Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement: Praxisfälle zur Wissensvertiefung [1. Aufl.] 978-3-658-25067-6;978-3-658-25068-3

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German Pages IX, 324 [328] Year 2019

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Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement: Praxisfälle zur Wissensvertiefung [1. Aufl.]
 978-3-658-25067-6;978-3-658-25068-3

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung (Thomas Abele)....Pages 1-7
Corporate Foresight (Friederike Müller-Friemauth)....Pages 9-24
Strategische Vorausschau mit Szenarien (Stephan Schüle, Liza Wohlfart, Jonathan Masior)....Pages 25-40
Erfolgreiches Roadmapping: Der Halo-Effekt einer guten Visualisierung (Sven Schimpf, Claus Lang-Koetz)....Pages 41-58
Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning (Fabian Wiser, Carolin Durst, Philipp Maron)....Pages 59-76
Geschäftsmodellentwicklung für den boomenden Markt des E-Sports (Gerhard Hube, Toni Wagner)....Pages 77-96
Businessmodellinnovation im Bereich von Cross-Media- und Digital-Content-Services (Joachim Hafkesbrink, Sarah Samuttis)....Pages 97-129
Customer Centricity für digitale Geschäftsmodelle und Innovationen im Smart-Home-Bereich (Axel Sprenger, Oliver Böpple)....Pages 131-153
Vom analogen Produkt zum Smart Product durch den Einsatz von Digitalisierung und neuen Technologien (Carsten Weber, Silvia Rummel)....Pages 155-176
Vom Auftragsverarbeiter zum Original Equipment Manufacturer (Arnd Schaff)....Pages 177-198
Vom einfachen Sägewerk zum Weltmarktführer in der Bierdeckel-Produktion (Georg Bouché, Christoph J. Kansy)....Pages 199-212
Erschließen neuer Märkte durch frugale Innovationen (Liza Wohlfart, Flavius Sturm, Frank Wagner)....Pages 213-225
Neugeschäftgenerierung mithilfe der Cross-Industry-Innovation-Methode (Inside-Out) (Zeynep Yaman, Thomas Abele)....Pages 227-242
Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation (Michael Schaffner)....Pages 243-261
Vom Produkt- zum Service-Geschäftsmodell (Steffen Weimann, Sebastian Arnold)....Pages 263-285
Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Innovationsprozess (Philipp Wichert)....Pages 287-304
Erfolgsfaktoren im Value Engineering anhand von fluidtechnischen Produkten (Hendrik Rust, Daniel Nowack)....Pages 305-324

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Thomas Abele Hrsg.

Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement Praxisfälle zur Wissensvertiefung

FOM-Edition FOM Hochschule für Oekonomie & Management Reihe herausgegeben von FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Essen, Deutschland

Dieses Werk erscheint in der FOM-Edition, herausgegeben von der FOM Hochschule für Oekonomie & Management.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12753

Thomas Abele (Hrsg.)

Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement Praxisfälle zur Wissensvertiefung

Hrsg. Thomas Abele FOM Hochschule für Oekonomie & Management Stuttgart, Deutschland

ISSN 2625-7114 ISSN 2625-7122  (electronic) FOM-Edition ISBN 978-3-658-25067-6 ISBN 978-3-658-25068-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Erkläre es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde mich erinnern. Lass es mich selber tun, und ich werde es verstehen Konfuzius, chinesischer Philosoph 551–479 v. Chr.

Dieses Fallstudienbuch hat zum Ziel, anhand weitgehend lokaler Beispiele und realer Problematiken ein anschauliches und praxisorientiertes Lehren und Lernen im Bereich des Technologie- & Innovationsmanagements zu ermöglichen. Da die Case Studies in sich jeweils inhaltlich abgeschlossen sind, können diese in beliebiger Reihenfolge je nach Schwerpunkt und Interesse behandelt werden. Damit soll dieses Buch nicht nur Lehrenden eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten im Unterricht bieten, sondern auch Studierenden im Selbststudium den Transfer theoretischer Inhalte auf reale Probleme ermöglichen. Zu diesem Zweck enthält das Buch zu jeder Fallstudie eine Vielzahl an Fragen und Denkanstößen, zu denen wiederum Lösungshinweise im Sinne der Fragestellung „Was sollte diskutiert oder bedacht werden?“ gegeben werden. Somit erhalten Lehrende strukturierte Vorschläge für den Einsatz der Fallstudie und auch Studierende werden bei der selbstständigen Bearbeitung nicht alleine gelassen. Das vorliegende Buch basiert auf einer gemeinsamen Initiative des KTC KompetenzCentrums für Technologie- & Innovationsmanagement der FOM Hochschule (www. fom.de/kct.html). Allen Kolleginnen und Kollegen sowie den weiteren Autorinnen und Autoren sei herzlich für ihre Anstrengungen zur Erstellung dieses Buches gedankt. Gemeinsam mit dem Autorenteam hoffe ich, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit diesem Buch konkrete Hilfestellungen zum Lehren und Lernen im Bereich des Technologie- & Innovationsmanagements erhalten.

V

VI

Vorwort

Ohne die wie immer fantastische Unterstützung von Frau Angela Meffert seitens des Springer Gabler Verlags wäre dieses Buch nur schwer vorstellbar gewesen. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich auch bei der FOM Hochschule für Ökonomie & Management. Hier seien insbesondere Herr Professor Dr. Thomas Heupel und Herr Kai Stumpp genannt. Mutlangen im Frühjahr 2019

Thomas Abele

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Thomas Abele 2

Corporate Foresight. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Friederike Müller-Friemauth

3

Strategische Vorausschau mit Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Stephan Schüle, Liza Wohlfart und Jonathan Masior

4

Erfolgreiches Roadmapping: Der Halo-Effekt einer guten Visualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Sven Schimpf und Claus Lang-Koetz

5

Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning. . . . . . . . . . . . . . 59 Fabian Wiser, Carolin Durst und Philipp Maron

6

Geschäftsmodellentwicklung für den boomenden Markt des E-Sports . . . 77 Gerhard Hube und Toni Wagner

7

Businessmodellinnovation im Bereich von Cross-Media- und Digital-Content-Services. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Joachim Hafkesbrink und Sarah Samuttis

8

Customer Centricity für digitale Geschäftsmodelle und Innovationen im Smart-Home-Bereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Axel Sprenger und Oliver Böpple

9

Vom analogen Produkt zum Smart Product durch den Einsatz von Digitalisierung und neuen Technologien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Carsten Weber und Silvia Rummel

10 Vom Auftragsverarbeiter zum Original Equipment Manufacturer. . . . . . . 177 Arnd Schaff

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

11 Vom einfachen Sägewerk zum Weltmarktführer in der Bierdeckel-Produktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Georg Bouché und Christoph J. Kansy 12 Erschließen neuer Märkte durch frugale Innovationen. . . . . . . . . . . . . . . . 213 Liza Wohlfart, Flavius Sturm und Frank Wagner 13 Neugeschäftgenerierung mithilfe der Cross-Industry-Innovation-Methode (Inside-Out) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Zeynep Yaman und Thomas Abele 14 Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation. . . . . . . . . . . 243 Michael Schaffner 15 Vom Produkt- zum Service-Geschäftsmodell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Steffen Weimann und Sebastian Arnold 16 Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Innovationsprozess . . . . . . . . . . . . . 287 Philipp Wichert 17 Erfolgsfaktoren im Value Engineering anhand von fluidtechnischen Produkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Hendrik Rust und Daniel Nowack

Über den Herausgeber

Prof. Dr. Thomas Abele  ist seit 2011 Professor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Stuttgart. Die von ihm 2009 gegründete Beratung TIM CONSULTING ist spezialisiert auf Projekte, Schulungen sowie Audits im Bereich des Technologie- und Innovationsmanagements. Er war nach seinem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der Universität Karlsruhe (TH) sowie der University of Massachusetts in Boston als Projektleiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart tätig. Seine Promotion schloss er 2006 an der Universität Stuttgart zum Thema „Verfahren für das Technologie-Roadmapping zur Unterstützung des strategischen Technologiemanagements“ ab. 2005 wechselte Thomas Abele in die Unternehmensentwicklung der Alfred Kärcher GmbH & Co. KG und war dort zuletzt als stellvertretender, operativ leitender Bereichsleiter Corporate Development u. a. für die Strategieentwicklung verantwortlich. Von September 2009 bis Februar 2011 war er als Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der German University in Kairo, Ägypten, tätig.

IX

1

Einleitung Thomas Abele

Zusammenfassung

Die Einleitung bietet einen Überblick über die im Buch enthaltenen Fallstudien. Es wird gezeigt, welche Fallstudien welches Fachgebiet und welche Branche behandeln, was die Fallstudie vermittelt und welche Theorien, Konzepte und Methoden angewendet ­werden. Da Fallstudien auch in Bewerbungsgesprächen eine beliebte Methode sind, um Kompetenzen der Bewerbenden sowohl in der Praxis als auch in der Theorie zu prüfen und zu vergleichen, ist es auch für Bewerbende sinnvoll, sich mit Fallstudien auseinanderzusetzen. Lernenden ermöglicht das Buch somit das Erlangen von wichtigen Kompetenzen, wie beispielsweise problemlösendem Denken oder die Anwendung von Wissen auf konkrete Probleme. Lehrende hingegen bekommen mit diesem Buch ein Werkzeug an die Hand, um diese Kompetenzen anwendungsorientiert und realitätsnah zu vermitteln. Um gleichzeitig auch die Arbeit im Team und die dafür benötigten Fähigkeiten zu fördern, sind die Fälle und die dazugehörigen Fragen auf eine Bearbeitung in der Gruppe ausgerichtet, können jedoch auch von Einzelpersonen bearbeitet werden. Der Fokus soll auf der Aufbereitung und Auswertung der gelieferten Informationen und der zentralen Problemlösung liegen, weshalb jeweils alle benötigten Informationen in den Fallstudien enthalten sind und eine Recherche von Zusatzinformationen nicht notwendig ist. Die einzelnen Fallstudien weisen eine einheitliche Gliederung auf. In einer kurzen Zusammenfassung werden zu Beginn alle Hintergrundinformationen geliefert, die

T. Abele ()  FOM HS für Oekonomie & Management, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_1

1

2

T. Abele

benötigt werden, um die Problemstellung zu verstehen. Diese Situationsbeschreibung zeichnet sich durch eine hohe Anschaulichkeit aus, die es den Leserinnen und Lesern ermöglicht, sich in die Beschäftigten des Unternehmens hineinzuversetzen. In diesem Zusammenhang werden vielfältige Daten bereitgestellt, die die Situation untermauern. Im Folgenden wird die konkrete Problemstellung formuliert. Dann ist es die Aufgabe der Leserinnen und Leser, unterschiedliche Rollen, beispielsweise interner Führungskräfte oder Berater, einzunehmen und idealerweise in einer Gruppe die Informationen zu filtern und zu interpretieren, um so die Ursache des Problems zu identifizieren. Im dritten Teil einer jeden Fallstudie werden Konzepte etc. vorgestellt, welche diskutiert werden sollten, um zu einer sinnvollen Lösung des jeweiligen Falles zu gelangen. Die folgende Tabelle bietet eine Unterstützung bei der Auswahl der einzelnen F ­ allstudien, indem das jeweilige Fachgebiet, Branche, Lernpunkte sowie angewendete Theorie und ­Konzepte vorgestellt werden. Übersicht Fallstudien Nr

Titel

Fachgebiet

Branche

Die Fallstudie ­vermittelt …

Angewendete Theorien/ Konzepte/ Methoden

1

Corporate Foresight

Zukunftsforschung

Automotive

… zentrale Maximen und praktische Regeln der Corporate Foresight in internationalen Konzernen. Der Fokus liegt auf Organisationsentwicklung und Entscheidungsfragen: wie interne strategische und unternehmenskulturelle Herausforderungen von Foresight-Projekten sowie interdisziplinäre Friktionen zwischen einzelnen Fachexpertisen in diesem Fall bewältigt wurden

Radikale Innovation Antezipation als methodische ­Alternative zur ­Prognostik Veränderung des Strategieverständnisses in einer „VUCA-Welt“ (Innovationsführung unter Bedingungen von Ungewissheit)

2

Strategische TechnoVorausschau mit logiefrühSzenarien aufklärung, Szenariomanagement

Maschinenund Anlagenhersteller, Bauingenieurwesen, Komponentenfertiger

PESTEL … die wesentlichen Prinzipien und mög- Szenarioanalyse lichen Anwendungsfälle von industriell angewandtemSzenariomanagement. (Fortsetzung)

1 Einleitung

3

Nr

Titel

Fachgebiet

3

Erfolgreiches Roadmapping: Der Halo-Effekt einer guten Visualisierung

4

Branche

Die Fallstudie ­vermittelt …

Angewendete Theorien/ Konzepte/ Methoden

Strategische Umwelttechnik Planung, Unternehmensnetzwerke

… ein Vorgehensmodell für strategisches Roadmapping im Unternehmensverbund (in diesem Fall für eine Landesagentur)

Analyse von Technologieund Markttrends Strategisches ­Roadmapping TechnologieMarkt-Matrix Experteninterviews

Aktivitäten und Herausforderungen im UmfeldScanning

Innovations- Automobilmanagement, industrie UmfeldScanning

… wichtige und notwendige Aktivitäten im Umfeld-Scanning eines Großunternehmens … welche Herausforderungen im Umfeld-Scanning bei B2B-Technologieunternehmen vorherrschen

Klassifizierung von Trends Klassifizierung von Trendquellen

5

Geschäftsmodellentwicklung für den boomenden Markt des E-Sports

Geschäftsmodellentwicklung

6

Businessmodell- Business Model Innoinnovation im vation Bereich von Cross-Media und DigitalContentServices

Digitalwirt… die wachsende schaft, E-Sport Bedeutung der Digitalwirtschaft im Bereich von Gaming und E-Sport und schafft die Möglichkeit, ein neues Geschäftsmodell für ein junges Unternehmen in einem dynamischen Umfeld zu entwickeln

Digital Business Big Data Datenwertanalyse Business Model Canvas

Verlags-/digitale Medienwissenschaft

Business Model Canvas Geschäftsmodelltypen NeXT-Methode

… die Weiterentwicklung eines etablierten Businessmodells mittels Analyse der Geschäftsmodellumgebung und unter Einsatz der Business Model Canvas, um ein zukunftsfähiges Geschäftsmodell zu schaffen

(Fortsetzung)

4

T. Abele

Nr

Titel

Fachgebiet

Branche

Die Fallstudie ­vermittelt …

7

…, wie wichtig die User-Testing SmartCustomer digitaler Home-Bereich, Absicherung eines Centricity Produkte branchenüber- Produktkonzepts für digitale durch den Kunden ist, greifend Geschäftsund welche Konzepte modelle und es hierzu gibt Innovationen im Smart-HomeBereich

SWOT Digitalstrategie Design-Thinking Akzeptanztest

8

Vom analogen Produkt zum Smart Product durch den Einsatz von Digitalisierung und neuen Technologien

