergeschosse verstorben war. Dieser hatte zuvor etwas argwöhnisch über den Garten des Hauses gewacht und auch schon mal geschimpft, wenn Haya und Luis allein oder mit anderen Kindern zusammen dort spielten. Zu einem Erhebungstermin, kurz nach dem Tod dieses Hausbewohners, stand im Treppenhaus am Treppenabsatz ein zusammengebautes, mit schwarzem Tuch überspanntes Gedenkpult mit einer angezündeten Friedhofskerze, das Frau Müller zusammen mit Luis und Haya dort aufgestellt hatte. Das Verhältnis zur Nachbarschaft im Haus wird insgesamt als gut beschrieben; die Mitmieter seien auch bei musikalischen Proben am Vormittag sehr tolerant, wie Herr Franke berichtet, wobei viele zu dieser Tageszeit wohl auch gar nicht zuhause seien. In der näheren Umgebung wohnen weitere Kinder, mit denen Luis und Haya spielen können. Mit diesen erkunden sie die Treppenhäuser und Kellergewölbe der umliegenden Häuser oder sie fahren im umliegenden Straßenbereich Fahrrad. Häufig sind einzelne Kinder aus der Nachbarschaft zu Besuch, um mit Haya und Luis zu spielen oder um mittags mitzuessen. Entgegen Frau Müller äußert sich Herr Franke auch über Zukunftsvorstellungen von etwas Eigenem, vielleicht einem Haus mit

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Garten, wo sie noch etwas mehr für sich wären. Die Mutter von Frau Müller besitzt ein eigenes Haus ›im Grünen‹, wo Luis und Haya im Sommer zu Besuch in einem nah gelegenen See baden oder Tiere beobachten können, wie Frau Müller erzählt. Entlang der Straße, die quer zu einer stark befahrenen Hauptverkehrsstraße über mehrere Straßenblocks hinweg bis zu einem sehr ruhigen Endstück führt, befinden sich Kiezkneipen, vorwiegend türkische und arabische Vereinsräume und mehrere Kinderläden in ehemaligen Ladenräumen. Das Wohnhaus, in dem Müller/ Franke leben, steht in einem Mietshauskomplex in einer Reihe von Häusern mit gleicher Bauweise an dem sehr ruhigen Ende dieser Straße – an einem kopfsteingepflasterten ›Straßenring‹, der einen kleinen Spielplatz in seiner Mitte umschließt. Innerhalb des Wohnhauses führt ein langer Hausflur, in dem Fahrräder abgestellt sind, neben dem Treppenaufstieg zur Eingangstür der Wohnung. Der erste Erhebungstermin findet an einem Freitagabend, die nachfolgenden Termine finden ausschließlich am Dienstagnachmittag in Abständen von zwei bis sechs Wochen statt. Dem Forschenden wird bei seiner Ankunft an der Haus- oder Wohnungstür entweder von Haya oder Luis geöffnet; Frau Müller kommt zum Empfang jedes Mal an der Wohnungstür hinzu und verabschiedet den Forschenden auch zum Ende der Erhebungstermine dort. Sie verabredet den jeweils folgenden Termin mit dem Forschenden, den sie in einen großen, selbst gemachten Wandkalender einträgt, der im Flur in der Nähe der Wohnungstür hängt. Zu zwei Gelegenheiten sprechen Frau Müller und Herr Franke den Folgetermin in Gegenwart des Forschenden zunächst ab, damit ihr Termingefüge nicht zu dicht wird. Bei zwei Erhebungsterminen ist Herr Franke zur Ankunft des Forschenden nicht zuhause, sondern kommt erst etwas später hinzu. Alltägliche Arbeit am gewohnten Rhythmus Frau Müller und Herr Franke halten sich beide nicht nur viel zuhause auf, wo sie vorrangig auch ihrer jeweiligen Erwerbstätigkeit nachgehen, sondern sie pflegen auf der Grundlage ihrer ausgedehnten Präsenzmöglichkeiten auch ein verhältnismäßig dichtes und regelmäßiges Zusammensein in organisierter Kopräsenz mit ihren beiden gemeinsamen Kindern. Gruppeninterview zum Familienalltag, auf der Terrasse am Gartentisch Auf die Frage nach dem gewöhnlichen Tagesablauf hat Frau Müller von den Schulzeiten der Kinder berichtet und daraufhin davon gesprochen, dass anschließend meistens gekocht werde.

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Abb. 1: Auf der Terrasse bei Müller/Franke.

Frau Müller:

Forschender: Frau Müller:

Also; das ist eigentlich ganz, die Mahlzeiten sind eigentlich ziemlich (.) {sie portioniert mit den Händen vor sich eine Strecke in verschiedene Teile} regelmäßig; (.) °so° (.) Ja. Was irgendwie dann auch so ’n Korsett am; im Tagesablauf bringt und (1)

Frau Müller verschränkt die Arme vor der Brust, lächelt, nickt zum Forschenden und schaut Herrn Franke an, der in einer ›nachsinnenden‹ Haltung seine Hand am Kinn hin und her bewegt hat. Haya kippelt indessen am Tisch auf einem Korbstuhl sitzend vor und zurück. Luis spielt nahe am Tisch stehend mit einem kleinen Ball. Herr Franke:

Forschender: Herr Franke:

Ja is’ nich’ selbstverständlich; also wir haben viele Freundinnen, von Haya oder so; wenn man sieht, okay, die essen dann mittags irgendwas, (.) ’n kleinen Imbiss, und dann abends essen ’se richtig warm irgendwie; (.) ⎣ja; ⎣ja; aber ich find’s eigentlich auch gut, ja; dass wa mittags essen. (1)

Haya schaut, einen Keks kauend, Herrn Franke an. Sie legt allmählich, während er weiter spricht, ihren Kopf schief. Frau Müller sieht Herrn Franke gleichfalls an. Dieser wendet sein Gesicht vom Forschenden zu ihr hin. Herr Franke:

Wa? besonders die Freundinnen, die kommen dann immer hier so ☺ausgehungert an☺,

Frau Müller lächelt und sieht, nach einem kurzen Seitenblick zum Forschenden, mit weiterhin verschränkten Armen zu Herrn Franke. Frau Müller: Herr Franke:

Forschender:

Ja, die Kinder haben immer furchtbaren Hunger. Hier ist Mittag irgendwie, dann kommen die; willste auch ’n bisschen? joa:a. {Er macht eine schnelle Schaufelbewegung mit der rechten Hand vor dem Mund und ein vibrierendes Lippengeräusch} dann schaufeln’ se rein, ne? ⎣☺(1)☺

132 | F AMILIÄRE R ÄUME Frau Müller: Luis: Forschender: Frau Müller: Haya: Frau Müller:

Haya:

Ja das ist dann noch ganz oft, dass hier Kinder sind und dann mitessen und so. ⎜ ⎜ ⎣Zum Beispiel die Mia. ⎣Ja. Also ich muss sagen, für mich ist es schon ähm; (.) was; was ich mir mühsam antrainiert habe jetzt; und, ⎣°Ich will mittags sp-° ⎣das regelmäßige Essen, dieses regelmäßige Leben. als Musikerin habe ich natürlich vor den Kindern ganz anders gelebt. (.) also, ich fand das schon; (.) ⎣Ich will aber lieber

Haya verzieht das Gesicht und schaut vor sich nach unten. Herr Franke hat kurz zu ihr hingesehen, daraufhin wieder zu Frau Müller. Frau Müller:

⎣ich hab’ so den Eindruck, ich hab mir das ☺hart erarbeitet☺. und, (.) aber im Augen- Augenblick merke ich, dass ich, (.) das wirklich auch Früchte bringt für mich. weil es auch so ’ne Kontinuität, und auch ’ne ’ne Stabilität schafft, also; (.) man ist dann ja auch ni::e so wa:hnsinnig verhungert, weil man {sie macht beim Weitersprechen mit beiden Händen eine rotierende Bewegung nach vorne} regelmäßig immer wieder isst, {sie hält dann ihre Hände ein Stück weit auseinander} in Abständen; und dass das, also im Augenblick finde ich das ganz äh {sie verschränkt ihre Arme wieder vor dem Oberkörper} erleb ich so, dass es doch ’n ’n schönen Sinn hat auch; wenn man das, wenn man das so macht. (.) wenngleich es für mich auch, irgendwie auch; gar nicht so einfach war; das so einzuführen {sie macht mit ihrer rechten Hand eine rotierende Bewegung nach vorne}, weil ich muss es ja auch selber dann durchziehen. {Sie nickt leicht lächelnd mehrfach zum Forschenden} (.) aber ich empfind’s doch ganz, eigentlich ähm; ganz schön. es gibt so ’ne Stabilität. [F4E2: 00h 20m 45s – 00h 22m 44s]

Frau Müller und Herr Franke demonstrieren in der ersten Hälfte dieses Ausschnitts zunächst scheinbar ihre Einigkeit hinsichtlich des zeitlichen ›Gerüsts‹ regelmäßiger Mahlzeiten, das von Frau Müller auch als ein »Korsett« im Tagesablauf bezeichnet wird. Herr Franke stimmt mit ihr darin überein, dass ihr Alltag – im Unterschied zu »früher« – durch die Mahlzeiten sehr regelmäßig strukturiert und diese Veränderung in der individuellen Lebensführung eng mit der Tatsache gemeinsamer Kindern verknüpft ist. Diese Verregelmäßigung des Alltagslebens, für die Frau Müller Pars pro Toto – »das regelmäßige Essen, dieses regelmäßige Leben« – die Mittagsmahlzeit anführt, sehen beide einmütig im Kontext einer unumgänglichen Bedürfnislage ihrer Kinder. Denn die Kinder kommen mittags

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nach Hause und haben »immer furchtbaren Hunger«, auf dessen organisch getaktete Regelmäßigkeit mit gemeinsamen Mahlzeiten reagiert wird, so dass der Tagesverlauf durch diese wahrgenommene Bedürfnislage maßgeblich vorstrukturiert ist. Nachdem Frau Müller zu Beginn des Ausschnitts einen thematischen Akzent setzt – die Regelmäßigkeit des Tagesablaufs, insbesondere durch gemeinsame Mahlzeiten – und außerdem eine ambivalente Metapher vorbringt, mit der sie sich selbst in Bezug setzt zu dieser Zeitstruktur, hält sie vorerst inne. Sie verschränkt ihre Arme und markiert deutlich ein Ende ihres Redebeitrags, wobei Herr Franke mit der Aufmerksamkeitsausrichtung auf sich gewissermaßen in Zugzwang gerät, sich ebenfalls einzubringen. Herr Franke greift diese Thematik auf und wandelt sie ab, indem er deutlich macht, dass er diese Regelmäßigkeit gemeinsamer Mahlzeiten zum Mittag nicht für selbstverständlich hält. Als Gegenhorizont verweist er auf Freundinnen von Haya, denen zuhause kein warmes Mittagessen zubereitet werde, die eine Essenseinladung aber gerne annehmen und dann »ausgehungert« in sich hinein »schaufeln« würden, wie er anschaulich erzählt. Ist diese beobachtete Intensität des Zuspruchs dadurch begründet, dass die Gastkinder mittags ansonsten nicht gleichwertig ernährt werden? Jedenfalls spricht Herr Franke dem Mittagessen, das von Frau Müller zubereitet und zuhause gemeinsam am Tisch zu sich genommen wird, im Vergleich zum »kleinen Imbiss« eine höhere Wertung zu, wobei die häufige und rege Beteiligung von befreundeten Kindern diese Sicht bekräftigt. Dem warmen Mittagessen, das zuhause zubereitet wurde, kommt sozusagen ein höherer ›Nährwert‹ zu, aus dem die besonderen Zutaten der Sozialität und der Fürsorglichkeit kaum wegzudenken sind. »Richtig warm«, also eine ›richtige‹ Mahlzeit, essen diese Kinder sonst erst am Abend und nicht schon mittags, wenn sie hungrig aus der Schule kommen. Herr Franke beschäftigt sich in seinem Redebeitrag nicht mit der zeitlichen Struktur im Tagesverlauf, die Frau Müller als »Korsett« bezeichnet hat, sondern äußert sich zum Wert einer warmen Mittagsmahlzeit zuhause, die hinsichtlich ihrer Höherwertigkeit gegenüber den genannten Alternativen entsprechende Einschränkungen in der Zeitverfügung begründen kann. Herr Franke setzt voraus, dass Frau Müller diese Mahlzeit positiv bewertet, indem er sich anschließt: »aber ich find’s eigentlich auch gut«, womit er zugleich eine andere mögliche Haltung anklingen lässt. Die Mittagsmahlzeit ist eine Fürsorgeleistung, für die vergleichsweise viel Zeit aufzuwenden ist – was in der Tagesmitte nicht nur möglich sein, sondern auch als erstrebenswert gelten muss (vgl. Meier 2004; Möser u.a. 2011). Warme Mittagsmahlzeiten sind zudem nicht allein im Bekanntenkreis von Müller/Franke keine Selbstverständlichkeit; sie können als Hauptmahlzeit im europäischen Kulturver-

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gleich auch ganz unüblich sein. In Deutschland wird dem Abendessen seit den 1990er Jahren zunehmend mehr Gewicht zugemessen – dann, wenn möglichst alle zuhause sein können – andererseits wird in den allermeisten Fällen eine warme Mittagsmahlzeit für Kinder sichergestellt und häufig weiterhin zuhause zubereitet (vgl. Leonhäuser u.a. 2009: 95f.).25 Frau Müller bringt sich in die bildhaften Ausführungen von Herrn Franke mit einem Lächeln ein und bestätigt seine inhaltlichen Beschreibungen einschließlich des Begründungsmusters. Luis bekräftigt nach Frau Müller ebenfalls, dass andere Kinder mittags mitessen, indem er exemplifizierend auf Mia, ein Mädchen aus der Nachbarschaft verweist, die auch zu zwei Erhebungsterminen anwesend ist. Daraufhin greift Frau Müller die von ihr anfangs initiierte Fokussierung wieder auf und akzentuiert mit mehr Nachdruck ihre eigene Erfahrungsperspektive, die sie als eine unmittelbare praktische Involvierung charakterisiert: »Also ich muss schon sagen, für mich ist es schon ähm [...] was ich mir mühsam antrainiert habe«. Die regelmäßige Mittagsmahlzeit ist unter reflexiven Mühen einer Umbildung eigener Gewohnheiten durch Selbstdisziplinierung eingerichtet worden, wovon zunächst Frau Müller berichtet. Sie habe zuvor »ganz anders« gelebt, wobei Essbedürfnisse früher auch schon mal zurückgestellt wurden. Denn wie sie erläutert,

25 Ingrid-Ute Leonhäuser und Mitautorinnen haben für einen Haushaltstyp mit zwei erwerbstätigen Eltern und zwei Kindern nachgewiesen, dass es zwar »nach wie vor feste Zeiten für die Nahrungsaufnahme gibt, und dass gemeinschaftliche Mahlzeiten vor dem individualisierten Essen in der Regel Vorrang haben« – variabel sei diesbezüglich allerdings, »welche Familienmitglieder an welchem Ort und zu welcher Uhrzeit, werktags und an den Wochenenden, in Familien jeweils miteinander essen« (Leonhäuser u.a. 2009: 89). Gemeinschaftlich zu essen bedeutet daher nicht unbedingt eine gemeinsame Mahlzeit im Kreise aller Haushaltsangehörigen, sondern entsprechend der Auflockerung sozialer Verhaltensformen, dass zuhause in Gegenwart anderer Familienmitglieder gegessen wird. Hinsichtlich des Familienlebens werde das Abendbrot inzwischen weitgehend als die wichtigste Mahlzeit und auch als Kompensation für den ansonsten oft getrennten Alltag gesehen, weshalb am Abend mit Bedacht auf diejenigen gewartet werde, die noch nicht zuhause eingetroffen sind (ebd.: 96). Die stärksten empirischen Unterschiede in der Frage »wann, wo und mit wem« gegessen wird gebe es während der Mittagszeit, doch die meisten Kinder des untersuchten Haushaltstyps erhielten täglich zuhause oder außer Haus ein geregeltes warmes Mittagessen (ebd.: 92). Am Wochenende werde aber nur in etwa der Hälfte der untersuchten Haushalte warm zu Mittag gegessen, so dass kaum noch von einer kulturellen Norm gesprochen werden könne. Das Mittagessen weiche stattdessen an den Wochenenden in vielen Fällen einer »Kaffee- und Kuchenmahlzeit« bzw. einem Imbiss mit den Brötchen vom Vormittag sowie einem aufgewerteten Abendessen. Die jeweilige Mahlzeitenstruktur ist zudem abhängig vom Alter der Kinder (ebd.: 95).

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schätzt sie an der eingerichteten Regelmäßigkeit, dass sie sich nie mehr »so wahnsinnig verhungert« fühlt. Erwachsene verspüren zwar ebenso wie Kinder einen mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrenden, organisch begründeten Hunger – Kindern ist innerhalb des Begründungsmusters jedoch weniger zumutbar, aufgrund anderer Tätigkeiten (wie z.B. Arbeiten) eine möglichst ideale Bedürfnisbefriedigung innerhalb einer ›festen‹ sozialen Rahmung aufzuschieben. Auch Haya bringt sich in diesem Zusammenhang in das Gespräch ein, indem sie allerdings ihrer Präferenz Ausdruck gibt, mittags lieber zu »sp[ielen]«, womit sie dem Begründungsmuster für die Mittagsmahlzeit widerspricht. Denn solange Frau Müller mit der Zubereitung der Mahlzeit beschäftigt ist, spielen Haya und Luis nach der Schule zuhause gewöhnlich. Haya kennzeichnet das Spielen leise, aber zumindest kurzzeitig insistierend, als einen Tätigkeitsbereich, der mittags eine Vernachlässigung von Hungergefühlen sehr wohl rechtfertigen würde, worüber im Gespräch jedoch hinweggegangen wird. Die Mittagsmahlzeit, deren Regelmäßigkeit einer früheren Lebensweise mühsam abgerungen wurde, steht hier in ihrem Fortbestand nicht zur Diskussion. Frau Müller berichtet im weiteren Verlauf vielmehr von der harten Arbeit, diese Regelmäßigkeit aufrechtzuerhalten. Zwischen ihr und Herrn Franke besteht zwar soweit Einigkeit, dass dem »furchtbaren Hunger« der Kinder zur Mittagszeit nicht nur »irgendwie« begegnet werden soll. Daraus folgt unter der Voraussetzung einer möglichen Anwesenheit zuhause allerdings, dass der individuelle Tagesverlauf gemäß diesem Anspruch an die wahrgenommene Bedürfnislage angepasst wird. Das ist eine Angelegenheit mit einer eigenen Entwicklungsgeschichte hinsichtlich der Arbeitsverteilung, die für Frau Müller und Herrn Franke unterschiedliche Konsequenzen hat und von beiden unterschiedlich thematisiert wird. Die regelmäßige Gliederung des Tagesverlaufs fordert allen Beteiligten zeitliche Einpassungen ab und bringt Einschränkungen hinsichtlich der Verfügbarkeit von Zeit mit sich – andere Tätigkeiten müssen entsprechend der verfügbaren Zeitspannen eventuell vorausgeplant, gegebenenfalls abgebrochen oder zumindest unterbrochen werden. Die Vor-, Zu- und Nachbereitung (das Planen, Einkaufen, Auf- oder Kleinschneiden, Kochen, das Tischdecken und Abräumen, Abwaschen, Aufräumen, Müll entsorgen) bindet neben den gemeinsamen Mahlzeiten allerdings noch zusätzlichen Zeitaufwand, der bei Müller/Franke, von Einkäufen abgesehen, überwiegend zulasten von Frau Müller geht.26 Sie wählt diesbezüglich sehr bedacht ihre Worte: Sie hebt im Verlauf des beschriebenen Szenenausschnitts

26 Gerade auch das traditionell geschlechtskodierte Arbeitsfeld der Nahrungszubereitung ist im Familienleben generell auch weiterhin vorwiegend dem weiblichen Geschlecht zugeordnet (vgl. DeVault 1991; Brombach 2001).

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eine gewonnene Stabilität hervor und verortet die damit verbundene Umstellung vorwiegend in der Vergangenheit, als »hart erarbeitete« Einübung dieser Regelmäßigkeit, die sie sich erst »mühsam antrainiert« habe. Inzwischen bringe diese harte Arbeit für sie aber auch »Früchte« – als eine positiv empfundene »Kontinuität« und »Stabilität«. In Hinblick auf das »harte Erarbeiten« dieser Kontinuität, deren Zirkularität im Zeitverlauf sie mit rotierenden Armbewegungen auch gestisch zum Ausdruck bringt, spricht sie allein für sich: »weil ich muss es ja auch selber dann durchziehen«. Das Bild eines Korsetts zu Beginn bringt beide angesprochenen Aspekte zum Ausdruck: sowohl eine von ihr als positiv bewertete Stabilität als auch die empfundene Einzwängung in eine verhältnismäßig starre Form, die weit mehr Regelmäßigkeiten im Tagesverlauf umfasst als lediglich die gemeinsamen Mahlzeiten mit den eigenen und eventuellen Gast-Kindern, wobei Herr Franke nicht immer anwesend ist. Das Bild des Korsetts verweist drittens aber auch auf eine ›lebensästhetische‹ Haltung, auf die Perspektive einer selbst gewählten Form mit einer regelmäßigen Zeitordnung. Frau Müller äußert sich während der Erhebungen häufiger und dezidiert zu ihrem starken Gestaltungswillen in dem was sie tut, als persönliche Selbstentfaltung. Obwohl die Umstellung der Lebensweise für sie nicht einfach war und ihr viel Disziplin abverlangte, sieht sie einen »schönen Sinn« darin, »wenn man das so macht«. Das regelmäßige Mittagessen wird zum einen als strukturelle Umstellung und reflexive Einstellung auf die Bedürfnisse der eigenen Kinder begründet, zugleich aber auch als eine gewollte, eigene Gestaltungsleistung angenommen, die sie als schön und sinnvoll benennt. Ein entsprechendes Tätigkeitsprofil musste jedoch durch mühsames Antrainieren in die bisherige Lebensweise integriert, bzw. die bisherige Lebensweise musste entsprechend zu diesem projektierten Profil verändert und in das Zusammenleben mit Kindern eingepasst werden. Frau Müller betont während der Erhebungen andererseits mehrfach, dass sie ebenso wie Herr Franke weiterhin als Musikerin erwerbstätig ist und ihrer beruflichen Perspektive in naher Zukunft auch wieder mehr Gewicht geben möchte. Die Entscheidung für ihre aktuelle Lebensweise mit einer hohen Gewichtung der Haushaltsführung und Fürsorge ist für sie auf eine Lebensphase beschränkt, die mit einer begrenzten Altersphase ihrer Kinder (und einer entsprechend wahrgenommenen Bedürfnislage) korreliert – sie entspricht nicht der ›Totalität‹ eines primären Lebenssinns, sondern zuvorderst dem Anspruch einer möglichst optimalen Gestaltung der jeweils gegebenen oder auch anvisierten Lebensumstände, dessen Realisierung Einschränkungen und Abstimmungen im Rahmen des Vorstellbaren und Verhandelbaren abverlangen. Sie habe sich in den letzten Jahren bewusst zurückgenommen, weil sie keinen »Spagat zwischen Arbeit und Familie«

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wollte, wie Frau Müller im weiteren Gespräch erklärt. Die gemeinsame Familiengründung führte auf dieser Grundlage zu einer tendenziellen Arbeitsverteilung, in der sich Frau Müller und Herr Franke nach und nach in regelmäßige Tätigkeitsmuster eingepasst haben, die von ihnen im weiteren Gespräch auch als »alte« bzw. »klassische Rollenmuster« bezeichnet werden. Bedingt durch die aktuelle Erwerbstätigkeit von Herrn Franke, mit der er zur Mittagszeit nur noch selten zuhause sein kann, hat Frau Müller neben weiteren Haushaltsaufgaben seit Längerem auch noch das Kochen vollständig übernommen – obwohl sie sich da früher mehr abgewechselt hätten, wie sie später noch anmerken wird. Gruppeninterview zum Familienalltag, auf der Terrasse am Gartentisch Während Frau Müller spricht, hat Herr Franke sich zu Luis gebeugt, der einem weghüpfenden Ball in Richtung Kamera gefolgt war, und ihm etwas Unverständliches zugemurmelt. Herr Franke wendet er sich wieder dem Tisch zu und sitzt nach vorne gebeugt mit gefalteten Händen da. Frau Müller schaut mit verschränkten Armen zum Forschenden und nickt leicht. Forschender: Herr Franke: Frau Müller: Herr Franke:

Frau Müller: Herr Franke:

Ja. (1) Mhm? (2) Ja. (.) ich schließ mich meiner Frau Gegnerin; ⎣☺(.)☺ ⎣Lebensgefährtin an. (.) {er zuckt mit den Schultern und schaut vor sich auf den Tisch} ja doch; ja früher, ja schon mehr Freiheiten. (1) {er dreht den Kopf zum Forschenden – die folgenden Worte in einem gekünstelt pathetischem Tonfall gesprochen} das wirst du auch noch merken. (.) wenn du vier Kinder hast (.) ⎣☺(.)☺ ⎣☺(.)☺ Ja, nein nein klar; mit den Kindern? (.) aber es ist auch gut halt, mehr Struktur zu haben; weil man natürlich auch; wenn man weiß, man hat jetzt nur den Vormittag Zeit was zu machen? (.) dann ist es halt begrenzt und du musst es halt in der Zeit schaffen. also entweder du stehst halt früher auf, oder du probierst halt irgendwie äh, da auch ’n Anfang und ein Ende zu setzen; ne? als wenn du jetzt sagst, okay; du hast da soviel Luft, da schaffste oft dann weniger; ne? du sachst, ich hab ja dann Zeit, und dann (.)

Herr Franke schaut zu Frau Müller, die ihn mit einem unbewegten Gesichtsausdruck ansieht; Herr Franke sieht zum Forschenden; Frau Müller schaut konzentriert auf den Tisch. Herr Franke:

ich sag mal zuhause arbeiten ist halt auch nicht so einfach. Telefonate, irgendwas kommt dazwischen. also auch zu proben, zu üben. man ist nie so ganz nur bei der Probe halt, ne? Familie ist dabei;

Er sieht lächelnd zu Frau Müller, die ihn mit einem weiterhin unbewegten Gesichtsausdruck ansieht und sich durch die Haare streicht.

138 | F AMILIÄRE R ÄUME Herr Franke:

aber inzwischen genieß ich es ja auch. ich mein; früher hatte ich ’nen Proberaum und da ist man dann immer hingefahren, halbe Stunde hin, halbe Stunde zurück, da musstest’e dann zur Probe mindestens eine Stunde dazu rechnen. [F4E2: 00h 22m 44s – 00h 23m 54s]

Herr Franke, der zu Beginn des beschriebenen Szenenausschnitts durch Luis vom Gesprächsverlauf abgelenkt ist, spricht in Hinblick auf die Strukturierung des Alltagslebens zuhause über das gleiche und doch auch wieder nicht. An die von Frau Müller thematisierte persönliche ›Kostenseite‹, die einen mehr oder weniger zu akzeptierenden Zwang zum Ausdruck bringt, schließt er an, indem er ebenfalls sein Leben »früher« mit »mehr Freiheiten« assoziiert. Das Familienleben ist für ihn im Vergleich zu »früher« gleichfalls mit Selbstdisziplinierung und einer erforderlichen reflexiven Umbildung der eigenen Lebensweise verbunden. Durch den scherzhaften Verweis gegenüber dem Forschenden, das werde dieser auch noch bemerken, wenn er »vier Kinder« habe, macht Herr Franke explizit, dass er mit »früher« vornehmlich eine Vergangenheit bezeichnet, in der ein Leben ohne (mehrere) Kinder von einem Leben mit (mehreren) Kindern unterschieden wird. Dass Herr Franke gegenüber dem Forschenden von »vier Kindern« spricht, lässt sich als Erfahrung der numerischen Steigerung deuten: Die Anzahl der Kinder ist in dieser Lesart seiner Perspektive nicht unerheblich für Veränderungen durch das Kinderhaben. Herr Franke erwähnt im Verlauf des weiteren Gesprächs auch, wie gut es sei, dass Haya und Luis inzwischen beide alt genug seien, um sich miteinander beschäftigen zu können und zusammen zu spielen. Die scherzhaft angedichteten »vier Kinder« verweisen aber auf eine zugespitzte Steigerung über seine eigenen drei Kinder hinaus. Indem er ironisch von seiner »Lebensgefährtin« als »Frau Gegnerin« spricht, der er sich im Gespräch anschließe, macht Herr Franke ein Spannungsfeld in der Paarbeziehung kenntlich, das sich in den Ausführungen von Frau Müller lediglich erahnen ließ, als sie hinsichtlich der Strukturierungsleistungen ausschließlich von sich im Singular gesprochen hat. Ironie ist ein Distanzierungsmittel, das er während der Erhebungen wiederholt einsetzt. Er deutet mit seiner expliziten Benennung einer Opposition einen Konfliktbereich an, den er anschließend allerdings wieder kaschiert, indem er seine Äußerung ins Scherzhafte zieht und eine Kehrtwende zum ernsthaften Sprechen markiert: »ja, nein nein klar«. Herr Franke greift dabei den Fokus auf eine Strukturierung im Familienleben auf, die Frau Müller zuvor als vornehmlich ihre eigene Gestaltungsleistung dargestellt hat, mit der sie Stabilität und Kontinuität geschaffen habe. Eine Ambivalenz hinsichtlich der zeitlichen Strukturierung im Zusammenleben mit Kindern, die von beiden artikuliert wird, entwirft Herr Franke allerdings weniger entschieden auf einer biographischen Entwicklungslinie, die von der Arbeit zu den Früchten dieser Anstrengungen führt.

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Er bewertet die etablierte Zeitordnung zwar gleichfalls positiv, äußert sich aber zwiespältiger in Hinblick auf den Status Quo. Während Frau Müller besonders die Arbeit thematisiert, gemeinsame Strukturen im Familienleben nach einem eigenen Sinnempfinden einzurichten, auszugestalten und auch aufrechtzuerhalten, problematisiert Herr Franke die gemeinsame Präsenz in den Zeitfenstern dazwischen, in denen er seiner Erwerbstätigkeit nachgehen muss. Entgegen der bisher thematisierten Arbeit, eine gemeinsame Zeitordnung im Zusammenleben hervorzubringen bzw. regelmäßig zu reproduzieren, macht Herr Franke geltend, dass »zuhause arbeiten«, im Sinne seiner Erwerbstätigkeit, »auch nicht so einfach« sei. Zwar sei es gut »mehr Struktur zu haben« und er deutet die gemeinsame Zeitordnung des Familienlebens positiv in Hinsicht auf einen (mehr oder weniger erzwungenen) Lernzuwachs an Selbstdisziplin, Organisiertheit und Effizienz. Demgegenüber stehen andererseits aber Beeinträchtigungen seiner verfügbaren Arbeitszeit. Er problematisiert diesbezüglich eine Überlagerung von Arbeits- und Familiensphäre. Weil er seiner Erwerbstätigkeit überwiegend zuhause nachgeht, ohne nennenswerte Trennung zwischen diesen beiden Sphären, komme z.B. während der Probenarbeit immer irgendetwas dazwischen. »Man ist nie so ganz nur bei der Probe halt, ne? Familie ist dabei«. Der von Frau Müller thematisierte »Spagat zwischen Arbeit und Familie«, den sie nicht wollte, ist für ihn vorrangig ein Defizit an Distanz, ein Problem des Grenzmanagements innerhalb des Wohnbereichs. Mit Blick auf Frau Müllers mimische Reaktionen wendet Herr Franke schließlich ein, dass er »es« inzwischen aber ja auch genieße. Dieses »es« ist in seinen Bezügen zunächst nicht genau bestimmbar; es verweist auf das angesprochene »zuhause arbeiten«, das aufgrund der Sphärenüberlagerungen »auch nicht so einfach« sei; es lässt aber auch die eingebüßten »Freiheiten« von »früher« im Unterschied zum gemeinsamen Familienleben anklingen. Herr Franke klärt seine Äußerung im Anschluss, indem er herausstellt, dass »zuhause arbeiten« auch Zeit einspare, weil er nicht mehr zu einem auswärtigen Proben-Ort pendeln müsse. Die ›zeitökonomische‹ Perspektive erscheint vor dem Hintergrund des Gesagten wie eine Bilanzierung der Vor- und Nachteile der zuhause lokalisierten Erwerbstätigkeit, die auf eine ›Arbeit an sich selbst‹ verweist, um sich nicht nur ›funktional‹, sondern auch emotional in die zeitlichen Strukturen des Zusammenlebens einzupassen, deren Hervorbringung Frau Müller als ihre Strukturierungsleistung deklariert. Über diese Einpassung in die gemeinsame Zeitordnung der Mahlzeiten hinaus kann Herr Franke inzwischen aber grundsätzlich genießen, was stets auch Störpotential für seine Arbeitssphäre bereit hält: »Familie ist dabei«. Die Fragmentierung seiner Arbeitszeit wiegt er durch Reflektionen zum Zeitmanagement auf. Aus der gemeinsamen Zeitordnung des Familienlebens folgt für ihn nicht einfach

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eine Verknappung seiner Arbeitszeit, sondern auch ein Gewinn an Effizienz als persönliche Entwicklung. Die (zeit-) räumliche Organisation des Zusammenlebens Die Perspektive von Frau Müller auf die Hervorbringung regelmäßiger zeitlicher Strukturen im Familienalltag korreliert mit ihrer Wahrnehmung einer nach und nach zufriedenstellenderen räumlichen Ordnung, in der das Zuhause allmählich in einer für sie sinnvollen Weise organisiert und ausgestaltet wurde. Auch die räumliche Organisation des Wohnbereichs beschreibt sie auf einer Entwicklungslinie von früherer Ungeordnetheit, die sich anfangs auch im Leben »zwischen Kisten und Kästen« manifestierte, zu einer als positiv empfundenen Ordnung des Zusammenlebens. Gruppeninterview zum Familienalltag, auf der Terrasse am Gartentisch Haja hat sich quer über die Gartenbank mit ihrem Kopf auf den Schoß von Frau Müller gelegt. Der Forschende fragt gegen Ende des Gesprächs, was denn ein Zuhause zu einem Zuhause mache. Frau Müller: Forschender:

Also was, wir haben hier in dieser Wohnung, (.) schon sehr viel experimentiert, {lächelt} mit dem; ⎣Mhm;

Während Frau Müller spricht, sagt Luis hinter der Kamera stehend: »Papa, ich will dir mal kurz was zeigen.« Herr Franke sieht am Tisch sitzend weiterhin zu Frau Müller und überhört Luis. Frau Müller:

⎣mit den Orten wo wir schlafen und wo bestimmte Sachen stattfinden, (1) {Frau Müller sieht Herrn Franke an} und ähm; (.) ich find es jetzt gerade auch als, {sie schaut zum Forschenden} empfind es als wohltuend, dass wir so; {sie wirft einen kurzen Blick über ihre Schulter zum Wohnzimmerfenster, hinter dem der Esstisch zu sehen ist} bestimmte Punkte jetzt geklärt haben. {sie markiert beim Sprechen mit beiden Händen räumliche Abstände vor sich, schaut kurz zu Herrn Franke und dann lächelnd wieder zum Forschenden} also wo isst man, wo schläft man, und äh, wo unterrichte ich, (.) und ähm (.)

Luis spricht hinter der Kamera stehend Herrn Franke an, was jedoch in der Aufzeichnung unverständlich bleibt. Herr Franke dreht sich seitlich zu Luis und beobachtet ihn. Frau Müller:

Wo ist also unser Musikzimmer, wo kann man Musik machen? {sie zeigt zu Herrn Franke} wo Fabio oder ich unterrichten; (.) ja. (.)

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Luis sagt nochmals etwas, das aufgrund seiner Position hinter der Kamera mit ihrer Mikrofonausrichtung unverständlich bleibt; Herr Franke verzieht Luis gegenüber kurz mit einer verdrießlichen Miene sein Gesicht und schaut über den Tisch in Richtung zu Frau Müller. Frau Müller:

Forschender: Frau Müller:

Das; das find ich ganz, ganz schön, dass es so verschiedene Stationen, ähm; sich heraus- dass wir die ☺herausgarbeitet☺ haben ne? wo was, was stattfindet. also das war die ersten Jahre so ’n bisschen verschwommen. das, das fand ich auch {sie schaut zu Herrn Franke, der mit unbewegtem Gesichtsausdruck zuhört} eher irritierend; aber es; es war so. (1) ⎣Ja. und ähm; (.) ja das, ich finde das schön, an; an unserm Zuhause, oder überhaupt an ’nem Zuhause, wenn ich für die verschiedensten; °mh, mh° (1) verschiedensten Themen, die ich so habe im Leben, dann auch Raum habe; (.) und das, das ist für mich wichtig. [F4E2: 00h 55m 03s – 00h 56m 28s]

Entgegen der Zeitordnung des Familienalltags, eine kontinuierliche Leistung, die Frau Müller sich als »hart erarbeitet« vornehmlich allein zuspricht, sind die räumlichen Strukturen hier in ihrer Darstellung gemeinsam »herausgearbeitet« worden. Ungeachtet der Frage, ob nach den anfangs angedeuteten Differenzen nun, im späteren Verlauf des Interviews, mehr auf die Präsentation einer partnerschaftlichen Einheit geachtet wird, ist die räumliche Organisation des Wohnbereichs hinsichtlich eines Strukturierungsbedarfs grundsätzlich weniger problematisch. Die Einrichtung ›fixer‹ Arrangements innerhalb des Wohnbereichs kann verhältnismäßig folgenlos ›offen‹ bleiben.27 Räumliche Organisationserfordernisse kommen daher experimentellen Herangehensweisen und Aushandlungsansprüchen viel mehr entgegen. Im Zusammenleben mit kleinen Kindern entsteht im Kontrast dazu ein ›Handlungsdruck‹ innerhalb der Zeit, der zwar nicht unbedingt an eine bestimmte Person gebunden ist, jedoch häufig kaum zeitliche Aufschübe zulässt. Organisch begründete und getaktete Bedürfnisse versetzen in Zugzwang (und sei es, dass entsprechende Handlungen zu delegieren sind). Eine durchstrukturierte Organisation des Alltags kann daher von ›akutem‹ Handlungsdruck entlasten und eine Vielzahl von Handlungsvollzügen in routinierte Bahnen lenken, die in ihrer Regelmäßigkeit vorhersehbar und vertraut sind. Räumliche Gliederungen und die Ausgestaltung eines neu bezogenen Wohnraums können tendenziell warten – die Einrichtung funktionierender Routinen im Zusammenleben mit kleinen Kindern eher nicht. Auf störende, irritierende Unbestimmtheiten in der Organisation des Raums kann außerdem leichter gegenständlich verwiesen werden; für Unstimmigkeiten in der zeitlichen Organisation müssen Worte und imaginative Bilder gefunden

27 Zur vergleichsweise ›offenen‹ räumlichen Organisation des Wohnbereichs vor dem 18. Jahrhundert vgl. den zweiten Teil des Kapitels ›Befestigtes Zusammenleben‹.

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werden, die individuelle Prozessvorstellungen für eine gemeinsame Abstimmung erst erkennbar und mitteilbar machen. Frau Müller berichtet davon, dass sie es »in den ersten Jahren« aber dennoch »irritierend« fand, dass die räumliche Ordnung im Zusammenleben »so ’n bisschen verschwommen« war, was sie zu Beginn des Szenenausschnitts noch lächelnd damit umschreibt, dass sie »hier in dieser Wohnung schon sehr viel experimentiert« hätten. Es bleibt ungeklärt, ob die Beschreibung der »ersten Jahre«, die noch »ein bisschen verschwommen« waren, das Zusammenleben in der ersten gemeinsamen Wohnung mit einbezieht, in der sie anfangs noch »zwischen Kisten und Kästen« lebten – oder ob sich damals bereits erarbeitete Routinen und Strukturen nach dem Umzug und dem weiteren Familienzuwachs »hier in dieser Wohnung« wieder verloren haben. Frau Müller empfinde es jedenfalls als wohltuend, erzählt sie, dass »bestimmte Punkte jetzt geklärt« sind und die Arrangements innerhalb des Wohnbereichs für verschiedene Lebensthemen weniger flüchtig, sondern durch feste »Stationen« etabliert sind. Die typischen Aktivitäten im häuslichen Zusammenleben haben nun jeweils ihren Platz, wofür Pars pro Toto der Esstisch im Wohnzimmer steht, zu dem sie sich in dem beschriebenen Szenenausschnitt kurz umwendet. Für die verschiedenen Themen und Tätigkeiten zuhause »Raum« zu haben, ist für Frau Müller – insbesondere hinsichtlich der im Tagesverlauf regelmäßig wiederkehrenden und deutlich gerahmten Tätigkeiten: »wo isst man, wo schläft man«, »wo unterrichte ich« – an objektivierte »Stationen« im Wohnbereich gebunden: an ein Spacing, durch das die Alltagspraxis zuhause mittels vorarrangierter Güter und Routinen geleitet und dadurch von Herstellungs- und Aushandlungsprozessen entlastet wird. Die inzwischen herausgearbeiteten räumlichen Strukturen empfinde sie als »ganz schön«, als »wohltuend«, als für sie selbst »wichtig«. Sie weist auch auf die ›Station‹ hin, die zum Zweck der Berufsausübung eingerichtet wurde. Es gibt in der Wohnung ein »Musikzimmer«, das als abgegrenzter Arbeitsplatz zum Musizieren und Unterrichten vorgesehen ist. Entgegen dem Ess- und Schlafplatz ist dieser Ort stärker von Interaktionsräumen des Familienlebens separiert, wobei sie hier auch in der ersten Person Singular spricht, bevor sie expliziert, dass dieses Musikzimmer sowohl von ihr wie auch Herrn Franke genutzt werde, um zu unterrichten. Mit dem Verweis auf die eigenen Strukturierungsleistungen von Zeit und Raum äußert sie sich entgegen Herrn Franke zufrieden mit einer hervorgebrachten stabilen Ordnung, die durch die Alltagspraxis aufrechtzuerhalten ist. Die von ihr zum Ende hin erwähnte Irritation über eine frühere Verschwommenheit in der räumlichen Organisation des Zuhause, an die sie sich nach einem anfänglichen Blick zu Herrn Franke behutsam über die positiven Errungenschaften der letzten Jahre zeitlich zurücktastet, verweist auf einen Aspekt der Befremdung

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im Zusammenleben der »ersten Jahre«, auf grundsätzliche Differenzen in Hinsicht auf ein unterschiedliches Selbstverständnis zum ›gewohnten‹ Grad von strukturierter Ordnung, und zugleich auf eine gemeinsame Geschichte ihrer Bearbeitung, in deren Verlauf dem gemeinsamen Wohnbereich und der Wohnpraxis eine zunehmend ›stabilere‹ Form gegeben wurde. Wie bereits zuvor in Hinblick auf die Zeitordnung im Tagesablauf zeichnet Frau Müller eine positive Entwicklungsgeschichte nach, von den anfänglichen Mühen zu den Früchten ihrer Bearbeitung in der Gegenwart, eine Entwicklungslinie von Verschwommenheit zu ›festen‹ Strukturen in der Alltagspraxis (»Korsett« im Tagesablauf; feste Stationen für bestimmte Tätigkeiten), von Instabilität zu Stabilität. Frau Müller akzentuiert zum Ende des Interviews ihre positive Sicht auf die Gegenwart. Herr Franke äußert sich in einem früheren Ausschnitts des Interviewverlaufs dagegen kritisch hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Organisation auch in der Gegenwart, was er mit der Überlagerung von Erwerbs- und Familiensphäre im Wohnbereich begründet. Er beklagt ein fortbestehendes ›Strukturdefizit‹. Gruppeninterview zum Familienalltag, auf der Terrasse am Gartentisch Herr Franke:

Was wir, was wir nicht haben ist so ’ne Struktur halt; so also so ’ne Trennung von Arbeit und Familie; so richtig ne? also wo man natürlich Sachen die anstehen, oder weiß nich’; hab ick natürlich oft am Computer, hab irgendwelche Sachen zu tun, und schreib irgendwelche Briefe, mach irgendwelche Poster fertig; oder musikalisch irgendwas; äh; effektiv hängt man halt nur vor ’m Rechner; egal wie alt ne? ähm; und das is’ halt schon, man muss sich die Zeit jetzt, für die Kinder, muss man sich wirklich auch nehmen; also wenn man jetzt; es kommt nicht einfach so, weil es gibt immer was anderes zu tun, also von daher; so ’n non-stop Arbeiten und Familie, was so zusammenfließt, irgendwie. [F4E2: 00h 28m 36s – 00h 29m 14s]

Nachdem Frau Müller in dem Szenenausschnitt des vorherigen Kapitelabschnitts ihre Sicht auf den Tagesablauf und die eigenen Strukturierungsleistungen dargestellt hat, knüpft Herr Franke wenige Minuten später wiederum an seinen Punkt an, den er zuvor eingeführt hat, dass »zuhause arbeiten [...] auch nicht so einfach« sei. Das Strukturdefizit einer unzureichenden Trennung zwischen Erwerbs- und Familiensphäre hat er schon zu Beginn ambivalent bewertet, und er akzentuiert nun deutlicher eine Problematik, weil beides »so zusammenfließt«. Während sich laut Frau Müller im Verlauf des Zusammenlebens die Strukturen und Stationen auf positive Weise geklärt haben, betrachtet er seine verfügbaren Freiräume hinsichtlich »Arbeiten und Familie« in der Gegenwart als ›verschwommen‹. Entgegen Frau Müller, die stundenweise zuhause unterrichtet und diese Erwerbstätigkeit

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gleichfalls mit dem Zusammenleben abstimmen muss, ist er dabei an einem Idealbild orientiert, in der seine Erwerbstätigkeit als Musiker von der Familiensphäre strikt getrennt bleibt. Das Musizierzimmer, als separiertes Arbeitszimmer, bietet für ihn keine ausreichende Separierungsmöglichkeit. Innerhalb der Logik des vorherigen Interviewverlaufs thematisiert er hier in zeitlicher Hinsicht die Problematik einer Sphärentrennung, wenn beide Sphären am gleichen Ort angesiedelt sind und sich zumindest teilweise zeitlich überlagern. Ein separierter Handlungsraum bedarf dann nicht nur materieller Abgrenzungen (z.B. eine geschlossene Tür), sondern auch einer symbolischen Eingrenzung von Zeiträumen durch Strukturen, die beide Sphären hinreichend voneinander trennen (z.B. eine Unterrichtsstunde, in der ein zahlender Gast mit im Musizierzimmer ist). Herr Franke berichtet jedoch von Tätigkeiten, die in ihrer Prozessualität ›aus sich selbst heraus‹ kaum eine ›fest‹ geregelte zeitliche Rahmung nahelegen: »Sachen die anstehen«, »irgendwelche Sachen zu tun«. Seine Anmerkung zum Ende der Aufzählung verschiedener Tätigkeiten, dass man im Endeffekt »halt nur vor ’m Rechner« hänge, »egal wie alt« – was sich als Anspielung auf einen tendenziell ungeregelten Mediengebrauch jüngerer Altersgruppen lesen lässt – kann als ein impliziter Hinweis auf seine Strukturierungsschwierigkeiten gedeutet werden, die er mit seinem Tätigkeitsprofil hat. Allerdings macht er bis zu diesem Punkt nicht explizit, dass er die Notwendigkeit eigener Strukturierungsleistungen thematisiert, um eine entsprechende Struktur »haben« zu können. Den positiven Gegenhorizont, um eine »Trennung von Arbeit und Familie« zu haben, entfaltet er im vorherigen Kapitelabschnitt vielmehr anhand der geographischen Distanz zwischen früherem Proberaum und Zuhause. Herr Franke thematisiert im Anschluss an sein Tätigkeitsprofil die Schwierigkeit, seine Erwerbstätigkeit mit dem eigenen Anspruch zu vereinbaren, sich auch Zeit für die Kinder nehmen zu können. Eine geographische Separierung würde dieses Dilemma zwar zeit-räumlich entzerren, seine Möglichkeiten im Familienkreis dabei zu sein jedoch auch auf seltenere Gelegenheiten reduzieren. Mit dem beklagten ›Strukturdefizit‹ deutet er einen Interessenkonflikt an, der sich erst aus der Möglichkeit ergibt, zuhause potentiell beidem Zeit einräumen zu können. Das gemeinsame Leben mit den Kindern sei aufgrund des schnellen Aufwachsens und den späteren Abgrenzungen im Jugendalter eine Lebensphase, an der er gerne intensiv teilhaben möchte, wie er zu einem anderen Erhebungstermin sagt. Er sei daher froh, tagsüber nicht weitgehend wegen einer externen Erwerbstätigkeit vom Zusammenleben ausgeschlossen zu sein. Die regelmäßigen Zeitstrukturen des gemeinsamen Familienlebens, wie z.B. gemeinsame Mahlzeiten, fungieren als verbindliches und verbindendes Zeitgerüst, das regelmäßige Situationen gemeinsamer Kopräsenz absichert. Das ›Zwischen-

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durch‹ bietet hingegen Raum für ›formlosere‹ Kontaktnahmen in beiläufiger, auch flüchtiger Kopräsenz. Beide Möglichkeiten zur Herstellung von Kopräsenz zerteilen die Zeiträume, die für Erwerbsarbeit verfügbar sind. Herr Franke hat seine Arbeitszeit ohne definierte Anfangs- und Endpunkte über den gesamten Tagesverlauf verteilt. Weil Erwerbs- und Familiensphäre besonders nach Schulschluss interferieren, macht die von ihm gewünschte Teilhabe eine flexible Zeitplanung erforderlich, eine Rationalisierung und Rationierung der verfügbaren Zeit: »man muss sich die Zeit jetzt, für die Kinder, muss man sich wirklich auch nehmen«. Weil es »immer was anderes zu tun« gibt und die »Zeit« für die Kinder »nicht einfach so« komme, muss er seine ›eigene‹ Zeit entweder dem einen oder dem anderen widmen; er muss sich in der verfügbaren Zeit wiederkehrend für das eine und gegen das andere entscheiden, wenn er auch für beiläufiges Zusammensein ›zwischendurch‹ Zeit haben möchte. Herr Franke spricht an einer anderen Stelle auch von »Terminen«, die er sich geradezu vornehmen müsse, um seine Arbeit zwischendurch für die Kinder ›außen vor‹ zu lassen. Während der Erhebungen äußert er sich wiederholt zu dem gesteigerten Zeitund Organisationsbewusstsein, das mit der empfundenen Verknappung ›frei‹ verfügbarer Zeit einhergehe. Die anvisierte Teilhabe an beiläufigem Zusammensein folgt jedoch einer eigenen Dynamik zwischen planbarem Entwurf und Spontanität, zwischen Fokussiertheit und tendenzieller Offenheit (auch Ablenkbarkeit), zwischen Be- oder Entschleunigung, die sich durch eine individuell forcierte Zeiteinteilung nur beschränkt regulieren lässt. Herr Franke sieht sich dem paradoxen, tendenziell unvereinbaren Anspruch gegenüber, seine verfügbare Zeit einerseits planmäßig zu rationieren und zugleich andererseits am ungeplanten ›Zwischendurch‹ teilhaben zu wollen. Die Schwierigkeit beide Sphären zu integrieren, die für ihn idealtypisch getrennt sind, hat zur Folge, dass Strategien und Vokabular eines professionellen Zeitmanagements auch in das Familienleben einsickern und die Sphäre der Erwerbstätigkeit andererseits im Tagesverlauf ›ausufert‹ und zeitlich ›entgrenzt‹ wird. In seiner Klage über eine fehlende Trennung zwischen Erwerbs- und Familiensphäre ist Herr Franke an dem ›klassischen‹ Modell getrennter Räume aufgrund einer geographischen Distanz orientiert, wie durch den positiven Gegenhorizont des Probenraums deutlich wird. Entgegen dieser Option, die ihn tagsüber von der Familiensphäre abschneiden würde, sieht er sich der Herausforderung gegenüber, eine andere Organisationsform durch mehr eigene Strukturierungleistungenen hervorbringen zu müssen, mit denen sich Interferenzen beider Sphären akzeptabel regulieren lassen. Hinsichtlich dieser Anforderung hat er allerdings vorrangig sein Interesse an den Kindern und nicht auch die ›Hausarbeit‹ im Blick, die von den Einkäufen abgesehen überwiegend von Frau Müller bewältigt wird.

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Tradierungen eines Familienmodells Frau Müller charakterisiert die einschränkende und mühsame Strukturierung des Alltags entgegen Herrn Franke als eine erfolgreiche eigene Gestaltungsleistung, als etwas das sie so haben wollte, das sie nicht zuletzt auch für sich selbst »hart erarbeitet« hat und deren Kontinuität und Stabilität daher eng mit ihrem Selbstbild verbunden sind. Ihr geäußertes Empfinden von »Sinn« hinsichtlich der hervorgebrachten Strukturierungen resultiert in ihrer Darstellung aus der Projektmäßigkeit einer Ordnung des ›Familiären‹, die sie allmählich und unter Mühen realisiert hat. In der phänomenologischen Diktion von Alfred Schütz sind die Einschränkungen und Umstellungen in ihrer Darstellung einem »übergeordneten Plansystem« in der Lebensführung untergeordnet (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 49) und daher trotz der wahrgenommenen Zwänge kein Merkmal einer empfundenen Einschränkung an Selbstbestimmtheit. Die »Stabilität« begreift sie als Ergebnis einer bewussten Selbstformung und einer selbstbewussten Ausformung des Familienlebens, auf der Grundlage harter Arbeit an der Umsetzung eines favorisierten Strukturmodells. Dieses Modell, an dessen Hervorbringung sie maßgeblich arbeitet, weil es einen »schönen Sinn« für sie hat, »wenn man das so macht«, ist biographisch bereits vormodelliert, wie im Folgenden deutlich wird, und bringt als tradiertes Strukturmodell daher auch auf diskursiver und imaginativer Ebene Stabilität mit ein.

Abb. 2: In der Couchecke bei Müller/Franke. Gruppenspiel, im Wohnzimmer am Couchtisch Frau Müller, Haya, Luis und das Nachbarkind Mia sitzen mit dem Forschenden am Couchtisch. Herr Franke ist bisher noch nicht anwesend. Alle greifen wiederholt nach einem Keks von einem Teller in der Tischmitte und essen. Haya: Frau Müller: Haya:

Erzähl doch mal das Kuchenfest bei dir. Das was? Das Kuchenfest bei dir; in deiner Kindheit.

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Frau Müller wendet ihren Kopf von Haya zur Kamera und schaut einen kurzen Moment dorthin. Frau Müller: Forschender: Frau Müller: Haya: Frau Müller: Forschender:

Ach nee, das erzähl ich jetzt nicht. ⎣☺(.)☺ ⎣☺Das sind so olle Geschichten☺. Dann erzähl ich’s eben. ⎣Nein, jetzt nicht. Ein Kuchenfest?

Frau Müller schaut schweigend erst den Forschenden, dann Haya an. Forschender: Frau Müller: Forschender: Frau Müller:

Forschender: Frau Müller: Forschender: Frau Müller:

Forschender: Frau Müller:

Forschender: Frau Müller:

Forschender: Frau Müller:

☺Jetzt ist es raus, schon☺. ⎣Jetzt ist es raus; na gut. ⎣☺(2)☺ ⎣Na gut; also es war einfach ganz schlicht, es war auch ähm; eine bedeutende Geste meines Vaters? es trat nämlich der seltenste Fall ein, dass meine Mutter nicht (.) zuhause war. Mhm, Ich weiß gar nicht, aus was für ’nem Grund? meine Eltern haben ja beide zuhause gearbeitet. Aha. mhm? (.) und; ja. meine Mutter war nicht zuhause, und irgendwann merkten wir Kinder, wir haben Hunger. es hat also offensichtlich kein Mittag gegeben. ⎣Mhm. Und wir hatten alle Hunger und gingen, klopften dann, bei meinem Vater in seinem Arbeitszimmer, und sagten; {sie spricht mit einer leicht gequetschten, hellen Stimme} Papa, wir haben jetzt Hunger. {daraufhin mit brummender Stimme, dabei den Kopf leicht hin und her schwenkend} ach so, mhm mhm. was machen wir; ☺(.)☺ ⎣☺(.)☺ ⎣und dann holte er aus seinen ri:esigen Hosentaschen; {sie macht expressive Rührbewegungen am Oberschenkel} er trug immer so Hosen, so ganz weite, und dann klapperte immer irgendwie Geld. und äh; da holte er Geld raus, und {sie schaut auf ihre Hand} guckte sich das lange an, und verschwand. {sie lächelt und schaut kurz zu Luis} und kam dann nach einer Weile wieder, mit einem ri:iesigen Kuchenpaket; ⎣☺(.)☺ ⎣das wurde {sie breitet ihre Hände über dem Tisch aus} auf den Esstisch gelegt und so {sie macht mit beiden Händen eine ›auspackende‹ Bewegung} auseinandergefaltet, ohne

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Haya: Frau Müller: Forschender: Haya: Frau Müller:

Teller und alles, wurde dann der Kuchen gegessen, und es war auch so Sahnekuchen; was es also ganz selten gab; und zum Schluss haben wir dann immer noch so mit Fingern, so diese Sahne abgeleckt {sie bewegt ihre rechte Hand über dem Tisch} das ganze (.) Kuchen (.) pake:t. ⎣☺(.)☺ Ja, das war dann unser Mittag. und davon haben wir die ganze Kindheit dann geträumt ☺(2)☺ ⎣☺(2)☺ Davon träum ich meine ganze Kindheit. ☺Davon träumen die Kinder auch☺. [F4E3: 00h 05m 11s – 00h 07m 09s]

»Das Kuchenfest«, wie Haya diese Kindheitserinnerung von Frau Müller nennt, wird als Erzählung, so wie andere »olle Geschichten« offenbar auch, im kollektiven Familiengedächtnis narrativ gepflegt. Haya hat diese Erzählung nicht nur zuvor bereits gehört, sondern führt als Druckmittel auch an, diese notfalls selbst erzählen zu können. Das »bei dir« ist eine konkrete Lokalisierung zu Frau Müllers Biographie, die Haya zeit-räumlich noch präzisiert: »bei dir, in deiner Kindheit«. Sie verweist damit nicht nur auf eine vergangene Lebensphase von Frau Müller, sondern auch auf den adressierbaren Ort einer Herkunft in einem biographischen Erfahrungsraum, auf den diese wiedererzählte Geschichte bezogen ist. Ebenso wie Frau Müller und weitgehend auch Herr Franke arbeiten die Eltern von Frau Müller in dieser Erzählung zuhause und die Mutter sorgt während ihrer Kindheit für regelmäßige ›richtige‹ Mahlzeiten zur Mittagszeit – dann, wenn die Kinder Hunger haben. Es sei »der seltenste Fall« gewesen, dass ihre Mutter mal nicht ›da‹ war. Es ist zwar sehr wahrscheinlich, dass ihre Mutter für Erledigungen zwischenzeitlich das Haus verließ. Aber der Rhythmus ihrer An- und Abwesenheiten ist auf eine gewohnte gemeinsame Zeitordnung abgestimmt, so dass ihre Anwesenheit während der wirklich ›relevanten‹ Zeiten als Kontinuität verallgemeinert wird. Die Mutter war immer ›da‹, wenn es darauf ankam. Auffällig wird die Abwesenheit der Mutter für die Kinder in dieser Erzählung erst dadurch, dass sie nicht so wie üblich zur Mittagszeit zuhause ist. Weil es »offensichtlich kein Mittag« gegeben hat, haben die Kinder »irgendwann« Hunger und wenden sich mit ihrem Hunger schließlich an den »Vater in seinem Arbeitszimmer«. Entgegen der sonst regelmäßigen Versorgungsstruktur müssen sie hier in der Erzählung von sich aus ein zentrales Strukturierungsmerkmal im Tagesverlauf einfordern und dazu die geltende Grenze zur Arbeitssphäre des Vaters überschreiten. Sie müssen anklopfen. Der Vater von Frau Müller, im Alltagsleben trotz seiner Anwesenheit zuhause offenbar weniger präsent, weil er in seinem Arbeitszimmer separiert ist, muss von den Kindern an das ausstehende Mittagessen erinnert werden. In der Erzählung

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wird er von der Anforderung überrascht, mit mehr als seiner einfachen Teilnahme zur Mittagsmahlzeit beizutragen. Er verfügt im alltagssprachlichen wie im phänomenologischen Wortsinn über kein ›Rezeptwissen‹, um die offene Lücke in der Alltagsorganisation des gemeinsamen Familienlebens routiniert auszufüllen und muss erst über Lösungsmöglichkeiten nachdenken, bevor er schließlich das akute ›Strukturloch‹ überbrückt, indem er dieser Ausnahmesituation einen ludischen Charakter verleiht. Mit Victor Turner ausgedrückt gelingt es ihm, das krisenhafte Fehlen von Struktur durch die »Anti-Struktur« eines spontanen und spielerischen kleinen Festes zu kompensieren (vgl. Turner 1982: 52) – was seine Kinder so sehr begeistert, dass buchstäblich noch die Enkelkinder von diesem außeralltäglichen Ereignis, dem »Kuchenfest«, berichten können. Frau Müller und ihre Geschwister genießen in dieser Erzählung auch die gesteigerte Präsenz des Vaters, der die außergewöhnliche Abwesenheit der Mutter durch Sahne und eine Außerkraftsetzung geltender Alltagsregeln zu versüßen weiß (ein Sahnekuchen, den es »ganz selten« gab, wird ohne Teller und mit Händen gegessen). Das Außeralltägliche, Außergewöhnliche dieser ›Vater‹-Szene hebt sich von der Regelmäßigkeit ab, durch die nicht nur der Alltag sondern auch das Außeralltägliche in dieser Erzählung getragen wird – und für deren diskrete Stabilität und Kontinuität hier vorwiegend die Mutter steht. Frau Müller, ihrer Kindheit entwachsen und inzwischen mit eigenen Kindern zusammenlebend, empfindet es als prinzipiell schön, »wenn man das so macht« wie sie selbst aufgewachsen ist – womit sie weniger die geschlechtliche Rollenverteilung als vielmehr die Alltagsgestaltung mit den regelmäßigen gemeinsamen Mittagsmahlzeiten meint –, obwohl sie auch schon »ganz anders« gelebt hat. Im Zusammenleben mit den eigenen Kindern ist ihr diese von früher her gewohnte Ordnung wichtig geworden, so dass sie sich das »mühsam antrainiert« hat. Nicht nur die regelmäßige Gliederung des Tagesverlaufs und ihre biographische Erzählungen sind an dem Erfahrungsraum ihrer Herkunft orientiert. Es wird zu diesem Erhebungstermin auch ein Kartenspiel gespielt, dessen Spielkarten Frau Müller, Herr Franke, Haya und Luis miteinander gebastelt haben, und dessen Kartenfunktionen und Regeln noch von Frau Müllers Großeltern überliefert worden sind. Zudem ist die weiße, quadratische Tischdecke auf dem runden Couchtisch ein handgearbeitetes Familien-Erbstück. Indem Frau Müller an der Ausformung des Familienlebens arbeitet, bringt sie also die Erfahrungen eines Zuhauses ihrer Kindheit mit ein, und dieser tradierte Familienbezug ist ihr offenbar auch wichtig. Im weiteren Verlauf des ersten Gruppeninterviews wendet sie sich allerdings auch gegen »diese alten Rollenverhalten«, in denen vorwiegend der Mutter die alltägliche Arbeit an der Reproduktion einer stabilen Kontinuität zukommt, auf deren Grundlage dem Vater ein Glanz des Besonderen zukommen kann, wenn er

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sich außerhalb einer diskreten Alltagsroutine ausnahmsweise organisatorisch mit einbringt und seinem Engagement dann einen geradezu festlichen Charakter verleiht. Im Kontrast zum außergewöhnlichen Ereignis kann »das regelmäßige Essen, dieses regelmäßige Leben« dagegen als fader Alltagmechanismus erscheinen, der nur wenig gewürdigt wird – was Haya mit ihrem Einwurf sinnbildlich macht, auf die Mittagsmahlzeit auch gut verzichten zu können und lieber zu spielen. Einerseits sieht sich Frau Müller in der organisatorischen Rolle, eine alltägliche Strukturbildung nach ihrem Sinn zu gewährleisten, wobei es für sie gar nicht einfach war, das einzuführen und durchzuziehen. Andererseits begegnet sie einer derart ungleichen Aufgaben- und Aufmerksamkeitsverteilung wie im Vorbild der Eltern eher kritisch. Alltagspraktische Aufteilungen von Handlungsressorts Auf der Grundlage individueller Strukturvorstellungen, Organisationsweisen und Rahmenbedingungen werden im häuslichen Zusammenleben zwischen den Beteiligten alltagspraktische Ressorts etabliert und ausgehandelt, in denen die einzelnen Tätigkeiten und Zuständigkeiten wie auch die jeweiligen Akzeptanzgrenzen bestimmt werden. Die Aufteilung und Zuweisung der Beteiligungsweisen an der Hervorbringung einer gemeinsamen Ordnung im Zusammenleben wird nicht bei jeder wiederkehrenden Begegnung von Neuem bestimmt, sondern verfestigt sich zu familienspezifischen, jedoch grundsätzlich wandelbaren Tätigkeits- und Zuständigkeitsprofilen, die aus den unterschiedlichen Perspektiven auch unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. So beschreibt Frau Müller die häusliche Organisation und die Einrichtung gemeinsamer Strukturen im Zusammenleben als ihre persönliche Herstellungsleistung, wohingegen Herr Franke in erster Linie eine problematische Vermischung seiner Arbeitssphäre als Musiker mit seinem Anspruch auf Teilhabe am Zusammenleben beklagt. Beide haben ebenso wie Haya und Luis auf unterschiedliche Weise in einer Vielzahl kleiner Alltagstätigkeiten Anteil an der praktischen Ausformung des gewohnten Zusammenlebens. Miteinander übereinstimmend sehen Frau Müller und Herr Franke die familienspezifische Dichte und Regelmäßigkeit von Kopräsenz im Zusammenleben als wünschenswert an – trotz ihres gemeinsamen Erfahrungshintergrunds einer anderen, weniger geregelten Lebensweise früher. Das gewohnte Zusammenleben wird realisiert und aktualisiert, indem die Beteiligten daran teilhaben. Sie müssen dafür gar nicht unbedingt immer anwesend sein, weil auch Erwerbstätigkeit oder Einkäufe zum ›gewohnten‹ Zusammenleben beitragen. Auch die Hervorbringung von Kopräsenz bedarf in vielen Fällen, wie z.B. einer gemeinsamen Mahlzeit, zeitlich darüber hinausreichender Maßnahmen

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(Kochen, Aufräumen und Reinigen), die auch in wechselseitiger Abwesenheit ausgeübt werden können. Die Familienmitglieder haben an diesen Prozessen unterschiedlich teil, auch hinsichtlich eines Wissens von diesen Prozessen. Die kleinteiligen Tätigkeiten im gewohnten Zusammenleben, das Vorausplanen, das Koordinieren von den eigenen Tätigkeiten und anderen Akteuren, die Vor- und Nachbereitungen, werden mit divergierenden Aktivitäts- und Aufenthaltsmustern zu ungleichen Teilen getragen. Die Verteilungen können mit einem individuellen Kontrollanspruch über die jeweilige Ausführung korrelieren und auch an andere, gegebenenfalls Bedienstete, wie z.B. Haushaltshilfen, delegiert werden. Bei Müller/ Franke stellen sich jedoch nur Fragen einer Tätigkeitsverteilung im Rahmen des Zusammenlebens. Gruppeninterview zum Familienalltag, auf der Terrasse am Gartentisch Der Forschende hat nach einer offenen narrativen Phase danach gefragt, worüber zuhause gestritten werde. Herr Franke, Frau Müller und Haya beziehen diese Frage ausschließlich auf die Ebene der Paarbeziehung. Dennoch merkt Herr Franke scherzhaft an, sie würden sich doch eigentlich gar nicht streiten. Während Luis am Tisch in ein kleines elektronisches Spielgerät vertieft ist, thematisiert Haya strittige Geldfragen, doch widersprechen ihre Eltern, Geld sei kein wesentliches Streitthema, obwohl Geldknappheit manchmal zu Angespanntheiten führen könne. Frau Müller überlegt, während sie mit Hayas Haaren am Pferdeschwanz spielt. Sie schaut zu Herrn Franke. Frau Müller:

Forschender:

Tja:a; also wir streiten uns, °weiß ich nicht° (.) ich streite. {sie schaut zum Forschenden} ☺(1)☺ {sie schaut kurz zu Herrn Franke und wieder zum Forschenden} ☺wenn dann☺; ☺(.)☺ ⎣☺(.)☺.

Frau Müller schaut nachdenklich nach unten. Herr Franke sitzt ihr zugewandt gegenüber und sieht sie ruhig an. Frau Müller: Forschender:

Ja um, denk ich; eher (4) {sie schaut zu Herrn Franke und dann zum Forschenden, während sie spricht} ja also so was, wie so Kleinigkeiten. Mhm,

Frau Müller schaut zu Herrn Franke und wendet sich daraufhin wieder zum Forschenden. Frau Müller:

Ne? oder; oder die dann so groß sind; in ’ner; in so ’m Zusammenleben. {sie wechselt mit ihrem Blick zwischen dem Forschenden und Herrn Franke} ob man jetzt das hundertste Mal kocht und auch den Tisch deckt und hinterher auch wieder abdeckt.

Haya hat neben Frau Müller sitzend die Schultern leicht angezogen und grinst wohlig, während Frau Müller sie mit Hayas Pferdeschwanz im Nacken kitzelt.

152 | F AMILIÄRE R ÄUME Frau Müller:

und nicht dann mal; hundertmal kocht nur, und der andere deckt hundertmal den Tisch ab, und wischt hinterher auch wieder ab. so was. also das sind so wirklich (.) eher so diese; diese Alltagssachen. [F4E2: 00h 48m 57s – 00h 49m 43s]

Streit gehe überwiegend von ihr aus, so Frau Müller, und zwar überwiegend aufgrund von Anlässen, die vielleicht als wenig relevant erscheinen könnten. Sie beschreibt diese als »Kleinigkeiten« und »Alltagssachen«, die im Zusammenleben »dann so groß sind«, weil sie durch ihre regelmäßige Anhäufung und ihre Zeitbindung in der Alltagspraxis das große Ganze des Zusammenlebens tangieren und daher ein wiederkehrendes, sich verfestigendes Konfliktthema schaffen können. Im Konflikt um das Tisch(ab-)decken kulminiert eine Differenz der verschiedenen Positionen und damit verbundener Perspektiven hinsichtlich der geteilten Alltagsroutine im Zusammenleben. Frau Müller stellt die wechselseitige Zuweisung von Tätigkeitsbereichen nicht grundsätzlich in Frage, doch wehrt sie sich gegen eine Verfestigung von zwei Handlungssphären als persönlich zugeordnete ›Handlungsressorts‹ (›Hausarbeit‹ und Erwerbsarbeit). Zwar könnten in dieser Passage auch Haya oder Luis in das Streitthema zum Tisch(ab-)decken einbezogen sein, doch ist hier von der Paarbeziehung die Rede, was auch dadurch kenntlich wird, dass die Interaktion zwischen Frau Müller und Haya ohne Bezug auf die verbale Thematik bleibt, Haya sich sichtlich wohl fühlt und Frau Müller im Singular davon spricht, dass »der andere« den Tisch (ab-)decken könnte, wenn sie schon kocht. Frau Müller wendet sich gegen ein implizites Arrangement, in dem gerade auch die »Kleinigkeiten« der alltäglichen Arbeit im Haushalt ausschließlich ihr überlassen bleiben, während Herr Franke zwar ebenfalls zuhause ist, aber auf die Erwerbsarbeitssphäre fokussiert bleibt. Unter der Voraussetzung wiederkehrender Auseinandersetzungen enthält sich Herr Franke dieser kleinteiligen Handlungsvollzüge entweder, weil sie seine Erwerbsarbeit zeitlich durchkreuzen und er daher keine persönliche Zuständigkeit sieht. Oder der Tätigkeitsbereich entzieht sich seiner Aufmerksamkeit aufgrund einer fehlenden Wahrnehmungsroutine für das Erforderliche. Beide Erklärungsmuster als Grundlage einer Auseinandersetzung stehen nicht konträr zueinander, weil die Vollzugs- und Wahrnehmungsroutinen, das Übergehen und Übersehen, im Konzept des Habitus nach Pierre Bourdieu verbunden sind – durch eine Sozialisationsgeschichte begründet, aber in der Alltagspraxis prinzipiell auch bearbeitbar (vgl. Bourdieu 1997: 100ff.; 2001: 177ff.).28

28 Bourdieu schreibt hinsichtlich seines Konzepts des Habitus, diesem könne nicht »nach der Maxime ›Alles oder Nichts‹ verfahrend, ein vollkommen transparentes Bewußtsein einem gänzlich opaken Unbewußten« gegenübergestellt werden (Bourdieu 1979: 207).

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Frau Müller tritt im Streit für die Wahrnehmung dieser »Kleinigkeiten« und »Alltagssachen« ein, wohingegen eine verfestigte Tätigkeitsverteilung entsprechende Dispositionen, Haltungen und Rollenbilder stabilisiert. Der Streit ist ein Krisenmoment, das zugunsten einer Kontinuität des Zusammenlebens in der Regel jedoch nicht auf Dauer gestellt wird, denn er droht in seiner emotionalen Dynamik auch, die persönliche Beziehung ›zu tief‹ in das Konfliktthema zu involvieren.29 Gruppeninterview zum Familienalltag, auf der Terrasse am Gartentisch Frau Müller denkt im Verlauf des offenen narrativen Teils fünf Sekunden lang nach, was es »sonst« zum Alltag zu berichten gäbe. Frau Müller:

Also im Prinzip mach’ ich schon den Haushalt;

Frau Müller hat sich beim Sprechen vorgebeugt und lehnt sich nun wieder zurück. Herr Franke: Frau Müller:

Forschender: Frau Müller: Herr Franke:

{Fasst sich kurz an die Nase und murmelt} Ja. obwohl ich, eine Stimme in mir auch immer wieder schreit, {sie hebt seitlich beide Fäuste hoch und schüttelt sie} wider den alten; wider die alten Rollenverhalten? {sie lächelt beim letzten Wort zum Forschenden} Mhm, Aber (2) Die schreit mich auch manchmal an; deine Stimme da.

Herr Franke lacht kurz; Frau Müller lächelt und schaut über ihre Schulter kurz nach rechts. Frau Müller:

Letztendlich mache ich’s doch. also; ich mach eigentlich den Haushalt. (1) und kochen tu’ ich natürlich jetzt auch, weil Fabio mittags immer weg ist; (1) früher ham wir uns da eigentlich auch mehr abgewechselt. aber im Augenblick ist es gerade organisatorisch schwieriger; {sie fährt sich mit einer Hand durch ihre Haare und nickt zum Forschenden} da koche eigentlich ich auch immer. [F4E2: 00h 18m 45s – 00h 19m 26s]

29 Heinz Messmer unterscheidet in einer systemtheoretischen Analyse zwischenmenschlicher Konflikte zwischen vier Emergenzniveaus als Eskalationsstufen, auf denen die beteiligten Personen zunehmend involviert werden (Messmer 2003). Diese reichen von eher instabilen »Konfliktepisoden« bei auftretender »Widerspruchskommunikation«, über eine Verfestigung des Konflikts zu einem themenbezogenen »Sachkonflikt«, in den die Beteiligten zunehmend ganzheitlich einbezogen werden können, bis sich dieser zu einem »Beziehungskonflikt« entwickelt, in dem Schuldattributionen die Oberhand gewinnen und schließlich im »Machtkonflikt« die Parteien versuchen, sich mit Zwangsmitteln durchzusetzen. Dabei setzt Messmer der scheinbaren Linearität dieser analytischen Schichtung entgegen, dass Konflikte in ihrer systemischen Reproduktion empirisch eher diskontinuierlich und reversibel, allerdings auch zyklisch sind. Konflikte müssen nicht eskalieren, tendieren dafür aber zur Wiederholung.

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Obwohl sie sich »wider die alten Rollenverhalten« ausspricht und alltagspraktisch gegen dieses Modell der Tätigkeitsverteilung in wiederkehrenden Auseinandersetzungen anzukämpfen versucht, wie Frau Müller erläutert, erledige sie letztlich nahezu allein den Haushalt, was Herr Franke bestätigt. Mittags koche sie »jetzt auch« immer, weil Herr Franke »natürlich jetzt auch [...] mittags immer weg ist« um Geld zu verdienen, was »es gerade organisatorisch schwieriger« mache. Den Haushalt und das Kochen führt Frau Müller als voneinander getrennte Tätigkeitsbereiche auf. Organisatorisch schwieriger zu verteilen ist in diesem Zusammenhang aber zuvorderst das Vorbereiten der Mittagsmahlzeit, weil Herr Franke mittags oft nicht ›da‹ sein kann. Die Begründung ›greift‹ nicht hinsichtlich weiterer Haushaltstätigkeiten. Früher hätten sie sich aber auch nur beim Kochen »mehr abgewechselt«. Da ihr das Vorbereiten der Mahlzeit nun zusätzlich allein zufällt, hat sich eine Festlegung auf »die alten Rollenverhalten« für Frau Müller »im Augenblick« zugespitzt. Sofern Herr Franke ›da‹ sein kann, bilden die Mittagsmahlzeiten und ihre Vorbereitung in diesem Interviewausschnitt einen Ankerpunkt der Auseinandersetzung, an dem sie eine weitere Verfestigung dieser Rollenverhalten bekämpft, mitunter auch im lauten Streit, wie Herr Franke mit einem Kommentar anmerkt, dem er eine ironischen Note gibt. Wenn er aber gelegentlich über Mittag zuhause ist und den Tisch decken könnte, warum sollte es zu diesen Gelegenheiten dann organisatorisch schwierig sein, dass er kocht? Kommt er bei diesen Anlässen in etwa zur Mittagszeit nach Hause? Naheliegend ist, dass Frau Müller ihm zugesteht, nicht hinreichend Zeit zum Kochen zu haben – auch, weil er über den fehlenden Freiraum zur Ausübung seiner Erwerbstätigkeit klagt. Die gemeinsame Praxisgeschichte einer Ausformung des Zusammenlebens ist eine Geschichte des wechselseitigen Einstellens aufeinander, auch der Tätigkeitsund Zuständigkeitsverteilungen mit- und gegeneinander, in die sich alle Beteiligten einschließlich der Kinder einerseits einpassen, und die andererseits wiederkehrend in beweglichen Grenzen ausgehandelt wird. Frau Müller und Herr Franke sind sich zwar darüber einig, dass sie tendenziell einem ›traditionellen‹ Muster der Tätigkeitsverteilung folgen, beurteilen die eigenen Spielräume und die eigene Positionierung jedoch unterschiedlich. Sie nehmen in der Narration des Interviews divergierende Positionen zu Zwängen und Gestaltungsmöglichkeiten ein, die ihren vorherigen Darstellungen zur Strukturierungsthematik entspricht. Gruppeninterview zum Familienalltag, auf der Terrasse am Gartentisch Herr Franke:

Aber ja:a es sind schon; ja natürlich auch klassische Rollenverhalten, sag ich mal;

Haya kommt im Hintergrund mit einer großen Kekspackung durch die Terrassentür.

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Haya: Herr Franke: Forschender:

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Ich hoffe das sind die richtigen. {mit einem Blick in die Tüte} ja sind. ⎣deren Opfer wir ☺auch sind☺. Mhm; (.) ja.

Frau Müller schaut kurz zum Forschenden. Während Herr Franke spricht, beobachtet sie, wie Haya Kekse auf den Keksteller füllt. Frau Müller:

Naja (.) oder Täter.

Frau Müller lacht kurz; der Forschende lacht mit ihr. Herr Franke: Frau Müller:

Naja, naja. ich bin Opfer. ☺Natürlich☺.

Während Frau Müller aus ihrer Tasse Tee trinkt, lacht Herr Franke im Anschluss auf. Frau Müller sieht ernst zum Forschenden, zieht ihre Augenbrauen hoch und nickt leicht. Frau Müller:

Ich bin Täter.

[F4E2: 00h 19m 39s – 00h 20m 00s]

»Täter« ist Frau Müller nicht nur aufgrund ihrer Position als die ›Macherin‹ im gemeinsamen Haushalt, sondern auch hinsichtlich der Konsequenz, dass sie mit ihren häuslichen Arbeitsleistungen ein diskursiv präformiertes Handlungsressort ausfüllt, dessen sozialhistorische und biographische Vorgeformtheit sie in den Kleinigkeiten des Alltags mit reproduziert, solange sie diese Aufgaben allein übernimmt. Vor dem Hintergrund der wiederholten Auseinandersetzungen, die in ihrer Darstellung vornehmlich durch sie angestoßen werden, haben beide vor Augen, dass die etablierte Tätigkeitsverteilung einem ›Ressort‹-Modell folgt, dem ›klassischerweise‹ eine Geschlechterdifferenz zugrunde gelegt wird. Sind sie nicht nur Täter, sondern auch Opfer dieser »alten Rollenverhalten« oder sind auch sie Opfer, wie viele andere Paare auch? In beiden Lesarten beinhaltet die Opferperspektive von Herrn Franke ein vorherrschend passives Moment. Ein potentiell egalitärer Anspruch, das Zusammenleben anders als nach diesem ›klassischen‹ Modell einzurichten, scheitert in dieser Perspektive an den ausgedeuteten Rahmenbedingungen bzw. gegenüber einem übermächtigen Verhaltensschema der Sozialisation. In einer Akzentverschiebung zu Frau Müller spricht Herr Franke nicht von »alten«, sondern von »klassischen« Rollenverhalten. ›Klassisch‹ bedeutet nicht einfach ›alt‹ im Sinn von etwas unzeitgemäß und vielleicht auch der Vergänglichkeit ausgesetzt; ›Klassisches‹ hat sich bisher bewährt und ist sozusagen zeitlos. »Opfer« einer »klassischen« Tätigkeitsverteilung zu sein impliziert, dass zwar potentielle Gestaltungsspielräume zuerkannt werden, letztlich aber die Rahmenbedingungen das »klassische« Modell einer an der Geschlechtszugehörigkeit orientierten Tätigkeitsverteilung aufzwingen und dafür auch verantwortlich gemacht werden können. Als »Opfer« liegt es nur bedingt in der eigenen Hand, dieser althergebrachten Organisationsweise etwas entgegensetzen zu können.

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Frau Müller hebt dagegen auch hier ihren eigenen Gestaltungsanspruch im Tun besonders hervor. Indem sie ihre Täterschaft als Mitwirkung an den »alten Rollenverhalten« betont, bekräftigt sie das performative Vollzugsmoment der eigenen Routinen, mit denen der Alltag im Haushalt bewältigt wird. Im Wissen um die weitreichenden Effekte ihrer alltäglichen körperlichen Handlungsvollzüge, die sich typisiert in ›Handlungsressorts‹ und Geschlechterbildern verfestigen, reagiert Frau Müller auf die Äußerung von Herrn Franke, indem sie eine zugespitzte Gegenposition einnimmt. Sie verweist auf die eigene Verantwortlichkeit in der Reproduktion dieser »alten Rollenverhalten«. Zuerst als Emergenz des gemeinsamen Tuns und schließlich, als Herr Franke seine eigene Verantwortlichkeit scherzend zurückweist, als Konsequenz des eigenen Tuns. In dieser Thematisierung der alltagspraktischen Arbeit im häuslichen Zusammenleben weisen beide über das Streitfeld der Verhaltensweisen und Tätigkeitsverteilung hinaus auf zugrundeliegende Positionierungen und die jeweiligen Perspektiven zu Gestaltungsfähigkeit und Steuerbarkeit im Zusammenleben. Ihre Positionierungen als »Opfer« und »Täter« in der Reproduktion von Verhaltensweisen, die im Zusammenleben mit ausgeformt werden, erscheinen wie prägnante Metaphern ihrer divergenten Perspektiven auf die Organisation des Zusammenlebens: Aufgrund wahrgenommener Handlungszwänge einer Strukturierung des Zusammenlebens mit Kindern sieht Frau Müller sich bei der Hervorbringung einer gemeinsamen Ordnung in der Verantwortung einer ›führenden‹ Position; Herr Franke arrangiert sich mit ihren Organisationsleistungen, indem er deren praktische Realisierung mit betreibt und die eigene Zeitplanung dementsprechend einpasst. Er beklagt aber auch ein Defizit an Strukturierung, welche primär von ihm selbst hergestellt werden müsste, und bleibt am idealen Modell einer Sphärentrennung zwischen Arbeit und Familie orientiert, in dem familiale Strukturierungsanforderungen kaum in die ›festen‹ Zeiträume der Erwerbsarbeit hineinfließen. Seine Selbstverortung als »Opfer« lässt Frau Müller lachend unwidersprochen und geht dadurch auf die von ihm wiederkehrend genutzte ironische Ebene ein, die sie bei seinem vorherigen Einwurf noch ignoriert hat. Zum einen besteht implizit Einigkeit darüber, dass die angesprochene Frage der Verantwortlichkeit im Gesprächsverlauf der Forschungssituation nicht ernsthaft diskutiert werden muss oder sollte, sondern der ins Spiel gebrachte Gegensatz von »Opfer« und »Täter« so stehen gelassen werden kann. Die Selbstetikettierung ist vor dem Hintergrund ›klassischer‹ geschlechtskodierter Rollenzuschreibungen als Opfer und Täter ein hinnehmbarer Scherz. Darüber hinaus ist Frau Müller jedoch ernst. Sie distanziert sich von Herrn Frankes Ironie, indem sie ihre ›Täterschaft‹ unterstreicht, die sie den thematisierten Unterlassungen und Ausblendungen Herrn Frankes entgegensetzt. Diese werden zwar mit dem Erfordernis des Gelderwerbs und daraus resul-

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tierenden »organisatorischen Schwierigkeiten« gemeinsam gerechtfertigt. Doch indem er sich ironisch einem impliziten Anspruch auf mehr Eigeninitiative entzieht, ist sie hier umso mehr auf einen Status Quo ›alter Rollenverhalten‹ zurückgeworfen, dessen Reproduktion sie zugunsten des ›Hausfriedens‹ im alltäglichen Tun ermöglicht, und in die sich beide entgegen anderer Vorsätze eingepasst haben. Die Arbeit am Alltag und die Arbeit an sich In den fokussierten Szenenausschnitten treten besonders die individuelle Arbeitsverteilung und divergente Subjektpositionierungen hinsichtlich der Ausformung des Familienlebens als Differenzbereiche hervor, wobei Gestaltungsräume, empfundene Einschränkungen und Idealvorstellungen aus divergierenden Perspektiven thematisiert werden. Das Zusammenleben ist bei Müller/Franke intensiv auf ein gemeinsames ›Zuhause‹ konzentriert, in dem Frau Müller und Herr Franke wiederkehrend über ausgedehnte Tagesabschnitte präsent sein können, weil sie als Musiker vornehmlich freiberuflich erwerbstätig sind. Unter der Voraussetzung ihrer täglichen Präsenzzeiten pflegen sie, an gemeinsamen sozio-kulturell fundierten Leitvorstellungen orientiert, eine regelmäßige, verhältnismäßig dichte Alltagsstruktur gemeinsamer Mahlzeiten. Diese wird vor allem von Frau Müller tag für tag reproduziert, die damit an einen Erfahrungsraum ihrer Kindheit anschließt. Das Zusammenleben als Familie fordert allen Beteiligten nicht nur zeitliche Koordination zur wiederkehrenden Hervorbringung gemeinsamer Präsenzzeiten, sondern darüber hinaus auch habituelle Einpassungen ab. Diese Einpassung infolge fortlaufender praktischer und emotionaler Abstimmungsprozesse, dem Einstellen auf wechselseitige Erwartungen und funktionale Routinen zur Alltagsbewältigung, beinhaltet Disziplinierungen und Lernprozesse und für alle Beteiligten. Während Haya und Luis zwar auch außerhalb des Familienlebens, in der Schule oder auf der Straße, vielfältige Orientierungsbezüge hinzugewinnen, sind sie in den Erfahrungsraum des gemeinsamen Wohnens hineingewachsen und daher in besonders prägender Weise auf diesen bezogen. Frau Müller und Herr Franke thematisieren und bearbeiten die Organisation des Familienlebens dagegen auch vor den unterschiedlichen Erfahrungshintergründen ihrer früheren Lebensweise. Ihre habituelle Einpassung in das ›gewohnte‹ Zusammenleben – darin stimmen Herr Franke und seine »Gegnerin« und »Lebensgefährtin« Frau Müller überein – vollzieht sich auch durch eine ›Arbeit an sich‹, die mit einer ›Beziehungsarbeit‹ innerhalb einer gemeinsamen Praxisgeschichte korrespondiert und dabei nicht zuletzt auch eine transformative ›Gefühlsarbeit‹ beinhaltet (vgl. Hochschild 1979). Denn es müssen nicht nur befähigende und wechselseitig akzeptierte Verhaltensmuster antrainiert, sondern auch darauf abgestimmte Orientierungs- und Erklä-

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rungsmuster ausgebildet werden, mit denen die Ansprüche und Anforderungen im Zusammenleben wiederkehrend für einen selbst tragfähig zu machen sind. Diese ›Arbeit an sich‹ tritt in den Darstellungen als eine sukzessive Umbildung von Dispositionen und Haltungen innerhalb der Zeit hervor, die sowohl durch Entwürfe und Rationalisierungen vorangetrieben wird als auch im ›Schliff‹ der Alltagspraxis unterschwellig und ungesteuert, teils auch gegen Vorbehalte geschieht. Der Tagesverlauf ist unter Berücksichtigung eigener Vorstellungen, wechselseitiger Erwartungen und überindividueller Rahmenbedingungen einerseits stark ›vorentworfen‹ und muss unter Umständen andererseits noch mehr als »früher« wiederkehrend durchgedacht und ad hoc neu geplant oder reguliert werden, auch weil das ›Vorentworfene‹ der Routinen selbst zum Problem gemacht werden kann, wie hinsichtlich der Arbeitsverteilung bzw. einer Rollen- und Ressortverteilung zwischen ›Haus-‹ und Erwerbsarbeit. Diese Fragen sind im Fall von Bauer/Lange, wegen einer vergleichsweise großen geographischen Distanz der Erwerbssphäre von Herrn Lange, mit anderen Fragen wechselseitiger Abstimmungen verbunden.

D E - UND R EZENTRIERUNGEN : M ULTILOKALITÄT IM R AHMEN DES Z USAMMENLEBENS Wie zu Beginn des Kapitels ›Befestigtes Zusammenleben‹ dargelegt wurde, ist in der Familienforschung der vergangenen drei Jahrzehnte eine Reduzierung des Familienbegriffs auf den Aspekt der Koresidenz problematisiert worden – zum einen infolge einer Wiederkehr vielfältiger Konstellationen privater Lebensformen, zum anderen infolge der rapiden Weiterentwicklung und Verbreitung von Transportund Kommunikationstechnologien, mit denen die Bedeutung geographischer Distanzen kulturhistorisch durch technikbasierte Informations- und Interaktionsformen stark relativiert worden ist. Die Bedeutsamkeit von Familienbeziehungen über einzelne Haushaltsgrenzen hinaus ist entsprechend betont worden. Familienbeziehungen über mehrere Generationen, in denen nicht alle Angehörigen gemeinsam am gleichen Ort leben, können dafür als gängiges Beispiel gelten, weil ›alte‹ Beziehungen durch sogenannte ›neolokale‹ Familiengründungen nicht unbedingt obsolet werden – diese Beziehungen können bei neu verteilten Konfigurationen von Fürsorge und Kooperation unter Umständen auch neu belebt werden. Das Stichwort der ›multilokalen Mehrgenerationenbeziehungen‹ (vgl. Bertram 1995, 2000, 2002) war diesbezüglich – ebenso wie der zunehmend in Gebrauch kommende Netzwerkbegriff – darauf ausgerichtet, den Blick über den Aspekt der Koresidenz hinaus zu öffnen. Familienzusammenhänge seien als Beziehungsnetze wahrzunehmen, die durch Formen der Kommunikation und Kooperation lebendig

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gehalten werden – wobei entgegen einer unterstellten Homogenitätsannahme, die aus der Gleichsetzung mit einem gemeinsamen Haushalt resultiert, von divergierenden, ›egozentrierten‹ Perspektiven auszugehen sei, die nicht zuletzt durch subjektive räumliche Bezüge bedingt sind (vgl. Bertram/Marbach/Tölke 1989; Bien/ Marbach 1991; Burkart 2008: 28ff.; Marbach 2008a; 2008b).30 Im Zusammenhang mit der Netzwerkmetapher und einer entsprechenden Blickweite auf die Vielfalt möglicher Beziehungsformen, die auch mit technikbasierten Interaktionsformen wie Telefonaten regelmäßig gepflegt werden können, wird in den Sozial- und Kulturwissenschaften gegenwärtig verstärkt der Begriff der Multilokalität diskutiert (vgl. Gyr/Rolshoven 2007; BBSR 2009; Reuschke 2010; Schier 2010). Durch diesen Begriff erhält die Vernetzungsthematik der letzten Dekaden gewissermaßen eine ›Erdung‹, weil nicht nur die Beziehungen zwischen Personen an entfernt voneinander liegenden Orten mit Aufmerksamkeit bedacht werden, sondern auch den Beziehungen zu den Orten selbst Gewicht gegeben wird. In einer sehr weiten Begriffsverwendung liegt der Fokus auf einer intensiven ›Mobilisierung‹ der Alltagswelt und dient vor diesem Hintergrund einer Charakterisierung örtlich verstreuter Aufenthaltsmuster im Sinne eines ›Raumquerens‹. Zunehmend ›multilokal‹ sind in dieser Begriffsverwendung z.B. die alltäglichen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen, insbesondere in der Großstadt (vgl. Büchner 2010: 520; Tully 2009). In dieser weiten Verwendungsweise verweist der Begriff aus einer modernitätstheoretischen Perspektive auf die Tendenz der Aktivitätsverteilung auf vergleichsweise entfernt voneinander liegende Orte. Diese Tendenz wurde in den 1990er Jahren z.B. in Absetzung von Martha Muchows Konzept des Streifraums (vgl. Muchow 1980) von Helga und Hartmut J. Zeiher als eine ›Verinselung‹ des individuellen Lebensraums charakterisiert (vgl. Zeiher/ Zeiher 1994; Zerle 2007). Im Vergleich beider Begriffe ist ›Multilokalität‹ allgemeiner verwendbar, verliert deshalb aber auch an Prägnanz, weil kein besonderer Akzent auf die Mobilitätsproblematik gelegt wird, die im Begriff der Verinselung als Abhängigkeit von Fortbewegungsressourcen mit anklingt (z.B. von Transportdiensten durch Mama oder Papa etc.). Der Begriff ›Multilokalität‹ bleibt gegenüber dieser Ressourcenabhängigkeit neutral. Fortbewegung als Ortsveränderung und ein damit verbundenes zwischenzeitliches, mehr oder weniger eingeplantes Verweilen an verschiedenen Orten sind jedoch universelle und permanente anthro-

30 Die 3-jährige Anna würde ihre Tante Maria in Italien z.B. eher nicht zur Familie zählen, als Frau Schneider sie im Erhebungsprozess danach fragt, um Annas persönlichen Fragebogen auszufüllen – obwohl sie während des vergangenen Sommers dort zu Besuch gewesen ist. Für Herrn Rocchi und Frau Schneider, die den gemeinsamen Urlaub geplant hatten, sind die verwandtschaftlichen Beziehungen nach Italien von mehr Relevanz.

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pologische Vorkommnisse, so dass der Begriff in dieser Verwendungsweise stark dem Mobilitätsbegriff angenähert wird.31 In einer konkreter gefassten Begriffsverwendung, die mit Blick auf das Familienleben vorherrschend ist, steht entgegen der Mobilität gerade eine Stabilität bestimmter Ortsbezüge im Vordergrund. ›Multi-Lokalität‹ verweist hier auf die mehr oder weniger dauerhaften Lokalisierungen durch eine Lebenspraxis des Wohnens – eine idealtypische Lokalisierung individueller Ortsbezüge auf der Grundlage überwiegend sesshaft gestalteter Lebensweisen – trotz Mobilität und Vernetzung (vgl. Bertram 2000, 2002; Bien 2000; Schier 2010). Der Begriff der Multilokalität in diesem Sinn verweist auf einen ›dezentrierten‹ Lebens- und Wohnzusammenhang als eine Lebensform, die alltagspraktisch zwischen einem täglichen Pendeln und Wohnortwechseln angesiedelt ist (Weiske/Petzold/Zierold 2009: 67). Dieser Bezug auf ein ›multi-lokales‹ Wohnen gründet sich vorwiegend auf ethnologische Arbeiten, in denen auch von neo-, patri-/matri- oder bilokalen Formen des Zusammenlebens die Rede ist (vgl. Nave-Herz 2004: 34). In der Erforschung außereuropäischer Kulturen bereits in einer längeren Tradition (vgl. Rolshoven/Winkler 2009: 99), findet der Begriff seit einiger Zeit auch in volkskundlichen Analysen europäischer Wohnkulturen im Spannungsfeld von Sesshaftigkeit und Mobilität Verwendung (vgl. Rolshoven 2004, 2009a, 2009b; Gyr/Rolshoven 2007; BBSR 2009; Seidl 2009). ›Multilokales Wohnen‹, als »Organisation des Lebensalltags über mehrere Wohnorte hinweg«, wird in diesem Zusammenhang als »eine zunehmend realisierte und sich in ihrer Formenvielfalt ausdifferenzierende Option« individueller Lebensführung begriffen (Hilti 2009: 77). Mit dieser Begriffsverwendung wird der Beobachtung Ausdruck gegeben, dass Individuen oder Gruppen nicht notwendig auf einen kontinuierlichen Bezugsort als ›wohnlichen Lebensmittelpunkt‹ festgelegt sind. Individuen gehören unter Umständen unterschiedlichen Wohnverbänden an (wie manche Kinder in sogenannten ›Nachtrennungsfamilien‹); sie ändern als Gruppe ihren Wohnort durch verhältnismäßig häufige Wohnungsumzüge (hohe Wohnsitzmobilität) oder sie pendeln im Familienverbund oder auch individuell zwischen zwei und mehr Wohnsitzen bzw.

31 Teilweise wird diesbezüglich auch ein Begriff des Nomadentums eingeführt, wodurch die Beobachtung wachsender Mobilitätschancen und -zwänge jedoch eher verklärt wird, weil in vielen Fällen nichtsdestotrotz mit verhältnismäßig ›festen‹ Adressen gelebt wird. Markus Schroer betont daher, dass die Perspektive auf eine »neonomadische Ära« der Vorstellung einer Entwicklung Vorschub leiste, die zu einem Ende der Sesshaftigkeit führe. Was dabei jedoch übergangen werde, sei die Tatsache, »dass Raum, Architektur und Wohnen keine Gegenkonzepte oder Widerstände gegen Bewegung bilden, sondern selbst in Bewegung geraten.« (Schroer 2006a: 115)

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Mietarrangements. Die Literaturwissenschaftlerin bell hooks schreibt dazu überspitzt: »at least for richer households of the ›west‹, ›home‹ is no longer one place. It is locations« (hooks 1991: 148, zitiert nach Urry 2002: 258). Doch wird insbesondere in der empirischen Kulturwissenschaft darauf aufmerksam gemacht, dass ›Mehrörtigkeit‹ von Behausungen historisch immer auch ein Phänomen an den gesellschaftlichen ›Rändern‹ gewesen ist (vgl. Hilti 2009; Rolshoven/Winkler 2009). In diesen aktuellen Forschungszusammenhängen wird hervorgehoben, dass multilokales Wohnen – auch multilokales Zusammenleben von Familienmitgliedern – in den vergangenen Dekaden zu einem Phänomen ›in der Mitte der Gesellschaft‹ geworden ist (vgl. ebd.).32 Vor dem Hintergrund auch weiterhin prinzipiell sesshafter Lebensweisen macht der Begriff der ›Lokalität‹ dabei ein inhärentes Spannungsverhältnis kenntlich, da Individuen oder Gruppen sich in der Regel dennoch konkreten ›Orten des Eigenen‹ zuordnen und über abgesicherte, eingerichtete Orte ihre lokale und soziale Zugehörigkeit bestimmen, manifestieren und stabilisieren. Diese biographischen Lokalisierungen können mit Marc Augé trotz Dynamisierung und Dezentrierung in der Lebensführung als »anthropologische Orte« schlechthin angesehen werden, denen Augé dialektisch die »Nicht-Orte« gegenüberstellt – die unpersönlichen Transiträume, die eher zum Durchqueren und nicht zum Verweilen angelegt sind (vgl. Augé 1994). Die Perspektiven auf solche anthropologische ›Orte des Eigenen‹ divergieren individuell, zumal bei multilokalen Wohnformen. Doch auch eine gemeinsame häusliche Binnensphäre umfasst keinen homogenen Raum, sondern ist nach persönlichen Graden des Privaten ausdifferenziert. In Hinblick auf den Wohnbereich schreibt die Sozialphilosophin Beate Rössler daher von einem »Zwiebelmodell« verschiedener »Sphären von privat und öffentlich«. Innerhalb des Wohnbereichs gibt es kulturhistorisch typisierte Rückzugsräume und Versammlungsorte, graduell mehr oder weniger private und öffentliche Bereiche (Rössler 2001: 258ff.; vgl. Burkart 2002: 404f.; Terlinden 2010). Das Konzept von Privatheit verweist diesbezüglich nicht nur auf eine abgeschirmte und verbindende Sphäre für das Zusammensein als Familie, sondern auch auf die innere Segmentierung und ein Rück-

32 Siehe z.B. die Schumpeter-Nachwuchsgruppe ›Multilokalität von Familie – Die Gestaltung von Familienleben bei räumlicher Trennung‹ am Deutschen Jugendinstitut (Laufzeit 2009-2013) und das DFG-Projekt ›Neue multilokale Haushaltstypen‹ an der Technischen Universität Chemnitz (Laufzeit 2006-2008); vgl. auch BBSR 2009. In Psychologie und Sozialwissenschaften sind bereits seit den 1990er Jahren diverse Untersuchungen zu Multilokalität im Zusammenleben als Paar und Familie zu finden (für einen Forschungsüberblick vgl. Weiske/Petzold/Zierold 2008: 284). Zu ›globalen‹ Fernbeziehungen und Familien vgl. auch Beck-Gernsheim 2009; Beck/Beck-Gernsheim 2011.

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zugsbedürfnis vor den anderen Mitgliedern, die Einräumung einer »Ruhe für das Verhältnis zu sich selbst« (Rössler 2001: 262). So schätzen der 15-jährige Mathis und die 13-jährige Sarah Bauer z.B., dass sie die Familienwohnung nachmittags meistens ›für sich allein‹ haben können – womit vornehmlich die Abwesenheit ihrer Eltern gemeint ist (und Frau Bauer berichtete von den Irritationen, die im Anschluss an das erste Gruppeninterview deswegen noch nachzubearbeiten waren). Doch ist aus dieser Präferenz nicht auf eine Geringschätzung oder ein als negativ empfundenes ›Familienklima‹ zu schließen. Gruppeninterview zum Familienalltag, in der Küche am Küchentisch Mathis: Sarah:

Ich mag’s nur, ich komm lieber nach Hause und es ist erst mal leer und ich hab Ruhe. Ist bei mir aber auch so und ich komm aber vor dir nach Hause. [F1E2: 0h 09m 36s – 0h 09m 41s]

Sarah:

Also ich mag das eigentlich ganz gern, wenn ich dann; wenn ich so mit Mathis hier bin und meine Ruhe hab; muss ich ehrlich sagen. [F1E2: 0h 10m 52s – 0h 10m 57s]

B EI B AUER /L ANGE Sabine Bauer und Markus Lange, beide Mitte vierzig und er in etwa ein Jahr älter als sie, sind miteinander verheiratet und haben drei gemeinsame Kinder: den 15jährigen Sohn Mathis, die 13-jährige Tochter Sarah und die 10-jährige Tochter Tabea. Alle drei tragen den Nachnamen ihrer Mutter. Während ihrer Kindheit lebte Frau Bauer zuerst im Südwesten der Bundesrepublik Deutschland, bevor sie in ihrer Jugendzeit zusammen mit ihren Eltern nach Süddeutschland zog. Während ihrer Kindheit und Jugend war sie häufiger umgezogen, worauf bei zwei verschiedenen Gesprächsterminen beiläufig verwiesen wird. Herr Lange verbrachte seine Kindheit und Jugend in einer norddeutschen Kleinstadt, ebenfalls in der Bundesrepublik. Mathis, Sarah und Tabea wurden in Berlin geboren. Dort besuchen Sarah und Mathis verschiedene Gymnasien und Tabea eine Grundschule. Im Zeitraum der Erhebung sind sowohl Frau Bauer wie Herr Lange erwerbstätig und jeweils in einem Angestelltenverhältnis beschäftigt. Frau Bauer arbeitet mit einer Teilzeitbeschäftigung in Berlin; der Arbeitsplatz von Herrn Lange wurde vor Sarahs Geburt aufgrund einer Firmenübernahme sukzessive an einen anderen Standort verlagert und befindet sich inzwischen vollständig in Halle. Seine Erwerbstätigkeit ist mit gelegentlichen, projektbegründeten Dienstreisen verbunden. Vor in etwa fünf Jahren hat Herr Lange das tägliche Pendeln über die verhältnis-

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mäßig große Distanz zwischen Wohn- und Firmensitz aufgegeben und bezog eine Dienstwohnung am Arbeitsort. In der Regel fährt er am Montagmorgen mit einem Dienstauto von der Wohnung in Berlin zum Firmensitz und am Freitag von dort zurück, doch variiert der wöchentliche Rhythmus dieser Pendelbewegung in Abhängigkeit von den Orten und Zeiten wechselnder Projektarbeiten, so dass Herr Lange im Erhebungszeitraum zum Feierabend auch werktags in der Berliner Wohnung anzutreffen und zu allen vier Erhebungsterminen abends anwesend ist – was für den Rahmen des Zusammenlebens von allen als sehr ungewöhnlich bezeichnet wird. Regulär bleiben zwischen Montag und Freitag insbesondere Frau Bauer und Herr Lange auch über Telefonate miteinander in Kontakt. Herr Lange und Frau Bauer lernten sich in einer westdeutschen Universitätsstadt während ihrer Studiumszeit kennen, bevor Frau Bauer berufsbedingt nach West-Berlin umzog, wohin er ihr einige Monate später folgte. Vor ihrem Umzug nach Berlin hatten Frau Bauer ein gestalterisches und Herr Lange ein naturwissenschaftlich-technisches Studium absolviert, an das er in Berlin mit einer Universitätsanstellung anknüpfte. Einige Jahre später suchte Herr Lange eine privatwirtschaftliche Anstellung, war im ersten Jahr nach Mathis Geburt jedoch vorerst erwerbslos. In diesem Zeitraum ging Frau Bauer ihrer Erwerbstätigkeit nach und Herr Lange brachte Mathis mitunter auch zum Stillen an ihren Arbeitsplatz. Anfangs wohnten Frau Bauer und Herr Lange in Berlin noch getrennt, später in einem gemeinsamen Haushalt, wozu das bestehende Mietverhältnis von ihr fortgesetzt wurde, denn Frau Bauer hatte einer günstige und verhältnismäßig große Altbauwohnung mit Kohleofen in einer Wohngegend, die zu dieser Zeit aufgrund niedriger Wohnungsmieten bei gravierender Wohnungsknappheit besonders auch für junge zugezogene Erwachsene attraktiv war, wie Frau Bauer gegenüber Sarah darlegt. Aus verschiedenen Andeutungen lässt sich schließen, dass ein gemeinsamer Lebensstil als ›stimmig‹ mit dieser Wohngegend empfunden wurde. Den Stadtbezirk haben Frau Bauer und Herr Lange auch beim Erwerb ihrer Eigentumswohnung als Berliner Wohnsitz beibehalten. Nachdem Tabea geboren wurde, stand der einzige gemeinsame Umzug im Rahmen des Zusammenlebens als Familie in die neu erbaute Eigentumswohnung an. Mathis weiß noch, dass er bald darauf eingeschult wurde und Sarah kann sich, obwohl sie etwa drei Jahre jünger als Mathis ist, an eine Besichtigung des Rohbaus erinnern und dort insbesondere an das noch nicht fertige Treppenhaus. Die Eigentumswohnung im Hochparterre eines Wohnhauses, in dem noch weitere Wohnparteien leben, liegt an einer ruhigen Allee am Ende einer Reihe Berliner Altbauten, und grenzt mit der ›Hinterseite‹ an eine große öffentlich zugängliche Grünanlage an. Die Wohngegend enthält einen weitgehend gut erhaltenen und sanierten Bestand von Jugendstilbauten. Hinsichtlich der Wahl ihrer Eigentumswohnung

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haben finanziell vorteilhafte Förderbedingungen im Entscheidungszeitraum mit einer Präferenz für den zentral gelegenen Stadtbezirk zusammengewirkt. Ausschlaggebend für den Zeitpunkt eines Umzugs war auch das Alter von Mathis, weil die »Schulsituation« im damaligen Wohnumfeld, im Gegensatz zur positiven Einschätzung der Kindertagesstätte, als problematisch bewertet und daher eine andere Wohngegend bevorzugt wurde. Zudem war auch die »Wohnungssituation« in der gemeinsamen Dachgeschosswohnung mit zwei Durchgangszimmern nach Tabeas Geburt für Frau Bauer unzulänglich. Die Hintergründe einer Präferenz für Berlin als Wohnsitz gegenüber Halle, wohin ein Umzug ebenfalls denkbar gewesen wäre, wurden nicht explizit gemacht. Gesucht wurde damals eine Wohnung oder auch ein Haus vornehmlich in Berlin. Zu berücksichtigen ist diesbezüglich auch die geringere Distanz zwischen Berlin und Grüntal, wo sich ein gemeinsames Eigentumshaus befindet. Alle fünf verbringen die Wochenenden nahezu ausnahmslos gemeinsam in diesem alten Bauernhaus in Brandenburg, das in den 1990er Jahren noch vor Sarahs Geburt günstig erworben werden konnte. Ausgehend von diesem Haus in Grüntal, dessen Obergeschoss vor etwa sechs Jahren, bevor Herr Lange eine Dienstwohnung in Halle bezog, stark ausgebaut wurde (so dass Mathis, Sarah und Tabea dort wie auch in Berlin ihr eigenes Zimmer für sich haben), gehen sie am Wochenende gemeinsamen Unternehmungen und ihren verschiedenen Hobbys nach. Während des Erhebungszeitraums wurde auch eine Freundin von Sarah dorthin mitgenommen. In Berlin haben Mathis und Sarah die Wohnung nachmittags häufig für sich allein, worüber sich beide entschieden positiv äußern. Beide sagen dezidiert, dass sie es gar nicht gut fänden, wenn Frau Bauer oder Herr Lange nachmittags öfter anwesend wären. Tabea, die während der beiden Gesprächstermine nur vorübergehend teilnimmt und ihre Langeweile während dieser Termine auch kundtut, ist als Jüngste nachmittags weniger zuhause, sondern nach Einschätzung von Mathis und Sarah meistens unterwegs. Als Herr Lange im Gruppeninterview über die Formulierung von Mathis lacht, Tabea sei eigentlich »nie da«, verteidigen beide vehement die Angemessenheit dieser Aussage. Im Vorgespräch hatte Frau Bauer beiläufig die Problematik eines ›Erziehungsanspruchs‹ der älteren Geschwister gegenüber Tabea erwähnt, der auch während der Gruppeninterviews durch Reglementierungen zur Geltung kommt. Eine in diesem Zeitraum engere Allianz der beiden älteren Geschwister wird auch dadurch deutlich, dass Sarah in Mathis’ Zimmer mit fernsehen darf (er hat als Einziger unter den Geschwistern einen Fernseher im eigenen Zimmer), wohingegen Tabea von diesem Privileg weitgehend ausgeschlossen und auf das Wohnzimmer verwiesen ist. In einer stärkeren Ausrichtung an Peer-Kontakten und institutionellen Freizeit-Angeboten bringt sie im Gegenzug ihre Unabhängigkeit zur Geltung.