Konsumgüter- …, wie Pioniere auch Digitalibranche zu „Late Followern“ sierung, werden können, wenn Innovationswichtige Trends von strategie, Unternehmen verdisruptive passt oder gar völlig Innovationen, falsch eingeschätzt Trend- und werden. Zudem soll Zukunftsdie schnelle Wandelmanagement, barkeit von Branchen Geschäftsund Märkten durch modelle der aufkommende Trends Zukunft verdeutlicht werden

Design Thinking Business-Innovation-Modell Kano-Modell ChangeManagement Technologiemanagementprozess

9

Vom Auftragsverarbeiter zum Original ­Equipment Manufacturer

Geschäftsprozessinnovation

Zulieferindustrie, Auftragsfertigung

…, wie ein bestehendes Geschäftsmodell in der Krise überprüft und erweitert werden kann

Kernkompetenzanalyse Quality Function Deployment (QFD) Synectics Resource-based View of Strategy

10

Vom einfachen Sägewerk zum Weltmarktführer in der ­BierdeckelProduktion

Vertrieb & Marketing, Produktmanagement

Industrieunternehmung, Bierdeckel, Bauzulieferung

…, was es mit Unternehmensführung auf sich hat und wie sich Produktmanagement sinnvoll umsetzen lässt

AnsoffGrowth-Matrix Porter

Angewendete Theorien/ Konzepte/ Methoden

(Fortsetzung)

1 Einleitung

5

Nr

Titel

Fachgebiet

Branche

Die Fallstudie ­vermittelt …

Angewendete Theorien/ Konzepte/ Methoden

11

Erschließen neuer Märkte durch frugale Innovationen

Frugale Innovationen, Innovationsmanagement

Bauingenieurwesen, Komponentenfertiger

… die wesentlichen Prinzipien frugaler Innovationen und eine mögliche Vorgehensweise zu ihrer Entwicklung. Anhand des dargestellten Praxisbeispiels sowie der Aufgaben und Lösungshinweise wird der Leser befähigt, die angewandten Methoden auf eigene Anwendungsfälle zu übertragen und an den eigenen Kontext anzupassen

Strategy Canvas House of Quality Morphologischer Kasten

12

Neugeschäftgenerierung mithilfe der Cross-Industry-Innovation-Methode (Inside-Out)

Neugeschäft- Automotive generierung

…, wie mithilfe eines systematischen Ansatzes auf Basis bestehender Kompetenzen neue Umsätze generiert werden können

Cross Industry ­Innovation Ansoff-Matrix Methoden zur ­Abstraktion (z. B. TRIZ) Cross-Industry Innovation

13

Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

FertigungsWissensmanagement, industrie innovative Führung

…, wie Prozessinnovationen systematisch organisiert werden können

Systemtheorie WissensmanagementModell nach Probst Wissensmarktkonzept nach North Wirtschaftlichkeitsbetrachtung (NWA, KNA) (Fortsetzung)

6

T. Abele

Nr

Titel

Fachgebiet

Branche

Die Fallstudie ­vermittelt …

Angewendete Theorien/ Konzepte/ Methoden

14

Vom ProduktServicetrans- Maschinenzum Service-Ge- formation und Anlagenschäftsmodell bau

… die Grundlagen der Servicetransformation, den Wandel vom Produkthersteller zum Dienstleistungsbieter, als mögliche Strategie für nachhaltigen Unternehmenserfolg unter Einbezug des Potenzials der Digitalisierung

Servicetransformation Servitization Digitalisierung Service Design Geschäftsmodellierung

15

Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Innovationsprozess

Interdiszipli- Maschinennäres Techno- und Anlagenbau logie- und Innovationsmanagement, Ideenmanagement

…, wie man Strukturen und Systeme zur Verbesserung interdisziplinärer Kommunikation und Kooperation im Innovationsprozess einsetzen kann

Servicetransformation Open Innovation Cross-Industry Innovation Lean Start-up Ideenmanagement

16

Erfolgsfaktoren im Value Engineering anhand von fluid-technischen Produkten

Produktent- Automobil- und wicklung, Maschinenbau Value Engineering, Kostenreduzierung

Erfolgsfaktoren, Methoden und Vorgehensweisen des Value Engineerings

Ideenmanagement Value Analysis Tear-Down von Yoshihiko Sato Funktions-, Kosten-, HandhabungsMontage- und Fehleranalyse

1 Einleitung

7 Prof. Dr. Thomas Abele  ist seit 2011 Professor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Stuttgart. Die von ihm 2009 gegründete Beratung TIM CONSULTING ist spezialisiert auf Projekte, Schulungen sowie Audits im Bereich des Technologie- und Innovationsmanagements. Er war nach seinem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der Universität Karlsruhe (TH) sowie der University of Massachusetts in Boston als Projektleiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart tätig. Seine Promotion schloss er 2006 an der Universität Stuttgart zum Thema „Verfahren für das Technologie-Roadmapping zur Unterstützung des strategischen Technologiemanagements“ ab. 2005 wechselte Thomas Abele in die Unternehmensentwicklung der Alfred Kärcher GmbH & Co. KG und war dort zuletzt als stellvertretender, operativ leitender Bereichsleiter Corporate Development u. a. für die Strategieentwicklung verantwortlich. Von September 2009 bis Februar 2011 war er als Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der German University in Kairo, ­Ägypten, tätig.

2

Corporate Foresight Der Stadtwagen Smart, Daimler AG Friederike Müller-Friemauth

Inhaltsverzeichnis 2.1 Die Fallstudie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.1 Neue Wege jenseits von Chancen- und Risikomanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1.2 Projektstart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1.3 Ungewissheit managen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

Zusammenfassung

Seit den 1970er-Jahren wurde im Daimler-Konzern an der Idee eines kleinen Stadtau­ tos getüftelt. Anlass dafür waren erste ökologische Themen, die rund um die Studie über „Grenzen des Wachstums“ die damalige politische Diskussion prägten und im Unternehmen entsprechende Projektionen veranlassten, was diese veränderte Situation für die urbane Mobilität der Zukunft bedeuten würde. Dies führte zur Gründung der Corporate-Foresight-Abteilung des Konzerns, in der das Konzept des Smarts – ohne Vorbilder – entwickelt wurde. Die Fallstudie zeichnet typische Konfliktfelder mit klassisch betriebswirtschaftlichen Zugriffen auf Innovationsmanagement nach, stellt demgegenüber Prinzipien zukunftsforscherischer Erneuerungen heraus und

Diese Fallstudie basiert auf der ausführlichen Darstellung in Minx und Müller-Friemauth (2017). F. Müller-Friemauth ()  Odenthal, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_2

9

10

F. Müller-Friemauth

ordnet diesen Innovationstypus in die aktuelle Debatte über schwindende Planungssicherheit bzw. eine globale „VUCA-Welt“ ein.

2.1 Die Fallstudie Bereits seit Beginn der 1970er-Jahre wurde bei Mercedes-Benz über ein „Auto der Zukunft“ nachgedacht. Erste Überlegungen dazu stammten von Johann Tomforde, zu jener Zeit Studio-Ingenieur und Typenbegleiter für das Gebiet „Zukünftige Verkehrssysteme“. Die Idee des Smarts war konzipiert als „ultrakompakter Zweisitzer mit Heckmotor“, der nach und nach auf den Stadtverkehr zugeschnitten wurde (internes Label: „Vesper-Wägele“; vgl. smartpit.de 2012a). Aber erst 1997 hatte das smart city coupé auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt seine Weltpremiere. Bis dahin zog sich über 25 Jahre ein Corporate-Foresight-Prozess mit vielen Höhen und Tiefen, Entwicklungshürden, ungewöhnlichen Partnerschaften und Innovationsideen, bis hin zur Etablierung eines völlig neuen Automobilsegments. Im Nachhinein betrachtet: ein typischer Fall von Ungewissheitsmanagement. Bei Gründung der „Forschungsgruppe Berlin“ innerhalb des Daimler-Konzerns 1979 stand im Prinzip dann alles fest. Idee, grobe Bedarfsprognose und die Vorstellung eines Autos speziell für die Stadt (vgl. Abb. 2.1): Zwei Sitze, Heckmotor, Länge maximal 2,50 m. In dieser neu gegründeten hauseigenen Abteilung für Zukunftsforschung (Corporate Foresight) sollte das Konzept lediglich feinjustiert werden.

2.1.1 Neue Wege jenseits von Chancen- und Risikomanagement Benchmarks gab es keine – abgesehen von rein formalen, traditionellen Kleinstwagen, bei denen große Autos im Mini-Maßstab einfach nachgebaut wurden: etwa der Hanomag 2/10 PS mit 1-Zylinder-Motor, das sogenannte „Komissbrot“ (1920er-Jahre), oder BMWs Isetta und der Fend/Messerschmitt Kabinenroller (beide 1950er-Jahre). Der Smart war weder das Produkt von genialen Ideen kreativer Ingenieure noch der Versuch, Verkehrsprobleme vorwegzunehmen. Die zentralen Impulse kamen vielmehr aus der Gesellschaft; genauer aus den gesellschaftspolitischen Debatten der späten 1960er- und 1970er-Jahre. „Da nichts darauf hindeutet, dass der Wunsch nach individueller Mobilität in Zukunft schwächer sein wird, kommt es darauf an, sich im zunehmendem Maße der Aufgabe zuzuwenden, das Automobil in sein soziales und gesellschaftliches Umfeld einzuordnen“ (Breitschwerdt 1979). Denn die Experten fürs Branchen-Monitoring bei Mercedes bemerkten ganz neuartige Sensibilitäten gegenüber bislang unbekannten gesellschaftlichen Herausforderungen und Langfrist-Problemen, die immer größere Teile der Gesellschaft beschäftigten und die nicht nur die damalige Politik umtrieben, sondern absehbar auch das Unternehmen beeinflussen würden:

2  Corporate Foresight

11

Abb. 2.1   Der Ur-Smart – Skizzen von Johann Tomforde 1972. (Quelle: smartpit.de 2012a; Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE)

• die sogenannten Ölkrisen 1973 und 1979/1980 („Ölpreis-Schock“ und, damit einhergehend, neuartige Verbrauchs- und Emissionsfragen, staatlich verordnete „autofreie Sonntage“, vgl. Abb. 2.2): Derartige Bilder lahmgelegter Regionen bzw. einer Verkehrssituation, die künftig womöglich die Mobilität im Land generell prägen könnte, erregten die Öffentlichkeit und heizten die Debatte um alternative Mobilitätskonzepte kräftig an., • Luftverschmutzung (Smog, Umweltzonen), • „Grenzen des Wachstums“ bzw. Anfänge des ökologisches Bewusstseins und • erste „schwache Signale“ für ein Umdenken in Sachen Eigentum und Besitz („nutzen statt besitzen“). Unter dem Schlagwort „neuartige Risiken“ ließ sich all das nicht mehr subsumieren. Was sich abzeichnete, war vielmehr – perspektivisch in die Zukunft gedacht – eine andere (Mobilitäts-)Welt. Die zunehmende Sensibilität gegenüber Umweltthemen deutete eine Langfristigkeit ökologischer Veränderungen an, derer man sich im Unternehmen

12

F. Müller-Friemauth

Abb. 2.2   Autofreier Sonntag – Blick auf eine leere Autobahn bei Frankfurt a. M. am 25.11.1973. (Foto: dpa, Quelle: Osnabrücker Zeitung 2013)

frühzeitig annehmen wollte. Auf Basis einer Mischung aus Gesellschafts-, Trend- und ­Mobilitätsforschung formte sich eine Antezipation1: Was wäre, wenn sich für den Konzern ein neuartiger, umweltpolitischer Rahmen herausbilden würde – womöglich als Zugangsbarriere für Mobilitätsanbieter? Und was wäre, wenn Mercedes als Erster ein Auto für genau diese neue Mobilitätswelt entwickeln würde; sie damit gar mit prägen könnte? In jedem Fall wohl eine gute Ausgangsbedingung für den Mobilitätsmarkt der Zukunft, so die frühe Antwort des Konzerns. Die Grundentscheidung für dieses Projekt entstammte einem Grundprinzip zukunftsforscherischen Denkens, den sogenannten What-if-Frames: der Maxime, im Modus des „als ob“ zu denken (Was wäre, wenn?). Und sie bestärkte die Promotoren eines radikalen Fahrzeugkonzepts – obwohl die Langfristigkeit sowie die Vagheit der Entwicklung, betriebswirtschaftlich bemessen, gerade kein tragfähiges Fundament für planerisches Handeln darboten. Weder war sicher, ob die sich abzeichnenden Trends bestätigt werden würden, noch, was sie für den Konzern genau bedeuteten. Eines allerdings war klar: Allein mit Wahrscheinlichkeitsrechnung kam man nicht mehr weiter. Für mehr Weitblick sorgen sollte fortan die Zukunftsvorsorge der Berliner Forschungsgruppe.

1Hier

in etymologisch korrekter Schreibweise verwendet. Antezipieren/vorwegnehmen, von lat. antecapio: ante = vor(her) und capere = nehmen (nicht: anti-zipieren im Sinne von etwas-entgegensetzen). Zum wissenschaftstheoretischen Hintergrund vgl. Müller-Friemauth und Kühn (2017, S. 188–204).

2  Corporate Foresight

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2.1.2 Projektstart Das war die Entscheidung für eine geradezu idealtypische Geburtsstunde von Corporate Foresight – hier aufgestellt als Abteilung mit dem Auftrag zukunftsforscherischen InhouseConsultings, bewusst abseits der Stuttgarter Zentrale. Der damalige Entwicklungsvorstand Werner Breitschwerdt formulierte im Geleitwort zum ersten Berliner Seminar den entsprechenden Anspruch: „Da nichts darauf hindeutet, dass der Wunsch nach individueller Mobilität in Zukunft schwächer sein wird, kommt es darauf an, sich im zunehmendem Maße der Aufgabe zuzuwenden, das Automobil in sein soziales und gesellschaftliches Umfeld einzuordnen.“ (Breitschwerdt 1979) Zu einem bemerkenswert frühen Zeitpunkt brach das Unternehmen mit diesem Ansatz aus dem ingenieurswissenschaftlich geprägten Muster von Innovation, also dem üblichen ziel- und prozessorientierten Innovieren, das bis heute vorherrscht, aus – und wandelte die ursprünglich konzernpolitisch motivierten Überlegungen hinsichtlich Umweltbilanz und Flottenverbrauch in eine normative Innovation um. Das Ziel war ein Statement der Marke Mercedes für eine (künftige) urbane und nachhaltige Mobilität; mit Blick auf den absehbaren Wertewandel. Man wollte das. Die Überzeugung lautete, dass sich für diese Art von Innovation das Unternehmen als Teil der Gesellschaft verstehen müsse; als eine Art Transmissionsriemen zur (Mit-)Lösung relevanter Herausforderungen, die auf das eigene Geschäftsfeld erhebliche Auswirkungen haben würden. Selbstverständlich ging es um wirtschaftliche Interessen – aber im Kontext sozialer Belange. Bei Corporate Foresight folgt die Ökonomisierung der Idee einer fiktiven Vorwegnahme von veränderten Situationen. Kein radikal-innovatives Produkt ohne soziale Antezipation: Die Radikalität solcher Innovationen muss an die Gesellschaft anschlussfähig sein. Solches Denken, genauer: diese Art von interner Entwicklungs-, vor allem aber Überzeugungsarbeit ist für Unternehmen relativ neu und herausfordernd. Konfliktfelder „Sicherheit“ und „Marktforschung“

Der Projektfortgang danach verlief allerdings alles andere als stringent. „Kinderkrankheiten“ der ersten Konzepte, generelle technische Hürden und die Einschätzung des Produkts hinsichtlich seiner Passung zum Markenbild stellten den Prozess immer wieder infrage. Ein Hotspot betraf die Schnittstelle Sicherheit und IKT (Informations- und Kommunikationstechnologie). Nahverkehr bedeutet häufiges Ein- und Aussteigen, Schwierigkeiten mit dem Parkplatz, hohe Ansprüche an Manövrierfähigkeit, geringer Besetzungsgrad von 1,2 Personen und Fahrgeschwindigkeiten von zumeist unter 100 km/h. Zunächst scheiterte im ersten Anlauf das visionäre Kleinwagenkonzept an den hohen Mercedes-spezifischen Crash-Sicherheitsanforderungen, was die Entwicklung verzögerte.