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Zu der Berliner Eigentumswohnung gehört eine Terrasse, die über einige Stufen an einen Garten anschließt. Auf dieser Terrasse befinden sich ein Stall mit zwei Kaninchen sowie ein Wetterdach für zwei Katzen, die sich sowohl außerhalb wie auch innerhalb der Wohnung bewegen. Eine gläserne Terrassentür verbindet als verschließbarer Durchgang die Terrasse mit der Küche, deren Raum in das Wohnzimmer übergeht. Sowohl in der Küche als auch ›um die Ecke‹, im vorderen Bereich des Wohnzimmers, steht jeweils ein Esstisch. Bei Bauer/Lange wird an den Werktagen, vorwiegend abends, mal mehr und mal weniger gemeinsam gegessen. Herr Lange ist berufsbedingt nicht anwesend. Mathis geht abends auch manchmal individuellen Aktivitäten nach. Tagsüber sind Mathis, Sarah und Tabea weitgehend gewohnt, sich selbst zu versorgen und, in unterschiedlichem Ausmaß, auch einige Haushaltsaufgaben zu übernehmen, während Frau Bauer auswärts ihrer Berufstätigkeit nachgeht. Wie zur Mittags- und gelegentlich auch zur Abendzeit essen sie morgens zum Frühstück überwiegend getrennt voneinander, wobei es zu spontanen zeitlichen Überschneidungen in Küche und Wohnzimmer kommt. Am Wochenende, wenn auch Herr Lange mit im Familienkreis dabei ist, wird gemeinsam gefrühstückt und auch abends gemeinsam gegessen. Das erste Gruppeninterview zum Familienalltag wurde ebenso wie zwei Vorgespräche zu den geplanten Erhebungen (zu denen Herr Lange nicht anwesend war) am Küchentisch geführt. Schauplatz der anderen drei Erhebungen war der Wohnzimmertisch. Die ersten drei Erhebungstermine fanden in zweiwöchigen Abständen werktags am Abend, der letzte Termin fünf Wochen später an einem Sonntagabend statt. Verbindende und verbindliche Regelmäßigkeit im Wochenrhythmus Im Kontrast zu Müller/Franke sind die jeweiligen Erwerbssphären von Frau Bauer und Herrn Lange räumlich deutlich von der Familiensphäre getrennt und im Fall von Herrn Lange in einer derartig großen geographischen Distanz, dass sich im Verlauf der Jahre für eine multilokale Form des Zusammenlebens entschieden wurde, in der die gemeinsamen Zusammenkünfte, verstanden als Präsenz aller Zugehörigen, auf die Wochenenden konzentriert worden sind. Gruppeninterview zum Familienalltag, in der Küche am Küchentisch Ein offener Gesprächsverlauf kommt nach den ersten Äußerungen von Sarah und Mathis zur Alltagsgestaltung ins Stocken. Der Forschende stellt eine Frage zum Zusammentreffen an den Wochenenden. Mathis hat sich indessen einer Katze außerhalb der aufgezeichneten Bildfläche zugewandt und kichert verhalten. Er zeigt gegenüber Herrn Lange auf die Katze, der kurz seinen Kopf hochreckt und über den Küchentisch in diese Richtung sieht.

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Abb. 3: Am Küchentisch bei Bauer/Lange.

Forschender:

Und am Wochenende treffen Sie sich meistens dann; also im

Mathis kichert mit Blick auf die Katze. Der Forschende sieht kurz zu Mathis und folgt dann für einen Augenblick dessen Blickrichtung zur Katze. Frau Bauer: Sarah: Herr Lange: Frau Bauer: Forschender:

⎣Am Wochenende ⎣Immer ⎣In der Regel, letztes Wochenende (nämlich) nicht ⎣treffen wir uns in der Regel, aber nicht unbedingt in Berlin. Ja.

Nachdem Herr Lange ausgesprochen hat, fasst er Sarah an die Wange und macht daraufhin eine Geste, als würde er zwischen Daumen und Zeigefinger eine Fussel ansehen und diese anschließend nach unten fallen lassen. Sarah bewegt sich währenddessen mit ihrem Oberkörper etwas nach hinten. Sarah: Mathis: Forschender:

Nicht unbedingt? so gut wie nie. ⎣Also eigentlich eher selten, ne? Mhm.

Frau Bauer schaut kurz zu Sarah und mit einem kurzen Lacher wieder zum Forschenden. Mathis hat mit seiner Äußerung zu Frau Bauer gesehen und sich anschließend wieder der Katze zugewandt. Sarah und Frau Bauer sitzen frontal zueinander und blicken einander an. Während Herr Lange im Folgenden spricht, zeigt Mathis gegenüber dem Forschenden nochmals zur Katze und bleibt dieser zugewandt. Herr Lange ist mit seinem Gesicht zu Frau Bauer ausgerichtet und blickt den Forschenden beim Sprechen etwas ›von der Seite‹ an. Herr Lange: Forschender: Herr Lange:

Wir sind an den Wochenenden so gut wie nie hier. Ja. ⎣also das sind vielleicht drei, vier Wochenenden im Jahr, die wir nicht in Grüntal sind,

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Forschender: Herr Lange:

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⎣Mhm. ⎣die wir hier in Berlin sind, ne? [F1E2: 00h 06m 18s – 00h 06m 43s]

Der Forschende fragt zu Beginn des beschriebenen Szenenausschnitts, ob sich meistens am Wochenende getroffen werde. Aus dem Vorgespräch und dem ersten Erhebungstermin ist ihm bereits bekannt, dass Herr Lange in Halle arbeitet, wo er auch eine Dienstwohnung unterhält, so dass er wochentags sehr häufig nicht in Berlin ist. Er weiß auch von dem Wochenendhaus in Grüntal, in dem sich an den Wochenenden häufig aufgehalten wird. Andererseits ist Herr Lange zum zweiten Erhebungstermins auch zum zweiten Mal in Berlin anwesend. Während Mathis vorrangig auf eine der beiden Katzen fokussiert ist, die sich in der Küche aufhält und ihn offenbar belustigt,33 ergreifen Frau Bauer, Sarah und Herr Lange das Wort, wobei sich ihre Äußerungen überschneiden und dabei aufeinander Bezug nehmen. Noch während Frau Bauer zu einer Antwort anhebt, setzt Sarah dem Ausdruck »meistens«, den der Forschende in seiner Frage verwendet hat, ein »immer« entgegen. In ihrer ebenso schnellen wie absoluten Klarstellung zum Wochenrhythmus macht sie kenntlich, dass die Regelmäßigkeit der Zusammenkünfte an den Wochenenden mit einem »meistens« für sie nur unzureichend charakterisiert ist. Noch bevor Frau Bauer, die sich durch Sarahs Einwurf unterbrechen ließ, mit ihrer Antwort auf die Frage fortfährt, reagiert Herr Lange auf Sarahs Äußerung, indem er sie mit einem aktuellen Beispiel relativiert: Nicht »immer«, sondern »in der Regel, letztes Wochenende (nämlich) nicht«. Indem er anschließend Sarahs Wange berührt, setzt er gestisch nicht nur körperliche Vertrautheit, sondern auch eine gewisse Asymmetrie in Szene (vgl. Heslin/Alper 1983: 69f.), die von Sarah mit einer zurückweichenden Distanznahme quittiert wird.34 Frau Bauer setzt indessen, noch während Herr Lange spricht, die eigene begonnene Antwort fort, greift dabei den aktuellen ›Diskussionsstand‹ einschließlich ihrer Positionierung auf und steuert zugleich auf die Frage des Forschenden zurück, die sie zu Beginn wiederum selbst unterbrochen hatte. Frau Bauer nimmt dabei die Wortwahl von

33 Jörg R. Bergmann hat sich in einem Artikel zur Konversationsanalyse der Rolle von Haustieren zugewandt, wobei er auf die Situationsoffenheit von Gesprächsthemen mit ihrer Einbettung in eine Gesprächssituation abhebt (Bergmann 1988; vgl. Keppler 2012). In der materiellen Umgebung eines Gesprächs bieten Tiere mit ihren Verhaltensweisen willkommene Ablenkungen für Fokusverschiebungen, wie auch in Kapitel 4.2 bei Woellmer deutlich wird. 34 Als ›fürsorgliche‹ Geste wird die Berührung hier relevant, weil sie in ihrer spezifischen Distanzlosigkeit eine oppositionelle Haltung untergräbt, die auf Distanz angewiesen ist. Sarah ist jedoch daran gelegen, ihre Position zu halten, wie sich im Weiteren zeigt.

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Herrn Lange auf und antwortet, dass sie sich »in der Regel« an den Wochenenden träfen, »aber nicht unbedingt in Berlin«, womit sie den Fokus vom umstrittenen Thema der Zeitlichkeit auf die eigentliche Frage nach dem Ort der Zusammenkunft zurückführt. Während sie auf die resolute Widerspruchskommunikation mit einem Auflachen reagiert, schließt Sarah an die Thematisierung des Orts an und bleibt dabei dennoch auf Konfrontationskurs, indem sie den Aspekt der Zeitlichkeit über den Ort vermittelt wieder aufgreift. Auch das »nicht unbedingt in Berlin« in Frau Bauers Äußerung ist ihr hinsichtlich der Regelmäßigkeit der Wochenendaufenthalte außerhalb Berlins zu schwach formuliert. Sie seien am Wochenende »so gut wie nie« in Berlin und auch Mathis wendet sich bei diesem Punkt von der Katze ab und dem Gespräch zu. Er stützt Sarahs Position: »Also eigentlich eher selten, ne?« Im Vergleich zu Müller/Franke ist der Diskussionsstil von schnelleren Redewechseln und Überschneidungen geprägt, wobei in einer dichten Weise aufeinander eingegangen wird, indem inhaltliche ›Gegenpositionen‹ ebenso schnell ›verarbeitet‹ und in die eigene Äußerung mit einbezogen werden. Argumente und sprachliche Präzision sind bei Bauer/Lange nicht nur in dieser Szene offenkundig von hoher Relevanz. Insgesamt wird während der Erhebungssituationen immer wieder diskutiert und wechselseitig korrigiert. Wie Sarah an einer späteren Stelle im Interview anmerkt, hätten sie eine ausgeprägte Diskussions- und Streitkultur, in der verschiedene Ansichten eher selten zurückgehalten, sondern argumentationsfreudig mit- und gegeneinander ausgetragen werden. Im beschriebenen Szenenausschnitt legen Sarah und letztendlich auch Mathis Wert darauf, in der ›Außendarstellung‹ des Familienlebens, mit der Anwesenheit des Forschenden und der Aufzeichnungsapparatur, festzuhalten, dass die Wochenenden nahezu »immer« in Grüntal und »eher selten« in Berlin verbracht werden, wodurch sich ein unterschwelliges Konfliktpotential in der Thematik dieser Regelmäßigkeit andeutet, zu dem sich Sarah und Mathis gegenüber Frau Bauer und Herrn Lange positionieren. Herr Lange übernimmt im Anschluss an den lebhaften Wortwechsel versöhnlich Sarahs Formulierung, dass sie »an den Wochenenden so gut wie nie hier« seien; sie seien »vielleicht drei, vier Wochenenden im Jahr« in Berlin und nicht in Grüntal. Vorwiegend Herr Lange geht auf diese Thematik der Regelmäßigkeit im Folgenden näher ein und erläutert aus seiner Perspektive den wöchentlichen Pendelrhythmus. Gruppeninterview zum Familienalltag, in der Küche am Küchentisch Herr Lange: Forschender: Frau Bauer:

Ich fahr in der Regel montags und komme freitags wieder. Mhm; ⎣Montags bevor wir aufwachen bist du weg, (.)

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Herr Lange: Forschender: Herr Lange:

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Genau. (.) ich fahr relativ früh, um staufrei (.) ⎣Ja. ⎣nach Halle zu kommen.

Mathis schaut zur Katze und ist vom Tisch abgewandt; Herr Lange sieht in Mathis’ Richtung und bewegt seinen Kopf etwas schief wieder zum Forschenden. Während Herr Lange weiterspricht, dreht sich Mathis für einen Augenblick zu Frau Bauer und Herrn Lange, dann zurück zur Katze am Küchenboden. Frau Bauer folgt mit ihrem Blick ebenfalls für einen Moment der Katze. Herr Lange:

Und dann häufig ham’ wir uns dann in Grüntal wiedergetroffen. so dass dann Sabine von hier aus mit den Kindern (.) gefahren ist und ich gar nicht mehr Berlin berührt hab.

Während er spricht, fokussiert Herr Lange mit einem Lächeln den weiterhin auf die Katze orientierten Mathis und wendet sich nach 3 Sekunden zurück zum Forschenden, dann weiter zu Frau Bauer. Diese sieht mit ernster Miene und seitlich gedrehtem Kopf zum Forschenden. Forschender: Herr Lange: Forschender: Herr Lange:

⎣Mhm. Und dann sonntags abends sind wir dann gemeinsam hier, (.) und halt beginnt die Woche von Neuem. (.) Ja. Dann geht’s wieder los. (2) [F1E2: 00h 07m 56s – 00h 08m 35s]

Herr Lange erläutert einen regelmäßigen wöchentlichen Pendelrhythmus, wobei Aufbruch und Wiederkehr auf keinen einheitlichen geographischen Ort, sondern auf die Sphäre des Familienlebens in Differenz zu einer Sphäre der Erwerbsarbeit bezogen sind. Montagmorgens fährt Herr Lange in der Regel von Berlin nach Halle, wo sich sein Arbeitsplatz und auch seine Dienstwohnung befinden. Er fährt bereits sehr früh los, noch bevor die anderen aufwachen, wie Frau Bauer aus ihrer Perspektive präzisierend einfügt. Am Freitag komme er dann »wieder« – allerdings nicht unbedingt nach Berlin, wie Frau Bauer im vorherigen Ausschnitt betont hat. Häufig treffen sie am Wochenendhaus in Grüntal zusammen, so dass Frau Bauer »mit den Kindern« aus Berlin kommt und er selbst Berlin freitags gar nicht mehr »berührt«, bis sie sonntagabends gemeinsam nach Berlin fahren und die Woche am Montagmorgen »von Neuem« beginnt. Herr Lange beschreibt eine zyklische Bewegung zwischen Familien- und Erwerbssphäre, die im Gegensatz zur Situation von Herrn Franke durch eine verhältnismäßig große geographische Distanz räumlich und zeitlich voneinander getrennt sind und durch einen regelmäßigen Pendelrhythmus miteinander verbunden werden müssen. Dass er bei seiner Rückkehr am Freitag häufig gar nicht mehr Berlin »berührt«, deutet in der Wortwahl nicht nur auf das Bestreben hin, die gemeinsamen Wochenenden möglichst ohne verlängerte Fahrtzeiten auszukosten,

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sondern auch darauf, dass die Beziehung zu diesem Ort für ihn eine geringere Relevanz hat, was er im weiteren Verlauf deutlich akzentuiert – trotz einer sprachlichen Verschmelzung der Familiensphäre als ein Ort des regelmäßigen Wegfahrens und Wiederkommens in der Darstellung ganz zu Beginn dieses Ausschnitts. Divergente Lokalisierungen Nachdem ich vergleichsweise frühzeitig im offenen, narrativen Teil des Gruppeninterviews, eine Frage gestellt hatte, knüpfe ich mit einer weiteren Nachfrage an diese erste Frage an, um mehr über die thematisierte Pendelbewegung und den gemeinsamen Ort des Wochenendhauses zu erfahren. Etwas verunsichert durch meinen unplanmäßigen Part im Gespräch formuliere ich dazu mit meinem vagen Anfangsverständnis eine Suggestivfrage. Gruppeninterview zum Familienalltag, in der Küche am Küchentisch Forschender: Sarah:

Also ist im Grunde hier so (.) hier das Zuhause und Halle ist so’ne Art Außen-Dependance, ’ne Arbeits⎣Ja.

Während der Forschende seine Frage formuliert, hat Frau Bauer zu Herrn Lange gesehen, der sich kurz am Hals kratzt. ⎣°Ja; (meiner)°

Herr Lange:

Frau Bauer sieht zu Sarah, während sie spricht und wendet sich daraufhin wieder zu Herrn Lange. ⎣Also der Familiensitz ist

Frau Bauer: Herr Lange:

eigentlich Grüntal. Also ich bin-

Herr Lange hat den Kopf zu Frau Bauer gedreht und schaut seitlich zum Forschenden. Frau Bauer ist beim Sprechen Herrn Lange und Sarah zugewandt. Frau Bauer: Herr Lange:

⎣Die Zeit, die wir gemeinsam verbringen, das ist äh; ⎣verbringen, verbringen wir in Grüntal. Ich bin weniger, weniger hier in Berlin in der Wohnung, als in, in Grüntal. [F1E2: 00h 07m 08s – 00h 07m 24s]

Der Forschende zieht die Bedeutung, die dem Wochenendhaus in Grüntal zugemessen wird, in diesem früheren Abschnitt des Gesprächs noch nicht in Betracht, sondern ist an dem Muster von eindeutig lokalisierten Sphären von ›Zuhause‹ und ›Arbeitsort‹ orientiert. Seine Nachfrage ist daher vorwiegend auf den Status der

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Wohnung am Arbeitsort fokussiert. Er charakterisiert die Wohnung in Halle in seiner Frage als »so’ne Art Außen-Dependance«, mit einer ›festen‹ persönlichen Anbindung an das gemeinsame Zuhause »hier«; so wie im Bild eines ›Satelliten‹ in Bezug auf ein gemeinsames Gravitationszentrum. Sarah bejaht auch ohne zu zögern die konstatierende Formulierung des Forschenden. Sie ist in Berlin zuhause und die modellierte Konzeption ist aus ihrer Sicht unbedenklich – anders als für Herrn Lange, der sich zurückhaltend am Hals kratzt und leise ansetzt, eine divergierende Perspektive zur familialen Anbindung kenntlich zu machen. Mit Blick auf Herrn Lange übernimmt jedoch Frau Bauer das Wort und korrigiert in einem für alle Beteiligten verbindlichen Ausdruck, dass »der Familiensitz [...] eigentlich Grüntal« sei. Dabei ist sie nicht zum Forschenden gewandt, sondern spricht in Richtung zu Sarah und Herrn Lange – sie erklärt nicht nur dem Forschenden, wie es »eigentlich« ist, sondern stimmt alle auf eine gemeinsame Haltung gegenüber dieser Frage ein. Sie spricht von »Familiensitz«, nicht von »Zuhause«, was einen Unterschied macht. »Familiensitz« ist eher eine formelle Zuordnung und somit als gemeinsame Verortung weniger streitbar. Frau Bauer und Herr Lange können als Eigentümer, unbesehen potentiell divergierender Gefühlslagen hinsichtlich der Lokalisierung, eine Deutungshoheit über diese Art der Adressierung geltend machen. Frau Bauer proklamiert im Namen aller einen Konsens über den formellen Status einer ›Hauptadresse‹ des Familienlebens und Sarah widerspricht hier nicht. Während Herr Lange ein zweites Mal anhebt, seiner individuellen Perspektive Ausdruck zu verleihen, begründet Frau Bauer den geltend gemachten Status als »Familiensitz« mit einer Konzentrierung gemeinsamer Präsenzzeiten: An diesem Ort verbringen sie ihre gemeinsame Zeit; vorrangig dort sind alle Familienmitglieder zusammen. Als »Familiensitz« wird der Ort bestimmt, an dem das multilokale Zusammenleben synchronisiert und in Abgeschiedenheit von anderen Alltagsverbindungen an einem extra lokalisierten Refugium rezentriert und intensiviert wird. »Die Zeit, die wir gemeinsam verbringen« wird dezidiert als Zeitraum der Präsenz Herrn Langes im Rahmen des Zusammenlebens bestimmt und von einem Zeitraum unterschieden, in dem Frau Bauer, Mathis, Sarah und Tabea mit vergleichsweise stärker individualisierten Tagesverläufen gemeinsam in Berlin leben. Frau Bauer erzählt an einer anderen Stelle zwar, es komme nur selten vor, dass sie allein zuhause sei. Sie habe in solchen Fällen auch das Gefühl, dass in der Wohnung etwas fehle. Dennoch versteht sie hier ebenso wie Herr Lange ausschließlich die Wochenendtage als »gemeinsame Zeit«, wenn alle zusammen sind. Familiengeschichtlich sind auf diskursiver, alltagspraktischer und materieller Ebene Strategien eingerichtet und objektiviert worden, um den Rahmen des Zusammenlebens gegen eine zu starke Separierung von Herrn Lange abzusichern.

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Ein Bestandteil dieser Maßnahmen ist die Kollektivierung der Pendel-Erfahrung zwischen den vergleichsweise individualisierten Werktagen und den gemeinsamen Wochenenden an einem ›dritten Ort‹, an dem alle gleich häufig präsent sind. Doch muss die Exklusivität von Grüntal als ›Familiensitz‹ dennoch wiederkehrend gegenüber einer Lokalisierung mit ihren Alltagsroutinen und Einbindungen in Berlin bekräftigt werden. Insbesondere gegenüber Sarah, deren Einwürfe die Vermutung nahelegen, dass ihr das gemeinsame Pendeln an den Wochenenden unter Umständen auch zu regelmäßig sein könnte, bezieht Frau Bauer mit ihrer Sprachregelung zum eigentlichen »Familiensitz« verbindlich Stellung. Frau Bauer kommt in diesem Ausschnitt aber auch Herrn Langes Artikulation einer persönlichen Perspektive zuvor, zu der er zweimal in der ersten Person Singular ansetzt, bis er schließlich die erste Person Plural übernimmt, die von Frau Bauer vorgegeben wird. Auf diese Weise zur Übereinstimmung gebracht, übernimmt er den von ihr angefangenen Satz und führt ihn bruchlos weiter aus. Eine Divergenz von Perspektiven hinsichtlich einer Verortung ›zuhause‹ tritt allerdings dennoch wiederkehrend als eine Thematik hervor, die zu bearbeiten ist. Gruppeninterview zum Familienalltag, in der Küche am Küchentisch Mathis hat die Wohnung aufgrund einer Verabredung verlassen. Der Forschende fragt zum Ende des Interviews, was für die Anwesenden ein Zuhause zu einem Zuhause mache. Frau Bauer erläutert zuerst, das habe für sie auch damit zu tun, dass man einen Ort »so mit seinen Sachen irgendwie füllt«, wobei sie eine ordnende Handbewegung macht, und dieser Ort mit einem gewachsen sei. Herr Lange: Forschender:

Ich würde wesentlich mehr Grüntal als mein Zuhause bezeichnen, als hier Berlin, (2) ⎣Mhm;

Sarah, die zuvor über den Tisch gebeugt war, setzt sich aufrecht hin und schaut erst zu Frau Bauer dann zu Tabea, die ihren Finger angehoben hat. Tabea: Frau Bauer: Herr Lange: Frau Bauer:

Sarah:

Ich weiß auch warum ⎣A- Aber es ist ja hier auch gar nicht viel von dir durchdrungen. ⎣Ja das stimmt. {Er blickt beim Sprechen kurz zur Kamera auf, dann zu Frau Bauer} ⎣Also dadurch, dass du wenig da bist, ist ja auch wenig wo du sagst, das, das ist mein, das ist das, was mit mir zu tun hat. (.) oder? ⎣°Würdest Du°

Herr Lange schaut zu Sarah.

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Herr Lange: Sarah: Frau Bauer:

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⎣Meine Haller Wohnung ist nicht mein Zuhause, (.) °Würd’ ich (schade finden)° ⎣Das wäre aber ☺auch nicht mein Zuhause☺

Frau Bauer und Herr Lange lachen, Sarah und Tabea nicht. Sarah lächelt verhalten. Frau Bauer: Sarah: Tabea: Sarah:

Frau Bauer: Sarah: Herr Lange: Sarah:

☺Die ist nun wirklich gar nicht durchdrungen; von gar nichts; die Wohnung☺ ☺(.)☺ ⎣°Also; da muss ich auch ganz ehrlich° ⎣Is’ ja grad mal ’ne Einbauküche und ’nen Schlafzimmer drin. ⎣Wo sich dis, diese Wohnung auch; wenn ich du wär; (.) glaub ich, würd ich ausflippen. ich würde sofort zum nächsten Ikea rennen, und mir irgendwas holen, ⎣☺(.)☺ ⎣dass diese Wohnung, meinetwegen auch ’nen riesen Baum. ⎜ ⎜ ⎣(Spiel-, Spielkiste) Ikea ⎣meinetwegen auch ’nen riesen Baum. irgendwas muss da noch rein. ich würde mich da einfach nich’ wohl fühlen.

Herr Lange wendet sich lächelnd von Sarah zu Frau Bauer, als diese beginnt, zu Sarah zu sprechen. Frau Bauer:

Herr Lange: Frau Bauer: Herr Lange:

Du. ich wollte ja so gerne mit deinem Papa mal nach Halle fahren, und diese Wohnung schön machen. aber wahrscheinlich wär’s dann mein Zuhause. ⎣Eben. ☺und nicht Markus Wohnung☺. ☺(1)☺ ⎣°Ja° ⎣°ja° ⎣°genau°

Frau Bauer wendet sich von Sarah seitlich zu Herrn Lange. Frau Bauer:

Sarah: Frau Bauer: Herr Lange: Sarah:

Herr Lange:

Aber vielleicht wär’ das ja der Anfang; dass es dein Zuhause wird, weil man sich dann wohler fühlt in der Wohnung; und dann auch irgendwie mehr macht, (.) Aber ich denke, dass es auch daran liegt, ⎣{Zu Sarah} Aber es ist ja schön, dass er kein anderes Zuhause hat. Ja, ich will ja gar kein anderes. mir reicht Grüntal vollkommen. ⎣Ja also; ich denke, ich denke, dass Papa es sozusagen auch nicht so zu seinem Zuhause erklärt, weil er da einfach sehr wenig ist, wenn er da ist. Ja. [F1E2: 00h 47m 22s – 00h 48m 45s]

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Obwohl nicht nur das ehemalige Bauernhaus in Grüntal in Familienbesitz, sondern auch die Wohnung in Berlin eine Eigentumswohnung ist, betont Herr Lange die exklusive Bedeutung, die das Wochenendhaus in Grüntal für ihn hat. Stand Anfangs, im ersten Szenenausschnitt, bei Bauer/Lange eine Differenz zwischen Erwerbs- und Familiensphäre im Vordergrund, wird nun eine andere Unterscheidung gemacht, indem Herr Lange das Wochenendhaus als sein Zuhause sowohl von der Berliner als auch der Dienstwohnung in Halle abgrenzt. In Abwesenheit von Herrn Lange leben die weiteren vier Familienmitglieder allerdings von Montag bis Freitag in Berlin. Mit Ausnahme von Sarah reagieren diese dennoch weder irritiert auf seine Äußerung, noch gehen sie einfach über diese Distanzierung von ihrem Alltagsleben in Berlin hinweg. Tabea versucht vielmehr, indem sie sich wie in der Schule meldet, eine entsprechende Erklärung über diesen Sachverhalt einzubringen, vor dem Hintergrund eines bereits in der Vergangenheit generierten Erfahrungswissens. Ihre Anmeldung zum Redebeitrag wird allerdings übergangen und Frau Bauer übernimmt die ›Deutungshoheit‹ durch einen eigenen Erklärungsansatz. Als Grund für seine ausschließliche Gewichtung Grüntals und seine Distanz zu Berlin bringt sie die seltene Präsenz in Berlin und eine geringe ›Dichte‹ persönlicher Gestaltungsmerkmale innerhalb des Wohnraums vor, die seine Zugehörigkeit zu diesem Ort repräsentieren und ihn mit diesem Ort verbinden könnten. Ihre Wortwahl wirkt behutsam, und sie schließt ihren Erklärungsansatz fragend, mit einer expliziten Offenheit zur Korrektur. Die abgebrochene, leise Frage von Sarah verweist gleichfalls auf die Annahme eines ›sensiblen Terrains‹. Die lediglich als schwach wahrgenommene Bindung an den Wohnsitz in Berlin, in dem Frau Bauer, Mathis, Sarah und Tabea einen Großteil ihrer wöchentlichen Lebenszeit verbringen, erscheint als ein Aspekt im Zusammenleben, der trotz mehrjähriger Alltagsroutine – zumindest in Anwesenheit des Forschenden und der Aufzeichnungsapparatur – entgegen der sonstigen ›Streitlust‹ einer kommunikativen, emotionalen Behutsamkeit bedarf. So äußert Herr Lange sich auch gar nicht weiter in diese Richtung, sondern wendet den Fokus auf die Unterscheidung von Familien- und Erwerbssphäre zurück. Die Wohnung am Arbeitsort sei ganz bestimmt nicht sein Zuhause, sagt er zu Sarah gewandt, womit er ihrem Ansatz zu einer Frage zuvorkommt. Sein geäußerter Abstand zur Berliner Wohnung wird dadurch nicht relativiert; die Distanzierung zu Halle unterstreicht vielmehr die exklusive Bedeutung der Wochenenden und bekräftigt ein Pendelmodell, in dem das »Zuhause« auf diese gemeinsamen Wochenenden beschränkt ist – ein zeit-räumliches Modell, das von den weiteren Familienmitgliedern in dieser resoluten Einstellung nicht unbedingt geteilt wird. Sarah macht vielmehr eine Perspektive kenntlich, in der sie diese Distanznahme und Reduktion auf die Wochenenden bedauerlich findet. Aus ihrer Perspektive

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ist es »schade«, dass sich ihr Vater von Montag bis Freitag nicht nur woanders aufhält, sondern sich im Kontrast zum Zusammenleben in Berlin auch derart entschieden nicht zuhause fühlt. Frau Bauer folgt dieser Fokusverschiebung. Entgegen Sarahs explizit bedauernder Reaktion nimmt sie seine ›deterritorialisierende‹ Positionierung lachend und humorvoll auf: In diesem Zustand wäre »das« – sie nennt es gar nicht erst Wohnung – auch nicht ihr Zuhause. Im anschließenden gemeinsamen Lachen von Frau Bauer und Herrn Lange tritt im Kontrast zu Sarahs und Tabeas Unterlassen eine Differenz hervor. Frau Bauer und Herr Lange amüsieren sich gemeinsam über diese ›spartanisch‹ ausgestattete Unterkunft, die weniger als Wohn- denn als Raststätte, als ein zwar längerfristiger, aber dennoch provisorischer Aufenthaltsort von Herrn Lange zu verstehen ist. Für diese Ausformung des Zusammenlebens, in der sie von montags bis freitags in der Regel technikbasiert kommunizieren, haben sie sich innerhalb ihrer Lebensführung entschieden; sie haben entsprechend geplant und investiert. Frau Bauer bringt allerdings auch zum Ausdruck, dass sie in der Wohnung anders leben wollen und sich dort anders einrichten würde. Sarah und Tabea sind hingegen ohne Wahl in dieses Familienmodell hineingewachsen. Sie haben diesbezüglich grundsätzlich einen anderen Erfahrungshorizont, und sie lassen sich vor dem Hintergrund des bisherigen Gesprächsverlaufs nicht von der Gelöstheit des Lachens einnehmen, sondern verhalten sich zurückhaltend. Frau Bauer macht in ihrer Bezugnahme auf die Wohnsituation die Distanzierung von Herrn Lange für Sarah und Tabea einsehbarer, indem sie auf ihr Erklärungsmuster von zuvor zurückkommt. Sie eröffnet ihnen eine Perspektive, in der sie eine möglicherweise komplexe Gefühlslage von Herrn Lange atmosphärisch begründet – sie wäre dann mit Gestaltungsmaßnahmen veränderbar (vgl. Böhme 1995: 33ff.). An diese Perspektive schließen Sarah und Tabea mit jeweils eigenen Erfahrungen an, indem sie auf eine potentielle Raumgestaltung Bezug nehmen. Sie waren beide bereits zu Besuch und wissen daher um eine Atmosphäre, die sich in dieser Wohnung mit ihrer kargen Grundausstattung vermittelt. Beide können dazu etwas sagen und konkurrieren darum sich mitzuteilen. Während Sarah mit detaillierten Gestaltungsvorschlägen ansetzt, konstatiert Tabea die Einfachheit der Ausstattung bzw. der räumlichen Organisation. Einig sind sie sich darin, dass der Wohnung etwas fehlt, was sie zu einem Zuhause machen könnte. Sarah adaptiert die Äußerung von Frau Bauer, die sich dort auch nicht zuhause fühlen würde, mit einer Steigerung: Sie würde in dieser Wohnung »ausflippen«. Mit der aufgezeigten vermeintlichen Problemlage geht Sarah pragmatisch um. Sie würde sich bei IKEA »irgendwas holen«. »Irgendwas muss da noch rein«, um ein Ausstattungsdefizit zu beheben. »Ich würde mich da einfach nich’ wohl fühlen« Herr Lange geht allerdings nicht auf diese Thematik ein, sondern lenkt vielmehr

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vom Thema ab, indem er die Ballkiste für Kinder erwähnt, die es in vielen Filialen dieser Einrichtungshäuser gibt. Mit seiner Assoziation zur »Spielkiste« als einer Adresse, die vor allem von Kindern frequentiert wird, schließt er einerseits offenbar an den konjunktiven Erfahrungsraum einer gemeinsamen familiengeschichtlichen Vergangenheit an, da er ein implizites Verstehen seiner Äußerung voraussetzt. Andererseits kehrt er eine Differenz der Perspektiven und divergierender Erfahrungshintergründe hervor. Zum »nächsten IKEA rennen« bietet keinen ernstzunehmenden Ansatz für ihn. Frau Bauer geht indessen weiter der von ihr eröffneten Perspektive nach und erzählt, dass sie selbst »so gerne mal« mit Herrn Lange »diese Wohnung schön machen« wollte. Letztlich ist das nie geschehen, da sie im Konjunktiv anfügt, dass es dann wahrscheinlich auch ihr Zuhause wäre – und nicht seins. Während in der gemeinsamen Berliner Wohnung nur wenig von Herrn Lange »durchdrungen« sei, unterliegt die Wohnung in Halle keinem gemeinsamen Gestaltungsanspruch, sondern bleibt ausschließlich seine Gestaltungsangelegenheit. Ein gemeinsamer Einkaufsgang und entsprechende Anregungen zur Umgestaltung könnten daher potentiell zuviel Einflussnahme sein – was Herr Lange zustimmend und wiederholend bejaht, womit er die Divergenz der Perspektiven und Bedürfnisse in der Wohnungsfrage nochmals bekräftigt. Dennoch setzt Frau Bauer nach, dass mit einer Veränderung der Inneneinrichtung auch mehr Wohnlichkeit erzeugt werden könnte, und dass das vielleicht »der Anfang« wäre, die Wohnung zu einem Zuhause zu machen. Genau das aber will Herr Lange gar nicht, wie er betont. Während Sarah den zweiten Aspekt in Frau Bauers Erklärungsmuster aufgreift, es habe vielleicht auch mit den geringen Präsenzzeiten zu tun, dass Herr Lange diesen Ort nicht zu seinem Zuhause erklärt, nimmt Frau Bauer bei dem Stichwort »sein Zuhause« einen Perspektivwechsel vor, indem sie seine Perspektive nachzuvollziehen sucht. Es sei ja schön, dass er kein anderes Zuhause habe. In diesem Nachvollzug erkennt Frau Bauer an, dass sich Herr Lange trotz langer Abwesenheiten von der Familiensphäre eine strikte Anbindung zu bewahren sucht, indem er sich in gewisser Weise einem ›Bleibe-Status‹ in Halle verweigert. Seine Positionierung ist hinsichtlich der Zugehörigkeit zur Familiensphäre jedoch zwiespältig, da er eine ›gefühlte‹ Ortszugehörigkeit rhetorisch auf das Wochenendhaus eingrenzt und damit eine Relevanz Berlins analog zu seinem Arbeitsort negiert. Er betont seinen fehlenden Bezug zu diesem Lebenszusammenhang, so dass sich auch die anderen Familienmitglieder für eine ›vollständige‹ Integration im Rahmen des Zusammenlebens im vollen Wortsinn bewegen müssen. Aus der Multilokalität im Rahmen des Zusammenlebens, aus den externen Erwerbstätigkeiten der beiden Eltern und einer altersbedingt zunehmenden Eigenständigkeit von Mathis, Sarah und Tabea folgt eine Rhythmisierung, in der die

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typischen, familiären Akzente des Zusammenlebens anders gesetzt werden als bei Müller/Franke. Die einzelnen Tagesverläufe sind von montags bis freitags stärker individualisiert und hinsichtlich zustande kommender Kopräsenz in der Berliner Wohnung auch vergleichsweise ›entritualisiert‹, indem sich z.B. die Geschwister, zumindest in Abwesenheit von Frau Bauer, die Mahlzeiten nach Bedarf zubereiten und selbst bei Überschneidungen von Essenszeiten wie dem Frühstück nicht unbedingt gemeinsam essen. Im Kontrast zu dieser vergleichsweise hohen Individualisierung der Alltagsgestaltung zwischen Montag und Freitag ist die überwiegende Anzahl der Wochenenden um so verbindlicher ›kollektiviert‹. Zur Stabilisierung einer gemeinsamen Rahmung als Zusammenleben wird ein dritter Ort genutzt, der dem ›Wochenalltag‹ zeitlich und räumlich sozusagen ›entrückt‹ und durch Wegzeiten abgegrenzt ist, die spontane Umorientierungen während der Wochenenden erschweren. Ebenso wie die 9-jährige Haya bei Müller/Franke dezent kenntlich gemacht hat, dass dieser verbindende Rhythmus zur Hervorbringung gemeinsamer Kopräsenz ein Zwangsmoment enthält, deutet auch die 13-jährige Sarah mit ihrer vehementen Betonung der ›absoluten‹ Regelmäßigkeit im wöchentlichen gemeinsamen Pendeln auf einen individuellen Druck zur Teilnahme hin, der mit dieser Einrichtung eines gemeinsamen, ritualisierten Familienlebens für alle Beteiligten einhergeht. Die Verbindlichkeit des Rhythmus resultiert dabei besonders daraus, dass die vollständige Integration aller Zugehörigen mit diesem dritten Ort verbunden worden ist. Konzentriertes Zusammensein an einem separaten Ort Die Darstellung des Wochenendhauses als eigentlicher »Familiensitz« wird von Frau Bauer nachdrücklich betont und von den anwesenden Kindern auch unwidersprochen mitgetragen. Grüntal fungiert als Ort eines intensivierten Zusammenhalts im Familienleben. Dennoch divergieren die Ortsbezüge und die Bedeutsamkeit der verschiedenen Bezugsorte für die je eigene Biographie. Gruppeninterview zur Familiengeschichte, im Wohnzimmer am Esstisch Am Wohnzimmertisch, an dem zuvor das Gruppeninterview stattgefunden hat, werden personale Fragebögen ausgefüllt. Herr Lange ist vom Tisch aufgestanden und läuft erst um den Tisch herum und aus der Bildfläche der Aufzeichnung heraus, dann in die Küche. Mathis liest währenddessen eine Frage aus dem Fragebogen vor, der für die Kinder hinsichtlich der Ansprache geringfügig anders formuliert ist als für die Eltern. Mathis: Herr Lange: Frau Bauer:

Wann bist du zuletzt umgezogen. Wann war mein Umzug? Wann du umgezogen bist. Ende Oktober, (.) äh;

178 | F AMILIÄRE R ÄUME Herr Lange: Frau Bauer:

⎣Vor allem von wo nach wo, (.) das wird ja bei unserer Familie ’n bisschen schwierig mit dem Auswerten; ne? Warum?

Herr Lange dreht sich in der Küche um und kommt von dort zurück an den Tisch. Herr Lange: Tabea: Herr Lange:

Ja mit dem Umziehen. ⎣Ihr seid; Mama Mama Mama; ⎣Vielleicht bin ich auch nach Halle umgezogen oder vielleicht finde ich Grüntal zum Umziehen viel wichtiger als Berlin. [F1E4: 01h 41m 35s – 01h 41m 57s]

Abb. 4: Am Wohnzimmertisch bei Bauer/Lange.

Auf die von Mathis vorgelesene Frage zum letzten Wohnungsumzug antwortet Herr Lange, als gehe er davon aus, dass Mathis den Gegenstand der Frage nicht adäquat verstanden hat. Noch während Frau Bauer die Frage nach dem Umzugsdatum zu beantworten sucht, stellt Herr Lange aber die Einfachheit der Antwort selbst in Frage, die aus seiner Perspektive nicht nur eine Frage des Datums, sondern auch eine Frage der Definition ist. Was soll als Umzug gelten? Er artikuliert die Schwierigkeit einer einfachen Antwort mit der Frage »von wo nach wo« – womit er vor seinem individuellen Hintergrund kenntlich macht, dass diese Frage nicht unbedingt bzw. nicht für alle Beteiligten in der gleichen Weise mit einer gemeinsamen Wohnungsmobilität von A nach B zu beantworten ist. Bei ihrer Familie werde es daher beim »Auswerten« ein »bisschen schwierig«, wobei Frau Bauer seine Perspektive nicht sofort versteht. Herr Lange erläutert, dass er auch nach Halle umgezogen sei. Der Wohnungsumzug innerhalb Berlins zähle für ihn vielleicht weniger, weil er Grüntal als seinen primären Bezugsort begreife, das für ihn eine kontinuierliche Adresse der gemeinsamen Familiensphäre darstellt. Spätestens seit der Dezentrierung durch einen Teilumzug von Herrn Lange nach Halle ist er von einer Teilhabe am Alltagsleben in Berlin weitreichend aus-

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geschlossen – zumal gemeinsame Wochenenden kaum in Berlin, sondern vielmehr in Grüntal begangen werden. Mit seinem Teilumzug von Berlin nach Halle ist für Herrn Lange die Bedeutsamkeit des Wochenendhauses noch gewachsen, so dass er Berlin bei seiner Fahrt in das gemeinsame Wochenende häufig gar nicht mehr »berührt«. Das Wochenendhaus bietet den Vorteil, dass an diesem Ort hinsichtlich einer gemeinsamen Präsenz mehr oder weniger ein ›Gleichstand‹ besteht. Indem die Pendelbewegung, die Herr Lange berufs- und familienbedingt wöchentlich vollzieht, für alle Familienmitglieder zu einer gemeinsamen Erfahrung gemacht worden ist, wird in Grüntal einer Re- und Konzentrierung des Zusammenlebens als Familie in einer besonders intensivierten Form Raum gegeben. Die ausschließliche Orientierung auf die gemeinsamen Präsenzzeiten beruht allerdings auf einer Idealisierung, mit der die Bedeutsamkeit des Berliner Lebenszusammenhangs für Frau Bauer, Mathis, Sarah und Tabea ausgeblendet wird. Mit der Konzentrierung auf die Wochenenden wird aus dem gemeinsamen Ortsbezug eine wiederkehrende Verhandlungssache, indem Herr Lange der Bedeutsamkeit des Wochenendhauses wiederkehrend sein ganzes Gewicht zu geben versucht. Die Stellung des Brandenburger Hauses als Familiensitz ist dabei nicht allein auf Aushandlungsprozesse verwiesen, sondern ist vor einigen Jahren, vor dem Bezug einer Dienstwohnung in Halle, auch materiell gefestigt worden. Gruppeninterview zur Familiengeschichte, im Wohnzimmer am Esstisch Der Forschende hat nach einem offenen, narrativen Teil des Gruppeninterviews nach bedeutsamen Einschnitten im Familienleben gefragt. Mathis und Sarah thematisieren den Umzug innerhalb Berlins, den sie als eine starke Veränderung erlebt hätten, woraus sich ein gemeinsames Gespräch über den Umzug entspinnt. Herr Lange: Frau Bauer: Herr Lange: Mathis: Herr Lange: Frau Bauer: Herr Lange: Frau Bauer: Herr Lange: Sarah:

Aber ist eigentlich merkwürdig, dass das (.) dass Grüntal gar nicht auftaucht hier jetzt; ne? bei, bei der Frage mit dem Einschneiden. Stimmt. Grüntal ham wir seit vierzehn Jahren; oder? dieses Haus ist da seit vierzehn Jahren? (1) Das is’ massiv umgebaut seit Zweitausendunddrei, (.) ⎣Total toll geworden. ⎣glaub ich; ’ne Sabine? oder zwei, seit Zweitausendundzwei? ⎣°(Weiß ich auch nicht)°; ⎣°Mhm°? seit Zweitausendzwei? was für mich eigentlich mehr so der Einschnitt war, ne? Mhm, ⎣nämlich; ähm; von diesen, diesen drei Zimmern, (.) waren’s drei Zimmer? Küche, Flur halt, ⎣Mit einem Bad,

180 | F AMILIÄRE R ÄUME Herr Lange: Sarah: Herr Lange:

⎣mit einem Bad, zu diesem Sieben-Zimmer-Haus mit zwei Bädern ⎣Mit drei Bädern. ⎣und einer Dusche; ne? [F1E4: 00h 45m 44s – 00h 46m 32s]

Herr Lange bringt Grüntal hier ins Gespräch, nachdem der Wohnungsumzug in Berlins thematisiert worden ist. Es sei doch »merkwürdig«, dass das Wochenendhaus hinsichtlich der bedeutsamen Einschnitte noch keine Erwähnung finde, worin ihm Frau Bauer zustimmt. Das Wochenendhaus wurde allerdings noch vor Sarahs Geburt erworben, so dass Mathis, Sarah und Tabea zumindest von dessen Erwerb keine direkten Erinnerungen haben können. An die alte Wohnung und Eindrücke aus dem Rohbau der Eigentumswohnung in Berlin können sich Mathis und Sarah hingegen erinnern. Herr Lange thematisiert jedoch einen massiven Umbau des Hauses vor einigen Jahren, was für ihn nicht nur bedeutsam, sondern im Vergleich zum Wohnungswechsel in Berlin sogar »eigentlich mehr so der Einschnitt war«. In seiner Suche nach dem genauen Datum dieses Ausbaus sucht er an Frau Bauer gerichtet nach weiterer Unterstützung bei der narrativen Darstellung dieser Umbruchzeit. Mathis und schließlich Sarah äußern sich daraufhin sehr positiv über die Veränderungen, und Herr Lange bekräftigt ihre Kommentare noch, indem er eine massive Erweiterung des Wohnbereichs von »diesen drei Zimmern [...] mit einem Bad« zu einem »Sieben-Zimmer-Haus mit zwei Bädern und einer Dusche« vor Augen führt. Sarah malt dessen Ausstattung sogar noch etwas opulenter aus. Der Umbau wird übereinstimmend als Aufwertung des Wochenendhauses angesehen, doch verbindet sich der Ausbau nur für Herrn Lange mit einer fundamentalen Umgewichtung seiner Lokalisierung, in deren Verlauf er sich vom Berliner Wohnbereich entfernt hat. Das Bauernhaus ist als Ort gemeinsamer Zusammenkünfte geräumiger ausgebaut worden, so dass die regelmäßigen Aufenthalte an diesem Ort des Gemeinsamen für alle Beteiligten langfristig attraktiv gemacht werden konnten. Gruppeninterview zum Familienalltag, in der Küche am Küchentisch Sarah:

Also wir haben ja auch dort in Grüntal umgebaut, also zuerst hatten wir so’ne untere und so’n Dachboden, und den haben wir vollkommen neu gemacht, so dass wir jetzt oben wohnen und unten die, eher so Küche und so was haben, Wohnzimmer, Esszimmer, und ich muss ehrlich sagen, seit diesem Umbau ist Grüntal eher eigentlich ’n Zuhause geworden, (.) weil als wir uns da noch dieses Zimmer geteilt haben, war das Zimmer auch eher so was (2) naja, so was wie Papas Wohnung; würd’ ich jetzt eher sagen.

Frau Bauer und der Forschende lachen, Herr Lange schmunzelt. [F1E2: 00h 52m 10s – 00h 52m 40s]

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Sarah beschreibt das alte Bauernhaus in Grüntal als einen Ort, der vor dem Umbau definitiv kein Zuhause für sie gewesen sei. Der Vergleich zur Dienstwohnung ihres Vaters in Halle, in der sie sich, wie sie im ersten Gruppeninterview bereits sagte, »einfach nich’ wohl fühlen«, sondern sogar »ausflippen« würde, spricht sehr deutlich gegen eine enge Beziehung zu diesem Wochenendhaus vor dem Umbau. Der Ausbau erweist sich vor diesem Hintergrund als eine Strategie, um den regelmäßigen Rhythmus der Wochenendaufenthalte für alle Beteiligten nachhaltig annehmbar zu machen. Die Kriterien, hinreichend Platz und persönlichen Komfort zu haben, werden als maßgebliche Verbesserungen genannt. Doch obwohl Sarah das Haus »dort in Grüntal« seit dem Ausbau »eher eigentlich« als »’n Zuhause« auffasst, macht sie mit dieser ›relativierenden‹ Formulierung keine Bedeutungsverschiebung kenntlich, die ihre Lokalisierung in Berliner einschneidend berühren würde. Sie verweist in erster Linie auf eine gewachsene Akzeptanz im Vergleich zu einem Zeitraum davor. Als Einschnitt betrachtet Sarah ebenso wie Mathis den Wohnungsumzug innerhalb Berlins. Für beide steht in biographischer Hinsicht die Wohnsituation in Berlin ausdrücklich im Vordergrund. Sie gehen hier zur Schule und definieren sich vornehmlich über diese Adresse mit ihrem lokalen Wohn- und Schulumfeld, auch hinsichtlich einer persönlichen sozialräumlichen Verortung. Gruppeninterview zur Familiengeschichte, im Wohnzimmer am Esstisch Herr Lange: Mathis: Herr Lange: Frau Bauer: Sarah: Mathis: Herr Lange: Sarah: Mathis: Herr Lange: Sarah: Herr Lange:

°Was gab’s noch°? (1) Wir sind endlich aus (.) Dings weggezogen. ⎣Was? ⎣Hm? Aus der Mittelstraße. {sie nestelt an einem leerem Schokoladenpapier} ⎣Aus dem Rosenkiez umgezogen. Das war für dich ’n Einschnitt? ⎣Ja:a. ⎣(Unheimlich) wichtig. ⎣Ja? Sonst wär’n wir jetzt die Ghettokinder vom Dienst. Die-

Herr Lange und Frau Bauer lachen, Mathis lächelt verhalten. Forschender: Herr Lange: Sarah Frau Bauer: Herr Lange: Frau Bauer:

{Lächelnd zu Sarah gewandt} Was für Kinder? ☺Sarah. echt☺. ⎣Die Ghettokinder vom Dienst. Gott. ⎣☺Hohoho☺. {Herr Lange streicht sich mit beiden Händen über den Kopf} Also erst mal fandet ihr das total doof hier; in der Wohnung.

182 | F AMILIÄRE R ÄUME Mathis schaut vor sich auf den Tisch und schiebt eine Essunterlage aus Stoff an seinem Platz zurecht. Mathis:

Ja; erst mal.

[F1E4: 00h 31m 02s – 00h 31m 30s]

Auf die Frage des Forschenden nach wichtigen Ereignissen werden anfangs von Frau Bauer und Herrn Lange die Geburten der drei Kinder und schließlich eine längere Erkrankung als wichtige Einschnitte genannt, bevor Mathis im Anschluss an Herrn Langes Frage »Was gab’s noch?« auf den Wohnungsumzug innerhalb Berlins zu sprechen kommt. An seiner Bewertung des vorherigen Wohnumfelds lässt er keinen Zweifel; wegzuziehen ist für ihn rückblickend überfällig gewesen. Wer »endlich« weggezogen ist, der äußert ein Distanzierungsbedürfnis und markiert einen Schnitt zu etwas. Sowohl Frau Bauer als auch Herr Lange hatten sich in früheren Jahren allerdings für diese Wohngegend entschieden und wohnten dort für viele Jahre in der gleichen Wohnung – auch dann, als die finanziellen Möglichkeiten so weit gegeben waren, dass sie in der Lage waren, ein altes Bauernhaus außerhalb Berlins zu erwerben. Herr Lange und Frau Bauer tun sich beide in diesem Szenenausschnitt schwer damit, sofort zu verstehen, was Mathis mit dem »Dings« anspricht, aus dem sie »endlich weggezogen« seien. Herr Lange reagiert mit einer Nachfrage, in der sich Überraschung ausdrückt. Sarah weiß hingegen sofort, wovon ihr Bruder spricht. Die Nachfrage Herrn Langes wirkt in ihrer Überraschtheit dagegen selbst etwas überraschend, denn sie verweist darauf, dass der einzige Wohnungsumzug innerhalb Berlins für ihn als Einschnitt nicht naheliegend ist. Sarah betont ebenso wie Mathis die Bedeutsamkeit des Umzugs, was Herr Lange zwar mit einem fragenden »Ja?« anerkennt. Er registriert eine Bedeutsamkeit des Wohnungsumzugs für Mathis und Sarah und lässt diese Perspektive gelten; seine Nachfragen zeigen jedoch auch das Moment einer anderen Orientierung. Durch sein Nachfragen wird die Nennung des Umzugs zu etwas, das nicht selbstverständlich, sondern begründungsbedürftig ist. Sarah macht im Anschluss an Mathis’ Bewertung mit der Wohnungsmobilität auch eine soziale Mobilität geltend. Ohne den damaligen Umzug wären sie »jetzt die Ghettokinder vom Dienst«. Die Wohnsituation ist dabei weniger aufgrund der erinnerten Vergangenheit problematisch, jedenfalls wird nichts Entsprechendes berichtet, sondern vielmehr aufgrund einer Einschätzung der Wohngegend in der Gegenwart. Vor diesem Horizont weist sie einem Verbleiben im früheren Wohnumfeld eine sozialräumliche Schlechterstellung zumindest in Hinblick auf die ›sublimeren‹ Kapitalsorten hinsichtlich symbolischer Distinktionsmöglichkeiten zu (vgl. Bourdieu 1983). Mathis und Sarah beurteilen die frühere Wohnlage aus der Gegenwart, mit dem Sozialisationshintergrund ihrer jetzigen Positionierung, aus der Perspektive eines konjunktiven Erfahrungsraums von Geschwistern, die

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sich in ihrer Bewertung nicht (mehr) an den Eltern, sondern an anderen Bezugsgrößen orientieren. Damals hätten sie den Umzug hingegen noch ganz anders bewertet, merkt Frau Bauer an: Sie hätten es erst mal »total doof hier« gefunden. Sarahs Ausdrucksweise »Ghettokinder vom Dienst«, die sie gegenüber dem Forschenden auf dessen Nachfragen nochmals wiederholt, ruft allgemein Belustigung hervor, wobei ihre Charakterisierung durch Frau Bauer und Herrn Lange zwar wohlwollend, aber dennoch als überzogen zurückgewiesen wird. In Hinblick auf das Generationenverhältnis hebt die rückblickende Bewertung eine deutliche perspektivische Differenz hervor. Denn Sarah charakterisiert als ›Ghetto‹, was die Eltern zumindest nach dem Studium offenbar lebenswert fanden. Andererseits thematisiert Frau Bauer im weiteren Gespräch aber auch, dass sie die »Schulsituation« in dieser Wohngegend damals als schwierig empfunden hätten, weil Mathis nahezu das einzige Kind in seiner Schulklasse ohne familialen Migrationshintergrund gewesen wäre. Daraus lässt sich schließen, dass Sarah mit eigenen Deutungs- und Ausdrucksweisen eine Perspektive aufgegriffen hat, die in ähnlichen Kontexten eine bereits ältere familiengeschichtliche Thematik ihrer Eltern ist. Ortseinbindungen im separierten Wochenalltag Frau Bauer greift im weiteren Verlauf des Gruppeninterviews den Vergleich der Wohnsituation von Mathis und Sarah zwischen früher und heute auf und bekräftigt die Bedeutsamkeit des innerstädtischen Umzugs auch für sie selbst. Gruppeninterview zur Familiengeschichte, im Wohnzimmer am Esstisch Frau Bauer: Herr Lange: Frau Bauer:

Aber es war schon ’n Einschnitt; {Frau Bauer nickt mehrmals, während sie Herrn Lange ansieht} find’ ich. also aus dieser Dach-, aus dieser; ⎣Das-; der Umzug? ⎣ja, okay. aus dieser Dachwohnung da; [F1E4: 00h 31m 39s – 00h 31m 46s]

Frau Bauer schließt sich der Perspektive ihrer Kinder auch darin an, dass sie sich in ihrer Ausdrucksweise deutlich von »dieser Dachwohnung da« distanziert, in der sie annähernd zehn Jahre lang zuerst allein, später mit Herrn Lange und dann auch zusammen mit den Kindern gelebt hatte. Sie spricht nicht nur von einem Schritt der Wohnsitzverlagerung, sondern von einem bedeutsamen Schnitt, indem sie die gegenwärtige »Wohnsituation« von »dieser Dachwohnung da« absetzt. Sie stimmt hier mit Mathis und Sarah überein und verweist auf einen Erfahrungsraum gemeinsamen Wohnens, an dem Herr Lange damals bereits weniger partizipierte. Dieser gesteht ihr zu, dass der Umzug für sie ein Einschnitt war, markiert aber weiterhin durch seine rückversichernde Frage eine Differenz zu seiner Perspektive.

184 | F AMILIÄRE R ÄUME Gruppeninterview zur Familiengeschichte, im Wohnzimmer am Esstisch Frau Bauer:

Herr Lange: Frau Bauer:

Also das heißt, es war einerseits die Wohnungssituation an sich, die nicht mehr stimmte; {sie hält den Daumen wie zum Aufzählen gestreckt, legt im weiteren Verlauf der Rede die fünf Finger beider Hände aneinander} nicht mit drei Kindern irgendwie, so dass es wirklich händelbar war; wir natürlich auch feststellten, du kommst mit drei Kindern gar nicht mehr so, so raus, also wir hatten weder einen Balkon, noch ’ne Terrasse, noch irgendwo im Ga-, äh {sie umformt mit den Händen über der Tischplatte ein Areal} in diesem Hinter-, also hinterm Haus irgendwas, wo man wirklich mal hätte so draußen (.) mit den Kindern sitzen können? °Aber° ⎣Was.

Herr Lange hält seine Handfläche waagerecht nach oben geöffnet. Herr Lange: Frau Bauer: Herr Lange:

Dafür hatten wir Grüntal. Aber unter der Woche nicht, Markus. ⎣Unter der Woche nicht.

Herr Lange wendet seinen Blick kurz ab, zu Mathis und Sarah. Frau Bauer wechselt mit ihrem Blick beim Sprechen zwischen Herrn Lange und dem Forschenden hin und her. Frau Bauer:

Unter der Woche musstest du immer auf diese blöden Spielplätze dann irgendwo gehen, und abends hingst du halt dann auch im Sommer in dieser stickigen Wohnung fest; weil du einfach nich-, nicht mal einen Balkon hattest, wo man dann sacht; wenn ich schon da bleiben muss, dann (.) kann ich mich wenigstens raus setzen; ne?

Herr Lange schaut auf den Tisch, während Frau Bauer spricht, dann reckt er sich kurz hoch und schaut länger in Richtung Fenster, sieht kurz zur Kamera und schließlich wieder zu ihr. Frau Bauer:

Forschender: Herr Lange: Frau Bauer: Herr Lange: Frau Bauer: Herr Lange: Frau Bauer: Sarah:

Also; dass wir eigentlich gesagt haben; bis Mathis in die Schule kommt, wollen wir irgendwo was gefunden haben, wo wir denken, dass da auch die Schulsituation mehr stimmt. und ham dann sogar noch überlegt, an den Stadtrand zu ziehen, ⎣Mhm, In eine einfache Einzel, Einfa-, Einzelfa⎣In diese typischen ⎣Wie heißt es? Hm? Einfamilienhaus (.) siedlung. ⎣°In diese Wohn-° ⎣Wieso sind wir denn da nicht hingezogen?

Frau Bauer schaut zu Herrn Lange.

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Herr Lange: Frau Bauer: Herr Lange: Frau Bauer:

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{Zu Sarah gewandt} Weil Sabine und ich das nicht wollten. {Zu Sarah gewandt} Wir ham es erst mal, das eine ham wir versucht. da haben die ganz kurzfristig abgesagt, den; die; den Notarstermin. (.) °Mhm°, {Sie nickt Sarah kurz zu} Ne? das wollten {Frau Bauer wendet sich zu Herrn Lange} wir wirklich machen. das hat uns da total gut gefallen. [F1E4: 00h 41m 37s – 00h 42m 58s]

Im Anschluss an Sarah und Mathis kommt Frau Bauer auf die frühere »Wohnsituation« zu sprechen – eine verhältnismäßig kleine Dachgeschosswohnung mit zwei Durchgangszimmern und, wie sie vor dem Szenenausschnitt erwähnt, steilen Treppenstufen. Die Wohnsituation wurde zwar einstmals als stimmig empfunden, aber nicht mehr mit drei Kindern. Sie hätten auch feststellen müssen, dass dieser Wohnsituation nur noch unter Schwierigkeiten zu entkommen gewesen sei – »du« mit drei Kindern gar nicht mehr »so raus« kommst. Weder die Wohnung noch die Umgebung seien so beschaffen gewesen, dass man abends mal mit den Kindern (bei einem Balkon vielleicht auch ohne die Kinder) hätte draußen sitzen können. Frau Bauer spricht anfangs in der ersten Person Plural, womit sie nicht ihre Kinder mit einbezieht, die in diesem Satz grammatisch das Objekt sind, sondern Herrn Lange. Dieser Plural verweist nicht nur auf die gemeinsame Rahmung des Zusammenlebens, sondern auch auf einen Anspruch des gemeinsamen Auftretens hinsichtlich der familiengeschichtlichen Ereignisse – so wie auch die Bedeutung von Grüntal als der ›Familiensitz‹ im Plural vertreten wird. Herr Lange teilt aber gar nicht im vollen Umfang ihre Alltagserfahrungen in dieser Dachwohnung, da sie die Wochentage in Berlin mit den drei Kindern tagsüber vorrangig allein bewältigen musste, während er beruflich bedingt nicht anwesend sein konnte. Herr Lange bringt stattdessen den Einwand vor, dass sie doch Grüntal hatten, um »raus« zu kommen. Das alte Bauernhaus in Grüntal wird von Herrn Lange aus seiner Pendler-Erfahrung als Ausgleich gesehen, wobei er von den geschilderten Einschränkungen mit drei kleinen Kindern im Berliner Alltagsleben abstrahiert. Seine geäußerte Sicht, dass Grüntal als Ausgleich zum abendlichen Ausharren in der Dachgeschosswohnung fungiert habe, ist durch das wiederkehrende Schema begründbar, von Montag bis Freitag selbst nicht zuhause, sondern diesbezüglich auf die gemeinsamen Wochenenden verwiesen zu sein. Im beschriebenen Szenenausschnitt übersieht er allerdings die Differenz, dass Frau Bauer neben ihrer Erwerbstätigkeit (oder auch zwischenzeitlich ohne ausgeübte Erwerbstätigkeit) das Alltagsleben zusammen mit drei Kindern zu bewältigen hatte – in einer als einengend und bedrückend charakterisierten räumlichen Intensität. Wenigstens »raus« zu können ist in ihrer Darstellung eine Mindestanforderung an die Lebenssituation, wenn sie schon – im Gegensatz zu ihm – »da bleiben« musste. Im ersten Gruppen-

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interview zum Alltagsleben betonte Frau Bauer, dass ihr die Berufsausübung viel Spaß mache und diese zusammen mit dem Familienleben so zu gewichten suche, dass sie durch beides eine sinnerfüllte Balance empfinde. Die inakzeptable Wohnsituation ist für sie ein Punkt, der den Wohnungsumzug erforderlich machte. Ein weiterer Punkt sei die als problematisch eingeschätzte »Schulsituation« gewesen. Mathis’ Einschulungsalter bildet daher eine ultimative Zeitmarke, durch die ein Wohnungswechsel zusätzlich begründet und nicht länger aufzuschieben war. Ob »diese blöden Spielplätze« hingegen auch deswegen ›blöd‹ waren, weil die ganze Wohnumgebung über die »Schulsituation« hinaus für sie nicht mehr stimmte, lässt sich an den Äußerungen nicht belegen. Immerhin hatten sie aber »sogar noch überlegt«, den gesamten Stadtbezirk hinter sich zu lassen und »an den Stadtrand zu ziehen«, wie Frau Bauer erzählt. Der besagte Stadtrand kann mit hinreichenden Finanzierungsmöglichkeiten eine konträre Option zum vorherigen Innenstadtbezirk sein, nicht nur hinsichtlich der »Schulsituation«. Im Vorgespräch hat Frau Bauer zudem von Verwandten außerhalb Berlins berichtet, die hinsichtlich des Stadtbezirks eher skeptisch eingestellt waren, bevor sie einen Besuch machten und ihr Bild daraufhin relativierten. Der Stadtrand verheißt auch mehr Möglichkeiten ›ins Grüne‹ zu kommen und je nach Wohnlage unter Umständen auch einen kürzeren Fahrtweg nach Grüntal. Zumindest Sarah sieht im Haus am Stadtrand eine verpasste Wohnalternative zum Innenstadtbezirk, wobei eine Differenz insbesondere zu Herrn Lange hervortritt. Dieser äußert knapp und entschieden, dass Frau Bauer und er das damals nicht wollten – womit er auch die Überlegung an den Stadtrand zu ziehen, von der Frau Bauer gerade noch sprach, als eine tatsächliche frühere Option verwirft. Frau Bauer widerspricht ihm diesbezüglich allerdings. Sie stellt den Entscheidungsprozess anders da, wodurch sie auch zwischen den beiden Positionen vermittelt: Zumindest einmal hätten sie ein Haus in Aussicht gehabt, das ihnen »total gut« gefiel, dessen Kauf jedoch kurz vor dem beabsichtigen Abschluss scheiterte. Die Ortsfrage des Wohnungseigentum war hinsichtlich einer Bewältigung der Alltagspraxis für Frau Bauer von einer dringlicheren Relevanz als für Herrn Lange, der vergleichsweise wenig am Alltagsleben in Berlin teilhaben konnte und zumindest mit einigen der Alltagsprobleme weniger konfrontiert war als sie, wie aus dem Szenenausschnitt hervorgeht. Andererseits beinhaltet die Ortsfrage auch über die Alltagsbewältigung hinaus einen Aspekt der persönlichen Repräsentation, der symbolischen Selbstverortung, der umso bedeutsamer sein kann, je knapper die zeitlichen Möglichkeiten sind, ›da‹ zu sein. Obwohl Herr Lange wiederholt betont, dass für ihn das Bauernhaus in Grüntal hinsichtlich der Anwesenheiten im Rahmen des Zusammenleben viel bedeutsamer sei als der Wohnzusammenhang in Berlin, macht er gegenüber Sarah eine Ortsbindung aus der Vergangenheit geltend, die für

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ihn mehr als für Frau Bauer auch in der Gegenwart eine biographische Bedeutsamkeit in Abgrenzung zur Einfamilienhaussiedlung am Stadtrand hat. Für Herrn Lange folgte aus der erwerbsbedingten Anbindung an den Arbeitsort, mit einer vergleichsweise großen geographischer Distanz zu Berlin, eine alltagspraktische Separierung von der Familiensphäre mit ihren täglichen Abläufen und Erfordernissen, in der Frau Bauer mit den noch kleinen Kindern von montags bis freitags weitgehend auf sich allein gestellt war. Indem er die täglichen langen Wege vor einigen Jahren aufgab, gewann er zwar Zeit hinzu, ist ohne das tägliche Pendeln aber noch umfassender vom gemeinsamen Zusammenleben getrennt. Da die Dienstwohnung erklärtermaßen kein zweiten Zuhause sein soll, verbringt er die gewonnene Zeit bevorzugt am eigentlichen Ort seiner Erwerbstätigkeit. Gruppeninterview zum Familienalltag, in der Küche am Küchentisch Sarah:

Also wir haben festgestellt, als ich das letzte Mal in Halle war; dass Papa dreizehn Stunden am Tag im selben Büro ist. (1)

Herr Lange sitzt mit verschränkten Armen zurückgelehnt und lächelt. Herr Lange: Mathis:

Jou. So wenich?

Sarah dreht ihren Kopf zu Mathis. Sarah: Herr Bauer: Mathis: Tabea: Herr Lange:

{etwas aufgebracht, lebhaft} Dreizehn Stunden; jeden Tag. ⎣☺(.)☺ {in Richtung Tisch murmelnd} °Stimmt; is’ ja mehr°. (1) Machst du auch die ganze Zeit was? ⎣Nein. {er schüttelt kurz den Kopf}

Frau Bauer und der Forschende lachen. Sarah und Tabea sagen kurz und lebhaft gegenseitig etwas, das unverständlich bleibt. Herr Lange: Sarah: Herr Lange: Sarah: Frau Bauer: Herr Lange: Tabea: Herr Lange:

Tabea:

Das hab ich ja schon gesagt, das is ja {etwas aufgebracht, lebhaft} ⎣Tabea, versuch du mal dreizehn Stunden am Stück zu arbeiten ⎣Kannste gar nicht. ⎣Ich wette, du schaffst keine zwei. Außerdem ⎣Das hat ja auch was, Tabea, mit der Effektivität zu tun. Mit der was? Mit dem; mit dem; {er formt mit den Fingerspitzen auf dem Tisch eine Handhöhle} in den dreizehn Stunden; äh, ich könnte das sicherlich auf acht Stunden komprimieren. Aber du bist eigentlich gerne im Büro;

188 | F AMILIÄRE R ÄUME Herr Lange: Mathis:

⎣Aber warum, warum sollte ich das tun, ne? Ist ja nicht zuhause.

[F1E2: 00h 16m 44s – 00h 17m 27s]

Entgegen Frau Bauer, aber auch im Kontrast zu den Äußerungen von Herrn Franke in den vorherigen Abschnitten, kann Herr Lange aufgrund seiner mehrtägigen Separierung von der Familiensphäre ›großzügig‹ mit seiner verfügbaren Zeit umgehen und seinen Aufenthalt im Büro auf dreizehn Stunden ausdehnen, anstatt den Arbeitstag zeitlich verdichten zu müssen. Er genießt dabei, wie er zu einem anderen Zeitpunkt ausführt, ein angenehmes Betriebsklima, in dem morgens gefrühstückt und zusammen Kaffee getrunken wird. Allerdings wird in diesem Szenenausschnitt übergangen, dass er in Halle nicht ausschließlich im Büro ist. Er unternimmt dort auch Freizeitaktivitäten, indem er z.B. Sport macht. Doch auch tagsüber kann er sich in seiner beruflichen Position ein hochgradig selbstbestimmtes Zeitmanagement leisten und diese Individualisierung seiner Alltagszeit gerät an den Wochenenden mitunter auch in Konflikt zu den Synchronisierungsansprüchen im Zusammenleben als Familie. So erzählt Herr Lange im zweiten Gruppeninterview, dass er sich an Wochenenden auch seine Auszeiten nehme, indem er einen Mittagsschlaf mache, um dafür abends Zeit zum Lesen zu gewinnen, wenn die anderen schon schlafen – was nicht immer gutgeheißen werde. Verbindende Mobilität Die zeitlich ausgedehnte räumliche Trennung von Familien- und Erwerbssphäre im Fall von Herrn Lange und die kompensatorische Konzentrierung der gemeinsamen Familiensphäre auf einen ›dritten‹ Ort lässt eine routinierte Verknüpfung unterschiedlicher Orte hervortreten, an denen die alltägliche Lebensführung aller Zugehörigen bei Bauer/Lange ausgerichtet ist – über die Organisation einer verbindenden Zeitordnung hinaus. Die Stellung des Wochenendhauses als separierter Ort der gemeinsam verbrachten Zeit markiert eine Differenz zwischen den vergleichsweise individualisierten Wochentagen und einer Familiensphäre, die auf die Wochenenden konzentriert und diesem in Hinblick auf das Familienleben dezentrierten Alltag ideell entgegengesetzt ist. Die örtliche Separierung der Wochenenden, wie auch eine damit verbundene Pendelmobilität, durch die Herr Lange in früheren Jahren von den anderen Familienmitgliedern abgeschieden war, fließen nun als kollektivierte Praxiserfahrung im Wochenrhythmus in einen konjunktiven Erfahrungsraum des Zusammenlebens ein. Die Separierung zweier Wohnsphären ist auf diese Weise gewissermaßen in eine verbindende Separierung des gemeinsamen Wochenendes vom restlichen Wochenalltag transformiert worden, die von allen geteilt und durch das gemeinsame Pendeln überbrückt wird – eine verbin-

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dende Bewegung, die als familiengeschichtliche Erfahrung auch dann noch biographisch miteinander geteilt wird, wenn die heranwachsenden ›Kinder‹ dem Wochenmodell zunehmend weniger zu folgen gewillt sein werden, um stattdessen an den Wochenenden eigene Wege zu gehen. Aufgrund der wöchentlichen Wohnmobilität kann dem Wochenendhaus in Grüntal, das nach dem Berliner Umzug zum ältesten gemeinsamen Bezugsort des Zusammenlebens geworden ist, besonders für Herrn Lange eine Bedeutung von Kontinuität zukommen, wohingegen er vom Berliner Alltagsleben zeitlich weitgehend ausgegrenzt bleiben muss. Die Bedeutsamkeit der Kontinuität im Rahmen des Zusammenlebens verweist allerdings auch auf einen gewissen Druck für alle Beteiligten, an diesem multilokalen Verbindungsmodell festzuhalten und mitzuwirken. So kontrastreich dieses Modell des Zusammenlebens im Vergleich zum vergleichsweise dichten Zusammenleben bei Müller/Franke ist, in dem Herrn Franke ein Fehlen räumlicher Abgrenzungsmöglichkeiten beklagt, so ähnlich sind sich die beiden Falldarstellungen dennoch hinsichtlich einer allmählich eingerichteten Verteilung von Ressortzuordnungen. Bei Bauer/Lange war vor fünfzehn Jahren zunächst vor allem Frau Bauer die ›Familienernährerin‹ und Herr Lange versorgte während ihrer Erwerbstätigkeit den kleinen Mathis – doch änderten sich die Erwerbs- und die elterlichen Fürsorgeverhältnisse mit dem Ende seiner Erwerbslosigkeit und einem zweiten Kind. Seitdem war es vornehmlich Frau Bauer, die mit den kleinen Kindern, wie sie sich in einem Szenenausschnitt ausdrückt, vorerst »da bleiben« musste, während Herr Lange zunächst noch innerhalb Berlins und später nach Halle pendelte; erst täglich und schließlich in der Regel im Wochenrhythmus. Mit dem Teilumzug nach Halle, seitdem auch Tabea als jüngstes Kind das typische Kindergartenalter erreicht hat, bleibt Herr Lange von montags bis freitags in der Regel von den Organisationserfordernissen des Zusammenlebens weitgehend befreit. Frau Bauer ist dagegen unumgänglich auf Organisationsanforderungen des Zusammenlebens und eine Koordination mit ihrer Erwerbstätigkeit festgelegt, auch wenn Mathis, Sarah und Tabea inzwischen alt genug sind, um sich tagsüber nicht nur selbst versorgen, sondern auch einige der Haushaltsroutinen übernehmen zu können. Eine wöchentlich hinzugezogene Haushaltshilfe unterstützt die Tragbarkeit dieses Alltagsmodells, von dem die Wochenenden im Ort Grüntal als geradezu außeralltägliche Familiensphäre entrückt sind. Im Kontrast zur erwerbsbedingten Dezentrierung geographischer, mithin auch biographischer Lokalisierungen im Zusammenleben bei Bauer/Lange, die durch ein regelmäßiges, kollektiviertes Mobilitätsmuster in Bezug auf einen gemeinsamen, vom trennenden Alltag entrückten Ort der Familiensphäre ausgeglichen wird, versuchen Dübner einen Bruch im Rahmen des Zusammenlebens durch die Einrichtung von ›Familienzeiten‹ nach Absprache zu überbrücken.

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Z UGEHÖRIGKEIT Zugehörigkeit und Vertrautheit werden im Rahmen des Zusammenlebens nicht allein durch wiederkehrende Kopräsenz und gemeinsame ›Treffpunkte‹, sondern auch durch die alltagspraktische Einbettung in einen objektivierten Lebenszusammenhang hervorgebracht und aktualisiert, der zeit- und ortsübergreifend in einer Alltagspraxis des Wohnens organisiert ist. Im Modus Operandi des Zusammenlebens besteht diese Praxis gerade nicht nur aus Interaktion der Familienmitglieder in abgeschirmter Kopräsenz; die alltägliche Lebensführung bleibt mit dem ›Familiensinn‹ auch über die einzelnen Phasen der Kopräsenz und technikbasierter Interaktion hinaus an einer Praxis des gemeinsamen Wohnens orientiert. Ein diese Zugehörigkeit fundierender Erfahrungsraum des Zusammenlebens gründet sich auf die Kontinuität eines verbindenden Lebenszusammenhangs, der nicht ›im Leeren« schwebt, wie Aron Gurwitsch schreibt. »Man versteht einander im Zusammenleben durch das unausdrückliche Gebrauchmachen dessen, was sich so von selbst versteht und woran alle Anteil haben«. Gurwitsch begreift darunter nicht primär eine kommunikative Welt der Verständigung, sondern neben gemeinsamen materiellen Gütern vor allem auch die habituellen Übereinstimmungen und gemeinsame Verfahrensweisen im Modus einer familiären Logik der Praxis, auf deren Grundlage die persönlichen Beziehungen im Zusammenleben stabilisiert und ausagiert werden. Das Verstehen im unausdrücklichen Gebrauch der gemeinsamen Grundlagen verweist auf ein geteiltes implizites Wissen, das die Differenz zwischen Zugehörigen und Außenstehenden maßgeblich begründet, wobei die wiederkehrende Teilhabe für die Genese dieses Wissens konstitutiv ist (Gurwitsch 1976: 175ff.). Die individuelle Zugehörigkeit ist diesbezüglich nicht primär durch eine Zuordnung innerhalb der gleichen Wohnungsgrenzen begründet. Sie konstituiert sich durch die Teilhabe an einem konjunktiven Erfahrungsraum – durch eine verbindende Praxisgeschichte, die nicht auf einen Wohnbereich begrenzt, sondern durch eine Alltagspraxis verbindenden Wohnens, einschließlich einer wechselseitigen Anerkennung als zugehörig, begründet sein muss – auch bei möglichen Ausformungen des Familienlebens als ein ›living apart together‹. Die folgende Falldarstellung von Dübner bildet hier einen weiteren Kontrast hinsichtlich der Lokalisierungen im Rahmen des Zusammenlebens mit einer Unschärfe in der Zugehörigkeit von Herrn Dübner. Dieser ist zwar vor etwa einem Jahr aus der gemeinsamen Mietwohnung ausgezogen und lebt seitdem getrennt von Frau Dübner und den Kindern; er besitzt jedoch weiterhin einen Haus- und Wohnungsschlüssel zur ehemals gemeinsamen Wohnung, so dass er zu den verabredeten Besuchszeiten am Abend nicht wie ein Außenstehender klingeln muss. Seitdem wird sich darum bemüht, einen neuen Rahmen für regelmäßige gemein-

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same Orts- und Zeitmuster zu schaffen, um eine Kontinuität zu bewahren und an das ›gewohnte‹ Familienleben von früher mit neuen Routinen anzuknüpfen.

B EI D ÜBNER Silke und Mahmut Dübner, sie Anfang und er Ende dreißig, sind miteinander verheiratet und haben drei gemeinsame Kinder: die 11-jährige Tochter Miriam, den 9-jährigen Sohn Fatih und die 6-jährige Tochter Jara. Alle drei Kinder wurden in Berlin geboren und besuchen gemeinsam die gleiche Grundschule, zu der sie am Morgen zu Fuß gehen können. Als Ausbildungsstatus geben Frau und Herr Dübner jeweils die Mittlere Reife und eine Berufsausbildung an. Herr Dübner übt seinen erlernten Beruf in einer leitenden Position im Gastronomiebereich aus, in der die Bereitschaft zu langen Arbeitsschichten und zeitliche Flexibilität vorausgesetzt werden. Mitunter muss er auch an seinem Arbeitsplatz spontan bei Anrufen einspringen, falls ein Mitarbeiter ausfällt. Frau Dübner geht nach mehrjähriger Unterbrechung inzwischen wieder einem Beruf als Angestellte nach und bessert den Erwerb durch einen Nebenjob als Haushaltshilfe auf. Ihren früheren Ausbildungsberuf übt sie aufgrund der branchenüblich geringen Bezahlung nicht mehr aus. Frau Dübner ist in Berlin aufgewachsen, Herr Dübner in einem arabischen Land im Nahen Osten, wo viele Familienangehörige auch weiterhin leben. Kennengelernt haben sich Frau und Herr Dübner auf dem Flughafen einer westeuropäischen Großstadt außerhalb Deutschlands. Nach ihrem Kennenlernen lebten sie in dieser Stadt mehrere Jahre zusammen, wo sie später auch heirateten. Nachdem Frau Dübner schwanger wurde, entschied sie sich jedoch, vor der Geburt des ersten Kindes wieder nach Berlin umzuziehen, wo sie aufgewachsen ist und wo auch ihre Eltern weiterhin leben. Sie wünschte sich damals für das Aufwachsen ihres Kindes ein verwandtschaftliches Umfeld, wie sie erzählt, das sie am bisherigen gemeinsamen Wohnort nicht gegeben sah. Als Frau Dübner für die bevorstehende Geburt nach Berlin kam, wurde die Einreisemöglichkeit Herrn Dübners durch eine deutsche Behörde verzögert, wie Frau Dübner berichtet. Obwohl das Paar bereits miteinander verheiratet war, sei die Einreiseerlaubnis für ihn nicht mehr rechtzeitig gewährt worden, so dass Herr Dübner erst mehrere Tage nach der Geburt in Berlin eintreffen konnte. Das sei nicht zuletzt auch deshalb für beide belastend gewesen, weil es Frau Dübner aufgrund von Komplikationen nach der Geburt gesundheitlich sehr schlecht ging. Seit dieser Geburt und seiner Ankunft in Deutschland wohnten sie zusammen mit ihren Kindern in Berlin. Seit etwa einem Jahr lebt Herr Dübner jedoch getrennt von Frau Dübner und den drei gemeinsamen Kindern. Aufgrund fortwährender Streitigkeiten, die sich laut Frau Dübner vorwiegend an divergierenden Erziehungsvorstellungen entzün-

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deten, hätten sie sich für den Schritt einer Trennung entschieden. Herr Dübner ist in eine andere Wohnung innerhalb Berlins umgezogen, während Miriam, Fatih und Jara zusammen mit Frau Dübner in der bisherigen Wohnung leben, die sie vor etwa fünf Jahren gemeinsam bezogen haben. Die Wohnung befindet sich im Hochparterre eines mehrstöckigen, funktional gestalteten Baus mit mehreren Wohnparteien. Der Wohnbau ist etwas abseits einer langen ruhigen Straße gelegen, durch die zwei verschiedene ›Wohnumgebungen‹ voneinander getrennt sind. Zur einen Seite reihen sich alleinstehende Einfamilienhäuser aneinander; zur anderen Seite befinden sich mehrere mehrstöckige Mehrparteienwohnhäuser in ähnlicher Bauweise, zwischen denen sich Zugangswege, Grünflächen und gepflasterte Vorplätze befinden. Neben der gemieteten Wohnung, in der Frau Dübner, Miriam, Fatih und Jara leben, und der Wohnung von Herrn Dübner, haben sie gemeinsam auch ein Gartengrundstück mit Laube in der Nähe gemietet, das vorwiegend in der warmen Jahreszeit nachmittags sowie an vielen Wochenenden genutzt wird. Trotz ihrer räumlichen Trennung wollen Frau und Herr Dübner den Ehestatus aufrechterhalten. Gerade diese räumliche Trennung soll dazu dienen, ein Miteinander auf eine neue Weise fortsetzbar zu machen. Frau Dübner berichtete im Vorgespräch, das an einem Vormittag wochentags in Abwesenheit von Herrn Dübner und der Kinder durchgeführt wurde, dass sie viele geschiedene Paare im Bekanntenkreis kenne, deren Kinder durch die Trennung ihrer Eltern tief verletzt worden seien. Den eigenen Kindern wollten sie einen solchen Trennungsverlauf ersparen und ihnen ermöglichen, weiterhin wichtige Ereignisse und auch wiederkehrende Alltagsmomente mit beiden Eltern zu verbinden. Trotz Trennung soll den Kindern ein regelmäßiges Zusammensein mit Herrn Dübner in der gewohnten Umgebung möglich sein. Insbesondere auch zu den abendlichen Zeiten, wenn Frau Dübner zum Sport geht oder etwas anderes unternimmt, verbringt Herr Dübner mit den Kindern die Abende, wobei sie dann z.B. zusammen fernsehen oder sich auf zwei Fernseher verteilen, da Miriam einen eigenen Fernseher in ihrem Zimmer hat. Früher bereitete Frau Dübner regelmäßig ein gemeinsames Mittagessen vor, nachdem sie die Kinder von Kindergarten und Schule abgeholt hatte. Seitdem sie wieder intensiver erwerbstätig ist, essen Miriam, Fatih und Jara nun im Kinderhort zu Mittag. Nachdem sie morgens zu viert gefrühstückt haben, kommen sie abends am Wohnzimmertisch zu einem gemeinsamen Abendbrot zusammen. An solchen regulären Mahlzeiten nimmt Herr Dübner seit seinem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung nicht mehr teil. Stattdessen ist an den Wochenenden jedoch häufig die Mutter von Frau Dübner zum Frühstück anwesend. Die elterliche Trennungssituation nehme ich im Erhebungsverlauf vor dem Hintergrund meine Vorwissens als ein hochgradig sensibles Thema wahr, das nach dem Vorgespräch im Beisein von Herrn Dübner, Miriam, Fatih und Jara nicht mehr explizit angesprochen wird.

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Die Erhebungen fanden stets freitagabends in zeitlichen Abständen von zwei und einmal sechs Wochen statt. Die Gruppeninterviews wurden an diesen Abenden jeweils durch den nachfolgenden Programmpunkt des Fernsehens beendet, wobei besonders Fatih jeweils auf einen bevorstehenden Sendungsbeginn im Fernsehen hinwies. Zur Mahlzeit und zum Familienspiel setzten sich Frau Dübner, Miriam, Fatih und Jara an den Esstisch, der sich in einer Essnische des Wohnzimmers befand; zu den Gesprächsterminen wurde die Couchecke des Wohnzimmers gewählt. Im Gegensatz zu den anderen Terminen war Herr Dübner zu diesen beiden Gruppeninterviews anwesend, wobei er den Wohnbereich zum zweiten Gruppeninterview erst kurz vor dessen Ende betrat. Sich arrangieren in einer ambivalenten Erhebungssituation Obwohl Frau und Herr Dübner vor etwa einem Jahr eine Trennung der Paarbeziehung vollzogen haben, umfasst diese keinen Abbruch der alltäglich gelebten Familienbeziehungen. Die auch räumlich bekräftigte Trennung brachte eine Umstellung der Familienverhältnisse mit sich, die in mancherlei Hinsicht, wenn auch nicht von Grund auf, neu justiert werden mussten, wobei sich alle Beteiligten in eine veränderte Alltagspraxis des Familienlebens einzupassen hatten. Im verbindenden Interesse an der Fortsetzung eines gemeinsamen Alltagszusammenhangs sind seitdem Routinen und Koordinationsmuster eingerichtet worden, die an das frühere Zusammenleben anknüpfen und Bestandteile älterer Routinen aufgreifen und fortführen. Trotz ihrer Trennung bleiben die Dübners weiterhin am Leitbild einer gemeinsamen Rahmung orientiert, das besonders für Miriam, Fatih und Jara Kontinuität gewährleisten soll. Gruppeninterview zum Familienalltag, im Wohnzimmer in der Couchecke Für das erste Gruppeninterview setzen sich Miriam und Frau Dübner auf die Couch. Herr Dübner hat sich in den einzigen Sessel gesetzt, und Fatih ist von der Sessellehne in die Sitzfläche des Sessels neben ihn gerutscht. Jara sitzt erst am Rand der Couch, zwischen der Couchlehne und Frau Dübner, und beklagt, dass sie auch näher bei Herrn Dübner sitzen möchte, woraufhin Herr Dübner ihr vorschlägt, sich auf die Couchlehne zu setzen, so dass sie zugleich neben ihrer Mutter sitzen könne. Jara setzt sich auf die Couchlehne, und Frau Dübner und Miriam rutschen auf der Couchfläche in Richtung Sessel nach. Während Jara sich auf der Couchlehne zurechtrückt, setzt sich Miriam auf den Schoß von Frau Dübner, rutscht kurz darauf aber zurück auf ihren vorherigen Platz. Nachdem zuvor geklärt worden war, dass die Erhebung in der Couchecke stattfinden würde, hatte der Forschende die Kamera auf die Couch ausgerichtet, deren Fokus er während der Platzierungen etwas zum Sessel dreht.

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Abb. 5: Offene Couchecke im Wohnzimmer bei Dübner.

Im Verlauf dieses Platzierungsprozesses angesichts der beginnenden Aufzeichnung rücken die fünf Dübners in der Couchecke des Wohnzimmers nebeneinander zusammen, durch ihr Wissen um die eng gefasste Bildrahmung der Videoaufzeichnung geleitet. Allerdings beinhaltet dieses hervorgebrachte Arrangement mit dem Ensemble aus Sessel und Couch auch einen markanten Abstand, der durch die Sitzplatzwahl von Jara auf der Lehne ›dazwischen‹ nur ansatzweise überbrückt werden kann. Denn entgegen der Couch, die weiträumigen Sitzplatz in variabler Nähe zueinander bietet, gibt der Sessel eine individuell eingefasste Platzierung vor, die andere Sitzende auf Distanz hält, weil dieses Möbelstück separat für sich steht. Das Teilen der begrenzten Sitzfläche dieses Sessels schafft andererseits aber auch, so wie bei Herrn Dübner und Fatih, eine besondere und exklusive Nähe. Jara und Miriam versuchen hier im Platzierungsprozess auf verschiedene Weise, mit dieser Nähe zwischen Herrn Dübner und Fatih gleichzuziehen. Entgegen dem Esstisch, der in einer etwas beengten Zimmernische untergebracht ist, schafft die Couchecke ein zum restlichen Wohnzimmer hin geöffnetes Areal. Die fünf Dübners setzen sich zur Vorbereitung auf die Gesprächssituation nahe zueinander und annähernd in eine Reihe, wobei die Couchecke in Relation zum Fernseher an der Wand gegenüber platziert ist und die eingenommenen Sitzplätze auch einen fließenden Übergang zum Fernsehabend ermöglichen, der im Anschluss an das Gruppeninterview folgt. Diese Aufreihung, mehr neben- als zueinander platziert, adressiert dabei in der Ausrichtung nach ›außen‹ deutlicher die Aufzeichnungssituation als die Erhebungssituationen an einem hohen Tisch.35

35 Auch wenn die Kamera fallübergreifend selten explizit adressiert wurde, kam dies mit Ausnahme von Woellmer bei allen mitunter vor. Besonders während des Familienspiels, und dort bei Schummeleien, wurde dann eher beiläufig auf eine Zeugenschaft der Aufzeichnung verwiesen, wobei auch mit den Grenzen der vermeintlich unhintergehbaren Beobachtungsperspektive gespielt wurde.

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Das Gruppeninterview nahm ich bei Dübner als sehr zurückhaltend wahr und ein Erzählfluss kam anfangs kaum zustande, was m.E. nicht zuletzt durch Verfahrensfehler mitbedingt war, aus denen eine Unsicherheit der eigenen Positionierung resultierte. Aus diesem Grund beziehe ich hier diese Positionierung im Erhebungsprozess weitaus stärker mit ein. Eine gewisse Unsicherheit war primär durch die Problematik begründet, dass ich über die Haltung Herrn Dübners zum Erhebungsgeschehen sowie über das vorausgegangene Abstimmungsverhalten zwischen Frau und Herrn Dübner im Unklaren und daher auf Projektionen verwiesen blieb, wobei ich aus Sorge um die Fortsetzbarkeit des Erhebungsvorhabens diese offene Frage nicht dezidiert ansprach. Im Rückblick, besonders nach dem letzten Erhebungstermin, verstärkte sich mein Eindruck, dass Herr Dübner dem Erhebungsvorgang tendenziell ablehnend gegenüberstand oder aber in dessen Verlauf eine ablehnende Haltung entwickelte, ohne sich dazu jedoch explizit zu äußern. Unter den mir anfangs noch unbekannten Umständen war ein erster Verfahrensfehler bereits gewesen, allein mit Frau Dübner ein Vorgespräch zu führen und ihr dadurch einseitig eine Entscheidungskompetenz über das Erhebungsverfahren einzuräumen – eine Vorgehensweise, die z.B. bei Woellmer unproblematisch geblieben war. So hatte sich Herr Woellmer entschieden, berichtete jedenfalls Frau Woellmer, am Vorgespräch nicht teilzunehmen, um währenddessen lieber seinen nachts erwerbsbedingt versäumten Schlaf nachzuholen. Auch bei Bauer/Lange war Herr Lange zum Vorgespräch nicht anwesend gewesen. Als ich ihn zu Beginn des ersten Erhebungstermins fragte, ob er denn über den Hintergrund des Vorhabens ausreichend informiert sei, hatte er mit der Gegenfrage geantwortet, ob ich denn annähme, er würde nicht mit seiner Frau reden. Aus dieser Erfahrung zog ich daraufhin falsche methodischen Konsequenzen. Denn ob Herr Dübner eine Gelegenheit erhalten hatte, sich im Vorhinein hinreichend zu dem Erhebungsvorhaben zu positionieren, blieb aufgrund der ausbleibenden Nachfrage für mich ungeklärt. In den Vorgesprächen hatte ich zwar auf eine Notwendigkeit hingewiesen, dass beide Erziehungsberechtigten einverstanden sein und auch schriftlich zustimmen müssten, war aber davon ausgegangen, dass sich untereinander abgestimmt und im Vorhinein geeinigt würde. Bei meiner Ankunft zum Erhebungstermin des ersten Gruppeninterviews, zu dem Herr Dübner bereits anwesend war, empfand ich eine unbestimmte atmosphärische Spannung. Diese musste mit dem Erhebungsvorhaben nichts zu tun haben und blieb auch so vage, dass ich keine Klarheit darüber erhielt, inwiefern etwas Konkretes ›in der Luft lag‹, das mit dem Erhebungsprozess direkt zu tun hatte. Es blieb vielmehr bei einer nicht konkretisierten Empfindung. Einerseits machte Herr Dübner einen ernsten und in sich gekehrten Eindruck; er blieb wortkarg, so dass ich mir kein deutliches Bild seiner Haltung zum Erhebungsvorgang machen

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konnte. Andererseits berichtete Frau Dübner beim darauf folgenden Erhebungstermin, dass ihnen nach diesem Gruppeninterview noch ganz viel eingefallen sei. Stand Herr Dübner dem Erhebungsvorhaben ablehnend gegenüber? Fühlte er sich einfach nur befangen oder unwohl aufgrund der Aufzeichnungsapparatur? Oder war er mit Sorgen befasst, die mit dem Prozess nichts oder nur am Rande zu tun hatten? Hatte er einen anstrengenden Arbeitstag hinter sich? Überbewertete ich insgesamt die Anzeichen von Gespanntheit, weil ich aus dem Vorgespräch von der ›Trennungssituation‹ wusste? Da Herr Dübner nur während der Gruppeninterviews mit anwesend war, zum zweiten Gruppeninterview auch erst gegen Ende erschien, und sich mein Empfinden einer Ablehnung zu diesem zweiten Termin, insbesondere nach Abschluss der Aufzeichnungssituation beim Verabschieden, verdichtete, ist zumindest von einer sehr ambivalenten Haltung auszugehen.36 Familiales Zusammenleben als Leitbild der Lebensführung Zu Beginn des Gruppeninterviews formuliere ich die Eingangsfrage zum gewöhnlichen Alltagsablauf nicht nur in der dritten, sondern daraufhin auch in der zweiten Person Plural.37 Auf die Eingangsfrage beginnt Fatih mit einer knappen Aufzählung der Tagesstruktur aus seiner Perspektive, während Frau und Herr Dübner ihn lächelnd ansehen. Miriam ergänzt leise, dass sie nachmittags noch häufig Sport machten. Um einer starken Zurückhaltung entgegenzuwirken, in der Fatih und Miriam die Interviewsituation bisher alleine bewältigen – möglicherweise auch bedingt durch meine Anredeform –, entschließe ich mich dazu, durch Nachfragen ein möglichst selbstläufiges Gespräch weiter in Gang zu bringen. Da Fatih und

36 Für eine Verwendung des Erhebungsmaterials habe ich mich entschieden, weil Herr Dübner schriftlich sein Einverständnis gegeben und auch keine gegensätzliche Position artikuliert hatte. In dieser Entscheidung habe ich nicht allein die eigenen Interessen, sondern auch auf die Bereitschaft und den Zeitaufwand der weiteren Teilnehmenden berücksichtigt. Dieser Zeitaufwand kann auch ein weiterer denkbarer Erklärungsansatz einer ambivalenten Haltung sein, da meine Anwesenheit (eher als ›Frau Dübners Angelegenheit‹ betrachtet) auch von ›seiner‹ Zeit mit den Kindern zehrte. Siehe dazu den Kapitelabschnitt ›Exklusive Positionierungen‹. 37 Diese Anrede kam dadurch zustande, dass mir in zwei von fünf Fällen von beiden Eltern im Erhebungsprozess das ›Du‹ angeboten wurde, wohingegen in zwei weiteren Fällen beim ›Sie‹ geblieben wurde, während ich die Kinder stets duzte – wodurch in diesen Fällen eine doppelte Anrede zustande kam. Eine methodisch begründete Zurückweisung des ›Du‹ erschien mir damals kontraproduktiv. Bei Dübner war der Status jedoch unerwartet kompliziert, da Frau Dübner mir ein ›Du‹ angeboten hatte, Herr Dübner, der zum ersten Gruppeninterview zum ersten Mal anwesend war, jedoch nicht.

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Miriam jedoch nur knapp auf meine Nachfragen antworten, während Herr Dübner schweigend vor sich auf den Boden sieht und Frau Dübner lächelnd die Redebeiträge ihrer Kinder verfolgt, bin ich in ein Frage-Antwort-Geschehen verstrickt, wobei ich auf die Antworten von Fatih und Miriam wiederholt nachfrage. Die spontane Form einer ›Gesprächsführung‹ durch ›kleinere‹, konkrete Fragen ermutigt allerdings auch Jara, sich mit Äußerungen einzubringen. Nach den ersten Minuten versuche ich, Frau und Herrn Dübner zu Äußerungen anzuregen. Gruppeninterview zum Familienalltag, im Wohnzimmer in der Couchecke Forschender:

Und was machen die Eltern dann? wenn die Kinder in der Schule sind? also was machen Sie beide, oder Ihr beide? (1)

Herr Dübner schaut den Forschenden während seiner Frage an und wendet seinen Blick beim ›Ihr‹ wieder vor sich auf den Boden. Während Miriam antwortet, sieht Frau Dübner zum Forschenden. Miriam:

Papa arbeitet; ne?

Miriam beugt sich vor und schaut zu Herrn Dübner, der mit seinem Kinn auf der Brust vor sich hin schaut. Fatih: Miriam: Jara:

Naja meistens. ⎣°Meistens° {zum Forschenden gewandt} ⎣Meistens

Jara hat sich lächelnd zu Herrn Dübner umgewandt und betrachtet seine linke Hand, die er mit gespreizten Fingern seit Beginn der Aufzeichnung auf seinen linken Oberschenkel abgestützt hält, den Blick auf den Boden zwischen seine Knie gerichtet. Fatih:

⎣Wenn er frei hat, holt er uns vom Hort ab.

Miriam und Jara wenden ungefähr zeitgleich ihr Gesicht von Fatih zum Forschenden. ⎣aber

Fatih: Jara:

auch erst {er zuckt leicht mit seinen Schultern} später. {Zu Fatih gewandt} ⎣Opa auch manchmal.

Herr Dübner schaut zu Jara und dann zum Forschenden, lässt den Blick dann wieder nach unten schweifen, schaut auf Fatihs rechte Ellbogenbeuge, über die er wiederholt ganz leicht mit den Fingerkuppen seiner rechten Hand streicht (siehe Abb. 6). Miriam sitzt in Richtung Jara gedreht und sieht kurz zu ihr hin. Frau Dübner schaut zum Forschenden. Miriam: Frau Dübner:

Ja; wenn wir zum Training müssen. und Mama {sie blickt kurz zum Forschenden} arbeitet auch manchmal. Nja; so drei bis vier Mal die Woche. (1) und sonst mach ich halt hier sauber, oder mach meinen Sport? (3) [F5E2 00h 03m 40s – 00h 04m 15s]

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Abb. 6: Gruppeninterview in der Couchecke bei Dübner.

Anstatt die Dübners allgemein aus einer formalen Distanz anzusprechen, gibt der Forschende mit der doppelten Anrede in der dritten und der zweiten Person Plural eine sprachliche Differenz persönlicher Vertrautheit zu Frau und Herrn Dübner kund, in deren Folge Herr Dübner seinen Blick wieder abwendet und wie bereits zuvor mit nach unten geneigtem Kinn vor sich hin schaut. Der Forschende hat mit der unbedachten Anrede eine Differenz der Positionierung im Erhebungsprozess markiert, an dem Herr Dübner bisher noch keinen Anteil gehabt hatte. Die körperliche Abgewandtheit könnte vor diesem Hintergrund als ein Ausdruck von Distanziertheit zur Erhebungssituation gedeutet werden. Doch die Haltung könnte auch auf eine ›Zuhörerhaltung‹ unter den Vorgaben der Sesselausrichtung verweisen, und die erste Lesart ist zu Beginn des Ausschnitts nicht hinreichend belegbar. Fatih und Miriam gehen nach der Eingangsfrage des Forschenden nicht nur als erste auf dessen Frage ein; sie springen darüber hinaus auch anstelle ihrer Eltern mit Wortbeiträgen ein, als er diese adressiert. Ohne viel Zeit verstreichen zu lassen, komprimiert Miriams Äußerung den Alltag von Herrn Dübner auf den Aspekt der Erwerbstätigkeit. Dass »Papa arbeitet« verweist hinsichtlich der Frage auf das vorherrschende Tätigkeitsfeld ihres Vaters aus ihrer Perspektive und begründet eine erwerbsbedingte Abwesenheit. Sie sucht mit Blick in seine Richtung anschließend nach einer Reaktion, doch anstelle Herrn Dübners antwortet daraufhin Fatih, indem er einschränkend »meistens« anmerkt. Zur Perspektive, dass ihr Vater »meistens« arbeite, bekunden alle drei Geschwister gemeinsam einen Konsens. Daraus folgt implizit, dass er zwar nicht immer, aber sehr häufig erwerbsbedingt abwesend ist. Fatih erläutert, in Ergänzung zu Miriam, dass Herr Dübner sie vom Hort abhole, wenn er frei habe, dann »aber auch erst später«. Seine beiden Schwestern wenden sich bei dieser neuen Information beide zum Forschenden. Ebenso wie sich die Geschwister in diesem Szenenausschnitt gegenseitig ergänzen und gemeinsam den Beginn der Erhebungssituation ausagieren, spricht Fatih primär aus einer gemein-

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samen Perspektive auf ein wiederkehrendes gemeinsames Abgeholtwerden, eine konjunktive Erfahrung, die er mit seinen beiden Geschwistern teilt. Jara schließt noch differenzierend an Fatihs Erläuterung an, da sie der »Opa auch manchmal« abhole. Diese Differenzierung ordnet Miriam daraufhin in einen alltagspraktischen Kontext ein. Vom Opa würden sie abgeholt, wenn sie nicht nach Hause, sondern zum Training müssten. Zu diesem Training müssen sie aber nicht alle drei gemeinsam, da Miriam und Jara der gleichen, Fatih aber einer anderen Sportart nachgeht. Miriam weitet den bisherigen Fokus auf Herrn Dübner daraufhin zusätzlich auf ihre Mutter aus: »Mama arbeitet auch manchmal«. Mit diesen beiden Fokusverschiebungen blickt Herr Dübner wieder auf und Frau Dübner bringt sich nun ebenfalls in das Gespräch mit ein. Sie umreißt hinsichtlich der an sie adressierten Frage knapp ihren eigenen Alltag. Sie arbeite »so drei bis vier Mal die Woche« und sonst mache sie sauber oder ihren Sport, womit sie knapp sowohl ihre Tätigkeitsfelder der Erwerbs- und Hausarbeit als auch ihre vorrangige Freizeitaktivität benannt hat. Frau und Herr Dübner verhalten sich in dieser Erhebungssituation abwartend und lassen ihren Kindern zu Beginn den Vortritt. Diesbezüglich lässt sich nicht ausschließen, dass sie sich bisher gar nicht adressiert gefühlt haben, sondern ihre Kinder als primäre ›Adressaten‹ der Erhebungssituation betrachten. Diese äußern sich jedoch nicht nur zu den eigenen Tagesverläufen, sondern sprechen auch anstelle ihrer Eltern, bis schließlich Frau Dübner gleichfalls das Wort ergreift. Zu Beginn des Gruppeninterviews verfestigte sich für mich aufgrund des anfänglichen Schweigens die Sorge, dass dieses Interview nicht gelegen kommt und ich beschäftigte mich währenddessen mit der Frage, ob ich die Erhebung abbrechen sollte. Andererseits nahm ich keine eindeutigen Signale für meine Deutung wahr. Frau Dübner lächelte vielleicht nicht über eine spannungsvolle Situation hinweg, sondern empfand Freude über das Selbstbewusstsein und die Unbefangenheit ihrer Kinder. Vielleicht reagierten Frau und Herr Dübner vergleichsweise schüchtern auf die Aufzeichnungssituation, oder sie hingen gedanklich noch anderem nach. Nicht nur in der Erhebungssituation hatte ich hinsichtlich dieser Fragen ein Gefühl zu ›schwimmen‹; auch in der Reflektion des videographischen Materials gelang mir keine zufriedenstellende Antwort darauf. Mit der Annahme, dass meine Empfindung zur Ankunft mich nicht täuschte, wären die Dübners versiert darin, Spannungslagen nicht allzu sehr nach außen treten zu lassen. Unter der Annahme, dass Herr Dübner gegenüber dem Erhebungsgeschehen Vorbehalte hatte, tragen besonders Miriam und Fatih im beschriebenen Szenenausschnitt nicht nur maßgeblich dazu bei, diese Vorbehalte nicht hervortreten zu lassen; sie nehmen auch moderierende Positionen ein, in denen sie die Alltagsorganisation aus ihrer Perspektive darlegen, wobei sie sich kooperativ ergänzen.