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Der damalige Direktor der Daimler-Benz-Forschung Hans-Joachim Förster beschrieb 1983 in einem Grundsatzartikel die wesentlichen Pfade der durch Technik bestimmten Mobilitätsentwicklung als eine moderne Informationstechnik, die sowohl als Verbesserung der Fahrzeugfunktion als auch zur Entlastung des Fahrers diene. Zudem ging es um Fragen der Verkehrsführung, um Parkflächennutzung bis hin zur automatischen Fahrzeugführung (autonomes Fahren und „Elektrofahrzeug“) (vgl. Förster 1983, S. 73).2 Als Hemmnis erwies sich auch ein zweiter Hotspot: die Marktumfeldanalyse. Parallel durchgeführte Umfragen ließen nämlich auf eine nur „geringe Resonanz für ein solches Kompaktmobil schließen“ (Jordan 2013, S. 4). Die Experten gingen vielmehr davon aus, dass die Nachfrage sich „auf große und leistungsstarke Automobile konzentrieren“ (­Jordan 2013, S. 4) werde. Was sich in den 1980er-Folgejahren dann auch bewahrheitete – betriebswirtschaftlich nicht gerade ein Legitimationsschub für das Projekt. Ausgerechnet die treffsichersten Prognosen erwiesen sich immer wieder als Handicap für den Foresight-Prozess. Die Arbeit der Zukunftsforscher sorgte durch die permanente Thematisierung dieses Widerspruchs zwischen unternehmerischer Antezipation und Überzeugung einerseits sowie marktforscherisch-prognostischer Daten andererseits für intensive Debatten. Überstanden hat das Projekt dieses permanente Störfeuer nur deshalb, weil eine weitere zentrale Maxime von Foresight immer in Geltung blieb. Der Apple-Gründer Steve Jobs hat sie in einem berühmt geworden Bonmot wohl am klarsten formuliert: „Die Kunden wissen gar nicht, was sie wollen – du musst es ihnen zeigen!“ Soll heißen: Wenn es um die künftige Welt geht, sind Faktenorientierung, Empirie, Umfragen und in gewissem Maße auch Projektionen wertlos. Vorstellen kann man sich vieles, und vieles eben auch nicht. Und was Menschen unter völlig anderen Bedingungen (also morgen) tatsächlich glauben, denken, tun bzw. kaufen werden, was sie dann nützlich oder attraktiv finden, ist nicht „valide“, geschweige denn „reliabel“ vorhersehbar. In der Zukunftsforschung fallen geläufige Standards traditionell-etablierter Wissenschaft weitgehend aus, was das ohnehin unsichere Geschäft von Innovatoren zusätzlich erschwert – ein gewichtiger Grund für die breite unternehmerische Zurückhaltung Foresight gegenüber in den meisten europäischen Ländern. Diese Situation darf jedoch niemals Anlass sein, die klassische BWL (z. B. im Advanced Marketing) außen vor zu lassen. Die betriebswirtschaftliche Perspektive ist und bleibt wichtig, denn ihr kommt ein zentraler Stellenwert in Foresight-Prozessen zu: Sie erdete die zentrale Antezipation – immer wieder, anhand von faktenbasierten

2An

diesen schon damals verhandelten Themenfeldern lässt sich ablesen, wie lange sich der heute unter schein-radikalen Schlagwörtern wie „Disruption“ verhandelte Wandel bereits vollzieht: Er war und ist weder plötzlich noch revolutionär, sondern vielmehr Ergebnis einer stetigen ­Evolution von Mobilität entlang langläufigem, über viele Jahrzehnte sich erstreckendem, kontinuierlich unternehmerisch beobachtetem und bewertetem gesellschaftlichen Wandel.

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Abb. 2.3   Losgelöst von der Mercedes-Benz-Formensprache entstanden in den 1990er-Jahren unkonventionelle Konzepte. (Quelle: smartpit.de 2012b; Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE)

Prognosen und Projektionen, auf oftmals diskursiv anstrengende und enervierende Weise. Sie repräsentiert nicht den fiktional-antezipativen Teil der radikalen Innovation (dieser ist vielmehr die unternehmerische Grundentscheidung), sondern umgekehrt den bodenständig-gegenwartbezogenen und informiert über das, was heute seriös über morgen gesagt werden kann. Bloß: Allein ausschlaggebend für radikale Innovationen kann und darf dieser empirische Pragmatismus nie sein! Denn Antezipationen als Basis und Charakteristikum jeder Foresight sind von völlig anderer Art und stehen der BWL-Logik diametral entgegen.3 Sie fußen auf Fiktionen, die bisweilen, bemessen an heutigen Maßstäben, irrational anmuten (vgl. Abb. 2.3). Sie sind Vorstellungen über ein heute mitunter noch kaum vorstellbares Morgen. Solche Gestalten radika-

3Radikalisiert

hat diese Perspektive (bzw. Perspektivenpräferenz) das Silicon Valley, das heute idealtypisch ein „Moonshot“-Denken repräsentiert, welches teilweise weit über betriebswirtschaftlich legitimierte Vorschauen hinausgeht vgl. Müller-Friemauth und Kühn 2016, 2019).

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Abb. 2.4   Klassischer prozessorientierter Innovationstrichter, auf dem das Stage-Gate-Modell von Robert G. Cooper 2002 aufsetzt. (Quelle: Müller-Prothmann und Dörr 2011, S. 31)

ler Subjektivität lassen sich nicht mit Objektivität kontern: Ein solcher Versuch ist nicht falsch, sondern sinnlos4, aber: Er ist wichtig für die Organisation, für die interne Kommunikation über das Vorhaben, weil sie garantiert, dass das Unternehmen nicht den Boden unter den Füßen verliert.

Konfliktfeld „Führung und Steuerung“

Dieser Grundkonflikt zeigte sich auch in einem dritten Hotspot. Dabei ging es um die Frage, wie ein über viele Jahre andauernder Foresight-Prozess, in den zahlreiche, wechselnde Mitarbeiter eingebunden sind, geführt werden kann. Für die BWL ist die Frage klar – und beantwortet. Pate steht der Management-Zirkel oder -Prozess (PDCA: plan – do – check – act). Auf Basis möglichst „smarter“ Ziele (präzises Innovationsziel) wird über den gesamten Entwicklungsprozess hinweg, z. B. mithilfe des klassischen Innovationstrichters (vgl. Abb. 2.4) bzw. dem Stage-Gate-Modell von Cooper

4Dieser

„Clash of Logics“ spielt sich in nahezu jedem Foresight-Projekt ab. Hier zeigte er sich daran, dass der Smart, gesamtgesellschaftlich betrachtet, um mehrere Jahre zu früh kam; und darüber hinaus an Positionierung und Zielgruppenbestimmung: Attraktiv waren die ersten Produktgenerationen nicht, wie angenommen, für junge, urbane Milieus, sondern für Frauen mittleren und höheren Alters – die First User wichen von der ursprünglichen Erwartung deutlich ab. Was jedoch, wie dargestellt, nicht an sachlogischen Inkorrektheiten der Projektionen lag, sondern an einem Konflikt zwischen Sache und Zeit, der grundsätzlich nicht aufhebbar ist. Prognosen können Antezipationen „erden“, mehr nicht. Logisch liegen sie jedoch auf unterschiedlichen Ebenen. Für die deutsche Konsensorientierung, Anhänger „smarter“ Ziele und disziplinierte strategische Planer eine erhebliche praktische Hürde (und Provokation).

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(2002), in hintereinander geschalteten Etappen der Innovationsprüfung die angepeilte neuartige Leistung gemäß Marktkriterien immer genauer feinjustiert. Sinn und Zweck solcher Kontrollketten: Am Ende soll aus der Innovationspipeline ein Angebot folgen, das technisch funktioniert, das wirtschaftlich realisierbar ist und das die Kunden auch wollen. Dass für diesen Anspruchsrahmen Marktforschung und Prognostik zentral sind, muss nicht betont werden. Führung läuft hier wesentlich über Prozesssteuerung. Das ist bei Corporate Foresight anders. Im Fall des Smarts: Keineswegs waren betriebswirtschaftliche Steuerungskriterien wegweisend. Weder Wettbewerbsbeobachtung noch Visionsfindung, Kreativitätsworkshops oder einer Beschleunigung des Projekts (heute unter dem Stichwort „Agilität“ verhandelt) kam grundlegende Bedeutung zu. Niemand hat erst einmal einen Business-Plan aufgestellt, Benchmarking betrieben, die Margen kalkuliert, strategisch ein neues Geschäftsfeld eröffnet oder das Geschäftsmodell „disruptiert“ – alles Aspekte, die im Nachhinein oftmals zu Erfolgsfaktoren heraufgestuft werden. Auch „Weak Signals“, Trend-Monitoring- und Scanning waren nicht in dem Sinne einschlägig, dass sie über detektierte Umfeldveränderungen die „Ursache“ für die „Folge“ der Smart-Innovation dargestellt hätten. Sie waren anregend und katalysierten die Diskussion – ausschlaggebend waren sie nicht. Derlei zuzulassen: ein Innovationsprojekt so zu führen, dass „Realität“ bisweilen ausgeblendet wird, prägt und verändert die Organisation. Das ist das Kerncharakteristikum von – bzw. die zentrale Verfahrensweise in – sogenannten „Think Tanks“: Denn es macht kulturell einen gravierenden Unterschied, ob eine Innovation via kontextfreier „Idee“ gemäß klassischem Trichtermodell in die Innovationspipeline geschickt und betriebswirtschaftlich quasi geradeaus-kontrollierend durchprozessiert wird. Oder ob der Impuls, etwas weitgehend Unplanbares zu wagen und zuzulassen, etwas quasi auf Vorrat zu denken (und damit über Vertrauen in die eigene Tiefenkompetenz zu führen), seine Überzeugungsarbeit quasi „aus der Zukunft lädt“ und die Akteure von dort her immer mehr gefangen nimmt. Dem Prinzip, das hier in Geltung steht, entspricht in betriebswirtschaftlicher Terminologie noch am ehesten das Prinzip Pull (selbsterzeugter Sog) statt Push (Abarbeiten der klassischen Innovationsphasen und „Gates“). Passender ist der Begriff der Selbstbindung: Eine Organisation bindet sich freiwillig an eine Überzeugung, die ihrer ureigenen, nicht kopierbaren Tiefenkompetenz entspricht (hier: „Wenn es irgendeiner schafft, Autos für die Mobilität der Zukunft zu bauen, dann unsere Mercedes-­ Ingenieure!“)5 Dies markiert eine weitere zentrale Maxime von Corporate Foresight: Stolz zu sein auf etwas, das nur die eigene Organisation leisten kann (früher: „Ich schaff’ beim

5Deswegen

sehen Zukunftsforscher wie Bertrand de Jouvenel oder Ossip K. Flechtheim den zukunftsforscherischen Planungs- und Handlungsmodus deutlich näher bei der Kunst als in der Wissenschaft (vgl. Müller-Friemauth und Kühn 2017, S. 1–5).

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Daimler“, die „Bayer-Familie“, „wir Kruppianer“) und auf diesem Stolz zu surfen: ihn umzuwandeln in unternehmerische, eine sich selbst verstärkende, neu-gierige Energie.

2.1.3 Ungewissheit managen Maximen solcher Art sind Erfolgsbedingungen für Corporate Foresight: Wenn sie als gelebte Faktoren der Unternehmenskultur nicht existieren, wird (antezipative) Foresight nicht erfolgreich sein. Zusammengenommen bilden sie eine Möglichkeit für Führung unter Bedingungen von Ungewissheit. Man lässt sich, bewusst und reflek­ tiert, von Etappensieg zu Etappensieg tragen und schließt die überzeugungsbedingte (also richtungs-, nicht zielorientierte!) Entscheidungsfindung daran an – immer wieder ­situativ überdacht. Die ursprüngliche Idee wird dabei laufend verändert und gemessen am Endprodukt ist sie oftmals nicht wiederzuerkennen. Denn die Welt wandelt sich ständig! Diese Mitbearbeitung von Zeit, ihre Würdigung bzw. Akzeptanz als genauso prägender Faktor der Innovation wie sachliche, ökonomische oder technologische Aspekte, ist der eigentliche Kernaspekt von Corporate Foresight. Die zugrunde liegende Einsicht: Die nächste Entwicklungsetappe unterliegt anderen Bedingungen als die vorige – und das muss strategisch berücksichtigt werden. In der Metaphorik des traditionellen Innovationsmanagements formuliert: Der „Trichter“ selbst verändert sich. Man könnte auch sagen: Das Leben geht weiter, und in der Zukunftsforschung wird diese (nur scheinbar banale) Einsicht strategierelevant. Corporate Foresight bezeichnet damit einen neuartigen Strategietypus, der Zeit in die Planung einbindet. Globale, schnelllebige, disruptive Märkte sind sein originäres Wirkungsfeld. Im zeitgenössischen ökonomischen Diskurs hat sich für diese – ­vorerst befremdliche und verunsichernde – Situation das Akronym der „VUCA-Welt“ eingebürgert, die volatil ist, ungewiss, komplex und ambiguos (mehrdeutig). Wie man an den Benchmarks entsprechend geführter Unternehmen sieht: Der Corporate Foresight gelingt das Management solcher Herausforderungen mit einigem Erfolg, auch wenn ihre methodische Systematisierung noch ausbaufähig ist. Erforderlich werden solche Strategien freilich erst mit dem inzwischen erreichten Format und Niveau einer technologisch weit fortgeschrittenen Moderne. Denn mit bedeutenden Innovationen verbinden wir im 21. Jahrhundert etwas anderes als ergonomischere Bürostühle oder funktionalere Rasenmäher: Wir wollen länger leben und zum Mars. Wenn das funktionieren soll, brauchen wir aber andere, komplexitätsadäquate Planungswerkzeuge. Der Smart war innerhalb der Automobilindustrie eine seltene, radikale Innovation, die durch solche neuartige Strategiearbeit möglich und erfolgreich realisiert wurde.

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2.2 Fallstudienfragen 1. Skizzieren Sie die unternehmensinterne Funktion und Aufgabe des Corporate-­ Foresight-Bereichs innerhalb des Konzerns. 2. Welche Quellen und Mittel nutzt die Corporate Foresight zur Identifikation von Innovationsfeldern? 3. Identifizieren Sie Maximen und Richtlinien, die für Corporate Foresight charakteristisch sind. 4. Stellen Sie Grundsätze und Vorstellungsmodell des klassischen Innovationsmanagements denjenigen von Corporate Foresight gegenüber. Was ist jeweils wichtig? Erarbeiten und diskutieren Sie zu beiden Schemata eine Vorteils-/Nachteilsargumentation (Management-Zirkel/Stage-Gate-Modell versus Corporate Foresight. Auch ausbaufähig zur „SWOT“). 5. Bilden Sie Hypothesen zum Fall: – Welche Auseinandersetzungen zwischen der Berliner Forschergruppe und klassischen Unternehmensbereichen des Konzerns vermuten Sie? – Konstruieren Sie drei Ihnen typisch oder wahrscheinlich erscheinende ­Debatten. Themen und Bereiche könnten sein: Konzernstrategie in Bezug auf M ­ arken, Marktprognosen, Projektionen von Kundenbedürfnissen, Automobiltrends, ­Benchmarking/ Wettbewerbsanalysen, neue Auslandsmärkte u. a. m. 6. Recherchieren Sie Selbstauskünfte und Beschreibungen von mit Foresight geführten Unternehmen. (Die meisten, heute sehr populären, stammen aus Kalifornien, dem Ursprungsort von Zukunftsforschung. Ein weiteres lohnendes Suchfeld sind bestimmte Branchen, z. B. technologieorientierte oder solche mit besonders langen Entwicklungszyklen.) 7. Entwickeln Sie vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrungen eine Position zu Corporate Foresight. Würden Sie in einem Unternehmen, das Sie kennen bzw. in dem Sie tätig sind, dieses Vorgehen grundsätzlich zulassen, gar empfehlen? Warum bzw. warum nicht? 8. Diskutieren Sie, ob Foresight auch auf andere Bereiche übertragbar ist, und welche das sein könnten. Halten Sie derlei für wünschenswert bzw. nützlich? Begründen Sie Ihre Meinung.

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2.3 Lösungshinweise Sämtliche Lösungen sind Vorschläge, keine absoluten Antworten. Andere Perspektiven mögen ebenso praxistauglich sein. Die Fallstudie ist zudem auch auf andere Aspekte hin analysierbar. Sie lässt sich sowohl in unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen Teildisziplinen nutzen als auch in mehreren thematischen Ebenen und in variierenden Schwierigkeitsgraden abfragen. Zu Frage 1 Der Corporate-Foresight-Bereich hatte den Auftrag, die Mobilität der Zukunft zu erforschen. Im Zentrum stand dabei die Überzeugung von Johann Tomforde und einigen anderen, dass sich künftige Mobilität nicht nur technologisch, sondern auch systemisch von der früheren grundsätzlich unterscheiden würde. Einer der zentralen Forschungsaspekte war deshalb, die sozialwissenschaftliche Blindstelle im Innovationsmanagement zu verkleinern: Wie verändert sich die Gesellschaft im Ganzen? Die konkrete Idee eines urbanen Kleinwagens war ein idealer Aufhänger für die Gründung einer solchen Corporate-Foresight-Funktion. Zu Frage 2 Genutzt werden extrem unterschiedliche Quellen: Zahlen, Daten und Fakten aus Forschungsinstituten, Prognosen, Science-Fiction-Stoffe, soziologische Zeitdiagnosen, Wertewandel- und soziokulturelle Forschung, Befunde aus der Technologiefolgenabschätzung u. v. a. Mindestens genauso wichtig sind jedoch Impulse aus der Organisation selbst. „Ideen“, die die Zukunftsforschung nutzt, kommen eher selten aus Kreativitätsworkshops. Zumeist sind es Gedankensplitter, vage Einfälle oder Visionen, die Organisationsmitglieder entwickeln, wenn sie darüber nachdenken oder diskutieren, was konkret diese Organisation am besten kann, was man „eigentlich mal machen sollte“ u. Ä. Zu Frage 3 Einige Beispiele für zentrale Orientierungen sind: • Denken in einer „Was-wäre-wenn“-Logik: überlegen, was passieren könnte, und was sich daraus für nächste Konsequenzen ergäben (unbeabsichtigte Nebenfolgen). • Keine radikale Innovation ohne soziale Antezipation: Unternehmen, generell die Wirtschaft, sind eingebettet in die Gesellschaft, mithin Teil von ihr. Unternehmenshandeln hat erhebliche soziale Effekte, und auch Innovationen betreffen alle. Je radikaler der Innovationsanspruch, desto dringender ist soziale Folgenabschätzung, und zwar

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in beide Richtungen. Was wünschen wir uns? Und: Vor welchen – womöglich noch kaum absehbaren Herausforderungen – steht die Gesellschaft, mit was könnten wir unterstützen? • Vorsicht bei betriebswirtschaftlichen Glaubenssätzen: BWL bewertet nach anderen Kriterien als Zukunftsforschung. Im Marketing beispielsweise gilt seit den 1990er-Jahren das Credo der Kundenorientierung – bis heute. Dagegen ist sachlogisch nichts einzuwenden, zeitlogisch aber sehr wohl. Durch die Verhaltensforschung empirisch gut belegt: Menschen sind sehr schlecht darin, über künftige Dinge zu urteilen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sie in ihrer Rolle als Kunden befragt werden. Jeder stellt sich etwas anderes vor, und wie eine Innovation später tatsächlich bewertet wird, ob sie gefällt, ob Leute dafür bezahlen würden und für sich einen Nutzen in ihr sähen, ist nicht seriös beforschbar. Was Menschen bei solchen Umfragen sagen und was sie später tun, ist zweierlei. • Den eigenen Stolz katalysieren: Die Gründer von Unternehmen wie Google, Amazon, Apple oder PayPal – alle zukunftsforscherisch geführt – bezeichneten ihre Organisation in den Anfängen häufig als „Mafia“ oder „Sekte“. Sie verstanden sich als eingeschworene Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die es mit dem Rest der Welt aufnahm. Steve Jobs etwa hisste vor Apples Firmenzentrale in Cupertino eine ­Piratenflagge – Botschaft: „Wir kapern die Computerindustrie“. Solche Symbole markieren das eigene einzigartige Mindset, für jeden deutlich erkennbar: „Wir stehen für etwas Besonderes. Jeder soll es sehen!“ Rituale dieser Art haben vornehmlich einen Sinn und Zweck: Sie stellen den Stolz aus, den eine Organisation auf das hat, was sie zustande bringt; was sie sich traut – mitunter entgegen der ganzen Welt. Motivationale Fundamente, die sich in Foresight-Unternehmen beobachten lassen, sind beispielsweise soziale oder ökologische Verantwortung (anstatt nur Benchmarking, Marktdurchdringung oder Trendsetting), ein Selbstverständnis als Scout und Pionier (anstatt nur als „Kundenversteher“), eine passionierte Arbeit an der eigenen Identität (anstatt nur an „Kultur“, vgl. etwa die Unternehmen von Elon Musk, die für unternehmenskulturell schlechte Zustände bekannt sind), u. a. m. Zu Frage 4 Klassisches Innovationsmanagement auf Basis des Management-Zirkels und Stage-GateModells sollten bekannt sein. Die einzelnen Bewertungen innerhalb der SWOT sind unterschiedlich: Jedes Unternehmen wird Aspekte von Corporate Foresight anders/aus eigener Sicht bewerten. Als Diskussionsgrundlage kann ein Zitat von Albert Einstein dienen: „Nicht alles, was man zählen kann, zählt; und nicht alles, was wirklich zählt, kann man zählen“.

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Als weitere Anregung kann die folgende Abbildung benutzt werden.

Klass. Innovationsmanagement (Vorhersagen, Kreativitätstechnik u.a.) • Ähnlichkeitsprinzip zwischen Gegenwart und Zukunft: Keine Mit-Berücksichtigung von Zeit. Ziel-Orientierung (Dinge besser, funktionaler, schneller machen: Das Morgen ist ein besseres Heute)

Corporate Foresight

(Vorgriffe: Vision, Antizipation u.a.) • Strategisch fingierter Bruch zwischen Gegenwart und Zukunft: Stiftung eines neuen Zusammenhanges zwischen Heute und Morgen (‚neue Dinge tun‘ / ‚Dinge anders tun‘: Das Morgen ist anders als das Heute)

Vergangenheit – • Zukunft als festzulegendes ErGegenwart – Zukun gebnis (Optimierung vorliegender, d.h. vergangenheitsbasierter Daten/Informationen oder Ideenfindung)

• Zukunft als Neubeschreibung / andere Perspektive; inspirierender unbekannter Zustand

• dem Managementsystem ein- bzw. untergeordnet (strategische Planung, Stage-Gate, Controlling; Chancen-RisikenAbgleich)

• freiwillig, exzeptionell (Alternativen generieren, z.B. Szenarien; auch scheinbar unrealistische Annahmen erlaubt)

• Modus: messen. Vorteil: Sicherheit, Präzision

• Modus: vorausdenken, abwägen, vergleichen, beurteilen. Vorteil: Relevanz

• Ungewissheit durch möglichst konkrete Vorhersagen verringern (Wahrscheinlichkeiten berechnen)

Ungewissheit

• Ungewissheit ignorieren und ‚bearbeiten‘, indem man sie mit Antizipationen ‚füllt‘

• Komplexität stört / erschwert die Messung

Komplexität

• Komplexität normal / unwichtig

Chance: Das Neue wird durch messbare Werte ‚dingfest‘ gemacht und in ein weiter bearbeitbares Ergebnis umgewandelt („Arbeitstechnik“) Risiko: Völlig Neues / Anderes ist nicht vorstellbar (radikale Innovationen schwierig)

Chance: Eine bislang unbekannte Qualität des Neuen wird entdeckt oder entworfen und in eine das Unternehmen bindende Erwartung umgewandelt Risiko: Übers Ziel hinausschießen, ‚Spinnerei‘

Gegenüberstellung von klassischem Innovationsmanagement und Corporate Foresight

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Zu Frage 5 Im Fall sind Friktionen zwischen den jeweiligen Abteilungsperspektiven angedeutet. • Beispiel Marketing: Was wollen wir den Kunden Neues anbieten versus was wollen die Kunden „wirklich“ (Empirie)? • Beispiel Marke: Modernisierung, Zeitgemäßheit und Pioniergeist (Innovationsführerschaft belegen) versus Homogenität einer Automobilwelt für qualitativ hochwertige Mittel- und Oberklasse-Autos erhalten (Angst vor Beschädigung der Marke) • Beispiel Strategie: Nachhaltigkeitsprofil des Konzerns schärfen versus Wachsen und Emerging Markets bedienen („Nachfrage nach großen Oberklasse-Wagen steigt“ o. Ä.) Für das Unternehmen herausfordernd ist insbesondere jeder empirische Beleg, der gegen einen Aspekt der antezipierten Innovation verstößt und damit scheinbar Nutzen, Attraktivität bzw. Nachfrage oder den unterstellten Kostenrahmen infrage stellt. Solche „Clashs of Information“ können nicht anders als diskursiv aufgelöst werden: Es gibt hier keine einschlägige Wahrheit und damit keine „harten“ Argumente pro oder contra. Zu Frage 6 und 7 Individuell Zu Frage 8 Als Anwärter kämen, neben Forschung und Entwicklung, sowohl andere innerbetriebliche Bereiche wie Marketing, HR oder Unternehmensstrategie infrage als auch ganz andere gesellschaftliche Sektoren wie Politik oder Technologie. Foresight gibt es mittlerweile in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen (wenn auch nicht in Europa). Von Wissenschaft (Foresight Research) über Technologiefolgenabschätzung bis hin zur Government Foresight werden zukunftsforscherische Instrumentarien genutzt. Begründer von Zukunftsforschung war Mitte des letzten Jahrhunderts das Militär. Für die Expansion in weitere Bereiche sorgten zunächst amerikanische Think Tanks (z. B. die RAND Corporation), die in den 1950er-Jahren Zukunftsperspektiven in die strategische Politikberatung einführten. Eine zweite Welle ab den 1970er-­ Jahren brachte Foresight dann in die Unternehmen (bekannt wurden insbesondere die sogenannten „Shell-Szenarien“, die der Energiekonzern Dutch Shell anlässlich der Ölkrisen entwickelte). Auch die Berliner Forschungsgruppe war ein Effekt dieses Trends.

Literatur Breitschwerdt, W. (1979). Vorwort zum Seminar der Forschungsgruppe Berlin, 27./28. September 1979. In A. G. Daimler-Benz (Hrsg.), Verkehr, Umwelt, Zukunft. Vorträge anlässlich des Seminars der Forschungsgruppe Berlin, 27./28. September 1979 (S. 1). Stuttgart: Daimler-Benz-AG.

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Cooper, R. G. (2002). Top oder Flop in der Produktentwicklung. Erfolgsstrategien: Von der Idee zum Launch. Weinheim: Wiley. Förster, H.-J. (1983). Technische Mittel zum Ausgleich der Spannungen zwischen Verkehr und Umwelt. In A. G. Daimler-Benz (Hrsg.), Perspektiven des zukünftigen Verkehrs (S. 64–98). Düsseldorf: Daimler-Benz-AG. Jordan, M. (2013). Die Geschichte des smart begann im Jahre 1972. http://blog.mercedes-benz-­ passion.com/2013/02/die-geschichte-des-smart-reduce-to-the-max-begann-1972/. Zugegriffen: 5. Juli 2018. Minx, E., & Müller-Friemauth, F. (2017). Planen ins Ungewisse. Lernkurven aus dem Foresight-­ Prozess des Kleinwagens Smart. Hamburg: Tredition. Müller-Friemauth, F., & Kühn, R. (2016). Silicon Valley als unternehmerische Inspiration. Zukunft erforschen, Wagnisse eingehen, Organisationen entwickeln. Wiesbaden: Springer Gabler. Müller-Friemauth, F., & Kühn, R. (2017). Ökonomische Zukunftsforschung. Grundlagen – Konzepte – Perspektiven. Wiesbaden: Springer Gabler. Müller-Friemauth, F., & Kühn, R. (2019). Moonshots. Zur Entwicklung radikaler Innovationen. Hamburg: Tredition. Müller-Prothmann, T., & Dörr, N. (2011). Innovationsmanagement (2. Aufl.). München: Hanser. Osnabrücker Zeitung. (2013). Ölkrise 1973: Autofrei für Deutschland. https://www.noz. de/deutschland-welt/vermischtes/artikel/430919/olkrise-1973-autofrei-fur-deutschland. Zugegriffen: 5. Juli 2018. smartpit.de. (2012a). Die Entstehungsgeschichte des smart – Teil 1: Das grundlegende Konzept. http://www.smartpit.de/die-entstehungsgeschichte-des-smart-teil-1-das-grundlegende-konzept/. Zugegriffen: 5. Juli 2018. smartpit.de. (2012b). Die Entstehungsgeschichte des smart – Teil 2: Vom Konzept zur Serie. http://www.smartpit.de/die-entstehungsgeschichte-des-smart-teil-2-vom-konzept-zur-serie/. Zugegriffen: 5. Juli 2018.