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Getrennt- und zusammen sein Das Vorwissen um die Trennung des Ehepaars Dübner, über die im Vorgespräch berichteten Beziehungsspannungen, die eigenen Verfahrensfehler sowie die daraus resultierende eigene Gefühlslage während des Erhebungsvorgangs geben Anlass dazu, die eigene Positionierung in und zu der Erhebungssituation mit einer intensivierten Aufmerksamkeit zu reflektieren. Inwiefern bin ich durch diesen herausgehobenen Aspekt einer Trennung, dem nur im Vorgespräch explizit Gewicht gegeben wurde, insofern voreingenommen, als ich anhand dieser Information einen Unterschied zu den anderen Erhebungen mache? Inwiefern wird die Relevanz, die dem Trennungsaspekt im Vorfeld gegeben wurde, von mir als Forschendem zu einem signifikanten Merkmal der Erhebungssituation gemacht? Inwiefern unterstelle ich z.B. der Erhebungssituation eine Fragilität, zu der ich mich im ›Feldaufenthalt‹ besonders behutsam verhalte? Herrn Dübner, der im Gruppeninterview bisher geschwiegen und nur gelegentlich aufgeschaut hat, adressiere ich jedenfalls auch in einer ihn betreffenden Nachfrage nicht direkt, sondern greife die Moderatorenposition von Miriam und Fatih auf – ich frage indirekt nach ihm. Gruppeninterview zum Familienalltag, im Wohnzimmer in der Couchecke Forschender:

Und, und wie oft ist denn der Papa hier?

Frau Dübner, die zuletzt gesprochen hat, dreht den Kopf in Richtung zu Herrn Dübner und lächelt. Miriam wendet sich mit dem Oberkörper ebenfalls zum Sessel. Fatih:

Kommt halt meistens (.) wenn er frei hat, kommt er eigentlich.

Als Fatih zu reden ansetzt, hebt Herr Dübner seinen Kopf, sieht zum Forschenden, atmet einmal tief durch, zieht leicht die Augenbrauen hoch, bewegt wie abwägend den Kopf und lächelt. Herr Dübner: Forschender: Herr Dübner: Forschender: Herr Dübner: Frau Dübner: Forschender: Frau Dübner: Forschender: Herr Dübner:

Immer so, wenn ich Frühdienst habe, ⎣Mhm; ⎣dann Abend immer; fast immer. Ja. Oder wenn großer Einkauf, dann wird Papa angerufen, und da machen wir Einkauf, meistens so Sachen, also die große Einkauf. Ja weil; {räuspert sich} ich hab kein Auto, ⎣Mhm, ⎣und äh, das Auto ist halt groß, von ihm; und dann kommt alles rein; Getränke und so. Ja. Schwer zu tragen, also.

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Forschender: Herr Dübner: Forschender: Herr Dübner:

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⎣Mhm, Ja sonst, wenn ich frei habe, dann bin ich hier. {Er blickt den Forschenden länger an als zuvor.} Ja. Zum Unterstützen. oder die Frau {er dreht sich zu ihr; sie lächelt ihn an} sie ist verabredet, so mit Freundinnen wegzugehen, bin ich auch eingeladen.

Frau Dübner lacht laut; sie dreht sich lachend zu ihm hin. Herr Dübner:

Aber hierzubleiben; nicht zum Mitgehen.

Herr Dübner lacht leicht; Frau Dübner sieht lächelnd in den offenen Wohnzimmerraum. Herr Dübner: Interview: Herr Dübner:

Ja sonst, ich arbeite viel zu viel, und ⎣Hm; ⎣große Verantwortung bei Arbeit, dann muss man so oft da; also sechs bis sieben Tage die Woche? [F5E2 00h 05m 43s – 00h 06m 51s]

Die Frage nach der Häufigkeit, mit der die Regelmäßigkeit bzw. ein Rhythmus der Anwesenheit Herrn Dübners angesprochen wird, erhält vor dem Hintergrund der Beziehungstrennung, die mit einer räumlichen Trennung des Wohnens einhergeht, einen speziellen Beiklang. Aus Sicht des Forschenden fehlt ihr eine Grundlage des vermeintlich Selbstverständlichen, so dass sie hinsichtlich der Trennung als ›problembezogen‹, als ›kritisch‹ aufgefasst werden kann. Mit seiner Nachfrage geht der Forschende zudem darüber hinweg, dass sich Herr Dübner bisher nicht als sehr auskunftswillig zeigte und schwieg. Anstatt einer direkten Adressierung nutzt er die Auskunftsbereitschaft der Kinder, um mehr über dessen Einbindung in den Familienalltag zu erfahren und das Gruppeninterview in Gang zu halten. Andererseits wird auch nicht signalisiert, dass die Erhebungssituation unerwünscht sei. Frau Dübner lächelt und Herr Dübner kann aus anderen Gründen ›in sich gekehrt‹ und ›ungesprächig‹ sein. Er ist zwischenzeitlich mehr Fatih zugewandt, den er in der Armbeuge streichelt, als auf das Interview fokussiert, und dieses gezeigte Desinteresse ist kein eindeutiges Zeichen von Ablehnung der Erhebungssituation. Fatihs Antwort, Herr Dübner komme »halt meistens, wenn er frei hat«, verweist auf ein Normalitätsmuster des Familienlebens mit einer typischen zeitlichen Gliederung von ›Arbeitszeit‹ und ›Familienzeit‹ der Erwerbstätigen, wobei Fatih eine idealtypische Regelmäßigkeit dieses Modells mit der zuvor im geschwisterlichen Konsens bestimmten Einschränkung etwas relativiert. Herr Dübner komme »meistens«, wenn er frei habe, wenn er also erwerbsbedingt dafür Zeit hat. Während Fatih – wie alle drei Kinder bereits zuvor –, nochmals stellvertretend für Herrn Dübner spricht, gibt sich dieser sichtlich einen Ruck und ergreift, lächelnd

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wie Frau Dübner, das Wort, wobei er die von seinen Kindern umrissene Alltagsstruktur aus eigener Perspektive ergänzt. Fatihs Auskunft, er komme »meistens«, »wenn er frei hat«, greift er erläuternd auf, indem er ihren regelhaften Kontext präzisiert. Er komme »immer«, wenn er Frühdienst, also am Abend frei habe – woraufhin er aber gleichfalls relativierend ein »fast immer« anfügt. Dieser Regelhaftigkeit liegt kein gemeinsames Wohnen zugrunde, durch das die Anwesenheitszeiten den ›gefestigten‹ Rückhalt einer annäherungsweise bedingungslosen Selbstverständlichkeit hätten. Fatih und Herr Dübner setzen dessen abendliche Präsenz dabei ausschließlich in Bezug zu den wechselnden Arbeitsschichten der Erwerbstätigkeit. Die regelmäßigen Besuche in den abendlichen ›Zeitfenstern‹, die durch individuelle Verbindlichkeiten in unterschiedlichen Zeitordnungen, aber auch durch trennungsbedingte Einschränkungen begrenzt sind, werden durch weitere alltagspraktische Beteiligungen am Familienleben ergänzt, wie Herr Dübner noch weiter ausführt. Diese weiteren Aktivitäten sind jedoch nicht auf eine Kopräsenz mit den Kindern bezogen und vorwiegend ›außer Haus‹ lokalisiert – aber dennoch am familialen Zusammenleben ausgerichtet. Herr Dübner berichtet, dass seine Frau mit ihm kurzfristig telefonisch Absprachen treffe, um gemeinsam einkaufen zu fahren, zumindest für größere Einkäufe. Für Frau Dübner sind diese gemeinsamen Einkaufsfahrten begründungsbedürftig; sie rechtfertigt diese Verabredungen mit der Erklärung, dass sie selbst kein Auto habe. Ein Auto ist zum Transportieren großer Einkäufe vorteilhaft, weil da »alles rein« kann, z.B. »Getränke und so«. Das Beispiel der Getränke greift Herr Dübner auf, um neben dem Volumen der größeren Einkäufe auch deren Schwere zu akzentuieren. Er unterstreicht im vollen Wortsinn die Entlastung, die seine Unterstützung mit sich bringt. In der Einkaufsfrage zeigt sich aber auch ein Gegensatz von Orientierungen. Denn während Herr Dübner seine fortbestehende Involvierung im Familienleben betont, bemüht sich Frau Dübner darum, eine diffizile Grenzlinie zu markieren, indem sie den pragmatischen Hintergrund der gemeinsamen Einkäufe hervorhebt. Die feinen Differenzen in der gemeinsamen Begründung machen das Ringen um eine Balance kenntlich – eine Balance zwischen der Trennung als Paar und ihrer Fortführung des Familienlebens, das pragmatische Kooperationsverhältnisse, aber auch ein emotionales Grenzmanagement zwischen zuviel und zuwenig Involvierung erfordert – eine wechselseitige, letztendlich gemeinsam wie auch gegeneinander vollzogene Abstimmungsarbeit, die beide zugleich miteinander verbindet und trennt, und die in der ›Außendarstellung‹ aufgrund der Erhebungssituation diskret und nuanciert zur Geltung kommt. Herr Dübner hebt seine Positionierung als Unterstützer im ehemals gemeinsamen Haushalts- und Wohnzusammenhang hervor, von dem er seit der Trennung

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zeitlich und räumlich weitgehend separiert lebt. Als Unterstützung betrachtet er nicht nur die gemeinsamen Einkäufe, sondern auch manche abendliche Präsenzzeiten, wenn er »eingeladen« sei, weil »die Frau« mit Freundinnen ausgehe. Seine Sicht auf die eigene Position artikuliert er humorvoll, so dass beide im Gespräch lachen und eine persönliche Nähe zueinander zeigen, während inhaltlich zugleich der Trennungsaspekt bestehen bleibt – gerade weil die geschilderte Situation, als Elternperson allein mit den Kindern ›zuhause‹ zu sein, typisch für das Zusammenleben als Familie sein kann, hier allerdings durch Besuchszeiten geregelt ist. Das Wissen um eine Kluft angesichts der Ähnlichkeit wie auch der Differenz zum gemeinsamen Zusammenleben weist auf eine gemeinsamen Geschichte zurück, deren Kontinuität durch die neuen Reglements der Verabredung unter veränderten Verhältnissen abgesichert werden soll. Insgesamt, kommt Herr Dübner auf Fatihs Äußerung zurück, arbeite er aber »viel zu viel«; er habe bei seiner Arbeit eine große Verantwortung, so dass seine Präsenz dort häufig erforderlich sei: »sechs bis sieben Tage die Woche«, woraus folgerichtig resultiert, dass er erwerbsbedingt nur sehr eingeschränkt am Familienleben partizipieren kann. Das zuvor benannte ›Normalitätsmuster‹ einer Sphärentrennung von Familienleben und Erwerbsarbeit lenkt das Gespräch zurück zum Ausgangspunkt einer erwerbsbedingten Abwesenheit. Es stellt einen diskursiven ›Allgemeinplatz‹ für das Sprechen über die An- und Abwesenheit im Familienleben bereit, so dass die Thematik zur allgemeinen Einbindung in unterschiedliche Zeitordnungen verschoben und wieder Distanz zur Thematik der Paarbeziehung gewonnen wird. In Hinblick auf das Familienleben wie die Erwerbsarbeit stellt Herr Dübner sein Verantwortungsbewusstsein in den Vordergrund, das er damit begründet, dass er gebraucht wird. Je nach Bedarf und mitunter auf Abruf engagiert er sich. Verantwortung zu haben bedeutet hier, über die geregelten Präsenzzeiten hinaus ›da‹ zu sein, wenn er gebraucht wird – in einer prinzipiellen Erreichbarkeit, auch wenn er nicht am gleichen Ort sein kann. Im Rahmen des Zusammenlebens von Frau Dübner, Miriam, Fatih und Jara nimmt Herr Dübner eine ›unscharfe‹ Position ein, weil eine virtuelle Rahmung, basierend auf einer gemeinsamen Geschichte des Wohnens und ein gemeinsamer Familiensinn, als alltäglich gepflegtes Familienleben fortbestehen. Eine ›Exklusivität‹ der Positionierung zeigt sich aber besonders in den Aktivitäten, an denen er im Vergleich zu anderen nahestehenden Besuchern eher nicht teilhat. An den Wochenenden, berichtet Frau Dübner, seien häufig ihre Mutter oder eine Freundin mit ihrem Kind zum Essen da. Im Kontrast dazu wird mit diesem zentralen Strukturmerkmal einer verbindenden Alltagsroutine gerade nicht an das frühere gemeinsame Zusammenleben angeknüpft, sondern stattdessen durch eine stärker individualisierbare Freizeitgestaltung.

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Exklusive Positionierungen Eine andere Differenz zu weiteren regelmäßigen Besuchern wird an der Weise evident, wie er mit einem eigenen Wohnungsschlüssel den Wohnbereich betritt und dabei von Miriam, Fatih und Jara begrüßt wird. So ist zwar auch der »Opa«, Frau Dübners Vater, abends öfters mal da, zumal weil er Fatih regelmäßig vom Fußballtraining nach Hause bringt, doch ist der Empfang Herrn Dübners ungleich lebhafter, sobald der Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörbar wird und sich diese anschließend öffnet. Während des zweiten Gruppeninterviews mag das sehr freudige Aufspringen auch der Langeweile geschuldet sein, die Miriam, Fatih und Jara empfunden haben und daraufhin leise an der Tür äußern. Doch homolog dazu spricht Frau Dübner im Vorgespräch von den lebhaften Begrüßungen, an denen sie eine empfundene Ungleichheit festmacht. Aus ihrer Perspektive geht mit der häuslichen Separiertheit Herrn Dübners eine exklusive Aufladung seiner Präsenz einher, der im Gegensatz zum sonstigen ›Alltagsmodus‹ ein herausgehobener Wert für die Kinder zukomme, wohingegen sie diejenige sei, die jeden Tag ›da‹ sei und Aufgaben zu verteilen habe. Eine solche ›Rollenprofilierung‹ wird zum Abschluss des ersten Gruppeninterviews thematisch. Gruppeninterview zum Familienalltag, im Wohnzimmer in der Couchecke Das Gruppeninterview ist fast beendet und Fatih hat darauf aufmerksam gemacht, dass nun bald eine Fernsehsendung beginne. Der Forschende spricht zum Abschluss die Fernsehabende an, von denen zuvor am Rande die Rede gewesen ist. Miriam, Jara und Frau Dübner sitzen auf der Couch, Fatih dicht neben Herrn Dübner im gleichen Sessel. Forschender: Miriam: Forschender: Miriam: Fatih: Miriam: Herr Dübner: Jara: Miriam:

Und bei den Fernsehabenden? ähm; wie ist das. habt ihr dann so Knabbersachen noch dabei, oder ⎣Ja. Ja? Ja meistens; Chips. Nicht immer, Mama hat auch ⎣Immer wenn Papa da ist. ⎣Salzstangen. {Zu Herrn Dübner gewandt.} ⎣Hast du mitgebracht, welche?

Fatih, der neben Herrn Dübner im Sessel sitzt, sieht seitlich zu ihm hoch. Fatih: Miriam: Herr Dübner:

Mh-mh. ⎣Du hattest doch drei Tüten zuhause. Ja.

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Miriam: Herr Dübner:

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Ja? Morgen bin ich bei euch. heute Mama hier, (.) morgen Mama ist nicht da.

Frau Dübner lächelt und schaut zu Miriam, die neben ihr auf der Couch sitzt. Jara: Herr Dübner: Fatih:

Wieso wenn Mama nicht da ist; Weil sie erlaubt das nicht. ⎣Doch, wir ha’m aber noch Knabb’zeug.

Fatih streckt sich kurz im Sessel neben Herrn Dübner, steht auf und geht aus der Bildfläche. Frau Dübner hat nun einen ernsten Gesichtsausdruck. Frau Dübner: Herr Dübner:

Manchmal ja, manchmal nein. Wenn Mama erlaubt immer, dann; (.) schmeckt nicht mehr und macht kein Spaß. so ist das; wenn Mama nicht erlaubt, so einmal Mama nicht da, dann macht mehr Spaß; (1) und schmeckt besser. (2)

Jara hat Herrn Dübner während seiner Erklärung nachdenklich angesehen, während Miriam gleichfalls nachdenklich mit einer großen Frisby-Scheibe in den Händen gespielt hat, die sie nun zur Seite legt. Sie lächelt ihn an und beugt sich etwas nach vorne. Fatih befindet sich außerhalb der Bildfläche. Fatih:

Ja, hier noch.

Herr Dübner ist zu Jara gewandt. Herr Dübner: Frau Dübner:

⎣Ja wenn du isst jeden Tag; jeden Tag knabberst du, dann irgendwann sagst du ähh; ich hab keine Lust mehr. {Lächelnd} ⎣Ist nix Besonderes mehr dann.

Jara sieht zu Fatih, der kurzzeitig mit einem Päckchen in der Hand von links in die Bildfläche getreten ist. Sie zieht hörbar Luft ein. Jara:

Salzstangen.

Jara läuft aus der Bildfläche heraus. Miriam lässt den Oberkörper nach vorne auf die Oberschenkel fallen. Miriam: Herr Dübner:

Oä:h. Morgen ist Mama weg, dann könn’wa (.) uns amüsieren.

Frau Dübner lacht zurückhaltend auf und rückt sich auf der Couch zurecht. Frau Dübner:

Dann ist halligalli.

[F5E2 00h 52m 50s – 00h 53m 57s]

Das Gespräch zu den Knabbersachen findet in einem Übergang von der Schlussphase des Gruppeninterviews zum bevorstehenden Fernsehabend statt, wobei das Interview für Fatih schon bedenklich nahe an einen Sendebeginn herangerückt ist.

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Miriams Relativierung ihrer ersten knappen Antwort, es gebe an Fernsehabenden »meistens« Knabbersachen, allerdings »nicht immer« nur Chips – Jara verweist direkt im Anschluss auf Salzstangen –, wird von Herrn Dübner in einen weiteren Zusammenhang gestellt. Chips gebe es »immer wenn Papa da ist«. An diesem Tag hat er allerdings keine mitgebracht, was Miriam sich kurzzeitig erhofft, da er noch drei Tüten bei sich zuhause habe, wie sie leicht vorwurfsvoll konstatiert und was Herr Dübner auch bestätigt. Fatih antizipiert hingegen mit einem seitlichen Blick zum Gesicht seines Vaters, dass er heute keine Chips dabei hat – noch bevor dieser antwortet. Auf Miriams Nachhaken erklärt Herr Dübner, dass »heute Mama hier« sei – und die »erlaubt das nicht«, wie er daraufhin als Antwort auf Jaras Frage hinterher schiebt. Während Frau Dübner bisher gelächelt hat, wird ihr Gesichtsausdruck zu diesem Zeitpunkt nun ernster. An den Chips zum Fernsehen macht Herr Dübner einen Unterschied zwischen der gegenwärtigen Zusammenkunft im Wohnzimmer und der geplanten Anwesenheit an dem folgenden Abend ohne Frau Dübner geltend: »Morgen bin ich bei euch. Heute sei »Mama hier, morgen Mama ist nicht da«. Obwohl gegenwärtig beide Eltern anwesend sind, formuliert er hinsichtlich seiner eigenen Anwesenheit in einer Logik des ›Entweder-oder‹ – vor dem Hintergrund einer Trennungslogik mit einer exklusiven Aufteilung von Zeiten und Zuständigkeiten, in der die Paarbeziehung idealiter aus dem Familienleben herausgenommen wird. Den gegenwärtigen Erhebungstermin zählt Herr Dübner als einen Abend von Frau Dübner, nicht als seinen Abend, den er an die Exklusivität ihrer Abwesenheit bindet. Indem Fatih, der ein Gespür für diese Grenzziehung, aber auch Interesse am Fernsehprogramm zeigt, auf die vorrätigen Salzstangen verweist und kurz danach auch darauf zugreift, wendet er sich gegen den behaupteten Gegensatz der beiden Haltungen zum »Knabb’zeug«. Auch Frau Dübner relativiert die im Raum stehende Sichtweise, sie erlaube keine Knabbereien. Herr Dübner spricht allerdings gar nicht über Knabbersachen im Allgemeinen, sondern über Chips. Seine Erklärung zu der Frage, weshalb es zwar morgen, aber nicht heute Chips gebe, stützt er im Anschluss an Frau Dübners Einwand mit einem ›pädagogischen‹ Begründungsmuster, wobei er in Hinblick auf das Interesse der Kinder argumentiert. Dabei verweist er auf ein ›quasi-kooperatives‹ Rollenmuster der Eltern. Denn die Chips seien gerade deswegen so genussvoll, weil Frau Dübner diese nicht bzw. zumindest nicht immer erlaube. Sie schmeckten gerade deswegen so gut und machten Spaß. Damit wendet er Frau Dübners Einwand, sie erlaube Knabbereien manchmal und manchmal nicht, in seinem Sinn zurück und bindet ihre Positionierung als Abwesende der genussvollen Abende mit Chips in ein ›pädagogisches‹ Argumentationsmuster ein. Seine Orientierung an Exklusivität, die einer Trennungslogik in der Paarbeziehung folgt, legitimiert er sozusagen

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durch das Bild einer pädagogischen Kooperation beider Eltern, in der Frau Dübner mit den Alltagsregeln dafür Sorge trägt, dass Chips nicht nur etwas Besonders bleiben, sondern darüber hinaus auch einen Reiz des Unerlaubten haben, über das sich in ihrer Abwesenheit genussvoll hinweggesetzt werden kann. Der »Spaß« beruht aus dieser Perspektive auf einer temporären Außerkraftsetzung der vermeintlich gemeinsamen Alltagsordnung durch eine Grenzüberschreitung des regulär Erlaubten, die seiner alleinigen Anwesenheit etwas Festliches, einen außeralltäglichen Charakter verleiht. Frau Dübner lässt sich in dieser Situation, in Anwesenheit des Forschenden und einer Videokamera, auf Herrn Dübners Begründungsmuster ein. Sie lächelt und trägt das ›pädagogische‹ Moment der Erklärung mit, das ihre Beschränkung des Chips-Konsums gegenüber den Kindern legitimiert. Gäbe es jeden Tag etwas zu knabbern, wäre das »nix Besonderes mehr«. Sie übergeht dabei, dass sein Argumentationsmuster eine Verantwortung für die Durchsetzung von Restriktionen ausschließlich an sie delegiert, wohingegen Spaß und Genuss beim Chips-Konsum mit kleinen ›komplizenhaften‹ Regelverstößen begründet werden, wenn er »da« und »Mama nicht da« ist. Herr Dübner stellt einen Gegensatz zwischen vermeintlich prohibitiven Ordnungsvorgaben und einem entgegengesetzten Begehren der Kinder in den Raum, wobei er sich dann auf die Seite der Kinder stellt und Frau Dübner die Position einer Ordnungsmacht zuweist, deren Anwesenheit dem Spaß im Weg steht. Über dieses ›anti-pädagogische‹ Motiv des Argumentationsmusters geht Frau Dübner hinweg, indem sie anstelle des aufgemachten Gegensatzes wohlwollend den Spaß fokussiert, den sie den anderen zugesteht. Sie hält dadurch an dem vorgezeichneten Bild eines Kooperationsverhältnisses mit einer anderen Ordnungskonzeption fest, in der die abendlichen Chips keine Grenzüberschreitung, sondern innerhalb der Alltagsordnung ein zugestandener, wenn auch maßvoll regulierter Genuss sind. Miriam, Fatih und Jara sind indessen auf die Ausgangsfrage fokussiert, was es an diesem Abend zu knabbern gibt. Als Fatih die vorhandenen Salzstangen herbeibringt, unterstreicht Miriam, die auch zuvor als Einzige nach den Chips gefragt hatte, unmissverständlich ihre Präferenz von Chips gegenüber den Salzstangen, wohingegen insbesondere Jara sich mit dieser Alternative ganz zufrieden zeigt. In dem beschriebenen Szenenausschnitt werden die Chips zum Emblem einer Mikropolitik, in der Herr Dübner seine eigene Positionierung innerhalb eines Beziehungsrahmens austariert, der von Ambivalenz geprägt ist. Einerseits hat Herr Dübner trotz seiner Separiertheit im Wohnen regelmäßig Anteil am Familienleben und ist nach eigenem Bekunden an den Abenden so oft anwesend, wie es ihm aufgrund seiner Erwerbstätigkeit möglich ist. Andererseits sind diese abendlichen

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Zusammenkünfte auf ihn und die Kinder begrenzt; sie sind auf den ehemals gemeinsamen Wohnbereich zentriert, in dem ihm vereinbarungsgemäß keine selbstverständliche Bleibeoption zukommt, die er als Mitbewohner hätte. Besuche der Kinder in seiner Wohnung kommen dagegen weniger vor. Entsprechend ist er einerseits, auf Grundlage der alltäglich im Wohnbereich gepflegten Eltern-KindBeziehungen, als Zugehöriger positioniert und betont in den Gruppeninterviews, dass ihm Familie das Wichtigste sei. Er betont mehrmals sein höchstes Interesse daran, dass es den Kindern gut gehe und dass ihnen eine gute Zukunft bevorsteht. Andererseits bearbeitet er seine externe Positionierung, die aus der Paartrennung resultiert, indem er seine Besuchszeiten mit einem Exklusivitätsanspruch unterlegt, den er gegenüber Frau Dübner geltend macht. Die Ambivalenz spiegelt sich auch in seiner Rolle als Erziehender wider. Denn einerseits beansprucht er Verantwortung, auch für die Entwicklung der Kinder, und legt während seiner Anwesenheit auch Wert auf bestimmte Verhaltensregeln. So ermahnt er Jara wiederholt, als sie ihre Füße am Couchtisch abstützt. Andererseits hat er aufgrund seiner Positionierung weniger Einfluss und Mitbestimmungsmöglichkeiten auf das Alltagsgeschehen und entsprechende Reglements, und wendet in dem beschriebenen Ausschnitt diese Asymmetrie zurück, indem er einen strenger regulierten Alltag mit Frau Dübner (und ohne ihn) von einem ›Feierabend‹ in seiner Anwesenheit (und ohne Frau Dübner) abzugrenzen versucht. Herstellung von Kontinuität im getrennten Zusammenleben Obwohl die Um- und Neugestaltung des Familienlebens auf der Beziehungsebene zwischen Frau und Herrn Dübner nicht spannungsfrei ist, bemühen sie sich darum, übereinstimmend das Wohl der Kinder im Sinn, ein kooperatives Verhältnis einzurichten, in dem sich die ehemals gemeinsame Wohnung auch weiterhin im Zentrum befindet. Hinsichtlich dieser zentrierten Lokalisierung des Familienlebens ist die Zugehörigkeit von Herrn Dübner ambivalent, weil er weder ›zuhause‹ noch ein regulärer Besucher ist. Einerseits besitzt er Haus- und Wohnungsschlüssel, so dass er die Wohnung jederzeit betreten könnte. Mit den Familienmitgliedern teilt er auch einen konjunktiven Erfahrungsraum gemeinsamen Wohnens; eine Praxisgeschichte in Bezug auf eine geteilten Wohnraum. Andererseits ist er seit dem vergangenen Jahr auf Terminabsprachen verwiesen, um die neu ausbalancierte Form des Familienlebens unter Trennungsbedingungen nicht zu gefährden. Während bei Bauer/Lange in besonderer Weise die Wochenenden dafür prädestiniert sind, gemeinsam an einem vom Arbeitsalltag entrückten Ort zusammenzukommen und in einer örtlich separierten Familiensphäre besonders zu den Mahlzeiten ein gemeinsames Zusammenleben als Familie in geplanter Kopräsenz aus-

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zukosten, hat Herr Dübner an den ›Familien(mahl)zeiten‹ (Brombach 2001) kaum Anteil und es werden Zeiten der Kopräsenz mit den Kindern innerhalb des Wohnbereichs zu individuelleren, auch räumlich separierten Freizeitaktivitäten wie Fernsehen vereinbart (Miriam hat einen eigenen Fernseher) und teils mit Exklusivitätsansprüchen unterlegt. Trotz seiner wechselnden Arbeitsschichten ist die Anwesenheit Herrn Dübners im ehemals gemeinsamen Wohnbereich vornehmlich auf die Abendstunden begrenzt. Ebenso wie in den gemeinsamen Erklärungen zu den Einkaufsfahrten zeigt sich in den Positionierungen hinsichtlich der Herrn Dübner eingeräumten Abende eine ambivalente Ausbalancierung zwischen angestrebter Kontinuität im Familienleben und dessen Negation aufgrund einer Trennung in der Paarbeziehung. Kontinuität tritt unter den Trennungsbedingungen besonders markant als eine alltagspraktische Herstellungsleistung hervor, in der das Familienleben kooperativ und teils auch gegeneinander, jedenfalls aber trotz einer Trennung zusammenwirkend organisiert wird. Vor dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte des Wohnens ist Herr Dübner trotz seines Wohnungsauszugs sozusagen mit einer ›Unschärfe‹ in Bezug auf das Zusammenleben als Familie lokalisiert, in einem Grenzbereich zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Besonders in diesem ›Grenzfall‹ tritt eine Virtualität des Zusammenlebens als ein Beziehungsrahmen hervor, der durch verbindende Ortsbezüge aktualisiert und stabilisiert wird. Dabei können die Lokalisierungen im Zusammenleben, wie bei Bauer/Lange, auch verteilt über mehrere Orte organisiert sein. Eine ›feste‹ Rahmung als Zusammenleben im Sinn des 19. und 20. Jahrhunderts hat jedoch zur Voraussetzung, dass die lokale Zugehörigkeit in den gemeinsamen Lokalisierungen wechselseitig nicht in Frage steht, sondern wiederkehrend im Tun bekräftigt wird. Bei Dübner wird eine Kontinuität des früheren Rahmens über die Kinder und deren Ortsbezug zu der ›gewohnten‹ Umgebung hergestellt, wobei Frau und Herr Dübner daran arbeiten, eine umdefinierte Zugehörigkeit Herrn Dübners über den gewohnten Bezugsraum der Kinder auch ohne gemeinsames Wohnen auszubalancieren.

E INPASSUNG UND E IGENSINN IM › GEWOHNTEN ‹ Z USAMMENLEBEN ALS F AMILIE Die fallspezifischen Ausformungen des Familienlebens unterscheiden sich einerseits hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Strukturierung, der Tätigkeitsverteilungen, der jeweiligen Beziehungsgestaltung, der Organisation von Kopräsenz. Andererseits bestehen zwischen den Falldarstellungen aber auch große Ähnlichkeiten, als Variationen eines standardisierten Schemas des Zusammenlebens als

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Familie, das an einem vergleichsweise geschlossenen Beziehungsrahmen auf der Grundlage einer Geschichte gemeinsamen Wohnens orientiert ist. In den dynamischen Ausformungen des Familienlebens, mit ihren individuell divergierenden Präsenz- und Mobilitätsmustern, den unterschiedlichen Positionierungen, alltagspraktischen Involvierungen und Gestaltungsansprüchen, wird eine Kontinuität des Zusammenlebens zwar durch Objektivationen stabilisiert – sie ist jedoch durch Abstimmungsprozesse in Bezug auf eine zeitliche und räumliche Ordnung mit gemeinsamen Ortsbezügen wiederkehrend zu aktualisieren. Ein lokal objektivierter Zusammenhang, in den die Alltagspraxis eingebettet ist, trägt das Zusammenleben, indem er auf einen Möglichkeitsraum zur Aktualisierung von Kopräsenz verweist und der Praxis auch eine ›gewohnte‹ Form gibt, mit der das Familienleben für- und miteinander in Szene gesetzt wird. Aufgrund der je konkreten Rahmenbedingungen des Zusammenlebens und der individuellen Habitus unterscheiden sich dabei die Rhythmen und die Dichte einer verbindenden Zeitordnung, die alltagspraktischen Beteiligungen, die Lokalisierungen und die Raumordnungen hinsichtlich der Wohnbereiche wie auch der Mobilitätsmuster nicht nur von Fall zu Fall, sondern verändern sich ebenso im Zeitverlauf. Die Kontinuität des Zusammenlebens ist durch eine integrierende Praxis des Wohnens bedingt, die an gemeinsamer Zugehörigkeit orientiert ist. Mit den Besuchs- und Einkaufsregelungen wird bei Dübner entsprechend versucht, an die ehemals gemeinsame Lokalisierung eines Lebenszusammenhangs anzuknüpfen. Die trennungsbedingten Eingrenzungen von Besuchszeiten und Besuchszwecken reduzieren jedoch die Partizipationsmöglichkeiten an alltäglichen Abläufen und einer beiläufigen Kopräsenz, die ein subjektives Zugehörigkeitsgefühl unterfüttern. So kommt bei Bauer/Lange dem Wochenendhaus in Absetzung von der Eigentumswohnung in Berlin, mit der Herr Lange sich weniger verbunden fühlt, eine herausgehobene Bedeutung zu. Die Lokalisierung der Familiensphäre an diesem Ort kompensiert ein Ungleichgewicht der Partizipationsmöglichkeiten und bringt eine Symmetrie der Ortszugehörigkeit wie auch der wöchentlichen Pendelmobilität hervor. Trotz individuell divergenter Gewichtungen der Ortsbezüge führt das Beispiel von Bauer/Lange vor Augen, inwiefern das Zusammenleben als Familie grundsätzlich über die Einbindungen in verschiedene Zeitordnungen und Orte hinweg organisiert und durch die Hervorbringung gemeinsamer Rhythmen mit Phasen der Synchronisierung durch verbindende Orte realisiert wird. Kontinuität gründet sich im Zusammenleben als Familie demnach auf gemeinsame Orientierungen an einer virtuellen Rahmung, für die wiederkehrende Kopräsenz aber auch die Hervorbringung von Objektivationen durch verbindende Rhythmen und Lokalisierungen konstitutiv sind. Wie viel Distanz und Divergenz mit der alltagspraktischen Aus-

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formung des Zusammenlebens vereinbar sind, ist dabei eine Frage, die sich im Einzelfall entscheidet und hinsichtlich gesellschaftsstruktureller Bedingungen und regulativer Diskurse auch sozialhistorisch wandelbar ist. Die Synchronisierung mit verbindenden Ortsbezügen erfordert nicht nur ein Zeit- und Raummanagement, sondern auch eine Differenzbearbeitung der Subjektverhältnisse. Die Ausdeutungen von Bedürfnissen, Erfordernissen und Idealvorstellungen gehen in die jeweils wahrgenommenen Gestaltungsspielräume ein und wirken auf die habituellen Einstellungen zurück. In der alltagspraktischen Involvierung kommt dabei mit der Körperlichkeit und einer biographisch bedingten Perspektivität ein Eigensinn zur Geltung, der die familienspezifischen Dynamiken der Aushandlungsprozesse und die alltagspraktische Realisierung des Zusammenlebens bestimmt. So hebt Frau Müller die regelmäßige Gliederung des Familienalltags durch die Mahlzeiten besonders hervor, auf die alle eingestellt sind, indem sie andere Tätigkeiten auf die gemeinsame Zeitordnung abstimmen. Dabei wird die Strukturierung des Gemeinsamen vorwiegend durch Frau Müller geregelt, was sie als »mühsam antrainiert« und »hart erarbeitet« beschreibt. Die von ihr als positiv bewertete Stabilität der Alltagsstruktur bildet ein Orientierungsmuster, das ihr aus der eigenen Kindheit vertraut ist und in das sie sich im gegenwärtigen Zusammenleben eingepasst hat, indem sie selbst an dessen Hervorbringung maßgeblich arbeitet. Die Organisation von Zeit und Raum ist durch die Positionierungsprozesse bestimmt, mit denen sich vor dem Hintergrund kulturhistorischer Konventionen, biographischer Erfahrungen und projektierter Zukunftsbilder unter Abwägung der wahrgenommenen Rahmenbedingungen und Gestaltungsräume auf jeweils eigene Weise in Zuständigkeits- und Tätigkeitsprofile eingepasst wird. Diese Positionierungsprozesse im Familienleben, die nicht nur in Bezug aufeinander, sondern auch in Bezug auf den Wandel ›äußerer Umstände‹ und durch neue Impulse sozialisatorisch wirksam werden, verlaufen im Zusammenleben hinsichtlich unterschiedlicher Dispositionen, Idealvorstellungen und divergierender Interessen mehr oder weniger spannungsreich. In den drei Falldarstellungen zeigt sich dabei eine bemerkenswerte Ähnlichkeit in der jeweiligen Zuordnung des ›Haushaltsressorts‹. Hinter der kontrastreichen Varianz der zeitlichen und räumlichen Organisation von Familien- und Erwerbssphäre ist eine geschlechtlich orientierte Zuordnung der individuellen Leistungen in der ›Haushaltsführung‹ eine Gemeinsamkeit.

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4.2 Arrangements und Reglements: Objektivierter ›Familiensinn‹

Standen im vorherigen Kapitel zu ›Koordination und Koordinaten‹ die Strukturierungen und Lokalisierungen der alltäglichen Lebensführung im Fokus, die durch eingerichtete Zeitordnungen und gemeinsame Ortsbezüge an einem Rahmen des Zusammenlebens orientiert sind, so fokussiert das folgende Kapitel die Organisation von Kopräsenz in der fallspezifischen Feinjustierung von Verhaltensweisen durch Reglements und Regulierungsweisen. Die empirische Blickeinstellung wird dazu verändert und auf die alltagspraktische ›Verräumlichung‹ einer Ordnung des Familienlebens bei Tisch ausgerichtet. Diese zweite Blickeinstellung rückt sozusagen ›näher‹ an das Ausagieren des Zusammenlebens heran, indem die Alltagspraxis in ihrer ›materiellen‹ Einbettung und darauf eingestellte Verhaltensmodellierungen und Positionierungsweisen ›in situ‹ fokussiert werden. Die Fokussierung auf Arrangements bei Tisch ist sowohl in der Sache, durch dessen kulturhistorische Stellung im Familienleben, wie auch durch forschungspraktische Aspekte begründet. In Situationen der Kopräsenz bei Tisch zeigt sich verdichtet, wie das Zusammenleben alltagspraktisch auf eine materielle Umgebung abgestimmt ist und eine gemeinsame Ordnung des Familienlebens unter Einbeziehung der Materialitäten organisiert und innerhalb der ›gewohnten‹ Umgebung stabilisiert wird. Hinsichtlich dieser Abstimmungsprozesse in Kopräsenz können die fokussierten Arrangements bei Tisch als »Zentren gemeinsamer Erfahrungen bzw. gemeinsamen Erlebens« betrachtet werden, »auf deren Grundlage sich kollektive Orientierungen herausbilden« (Bohnsack 2003: 123). Die ›Familiarität‹ des Zusammenlebens gründet sich dabei, vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Geschichte, auf ein Ineinandergreifen von inkorporierten Routinen, vorarrangierten Materialitäten, habituellen Interaktionsweisen und Subjektverhältnissen, aus dem nicht zuletzt auch eine ›familiäre‹ atmosphärische Qualität hervorgeht. In dieser ›Familiarität‹ einer alltagspraktischen Ordnung des Zusammenlebens wird sich gerade auch bei Tisch wiederkehrend ins Verhältnis zueinander gesetzt. Die Familienmitglieder verorten sich dabei sowohl in einem gemeinsamen Rahmen als auch zueinander, im wiederkehrenden Ausagieren und Austarieren ihrer Positionierungen, die sich mit den individuellen Entwicklungen und den Rahmenbedingungen im Zeitverlauf wandeln. 38

38 Vgl. z.B. Leu/Krappmann 1999, Gerhard 2005, Schuster 2005 zum Verhältnis von Gebundenheit und Individuation in der Jugendphase.

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G EFESTIGTE A RRANGEMENTS In Hinsicht auf die Räumlichkeit von Arrangements und ihre materielle Beschaffenheit sind in den vergangenen Jahren aus praxistheoretischer Perspektive intensiviert die dinglichen Artefakte als »Partizipanden des Tuns« (Hirschauer 2004) zu Gegenständen der Aufmerksamkeit geworden. In wissenssoziologisch orientierten Ethnographien, besonders befördert durch Studien der Arbeits- und Techniksoziologie, werden Artefakte in ihrer konstitutiven Beteiligung an körperlichen Vollzügen, an der räumlichen Organisation und an Wahrnehmungsroutinen unter dem Schlagwort einer Material Culture als wirkmächtige Entitäten gefasst, die mit ihren jeweiligen Eigenschaften in einem konstitutiven Wechselverhältnis zu lokal situierten Praktiken und Sozialformen angesehen werden (vgl. Hörning 2001; Reckwitz 2003, 2008b). »In functionalist and structuralist approaches it has been assumed that material forms simply reflect or symbolize various kinds of social relations and practices. These come first and the artefacts merely serve to signify already established social distinctions of whatever kind. A perspective emphasizing objectification processes emphasizes instead that material forms play a fundamental part in the creation and establishment of forms of sociality. In other words, they are generative of thought and action.« (Tilley 2001: 260)

So werden Praktiken bzw. Routinen nicht allein menschlichem Tun zugeordnet, sondern als Resultante des Zusammenwirkens konkreter Arrangements gesehen, in denen sich menschliche Akteure bewegen (vgl. Schatzki 2001b: 43). Vor dem Hintergrund der jeweiligen grundlagentheoretischen und forschungspraktischen Ausrichtung messen die verschiedenen wissenssoziologisch orientierten Ansätze den Artefakten im Vergleich zu menschlichen Akteuren allerdings einen unterschiedlich weitreichenden ontologischen Status hinsichtlich der konstitutiven Mitwirkung am sozialen Geschehen zu. Auch das praktische Wissen, auf das sich Praktiken gründen, wird theoretisch unterschiedlich erklärt und lokalisiert, wie Alex Preda in seinem Vergleich von Bourdieus Konzeption einer praxeologischen Sozialtheorie mit ethnomethodologischen Ansätzen der Workplace Studies sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie vornehmlich bei Bruno Latour nachgezeichnet hat (vgl. Preda 2000).39

39 Im praxistheoretischen Vergleich von menschlichen Akteuren und Artefakten unterscheidet Preda, auf einen Buchtitel von Bruno Latour anspielend (vgl. Latour 1998), zwischen einer methodologischen und einer ontologischen Symmetrie. Methodologische Asymmetrie bedeute, dass auch Artefakte als Partizipanden begriffen werden, die Träger von Gebrauchs- und Verhaltensanweisungen auf der Grundlage von ›know how‹ sind,

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Diesen hinsichtlich ihrer theoretischen Grundannahmen und Forschungsprogrammatik unterschiedlichen Ansätzen, die teils auf ›Mikroethnographien‹ lokaler Arrangements konzentriert bleiben oder weitreichende sozialstrukturelle Theorien formulieren, ist eine fundierende ethnographische Forschungspraxis gemeinsam. In dieser empirischen Forschungspraxis sollen die lokalen Verflechtungen sozialer Prozesse und ihre lokale Bedingtheit entgegen zu weit gehender Abstraktionen und Generalisierungen im Blick behalten werden – wobei jedoch unterschiedliche Perspektiven verfolgt werden, um die lokalen praktischen Vollzüge und eine Reproduktion sozialer Ordnung zu erklären. So schreiben z.B. Jürgen Streeck und Siri Mehus aus ethnomethodologischer Sicht auf lokale Situationen entschieden von einer »primacy of practice over system«. Systeme seien »the products of practical action, not abstract competences underlying it« (Streeck/Mehus 2005: 392). Bourdieu interessiert sich hinsichtlich der Praxis hingegen für eine systematische Logik, die sich durch inkorporierte Schemata des Wahrnehmens, Fühlens und Urteilens, auf Grundlage einer wechselseitigen Strukturierung von Habitus und sozialen Feldern, auch situationsübergreifend auswirkt – der Praxis liegen für ihn habituelle Dispositionen zugrunde, die allerdings innerhalb der Praxis generiert und geformt werden (vgl. Bourdieu 1993: 108ff.).40 In Hinblick auf einen ›gewohnten‹ Zusammenhang von Subjektverhältnissen, Alltagspraxis und Materialitäten im Zusammenleben als Familie bietet der Bezug auf ein wechselseitiges Strukturierungsverhältnis von Habitus und Feld ein Erklärungsmodell, in dem ein ›konjunktiver‹ Erfahrungsraum nicht allein auf gemeinsame Erlebnisschichtungen der Beteiligten, sondern auch auf die ortsbezogenen Verhaltens- und Wahrnehmungsroutinen in der ›gewohnten‹ Umgebung bezogen ist. Mit dem Hinweis auf eine achtsame Registrierung der Wirkungsweisen von Artefakten zur Anfangszeit der Soziologie macht Robert Schmidt auf die seiner

bzw. durch implementierte Eigenschaften und Funktionen auch weitgehend für sich allein wirksam sein können. Ontologische Symmetrie hieße dagegen, zwischen menschlichen Akteuren und Artefakten überhaupt keinen Unterschied zu machen. Preda sieht aber in menschlichen Routinen zwei Ebenen ineinander spielen. Artefakte seien nicht in der Lage, über spontan wechselnde Rahmungen Auskunft zu geben. Menschen (und manche Tiere) könnten sich hingegen darüber verständigen, wie das was sie tun gemeint ist – und das sei ein impliziter Bestandteil dessen, was sie routiniert tun (zum Begriff der Rahmung in dieser Verwendungsweise vgl. Goffman 1980: 52ff.). 40 Auch bei Bourdieu ist die Praxis jedoch keineswegs systematisch vorbestimmt, sondern resultiert aus lokalen Situationen. Der Habitus gibt für konkrete Situationen über einen körperlichen, praktischen Sinn keine fixen Verfahrensweisen vor, sondern lediglich einen Orientierungsrahmen für das Naheliegende und Mögliche (vgl. Krais/Gebauer 2002; Meier 2004).

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Ansicht nach nicht hinreichend gewürdigte theoretische Nutzbarkeit des Wortpaares ›Habitus‹ und ›Habitat‹ aufmerksam (vgl. Bourdieu 1991: 32; Hörning 2001: 168; Kastl 2007: 376). So sehe Emile Durkheim z.B. Wohnstätten, Kleidung, Werkzeuge und Verkehrswege auf gleicher Ebene wie moralische Ordnung, Normen, Sitten, Recht und Religion als soziologische Tatbestände an (Schmidt 2006: 80; vgl. Durkheim 1984: 113f.). Über diese »sozialen Erscheinungen«, die Durkheim ähnlich wie Karl Marx als geschichtliche Erzeugnisse, als gefestigte Formen vergangenen Handelns begreift, heißt es bei Durkheim: »Weit davon entfernt, ein Erzeugnis unseres Willens zu sein, bestimmen sie ihn von außen her; sie bestehen gewissermaßen aus Gussformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen« (Durkheim 1984: 126).41 Besonders mit den Arbeiten Pierre Bourdieus werden Habitus und Habitat als »Begegnung zweier Zustandsformen des Sozialen« begreifbar, als verschiedene »Dimensionen der Materialität und Körperlichkeit des Sozialen«, denn die gelebte Geschichte werde in den Dingen wie in den menschlichen Körpern eingelagert. »Wenn die im Artefakt objektivierte Geschichte und die im Habitus inkorporierten praktischen Vermögen zueinander passen, werden die Gebrauchsanweisungen und Handlungsaufforderungen der Artefakte von den Akteuren meist unmittelbar praktisch, habituell verstanden, beantwortet und realisiert.« (Schmidt 2006: 89f.) Der Begriff des Habitats ließe sich daher forschungsstrategisch als ein Komplementärwerkzeug zum Habituskonzept profilieren, was Bourdieu bis auf sporadische Andeutungen allerdings nicht ausgeführt habe (ebd.: 87f.). Diesbezüglich ist jedoch anzuerkennen, dass der Feldbegriff als theoretisches Pendant zum Habitus aufgrund seiner assoziativen Konnotationen (Kräftefeld, Spielfeld) konzeptuelle Vorteile bietet und zudem dynamischer einsetzbar ist, als der durch die Ethologie stark besetzte und vergleichsweise wenig ausdifferenzierbare Begriff des Habitats. Mit der Einrichtung durch Alltagsgegenstände und weitere Gestaltungsmöglichkeiten wie Wandfarben und Beleuchtungsmittel, die eine bewohnte Binnensphäre innerhalb der Grenzen eines vorgegebenen architektonischen Zuschnitts atmosphärisch ›familiär‹ machen, wird einer ›Sphäre des Eigenen‹ Ausdruck gegeben. Die Philosophin Beate Rössler schreibt von »symbolischen Aufladungen« im Sinn einer persönlichen Bedeutsamkeit der Dinge und ihrer Anordnungen. »Schon das Zimmer eines Kindes kann dies zeigen: die Korrespondenz zwischen Arrangements des Raumes und den Bedürfnissen und Vorlieben des Kindes« – was um so mehr für Erwachsene gelte, »die mit der Inszenierung des Raumes und

41 Ebenso betonten bereits Marcel Mauss oder Norbert Elias den engen Bezug von Körpertechniken auf dem Gebrauch von Werkzeugen und Technologien (vgl. Schmidt 2006: 88).

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der Art der Gegenstände in ihm zugleich ihre je individuelle Geschichte und damit ihre je eigene Identität zum Ausdruck bringen oder doch jedenfalls bringen können« (Rössler 2001: 260). Durch die »Inszenierung des Interieurs«, durch die Anordnung bestimmter Gegenstände auf eine spezifische Weise (ebd.: 257), aber auch indem auf Lichtverhältnisse, Farben, Temperatur, die räumliche Akustik und Gerüche eingewirkt wird, schaffen sich die Familienmitglieder zuhause mit ungleicher Beteiligung separate und gemeinsame, in ihren ästhetischen Qualitäten vertraute, atmosphärisch gestimmte Bezugsorte (vgl. Böhme 1995: 33). Graham Allan und Graham Crow bezeichnen das als die Ausdrucksdimension, in der die Bewohner ihr Zuhause als persönlichen Bezugsort und Privatsphäre ausgestalten.42 Der Wohnbereich und die im eigenen Geschmack arrangierten Einrichtungsgegenstände sind jedoch nicht als Requisite und Kulisse des Familienlebens zu verstehen, die mit persönlicher Bedeutung aufgeladen sind. Sie fungieren in ihren spezifischen Eigenschaften auch als ›Trägermaterie‹ von Routinen einer Praxis des Wohnens, über die eine praktische Erfahrung des Zusammenlebens kollektiviert wird.43 Besonders durch einen vertrauten Wohnbereich werden Verhaltens- und Wahrnehmungsroutinen stabil gehalten, so Kimberly Dovey, weshalb wir uns in den alltäglichen Abläufen und der räumlichen Umgebung, in die wir uns eingelebt und eingerichtet haben, auch in einem übertragenen Sinn ›zuhause‹ fühlen.

42 Allan und Crow differenzieren drei Dimensionen des Zuhause, das sie als Ort privater Verhaltensweisen, als sozial abgesicherten Ort und als Sphäre persönlichen Ausdrucks begreifen. »The private sphere of the home is marked off from the public sphere of society in terms of who is encountered there, the activities undertaken there, and the styles of behavior thought appropriate. Secondly the home is a place of security, control and freedom. Being ›at home‹ means (among other things) that an individual can feel safe and in command, free from the intrusion and direction of others. Thirdly the home is a place of creativity and expression in which activity, even mundane activity such as housework and repair work, takes on special significance.« (Allan/Crow 1989: 4) 43 Mihaly Csikszentmihalyi und Eugene Rochberg-Halton weisen in diese Richtung, indem sie aus sozialpsychologischer Perspektive eine Wechselwirkung von materieller Gestaltung und Habitus aufzeigen. Sie nutzen in ihrer empirischen Untersuchung zu Domestic Symbols and the Self mit psychoanalytischen Bezügen ebenfalls die »energetische Aufladungsmetapher« (Csikszentmihalyi/Rochberg-Halton 1989: 27). Über den bloßen Ausdrucksaspekt der Persönlichkeit in der Wohnungseinrichtung gehen sie hinaus, indem sie mit interaktiontheoretischen und sozialkonstruktivistischen Bezügen auf eine tiefgehende Wechselwirkung der ausgestalteten Wohnungseinrichtung und derjenigen hinweisen, die sich dort einrichtet haben. »Die Objekte der häuslichen Domäne« fungieren in ihrer Perspektive als »ein ökologisches Zeichensystem, welches die Persönlichkeit ihres Besitzers sowohl abbildet wie formt.« (Ebd.: 36)

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»It is the environment we inhabit day after day until it becomes taken for granted and is unselfconscious. This sense of familiarity is rooted in bodily routines, a place where [...] space becomes a ›field of pre-reflexive actions grounded in the body‹.« (Dovey 1985: 37) Die räumliche Ordnung und die materielle Einrichtung dieser ›gewohnten‹ Umgebung wirken sich in der Alltagspraxis als stabilisierend und handlungsleitend aus, weil die Alltagsgegenstände in ihrer räumlichen Anordnung als »soziales Gedächtnis« fungieren, wie auch Karl H. Hörning und Julia Reuter ausführen – als »Anhaltspunkte für die gewohnten Handlungsabläufe, Wege und Rhythmen« (Hörning/Reuter 2008: 116). »In einer solchen Praxisperspektive liegt die soziale Ordnung nicht nur in den jeweiligen Praktiken der Individuen. Sie existiert vielmehr in einem Netzwerk von Individuen und Artefakten, von Individuen und Objekten. Dabei übernehmen Artefakte und Objekte häufig die Rolle von ›Härtern‹ sozialer Ordnung, da sie soziale Regelungen und kulturelle Bedeutungen in einen mehr oder weniger dauerhaften Zustand überführen. So fungieren etwa Möbelstücke wie Stühle als Stabilisatoren sozialer Ordnung: Sie weisen dem Einzelnen einen ziemlich festen Platz im Raum und im Verhältnis zu anderen, von Menschen besetzten und unbesetzten Plätzen zu und beeinflussen damit über kulturspezifische Distanzmaße nicht nur die Praktiken des Sitzens und Wohnens, sondern auch die Praktiken des Kommunizierens oder Vergemeinschaftens.« (Ebd.: 115f.)