Prof. Dr. Friederike Müller-Friemauth  ist hauptberuflich Lehrende für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Strategisches Marketing und Innovationsmanagement, an der FOM Hochschule am Hochschulzentrum Köln. Sie studierte Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und promovierte 1995 dort über Zeitdiagnostik. Im Anschluss an ihre Promotion hatte sie unterschiedliche Wissenschafts- und strategische Leitungspositionen inne, u. a. in der Corporate Foresight der Daimler AG und der Trendforschung des Heidelberger Markt- und Sozialforschungsinstituts Sinus Sociovision. Ihre Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkte sind Grundlagen, Methoden und Anwendungen der ökonomischen Zukunftsforschung. Im KCT KompetenzCentrum für Technologie- & Innovationsmanagement vertritt sie den Bereich Zukunftsforschung. Friederike Müller-Friemauth ist zudem Mit-­ Inhaberin von „kühn denken auf Vorrat“, einer Konzeptberatung für angewandte ökonomische Zukunftsforschung.

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Strategische Vorausschau mit Szenarien Auf in die Zukünfte Stephan Schüle, Liza Wohlfart und Jonathan Masior

Inhaltsverzeichnis 3.1 Die Zukunft der Bauindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.1.1 Schritt 1: Festlegung des Betrachtungsfelds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3.1.2 Schritt 2: Identifikation der wichtigsten Deskriptoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3.1.3 Schritt 3: Fact Book Recherche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.1.4 Schritt 4: Entwicklung der Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3.1.5 Schritt 5: Transfer der Szenarien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 3.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

Zusammenfassung

In diesem Fallbeispiel wird ein Einblick in die Vorgehensweise zur Erarbeitung von Zukunftsszenarien und in die drei erarbeiteten möglichen Zukunftsbilder gewährt. Die Szenariotechnik ist eine etablierte Methode zur Erarbeitung von Zukunftsbildern. In diesem Beitrag wird eine Vorgehensweise zur simulationsgestützten Szenarioerstellung vorgestellt. Der fünfstufige Prozess von der Festlegung des Betrachtungsfelds bis zum

S. Schüle () · L. Wohlfart · J. Masior  Fraunhofer IAO, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Wohlfart E-Mail: [email protected] J. Masior E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_3

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Transfer der Szenarien wird anhand eines Praxisbeispiels aus der Bauindustrie dargestellt. Szenarien wagen einen Blick in eine unscharfe Zukunft. Daher liegt es in der Natur der Sache, dass die Zukunftsbilder mit Ungewissheiten behaftet sind. Trotzdem kann eine strukturierte Vorgehensweise dazu beitragen, den möglichen Lösungsraum durch verschiedene Projektionen abzudecken. Ist die Methode in sich stimmig, ist auch sichergestellt, dass trotz aller Unsicherheiten in der Vorausschau plausible Bilder mit einer hohen Praxisrelevanz entstehen. Ziel der Bilder ist es, Unternehmen bei der Entwicklung einer robusten langfristigen Strategie zu unterstützen. Auf Basis der Szenarien können Unternehmen zukunftsrelevante Technologien und Trends ableiten und ihre Roadmaps entsprechend gestalten. In der fernen Zukunft steht niemand mehr im Stau, lange Fahrten von A nach B können zumindest bei überschaubaren Strecken ganz ohne Fahrzeug überwunden werden – dank „Beamen“. So zumindest die Annahme der bekannten Serie Star Trek, bei der Menschen innerhalb von Sekunden an andere Orte transportiert werden. Was passiert aber, wenn es technische Probleme bei dieser entspannten Art des Reisens gibt und der Mensch am Ende gespalten ankommt, als eine gute und eine böse Version seiner Persönlichkeit, wie in einer Episode dargestellt? Bislang sind wir weiterhin auf profane Verkehrsmittel wie den Zug und das Auto angewiesen. Dennoch ist die Beschäftigung mit der Zukunft lohnend, denn wie soll man vorankommen mit technischen Entwicklungen, aber auch frühzeitige Antworten auf mögliche Risiken finden, wenn man nicht weiß, was auf einen zukommt? Bekannte Science-Fiction-Autoren und Zukunftsforscher haben deshalb schon immer die Forschung und Entwicklung dazu inspiriert, sich nicht nur mit dem Morgen, sondern auch dem Übermorgen zu beschäftigen. Die Sache hat nur einen Haken, wie das Beispiel des Beamens zeigt: Niemand weiß so genau, wie die Zukunft wird. Es gibt zwar eine ganze Reihe von Trends, die man beobachten kann, diese bilden jedoch ein komplexes Wirrwarr von Abhängigkeiten und sind zudem teilweise höchst widersprüchlich. Einen Ausweg bietet die Szenariotechnik. Ihr Ergebnis ist nicht eine einzige, in sich stimmige, aber insgesamt höchst fragwürdige Vision der Zukunft, sondern eine überschaubare Anzahl möglicher Welten, die Unternehmen Orientierung bei dem Weg nach vorne bieten. Dieser Beitrag veranschaulicht, wie der Prozess gelingt.

3.1 Die Zukunft der Bauindustrie ‚Das deutsche Bauhauptgewerbe bewegt sich weiter auf Expansionskurs. Wir haben deshalb unsere Jahresauftaktprognose über die Entwicklung der baugewerblichen Umsätze im Bauhauptgewerbe von nominal 4 auf 6 % angehoben‘, erklärte heute in Berlin der Präsident des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie, Dipl.-Ing. Peter Hübner, im Rahmen seiner Jahrespressekonferenz zum Tag der Deutschen Bauindustrie. Bei stärker steigenden Preisen als 2017 dürfte dies einem realen Wachstum von 2 % entsprechen. Für 2019 geht

3  Strategische Vorausschau mit Szenarien

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der Hauptverband von einem nominalen Umsatzplus in gleicher Höhe aus. Hübner: ‚Die Bauwirtschaft bleibt damit auch auf mittlere Sicht eine Stütze der konjunkturellen Entwicklung in Deutschland.‘ (Stiepelmann 2018).

Die Firma Danfoss ist weltweit als Zulieferer für mobile Maschinen bekannt und besitzt in Europa, Amerika und Asien mehrere Produktions- und Entwicklungsstandorte. Seit über 50 Jahren steht der Name für Qualität und Zuverlässigkeit. Die Produktpalette umfasst zentrale Antriebskomponenten mobiler Arbeitsmaschinen wie z. B. Getriebe und Motoren, Kolbenpumpen, Ventile und elektronische Steuerungen. Die Produkte der Firma werden primär in der Bauindustrie und in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Bandbreite der Arbeitsmaschinen ist immens und reicht von Traktoren über verschiedene Lader bis hin zu Spezialanwendungen wie Erntemaschinen. Danfoss versteht sich selbst als Lösungsanbieter, der seinen Kunden perfekt abgestimmte Antriebs- oder Lenkkonzepte bietet. Daher beschränkt sich das Angebot nicht nur auf mechanische Komponenten, sondern wird zusammen mit Elektronikkomponenten und Telematiklösungen zum hochpräzisen Gesamtpaket. Die verschiedenen Entwicklungszentren arbeiten eng mit den OEMs der Branchen zusammen und decken alle notwendigen Entwicklungsschritte vom Technologiekonzept über Verifikation und Testing bis hin zur Integration an. So wird sichergestellt, dass die Kunden nur maßgeschneiderte Lösungen erhalten und deren eigene Entwicklungszyklen kurz bleiben. Im Herbst 2016 entschloss sich das Unternehmen zusammen mit dem Fraunhofer IAO, einen Blick in die Zukunft zu wagen. Schließlich reicht eine boomende Branche nicht zum Unternehmenserfolg. Wer erfolgreich sein will, muss in einer Wachstumsbranche auch die passenden Produkte anbieten. Gerade in der noch sehr traditionell arbeitenden Bauindustrie keine leichte Aufgabe. Wer kann schon abschätzen, wie schnell neue Materialien, die Digitalisierung, BIM und hybride Geschäftsmodelle die Baubranche verändern oder sogar revolutionieren? Die Projektvorgabe war, globale Zukunftsszenarien für das Jahr 2030 zu entwickeln. Hätten Sie es gedacht?

Als Mieter in einem normalen Mehrfamilienhaus erreichte mich vor Kurzem ein Brief des Vermieters. Das Dach musste repariert werden. Doch ich wurde nicht ersucht, nervige Umräumarbeiten auf dem Dachboden durchzuführen, um den Handwerkern den Zugang zu ermöglichen, sondern aufgefordert, eine Erklärung zu unterschreiben. Eine Drohne soll Aufnahmen vom Dach machen – vor ein paar Jahren wäre noch keiner auf diese Idee gekommen. Das kleine Beispiel zeigt: Neue Technologien können ganze Arbeitsabläufe verändern, revolutionieren oder sogar überflüssig machen. Vielleicht sind Gerüste in 20 Jahren nahezu vollständig aus dem Straßenbild verschwunden, Leitungen werden vollautomatisch durch Roboter verlegt und die typische Straße besteht nicht mehr nur aus Beton, sie schließt auch Solarzellen zur Erzeugung von Energie ein. Wie genau die Zukunft aussieht, kann niemand vorhersagen, aber man kann sich auf mögliche Entwicklungen einstellen und entsprechende Vorkehrungen treffen.

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S. Schüle et al.

Zukunftsszenarien sind ein Ansatz der strategischen Vorausschau, der dem Umstand Rechnung trägt, dass sich die Zukunft eben nur schwer voraussagen lässt. Zu widersprüchlich sind viele Trends, die sich beobachten lassen. Wer weiß heute schon, ob sich die Globalisierung weiter durchsetzen wird oder nationale Interessen die Welt von morgen bestimmen? Leben wir bald alle verpackungsfrei oder steigt das Müllaufkommen durch den zunehmenden Online-Handel ins Bodenlose? Auch die starke Verzahnung der Trends untereinander erschwert den Blick nach vorne. Einzelne Faktoren wie eine zunehmende Urbanisierung können eine ganze Reihe von Entwicklungen auslösen, von der Intensivierung des öffentlichen Nahverkehrs bis hin zur Verknappung des Wohnraums in den Städten. Ein einziges schlüssiges Gesamtbild zu entwerfen, das diesen vielen Faktoren gerecht wird, ist nicht möglich. Sehr wohl aber kann eine begrenzte Anzahl von Ausblicken gestaltet werden, die in der Gesamtschau das ausdrücken, worauf sich ein Unternehmen einstellen muss. Zukunftsszenarien werfen den Blick weit nach vorn und schauen auf mögliche Varianten der Welt in 15 oder 20 Jahren. Was, wenn die Digitalisierung dann alles bestimmt und wir nur noch virtuell in den Urlaub fahren? Oder wenn der ökologische Gedanke unser Leben so grundlegend verändert hat, dass Massentierhaltung und Individualverkehr der Vergangenheit angehören? In sich schlüssige, faktengestützte und detailreiche Zukunftsbilder machen es Unternehmen sehr viel einfacher, strategische Schritte hin zur Welt von Morgen zu planen, als der Versuch, einen geraden Weg nach vorne durch den Dschungel der verschiedenen Trends festzulegen. Das Team des Fraunhofer IAO hat uns zuverlässig und sicher durch den Szenario-Prozess geführt und damit eine gute Basis für die Strategieentwicklung gelegt (Eckhard Skirde, Senior Technical Advisor, Danfoss GmbH).

Die Zukunftsszenarien für Danfoss wurden in fünf Schritten entwickelt (siehe Abb. 3.1). Im ersten Schritt wurde zunächst der Betrachtungsraum festgelegt und es wurden wichtige Einflussfaktoren auf Basis einer Trend-Analyse (PESTEL) identifiziert und zu sogenannten Deskriptoren geclustert. Im zweiten Schritt wurden die wichtigsten Deskriptoren bestimmt. Hierzu wurde eine Cause-Effect-Analyse (Ursache-Wirkung) durchgeführt, die jeden Deskriptor auf seine Aktivität und Passivität hin untersuchte. Eine hohe Aktivität weisen Deskriptoren auf, die andere Deskriptoren in hohem Maß beeinflussen, wie neue gesetzliche Regelungen. Deskriptoren mit einer hohen Passivität wie manche technischen Trends wiederum unterliegen dem Einfluss vieler anderer Deskriptoren. Für die Arbeit in einem Szenarioprojekt sind insbesondere die Faktoren interessant, die sehr aktiv und/oder sehr passiv sind. Das Fraunhofer IAO verwendet für diesen Schritt ein eigens entwickeltes Tool, das die komplexen Beziehungen zwischen den Deskriptoren auswertet. Im dritten Schritt des Szenarioprojekts werden Projektionen festgelegt, d. h. mögliche Entwicklungsrichtungen der einzelnen Deskriptoren. Hierzu trägt das Team im sogenannten Fact Book Daten zusammen, auf denen die späteren Szenarien beruhen. Neben relevanten Publikationen nutzt das Fraunhofer IAO bei diesem Schritt oft auch

3  Strategische Vorausschau mit Szenarien

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Transfer der Szenarien •

Wie können wir die Szenarien für die weitere Verwendung aufbereiten?



Welche strategischen Schritte können wir für unser Unternehmen ableiten?

Juni/Juli 2017

Kommunikationsmaterialien, strategische Schritte, Roadmap Entwicklung der Szenarien • Mai 2017



Welche konsistenten Szenarien können wir ableiten?

Einsatz IT-Tool

Welche Hauptunterschiede zwischen den Szenarien können wir feststellen? 3 Szenarien Fact Book Recherche

März/April 2017



Welche Erkenntnisse zu den Deskriptoren können wir gewinnen?



Welche Projektionen können wir ableiten?

Classification

Definition

Graphs

Projections Overview on Current State

Illustrative Examples

Februar 2017

23 Deskriptoren

Descriptor 1

Descriptor 3

Wie definieren wir die Deskriptoren? Welche Hauptdeskriptoren berücksichtigen wir im weiteren Projektverlauf?

Descriptor 1

• •

Descriptor 2

2-4 Projektionen pro Deskriptor Identifizierung der wichtigsten Deskriptoren

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Einsatz IT-Tool

x

Festlegung des Betrachtungsfelds Januar 2017



Welchen Zeitraum schauen wir an?



Welche Geschäftsfelder betrachten wir?



Welche Regionen sind relevant?



Welche Deskriptoren sind relevant?

Abb. 3.1   Beispielhafter Szenarioprozess

sein breites Expertennetzwerk, um sicherzustellen, dass alle wichtigen Aspekte berücksichtigt werden. Wichtige Elemente des Fact Books sind neben einer Definition der einzelnen Faktoren eine Zusammenstellung des jeweiligen Stands der Wissenschaft und Praxis, gegebenenfalls ausgewählte illustrative Beispiele und eben die Formulierung der Projektionen. Eine Projektion ist eine mögliche Entwicklung eines Deskriptors. Üblicherweise werden zwei bis drei Projektionen formuliert. Was den Faktor Fachkräfteverfügbarkeit betrifft, könnte eine Projektion in der Baubranche beispielsweise darin bestehen, dass der Mangel an Experten sich weiter verschärft. Eine andere könnte die Möglichkeit beschreiben, dass es der Baubranche in Zukunft gelingt, mehr Spezialisten durch attraktive Arbeitsbedingungen anzulocken. Wichtig hierbei ist Plausibilität, nicht Wahrscheinlichkeit: Ist die beschriebene Projektion in sich schlüssig und nachvollziehbar? Darüber hinaus ist es wichtig, darauf zu achten, dass die einzelnen Projektionen sich gegenseitig ausschließen. Deskriptoren, die nur eine Projektion haben, bezeichnet man übrigens als Megatrend. Im vierten Schritt werden die verschiedenen Projektionen zu Gesamtbildern kombiniert, den sogenannten Rohszenarien. Dabei wird überprüft, welche Projektionen der verschiedenen Deskriptoren gut zueinander passen, im Sinne von plausiblen Kombinationen. Die entstehenden Rohszenarien enthalten jeweils eine Projektion jedes Deskriptors und decken damit alle als relevant identifizierten Faktoren ab. Auch bei diesem Schritt nutzt das Fraunhofer IAO ein IT-Tool, um die komplexen Berechnungen zu erstellen.

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S. Schüle et al.

Im fünften und letzten Schritt werden die finalen Szenarien formuliert und es werden strategische Schritte abgeleitet. Darüber hinaus stellt das Team bei diesem Schritt Überlegungen zur Kommunikation der Szenarien an. Wie kann man die Szenarien nutzen, um die Zukunft mit wichtigen Anspruchsgruppen zu diskutieren, wie dem Top-Management, der Belegschaft, den Kunden und strategischen Partnern? Meist wird ein kurzer Steckbrief (ein bis zwei Seiten) zu jedem Szenario erstellt sowie eine Info-Grafik, welche die wichtigsten Annahmen jedes Szenarios mit kurzen Stichpunkten und passenden Abbildungen vermittelt.

3.1.1 Schritt 1: Festlegung des Betrachtungsfelds Im Folgenden wird der Prozess des Projekts anhand des Beispiels der Firma Danfoss dargestellt. Im ersten Schritt wurde der zeitliche Rahmen auf 2030 festgelegt und es wurde beschlossen, globale Szenarien zu entwickeln, um Zukunftsbilder für hochentwickelte Industrienationen wie Deutschland zu erhalten, aber auch Entwicklungen in Schwellenländern wie Südafrika abzudecken. Darüber hinaus wurde das Kernteam etabliert, das aus Mitarbeitern verschiedener Regionen und unterschiedlicher fachlicher Spezialisierungen bestand. Ziel war es, sowohl die technische Sicht auf die Zukunft abdecken als auch Markt- und Kundenwissen in das Projekt einbringen zu können. Anschließend erfolgte die Sammlung von Einflussfaktoren mithilfe der PESTELAnalyse. Damit wird sichergestellt, dass die Zukunftsbilder nicht nur technische Aspekte berücksichtigen, sondern beispielsweise auch politische Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Trends. Beispiel: Elektrifizierung und Automatisierung der Baustellenabläufe

Elektrifizierte Antriebsstränge verändern das Arbeitsumfeld des Maschinenbedieners erheblich. Wo früher Muskelkraft gefragt war, kommt es heute auf Präzision an. GPS-gesteuerte Telematiksysteme können die Rolle des Maschinenbedieners sogar auf die Überwachung reduzieren. Allerdings muss dieser in der Lage sein, vorprogrammierte Fahrwege abzurufen, einzuspeichern und bei Bedarf manuell anzupassen. Die Automatisierung von Abläufen im Rahmen der Elektrifizierung kann aber auch Einfluss auf die benötigte Anzahl der Arbeiter vor Ort haben. Und Elektrifizierung bedeutet auch eine Veränderung lokaler Emissionen. So kann eine elektrifizierte Fahrzeugflotte auf der Baustelle in Ballungszentren helfen, Emissionsvorgaben einzuhalten. Politische Vorgaben wiederum können die Elektrifizierung erzwingen.

3.1.2 Schritt 2: Identifikation der wichtigsten Deskriptoren Dem Grundprinzip des vernetzten Denkens (vgl. Gausemeier und Plass 2014, S. 44) folgend, wurden die Deskriptoren anschließend miteinander in Beziehung gesetzt, um mithilfe der Cause-Effect-Matrix potenzielle Abhängigkeiten zu ermitteln. Das Ergebnis

Aktiv

3  Strategische Vorausschau mit Szenarien

Deskriptor B

Deskriptor H

Deskriptor A

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Deskriptor I

Deskriptor G

Deskriptor F

Deskriptor K Deskriptor C

Deskriptor E

Deskriptor D

Deskriptor J

Passiv Abb. 3.2   Beispielhafter System Grid

einer Cause-Effect-Analyse war ein Raster, der sogenannte System Grid, der die Aktivität und Passivität der Faktoren beschreibt. Einen beispielhaften System Grid zeigt Abb. 3.2. Auf Basis des System Grids wurden die Hauptdeskriptoren ausgewählt. Die folgenden Wochen dienten dazu, das Fact Book zu erarbeiten. In dieser arbeitsintensiven Projektphase wurden über das Projektteam hinaus weitere Experten aus dem Unternehmen hinzugezogen, um sicherzustellen, dass eine möglichst breite Wissensbasis als Grundlage für die Szenarien betrachtet wurde. Auch das Management wurde einbezogen, um mögliche Richtungskorrekturen rechtzeitig vornehmen zu können. Ergebnis der Fact Book Recherche waren ein bis zwei PowerPoint-Folien pro Deskriptor, wozu jeweils im Schnitt vier bis acht Studien und Fachberichte analysiert wurden. Diese Vorgehensweise war zwar sehr aufwendig, sorgte aber für eine gute Ergebnisqualität.

3.1.3 Schritt 3: Fact Book Recherche Pro Deskriptor wurden im Fact Book zwei bis vier Deskriptoren erstellt und es wurde grafisch illustriert, wie sich die Deskriptoren voneinander unterscheiden. In Abb. 3.3 sind drei beispielhafte Projektionen für den Deskriptor Fachkräfte dargestellt. Eine Projektion beschreibt die Möglichkeit, dass junge Facharbeiter für die Baubranche gewonnen werden können, so die Verfügbarkeit an Fachkräften steigt und ihr Alter sinkt. Eine weitere, ebenso plausible Entwicklung besteht darin, dass die Überalterung der Fachkräfte weiter steigt und die Verfügbarkeit stagniert. Als dritte mögliche Entwicklung wurde die Option

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S. Schüle et al. hoch

Junge Facharbeiter verstärken die Branche Überalterung der Belegschaft nimmt zu

Verfügbarkeit jung

Altersstruktur

alt

Fachkräftemangel verschärft sich

niedrig

Abb. 3.3   Beispielhafte Projektionen für den Deskriptor Fachkräfte

definiert, dass der Fachkräftemangel sich verschärft, indem die Altersstruktur steigt und zudem die Verfügbarkeit der Spezialisten beispielsweise durch eine Verrentung sinkt, die nicht durch Neueinstellungen ausgeglichen werden kann. Lösungsräume können natürlich nie vollständig abgedeckt werden, aber es sollten alle relevanten Trends und potenziellen Gegentrends betrachtet werden.

3.1.4 Schritt 4: Entwicklung der Szenarien Aus Basis der vorangehenden Analyse konnte das Projektteam wichtige Deskriptoren ermitteln, an denen sich die Zukunft entscheiden wird. Der Megatrend Digitalisierung wird in jedem Fall das Baustellenbild stark verändern. Aber auch neue Materialien und Fertigungsverfahren sind relevante Faktoren, die die Welt von morgen prägen werden. Im Folgenden sind mögliche Szenarien dargestellt, in denen sich zukünftige Akteure am Bau wiederfinden könnten. • Baustellenmanagement in Echtzeit: Eine kostengetriebene Automatisierung kann zu einer vollständigen Remotesteuerung einer Baustelle führen. Dazu werden sich die Erstausrüster deutlich stärker vertikal integrieren und es werden verstärkt Informatiker in der Baubranche benötigt.

3  Strategische Vorausschau mit Szenarien

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• Innovationen für nachhaltiges Bauen: Politisch gesteuerte Nachhaltigkeit ist der übergeordnete Richtungsgeber. Urban Mining und der Einsatz von Recyclingmaterialien schaffen geschlossene, lokale Rohstoffkreisläufe. Die Macht der internationalen Rohstoffgiganten wird dadurch verringert. • Schwellenländer auf der Überholspur: Entwicklungsländer können sich aus technologischer Sicht und aus Sicht der Wertschöpfungskette den westlichen Ländern annähern oder diese auch überflügeln. Die Rolle der asiatischen und afrikanischen Fachkräfte wird diese Entwicklung stark beeinflussen. Beispiel: Transportinfrastruktur in der Stadt der Zukunft

Wohin entwickelt sich wohl die Mobilität der Zukunft? Bleibt das eigene Fahrzeug, das nur wenige Minuten oder Stunden pro Tag genutzt wird, wichtigstes Hauptfortbewegungsmittel der Europäer oder geht der Trend in Ballungsräumen immer mehr zu intelligent vernetzten Systemen? Seamless Mobility könnte unterschiedliche Transportmittel miteinander verknüpfen und so die großen Ballungsräume vor dem Verkehrsinfarkt bewahren. Zukunftsvisionen sehen uns in personalisierten Kapseln, welche nach Bedarf auf einen anderen Untersatz gesetzt werden. Mobiles Arbeiten statt selbst zu fahren kann bald Wirklichkeit werden, wenn autonome Taxis und Schnellbahnen das Stadtbild beherrschen. Aber brauchen wir überhaupt noch so viel Mobilität? Warum können wir in Zeiten von Breitbandinternet und Onlinekonferenzen nicht ganz bequem aus dem Homeoffice arbeiten? Wer braucht noch mehr und breitere Straßen, wenn die Berufspendler in den nächsten Jahrzehnten ein Bild der Vergangenheit sind? Zur Entwicklung der Szenarien wurden konsistente Projektionen mithilfe eines Simulationstools ermittelt. Das Ergebnis ist ein morphologischer Kasten, in dem die Zeilen die unterschiedlichen Projektionen der Deskriptoren darstellen. Bildlich gesprochen legt die Software Pfade durch die unterschiedlichen Projektionen, um konsistente Kombinationen zu ermitteln. Abb. 3.4 zeigt ein entsprechendes Beispiel. Hier wurde ein Rohszenario durch die Kombination der Projektionen „Verschärfung der vorhandenen Gesetze“, „zunehmender Einsatz neuer Medien“ und „steigender Fokus auf nachhaltige Produkte“ generiert. Deskriptoren

Projektionen

Gesetzgebung im Bereich Umwelt

Verschärfung der vorhandenen Gesetze

Neue Gesetze im Bereich Recycling

Online-Handel

Ausbreitung vorhandener Medien

Zunehmender Einsatz neuer Medien

Konsumentenverhalten

Steigender Fokus auf günstige Produkte

Steigender Fokus auf nachhaltige Produkte

Abb. 3.4   Beispielhafte Deskriptoren und Projektionen

Keine wesentliche Veränderung

Steigender Fokus auf regionale Produkte

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3.1.5 Schritt 5: Transfer der Szenarien Die Szenarien wurden in einem einseitigen Worddokument zusammengefasst. Dabei wurde neben der allgemeinen Lage (z. B. politische Randbedingungen) die jeweilige Situation in der Baubranche beschrieben, wie die Wertschöpfungskette und die umgesetzten Geschäftsmodelle. Um die Chancen und Risiken für das Unternehmen besser abschätzen zu können, wurden Gewinner und Verlierer in den jeweiligen Szenarien definiert. Zusätzlich wurde ein Poster entworfen, das die Hauptergebnisse visualisiert. Danfoss hat nun ein klares, einheitliches Bild im Unternehmen, wie mögliche Zukunftsbilder für die Baubranche aussehen (Axel Meister, Director Strategic Marketing, Danfoss GmbH).

Final wurden aus den Szenarien strategische Schritte abgeleitet und in eine Roadmap übersetzt. Damit konnte das Unternehmen für sich festlegen, welche neuen Fahrzeugkonzepte in den nächsten Jahren entwickelt werden, welche neuen Materialien zum Einsatz kommen und welche Softwareumgebungen benötigt werden, um der zunehmenden Digitalisierung Rechnung zu tragen.

3.2 Fallstudienfragen 1. Beschreiben Sie je drei bis vier Vorteile und Herausforderungen der Szenariotechnik. 2. Welche Dimensionen betrachtet eine PESTEL-Analyse und welche anderen Ansätze zur Klassifizierung von Trends gibt es? Fragen Sie Google. 3. Ein Megatrend hat nur eine Projektion. Welche Besonderheiten lassen sich darüber hinaus feststellen? Welche Entwicklungen werden oft als Megatrend bezeichnet? Suchen Sie eine Definition des Phänomens und drei bis vier Beispiele. 4. Führen Sie eine Internetrecherche zu Szenarien durch. Analysieren Sie die gefundenen Beispiele bezüglich Titel und Beschreibung. Wie sind sie formuliert? 5. Erstellen Sie eine Cause-Effect-Matrix zu drei relevanten Deskriptoren für das Fallbeispiel Bauindustrie und füllen Sie die Matrix beispielhaft aus. 6. Erstellen Sie eine kurze Beschreibung (Fact Sheet) für einen der drei Deskriptoren (Definition, aktuelle Sachlage und Projektionen). 7. Spielen Sie den Prozess der Szenariotechnik anhand des fiktiven Beispiels einer anderen Branche spielerisch durch (z. B. Zukunft des Wohnens). – Identifizieren Sie stichwortartig vier bis fünf relevante Deskriptoren inklusive Projektionen. – Beschreiben Sie mit wenigen Worten drei mögliche Rohszenarien, die sich aus den Projektionen ergeben können, und finden Sie geeignete Szenariotitel. 8. Bei der Entwicklung der Szenarien sind Variationen im Prozess möglich. Suchen Sie in der Literatur nach einem Beispiel.