Die bewohnten Räume wirken sich nicht allein als kollektive Gedächtnisträger im Sinn von Maurice Halbwachs aus, indem zuvorderst die visuelle Erfahrung beständiger Materialitäten an der Konstitution von Identität und Zugehörigkeit beteiligt ist (vgl. Halbwachs 1985: 127ff.). Durch die gemeinsam ausgeformten Routinen, die in die ›gewohnte‹ Materialität eingelassen und auf diese eingestellt sind, wird auch ein verbindender Ordnungssinn reproduziert, indem diese Materialität des Wohnbereichs als alltagspraktische Gedächtnisstütze wirkt, wie etwas zu tun ist. Einerseits ausgestaltet durch eine Praxis des Wohnens, gibt der Wohnbereich den routinierten Abläufen seinerseits eine gewohnte Form und verhältnismäßig feste Grenzen der Praktikabilität vor.

D ER E SSTISCH : ›I NSTALLATION ‹ DES F AMILIENLEBENS Besonders in räumlich zentrierten Arrangements des Zusammenlebens als Familie zeigen sich in verdichteter Weise aufeinander abgestimmte Haltungen und eine prozessuale Feinjustierung der Verhaltensweisen, die nicht ›im leeren Raum‹ generiert, sondern in die Materialität des Wohnbereichs eingepasst werden, die nach den jeweiligen Vorstellungen und Bedürfnissen gestaltet ist. Hinsichtlich solcher

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zentrierter Arrangements bildet der ›Familientisch‹, als kulturhistorisch standardisierter Ort im Wohnbereich, geradezu eine Metapher des modernen Familienverständnisses. Wie im zweiten Kapitel dargestellt wurde, fungierte der Tisch in der Genese des modernen Familienbegriffs sozusagen als ein Leitmotiv in der formalen wie auch der alltagspraktischen Ein- und Abgrenzung von Familienleben. Die Fokussierung auf den ›Tisch‹ ist daher zum einen durch forschungspraktische Entscheidungen, aber auch in der Sache begründet. Mehr als ein Auto, eine Fernsehecke oder andere Orte, in denen sich Kopräsenz im Zusammenleben als Familie konzentriert, wird am Tisch in variierenden Rhythmen das zentrierte Arrangement par excellence hervorgebracht, das unbesehen unterschiedlicher Frequentierung und Nutzungsweisen auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts als besonders typisch für das ›gewohnte‹ Zusammenleben als Familie angesehen werden kann. Das Ensemble von Tisch und Stühlen als räumlich vergleichsweise fixierte ›Installation‹ ist weder ahistorisch noch im Kulturvergleich universell. In Europa hat es sich erst seit dem 18. Jahrhundert schichtübergreifend etabliert (Kaufmann 2006: 88f.; vgl. Dülmen 1995: 56ff.; Rybczynski 2001: 78ff.). Als Dauereinrichtung des Wohnbereichs entwickelte sich dieses feststehende Ensemble zusammen mit einem modernen ›Familiengefühl‹, das für die Organisation der persönlichen Beziehungen zunehmend bedeutsamer wurde (vgl. Ariès 2007: 542f.). Die materielle Ordnung dieses Ensembles fixiert sozusagen in ritualisierten Szenen die Form des Familienlebens ›im kleinen Kreis‹. »Stühle schränken den Aktionsraum des Menschen ein und ändern das häusliche Raumgefüge. Sie werden zum neuen Territorium im Raum des Sozialen und ordnen die sozialen Beziehungen innerhalb des Hauses: Sie fügen die Menschen in feste Räume und gestalten neue Formen der Geselligkeit. Anstelle des Herdes, einer der Anlässe für den Hausbau, wird der Tisch in der Wohnstube die gesellschaftliche Mitte des Hauses. [...] Stuhl und Tisch werden zu Ordnungsstiftern der Räumlichkeit des bürgerlichen Hauses, die die Menschen voneinander separieren und ihnen ein erhöhtes Maß an Disziplin abverlangen.« (Eickhoff 1997a: 227)

Der Tisch als soziales Zentrum und Sinnbild des Zusammenlebens als Familie trennt und verbindet zugleich. Durch seinen Gebrauch wirkt er wie ein Bindeglied, das zwischen den Sitzenden einen festen räumlichen Zusammenhang als Gruppierung schafft und der gemeinschaftlichen Zugehörigkeit eine ebenso konkrete wie sinnbildliche Form verleiht. »Durch seine strukturierende Materialität«, schreibt auch Jean-Claude Kaufmann, erzeuge dieses Möbelstück »täglich in der Familie wie in den Büros auf der ganzen Welt soziale Formen, ohne dass dies den Akteuren bewusst wäre« (Kaufmann 2006: 210). Kraft seiner historisch gefestigten Stellung ist das Ensemble aus Tisch und Stühlen dafür prädestiniert, die Familien-

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mitglieder im Rahmen ihres Zusammenlebens zusammenzubringen und in ihren Differenzen miteinander zu konfrontieren.44 Der Tisch formt ein Aufmerksamkeitsfeld vor, auf das sie ›konzentriert‹ sind. Für eine gewisse Verweildauer sind sie, teilweise von Angesicht zu Angesicht, auch einander ausgesetzt: ihren Blicken, Erwartungen und Urteilen. Im Vergleich zu einer stehenden Zusammenkunft sind sie dabei aufgrund der materiellen Vorgaben, der angepassten Körperhaltungen und der inkorporierten Verhaltenseinstellungen auch stärker räumlich ›festgesetzt‹ (vgl. Eickhoff 1997b). Durch die Ritualisierung gemeinsamer Zeiten besonders im 19. Jahrhundert, vor allem durch die gemeinsamen Mahlzeiten mit verbindlichen Tagesrhythmen, wird der Tisch zu einer Plattform der Bekräftigung familialer Einheit wie auch zu einem Forum der Differenzbearbeitung (vgl. Audehm/Zirfas 2000, 2001).45 Rituelle Verfahrensmuster und Verhaltensregeln sichern die entsprechenden Arrangements ab, in denen Verbundenheit in Szene gesetzt und wechselseitige Erwartungen, Zuschreibungen und Nuancen der Beziehungsformen wiederkehrend austariert werden. Besonders die Familienmahlzeit gilt daher als ›Familienzeit‹ (vgl. Brombach 2000, 2001; Larson/Wiley/Branscomb 2006; Audehm 2007, 2008). Die räumlichen und rituellen Reglements prägen sich ein. Anne Muxel merkt dazu an, die ersten Bilder aus Erinnerungen an das Familienleben der Kindheit seien oft solche der Familie bei Tisch. Besonders dort sind alle in Kopräsenz vereint und werden als Einheit nach einem hochgradig typisierten und vertrauten Schema räumlich modelliert. Vieles im Familienleben geschehe bei Tisch auch in einer besonderen Dichte – Alltagskommunikation, Gefühlsleben, Erziehungsmomente – und zwar nicht zuletzt deswegen, weil es häufig eine Verpflichtung gebe, bei Tisch sitzen zu bleiben (Muxel 1996: 63f.). Die einzelnen Zusammenkünfte überdauernd fungiert der Tisch in seiner dinglichen Präsenz als zentraler familialer Gedächtnisträger innerhalb des gemeinsamen Wohnbereichs – nicht allein in Hin-

44 Dass sich die Wahrnehmung von und der Umgang mit solchen Differenzen kulturhistorisch gravierend verändern kann, hat Philippe Ariès am Konzept der Kindheit gezeigt (vgl. Ariès 2007; Hendrick 2009). 45 Es kennzeichne die »häuslichen Lebensgemeinschaften aller Kulturen und Epochen«, so Arnold Zingerle, »daß sie den Alltag durch Mahlzeiten gliedern«, wobei er die häusliche Tischgemeinschaft allerdings in fragwürdiger Weise universalisiert. Die in der »häuslichen Lebensgemeinschaft« stattfindenden Mahlzeiten würden durch diese organisch erzwungene Strukturierung der Zeit »wie kaum eine andere Einrichtung des menschlichen Zusammenlebens zu einer mit größter Regelmäßigkeit wiederkehrenden, somit erwartbaren Situation der Teilhabe und des Austauschs unter Verschiedenen (Männer und Frauen, Eltern und Kinder, Älteren und Jüngeren, Gleich- und Minderberechtigten, Höher- und Niedriggestellten usw.)« (Zingerle 1997: 81).

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sicht auf die memorierten Szenen einer biographischen Vergangenheit, sondern auch als dingliches Pendant zu den inkorporierten Verhaltensweisen, den darauf bezogenen Reglements und Erwartungen im familialen Alltagsleben. Im modernen Alltag mit seinen dezentierten Ortsbindungen im Tagesverlauf ist der Tisch für Jean-Claude Kaufmann zu einem »Hauptwerkzeug« geworden, um Kopräsenz im Rahmen des Zusammenlebens verlässlich wiederherzustellen. Das Arrangement bei Tisch sei umso bedeutsamer für die Reproduktion des Gemeinsamen, als die einzelnen Familienmitglieder überwiegend divergierenden Zeitordnungen und Interessen folgen (Kaufmann 2006b: 208ff.). Es mag Gegenbeispiele geben, in denen einem Tisch als Ort für das Zusammenleben als Familie kaum Relevanz zukommt, doch legt die Ernährungsforschung eine weiterhin bestehende Bedeutsamkeit der Mahlzeit wie auch des Tischs als Ort entsprechender Zusammenkünfte nahe (vgl. Leonhäuser u.a. 2009; Küster 2009; Ploeger/Hirschfelder/Schönberger 2011; Schönberger/Methfessel 2011). Dennoch lasse sich eine Tendenz zur »Entrhythmisierung«, »Entritualisierung« und »Enthäuslichung« von Mahlzeiten beobachten, die aber nicht als Anzeichen des Zerfalls- und der Auflösung totalisiert werden sollte. Sie zeigen in erster Linie eine ›Pluralisierung‹ und die Tendenz zur ›Informalisierung‹ einer vormals strikter und strenger reglementierten Ordnung an (vgl. Hayn/Empacher/Halbes 2005: 34). Hinsichtlich der regelmäßigen Gemeinsamkeit hebt auch Kaufmann hervor, dass die Mahlzeiten in hochindustrialisierten Ländern zunehmend individuell gehandhabt würden und sich häufiger an verstreuten, wechselnden Schauplätzen sowie in spontaneren Konstellationen abspielten.46 Er sieht darin eine Dynamisierung an Stelle der strikten alten Regelmäßigkeiten. Das beginne schon »beim materiell-

46 Kaufmann unterscheidet eine Geschichte der Ernährungsweisen von einer Geschichte der Mahlzeiten. Die eine sei bezogen auf eine Sinngenese »über die Religion hin zur Wissenschaft, um das Gute und Schlechte in der Ernährung bis ins Kleinste zu definieren und zu klassifizieren«; die zweite sei auf den Sinn bezogen, den die Essenden »der sozialen Form, der sie angehören, zu geben versuchen« (Kaufmann 2006b: 73ff.) Eine vergleichbare Unterscheidung hat Ulrich Tolksdorf nach Mary Douglas ausgearbeitet, indem er analytisch zwischen der Speise (Nahrungsmittel und kulturelle Technik der Zubereitung) und der Situation ihres Verzehrs differenziert (vgl. Barlösius 1999: 175ff.). Pierre Bourdieu hat diesbezüglich hervorgehoben, dass in den Gestaltungsweisen bei Tisch auch Klassenunterschiede zur Geltung kommen, die als ästhetische Orientierung auch weiterhin soziale Unterschiede markieren. »Dem ›freimütigen‹, ungezwungenen Essen der ›einfachen Leute‹ setzt der Bourgeois sein Bemühen um formvollendetes Essen entgegen. ›Formen‹ sind zunächst einmal geregelte Abläufe, die Warten, Zögern, Zurückhaltung beinhalten [...] man wartet ab, bis auch der letzte sich aufgetan hat und zu essen beginnt ...« (Bourdieu 1997: 315).

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sten Aspekt der Dinge: Die Tische haben sich vervielfacht« (Kaufmann 2006b: 121). Innerhalb des Wohnbereichs seien neben Küchen- oder Wohnzimmertisch der Couchtisch, individuelle Arbeits- und provisorische Ablageflächen zu Orten des Verzehrs und Aufenthalts in flexibel variablen Zusammenkünften geworden. In Hinsicht auf diese ›Pluralisierung‹ und ›Informalisierung‹ der Mahlzeiten sieht Kaufmann im Küchentisch den bedeutsamsten Tisch für das Zusammenleben, da dieser alle Möglichkeiten offen lasse. »Er ist ein Arbeitstisch, ein Tisch für einen improvisierten Imbiss, für ein konsequenteres Essen des Einzelnen oder ein ordnungsgemäßes Essen der ganzen Familie; er ist ein Tisch, an dem man mit einem Glas, einem Kaffee oder auch einfach so miteinander spricht« (ebd.). Eva Barlösius hebt hervor, dass gemeinsame Familienmahlzeiten heutzutage weitaus seltener stattfinden, als ihr fortbestehender Stellenwert vermuten ließe.47 Dennoch misst auch sie dem Tisch einen zentralen Stellenwert zu. Ein gemeinsamer Familiensinn werde bei Tisch aber auch gar nicht nur durch das Teilen der Nahrung, sondern ebenso durch das Tischgespräch hergestellt, indem sich Familienmitglieder spontan mit an den Tisch setzten, obwohl gar nicht alle etwas essen oder trinken (Barlösius 1999: 184; vgl. Keppler 1995). Jenseits der rituellen Rahmung der Mahlzeit wird am Tisch auf vielfältige Weise interagiert, z.B. auch miteinander gespielt oder gebastelt. Die beteiligten Familienmitglieder sind dabei mit ihrem gesamten Körper in das Geschehen involviert, wobei Gesten und andere körperliche Vollzüge in dichter Weise auf das Beisammensein nahe beieinander, die Einbettung in das Arrangement und die weitere Umgebung bezogen sind (vgl. Geser 1990; Streeck 1996; Wulf u.a. 2011). Als Schauplatz der Erhebungen ist der Tisch auch eine forschungsstrategische Wahl, weil ein Interaktionsraum der beteiligten Familienmitglieder dort auf einen verhältnismäßig engen Raum begrenzt ist. Dieser wird zu einem zentralen Aufmerksamkeitsfeld gemacht, in dem Positionierungen und Haltungen der Beteiligten ›konzentriert‹ zur Geltung kommen. Am Tisch findet eine ›Verdichtung‹ des Zusammenlebens auf ein zentriertes Arrangement statt, in dem Verhaltensweisen, Positionierungen und Perspektiven ausgelotet und in gemeinsamer Kopräsenz aktualisiert werden. Indem sich die Familienmitglieder innerhalb der ›gewohnten‹ Materialitäten und Routinen miteinander arrangieren, kommt auch ein familien-

47 Untersuchungen in Deutschland zeigen seit den 1970er Jahren, dass im Familienalltag kaum noch drei Mahlzeiten gemeinsam eingenommen werden (Barlösius 1999: 183ff.; Prahl/Setzwein 1999: 181ff.; Meyer 2002) Dennoch überwiege bis heute das Essen zuhause, entweder allein oder in Gesellschaft weiterer Familienmitglieder, – so Silke Bartsch zu jugendlichen Esskulturen – wobei ›Snacken‹ häufig gar nicht als ›richtiges‹ Essen zähle, sondern als Zwischenmahlzeit (vgl. Bartsch 2008: 36ff.; Bartsch 2010).

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spezifischer Ordnungssinn zur Geltung. Individuelle Bewegungsräume und Verhaltensweisen werden in familienspezifischer Weise reguliert und reglementiert, wobei moralische, pragmatische und ästhetische Kriterien relevant werden (vgl. Douglas 1991: 289). Das Zusammensitzen bei Tisch ist besonders während der Mahlzeiten durch eine präzise räumliche Ordnung eigener Art organisiert. Die alltagspraktische Einrichtung dieses Arrangements folgt einer impliziten Logik – in Bezug auf die empfundene Stimmigkeit der räumlich-materiellen Verhältnisse und Zuordnungen wie auch in Hinsicht auf eine als stimmig empfundene Formgebung des Zusammenseins. Die Platzierungen bei Tisch müssen dabei nicht Tag für Tag grundsätzlich ausgehandelt werden, sind aber auch nicht unveränderlich festgelegt. Die wechselseitig eingeräumten Spielräume innerhalb ihrer Organisation unterscheiden sich zwischen verschiedenen Lebenszusammenhängen ebenso wie die zugrundeliegende Logik, nach der die jeweilige Tischordnung realisiert wird. Gerade in dieser Raumordnung werden Orientierungsmuster objektiviert, durch die alles Relevante in ein ›passendes‹ Verhältnis gesetzt wird.

B EI W OELLMER Monika und Helmut Woellmer sind beide Mitte vierzig und annährend gleich alt. Sie sind verheiratet und wohnen mit ihren beiden gemeinsamen Kindern, dem 15jährigen Sohn Andreas und der 12-jährigen Tochter Isabel, im ersten Stockwerk einer Stadtwohnung an einer großen Hauptverkehrsstraße in Berlin. Ihre gegenwärtige Mietwohnung haben sie vor knapp zehn Jahren bezogen; sie ist größer und auch nicht so weit oben gelegen wie die vormalige Wohnung. Herr Woellmer ist in West-Berlin aufgewachsen, Frau Woellmer in Brandenburg, nahe bei Berlin. Herr Woellmer arbeitet als Angestellter in einem großen städtischen Betrieb – eine Tätigkeit, die für ihn häufig auch mit Spätschichten bis in die Nacht verbunden ist; Frau Woellmer ist gelernte Verkäuferin, inzwischen jedoch vorwiegend Hausfrau. Ihren erlernten Beruf übt sie aufgrund von Rückenbeschwerden nicht mehr aus. Daher sei auch der gemeinsame Wohnungsumzug eine Erleichterung für sie gewesen; das vorherige Treppensteigen empfand sie als quälend. Eine kleine Nebenerwerbsmöglichkeit hat sie an Isabels Grundschule, wo sie in mehreren Schulklassen über das Kieler Rechtsschreibsystem informiert, mit dem sie sich in den letzten Jahren auseinander gesetzt hat. Das Kieler Rechtschreibsystem ist eine Lernhilfe insbesondere für Kinder mit Lernschwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Frau Woellmer hilft nachmittags außerdem in einem Schülerladen bei der Hausaufgabenbetreuung und kann sich sehr gut vorstellen, zukünftig noch Pädagogik zu studieren. Zu ihrem Bedauern konnte sie ein Theo-

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logiestudium nach ihrer Schulzeit nicht beenden, was sie mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit unter den damaligen Rahmenbedingungen in Verbindung bringt. Andreas besucht eine Förderschule in Berlin. Laut Frau Woellmer ist bei ihm bereits im Alter von fünf Jahren ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom diagnostiziert worden und sie erzählt im Vorgespräch von einer als verletzend empfundenen Vorgeschichte, als ihr nach den ersten Wochen im Kindergarten von einer Erzieherin gesagt worden sei, ihr Sohn sei behindert. Mehrmals in der Woche nimmt Andreas nach seinem Schulunterricht therapeutische Fördermaßnahmen in Anspruch. Die Woellmers setzen sich bei unterschiedlichen Einrichtungen des Bezirks wiederkehrend für eine Verlängerung der zeitlich begrenzten Maßnahmen ein und hoffen, dass eine gerade auslaufende Therapiemaßnahme noch weitergeführt werden kann. Auch Isabel besuchte in der 3. Klasse vorübergehend eine Förderschule, nachdem eine Lese-Rechtschreibschwäche diagnostiziert wurde. Herr und Frau Woellmer verstehen sich als religiös. Kennengelernt haben sie sich über eine regionale christliche Zeitung, in der Herr Woellmer eine Annonce inseriert hatte, nachdem seine erste Ehe geschieden worden war. Im alltäglichen Zusammenleben praktizieren alle den evangelischen Glauben, indem sie vor den Mahlzeiten beten. Während der evangelische Glaube für Herrn und Frau Woellmer etwas Verbindendes hat, thematisieren sie wiederholt eine kulturelle Differenz aufgrund ihrer Herkunft aus »West-« und »Ostdeutschland«. Divergierende Verhaltensweisen und Verhaltenserwartungen werden zum einen diesem Unterschied der Herkunft zugeordnet. Viel Gewicht wird zweitens auch den unterschiedlichen familialen Sozialisationshintergründen zugesprochen. Insesondere Frau Woellmer charakterisiert ihre eigenen Eltern als warmherzig, was einer gewissen Gefühlsarmut entgegengesetzt wird, in der Herr Woellmer aufgewachsen sei. Die Eltern von Frau Woellmer sind mit ihrem Haus »im Grünen«, nahe bei Berlin, nicht nur ein häufiger Anlaufpunkt gemeinsamer Wochenendbesuche, sondern zu ihnen wird auch ein abendliches Telefonritual gepflegt, zu dem überwiegend Frau Woellmer, Andreas und Isabel telefonisch mit ihnen sprechen. Früher waren diesbezüglich die Telefonrechnungen ein Streitanlass, wovon Herr Woellmer erzählt, doch gebe es inzwischen ja Flatrate-Tarife, wie Frau Woellmer anmerkt. Im Wohnzimmer der Woellmers befinden sich in einer Ecke zwei Kaninchenkäfige, und da beide Kaninchen möglichst täglich Auslauf haben sollen, hoppeln sie über die beiden Teppiche auf dem Parkettboden oder werden, in erster Linie auf dem Schoß von Frau Woellmer oder Isabel sitzend, ausgiebig gestreichelt und gekrault. Die sich im Wohnzimmer frei bewegenden Tiere bieten neben diesen Zuwendungen auch wiederkehrend Anlass für Zurufe und weitere Interventionen, wenn sie an etwas zu knabbern oder das ihnen zugestandene Terrain verlassen. Sie sind ein wiederkehrendes Gesprächsthema, z.B. in Bezug auf ein angebissenes

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Kabel an Andreas Computer, in dessen Zimmer sich eines der Kaninchen unbemerkt bewegt hatte. Andreas und Isabel haben jeweils ein eigenes Zimmer. Frau Woellmer bereitet täglich Mittagsmahlzeiten zu, an denen Herr Woellmer aufgrund seiner Erwerbstätigkeit nur sporadisch und vorwiegend am Wochenende teilnehmen kann. Andreas und Isabel haben allerdings bereits auseinandergehende Schulzeiten und Nachmittagstermine, so dass einzelne Portionen mitunter im Herd warm gestellt werden. Entgegen dem Abendessen, zu dem Herr Woellmer auch nicht immer anwesend ist, weil er häufiger im Spätdienst arbeitet, wird das Frühstück vergleichsweise separiert zu sich genommen. Nachdem Frau Woellmer das Frühstück »für die Kinder« vorbereitet hat, zieht sie sich wieder in das Schlafzimmer zurück, um dort vor dem Fernseher zu essen, während Andreas und Isabel die Frühstücksbrote im angrenzenden Wohnzimmer verzehren, wie sie berichtet. Die Erhebungen fanden im Wohnzimmer statt. Beim ersten Mal, an einem Dienstagabend, saßen Frau Woellmer und Isabel auf einer Couch und Andreas in einem hölzernen Schaukelstuhl, während Herr Woellmer nicht anwesend war. Für die weiteren drei Erhebungen saßen alle Beteiligten gemeinsam am Esstisch. Zwei der Erhebungen fanden dienstagabends statt, die dritte an einem Mittwochnachmittag. Zwischen den Terminen lagen Abstände von vier bis sechs Wochen. Zwischen den letzten beiden Terminen betrug der zeitliche Abstand eine Woche. Im Wohnzimmer bei Woellmer Hinter der Wohnungstür liegt ein Flur, zu dem bei Tag durch die geöffneten Türen aus Küche und Wohnzimmer etwas Tageslicht dringen kann, doch wirkt er ohne elektrisches Licht dennoch etwas dämmrig. Links befindet sich eine Garderobe mit großen Kleiderhaken und Kleiderbügeln, gleich dahinter die Tür zum Wohnzimmer. Zur rechten Flurseite liegt der Kücheneingang und einige Utensilien aus der Küche sind in ein Regal im Flur ausgelagert worden. Weiter hinten im Flur befinden sich die Zugänge zu den Kinderzimmern. Die Längswand des Wohnzimmers zum Flur wird durch die Wohnzimmertür geteilt, so dass sich das Zimmer beim Eintreten nach links wie nach rechts öffnet. Die gegenüberliegende Längswand enthält mehrgliedrige Fenster, hinter denen eine Straße mit motorisiertem Straßenverkehr zu hören ist. Vor allen Fenstern hängen von oben bis etwa auf Brusthöhe weiße Gardinen herab. Das Wohnzimmer erscheint im Vergleich zu den Wohnzimmern der anderen beforschten Familien recht voll – ein Eindruck, der sich besonders durch die Stapelungen von Verpackungen sowie Papieren und anderen Alltagsdingen auf den Ablageflächen an den Rändern des Zimmers, aber auch durch eine Vielzahl von Stühlen und die drei Sofas in der rechten Zimmerseite einstellt.

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Das Wohnzimmer ist in zwei Hauptareale gegliedert: Vom Eingang zur linken Seite gesehen befindet sich ein Esstisch mit Stühlen, zur rechten Seite eine Couchecke mit einem weiteren niedrigen Tisch. Auf dem hölzernen Parkettfußboden des Zimmers markiert ein großer Teppich mit braunen Mustern ein Areal, das fast die gesamte linke Zimmerhälfte einnimmt. Der Esstisch ist auf diesem teppichbelegten Areal der linken Zimmerhälfte zentral platziert, so dass diese Seite räumlich durch den Tisch und die um diesen gruppierten Stühle eingenommen wird. Der Teppich schließt hinter dem Tisch an einen großen, hochglanzlackierten Wohnzimmerschrank an. In dem Schrank befinden sich Glastüren, hinter denen Trinkgläser verstaut sind, sowie in etwa auf Brusthöhe (auf gleicher Höhe mit dem Gardinenabschluss) zwei offene Ablagen mit Fotos, Kerzen und Nippes. Beidseitig neben und über dem Wohnzimmerschrank sind Setzkästen mit kleinen LKWs und Bussen, überwiegend im Modelleisenbahn-Maßstab angebracht; auf dem Schrank sowie auf dem Fußboden daneben sind Kartons und andere Verpackungen gestapelt. An der Längswand zum Flur befinden sich links und rechts der Wohnzimmertür Regalschränke, vorwiegend mit Büchern und einem Fernseher. An der Fensterfront gegenüber, neben Esstisch und Stühlen und vor einem der Fenster platziert, stehen zwei Kaninchenkäfige übereinander, mit jeweils einem Kaninchen, sofern diese nicht gerade durch das Wohnzimmer laufen. Daneben, etwa gegenüber der Wohnzimmertür, steht ein hölzerner Sekretär, dessen Kästen und Flächen von Papierware bedeckt sind. Eine Schale mit Süßigkeiten befindet sich auch darauf. Vor dem Sekretär steht ein Schaukelstuhl, der ›lose‹ an die Couchecke in der rechten Zimmerseite angegliedert ist. Auf den Fensterbänken, links und rechts des Sekretärs, stehen Blumentöpfe, Gefäße, ein Stapel mit Schreibablagen sowie etwas grünlich verfärbte Colaflaschen, die offenbar mit Wasser zum Gießen der Blumen gefüllt sind. Über dem Sekretär ist eine Pendeluhr an der Wand befestigt. Die vier Wände sind mit einer weiß gestrichenen Raufasertapete tapeziert.

Abb. 7: Wohnzimmer mit Esstisch.

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Von der Wohnzimmertür aus rechts befindet sich die Couchecke mit zwei Sofas und einer Chaiselongue, die über Eck zu einem Hufeisen gestellt und mit zahlreichen Stofftieren bedeckt sind, dazwischen ein niedriger Couchtisch. Hinter der Couchecke ist eine kleine Zimmernische, die durch einen Vorhang als Abstellkammer abgetrennt ist. Dort wird Herrn Woellmers Modelleisenbahnsammlung aufbewahrt. Rechts neben der Couchecke befindet sich noch eine weitere Tür, die zum Schlafzimmer der beiden Eltern führt. Das Gebäude sei zuvor ein Betriebsgebäude gewesen, erzählt Herr Woellmer, so dass die Zimmerdecken ungewöhnlich hoch waren. Vor dem Einzug wurde eine niedrigere Decke eingezogen, über der sich weitere eineinhalb Meter Zimmerraum befinden. Eine formale Statik im Arrangement bei Tisch Zum Erhebungstermin der Mahlzeit ist der Esstisch bei meiner Ankunft weitgehend gedeckt. Während ich mit dem Aufbau von Stativ und Kamera beschäftigt bin, sitzen Isabel, Frau und Herr Woellmer bereits; Andreas ist noch in der Küche, um eine Packung Apfelsaft für sich zu holen. Isabel trinkt einen anderen Fruchtsaft, Herr und Frau Woellmer Früchtetee. Ich hatte mir für alle Erhebungen vorgenommen, nur nach expliziter Aufforderung an den Mahlzeiten teilzunehmen, nicht aber von mir aus eine Teilnahme zu initiieren, um die Erhebungssituation möglichst durch die Familienmitglieder organisieren zu lassen. Da ich angesichts der Sitzenden, ohne zum Sitzen aufgefordert zu worden zu sein, einem empfundenen Platzierungsdruck nachgebe, nehme ich aber eine Beobachterposition rechts an der vorderen Tischecke auf einem Stuhl ein, den ich mir dort zurechtrücke. Gemeinsame Mahlzeit, im Wohnzimmer am Esstisch Isabel, Frau und Herr Woellmer sitzen am Esstisch, Andreas befindet sich nicht im Wohnzimmer. Nachdem der Forschende die Kamera justiert und dabei mit Frau Woellmer gesprochen hat, setzt er sich auf einen Stuhl, den er sich zurechtstellt, vorne an die rechte Ecke des Tischs. Frau Woellmer: Nö:ö, sie sollen sich mit hinsetzen; mitessen. Forschender: Wohin denn? Frau Woellmer: Wo sie möchten. sind ja noch zwei Stühle frei. ☺(3)☺ Forschender: ⎣Ah, gut. Danke. Auf seine Frage »wohin denn«, und während Frau Woellmer antwortet, wenden alle drei synchron ihren Kopf in Richtung der beiden Stühle am Tischende und zeigen zeitlich leicht versetzt mit jeweils einer Hand in diese Richtung. Isabel, die etwa zeitgleich mit Herrn Woellmer und etwas später als Frau Woellmer dorthin zeigt, geht von einer zeigenden in eine abwinkende Bewegung über. [F3E2: 00h 01m 33s – 00h 01m 40s]

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Frau Woellmer reagiert auf die Stuhl- und Platzwahl des Forschenden mit der Äußerung, er solle sich doch »mit hinsetzen« und »mitessen«. Mit seiner Platzwahl am Eck hat der Forschende nicht nur signalisiert, dass er nicht beabsichtige mitzuessen; der hinzugezogene Stuhl wird an diesem Platz auch nicht als integrierter Bestandteil des Arrangements betrachtet. Der Forschende soll sich »mit hinsetzen«, anstatt außerhalb zu sitzen. Allerdings ist die von Frau Woellmer offerierte Platzwahl auf die Frage »wohin denn« weder auf das gesamte Areal um den Tisch herum, noch auf alle ›freien‹ Stühle in diesem Areal bezogen. Im gemeinsamen, annähernd synchronen Zeigen wird vielmehr eine selbstverständliche Einhegung des Arrangements aufgezeigt.

Abb. 8: Dem Forschenden wird sein Platz gezeigt.

Der Wohnzimmertisch besteht nämlich aus zwei Segmenten, die aneinandergestellt und von jeweils einem Wachstuch bedeckt sind. Während der Mahlzeiten wird jedoch ausschließlich das hintere Segment genutzt; das vordere bleibt ›außen vor‹. Während der Mahlzeiten dient dieses vordere Segment hingegen als Ablagefläche für das Telefon, eine Küchenpapierrolle und mitunter Getränkepackungen. Unter dessen Tischplatte und vom Wachstuch weitgehend verdeckt befinden sich Fächer, in denen Bastelmaterialien verstaut sind. Während diesem Tischsegment im Alltag vorwiegend eine Ablagefunktion zukommt, kann es bei einer größeren Besucheranzahl, wie zu Andreas’ Geburtstag, aber auch als Esstischerweiterung dienen, vergleichbar zu einer ausziehbaren Tischplatte. Im Vergleich ist der Wohnzimmertisch bei Woellmer deutlich niedriger als bei den anderen Familien – die Tischplatte befindet sich für sitzende Erwachsene mit durchschnittlicher Körpergröße knapp über den Oberschenkeln. Ist die Höhe ein Zugeständnis an mögliche weitere Gebrauchsweisen, im Sinne eines ›Multifunktionstischs‹? Der Tisch wirkt aufgrund seiner vergleichsweise niedrigen Höhe jedenfalls wie eine Annäherung an den Couchtisch in der anderen Zimmerhälfte, der mit der gleichen Art von Wachstuch bedeckt ist.

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Nach der Aufforderung durch Frau Woellmer verlässt der Forschende seine bisherige Platzierung und geht hinter Herrn Woellmer zu den beiden offerierten Sitzplätzen. Indessen ist Andreas aus der Küche in das Wohnzimmer gekommen und dem Forschenden dorthin gefolgt. Dieser wendet sich vor den beiden Stühlen stehend zu ihm hin. Gemeinsame Mahlzeit, im Wohnzimmer am Esstisch Andreas hat soeben das Wohnzimmer betreten, mit einer Packung Apfelsaft in der Hand, die er an seinem Bauch abstützt. Er folgt dem Forschenden hinter Herrn Woellmer zum Tischende und bleibt hinter dem Forschenden stehen. Dieser wendet sich zu Andreas. Forschender: Wo sitzt Du? Herr Woellmer: ⎣Am besten in der {Herr Woellmer zeigt beim Sprechen auf den Stuhl in der Mitte}, den in der Mitte; das is’ ( ). Andreas: ⎣Ich äh, {Andreas sieht zu Herrn Woellmer und macht eine gleitende Zeigebewegung vom äußeren der beiden Stühle zum mittleren} in der Mitte. Forschender: Ah. (.) äh, ich in die Mitte oder du in der Mitte. Herr Woellmer: ⎣Joa. ⎣Ne nee, Sie Frau Woellmer: ⎣Sie Forschender: ☺Gut.☺ [F3E2: 00h 01m 43s – 00h 01m 51s]

Die beiden offerierten Stühle bilden weiterhin zwei Optionen und Andreas, der inzwischen gleichfalls ins Wohnzimmer gekommen und dem Forschenden zu den Plätzen gefolgt ist, hatte noch keinen Platz eingenommen. Der Forschende wendet sich zu ihm hin und fragt, wo er denn sitze. An seiner Stelle antwortet jedoch Herr Woellmer, er nehme am besten in der Mitte Platz. Andreas zeigt indessen zuerst auf den äußeren Stuhl und dann, mit Blick auf Herrn Woellmer, auf den mittleren und sagt: »Ich äh, in der Mitte«. Dadurch entsteht ein Missverständnis, da Herr Woellmer zum einen nicht direkt auf die Frage des Forschenden an Andreas antwortet, sondern an die bisherige Thematik anknüpft, welcher Platz ihm zugedacht sei. Andreas wiederum ändert während seiner Zeigebewegung die Orientierung: von einer Antwort auf die geäußerte Frage ausgehend folgt er dann Herrn Woellmers Fingerzeig zum Stuhl in der Mitte. Der Forschende ist auch weiterhin Andreas zugewandt und fragt diesen daraufhin nochmals, wer von ihnen nun in die Mitte gehe. Sowohl Herr als auch Frau Woellmer antworten daraufhin unisono mit »Sie«. Obwohl vor dem Hintergrund der vorherigen Zeigebewegungen als ein starkes Indiz anzunehmen ist, dass die zugedachte Platzverteilung allen Familienmitgliedern vor Augen liegt, wird die Sitzplatzverteilung von Herrn Woellmer über Andreas’ Adressierung hinweg geregelt.

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Alle Sitzplätze sind also bereits ›fest‹ verteilt. Ich setze mich auf den mir zugewiesenen Platz zwischen Isabel und Andreas, von vorne und hinten etwas eingekeilt zwischen Tisch und Schrank. Nach einem Tischgebet fassen sich alle an den Händen und sagen einen gemeinsamen Tischspruch auf, während die Hände auf und ab bewegt werden. Für Frau und Herrn Woellmer ist die Entfernung über die Breite des Tischs allerdings zu groß, um sich mit den Händen erreichen zu können, so dass sie die jeweils freie Hand einander entgegenstrecken und mit auf und ab bewegen, um einen geschlossenen Kreis am Familientisch anzudeuten.

Abb. 9: Gemeinsamer Spruch zum Beginn der Mahlzeit.

Dieses zweiphasige Verfahren zur Initiierung der gemeinsamen Mahlzeit und die räumliche Begrenzung der Sitzenden auf ein Areal um das hintere Tischsegment deuten darauf hin, dass eine Verteilung der Sitzplätze an beiden Tischsegmenten einem Stimmigkeitsempfinden hinsichtlich der ›richtigen‹ körperlichen Distanzen und der räumlichen Geschlossenheit des Arrangements entgegenstünde. Das hervorgebrachte Arrangement zur Mahlzeit hat an der einen von zwei geschlossenen Seiten des Wohnzimmers seinen Platz und ist dort sozusagen in eine Anordnung der verschiedenen Materialien fest ›eingefügt‹, in einen begrenzten Bewegungsraum, der durch den platzierten Tisch und die umherstehenden Möbelstücke vorarrangiert ist. Andreas und Isabel ›thronen‹ dabei am Kopfende des Tischs, ›geschützt‹ mit dem Rücken zum Schrank, und werden von ihren beiden Eltern seitlich flankiert, die als einzige einander direkt zugewandt sitzen. Auf zwei horizontalen Ebenen unterscheiden sich in dieser Sitzordnung zwei Platzkategorien als ›hintere‹ Plätze für die Kinder und ›vordere‹ Plätze für die Eltern – wobei Andreas und Isabel den verbleibenden Zwischenraum vor dem Schrank im Sitzen annähernd ausfüllen. Entlang einer gedachten vertikalen Mittelachse über die beiden Tischsegmente bestehen zu den beiden Seiten potentiell weitere Zuordnungen. Links sitzen Herr Woellmer und Andreas nebeneinander; rechts Frau Woellmer und Isabel.

230 | F AMILIÄRE R ÄUME Gemeinsame Mahlzeit, im Wohnzimmer am Esstisch Während der Mahlzeit wird schweigend gegessen. Nach mehr als zehn Sekunden bricht der Forschende dieses Schweigen mit einer Frage. Forschender:

Und ähm; sitzen Sie immer so? also so im Halbkreis hier? an dem Tisch?

Frau Woellmer nickt kauend und Herr Woellmer schaut gleichfalls kauend den Forschenden an, während er in seinem Tee Zucker umrührt. Frau Woellmer nimmt sich mit einem Löffel Essen aus einer Schüssel. Forschender: Mhm, (1) Frau Woellmer: Wenn wa zusammen sitzen, dann sitzen wa so. Forschender: ⎣Mhm, Der Forschende nickt, greift nach seinem Tee und trinkt. Andreas gießt sich Apfelsaft ein. Ein Kaninchen nähert sich Isabel, die sich zu ihm hinwendet. Sie bewegt ein Bein in dessen Richtung. Frau Woellmer: Wir hatten’s auch mal anders ’rum probiert, aber dat hat nicht geklappt. Forschender: Wie denn anders ’rum? Frau Woellmer: Na mei-; {sie zeigt zu Herrn Woellmer} ich hab da gesessen, {sie zeigt daraufhin auf sich} und mein Mann hier; Forschender: Ach so. Frau Woellmer: ⎣Mhm, Isabel: Aua. Isabel ist zusammengezuckt und schaut neben sich auf den Boden, kreuselt ihre Stirn und wendet sich wieder ihrem Essen zu. Ein Kaninchen hoppelt hinter Frau Woellmers Stuhl entlang in Richtung Kamera. Der Forschende schaut erst zu Frau, dann zu Herrn Woellmer. Forschender:

Dann gibt es schon ganz feste Plätze;

Herr Woellmer nickt. Forschender: Herr Woellmer: Frau Woellmer: Forschender: Herr Woellmer: Frau Woellmer: Forschender: Herr Woellmer: Forschender:

Dass Sie {der Forschende weist mit beiden Händen zu Herrn Woellmer} da sitzen; und Sie da {er weist mit beiden Händen zu Frau Woellmer}. Also es kann mal sein, ⎣Mhm, und die Kinder wechseln. ⎣Mhm? ⎣äh; die ⎣die streiten sich nämlich da, immer darum, wer neben mir sitzen darf. ⎣Aha? Genau. {Er macht eine abwinkende Handbewegung} det is; (.) hat sich vorhin ooch schon wieder angebahnt. Mhm?

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Herr Woellmer: Aber öh (.) {Herr Woellmer schaut geradeaus über den Tisch, ohne Frau Woellmer direkt anzusehen}; dann ham ’se sich noch einjekricht. [F3E2: 00h 03m 40s – 00h 04m 19s]

Der Forschende fragt nach den Platzierungen bei Tisch, indem er auf die Formation im Halbkreis verweist und beendet damit ein Schweigen zu Beginn der Mahlzeit. Frau Woellmer bestätigt zuerst lediglich nickend, nachdem sie zu Ende gekaut und sich etwas zu essen nachgenommen hat schließlich auch verbal, dass sie bei gemeinsamen Mahlzeiten immer so säßen. Ihre relativierende Formulierung (wenn/dann) macht ersichtlich, dass das gemeinsame Zusammensitzen nicht zu allen Mahlzeiten gegeben ist. Die Zeiten des gemeinsamen Zusammensitzens zu viert sind vor allem deswegen nicht täglich die Regel, weil Herr Woellmer häufig Spätdienste hat und dann auch zu einer inzwischen besonders typischen ›Familienzeit‹, dem Abendessen, nicht immer anwesend sein kann. Zu viert kommen sie vor allem an den Wochenenden am Esstisch zusammen. Nachdem Isabel wohl von einem der beiden Kaninchen in den Fuß gezwickt wurde (für das Geschehen sprechen einige Indizien), fragt der Forschende nochmals bezüglich der Platzierungen nach, wobei er sich zur Klärung, nachdem Herr Woellmer nur kurz genickt hat, mit expressiver Gestik auf die beiden Platzierungen von Frau und Herrn Woellmer bezieht. Beide relativieren daraufhin die Ausdrucksweise des Forschenden von »ganz festen« Plätzen. Frau Woellmer nimmt dem langsamer antwortendem Herrn Woellmer das Wort ab und fügt ihrer bisherigen Auskunft hinzu, dass »die Kinder wechseln« würden. Herrn Woellmers abgeschnittene Antwort, die in die gleiche Richtung zielte – er versucht noch weiter, sich erläuternd einzubringen – gibt Aufschluss darüber, dass dieser Platztausch eher selten geschieht. Die Formulierung »also es kann mal sein« spricht nicht für regelmäßige Varianten. Frau Woellmer erläutert, dass sich die Kinder nämlich immer darum streiten würden, wer neben ihr sitzen dürfe und Herr Woellmer stimmt ihr zu, das hätte »sich vorhin ooch schon wieder angebahnt«, aber dann hätten »’se sich noch einjekricht.« Neben der Frage, warum Frau Woellmer zur Sitzordnung anfangs nur in Hinblick auf sich und ihren Mann antwortet, ist vor allem die Frage interessant, was an dem Platzwechsel »nicht geklappt« haben könnte. Die ›umkämpfte‹ Anbindung an Frau Woellmer bietet dazu einen entscheidenden Hinweis. Nicht in Betracht gezogen wird offenbar, die Sitzplätze am Tisch oder sogar das gesamte Ensemble einschließlich des Tischs anders zu arrangieren, so dass z.B. zwei Sitzplätze neben Frau Woellmer verfügbar wären. Auch ein Platzwechsel zwischen den Generationen steht offenbar nicht in Frage, und die beiden unterschiedenen Platzkategorien von Eltern und Kindern werden entsprechend strikt getrennt voneinander thematisiert.

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In der schematischen Ordnung des Raums ist nur ein Platz neben Frau Woellmer verfügbar, um den sich wiederkehrend gestritten wird. Auch andere Regelungen, wie z.B. ein regelmäßiger Tauschrhythmus zwischen Andreas und Isabel, bestehen offenbar nicht. Wird jedoch von einer stillen ›Macht der Gewohnheit‹ im Status Quo ausgegangen, dann könnte in der festen Verankerung beider Eltern eine stabilisierende Achse gesehen werden, da sie von sich aus keine Veränderungen und in dieser Logik auch keine Aushandlungsprozesse anstoßen – der Streitanlass geht dann ausschließlich von Andreas oder Isabel aus, die sich entsprechend nur wieder »einkriegen« müssen. Durch die Konservierung der Sitzordnung wird der Streitanlass individuell zugeordnet und mit dieser Zuordnung auch versucht zu ›deckeln‹; er wird als typisch für die Kinder abgetan. Die beiden horizontalen Ebenen verschiedener Platzkategorien, ›vorne‹ und ›hinten‹, fixieren eine Generationenordnung, so dass Bewegung innerhalb der Sitzordnung jeweils auf diese Ebenen begrenzt bleibt – zumindest während der gemeinsamen Mahlzeiten, denn zum Familienspiel wird mit diesen Ebenen spielerischer umgegangen; Herr Woellmer und Andreas haben ihre sonst ›festen‹ Plätze zu diesem Anlass vertauscht. Die festgefügten Platzkategorien zur Mahlzeit unterscheiden sich hinsichtlich eines ›voreingestellten‹ Bewegungsraums und der Blickausrichtung. Frau und Herr Woellmer sitzen als Einzige von Angesicht zu Angesicht und nur sie haben die Option, sich vergleichsweise ›barrierefrei‹ entfernen zu können. Sie sitzen nicht nur ›vorne‹, sondern auch ›außen‹ an den Zugängen des Areals. Aufgrund des Nischencharakters, der sich in der Lücke zwischen Tisch und Schrank ergibt, ist ›hinten‹ dagegen weniger Platz; der Bewegungsraum ist spürbar verknappt. Die hinteren Sitzplätze sind durch Frau und Herrn Woellmer ›eingerahmt‹. Die ›Zugangskorridore‹ zu diesen Plätzen sind zur Hälfte verstellt und außerdem durch ›Blickschranken‹ von Frau und Herrn Woellmer unter Beobachtung – denn sprunghaftes Aufstehen wird wiederkehrend als ein zentrales Problem thematisiert. Die Blickausrichtung von Isabel und Andreas weist allerdings perspektivisch über die Tischfläche hinweg in den ›offenen‹ Wohnzimmerbereich, und das Aufstehen wird durch die offene Blickschneise nicht zuletzt dadurch angeregt, dass in dem ›offenen‹ Bereich häufig zwei Kaninchen frei herum laufen und entsprechende Aufmerksamkeitsattraktoren sind. Dieses horizontale Schema der Platzierungen scheint zumindest während der Mahlzeiten kaum für Veränderung verfügbar zu sein, weil der Objektivierung einer Generationendifferenz innerhalb der Sitzordnung ein besonderes Gewicht zugemessen wird. Mit diesem Schema wird ein Statusunterschied zwischen Eltern und Kindern nicht nur in Szene gesetzt, sondern auch als ein Kontrollverhältnis auf Grundlage der Organisation des Raums eingesetzt – und dieser geltend gemachte Statusunterschied lässt sich auch in den Handlungsräumen finden, die zugestanden

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werden. Eine weniger offensichtliche vertikale Differenzlinie bei Tisch bildet dagegen ein subversives Potential zur Destabilisierung des Arrangements. Denn eine vertikale Achse verweist am Tisch nicht primär auf ›Geschlechtszuordnungen‹, da Andreas und Isabel die Plätze hin und wieder wechseln, sondern auf eine Asymmetrie durch die ›einseitige‹ Anbindung der Kinder an Frau Woellmer, die implizit mit einer Zurückweisung Herrn Woellmers verbunden ist. So setzen sich Frau und Herr Woellmer zwar in ein symmetrisches Verhältnis zueinander, das durch die Asymmetrie der ›horizontalen‹ Platzkategorien zwischen Eltern und Kindern unterstrichen wird. Doch die Präferenz für den Sitzplatz neben Frau Woellmer untergräbt diese ausbalancierte Statik des Arrangements, indem um den einzigen Platz neben Frau Woellmer wiederkehrend konkurriert wird. Der Forschende wird in dieses Arrangement zur abendlichen Mahlzeit so eingefügt, dass dessen Platzierung diese Statik nicht stört. Ihm wird ein Platz zugewiesen, der die Symmetrie der vertikalen Seitenverhältnisse vielmehr weiter unterstreicht. Einerseits kann diese Platzierung am Kopfende als Privileg angesehen werden, in dem sich hier eine ›Kindzentriertheit‹ räumlich niederschlägt, wobei der Forschende als Gast auf den ›innersten‹ Platz gesetzt wird. Er befindet sich zweitens aber auch nirgendwo mehr unter Kontrolle als an diesem Platz, an dem der mögliche Bewegungsraum minimiert ist und die Blickrichtungen seitens Eltern zu ihren Kindern und dem Forschenden annähernd in Übereinstimmung gebracht sind. Angesichts der räumlichen Begrenzung des Arrangements auf das hintere Tischsegment und ein in den Erhebungen körperlich wiederkehrend stark zum Ausdruck gebrachtes Nähebedürfnis ist es drittens auch denkbar, dass der Forschende als Gast dort platziert wurde, wo es in ›sozialer‹ Hinsicht am ›wärmsten‹ ist. Eine eingerichtete Regel zur Absicherung von ›Familienzeit‹ Erinnerungsprotokoll, erster Erhebungstermin, im Wohnzimmer Nachdem ich in das Wohnzimmer eingetreten bin, fordert Frau Woellmer Andreas auf, noch den Tisch abzuräumen. Andreas kommentiert mit einer ›quietschenden‹ Stimme, er hasse es den Tisch aufzuräumen. Frau Woellmer sagt zu mir gewandt und erheitert, manchmal mache »es richtig Spaß, die Autorität als Elternteil zu haben«. Andreas räumt etwas vom Tisch und wiederholt leicht protestierend und mit krächzender Stimme, er hasse das.

Die kleine Eingangsszene bei Woellmers zog mein Interesse auf sich, während ich noch mit dem Aufbau des Kamerastativs beschäftigt war. Aus meiner Perspektive war das Tischabräumen keine ›große Sache‹, die von Andreas durch seinen Protest überraschend ›groß‹ gemacht wurde, wohingegen in den Vergleichsgruppen das Tischabräumen unauffällig geregelt zu sein schien. Mit der Anmerkung von Frau

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Woellmer, es mache manchmal »richtig Spaß, die Autorität als Elternteil zu haben«, nahm ich mir vor, diese Angelegenheit zum Abschluss des Gruppeninterviews anzusprechen. Entgegen der sonstigen Vorgehensweise wurde bei Woellmer aufgrund eines Missverständnisses zum ersten Erhebungstermin mit dem Gruppeninterview zum Alltag anstatt mit der Familienmahlzeit begonnen. Herr Woellmer ist zu diesem Erhebungstermin aufgrund seiner Erwerbstätigkeit nicht anwesend. Gruppeninterview zum Familienalltag, im Wohnzimmer am Couchtisch Frau Woellmer und Isabel sitzen nebeneinander auf einer Couch in der Wohnzimmerecke. Einige Minuten zuvor hat sich Andreas vom Schaukelstuhl weg bewegt und sich auf die Chaiselonge gelegt, die sich unterhalb der Bildkante befindet. Forschender:

und hier am Esstisch, da muss jeder selbst immer sein Geschirr wegräumen; oder, (.) weil als ich kam, war das gerade, dass sie da sagten, dass Andreas Frau Woellmer: ⎣Äh; wir ham eine Regel. Forschender: Ja. Frau Woellmer: Das hatten wir mit dem Psychologen, mit dem Herrn Meyer besprochen, weil Andreas hat kein Sitzfleisch; ne? Forschender: Mhm? Isabel beugt sich mit dem Kaninchen auf dem Schoß nach vorne und setzt sich etwas um. Während Frau Woellmer im Folgenden spricht, beugt sie sich nach links und streckt sich. Frau Woellmer: Der will immer ganz schnell weg. {Sie macht eine schnelle Handbewegung nach außen} und dann ham ’wa uns überlegt, wie wa das ändern können. (.) dann kam ich halt auf die Idee, der Erste der aufsteht, muss den Tisch abräumen und abwischen. Forschender: ⎣Ah ja. Isabel: ⎣(Und er wischt den) ab. {Isabel hebt ihre Hände über den Kopf und verschränkt sie am Hinterkopf. Sie schaut weiterhin das Kaninchen auf ihrem Bauch an.} Frau Woellmer: Jetzt brauch ich nich’ mehr sagen; ne? {Frau Woellmer lächelt.} der Psychologe fand das total klasse. Das Kaninchen läuft zum Ende ihrer Äußerung von Isabels Schoß auf die Couch in Richtung zu Frau Woellmer. Sie greift mit beiden Händen nach dem Kaninchen. Frau Woellmer: Jetzt nehm ich ’se. {Sie legt es auf ihren Oberkörper, hält es von unten fest und streichelt es.} Isabel: Och Me:nsch. {Isabel ändert ihre Sitzposition, dreht sich zu Frau Woellmer und schmiegt sich seitlich an sie.} das arme Kaninchen. das soll auch mal rumlaufen. {Isabel streichelt das Kaninchen auf Frau Woellmers Bauch}

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Frau Woellmer: So naja, weil sons- sonst is’ ja teilweise gar kein Familienleben; ja? Forschender: Mhm, Isabel lehnt sich zurück und gähnt, setzt sich dann wieder auf. Frau Woellmer: Er is’ jetzt in der Pubertät, er zieht sich sowieso sehr viel in sein Zimmer zurück, und das is ja auch okay, Forschender: ⎣Ja; Isabel schmiegt sich wieder an die Seite von Frau Woellmer und streichelt das Kaninchen. Frau Woellmer: Aber irgendwo möchte man auch irgendwie mal ’ne Zeit des GeGemeinsamen haben; ne? Forschender: Ja; Frau Woellmer: Und (.) ich find das wichtig. [F3E1: 00h 56m 16s – 00h 57m 17s]

Abb. 10: In der Couchecke bei Woellmer.

Noch bevor der Forschende seine Frage fertig formuliert hat, greift Frau Woellmer diese auf, indem sie eine Regel erwähnt. Sie stellt damit das thematisierte Geschehen der Eingangsszene in einen weiteren Zusammenhang. Bevor Frau Woellmer die Regel darlegt, kommt sie auf einen Entstehungshintergrund zu sprechen. Den Anlass zur Einführung dieser Regel ordnet sie Andreas zu, weil er »kein Sitzfleisch« habe. Die Regel ist nach Frau Müller auf Verhaltensweisen von Andreas ausgerichtet – und zwar in Absprache mit einem Psychologen, bei dem Andreas wöchentlich Förderleistungen in Anspruch nimmt. Der Hinweis auf den Psychologen, mit dem die Regel besprochen worden sei, gibt ihr eine hohe Legitimation. Diese Regel ist nicht ad hoc und aus dem Bauch heraus in Kraft gesetzt worden, sondern mit einem Experten abgestimmt – einem Professionstyp, dem gemeinhin ein personenbezogenes Problem- und Problemlösungswissen zugesprochen wird. Andreas »will immer ganz schnell weg«, und dieser Sachverhalt wird als ein konkretes Problem benannt, auf dessen Regulierung die noch nicht weiter dargelegte Regel abzielt. Als Konsequenz aus diesem Problem haben sie überlegt, wie

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sie das ändern können, wobei das stellvertretende »wir« angesichts der Asymmetrie im Arrangement bei Tisch vorrangig auf die Erwachsenen bezogen sein wird, jedoch nicht genauer zu bestimmen ist. Die Idee zur Problemlösung rechnet Frau Woellmer hingegen sich allein zu, nämlich die Regel, dass »der Erste der aufsteht [...] den Tisch abräumen und abwischen« muss. Die Geltung der dargestellten Regel ist also nicht auf das problematisierte Verhalten von Andreas beschränkt, auf dessen Regulierung ihre Einführung abzielte. Sie bezieht alle Beteiligten mit ein, die für eine Mahlzeit gemeinsam am Tisch sitzen. Frau Woellmer konzipiert das Abräumen und Abwischen als ein Sanktionsmittel, dem die Tätigkeitszuweisung einer selbstverständlichen Beteiligung am Tischabräumen eher entgegensteht. Sie setzt in ihrer Regelkonzeption Vermeidung voraus. Isabel kommentiert die Regel in ihrer alltäglichen Umsetzung, wobei sie zurückgelehnt die Hände am Hinterkopf verschränkt und Entspanntheit bei diesem Thema zum Ausdruck bringt: Denn Andreas »wischt den ab«. Die Regel ist zwar für alle Beteiligten allgemeingültig formuliert, aber offenbar ist Isabel in einem für sie akzeptablen Maß nicht direkt betroffen, weil die Konsequenzen vorwiegend Andreas treffen, der als ›Verursacher‹ und ›Adressat‹ der Regeleinführung gilt. Obwohl er es offenbar selten durchhält sitzen zu bleiben, sieht Frau Woellmer die Wirksamkeit ihrer Idee in der Regelumsetzung bestätigt, die auch der Psychologe »total klasse« gefunden habe. Unklar bleibt dabei, ob sie sich mit ihrer Äußerung »jetzt brauch ich nich’ mehr sagen, ne?« auf den Kommentar von Isabel bezieht. Der geschilderte Regelgebrauch läuft darauf hinaus, dass Andreas zwar weiterhin jeden Tag vom Tisch aufspringt, aufgrund der Sanktionierung allerdings an den Tisch gebunden ist bis alle fertig sind, weil er abschließend noch den Tisch abräumen und -wischen muss. Die Regelanwendung sorgt in Erwartung seiner fortbestehenden Sprunghaftigkeit dafür, dass er nicht nur bis zum Abschluss der Mahlzeit an den Tisch gebunden bleibt und sich nicht ›vorzeitig‹ zurückziehen kann, sondern auch, dass er sogar erst als Letzter vom Tisch freigestellt ist. Die Regel kalkuliert eine eingeschränkte Wirksamkeit in Hinsicht auf seine Sprunghaftigkeit strategisch mit ein: In Hinblick auf die rituelle Rahmung wird gerade durch die Sanktionierung sichergestellt, dass sich Andreas nicht ›vorzeitig‹ zurückziehen und die Familien(mahl)zeit gemeinsam beendet werden kann. Letztlich ist es weniger eine erfolgreiche Sanktionsdrohung als vielmehr der wiederkehrende Sanktionsvollzug, durch den Andreas am Tisch festgehalten wird. Die Stabilität des Arrangements bleibt daher allerdings von den Sanktionsaussprüchen durch Frau oder Herrn Woellmer abhängig. Nachdem sich Frau Woellmer unter Isabels Protest das Kaninchen gegriffen hat, setzt sie noch zu einer Ergänzung ihrer Erläuterung an, indem sie eine Problematik begründet, die der Regel zugrundeliegt: Sonst sei »ja teilweise gar kein

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Familienleben«. Das »Familienleben« wird von ihr als ein erstrebenswertes, aber auch gefährdetes Gut charakterisiert, das durch die ritualisierte Rahmung während der Mahlzeit abgesichert wird. Ein drohendes bzw. beklagtes Verschwinden des »Familienlebens« stellt sie in den Kontext einer ›natürlichen‹ und daher zu akzeptierenden individualisierenden Entwicklung in der Jugendphase. Da er »jetzt in der Pubertät« sei, ziehe er sich »sowieso sehr viel in sein Zimmer zurück«. Dagegen zählt für Frau Woellmer aber auch ihr Bedürfnis, dass »man« »irgendwo« und »irgendwie« mal eine Zeit des Gemeinsamen haben möchte, dem sie einen hohen Wert zumisst: Sie »finde das wichtig«. Während eine regelmäßige Wiederherstellung von Kopräsenz »irgendwo« und »irgendwie« unwägbar wäre, schaffen die gerahmten und geregelten gemeinsamen Mahlzeiten am Familientisch im Wohnzimmer hinsichtlich dieses ›Wo‹ und ›Wie‹ einen abgesicherten Modus im Familienleben. Die ritualisierte Rahmung der Mahlzeit wird der Flüchtigkeit von Kopräsenz im individualisierten Alltagsleben entgegengesetzt und durch den stabilen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang gemeinsamer Mahlzeiten in einer gewohnten Raumordung in Szene gesetzt. Der Aufgabe den Tisch abzuräumen kommt diesbezüglich die Funktion zu, eine in dieses Arrangement einbrechende Flüchtigkeit zu unterbinden. Im Kontrast zu allen Familienmitgliedern, die zur Mahlzeit auf ihren Platz verpflichtet sind, haben die Kaninchen unter ihren Augen im Wohnzimmer Auslauf, die »auch mal rumlaufen« sollen, wie Isabel proklamiert, und abends aus den Käfigen genommen werden. Die beiden Kaninchen sollen das Wohnzimmer jedoch nicht verlassen, so dass sie im Blick behalten werden. Mehrfach wird auch erzählt, dass die Kaninchen mit Vorliebe Kabel annagen. Durch ihr Herumlaufen während der Mahlzeit und ihre Aufsicht machen die Kaninchen das Aufstehen zusätzlich attraktiv, so dass Andreas zur Mahlzeit bereits nach sechs Minuten das Erste Mal aufgesprungen und von Frau Woellmer daraufhin auf seinen Platz zurück gerufen worden ist. Gemeinsame Mahlzeit, im Wohnzimmer am Esstisch Während Andreas in eine Erzählung vertieft ist, wie eine Computertastatur nicht mehr funktionierte, weil eines der beiden Kaninchen ein Kabel durchgebissen hatte, wendet sich Isabel mit einer leeren und zusammengefalteten Saftpackung in der Hand an Frau Woellmer. Isabel:

Andreas is’ jetzt schon aufgestanden; ne? also kann ich das wegschmeißen, ne? (2)

Frau Woellmer schaut Isabel schweigend an, ebenso Herr Woellmer. Andreas sieht kurz neben sich zu Isabel rüber, dann wieder vor sich auf den Tisch. Andreas:

Nein; ich hab das schon, (immer bisher) gemacht. (2)

238 | F AMILIÄRE R ÄUME Forschender: Isabel:

Ist das so, wer als erster überhaupt aufsteht; egal wegen was? Ja. (.) nein.

Isabel zeigt mit ihrem Zeigefinger zuerst auf Frau Woellmer und dann in einer kreisenden Bewegung zwischen Frau und Herrn Woellmer hin und her. Frau Woellmer: Naja, es gibt Einschränkungen. Forschender: ⎣Mhm, Frau Woellmer: Wenn man aufsteht wegen den Kaninchen? also wir beiden Erwachsenen, dann nicht? Forschender: Mhm? (1) Herr und Frau Woellmer schauen beide in den ›offenen‹ Raum des Wohnzimmers auf einen Ort am Boden außerhalb der aufgezeichneten Bildfläche und wenden sich wieder zum Tisch. Frau Woellmer: {Holt hörbar Luft} und ähm, Herr Woellmer: ⎣Ja oder, ooch zum Beispiel {er zeigt mit der ausgestreckten Hand auf ein schnurloses Telefon, das am vorderen Rand des vorderen Tischsegments liegt} wenn ’n Telefonanruf is; Frau Woellmer: ⎣Ja. Herr Woellmer: ⎣und so das Telefon {er greift beim Sprechen mit der ausgestreckten Hand zum Telefon, sein Gesicht dabei zum Forschenden gewandt} nich’ greifbar ist Frau Woellmer: ⎣oder der Paketbote, der klingelt an der Haustür; beim Mittagessen oder so, Forschender: {nickt} ⎣Ja. Herr Woellmer: ⎣Da kann man ja nu’ die anderen Menschen nicht warten lassen. Forschender: Mhm, ja. Andreas stöhnt kurz auf, dreht sich auf seinem Stuhl zur Seite und steht auf. Andreas:

Entschuldige mal kurz.

Andreas geht hinter Herrn Woellmers Stuhl entlang in den offenen Raum des Wohnzimmers und an der Kamera vorbei. Herr Woellmer folgt Andreas mit seinem Blick, zieht dabei die Stirn kraus und wendet sich zum Forschenden. Frau Woellmer: Das Problem is’ halt, dass Andreas nicht sitzen bleiben kann. Andreas: ⎣Löffelchen. Herr Woellmer: Wat is’ denn mit Löffelchen. [F3E2: 00h 10m 58s – 00h 11m 48s]

Einige Minuten nachdem Andreas während der Mahlzeit das erste Mal aufgestanden ist, weist Isabel darauf hin, dass er zuvor ja bereits aufgestanden sei und sie doch nun ohne Konsequenz aufstehen könne, um etwas wegzuschmeißen. Sie formuliert das als Frage, da sie nicht vorrangig an dem Regelwerk, sondern an der

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Autorität ihrer Eltern orientiert ist. Mit ihrer Äußerung macht sie kenntlich, dass die Erwartung am Tisch sitzen zu bleiben letztendlich an deren Autorität und ihre Reglementierungen gebunden bleibt. Um eine Erwartungssicherheit in Bezug auf Verhaltensweisen zu erhöhen, kann es zwar in eingrenzbaren Situationen sinnvoll sein, eine anleitende Regel explizit zu machen, doch ihre Umsetzung hängt an den sozialen Bedingungen ihrer Wirksamkeit und verweist auf die praktische Regelanwendung zurück (vgl. Schulz-Schaeffer 2004: 111ff.). Indem Isabel eine Wirkungsgrenze dieser Regel bloßlegt – sie ist außer Kraft gesetzt, sobald sie pro Mahlzeit einmal zur Anwendung gekommen ist – macht sie zugleich transparent, dass die Regel untauglich wäre, ein nachfolgendes Aufstehen zu unterbinden.

Abb. 11: Andreas steht auf: »Entschuldige mal kurz«.

Somit wird nochmals deutlich, dass die Regel dezidiert an Andreas adressiert ist, und nur dieser findet sich auch wiederkehrend in der Position des Sanktionierten wieder. Daher moniert er, dass er das Abräumen und Abwischen »schon (immer bisher) gemacht« habe. Isabel kann mit Blick auf die begrenzte Wirksamkeit der Regel taktisch abwarten, bis diese allabendlich außer Kraft gesetzt wird. Sie ist in der Lage, mit dem ›Aufstehverbot‹ zu spielen, da ihr das Sitzen vergleichsweise weniger schwer fällt. Frau und Herr Woellmer nehmen wiederum eine Reihe von Ausnahmen für sich in Anspruch, die durch Sachzwänge und den Status als ›Erwachsene‹ begründet sind. Bei Telefonanrufen oder Paketboten könne »man ja nu’ die anderen Menschen nicht warten lassen«. Auch die Kaninchen bringen Sachzwänge hervor, auf die zu reagieren Herrn und Frau Woellmer vorbehalten ist. Das schnurlose Telefon, das für Herrn Woellmer griffbereit, jedoch außerhalb der Reichweite von Andreas und Isabel am Rand des vorderen Tischsegments liegt, macht den geäußerten Anspruch, trotz einer gemeinsamen Mahlzeit andere bei einem Anruf nicht warten zu lassen, wie auch dessen Exklusivität ersichtlich. Mit dem Vorrecht, aufgrund von Sachzwängen als Einzige aufstehen oder das Telefon nehmen zu ›dürfen‹, unterstreichen Herr und Frau Woellmer den Status-

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unterschied zwischen »Erwachsenen« und »Kindern« als eine Generationendifferenz, die in der Sitzordnung ebenfalls markant zur Geltung kommt. Der 15-jährige Andreas und die 12-jährige Isabel unterlaufen diese Statuszuweisung als Kinder bzw. die damit verbundenen Einschränkungen jedoch auf je eigene Weise. Während Isabel taktisch ihre Spielräume innerhalb der expliziten Vorgaben auslotet und mit deren Grenzen spielt, geht Andreas ›ungesteuert‹ darüber hinweg, indem er einfach ›unachtsam‹ ist. In seiner sprunghaften Aufmerksamkeit zeigt er sich ›unkorrigierbar‹ – trotz eines Konditionierungsmoments innerhalb der Regel, die der Psychologe »klasse« gefunden habe. Obwohl Frau Woellmer gerade zuvor davon gesprochen hat, dass eine Ausnahme mit Blick auf die Kaninchen nur den »beiden Erwachsenen« vorbehalten sei, steht Andreas mit einem ernsthaft geäußerten »Entschuldige mal kurz« auf und ruft eines der Kaninchen, womit er die gerade benannte Statusdifferenz zwischen »Erwachsenen« und »Kindern« übergeht. Mit seiner ›erwachsen‹ klingenden Äußerung und seinem Tun weist er implizit den zugeordneten Kindheitsstatus und die damit verknüpfte Beschränkung zurück (wobei keine reflexive Absicht unterstellt werden muss). So wie Isabel macht Andreas damit die Wirkungsgrenze der Sanktionsregel kenntlich, da die Sanktion an diesem Abend bereits ›aufgebraucht‹ ist. Insbesondere Frau Woellmer, die sich vorwiegend um ein gemeinsames Zusammensein bei Tisch bemüht, wird dadurch auf das Problem der Autorität zurückgeworfen, die auf Anerkennung durch eine ›Verinnerlichung‹ angewiesen ist.48 Stabilisierungen des Arrangements Die Statik des Arrangements zum gemeinsamen Abendessen gründet sich auf die räumlich organisierte Materialität des eingerichteten Wohnzimmers, in der durch die Platzierungen bei Tisch eine Ordnung des Zusammenlebens primär in Hinblick auf einen Generationenunterschied objektiviert wird. Das Arrangement konzentriert eine temporäre und hochgradig geregelte Zusammenkunft auf ein kleines

48 Richard Sennett beschreibt das »klassische« soziologische Autoritätsverständnis mit Max Weber als den Glauben »an die Legitimität, gemessen an der Bereitschaft zu freiwilligem Gehorsam« und verschränkt diese Motivationsgrundlage aus Erwägung oder auch Gewohnheit mit einer psychoanalytischen Lesart des emotionalen Bedürfnisses nach Orientierung und Stabilität, wobei er mit Blick auf Hegel auch auf die soziale Dimension der Asymmetrie z.B. in Abhängigkeitsverhältnissen verweist, so dass sich ein komplexes Bild von Anerkennungsbeziehungen ergibt (Sennett 1990: 28ff.). Fundiert wird ein Autoritätsverhältnis jedoch durch eine erforderliche Wahrnehmung dieses Verhältnisses in der konkreten Situation (vgl. Ricœur 2006: 199).

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Areal an einem Tisch, wobei allen Teilnehmenden routinierte Verhaltensweisen abverlangt werden, die auf lokale Verhaltenserwartungen einzustellen sind. Die räumliche Fixierung am Esstisch während des Mahlzeitverlaufs erfordert dabei eine ›eingefleischte‹ Körperdisziplin, was Frau Woellmer auch als »Sitzfleisch« bezeichnet, das Andreas nicht habe. Der von ihr konstatierte Mangel an inkorporierter Disziplin wird durch verschiedene ›äußere‹ Disziplinierungsweisen einzufangen versucht – über die Statik der räumlichen Organisation dieses Arrangements, mit einem inhärenten Blickregime als Kontrollkonstellation, wie auch durch ein Reglement mit eingeführter Sanktionsdrohung sowie durch verbale Reglementierungen, mit denen unbesehen der Sanktionsandrohung wiederkehrend ebenfalls reaktiv interveniert wird. Das von Frau Woellmer problematisierte fehlende »Sitzfleisch« bei Andreas verschärft sich in der Problembeschreibung noch durch eine ›natürliche‹ Entwicklung, mit der er sich nun mehr zurückziehe als früher. Den von ihr geschilderten Zufluchten zu individuellen Rückzugsräumen setzt sie ihren eignen Anspruch auf eine ›Zeit des Gemeinsamen‹ im familialen Arrangement zur Mahlzeit entgegen. Bei Woellmer ist der Raum in diesem Arrangement für Andreas und Isabel vergleichsweise eng eingefasst. Der physische Bewegungsraum ist durch das Mobiliar vor und hinter ihren Plätzen deutlich verknappt und unter den Blicken der Eltern zudem von zwei Seiten unter Aufsicht. Das Reglement mit der wiederkehrend vollzogenen Sanktion und die weiteren Reglementierungen stellen die Verhaltensweisen zusätzlich unter eine Kontrolle von ›außen‹. Die Blickachsen von Andreas und Isabel weisen dagegen vom Kopfende aus diesem Arrangement hinaus, mit einer Fluchtlinie in die Offenheit des weiteren Wohnzimmers, wo sich die Kaninchen während der Mahlzeit am Abend frei bewegen können. Das Arrangement wird durch Stabilisierungsmaßnahmen flankiert, die zugleich auch eine Ordnung der Generationenverhältnisse festigen. An den Platzierungen und ihren Gebrauchsweisen werden Statusunterschiede ebenso fest gemacht wie durch die Reglementierungen, in denen die zur Ordnung gerufenen ›Kinder‹ auch im übertragenen Wortsinn auf ihren Platz als ›Kinder‹ verwiesen werden. Wird der Lesart weiter gefolgt, dann dienen diese Disziplinierungen nicht nur einer temporären Stabilisierung des Arrangements, sondern auch einer Konservierung der Positionierungen, zu denen Andreas mit seinen 15 Jahren in der vorgegebenen Ausformung Distanz sucht. In seiner Übernahme des kontrollierenden Blicks bei Tisch und einer daran anknüpfenden Interventionen in Hinblick auf das Kaninchen unterläuft er im zuletzt beschriebenen Szenenausschnitt nicht nur die an diesem Tag bereits unwirksam gewordene Sanktionsdrohung, sondern auch eine kategorische Statusunterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern, indem er ostentativ eine Position mit eigener Verantwortlichkeit für sich beansprucht.

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B EI S CHNEIDER /R OCCHI Susanne Schneider und Davide Rocchi, beide Anfang vierzig, er in etwa ein Jahr älter als sie, wohnen mit ihren drei gemeinsamen Kindern, der 9-jährigen Tochter Rebecca, dem 6-jährigen Sohn Lorenzo und der 3-jährigen Tochter Anna, in einer oberen Etage eines Altbaus. Dieses Mietshaus mit mehreren Mietparteien befindet sich an einem ruhigen Straßenring, in dessen Mitte sich ein großer, freier Platz befindet. Es liegt in einem Viertel, das von Altbauten geprägt ist. Kleine ›alteingesessene‹ Geschäfte und Gaststätten vermitteln dem Viertel zusammen mit den vorwiegend grauen und beigen Häuserfassaden und den nur wenig befahrenen Straßen im Kontrast zu den nahe gelegenen Hauptverkehrsstraßen einen Nischencharakter in der Großstadt. Die Eingangstür zum Mietshaus ist unabgeschlossen und am Hauseingang befinden sich im Erhebungszeitraum auch keine Wohnungsklingeln. Herr Rocchi und Frau Schneider sind unverheiratet; ihre drei Kinder tragen den Nachnamen ihres Vaters. Ein Elternteil von Herrn Rocchi stammt aus Italien und auch die Vornamen aller drei Kinder haben einen deutlichen italienischen Anklang. Herr Rocchi wuchs in einer Großstadt in Süd-West-Deutschland auf, hat einen technischen Beruf mit Hochschulabschluss studiert und ist in Berlin ganztägig erwerbstätig. Frau Schneider wuchs in West-Berlin auf und studierte nach einer handwerklich orientierten Ausbildung ebenfalls einen technischen Beruf. Sie arbeitet in einem Berliner Büro mit einer Anstellung in Teilzeit. Ein Jahr, nachdem sich beide während der Nachwendezeit kennengelernt haben, zog Herr Rocchi nach Berlin, wo sie anfangs noch in getrennten Wohnungen lebten. Rebecca und Lorenzo gehen zusammen in die gleiche Grundschule; Anna wird morgens in den Kindergarten gebracht und nachmittags, in der Regel von Frau Schneider, wieder von dort abgeholt. Die gegenwärtige Mietwohnung, die größer als die vorherige ist, haben sie zu fünft erst vor kurzer Zeit bezogen. Frau Schneider trat nach dem Umzug ihre gegenwärtige Anstellung an, nachdem sie zuvor eine Phase erwerbslos gewesen war. Ihrem geäußerten Empfinden nach ist die Wohnung während des Erhebungszeitraums noch nicht vollständig eingerichtet. Für alle drei Kinder war es der erste Umzug und erst allmählich haben sie sich nach Darstellung ihrer Eltern in diese neue Umgebung eingelebt. Die beiden jüngeren Kinder, Lorenzo und Anna, teilen sich hier ein gemeinsames Kinderzimmer. Die ältere Tochter Rebecca hat in der neuen Wohnung ihr eigenes Zimmer. Für die inzwischen 3-jährige Anna sei die Erfahrung dieses Umzugs anfangs noch schwierig einzuordnen gewesen, erzählt Frau Schneider, so dass sie auch schon mal gefragt habe, wann sie denn in die alte Wohnung zurückkehrten. Herr Rocchi und Frau Schneider teilen sich zuhause ein gemeinsames Arbeitszimmer. Wenn es warm ist, verbringen Frau Schneider, Herr

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Rocchi und ihre drei Kinder manche Tage am Wochenende auf einem Gartengrundstück am Stadtrand Berlins, auf dem sie die ältere Gartenlaube entfernen und eine neue Fertigbau-Laube errichten ließen. Die Laube sei mehrfarbig angestrichen, erzählt Rebecca. Innerhalb des Wohnraums werden Hausschuhe getragen, die im Wohnungsflur hinter der Eingangstür gegen die Straßenschuhe getauscht werden. Auch für Gäste stehen Filzpantoffeln parat. Das Wohnzimmer liegt rechts am hinteren Ende des langen Flurs; dort befindet sich links, noch etwas weiter nach hinten versetzt, der Kücheneingang. In der Küche steht ein kleiner Tisch mit Stühlen, an dem wochentags gefrühstückt wird. Vor dem Herd ist eine hölzerne Treppe platziert, damit alle drei Kinder am Herd stehen und das Essen umrühren können. Aufgrund von Erwerbstätigkeiten ›außer Haus‹ wird an Werktagen morgens zusammen gefrühstückt und dann abends wieder zusammen gegessen, vorwiegend warm und zu einer verhältnismäßig ›festen‹ Zeit, nachdem Herr Rocchi und Frau Schneider beide von ihrem Arbeitsplatz zurückgekehrt sind. Rebecca und Lorenzo werden mittags in einem von Eltern organisierten Schülerladen betreut; Anna ist bis zum Nachmittag im Kindergarten. An den Wochenenden wird etwas später gefrühstückt und statt eines Mittagessens gibt es nachmittags oft ein Stück Kuchen oder Kekse, bevor abends gekocht wird – eine Tätigkeit, an der auch die Kinder nach Absprachen teilhaben. Alle videobasierten Erhebungen und auch das Vorgespräch fanden mit allen fünf Familienmitgliedern am Wohnzimmertisch statt: nach dem ersten Erhebungstermin an einem Freitag stets am Wochenende nachmittags in regelmäßigen Abständen von zwei Wochen. Im Wohnzimmer bei Schneider/Rocchi Von der Wohnungstür erstreckt sich ein langer und hell beleuchteter Wohnungsflur, an dessen Seiten links und rechts mehrere Türen zum Badezimmer, dem elterlichen Schlafzimmer, ihrem Arbeitszimmer sowie den beiden Kinderzimmern führen, bis hinten rechts die Wohnzimmertür und noch ein Stückchen dahinter, ganz am Ende links, die Küchentür sind. Das annähernd rechteckige, genau genommen jedoch fünfeckig geschnittene Wohnzimmer wirkt beim Eintreten groß, hell und offen. Schneider/Rocchi wohnen in einem Eckbau an einer ruhigen Straßenkreuzung und im Wohnzimmer befinden sich hohe Altbau-Fenster an zwei Seiten über Eck. Der Fußboden des Wohnzimmers besteht ebenso wie der Boden im Flur aus abgeschliffenen Holzdielen. Die Zimmerwände sind vor dem Umzug etwa ein Jahr zuvor von Handwerkern frisch verputzt und daraufhin nach eigenen Farbvorstellungen angestrichen worden: die innere, etwas ›geknickte‹ Längswand sowie die

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beiden Fensterseiten in weiß mit einer dezenten Farbbeimischung in ›Aubergine‹; die schmale, fensterlose Wandseite nahe der Wohnzimmertür in einem dunklen ›Bordeaux‹. Vor dieser Wand in ›Bordeaux‹ steht ein hölzerner Regelbau, in dem einige kleine Kartons und Kästen aus Holz abgestellt sind, dazu ein Fernseher, eine Stereoanlage sowie in der obersten Ablage rechts eine kleine Flaschenansammlung, die als eine Hausbar zusammengestellt wurde. Neben diesem Regalaufbau, der aus zwei Regalsystemen besteht, sind links und rechts große Lautsprecher auf dem Boden platziert. Mit etwas Abstand vor der Wand und auf dieses Regelsystem ausgerichtet befindet sich ein Couchensemble mit Couch, Sessel und einem flachen Tisch.

Abb. 12: Blick in das Wohnzimmer mit Esstisch.

An der inneren Längswand des Wohnzimmers, zum Wohnungsflur hin, steht ein antiker, dunkler und schmaler Buffetschrank, auf dem verschiedene Verpackungen und andere Dinge abgelegt sind, in der Winterzeit z.B. Teelichter. Hinter dem leichten Knick der inneren Längswand steht in etwa mittig platziert ein massiver rechteckiger Tisch aus hellem Holz, der mit einem Kopfende an die Wand anschließt. Am Tisch stehen in der Regel zwei oder drei helle Holzstühle sowie drei farbige Kinderstühle. Die gesamte Längswand bildet eine große leere Fläche ohne weitere Anbringungen. In der geschlossenen, rechtwinkligen Zimmerecke etwas weiter hinter dem Esstisch befindet sich ein zweiter Buffetschrank in einer helleren Holztönung, mit einem Aufbau für Geschirr. Dieser Schrank steht mit der Rückseite zur schmalen Zimmerwand, in der sich ein Fenster befindet und die gegenüber der Wand in ›Bordeaux‹ gelegen ist. Im anderen rechten Winkel dieser schmalen Zimmerwand, wo beide Fensterseiten aufeinandertreffen, sind mit etwas Abstand zu den Wänden zwei dunkle Korbstühle mit hellen KunststoffFellen und ein kleines Beistelltischchen als Leseecke platziert. Am Wochenende sind zwischenzeitlich auch Gebrauchsgegenstände für die regelmäßig wiederkehrenden Haushaltstätigkeiten im Wohnzimmer aufgestellt,

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dessen Boden weitflächig freien Platz bietet: ein Wäscheständer oder ein Bügelbrett mit Wäschekorb, Wäschestapel, die auf verschiedenen Stühlen zwischengelagert werden, oder auch eine Nähmaschine auf dem Tisch. Frau Schneider berichtet zum vierten Erhebungstermin, dass sie immer noch nicht ganz fertig eingerichtet seien, es stünden auch noch Bücherkartons im Arbeitszimmer und bisher hätten sie noch keine neuen Bücherregale aufgebaut. Eine Perspektivverschiebung Bei Schneider/Rocchi wird jeder der Erhebungstermine an den Wochenenden mit Kaffee, Tee oder Milch und Kuchen oder Keksen begonnen, ein Arrangement am Esstisch im Wohnzimmer, das zeitlich auf den Forschenden abgestimmt wird. Weil die 3-jährige Anna zu Beginn des zweiten Erhebungstermins ihre Hände zum Forschenden hoch streckt und seine Aufmerksamkeit einfordert, hockt sich der Forschende nach dem Aufbau des Stativs mit der Digitalkamera in der Hand neben sie und zeigt ihr das Display, während er das Objektiv zum Esstisch ausrichtet. Anna nimmt ihren Zeigefinger und tippt auf das Displaybild. Gruppeninterview zum Familienalltag, im Wohnzimmer am Esstisch Frau Schneider steht am Esstisch, zählt aus mehreren Verpackungen Kekse auf einen Teller. Anna: Forschender: Anna: Forschender: Anna: Forschender: Anna: Forschender: Anna:

Da ist ein Stuhl und dort ist ein Stuhl. Ja. Da ist ein Stuhl ⎣Ein blauer und ein (.) holzfarbener. Ja; und da ist eine weiße Tüte. Ne’ weiße Tüte; genau. Ja; (.) und da ist Rebeccas Stuhl, und da ist Mamas Stuhl. Noch ein Stuhl; ja. Ja.

Frau Schneider murmelt am Tisch etwas, das unverständlich bleibt. Anna: Forschender:

Aber mh, Lorenzo hat, mh; (.) Lorenzos Stuhl is’ (.) Der is’ gar nicht da.

Frau Schneider wendet sich zu Anna, stützt sich mit Links leicht auf dem Tisch ab und stemmt ihre rechte Hand in die Hüfte. Frau Schneider: Weißt Du Anna, was Du nach’m Frühstück vergessen hast? Anna: Mhm? Frau Schneider zeigt mit stummer Miene auf einen roten Plastikteller mit Messer am Kopfende des Tischs. [F2E2: 00h 02m 36s – 00h 03m 32s]

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Abb. 13: Kameraperspektive auf Augenhöhe von Anna.

Die 3-jährige Anna erläutert, was ihr auf dem Display der Digitalkamera so ins Auge fällt. Was sie dort als Abbildung sieht und mit dem Finger nachvollzieht, hat sie zwar in weniger als zwei Metern Abstand auch dinglich vor sich, als Bestandteile eines Ensembles von Esstisch, Stühlen und kleineren Dingen. Das Bild und das dingliche Ensemble sind aber nicht identisch und Anna nimmt gegenüber der Abbildung auf dem Display eine andere Haltung ein. Das gerahmte, zweidimensionale Bild – und das Vorzeigen der Kamera – regen sie dazu an, aus einer Beobachterposition einzelne Details zu benennen. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit dabei vorrangig auf die Stühle am Tisch. Diese Stühle treten aus ihrer Perspektive ebenso wie der Tisch deutlich markanter ins Blickfeld als aus einer Perspektive von ›weiter oben‹, wo der Forschende die Kamera ansonsten installiert hat.

Abb. 14: Kameraperspektive auf Stativhöhe.

Nachdem Anna die drei Stühle in der linken Bildhälfte aufgezählt hat, reagiert sie auf die verwendeten Adjektive »blau« und »holzfarben« des Forschenden mit einer eigenen Präzisierung der Bildbeschreibung. Sie benennt eine »weiße« Tüte, die im Bildvordergrund ebenfalls optisch auffällig ist. Nach einer bestätigenden Antwort

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variiert sie ihre Eigenschaftszuschreibung, indem sie nun ihr ›Insider-Wissen‹ einbringt. Rechts am Tisch stehen »Rebeccas Stuhl« und »Mamas Stuhl«. Der Forschende geht aber nicht weiter auf dieses ins Spiel gebrachte ›Insider-Wissen‹ ein. Er knüpft an die eigenschaftslose Aufzählung der Stühle zu Beginn an und belässt es dabei: »Noch ein Stuhl; ja«. An den vorhandenen Stühlen am Tisch liest Anna nicht nur persönliche Zuordnungen ab; sie hat beim Durchgehen der einzelnen Stühle am Tisch auch den Überblick für einen Gesamtzusammenhang des Ensembles, so dass ihr eine Unvollständigkeit in dieser Anordnung auffällt. Lorenzos Stuhl fehlt, wie der Forschende aus ihren Worten und der Anzahl der Kinderstühle schließt. Das Identifizieren der einzelnen Kinderstühle ist aufgrund ihrer Unterscheidbarkeit von den Erwachsenenstühlen wie auch untereinander ›kinderleicht‹. Sie haben nicht nur jeweils eine höhenverstellbare Sitzfläche und eine Stellfläche für die Füße, sondern sind anhand ihrer Farben und Farbmusterung auch zuzuordnen. Der monochrom hellblaue Kinderstuhl am Kopfende ist der Stuhl von Anna; der Kinderstuhl mit dunkelblauen Seitenstreben und roten horizontalen Flächen der von Rebecca und der momentan fehlende Kinderstuhl von Lorenzo ist ebenfalls dunkelblau und rot, aber im umgekehrten Farbverhältnis: mit roten Seitenstreben und dunkelblauen horizontalen Flächen. Anna wird das Wiedererkennen ihres Stuhls dadurch vereinfacht, dass sie den einzigen einfarbigen Kinderstuhl hat. Die Erwachsenenstühle sind dagegen nicht persönlich gekennzeichnet, sondern lediglich anhand ihrer Platzierung zuzuordnen. Allerdings befinden sich im Wohnzimmer zwei verschiedene Arten solcher Stühle, die von Herrn Rocchi und Frau Schneider auch unterschiedlich bevorzugt werden: zwei Holzstühle, deren Holz etwas glänzt, mit einer Rückenlehne, die durch Längsstreben stabilisiert wird; sowie zwei sehr helle, mattierte Holzstühle mit einer Sitzfläche aus Korb und Querstreben in der Rückenlehne. Mit der Festlegung auf »Mamas Stuhl« an der rechten Tischseite stützt Anna sich auf die Platzierungen in der regelmäßigen Sitzordnung am Wohnzimmertisch, die zwar gelegentlich geändert werden kann, wie Frau Schneider zu diesem Erhebungstermin im ersten Gruppeninterview erwähnt, aber doch über lange Zeitspannen stabil bleibt. An der linken Tischseite befinden sich hingegen zwei gleiche Stühle, die aufgrund ihrer Platzierungen beide für Herrn Rocchi in Frage kämen, so dass Anna sich diesbezüglich auch nicht festlegt. Der niedrigere Esstisch im Wohnzimmer bei Woellmer käme Annas Körpergröße entgegen, wohingegen sich die Tischplatte bei Schneider/Rocchi gerade so auf ihrer Augenhöhe befindet. Ebenso wie die Tischhöhe deutet die weitere Gestaltung des Arrangements, frischer Blumenstrauß und schmaler, hoher Kerzenständer, entgegen dem Wachstuch mit einem Blumenmuster bei Wollmer, oder auch den Kaninchenkäfigen direkt am Tisch, auf eine unterschiedliche ästhetische Orien-

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tierung hin, die auch mit der Positionierung der Kinder hinsichtlich der Organisation des Wohnzimmers zusammenzuhängen scheint. Das Arrangement im Wohnzimmer bei Schneider/Rocchi ist nach Mittelschichtskriterien an den Erwachsenen orientiert, was auch die offene kleine Hausbar im Wohnzimmer oder die Auskunft Frau Schneiders kenntlich macht, abends nach dem Essen sei dann irgendwann im Wohnzimmer »kinderfreie« Zone. Die spezifischen ›kindgerechten‹ Artefakte, wie z.B. die ›Kinderstühle‹, sind entsprechend Hilfsmittel für den Weg, in diese erwachsene Ordnung hineinzuwachsen. Routinisierte Reglements, individualisierte Handlungsbereiche Frau Schneider, die bisher am Tisch stehend Kekse auf einen Teller abgezählt hat, wendet sich zum Ende des beschriebenen Szenenausschnitts schließlich an Anna und fordert sie auf, noch den eigenen Frühstücksteller mit Messer und Tasse vom Tisch abzuräumen. Einzelne Bestandteile der Frühstücksausstattung sind offenbar nicht nur während der Mahlzeit persönlich zugeordnet, sondern bleiben auch beim anschließenden Tischabräumen in einem individuellen Zuständigkeitsbereich. Denn alle weiteren Frühstücksutensilien sind inzwischen vom Tisch abgeräumt worden – nur Annas Teller, Messer und Tasse nicht. Ein Reglement vergleichsweise ›fester‹ individueller Zuweisungen materieller Güter lässt sich nicht nur mit Blick auf die zugeordneten Frühstücksinstrumente und die individuellen Kinderstühle finden, sondern zeigt sich auf andere Weise auch im Auszählen der Kekse zu Beginn der Szenenbeschreibung. Denn Frau Schneider zählt die Kekse für die ›Kuchenmahlzeiten‹ am Wochenende regelmäßig ab – ebenso wie die einzeln verpackten Schokoladenkugeln, die es zu einem der Erhebungstermine am Nachmittag gibt. In diesem Auszählen ist nicht nur eine Orientierung an einer individualisierenden ›Gleichbehandlung‹ von Relevanz, sondern es kommt auch ein normativer Anspruch zur Geltung, Genussmittel maßvoll zu rationieren. Entsprechend wird der Apfelsaft zum Abendessen im Verhältnis 1:2 mit Wasser gemischt und auch das Fernsehen auf wenige ausgewählte Kindersendungen vornehmlich am Sonntag begrenzt. Unter dieser orientierenden Maßgabe einer reflexiven Rationierung wird Rebecca, Lorenzo und Anna auch Raum zur Selbstregulierung gegeben. So haben alle drei in der Zeit nach Weihnachten z.B. ihr jeweils persönliches Süßigkeitendepot. Hinsichtlich der individuellen Zwischenmahlzeiten, zu denen auch der Süßigkeitenverzehr gerechnet werden kann, schreibt die Ernährungswissenschaftlerin Nicoletta Diasio von kleinen »Laboratorien der Autonomie« (Diasio 2002: 258; zit. nach Kaufmann 2006b: 124). Über Zeiten für einen kleinen Snack könne zwar selbst entschieden werden; sie müssten jedoch in Übereinstimmung und in ge-

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bührender Distanz zu den ›richtigen‹ Mahlzeiten festgelegt werden. Sie brächten das Kind dazu zu lernen, schreibt Jean-Claude Kaufmann, die Nahrung und die soziale Situation so miteinander zu verbinden, dass die eigene Ernährung in Abstimmung zum sozialen Kontext gehandhabt wird. Das individuelle Süßigkeitendepot kann daher als Übungsset wie auch als sicht- und greifbarer, überprüfbarer Beleg für die Fähigkeit verstanden werden, unter orientierenden Maßgaben soziale Regeln selbstreguliert umsetzen zu können. Nach Kaufmann verweist es auf ein Lernen sozialer Kompetenzen in einer Gemeinschaft, die ihre jeweils zugestandenen individuellen Freiräume aushandelt. Es verweist auf ein alltagspraktisches Orientierungsmuster, das der Fähigkeit zu individualisierter Eigenständigkeit und reflexiver Selbstregulierung einen hohen Wert zumisst, deren Herausbildung in der Ausformung der gemeinsamen Alltagspraxis eingefordert wird. In dieser Hinsicht zielt die Zuweisung individualisierter Handlungsbereiche auf eine ›disziplinierte‹ Eigenständigkeit, in der eine Einsicht zur eigenen Verantwortlichkeit für die Reproduktion sozialer Verfahrensweisen und Verhältnismäßigkeiten herausgebildet wird – wobei Frau Schneider und Herr Rocchi mit ihrer Autorität für die ›richtigen‹ Verhältnisse einstehen. Im Kontrast zum individualisierten Abräumen nach Beendigung der Mahlzeit ist das Tischdecken vor ihrem Beginn anders organisiert. Zumindest zum Abendessen, der gemeinsamen Hauptmahlzeit, gehört das vorausgehende Tischdecken in einen kollektivierten Aufgabenbereich der Kinder, wobei sich Anna nicht zwingend mit einbringen muss. Während Frau Schneider und Herr Rocchi in der Küche gemeinsam das Essen zubereiten, wird eine selbstorganisierte Feinabstimmung der Arbeitsverteilung unter den Geschwistern vorausgesetzt und auch angeregt, indem z.B. Herr Rocchi aus der Küche ins Wohnzimmer tritt und alle drei fragt, wie weit sie denn seien und wer für die Getränke zuständig sei. In der Vorbereitungszeit zum Abendessen werden zwei verschiedene Handlungsressorts mit unterschiedlichen Zuständigkeiten über eine Differenz zwischen Eltern und Kindern organisiert, wobei der ›Handlungsbereich‹ von Frau Schneider und Herrn Rocchi auch eine ›Supervision‹ des Zuständigkeitsbereichs der Kinder mit umfasst. Nach den weitgehend individualisierten Tagesverläufen wird sich mit einer kooperativen Arbeitsteilung sozusagen auf die gemeinsame Mahlzeit am Abend eingestimmt, wohingegen das Gemeinsame nach Abschluss der Mahlzeit durch das Reglement individueller Zuständigkeiten für das Geschirr wieder aufgelöst wird. Mit den kooperativen Vorbereitungen wird auf eine gemeinsame ›Familienzeit‹ hingearbeitet, wozu das Arrangement bei Tisch zur räumlichen Darstellung und ein gemeinsamer Anfang als zeitlicher Marker einer Synchronisierung fungieren, so dass Anna entsprechend gerügt wird, als sie mit einer Schokoladenkugel dem Anfang vorzugreifen versucht.

250 | F AMILIÄRE R ÄUME Kuchenmahlzeit vor einem Spiel, im Wohnzimmer am Esstisch Anna nestelt am Tisch sitzend an der Aluminiumverpackung einer Schokoladenkugel. Neben ihr sitzt Rebecca am Esstisch. Rebecca: Anna, was fängst Du schon an? Anna: {murmelnd} °Wir dürfen° Frau Schneider: ⎣Nee, Anna; wir dürfen noch nich’ anfangen. Frau Schneider hantiert hinter dem Tisch am Buffetschrank mit Tellern und ist vom Tisch abgewandt. [F2E3: 00h 20m 38s – 00h 20m 44s]

Besonders Rebecca legt hier Wert auf eine Wahrung der Form zu Beginn und so wünscht sie kurz darauf auch einen guten Appetit, als alle beisammen sitzen, worauf Frau Schneider ebenfalls mit »guten Appetit«, Herr Rocchi mit »genau« antworten – womit vergleichbar zu Woellmer mit Tischgebet und -spruch ein gemeinsamer Anfang gemacht ist. Dieser Anfang wird allerdings nicht immer in gleicher Förmlichkeit begangen. So fragt Herr Rocchi beim vierten Erhebungstermin am Tisch z.B., ob die Kekse schon freigegeben seien, wobei er aber auch schon zugreift und auf diese Weise zwar spielerisch mit der Regel eines gemeinsam zu autorisierenden Anfangs umgeht, seine Orientierung an dieser Regel aber dennoch explizit macht. Auch das Sitzenbleiben bei Tisch ist als verbindlicher Anspruch einerseits geregelt, wird andererseits aber zumindest gegenüber Anna nicht strikt durchzusetzen versucht. Nachdem sich Herr Rocchi z.B. während des Abendessens mit der Anmerkung entfernt hat, dass noch Salz fehle, und sich kurz darauf wieder an den Tisch gesetzt hat, fordert er die gleichfalls aufgestandene Anna in mildem Tonfall auf, sich nun mal hinzusetzen, woraufhin sie erwidert, »noch etwas ganz wichtiges holen« zu müssen – und gleichfalls mit Salz aus der Küche zurückkommt. Reproduktion und Spielraum des Arrangements bei Tisch Der Wohnzimmertisch wird für die gemeinsamen Mahlzeiten vorwiegend an den Wochenenden und am Abend genutzt; in der Küche befindet sich ein kleinerer Esstisch, an dem an den Schul- und Arbeitstagen gefrühstückt wird, weil sich dadurch Wege beim Vorbereiten und Abräumen verkürzen und Zeit gespart werden kann. Für den abendlichen Erhebungstermin zur Mahlzeit wurde der Wohnzimmertisch zusätzlich am vorderen Kopfende ausgezogen – entgegen allen weiteren Terminen, die an den Wochenenden wiederkehrend durch ein Arrangement am Wohnzimmertisch mit Kaffee, Tee oder Milch sowie Keksen oder Kuchen eingeleitet werden.

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Abb. 15: Sitzordnung zum gemeinsamen Spiel.

Am Wohnzimmertisch hat Frau Schneider während des Erhebungszeitraums auf der rechten Tischseite an der Wand ihren Platz, Rebecca sitzt links von ihr an der rechten Tischseite. Herr Rocchi sitzt an der linken Tischseite, diagonal zu Frau Schneider; Lorenzo sitzt links neben ihm an der Wand, und Anna hat ihren Platz in der Regel am Kopfende, neben Herrn Rocchi und Rebecca. Diese Sitzordnung folgt nicht nur, aber auch den Präferenzen der Kinder. So mag Anna z.B. nicht an der Wand sitzen, was sie unmissverständlich deutlich macht, als sie irrtümlich annimmt, sie solle zum Erhebungstermin ausnahmsweise dort platziert werden. Nicht nur zur Mahlzeit, sondern auch zum gemeinsamen Spiel und während der Gruppeninterviews wird dieses Ordnungsschema weitgehend beibehalten und von allen Beteiligten wie selbstverständlich mit reproduziert, sofern Rebecca, Lorenzo und Anna zu den Gesprächen nicht auf dem Schoß von Frau Schneider oder Herrn Rocchi Platz genommen haben. Ebenso wie die Stühle unterscheiden sich zu der warmen Mahlzeit am Abend auch die Teller in Farbe und Form. Die Teller sind gleichfalls in zwei Kategorien als ›Kinder-‹ und ›Erwachsenenteller‹ unterteilbar. Ebenso wie die ›Kinderstühle‹ sind die ›Kinderteller‹ farbig und persönlich zugeordnet – entgegen den dezenten weißen, flachen und größeren ›Erwachsenentellern‹, die sich jeweils gleichen. Die Teller von Rebecca, Lorenzo und Anna haben hingegen einen kleineren Umfang und sind am Rand etwas höher. Rebeccas Teller ist hellrot, Lorenzos Teller hellblau und mit einer Tierabbildung in der Mitte. Annas Teller hat ebenfalls eine Tierabbildung in der Mitte und einen gemusterten Tellerrand (vgl. Abb. 16 und 17). Rebecca und Lorenzo bringen zur abendlichen Mahlzeit Besteck und Teller aus der Küche zum Tisch, stellen alles zusammen mittig auf dem vorderen Tischende ab, und während Lorenzo nach und nach die Teller und das Besteck an den einzelnen Sitzplätzen verteilt, ist Rebecca schon wieder in die Küche gegangen, aus der Frau Schneider und sie zu hören sind. Anna bewegt sich indessen im Wohnzimmer hin und her und schaut Lorenzo zwischenzeitlich beim Tischdecken zu. Als ich

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mich behilflich zeigen möchte und einen erhöhten Teller mit Tierabbildung und gemustertem Rand vorne an die rechte Tischseite vor den momentan einzigen Kinderstuhl am Tisch ziehe, werde ich von Lorenzo korrigiert, der Teller sei dort falsch. Er verschiebt diesen Teller ans Kopfende. Im Kontrast dazu bringt er eine gewisse Offenheit der Platzverteilung zum Ausdruck, als er daraufhin seine eigene Platzierung in die Hand nimmt.

Abb. 16: Lorenzo tauscht den Teller am Wandplatz aus.

Gemeinsame Mahlzeit, im Wohnzimmer am Esstisch Lorenzo steht am Kopfende, schaut über den Tisch und trommelt mit den Fingern seiner rechten Hand auf den Tellerrand eines erhöhten, hellblauen Tellers. Lorenzo: Anna:

Ich frag mich, wo ich set- sitze. (.) °(wo will ich mich hinsetzen.)° ⎣(Durst).

Anna steht neben Lorenzo am Tisch und reckt ihren Körper nach hinten, die Zunge herausgestreckt, während der Forschende sich seitlich zur Kamera aus dem Bildrahmen heraus bewegt. Lorenzo schaut kurz zum Forschenden und verschiebt den hellblauen Teller quer über das ausgezogene Tischende auf die linke Seite. Lorenzo:

Ich sitz mal hier.

Lorenzo hat den Teller noch nicht losgelassen, da hebt er ihn wieder an und stellt ihn an der linken Seite nach hinten an den Platz bei der Wand. Anna: Lorenzo:

(Welchen) ⎣Ich sitz hier. da kann ich immer das (Licht anzünden).

Er nimmt den dort bisher platzierten Erwachsenenteller hoch und stellt diesen dafür auf den vorderen Platz der linken Seite – dorthin, wo er den eigenen Teller schließlich doch nicht [F2E1: 00h 00m 47s – 00h 01m 04s] platziert hat.

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Lorenzo ist damit befasst die abendliche Sitzordnung vorzuarrangieren, wobei er ein vertrautes Schema reproduziert, in dem der Forschende allerdings noch keinen Platz hat. Diese Extra-Platzierung des Besuchs bringt, begleitet von der Besonderheit durch die Aufzeichnungssituation, eine Öffnung mit sich, in der Lorenzo einen Spielraum zur Mitbestimmung hinsichtlich der Sitzordnung sieht. Trotz der üblicherweise geregelten Platzverteilung stellt er sich die Frage, wo er selbst sitzen möchte und trommelt in der Offenheit dieser Frage unschlüssig auf den Tellerrand seines Tellers, der beim Tischdecken, so wie die anderen beiden Kinderteller auch, als persönlicher Platzhalter fungiert. Während Anna sich am Tisch stehend reckt und »Durst« äußert (was sie später noch wiederholen wird, wobei sie aber erst dann Aufmerksamkeit erhält, als Herr Rocchi im Wohnzimmer ist), wählt Lorenzo für sich selbst die Platzierung vorne an der linken Tischseite. Dieser Platz ist üblicherweise derjenige von Herrn Rocchi – zumindest dann, wenn das Tischende nicht ausgezogen ist und an der linken Seite nur zwei Optionen bestehen. Sollte Herr Rocchi jedoch Wert darauf legen links vorne zu sitzen, dann wäre ein Streit über diese Platzierung absehbar. Denn diese Platzierung ist vorteilhaft, um z.B. schnell vom Tisch aufstehen zu können, wenn das Telefon klingelt – was zu Beginn der Mahlzeit dann auch tatsächlich geschieht. Lorenzo lässt seinen Teller an diesem vorderen Platz gar nicht erst los, sondern entscheidet sich für den hinteren Platz an der Wand, dort wo er auch sonst sitzt; er entfernt dafür den ›Erwachsenenteller‹, der dort bereits platziert war, und stellt ihn auf den vorderen Platz. Seine zweite Wahl kommentiert er dabei als vorteilhaft, weil er so »das Licht anzünden« kann, denn am Tischende liegt ein Feuerzeug für die Kerze auf dem Tisch, das die Kinder verwenden dürfen, sofern Frau Schneider oder Herr Rocchi mit am Tisch sitzen. Was den anwesenden Forschenden betrifft, so ist dessen Platzierung weiterhin offen. Die beiden vorplatzierten Erwachsenenteller weisen jedoch darauf hin, dass für ihn bisher tendenziell ein Sitzplatz an der linken Seite vorgesehen ist. Nachdem Lorenzo seinen eigenen Sitzplatz mit Hilfe seines persönlichen Tellers festgelegt hat, versucht er, diese ›übrig‹ gebliebene Offenheit abzuklären. Gemeinsame Mahlzeit, im Wohnzimmer am Esstisch Der Forschende befindet sich hinter dem Kamerastativ und verschiebt dieses in eine etwas andere Perspektive auf den Tisch. Lorenzo räumt ein paar aufgestapelte Sachen von einem Holzstuhl, der in Nähe des dunklen Buffetschranks seitlich an der Wand steht, auf den Fußboden. Da dieser Stapel auseinanderrutscht, schiebt er ihn am Boden wieder zusammen. Lorenzo: Forschender: Rebecca:

Wo willst’n Du sitzen? Das ist mir egal. ⎣Glä::ser; brauchen wir auch.