3  Strategische Vorausschau mit Szenarien

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3.3 Lösungshinweise Die folgenden Lösungshinweise sind nur einige der möglichen Antworten auf die Fallstudienfragen. Darüber hinaus kann die beschriebene Fallstudie auch auf weitere Aspekte hin analysiert werden. Zu Frage 1 Vorteile der Szenariotechnik sind 1), dass Szenarien es ermöglichen, auf systematische Weise mit Unsicherheit in Bezug auf relevante Trends umzugehen. Sie bündeln 2) vorhandenes Fachwissen und schaffen 3) bildhafte Visionen, an denen sich Unternehmen orientieren können. Durch die gemeinsame Erarbeitung der Szenarien im Team entsteht 4) ein gemeinsames Verständnis über die Zukunft. Im Ergebnis bieten Szenarien 5) eine gute Grundlage für strategische Schritte wie das Mitverfolgen relevanter Trends. Eine Herausforderung der Szenariotechnik ist 1) der aufwendige Prozess, der mehrere Monate in Anspruch nimmt und der durch ein stabiles interdisziplinäres Team begleitet werden sollte. 2) Für verschiedene Schritte des Prozesses ist der Einsatz spezieller IT-Tools nötig. Darüber hinaus ist 3) der Zugang zu Fachwissen absolut entscheidend. Der Erfolg des Projekts hängt 4) zudem in hohem Maße davon ab, ob die Kommunikation und Weiterverarbeitung der Szenarien am Ende gelingen. Zu Frage 2 Eine PESTEL-Analyse betrachtet Trends aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie, Umwelt und Gesetzgebung (Politics, Economy, Society, Technology, Environment, Legislation). Alternativ zur PESTEL-Analyse kann man auch eine STEEP-Analyse einsetzen, bei der Legislation als Teil des Faktors Politics betrachtet wird. Zu Frage 3 Ein Megatrend beeinflusst verschiedene Bereiche des Lebens, wie Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Er beeinflusst die Welt über viele Jahre hinweg, hat globale Auswirkungen und ist sehr komplex, d. h. mehrschichtig und mehrdimensional (vgl. Zukunftsinstitut 2018). Bekannte Megatrends sind u. a. die Faktoren Urbanisierung, Digitalisierung und demografische Entwicklung.

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Zu Frage 4 Die Shell „New-Lens-Szenarien“ aus dem Jahr 2013 zur Zukunft der Energieerzeugung beschreiben zwei mögliche Zukunftswelten, die mit „Mountains“ und „Oceans“ betitelt sind. Wie die Beispiele zeigen, tragen Szenarien oft bildliche Namen, die der Stimmung der jeweiligen Geschichte gerecht werden. Die Geschichten selbst sind in der Gegenwart geschrieben, also aus der Perspektive eines Beobachters, der seine Welt in der Zukunft beschreibt. Zu Frage 5 Die drei gewählten Deskriptoren sind 1) Fachkräftemangel, 2) Umweltgesetzgebung und 3) neue Materialien. Der Fachkräftemangel hat keinen direkten Einfluss auf die Umweltgesetzgebung und neue Materialien. Wird die Gesetzgebung im Bereich Umwelt verschärft, kann dies jedoch durchaus einen Mangel an entsprechenden Fachkräften nach sich ziehen und auch die Entwicklung und den Einsatz neuer Materialien anstoßen. Durch neue Materialien kann es ebenfalls zu einem Mangel an Fachkräften kommen, wohingegen Auswirkungen auf die Gesetzgebung kaum zu erwarten sind. Fachkräftemangel

Umweltgesetzgebung

Neue Materialien

Fachkräftemangel Umweltgesetzgebung

X

Neue Materialien

X

X

Abb. Beispielhafte Cause-Effect Matrix

Schnell wird ersichtlich, dass die Einschätzungen bei der Bewertung selbstverständlich subjektiv sind. Verschiedene Kernteams werden die Faktoren unterschiedlich bewerten. So kann man sich durchaus auch vorstellen, dass der Einsatz mancher neuer Materialien wie Biodiesel die Gesetzgebung beeinflusst. Wichtig ist, bei der Cause-Effect-Analyse darauf zu achten, dass nur direkte Einflüsse betrachtet werden. Zu Frage 6 Die folgende Abbildung zeigt das beispielhafte Fact Sheet des Deskriptors „Fachkräftemangel im Baugewerbe“:

3  Strategische Vorausschau mit Szenarien

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Definition Als Fachkräfte werden Personen mit anerkanntem akademischem wie auch anerkannter mindestens zweijähriger Berufsausbildung bezeichnet. Der Bedarf an Fachkräften drückt numerisch die Anzahl der benötigten Fachkräfte in einer bestimmten Branche oder einem bestimmten Beruf aus. Von einem Fachkräftemangel kann dann gesprochen werden, wenn die Nachfrage nach Fachkräften über einen längeren Zeitraum nicht mehr ausreichend gedeckt werden kann. (Bundeszentrale für politische Bildung 2014) Aktuelle Sachlage • •



Es besteht aktuell und zukünftig ein erhöhter Bedarf an Fachkräften. 25 % der kleinen Bauunternehmen gaben im Jahr 2013 an, offene Stellen nicht mehr besetzen zu können. Gründe für den Fachkräftebedarf sind die sinkende Zahl an Schulabgängern und die allgemeine demografische Entwicklung. Fast die Hälfte der Beschäftigten im Baugewerbe ist über 45 Jahre alt. Bis zum Jahr 2020 wird mit einem weiteren Rückgang an Nachwuchskräften gerechnet.

(Das deutsche Baugewerbe 2018; Offensive Gutes Bauen 2014) Projektionen Projektion 1: Stark steigender Fachkräftemangel Projektion 2: Stagnierender Fachkräftemangel Projektion 3: Sinkender Fachkräftemangel

Aufgrund der demografischen Entwicklung sowie des Rückgangs an Schulabgängern ist der Bedarf an Fachkräften enorm gestiegen. Mit dem Eintritt vieler altgedienter Fachkräfte in die Rente und dem geringen Nachrücken von Nachwuchskräften ist ein enormer Fachkräftemangel entstanden. Durch die demografische Entwicklung gab es zwar einen Rückgang an Fachkräften, der jedoch durch neue Fachkräfte ausgeglichen werden konnte. Entscheidend hierfür waren bessere Entlohnungen im Baugewerbe und die Migration von Facharbeitern aus dem Ausland. Die Baubranche ist grün und digital – und damit ein hochspannendes Arbeitsfeld, findet zumindest die junge Generation. Neue technische Entwicklungen und eine grundlegende Veränderung des Images der Branche haben dazu geführt, dass sich viele junge Leute aus dem In- und Ausland für den Bereich Bau begeistern.

Abb. Fachkräftemangel im Baugewerbe. (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 2014; Das deutsche Baugewerbe 2018; Offensive Gutes Bauen 2014)

Zu Frage 7 Beispiel „Zukunft des Wohnens“: 1. Deskriptoren und Projektionen – Urbanisierung Steigender Zuzug in die Städte Rückzug aufs Land – Lebensstil Fokussierung auf Nachhaltigkeit Fokussierung auf Wirtschaftlichkeit

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– Arbeitswelt Neue Arbeitsformen durch Digitalisierung Beschleunigung durch Digitalisierung – Soziale Infrastruktur Stärkung der sozialen Dienstleistungen auf dem Land Entwicklung neuer Dienstleistungen in den Städten 2. Rohszenarien A) Stadt-Oasen. Nachhaltiges Wohnen in der Stadt In den Städten entsteht durch massive Förderung öffentlicher und privater Investoren neuer, nachhaltiger Wohnraum für Menschen aller Generationen. Die Stadt ist durch innovative soziale Dienstleistungen wie internationale Kindertagesstätten mit 24-h-Betreuung und die starke Einschränkung des Individualverkehrs zum bevorzugten Wohnraum junger Familien mit ökologischem Mindset geworden. Viele mittelständische Unternehmen auf dem Land kämpfen mit massivem Fachkräftemangel. Trotz Digitalisierung herrscht in den meisten Unternehmen weiterhin Präsenzkultur, die Arbeit hat sich lediglich beschleunigt. B) Lust aufs Land. Abkehr von den Städten Die zunehmende Digitalisierung hat vielen Menschen ein ortsunabhängiges Arbeiten ermöglicht, vom Büroangestellten bis hin zum Arbeiter in der Produktion, der Aufträge von mobilen Endgeräten aus steuert. Unterstützt durch den Trend zum mehr Nachhaltigkeit hat dies zu einem zunehmenden Rückzug aufs Land geführt. Vor allem die junge Generation und viele Rentner setzen auf das Eigenheim im Grünen, auch da dort eine starke Verbesserung der Versorgung mit ökologisch orientierten Kindergärten und hochflexiblen Pflegediensten stattgefunden hat. C) Zwei Welten. Trennung von Stadt und Land Die zunehmend schwierige wirtschaftliche Lage hat zu einer Abkehr von ökologischen Zielen geführt, im Vordergrund steht die Sicherung des Lebensunterhalts. Arbeitskräfte zieht es trotz Wohnraummangels weiterhin in die Stadt, die mehr Job-Chancen bietet und eine bessere Versorgung mit sozialen Dienstleistungen. Auf dem Land bleiben die vielen Rentner und Arbeitslosen zurück, die bei der zunehmenden Beschleunigung der Arbeitswelt durch die Digitalisierung abgehängt wurden. Zu Frage 8 Neben dem beschriebenen Bottom-up-Prozess ist auch ein Top-down-Prozess möglich, bei dem zunächst Szenarien definiert und dann mit Daten angereichert werden (vgl. Fink und Siebe 2016, S. 53).

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Literatur Bundeszentrale für politische Bildung. (2014). Fachkräftemangel. http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/178757/fachkraeftemangel?p=all. Zugegriffen: 29. Juli 2018. Das deutsche Baugewerbe. (2018). Fachkräftesicherung in der Bauwirtschaft. https://www.zdb.de/ zdb-cms.nsf/id/fachkraeftesicherung-de. Zugegriffen: 29. Juli 2018. Fink, A., & Siebe, A. (2016). Szenario Management. Von strategischem Vorausdenken zu zukunftsrobusten Entscheidungen. Frankfurt a. M.: Campus. Gausemeier, J., & Plass, C. (2014). Zukunftsorientierte Unternehmensgestaltung: Strategien, Geschäftsprozesse und IT-Systeme für die Produktion von morgen (2. Aufl.). München: Hanser. Offensive Gutes Bauen. (2014). Fachkräfte gewinnen – Bauqualität sichern. https://www.inqa. de/SharedDocs/PDFs/DE/Publikationen/fachkraefte-gewinnen-bauqualitaet-sichern.pdf?__ blob=publicationFile&v=1. Zugegriffen: 29. Juli 2018. Stiepelmann, H. (2018). Umsatzprognose 2018. Die deutsche Bauindustrie. https://www.bauindustrie.de/presse/presseinformationen/umsatzprognose-2018. Zugegriffen: 29. Juli 2018. Zukunftsinstitut. (2018). Megatrends und ihre Wirkung. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/ megatrends-und-ihre-wirkung. Zugegriffen: 29. Juli 2018.

Stephan Schüle (Dipl.-Ing.)  ist seit 2006 als Senior Consultant und Projektleiter am Fraunhofer IAO tätig. Er studierte Maschinenbau an der Universität Stuttgart. Im Rahmen seiner Tätigkeit bei Fraunhofer leitet und führt er verschiedene nationale und internationale Beratungsund Forschungsprojekte in den Themenkomplexen Unternehmensentwicklung und Geschäftsmodellentwicklung, Zukunftsszenarien, integriertes Roadmapping, strategisches Innovationsmanagement und Product-Lifecycle-Management durch. Für die Fraunhofer Gesellschaft ist er auch als Trainer im Zertifikatslehrgang PLM Professional tätig und führt regelmäßig Schulungen und Praxisvorträge für Unternehmen durch. Seine internationale Erfahrung umfasst verschiedene europäische Länder, aber auch Länder wie Australien, Brasilien oder Malaysia. Liza Wohlfart (M.A.)  ist Senior Consultant und Projektleiterin am Fraunhofer IAO sowie Leiterin des Zentrums für frugale Produkte und Produktionssysteme. Schwerpunkt ihrer Expertise sind die Themen Innovations- und Technologiemanagement, insbesondere strategische Vorausschau, frugale Innovationen und der Faktor Mensch in der Forschung und Entwicklung. In ihren Forschungs- und Beratungsprojekten hat Liza Wohlfart weltweit Unternehmen bei ihren Entwicklungsvorhaben begleitet, u. a. in Brasilien, Russland, Malaysia, Australien, der Türkei und verschiedenen europäischen Staaten, und dabei ebenso mit großen Konzernen zusammengearbeitet wie mit kleinen Mittelständlern. Liza Wohlfart ist Trainerin im Zertifikatslehrgang PLM Professional. Darüber hinaus hält sie regelmäßig Vorträge und Vorlesungen zu Themen des Innovationsmanagements, veranstaltet Seminare und ist Autorin zahlreicher Fachpublikationen. Zurzeit baut sie am Fraunhofer IAO ein Labor für frugale Produkte auf.

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S. Schüle et al. Jonathan Masior (Dipl.-Ing.)  ist seit 2013 als Senior Researcher und Projektleiter des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement der Universität Stuttgart und des Fraunhofer IAO tätig. Er studierte Technologiemanagement an der Universität Stuttgart mit den Schwerpunkten Technologiemanagement und Forschungsund Entwicklungsmanagement. Vor seiner Tätigkeit bei Fraunhofer arbeitete er im Bereich Softwareentwicklung und Technologiemanagement eines deutschen Spezialisten für Innovationsmanagement mit langjähriger Erfahrung im Patentmanagement (IPR Systems UG). Er ist Experte für F&E-Management mit den Schwerpunkten strategische Vorausschau und Prozessmanagement sowie innovative IT-Systeme in der Produktentwicklung wie CAD- und PLM-Lösungen. Seine Erfahrung umfasst die Branchen Automotive, Weißwarenindustrie, Maschinenbau, Medizintechnik und Werkzeugindustrie.

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Erfolgreiches Roadmapping: Der HaloEffekt einer guten Visualisierung Sven Schimpf und Claus Lang-Koetz

Inhaltsverzeichnis 4.1 Die Roadmap Umwelttechnik Baden Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.1.1 Einleitung und Motivation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.1.2 Fokus Umwelttechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.1.3 Den Trends auf der Spur: Von der Datensammlung zur Visualisierung. . . . . . . . . . 44 4.1.3.1 Sekundäranalyse: Trends und Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.1.3.2 Expertenworkshops: Validierung und Ergänzung des Gesamtbilds. . . . . 45 4.1.3.3 Auswertung: Erste Bewertung und Fokussierung im Projektteam. . . . . . 46 4.1.3.4 Experteninterviews: Validierung und Detaillierung der Trends. . . . . . . . 46 4.1.3.5 Konsolidierung: Finalisierung der Trend-Datenblätter. . . . . . . . . . . . . . . 47 4.1.3.6 Visualisierung: Basis für Kommunikation und Umsetzung. . . . . . . . . . . 48 4.1.4 Ergebnisse der Roadmap. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4.1.5 Nutzung der Roadmap. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.1.6 Fazit und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

Die Autoren danken der Umwelttechnik BW GmbH für die Förderung des Roadmap-Projekts und Dr.-Ing. Hannes Spieth, Dr.-Ing. Anette Zimmermann, Florian Sorg und Anja Schröder für die angenehme und erfolgreiche Zusammenarbeit. S. Schimpf ()  Fraunhofer Verbund Innovationsforschung, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Lang-Koetz  Hochschule Pforzheim, Pforzheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_4

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S. Schimpf und C. Lang-Koetz Zusammenfassung

Das wachsende Bewusstsein für Umweltschutz und Ressourceneffizienz führt dazu, dass Umwelttechnologien zunehmend an Bedeutung gewinnen. Baden-Württemberg ist eine der aktivsten Regionen in der Umwelttechnik, insbesondere durch sein Netzwerk von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Umwelttechnik BW GmbH, die Landesagentur für Umwelttechnik und Ressourceneffizienz Baden-Württemberg. Ihre Hauptaufgabe ist es ist, Unternehmen der Branche zu unterstützen, insbesondere dadurch, dass sie Forschungseinrichtungen und Industrie zusammenführt und den Informationsfluss zwischen ihnen verbessert.