254 | F AMILIÄRE R ÄUME Forschender: Lorenzo:

⎣Ja? Hier kann man sich die Platzwa:hl; (.) selber aussuchen.

Lorenzo ist aufgestanden und verschiebt den Holzstuhl von der Wand zum Tisch, platziert ihn an der linken Tischseite mittig. Dann rückt er seinen eigenen Teller am Wandplatz nochmals zurecht. Rebecca geht mit schlenkernden Armen in Richtung Wohnzimmertür und verlässt das Zimmer. Am Platz vor seinem eigenen Teller zieht Lorenzo den zweiten Holzstuhl vom Tisch zurück und bewegt ihn bis hinter einen Korbsessel an der Tischecke links vorne. Dann schlägt er mit der Hand auf die Rückenlehne des Holzstuhls in der Mitte. Lorenzo: Forschender: Anna:

Kannst Du hier sitzen? Das ist mir egal. mal gucken. wie es sich, wie es sich ergibt. ⎣Mir tut mein Kopf weh.

Lorenzo schaut kurz über den Tisch und schlägt nochmals mit der Hand auf die Lehne. Lorenzo: Forschender:

Kannst Du hier sitzen? Wie es sich ergibt.

Anna läuft zum Korbsessel links am Kopfende und schlägt mit beiden Händen auf dessen Lehne und schaut dabei zum Forschenden. Anna. Lorenzo:

Nein, hier, hier (.) hier sollst Du sitzen. Der Stuhl kommt dort aber weg; und do:rt sitz ich.

Lorenzo zieht, während er das sagt, den Korbsessel von Anna weg, weist mit dem Kinn zu seinem Teller und schiebt den Korbsessel an den Platz zur Wand, wo er sich selbst platziert hat. Daraufhin zeigt Lorenzo gegenüber Anna auf den Stuhl, den er mittig platziert hatte. Lorenzo: Anna:

Er sitzt dort. ⎣°(Ach so)°

Anna steht vor dem Stuhl, den Lorenzo vom Wandplatz beiseite geschoben hat, und dreht sich nun abrupt weg. Sie geht in Richtung des Forschenden, an den Rand der Bildfläche, kehrt wieder um, geht zurück zum Tisch und schaut Lorenzo zu. Dieser greift den zuvor beiseite gestellten Holzstuhl an der Lehne und schiebt ihn an den vorderen Platz, wo gerade noch der Korbsessel stand. Lorenzo:

Ich wollte eigentlich noch Namensschilder machen. hab ich dann aber nicht mehr geschafft.

Er hebt ein helles Sitzkissen vom Stuhl hoch, dreht es um und legt es mit den Befestigungsbändern zur Stuhllehne wieder auf die Sitzfläche ab. [F2E1: 00h 03m 19s – 00h 04m 05s]

Zum einen tangiert die offene Platzierung Lorenzos Sitznachbarschaft und zweitens kann er die Aufgabe des Tischdeckens ohne eine weitere Klärung der Sitzordnung auch nicht zu Ende bringen. Innerhalb der vorarrangierten Sitzordnung stellt die Platzierung des Forschenden ein noch ungelöstes Problem dar, so dass er

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den Forschenden fragt, wo er sitzen möchte, während er einen ›Erwachsenenstuhl‹ an der Wand für das Arrangement am Tisch frei räumt. Er erhält auf diese Frage allerdings eine indifferente Antwort; der Forschende legt sich auf keinen Platz fest. Lorenzo schiebt indessen den Holzstuhl an den Tisch und macht eine grundsätzliche Offenheit der Sitzordnung explizit, die er bereits bei seiner eigenen Platzwahl in Szene gesetzt hat: »Hier kann man sich die Platzwahl selber aussuchen.« Lorenzo negiert damit zwar einerseits eine feste Sitzordnung und proklamiert ihre Offenheit. Andererseits ist er damit befasst, die abendliche Sitzordnung vorzuarrangieren, wobei er auf ein vertrautes Schema zurückgreift, in dem lediglich der Forschende noch keinen Platz hat. Die beiden Sitzplätze von Frau Schneider und Rebecca an der rechten Tischseite stehen für ihn dabei außer Frage; er interessiert sich ausschließlich dafür, die offenen Plätze an ›seiner‹ Tischseite zu klären. Mit Herrn Rocchi und Lorenzo ist links sozusagen die ›Jungs-Seite‹, und dort sieht er auch den Forschenden. Ebenso wird auch Rebecca, die zwischenzeitlich nicht im Wohnzimmer gewesen ist, den Forschenden etwas später dieser Tischseite zuordnen. Lorenzo beschäftigt sich weiter mit den Vorbereitungen des Arrangements zur Mahlzeit, zieht den Holzstuhl vor seinem eigenen Teller zurück und stellt ihn hinter dem Korbsessel am vorderen Tischende ab. Dann fragt er, auf die Stuhllehne in der Mitte klopfend, ob der Forschende »hier« sitzen könne. Dieser gibt jedoch weiterhin seine Indifferenz kund und verweist auf einen unbestimmten späteren Entscheidungsmoment, in dem sich etwas »ergibt«. Lorenzo spricht er damit die Möglichkeit ab, die Sitzordnung bereits jetzt vollständig, also eigenständig festlegen zu können. Nach einem kurzen Moment wiederholt Lorenzo nochmals seine fragende Aufforderung, womit er sein Interesse an einer Platzierung neben sich in der Mitte unterstreicht – ohne jedoch eine Klärung zu erreichen, weil auch der Forschende sich diesbezüglich wiederholt. An diesem Punkt bringt sich Anna mit Vehemenz ein, die zuvor mit ihrer Bemerkung, der Kopf tue ihr weh, noch keine Aufmerksamkeit gewinnen konnte. Anna hatte zuvor die Idee gehabt, dass der Forschende doch in einem der Korbsessel sitzen könnte, woraufhin Lorenzo zur Erweiterung des Stuhl-Ensembles einen Korbsessel aus der Leseecke an den Tisch geschoben hatte. Anna läuft nun zum Korbsessel am Tisch, klopft mit beiden Händen auf dessen Lehne, verwirft Lorenzos Platzierungsvorschlag und fordert mit Blick zum Forschenden: »Hier sollst du sitzen.« Für den Korbsessel sieht Lorenzo inzwischen allerdings etwas anderes vor und er schafft daraufhin zügig Tatsachen, indem er nicht nur erklärt, dass der Korbsessel nicht mehr zur Verfügung stehe, sondern ihn von dort auch wegzieht und an den eigenen Platz schiebt – nochmals darauf hinweisend, dass dort sein Platz sei.

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Abb. 17: Lorenzo und Anna am Korbsessel.

Dem Forschenden wiederum, der sich bisher noch auf keinen der Sitzplätze festgelegt hat, weist Lorenzo entschieden den Platz in der Mitte zu: »Er sitzt dort«. Anna wendet sich kurzzeitig mit einem »ach so« ab und Lorenzo vollendet währenddessen seinen Stuhltausch, indem er den vom eigenen Platz entfernten Holzstuhl links vorne an den Tisch stellt. Seine Kompetenz hinsichtlich der Vorbereitung des Arrangements unterstreicht er beiläufig, indem er ein Sitzkissen zurechtlegt und auf diese Weise in einem kleinen Detail gewissenhaft Ordnung schafft, wobei er anmerkt, dass er eigentlich noch Namensschilder machen wollte, was er dann aber nicht mehr geschafft habe. Lorenzo changiert spielerisch zwischen der Reproduktion und einer Öffnung der Sitzordnung, so dass er einerseits eine freie Platzwahl proklamiert und andererseits die Idee von Namensschildern hat, mit denen vorbestimmte Platzierungen angezeigt werden. Für ihn steht keine Ablösung des Alten im Fokus, sondern ein Gestaltungsanspruch zur Einordnung des Forschenden, und er versucht dabei, den eigenen Spielraum größer wirken zu lassen, als er tatsächlich ist. Die von ihm beanspruchte Gestaltungshoheit verlagert sich auch schlagartig, als Herr Rocchi im weiteren Verlauf mit der Frage in das Wohnzimmer tritt, wie weit sie denn seien. Lorenzo stellt Herrn Rocchi daraufhin ›seine‹ Sitzordnung vor, was Herr Rocchi mit einem vagen »Mhm« quittiert, worauf er ankündigt, jetzt erst einmal Annas Stuhl zu holen, der sich ebenso wenig wie Lorenzos Kinderstuhl im Wohnzimmer befindet. Es schließt sich eine Auseinandersetzung um den Korbstuhl an, der dann doch noch Lorenzos Kinderstuhl weichen muss. Frau Schneider und Herr Rocchi bleiben bei der Vorbereitung der abendlichen Tischordnung einschließlich der Einordnung des Forschenden vorerst im Hintergrund und lassen ihre Kinder erst einmal machen, während sie in der Küche mit der Zubereitung der Mahlzeit beschäftigt sind. Die Aufgabenverteilung und Ausübung wird durch alltägliche Routinen getragen, wobei nicht allein eine Alltagskenntnis der ›gewohnten‹ Ordnung bei Tisch vorausgesetzt ist, die bereits Anna

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in ihrer Bildbeschreibung am Kameradisplay vorweist, sondern auch eine Kompetenz zu ihrer eigenständigen Reproduktion. Das Vertrauen in diese Routiniertheit wird mit einer Kontrolle aus dem Hintergrund durch Delegation und bedarfsweise Korrekturen ergänzt. Die Sitzplätze sind nach individuellen Vorlieben und pragmatischen Orientierungen auch entlang einer ›Geschlechterteilung‹ organisiert. Hinsichtlich einer Generationenordnung wird anstelle hierarchisch organisierter Platzkategorien mit den beweglichen, teils dauerhaft zugeordneten Stühlen und Tellern einer Differenz zwischen Erwachsenen und Kindern Ausdruck gegeben, wobei die ›kindgerechten‹ Artefakte ein standardisiertes Wissen über Kindheit verkörpern. Auf dieser Ebene wird eine Statusdifferenz sozusagen an den ›harten Fakten‹ einer unterschiedlichen körperlichen Verfasstheit als biologischer Entwicklungsstand fest gemacht und anhand der Artefakte als eine ›offensichtliche‹ Differenz evident gemacht. Prädisponierte Handlungsräume des Eigenen Bei Woellmer sind Statusunterschiede und Kontrolloptionen in die räumliche Organisation des Arrangements implementiert; hierarchisierte Platzkategorien konstituieren Beschränkungen und Privilegien auf eine statische Weise. Diese Statik ›fester‹ Ebenen, als ›Verräumlichung‹ einer Generationendifferenz, soll das Arrangement nicht nur hinsichtlich einer wiederkehrend umkämpften Platzwahl, sondern auch im Zeitverlauf mit unterschiedlichen individuellen Entwicklungen stabilisieren. Auch bei Schneider/Rocchi ist die Organisation des Arrangements auf ›bio-soziale‹ Differenzen bezogen, die jedoch weniger an den Platzierungen innerhalb der räumlichen Ordnung als an beweglichen Utensilien fest gemacht werden. Die Platzierungen bleiben auch bei Schneider/Rocchi über längere Phasen stabil, werden bei Bedarf gelegentlich aber auch geändert, wie Frau Schneider berichtet – wobei die Platzierungen ebenso wie bei Woellmer mit Blick auf die Beziehungsdynamiken zwischen den Geschwistern ausbalanciert werden. Während mit dem ›fest installierten‹ Tisch im Wohnzimmer ein Schema von Sitzplätzen verbunden ist, das sich auf kulturhistorische Wahrnehmungsroutinen des Spacing gründet,49 werden Stühle und Teller als bewegliche Platzhalter verwendet, mit denen das Arrangement wiederkehrend reorganisiert wird. Die Stühle und Teller akzentuieren jeweils eigene kleine Handlungsbereiche während der Mahlzeit, in die ›von klein auf‹ hinein gewachsen wird; sie verweisen auf Kompetenzsphären des Eigenen, in denen Eigenständigkeit als eine disziplinierte Teilhabe erprobt wird.

49 Vgl. dazu die raumsoziologische Ausführung im Abschnitt ›Der Wohnbereich als räumliche Synthese‹ zu Beginn des Kapitels ›Ausformungen des Familienlebens‹.

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Bei Schneider/Rocchi deutet die ästhetische Konzeption des Wohnzimmers auf eine eingerichtete Ordnung hin, die am ›Erwachsenengeschmack‹ innerhalb der Mittelschicht ausgerichtet ist, in die sich Rebecca, Loranzo und Anna einzupassen haben, wobei Artefakte als Hilfsmittel verwendet werden, die zugleich auch eine Generationendifferenz markieren. Die räumliche Ordnung der Sitzplätze zeigt hingegen kaum eine hierarchische Orientierung auf. Ebenso wie die Delegation bzw. Aufteilung von kleineren Haushaltsaufgaben, z.B. dem Tischdecken als kollektive Vorbereitung der Mahlzeit, kommt in der Ordnung des Arrangements eine Orientierung auf eine ›proto-egalitäre‹ Teilhabe zur Geltung, die auf eingeübte Eigenständigkeit zielt, mit denen die Ordnungsvorstellungen durch Routinen sowohl in der Situation als auch habituell reproduziert werden (vgl. Zeiher 2000; Goodnow 1988: 18; White/Brinkerhoff 1981). Lorenzo, Rebecca und Anna wird auf kontrollierte Weise in eingegrenzten Bereichen der Alltagspraxis ›Raum‹ zur Teilhabe gegeben, der ebenso wie bei Woellmer durch Interventionen reguliert ist – wofür während der Mahlzeit in diesem Fall eine diagonale Sitzverteilung hilfreich ist. Die Einrichtung des Arrangements zielt über die Einübung von Routinen auf eine Aushandlung ›eigener‹ Handlungsräume, die eng mit einer Ordnung des Familienlebens abgestimmt und entsprechend prädisponiert sind. Diese Ordnung wiederum ist sehr deutlich an den Vorstellungen von Frau Schneider und Herrn Rocchi ausgerichtet und kann auf eine offenbar erfolgreiche habituelle Inkorporierung bauen.

O BJEKTIVIERUNG UND I NKORPORIERUNG EINER O RDNUNG DES F AMILIENLEBENS Im Zuge einer fortgeschrittenen Individualisierung im vergangenen Jahrhundert lässt sich eine historische Tendenz zur ›Informalisierung‹ der Familienmahlzeit diagnostizieren, nachdem diese von der Frühen Neuzeit an bis ins 19. Jahrhundert mit zunehmender Verbindlichkeit formalisiert worden war, wie Norbert Elias anhand einer Disziplinierungs- und Sensibilisierungsgeschichte zu den Tischsitten insbesondere der Hofgesellschaft nachgezeichnet hat (vgl. Elias 1995: 133ff.). Dieser Prozess einer relativen ›Informalisierung‹ umfasst nicht nur eine Vervielfältigung der Ernährungsweisen und entsprechender Orte, sondern auch die darauf bezogenen Verhaltensstandards und Umgangsweisen. Wie Andreas Gestrich anmerkt, durften schichtübergreifend und bis ins 20. Jahrhundert hinein nur die Erwachsenen bei Tisch reden und die vergleichsweise strengen Tischmanieren galten als ein zentraler Bestandteil der Sozialisation (Gestrich 2010: 39). Anstatt eines statusbedingten Redeverbots, als Erwartung gelingender Affektkontrolle und inkorporierter Disziplin, ist der Tisch im 20. Jahrhundert, mit dem historischen

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Wandel normativer Erwartungen und Leitbilder, zu einer kommunikativen Plattform des Familienlebens geworden. Dabei wird sich auch während der Mahlzeit mitunter intensiv unterhalten; individuelle oder Familienangelegenheiten werden besprochen, Erlebnisse berichtet, teils auch gestisch lebhaft geschildert, Verhaltensweisen und persönliche Beziehungen durch Bezugnahmen aufeinander thematisiert und reguliert, wobei die Kinder und ihre Alltagserlebnisse tendenziell mehr in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind (vgl. Gillis 2005). Trotz der Unterschiede von Umgangsformen im fallspezifischen Zusammenleben ist der persönliche Umgang verstärkt zu einem konstitutiven Moment der Stabilisierung einer exklusiven Rahmung im Zusammenleben geworden. Vor dem Hintergrund einer allmählichen ›Aufwertung‹ der persönlichen Beziehungen und einer tendenziellen »Erwärmung des emotionalen Binnenklimas« im modernen Familienleben (Shorter 1976) ist in Hinblick auf die Umgangsformen eine Entwicklungstendenz »vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt« thematisiert worden (Swaan 1982, 1991; Büchner 1989; Reuband 1997). Mit den gewandelten Erziehungswerten sind besonders seit den 1970er Jahren verstärkt »Selbstentfaltungswerte« wie Unabhängigkeit oder ein »freier Wille« hervorgetreten, umreißt der Familienpsychologe Klaus Schneewind diesen Wandel, wohingegen sogenannte »Pflicht- und Akzeptanzwerte, wie z.B. Gehorsam oder Unterordnung, allgemein spürbar an Bedeutung eingebüßt« hätten (Schneewind 2000: 190). Aus der verstärkten Berücksichtigung emotionaler Bedürfnisse und Willensbekundungen resultiert für das Familienleben ein intensiviertes, immer wieder auszutarierendes Spannungsverhältnis zwischen wechselseitigen Erwartungen und dem Eigensinn jedes Einzelnen – nicht allein in den Generationenbeziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern, aber gerade auch dort. Eine solche »Enthierarchisierung des Eltern-Kind-Verhältnisses« (Walper 2004: 221) bedeutet allerdings keine Auflösung von Disziplinierung und sozialer Asymmetrien, da komplexe und dichte, aber auch zunehmend situationsflexible Verhaltensstandards zu inkorporieren sind. In den Falldarstellungen zeigt sich im Vergleich, trotz vieler Ähnlichkeiten des kulturhistorisch standardisierten Arrangements, eine unterschiedliche Konstitution der Zusammenkünfte, nicht allein hinsichtlich der jeweiligen Logiken, die sich in der räumlichen Ordnung und ihrer ästhetischen Gestaltung niederschlagen, sondern auch in Hinblick auf die Subjektverhältnisse, die darin ausagiert werden. Sowohl bei Woellmer wie bei Schneider/Rocchi wird jeweils auf gemeinsame Mahlzeiten mit deutlich konturierten zeitlichen Rahmungen Wert gelegt. Die Mahlzeit wird begonnen, indem ein gemeinsamer Anfang gemacht wird, und sie endet in der Regel, wenn alle Teilnehmenden ›ihre‹ Mahlzeit beendet haben. Die Abläufe bei Tisch erfordern ein inkorporiertes Wissen und hochgradig disziplinierte Verhaltensweisen, auf deren Grundlage alle Teilnehmenden an der gemeinsamen Mahl-

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zeit mitwirken sollen, ohne einen ordnungsgemäßen Ablauf zu ›stören‹. Was jeweils als ›Störung‹ aufgefasst wird, ist durch familienspezifische Ordnungsvorstellungen und die Reaktionsweisen bestimmt. Eine unterschiedliche Konstituierung der Räumlichkeit des Arrangements ist im Fallvergleich mit einer unterschiedlichen Zeitlichkeit hinsichtlich der Subjektverhältnisse verbunden, innerhalb der eine Ordnung des gemeinsamen Familienlebens unter besonderer Berücksichtigung der Generationendifferenz abgesichert wird. Diese spezifische Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Arrangements ergeben sich aus unterschiedlichen ›Absicherungsstrategien‹.50 Bei Schneider/Rocchi wird Rebecca, Lorenzo und Anna vergleichsweise viel Raum zur Selbststeuerung gegeben, weil ein ordnungsgemäßes ›Gelingen‹ der regelmäßigen Arrangements aufgrund prädisponierter Verhaltensweisen vorausgesetzt wird, die in einer gemeinsamen Praxisgeschichte ausgebildet worden sind. In der unterstellten Ausgangslage tragen sich die Vorbereitungen und das Arrangement tendenziell ›von selbst‹, weil die Beteiligten weitgehend ›für sich‹ präsent haben, was jeweils zu tun ist. Zuweisungen von Bereichen des Eigenen, wie die persönlich zugeordneten Dinge und Pflichten, die ›miniaturhafte‹ Autonomieräume eröffnen, sowie die Einbindungen in alltagspraktische Prozesse wie das Kochen, weisen die Richtung einer Einübung von disziplinierter wie kompetenter Eigenständigkeit. Die zeitliche und räumliche Organisation des gemeinsamen Alltagslebens ist auf dieses praktische Orientierungsmuster der Eigenständigkeit abgestimmt, wobei diese familienspezifische ›Mentalität‹ von den eingerichteten Materialitäten sozusagen mit abgestützt wird. So befindet sich in der Küche z.B. auch ein Holztreppchen, das vor den Herd gestellt werden kann, damit alle Kinder am Kochen partizipieren. Das weitgehend eigenständige Reproduzieren inkorporierter Ordnungskriterien durch die Kinder entspricht einer in Adressierungen vorentworfenen und in den Materialitäten des Wohnbereichs vorarrangierten Subjektpositionierung, die alltäglich eingeübt wird. Bei Woellmer zeichnet sich im Vergleich dazu eine Strategie ab, nicht hinreichend ausgeübte Selbstregulierungen durch die räumliche Organisation des Arrangements und ergänzende Reglementierungen nicht nur auszugleichen, son-

50 Der Strategiebegriff ist hier nicht primär auf ein intentionales Kalkül bezogen, sondern auf die Begriffsverwendung von Pierre Bourdieu in Hinblick auf einen praktischen Sinn, ein erlerntes ›Gefühl‹ für die Situation. »Die wirksamsten Strategien – vor allem in den durch die Werte der Uneigennützigkeit beherrschten Feldern – sind diejenigen, die als Produkte von Dispositionen, die von den immanenten Erfordernissen des Feldes geformt wurden, sich diesen spontan, ohne ausdrückliche Absicht oder Berechnung, anzupassen tendieren. Demzufolge ist der Akteur nie ganz Subjekt seiner Praxis« (Bourdieu 2001: 178; vgl. 1992: 83). Diese Perspektive auf ein nicht umfassend für einen selbst transparentes Wissen schließt ›Planmäßigkeit‹ allerdings keineswegs aus.

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dern tendenziell auch zu ersetzen. Diese Strategie ist zwar primär auf Andreas ausgerichtet, wird in ihrer Umsetzung jedoch in Entsprechung zu der eingeführten Sanktionsregel formal ›kollektiviert‹. Der als ›überschüssig‹ empfundenen körperlichen Sprunghaftigkeit wird dabei in doppelter Hinsicht mit Statik begegnet – nicht nur hinsichtlich des ›fixen‹ Arrangements, in dem ›die Kinder‹ trotz ihres Jugendalters auf den Kindheitsstatus fixiert werden, sondern auch hinsichtlich des quasi-mechanischen Reglements. Da die geforderte Selbstregulierung als »Sitzfleisch« inkorporiert sein muss, der körperliche Impuls aufzustehen – gemessen am relativ strikten Anspruch – einem disziplinierenden Zugang jedoch wiederkehrend entzogen bleibt, zielt das Arrangement darauf, diese Unzugänglichkeit und Unzulänglichkeit durch ›äußere‹ Regulierungen ›in den Griff‹ zu bekommen – wobei Handlungsspielräume eingeschränkt werden. Der Anspruch auf eine »Zeit des Gemeinsamen« und einer Stabilisierung des Arrangements geht zum einen mit Raumbeschränkungen einher, durch die eine Attraktivität aufzustehen allerdings nicht verringert wird – zumal die sich ›frei‹ bewegenden Kaninchen Bewegungsanreize hervorbringen. Auch in zeitlicher Hinsicht wird ›von vorne und von hinten‹, mit einer vorarrangierten Fixierung und nachträglichen Sanktionierungen, die wiederkehrend aus dem Arrangement ›ausbrechende‹ Körperlichkeit unter Kontrolle zu bringen versucht. Da sich die sprunghaft verfasste Körperlichkeit von Andreas einem Disziplinierungsanspruch aber wiederkehrend entzieht, stellt sich in den Rekonstruktionen der Eindruck ein, dass der Lösungsansatz nachträglicher Sanktionen zusammen mit der Statik des Arrangements einen zwiespältigen Status Quo wechselseitiger ›Ohnmacht‹ verfestigt. In den rekonstruierten Szenen werden besonders über die Generationendifferenz vermittelt Subjektverhältnisse in einer ›gewohnten‹ Ordnung des Familienlebens ausagiert und austariert, wobei Individuation und Ansprüche auf Momente der Kollektivität im Familienleben nicht als Gegensatz aufzufassen sind. Bei Schneider/Rocchi wird deutlich, dass eine fortlaufende Einpassung in die alltagspraktisch und materiell objektivierte Ordnung sich primär durch einen individuellen Eigensinn vollzieht, der nicht als eine vorgängige, quasi-natürliche Instanz anzusehen ist, sondern als praktisch eingeübtes Selbstverhältnis, das sich im miteinander Wohnen entwickelt. An den Szenenrekonstruktionen bei Woellmer zeigt sich andererseits, wie die körperliche Verfasstheit in diesem Sozialisationsprozess auch eine Widerständigkeit und Grenzen der Einpassung und der Verfügbarkeit produziert.

5 Situiertes Zusammenleben als Familie

Wenn in sozialwissenschaftlichen Arbeiten vom ›Ort der Familie‹ die Rede ist, dann wird zumeist ein sozialräumlich verortetes Beziehungsnetzwerk adressiert, in Hinblick auf die Familieninteraktion und zugrundeliegende habituelle Orientierungen, ohne dass die Ortsbezogenheit des Familienlebens in einem engeren Sinn fokussiert wird. Mit der Abwendung von der sogenannten ›Haushaltsbrille‹, durch die der Familienbegriff unhinterfragt auf Haushaltsgemeinschaften bezogen wurde, ist dabei seit den 1980er Jahren aus interaktionstheoretischer Perspektive verstärkt auch nach den technikbasierten ›Fernverbindungen‹ gefragt worden, die im Zuge der technologischen Entwicklungen kaum mehr zu übersehen waren. Durch die intensivierte, telekommunikativ abgestützte Virtualität der sozialen Beziehungen wurden die Netzwerkeinbindungen metaphorisch auch selbst als ›Orte‹ angesehen. Hinsichtlich der neuen technologischen Möglichkeiten ging damit vor allem jenseits der Familienforschung zeitweise die Tendenz einher, eine biographische und soziale Bedeutsamkeit der lokalen Situierung nicht nur zu übergehen, sondern geradezu für obsolet zu erklären. Mit dem Konzept des ›gewohnten‹ Zusammenlebens wurde in der vorliegenden Untersuchung die Ortsbezogenheit und Situiertheit des Zusammenlebens als Familie fokussiert. Damit rückt das Zusammenleben als eine Realisierungsweise von Sozialität und gemeinsamer Sozialisation in den Blick, in der die Subjektverhältnisse des Familienlebens auf konkrete Raumverhältnisse bezogen sind, die als verbindende Orte wie auch als multilokale Ortsverbindungen ausgestaltet werden. Aus einer praxistheoretischen Perspektive auf die Lokalisierung und Verräumlichung des Zusammenlebens zeigen die Fallrekonstruktionen, wie Kontinuität im Zusammenleben abgesichert wird, indem sich die Akteure in einem ›gewohnten‹ Zusammenhang von Subjektverhältnissen, verbindender Alltagspraxis und materieller Umgebung einrichten und aufeinander einstellen, ohne dass die individuellen Dispositionen intentional durchformbar wären. Dieser Zusammenhang wurde als etwas Dynamisches beschrieben, das zwar auch durch Objektivationen konsti-

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tutiv stabilisiert, aber nur performativ ›mit Leben gefüllt‹ wird. Ein Erfahrungsraum des ›Familiären‹ resultiert in dieser Perspektive aus einer Alltagspraxis, die nicht nur von spezifischen, nicht austauschbaren Subjekten getragen wird, sondern auch fallspezifisch situiert und auf die konkrete Materialität einer ›gewohnten‹ Umgebung bezogen ist, was in interaktionstheoretischen Ansätzen der Familienforschung tendenziell ausgeklammert bleibt. Eine Situierung des ›gewohnten‹ Zusammenlebens als Familie ist in der vorliegenden Untersuchung aus zwei unterschiedlichen ›Distanzen‹ in den Blick genommen worden. Zum einen hinsichtlich der familialen Alltagsorganisation, die über individuelle Abwesenheiten hinweg am Rahmen des Zusammenlebens orientiert und auf eine alltagspraktische Ordnung von Räumen wie auch Zeiträumen des Familienlebens eingestellt ist; zum anderen hinsichtlich der materiellen ›Einbettung‹ des Zusammenlebens und darauf eingestellter Verhaltensmodellierungen und Positionierungsweisen. In beiden Blickweisen standen die Perspektiven der Teilnehmenden mit ihren unterschiedlichen Positionierungen im Vordergrund, so dass Differenzen und Reibungslinien nachgezeichnet werden konnten: im ersten Teil insbesondere hinsichtlich einer ›Ressortverteilung‹ und entsprechender Raumund Zeitverhältnisse entlang einer Geschlechterdifferenz in der Elterngeneration sowie divergierender Erfahrungsräume und Vorstellungen zwischen den familialen Generationen; im zweiten Teil vor allem hinsichtlich einer räumlich manifestierten Verhaltensordnung, in der sich Kontrollansprüche und Spielräume zur Mit- und Selbstbestimmung besonders hinsichtlich des Generationenverhältnisses niederschlagen. Aus den Rekonstruktionen geht hervor, dass die gemeinsamen Ortsbezüge im Rahmen des Zusammenlebens durch ein ›Raummanagement‹ bedingt sind, mit dem die individuellen Einbindungen in unterschiedliche ›Tätigkeitssphären‹ wie auch divergierende Interessenlagen ausagiert werden. Dieses ›Raummanagement‹ kann auf eine lokale Sphärendifferenzierung, wie bei Müller/Franke, oder auch auf Verbindungen über vergleichsweise große geographische Distanzen, wie etwa bei Bauer/Lange, bezogen sein. Dabei unterscheiden sich die räumlichen Muster, die Rhythmen und die Strategien zur Hervorbringung gemeinsamer Arrangements von Kopräsenz. Diese kann mehr oder weniger regelmäßig und räumlich konzentriert organisiert, hinsichtlich ihrer verhältnismäßigen Regelmäßigkeit mehr oder weniger ›dicht‹ und für die jeweiligen Familienmitglieder unterschiedlich verbindlich sein. Die zugrundeliegenden verbindenden Lokalisierungen müssen auch nicht auf einen einzigen Ort zentriert, sondern können auf der Grundlage aufeinander abgestimmter Mobilitätsmuster ebenso multilokal organisiert sein. Herr Lange pendelt wöchentlich zwischen Familien- und Erwerbssphäre, wobei er montags bis

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freitags am Arbeitsort bleibt. Entgegen einer einseitigen räumlichen Separierung wird dieses Pendeln im Kreis der Familie zu einem verbindenden Mobilitätsmuster gemacht, indem die gemeinsamen Wochenenden an einem separaten Ort außerhalb Berlins verbracht werden. Die Lebensführung aller Beteiligten ist auf diese routinierte Zeit- und Raumordnung im wöchentlichen Pendelrhythmus eingestellt, wobei die Beteiligten im Kontrast zu den Wochenenden einem vergleichsweise stark individualisierten Alltag im weiteren Wochenverlauf nachgehen. Das gemeinsame Familienleben wird mit der räumlichen Separierung und einer geradezu rituellen Übergangspassage der regelmäßigen Wege an den Wochenenden auch ohne kontinuierliches Zusammensein als von der restlichen Wochenzeit abgesetzt inszeniert und intensiviert. Das Zusammenleben als Familie ist einerseits auf ›feste‹ Orte bezogen, wobei sich diese Ortsbezogenheit in einem Spannungsverhältnis zu den Mobilitätsanforderungen des Alltagslebens befindet. Doch stehen sich Lokalität und Mobilität nicht diametral entgegen, sondern bedingen sich einander vielmehr wechselseitig. Insbesondere unter den Rahmenbedingungen einer ausdifferenzierten Gesellschaft ist Mobilität ebenso trennend wie auch verbindend, und die ›familiären‹ Räume des Familienlebens, einschließlich der Transiträume regelmäßiger Wege, werden unter den jeweils ausgedeuteten Rahmenbedingungen, Bedürfnissen und Möglichkeiten durch entsprechende Mobilitätsmuster mit reproduziert. Das Zusammenleben als Familie wurde in der vorliegenden Untersuchung als ein Spannungsverhältnis von Lokalisierung, Mobilität und Virtualität gefasst. Einerseits bezieht der Rahmen des Zusammenlebens seine Kontinuität aus einem ›subjektivierenden‹ Familiensinn, dem der verbindende Erfahrungsraum einer gemeinsamen Praxisgeschichte zugrundeliegt, und der einen Wandel äußerer Umstände überdauert. Anderseits wird dieser virtuelle Beziehungsrahmen nur durch ein alltagspraktisch situiertes Zusammenleben realisiert und stabilisiert. Als konstitutives Moment in diesem Spannungsverhältnis wurden aufeinander abgestimmte Phasen von Kopräsenz angesehen. Zusammenleben ist in dieser Perspektive kein formal feststellbarer Sachverhalt, sondern bedarf der performativen Realisierung im Sinne wiederkehrender Aktualisierungen. Die persönlichen Beziehungen lassen sich zwar auch in einer ›konnektiven‹ Präsenz durch Telekommunikation ›pflegen‹. Doch machen gemeinsame Ortsbezüge, als objektivierter Möglichkeitsraum von Kopräsenz, und ihre Realisierung in der Alltagspraxis das Unterscheidungskriterium zu anderen persönlichen Beziehungen aus. Ein entsprechender Erfahrungsraum besteht hingegen auch dann weiter fort, wenn das Zusammenleben, in dem dieser Erfahrungsraum generiert wurde, gar nicht mehr gegeben ist. Die Synchronisierungen des Alltagslebens mit verbindenden Ortsbezügen erfordern nicht nur ein zeitlich determiniertes Raummanagement mit familienspezi-

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fischen Strategien der performativen Aktualisierung des Zusammenlebens, sondern aufgrund unterschiedlicher Erfahrungshintergründe, Interessen und Positionierungen auch eine Differenzbearbeitung und Ausbalancierung der jeweiligen Subjektverhältnisse. So hebt z.B. Herr Lange die für ihn untergeordnete Bedeutung der Berliner Eigentumswohnung hervor, wodurch er die persönliche Bedeutsamkeit der gemeinsamen Wochenenden unterstreicht und der eingerichteten gemeinsamen Praxis des Pendelns entsprechend Gewicht gibt. Frau Bauer, Mathis und Sarah betonen mit unterschiedlichen Begründungsmustern dagegen besonders die Relevanz der Berliner Wohnsituation in Abgrenzung von einer früheren Berliner Wohnung. Im Kontrast zu einer zeitlich und räumlich ›aus der Woche‹ herausgehobenen Inszenierung von gemeinsamem Familienleben durch den intensivierten Wochenendbezug und eine Kollektivierung der Pendelerfahrung bei Bauer/Lange zeichnet sich bei Dübner die Trennung in der Paarbeziehung nicht allein in der örtlichen Trennung des Wohnraums ab, sondern auch in einem Raummanagement wechselseitiger Ausschlüsse. So ist Herr Dübner auf ›Besuchszeiten‹ verwiesen, die trotz der vergleichsweise hohen Regelmäßigkeit und Dichte in ihrer Termingebundenheit eine volle Zugehörigkeit negieren. Im Gegenzug macht er für ›seine‹ Zeiten im ehemals gemeinsamen Wohnbereich einen persönlichen Exklusivitätsanspruch geltend. Synchronisiert werden in diesem Grenzfall von Zusammenleben nicht nur Anwesenheiten, sondern auch Präsenz mit Absenz. Die Subjektverhältnisse unterliegen im Zusammenleben aber auch im Kleinen einer permanenten ›Feinjustierung‹, wie auch die Rekonstruktionen bei Müller/ Franke vor Augen führen. Die wechselseitigen Positionierungen werden vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Praxisgeschichte wie auch individuell divergierender Erfahrungsräume in Interaktionen wiederkehrend ausagiert – wobei sich in den biographischen bzw. familiengeschichtlichen Schilderungen habituelle Veränderungen abzeichnen. In den Beobachtungssituationen zeigt sich dagegen eine alltagspraktische Logik des Zusammenlebens in ›gewohnter‹ Form, deren diskreter Wandel sich jenseits des situativ Beobachtbaren in einer disparaten Zeitlichkeit individuell getakteter Entwicklungsprozesse und sich verändernder Rahmenbedingungen vollzieht. Im Zusammenleben werden Zeit-, Raum- und Verhaltensordnungen etabliert, die nicht einfach statisch gegeben sind, sondern fortwährend hervorgebracht werden müssen. Der Begriff der Einpassung verweist auf die Prozesshaftigkeit der Positionierungen und Orientierungen, die in wechselseitigen Abstimmungen veränderbar sind. Die Ausdeutungen von Bedürfnissen, Erfordernissen und Idealvorstellungen gehen dabei auf individueller Wissensgrundlage in die jeweils wahrgenommenen Handlungsspielräume ein und wirken auf die habituellen Einstellungen zurück. In der alltagspraktischen Involvierung kommt dabei mit der Körper-

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lichkeit und einer habituell fundierten Perspektivität ein Eigensinn zur Geltung, der die familienspezifischen Dynamiken von Aushandlungsprozessen und praktischer Realisierung des Zusammenlebens bestimmt. Der Begriff des Eigensinns hebt die Originalität der alltagspraktischen Vollzüge mit einem Gespür für die Regeln des Zusammenlebens hervor. Er verweist aber auch auf eine ›eigenmächtige‹ Körperlichkeit. Die Rekonstruktionen bei Woellmer kehren mit Blick auf Andreas einen Eigensinn hervor, der sich der Kontrolle entzieht – ohne dass von einer intendierten Widerständigkeit auszugehen ist. Andreas bleibt den Kontrollansprüchen vornehmlich durch Streuungen seiner Aufmerksamkeit entzogen – wobei er gleichwohl ein Gespür für die soziale Ordnung zeigt, wenn er sich partiell der Zuweisung eines Kindheitsstatus entzieht. Die Familienmitglieder sind einerseits durch Phasen gemeinsamer Kopräsenz aufeinander eingespielt, andererseits erfordern die Dynamiken im Zusammenleben wiederkehrende Bearbeitungen der Subjektverhältnisse, in denen divergierende Interessen, unterschiedliche Bedürfnisse, Haltungen und Orientierungen aufeinander abzustimmen sind. Mit einer Fokussierung des Arrangements bei Tisch wurden diesbezüglich die ›Feinabstimmungen‹ von Verhaltensweisen in ihrer räumlichen Situierung in den Blick genommen. In Kopräsenz bei Tisch zeigt sich besonders komprimiert, wie das Zusammenleben auf eine ›gewohnte‹ Umgebung bezogen ist und eine alltagspraktische Ordnung des Familienlebens unter Einbeziehung dieser räumlich geordneten Materialität organisiert und stabilisiert wird. Eine objektivierte und inkorporierte Ordnung des Familienlebens schlägt sich nicht nur in der Ausformung gemeinsamer Umgangsweisen, wechselseitiger Verhaltenserwartungen und habitueller Abstimmungen, sondern auch im Umgang mit den Materialitäten und ihrer räumlichen Organisation nieder. In den Rekonstruktionen zeigt sich diesbezüglich eine vorherrschende Orientierung an einer Generationendifferenzierung der Familienmitglieder, die an einem Statusunterschied als Erwachsene und Kinder im doppelten Wortsinn ›fest‹ gemacht wird. Bei Woellmer und Schneider/Rocchi greifen auf jeweils unterschiedliche Weise ein ›Vorarrangieren‹ gemeinsamer Kopräsenz innerhalb der ›gewohnten‹ Umgebung und Kontrollansprüche der Eltern durch Reglements und Reglementierungen ineinander. Arrangement und Reglements wirken im Sinn habitueller Verhaltensmodellierungen, die zwar an normativen Vorstellungen und Erwartungshaltungen orientiert sind, aber auch ganz anders als eigentlich intendiert verlaufen können. Die Familienmitglieder setzen sich bei Tisch regelmäßig zueinander ins Verhältnis und weisen sich bereits in den Platzierungen soziale Positionen im Familienleben zu. Mit Bezug auf die Materialitäten des Wohnbereichs setzen sie eine Ordnung des Familienlebens füreinander in Szene, die in alltäglicher Wiederholung körperlich eingeübt und durch Arrangements wie Reglements zu stabilisieren

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gesucht wird. Aus den Rekonstruktionen wird ersichtlich, dass in Kopräsenz bei Tisch eine gewohnte Dynamik der Umgangsweisen zur Geltung kommt, die nicht allein auf familiale Interaktionsstile begrenzt ist, sondern sozusagen atmosphärisch auch über die ausgestaltete Materialität ihre vertraute Permanenz erhält. In dieser gestalteten Materialität des Wohnbereichs schlagen sich die ›familiären‹ Orientierungen hinsichtlich adäquater Relationen nieder, wie z.B. der körperlichen Nähe, der Verhaltensspielräume, der Offen- oder Kompaktheit des Arrangements, seiner Praktikabilität, eines ästhetischen Stils etc. Ein konjunktiver Erfahrungsraum des Zusammenlebens als Familie wird daher nicht allein durch Kopräsenz, sondern auch im alltagspraktischen Bezug auf die räumlichen Materialitäten generiert, die nicht nur als eine objektivierte Sphäre des Eigenen, sondern in ihrer gestalteten Räumlichkeit auch als ein Gedächtnisträger familiärer Atmosphären fungieren. Das Familienleben wird durch diese Materialitäten abgestützt und auf der Grundlage einer Praxisgeschichte gewissermaßen auch ›vorarrangiert‹. Aus den Falldarstellungen geht hervor, wie den Ausformungen des Familienlebens einerseits Positionierungen und habituelle Orientierungen zugrunde liegen, die einen aufeinander eingestellten Modus der praktischen und emotionalen Alltagsbewältigung bestimmen. Andererseits zeichnet sich in den Rekonstruktionen des Gesprächsmaterials ab, wie Verortungen und habituelle Dispositionen ihrerseits einer Bearbeitung unterliegen, mit der sich in die alltagspraktisch hervorgebrachte Ordnung des Familienlebens nicht zuletzt auch hinsichtlich der wahrgenommenen Erfordernisse und ›Sachzwänge‹ eingepasst wird. Habituelle Entwicklungsprozesse sind dabei durch die jeweiligen individuellen Dispositionen bedingt, die zwar nicht ›frei‹ verfügbar, aber im ›Schliff‹ der Alltagspraxis mehr oder weniger beweglich und veränderbar sind. Diese Einpassung ist als ein fortwährender Prozess der ›Ko-Konstruktion‹ aufzufassen, im Sinn eines alltagspraktischen Hervorbringens, das sowohl reproduktiv wie auch eigensinnig und innovativ ist, wobei Aktivitätsmuster und Erwartungshaltungen mit- und auch gegeneinander auszutarieren und wiederkehrend ›feinzujustieren‹ sind. Die verschiedenen familialen Positionierungen (nach Generation, Geschlecht, Altersabstufungen) sind zwar ebenso wie diskursive Organisationsmuster des Familienlebens gesellschaftlich und biographisch ›präformiert‹, geben allerdings auch kein festes Handlungsrepertoire vor. Das Einpassen in eine verbindende Alltagspraxis ist daher ein tentatives wie eigensinniges ›Sich-Einfinden‹, das zur Routine wird und dabei Wahrnehmungsgewohnheiten folgt wie auch prägt. Diese verfestigen sich zu Tätigkeitsmustern, persönlichen Tätigkeitsprofilen und -ressorts, bzw. auch jenseits der Organisationserfordernisse zu typischen Verhaltensmustern, -erwartungen und -zuschreibungen,

S ITUIERTES Z USAMMENLEBEN

ALS

F AMILIE

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deren Umgestaltung eine ›Beziehungsarbeit‹ durch mitunter konfliktbehaftete Aushandlungen abverlangt. Das ›gewohnte‹ Zusammenleben als Familie wird daher weitgehend ohne ›festes Geländer‹ expliziter Handlungsvorgaben in der Alltagspraxis ausgeformt, und die Beteiligten sind vor ihrem jeweiligen biographischen Hintergrund auf ihr Erfahrungswissen und eine entsprechende ›Handlungskompetenz‹ verwiesen, in die Kinder in einem familiären Modus der Einräumung von Erfahrungsmöglichkeiten hineinwachsen.

Zeichenverwendung der Gesprächs-Transkription



Beginn einer Überlappung bzw. direkter Anschluss beim Sprecherwechsel

(.)

kurzes Absetzen während des Sprechens

(3)

Pause während des Sprechens: Die Zahl zeigt die Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert

ja

stark betont

ja

laut (in Relation zur üblichen Lautstärke des Gesprochenen)

°ja°

sehr leise (in Relation zur üblichen Lautstärke des Gesprochenen)

.

stark sinkende Intonation

;

schwach sinkende Intonation

?

stark steigende Intonation

,

schwach steigende Intonation

viellei-

Abbruch eines Wortes

so’n

Wortverschleifung

hab’

umgangssprachlich verkürzte Wortform

nei::n

Dehnung, die Häufigkeit vom : entspricht der Länge der Dehnung

(aber)

Unsicherheit der Transkription, schwer verständliche Äußerungen

(

)

unverständliche Äußerungen, die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung

{Klatschen} parasprachliche, nicht-verbale oder gesprächexterne Ereignisse in den Passagen der Gesprächs-Transkription ☺ojeh☺

lachend gesprochen

☺(.)☺

kurzes Auflachen

☺(3)☺

drei Sekunden Lachen

Literatur

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Wagner-Willi, Monika (2004): Videointerpretation als mehrdimensionale Mikroanalyse am Beispiel schulischer Alltagsszenen. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung (ZBBS), Jg. 5, Heft 1, S. 49-66. Walper, Sabine (2004): Wandel von Familien als Sozialisationsinstanz. In: Geulen, Dieter/ Veith, Hermann (Hg.): Sozialisationstheorie interdisziplinär. Aktuelle Perspektiven. – Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 217-252. Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. – 5. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr. [1921/1922] Weihrich, Margit/Voß, G. Günter (Hg.) (2002): tag für tag. Alltag als Problem – Lebensführung als Lösung? Neue Beiträge zur Soziologie alltäglicher Lebensführung 2. – München/Mering: Rainer Hampp. Weiske, Christine/Petzold, Knut/Zierold, Diana (2008): Multilokale Haushalte – mobile Gemeinschaften. In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung, Jg. 9, Heft 2, S. 281-300. Weiske, Christine/Petzold, Knut/Zierold, Diana (2009): Multilokale Haushaltstypen. Bericht aus dem DFG-Projekt ›Neue multilokale Haushaltstypen‹ (2006-2008). In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 1/2: Multilokales Wohnen, S. 67-75. West, Candace/Zimmerman, Don H. (1987): Doing Gender. In: Gender and Society, Jg. 1, Heft 2, S. 125-151. White, Lynn K./Brinkerhoff, David B. (1981): Children’s Work in the Family: Its Significance and Meaning. In: Journal of Marriage and the Family, Jg. 43, Heft 4, S. 789798. Wirth, Uwe (Hg.) (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. – Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wulf, Christoph (2004): Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. – Reinbek: Rowohlt. Wulf, Christoph/Göhlich, Michael/Zirfas, Jörg (2001): Sprache, Macht und Handeln – Aspekte des Performativen. In: Wulf, Christoph/Göhlich, Michael/Zirfas, Jörg (Hg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. – Weinheim/München: Juventa, S. 9-24. Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (2004): Performative Welten. Einführung in die historischen, systematischen und methodischen Dimensionen des Rituals. In: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole. – München: Wilhelm Fink, S. 7-46. Wulf u.a. 2001 = Wulf, Christoph/Althans, Birgit/Audehm, Kathrin/Bausch, Constanze/ Göhlich, Michael/Sting, Stephen/Tervooren, Anja/Wagner-Willi, Monika/Zirfas, Jörg (2001): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. – Opladen: Leske + Budrich. Wulf u.a. 2011 = Wulf, Christoph/Althans, Birgit/Audehm, Kathrin/Blaschke, Gerald/ Ferrin, Nino/Kellermann, Ingrid/Mattig, Ruprecht/Schinkel, Sebastian (2011): Die Geste in Erziehung, Bildung und Sozialisation. Ethnographische Feldstudien. – Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

304 | F AMILIÄRE R ÄUME Zeiher, Helga (1994): Kindheitsträume. Zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit. In: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. – Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 353-375. Zeiher, Helga (2000): Hausarbeit. Zur Integration der Kinder in die häusliche Arbeitsteilung. In: Hengst, Heinz/Zeiher, Helga (Hg.): Die Arbeit der Kinder. Kindheitskonzept und Arbeitsteilung zwischen den Generationen. – Weinheim/München: Juventa, S. 45-70. Zeiher, Helga (2002): Gesellschaftliche Generationenordnung und alltägliche Lebensführung von Kindern. In: Weihrich, Margit/Voß, G. Günter (Hg.): tag für tag. Alltag als Problem – Lebensführung als Lösung? Neue Beiträge zur Soziologie alltäglicher Lebensführung 2. – München/Mering: Rainer Hampp, S. 137-150. Zeiher, Helga (2005): Neue Zeiten – neue Kindheiten? Wandel gesellschaftlicher Zeitbedingungen und die Folgen für Kinder. In: Mischau, Anina/Oechsle, Mechthild (Hg.): Arbeitszeit – Familienzeit – Lebenszeit. Verlieren wir die Balance? (Zeitschrift für Familienforschung, Sonderheft 5). – Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 74-91. Zeiher, Hartmut J./Zeiher, Helga (1994): Orte und Zeiten der Kinder. Soziales Leben im Alltag von Großstadtkindern. – Weinheim/München: Juventa. Zerle, Claudia (2007): Wie verbringen Kinder ihre Freizeit? In: Alt, Christian (Hg.): Kinderleben – Start in die Grundschule, Band 3. Ergebnisse aus der zweiten Welle. – Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 243-270. Zerubavel, Eviatar (1981): Hidden Rhythms: Schedules and Calendars in Social Life. – Chicago: The University of Chicago Press. Zingerle, Arnold (1997): Identitätsbildung bei Tische. Theoretische Vorüberlegungen aus kultursoziologischer Sicht. In: Teuteberg, Hans J./Neumann, Gerhard/Wierlacher, Alois (Hg.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven. – Berlin: Akademie Verlag, S. 69-86. Zinnecker, Jürgen (1990): Vom Straßenkind zum verhäuslichten Kind. Kindheitsgeschichte im Prozeß der Zivilisation. In: Behnken, Imbke (Hg.): Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. – Opladen: Leske + Budrich, S. 142-162. Zinnecker, Jürgen (2001): Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule. – Weinheim/ München: Juventa. Zirfas, Jörg (2004): Sozialisation als performativer Prozess. Ethnographische Überlegungen zu rituellen Praktiken in der Familie. In: Wulf, Christoph/Zirfas, Jörg (Hg.): Innovation und Ritual. Jugend, Geschlecht und Schule (Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Beiheft 2). – Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 59-71. Zonabend, Françoise (1996): Über die Familie. Verwandtschaft und Familie aus anthropologischer Sicht. In: Burguière, André/Klapisch-Zuber, Christiane/Segalen, Martine/ Zonabend, Françoise (Hg.): Geschichte der Familie, Band 1: Altertum. – Frankfurt am Main/New York: Campus, S. 17-90. [1986]

Dank

Mein erster Dank gilt allen Forschungsteilnehmenden, die mir nicht nur ihre Zeit, sondern auch ihr Vertrauen geschenkt haben. Zwar werden auch hier die Familien Bauer/Lange, Dübner, Müller/Franke, Schneider/Rocchi und Woellmer nur mit ihren Pseudonymen genannt, doch möchte ich mich bei jeder und jedem Einzelnen an dieser Stelle nochmals sehr herzlich bedanken. Die mir entgegengebrachte Offenheit und Gastfreundschaft basiert auch auf den freundlichen Vermittlungsbemühungen einer Grundschul-Rektorin, zwei stellvertretender Rektorinnen, der beteiligten Klassenlehrer/innen sowie einer wissenschaftlichen Kollegin. Ihnen allen möchte ich anonym danken. Die Dissertation wurde am Arbeitsbereich Anthropologie und Erziehung der Freien Universität Berlin geschrieben, und ich bin Christoph Wulf für die thematische und persönliche Offenheit sowie die stets ermunternde Unterstützung und Förderung dankbar, die er mir in den vergangenen Jahren zukommen ließ. Ebenso danke ich Anja Tervooren als Zweitgutachterin und den weiteren Kommissionsmitgliedern Ralf Bohnsack, Jörg Zirfas und Nino Ferrin. Für ihre Anregungen und Unterstützung danke ich meinen früheren Kolleg/innen Kathrin Audehm, Martin Bittner, Gerald Blaschke, Iris Clemens, Ingrid Kellermann und Juliane Lamprecht sowie den studentischen Mitarbeiter/innen Melanie Hillerkus, Urs Kübler, Kerstin Meißner und Julia Thibaut. Außerdem war der regelmäßige und vielseitige Austausch mit den Kolleg/innen im interdisziplinären Sonderforschungsbereich ›Kulturen des Performativen‹ für mich sehr bereichernd. Für Gespräche und Impulse zu Beginn meiner Arbeit möchte ich zudem Katrin Aue, Andrea Bührmann und allen Beteiligten des Innsbrucker Forschungszusammenhangs ›Konglomerationen‹, insbesondere Birgit Althans und Helga Peskoller, sowie den Herausgeber/innen für die Aufnahme in die gleichnamige Buchreihe danken. Nicht zuletzt bin ich meinen Eltern dankbar, die mich während des Studiums und auch bei dieser Veröffentlichung unterstützt haben. Für das Leben zusammen mit ihr danke ich zum Schluss Daniela, in Liebe.

Konglomerationen – Studien zu Alltagspraktiken subjektiver Absicherung Bernhard Rathmayr Selbstzwang und Selbstverwirklichung Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen 2011, 376 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1698-9

Maria A. Wolf, Bernhard Rathmayr, Helga Peskoller (Hg.) Konglomerationen – Produktion von Sicherheiten im Alltag Theorien und Forschungsskizzen 2009, 222 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1093-2

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