4.1 Die Roadmap Umwelttechnik Baden Württemberg 4.1.1 Einleitung und Motivation Die Visualisierung als Darstellungsform wird in Roadmaps für Unternehmen und andere Organisationen oft vernachlässigt. Für die Kommunikation und die Akzeptanz ist sie jedoch ein wesentlicher Stellhebel und Erfolgsfaktor. Nicht nur auf den ersten Blick werden von der Qualität der Visualisierung oftmals Rückschlüsse auf die Qualität der Inhalte abgeleitet – auch wenn zwischen beidem kein direkter Zusammenhang besteht. (Dr. Hannes Spieth, Geschäftsführer Umwelttechnik BW GmbH).

Das wachsende Bewusstsein für Umweltschutz und Ressourceneffizienz führt dazu, dass Umwelttechnologien zunehmend an Bedeutung gewinnen. Baden-Württemberg ist eine der aktivsten Regionen in der Umwelttechnik, insbesondere durch sein Netzwerk von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Eine zentrale Rolle spielt hierbei die Umwelttechnik BW GmbH, die Landesagentur für Umwelttechnik und Ressourceneffizienz Baden-Württemberg (Umwelttechnik BW). Ihre Hauptaufgabe ist es ist, Unternehmen der Branche zu unterstützen, insbesondere dadurch, dass sie Forschungseinrichtungen und Industrie zusammenführt und den Informationsfluss zwischen ihnen verbessert. Die Landesagentur initiierte daher eine Studie zur strategischen Vorausschau, um die wichtigsten zukünftigen Entwicklungen in der Umwelttechnik in Bezug auf Markt und Technologie aufzuzeigen. Diese sollte einen Wert nicht nur für ein bestimmtes Unternehmen, sondern auch für eine gesamte Branche in ausgewählten Technologiefeldern generieren. Ziel war dabei, eine Roadmap (eine Darstellung von Orientierungsinformationen über ein komplexes und zukunftsorientiertes Themenfeld) zu entwickeln. Die vorgestellte Roadmap wurde gemeinsam von der Umwelttechnik BW, dem Fraunhofer-­Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO und dem Institut für Industrial Ecology (INEC) der Hochschule Pforzheim entwickelt.

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Dabei wurde sowohl an der Methodik als auch an der Struktur der Roadmap gearbeitet, um Unternehmen in Baden-Württemberg einen Überblick über die wichtigsten Technologie- und Markttrends im Bereich der Umwelttechnologien mit besonderem Fokus auf die Leitmärkte „Wasser“, „Kreislaufwirtschaft“ und „Luft“ zu geben. Folgende Zielsetzung wurde festgelegt: • Die integrierte Technologie-Roadmap soll Umwelttechnik BW eine sichere Basis für die Planung ihres zukünftigen strategischen Handelns bieten. • Sie soll als strategische Orientierungshilfe für die relevanten Akteure im Land, insbesondere KMU, Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen (FuE-Einrichtungen) und politische Entscheidungsträger (als Stakeholder der Landesagentur) dienen und deren Zukunftsplanung unterstützen. Die Ergebnisse der Roadmap können somit Auswirkungen auf die politische Diskussion im Land, die FuE-Planung in Unternehmen und FuE-Einrichtungen haben. Im Rahmen dieses Beitrags wird aufgezeigt, welche Methoden zur Entwicklung der Roadmap angewandt wurden. Praktiker im Bereich des Technologie-­ Roadmappings können diese als Hilfestellung nutzen, insbesondere für die Fälle, in denen eine ­ ­Roadmap über Unternehmens- oder sogar Branchengrenzen hinweg erstellt werden soll (entsprechend Schimpf et al. 2017).

4.1.2 Fokus Umwelttechnik Umwelttechnik und Ressourceneffizienz ist ein wichtiges Wachstumsfeld für Baden-Württemberg. Umwelttechnik wird dabei verstanden als technische Verfahren zur Verringerung von Umweltbelastungen und zum Schutz der Umwelt, einschließlich daraus resultierenden Gütern und Dienstleistungen. Dies beinhaltet vor- und nachsorgende Umwelttechnik, nachgeschaltete Lösungen sowie Techniken zur Umweltüberwachung. Im Rahmen der „Roadmap Umwelttechnik“ wurde der Fokus auf die Themenfelder Wasser, Kreislaufwirtschaft und Luft gelegt, die in diesem Rahmen als Leitmärkte bezeichnet werden: • Der Leitmarkt „Wasser“ umfasst den Kreislauf des Wassers von der Gewinnung bis zur Abwasserbehandlung. Kommunale und industrielle Abwasserreinigung stellen dabei wichtige Elemente dar. Im Vergleich zum Verständnis in anderen Veröffentlichungen wird hier Wasser als Ressource verstanden. • Der Leitmarkt „Kreislaufwirtschaft“ umfasst die Teilgebiete Abfalldeponierung, Abfallsammlung, -transport, -trennung und Abfallverwertung. Verpackungslösungen und Verpackungsnutzung sind nicht Gegenstand der Untersuchungen.

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• Zum Leitmarkt „Luft“ gehören die Themen Abluftreinigung und -messung, Filtertechnik und Katalysatoren. Besonderes Augenmerk wird auf Katalysatoren in F ­ abriken sowie in Kleinfeuerungsanlagen, Großfeuerungsanlagen, Kraftwerken und der Energie­ gewinnung im Allgemeinen gelegt. Verkehrsemissionen, Gebäudetechnik und Klimatisierung werden hingegen nicht betrachtet.

4.1.3 Den Trends auf der Spur: Von der Datensammlung zur Visualisierung Roadmapping ist eine Vorgehensweise, die bereits seit vielen Jahren in Industrie und Forschung etabliert ist (vgl. Barker und Smith 1995, S. 22 f.; Farrukh et al. 2003, S. 7 f.; Groenveld 1997, S. 48 f.; Phaal 2004, S. 130). Roadmaps werden in Unternehmen im Wesentlichen für die Planung von Produkten, Technologien und Projekten eingesetzt. Zu den drei relevantesten Herausforderungen gehören dabei (vgl. Abele und Schimpf 2016): • die Schaffung eines ganzheitlichen Verständnisses von Roadmapping, • der Aufbau systematischer Prozesse, • die Verfügbarkeit von Ressourcen. Der anvisierte Zeithorizont der Technologie-Roadmap, in dem die Leitmärkte aus einer systemischen Perspektive analysiert und relevante Entwicklungen dargestellt werden sollen, betrug 15 Jahre. Basierend auf der Zielsetzung von Umwelttechnik BW und den Herausforderungen einer hohen Anzahl an Akteuren kombiniert mit limitierten Ressourcen wurden bestehende Roadmapping-Methoden angepasst und weiterentwickelt. Der vorgestellte Ansatz kombiniert zu diesem Zweck Aspekte bestehender Roadmapping-Methoden mit denen der organisationsübergreifenden strategischen Planung und des Trendmanagements (vgl. beispielsweise Barker und Smith 1995; Carvalho et al. 2013). Die wesentlichen Schritte der Vorgehensweise sind in Abb. 4.1 dargestellt. Aufgrund der begrenzten Ressourcen, kombiniert mit dem Ziel einer Maximierung der Informationsqualität, wurde eine Kombination von Sekundär- und Primärinformationen genutzt. Sekundärinformationen werden hierbei als bereits erfasste oder dokumentierte Informationen komplementär zu eigenständig erhobenen Primärinformationen verstanden (vgl. Bamberg und Baur 1980, S. 9). Durch dieses Vorgehen konnten sowohl bereits dokumentierte Informationen als auch spezifisches Experten-Know-how in der Roadmap genutzt werden. Die in der Abb. 4.1 dargestellten sechs Schritte der Vorgehensweise werden im ­Folgenden weitergehend beschrieben.

4  Erfolgreiches Roadmapping: Der Halo-Effekt … 1. Sekundäranalyse

2. Expertenworkshops

3. Auswertung

45 5. Konsolidierung

4. Experteninterviews

6. Visualisierung

Abb. 4.1   Wesentliche Schritte zur Entwicklung der Roadmap Umwelttechnik

4.1.3.1 Sekundäranalyse: Trends und Entwicklungen Ziel dieses ersten Schritts war es, einen Überblick über Trends und Entwicklungen auf dem Gebiet der Umwelttechnologien als Grundlage für die Identifikation von Experten und die Vorbereitung der Workshops zu erhalten. Hierzu wurden Sekundärinformationen in den Leitmärkten „Kreislaufwirtschaft“ gesammelt: aktuelle Studien (bezüglich Technologien und Märkte), Veröffentlichungsthemen ausgewählter Forschungsinstitute sowie Themen und Vorträge aktueller Fachkonferenzen. Eine wichtige Grundlage stellte eine frühere Studie mit einem umfassenden Überblick über die zu erwartenden zukünftigen Entwicklungen im Bereich der Umwelttechnologien bis zum Jahr 2020 dar (Roadmap Umwelttechnologien 2020, vgl. Schippl et al. 2009). Darüber hinaus wurden erste Gespräche mit Experten, die an der Erstellung sekundärer Informationsquellen beteiligt waren, aufgenommen, um Einblicke in die neuesten Entwicklungen und Trends zu erhalten. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse dienten zur Erstellung der Struktur einer Technologie-Markt-Matrix für jeden Leitmarkt. Diese Matrizen stellten einen wichtigen Input für die gezielte und fokussierte Diskussion in den Expertenworkshops dar und lieferten die Grundlage für die leitmarktspezifische thematische Priorisierung. 4.1.3.2 Expertenworkshops: Validierung und Ergänzung des Gesamtbilds Für jeden der drei Leitmärkte wurde ein eintägiger Workshop mit Experten aus Unternehmen und Forschungseinrichtungen durchgeführt. An diesen Workshops nahmen insgesamt 20 Experten teil. Folgende Themen wurden in den Workshops bearbeitet: • Prüfung und Vervollständigung der Trends: Relevante Trends des jeweiligen Leitmarkts wurden diskutiert und ergänzt. Dabei wurden zunächst Trends in Form einer Walkthrough-Messe gesammelt, bei der jeder Teilnehmer Trends individuell notieren und sich von den Inputs der anderen Teilnehmer inspirieren lassen konnte. Schließlich wurden die gesammelten Trends in der gesamten Gruppe diskutiert und ergänzt, um ein gemeinsames Verständnis zu schaffen und es jedem Experten zu ermöglichen, auf die gesammelten Inhalte zu reagieren.

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• Klassifikation der Trends: Die Trends wurden innerhalb der Klassifikationsschemata zugeordnet, wobei insbesondere zwischen Markt- und Technologietrends unterschieden wurden. • Spezifikation ausgewählter Trends: Trendbeschreibung wurden durch mögliche Entwicklungsrichtungen und die Bezugnahme auf relevante Organisationen oder Experten detailliert. Die Workshops wurden mit einer Priorisierung der identifizierten Trends aus der Perspektive der Teilnehmer abgeschlossen.

4.1.3.3 Auswertung: Erste Bewertung und Fokussierung im Projektteam Die Trends wurden nach Auswertung der Workshop-Ergebnisse in Kombination mit den Ergebnissen der Sekundäranalyse bewertet und unter Berücksichtigung der Mission und Strategie von Umwelttechnik BW fokussiert. Auf dieser Basis wurden erste Entwürfe von Trend-Datenblättern entwickelt, die in die folgenden Kategorien untergegliedert wurden (vgl. auch Warschat et al. 2015, S. 63 f.): • • • • • • •

ein qualitativ-beschreibendes Element, eine Liste der relevanten Treiber des Trends, die Darstellung der Barrieren des Trends, eine Spezifikation des relevanten Leitmarktes, eine Liste der beschreibenden Schlüsselwörter, die Beschreibung von Auswirkungen und Konsequenzen des Trends, eine Liste potenzieller Einsatzgebiete sowie Chancen und Risiken, insbesondere für Technologietrends.

Darüber hinaus wurden der Zeithorizont, die Relevanz des Trends sowie die Differenzierung in Technologie- und Markttrends in die Beschreibung der Trends integriert. Ein wesentlicher Aspekt in jedem Leitmarkt war die Differenzierung nach Technologiefeldern und Marktsegmenten, denen jeder der identifizierten Trends zugeordnet wurde.

4.1.3.4 Experteninterviews: Validierung und Detaillierung der Trends Ziel der Experteninterviews war es, die identifizierten Trends zu validieren, detaillierter zu beschreiben und ihre Relevanz für Umwelttechnik BW sowie betroffene Märkte und Unternehmen entsprechend dem Zeithorizont zu bewerten. Hierzu wurde ein halbstrukturierter Interviewleitfaden verwendet und jeweils durch einzelne, trendspezifische Fragestellungen ergänzt. 17 Experten wurden vom Projektteam identifiziert und entsprechend ihrer Expertise den Trends zugeordnet. Voraussetzung war, dass jeder Experte über Markt- und/oder Technologiekenntnisse in mindestens zwei der Trends verfügt. Darüber hinaus wurde

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jeder Trend mindestens zwei Experten zugeordnet, um der Abhängigkeit von einzelnen Meinungen vorzubeugen. Anschließend wurden die Experten kontaktiert und Interviews mit ihnen im persönlichen Gespräch oder am Telefon geführt. Die Entwürfe der Trend-Datenblätter wurden mit den Experten diskutiert, um ihre Kernaussagen zu validieren und sie weiter zu detaillieren. In diesen Interviews standen die folgenden Fragen im Mittelpunkt: • Grundsätzliche Validierung: Sind Sie mit dem Trend im Allgemeinen einverstanden, können Sie den Trend mit eigenen Worten beschreiben? • Detaillierung: Welche Themen gehören zum angegebenen Trend? Welche Treiber verstärken den Trend? Gibt es Barrieren, die den Trend behindern? • Zeitliche Einordnung: An welchem Punkt stehen wir heute, wie wird sich das Thema in Zukunft entwickeln, wann wird sich der Trend (im Land Baden-Württemberg) einstellen? • Relevanzbewertung: Wie wichtig ist die angenommene Entwicklung für das Land Baden-Württemberg und insbesondere für die Wirtschaft und FuE-Einrichtungen? Die Ergebnisse wurden für die weitere Einarbeitung und Konsolidierung in den Trend-Datenblättern dokumentiert und zusammengefasst.

4.1.3.5 Konsolidierung: Finalisierung der Trend-Datenblätter Die gesammelten Trends wurden in ihrer Gesamtheit durch das Projektteam analysiert und ihre Relevanz sowie ihre Implikationen für das Land Baden-Württemberg. bewertet. Hierzu wurden die folgenden Bewertungskategorien verwendet: • Wirtschaftliches Potenzial: Wirtschaftliches Potenzial das durch den Trend insbesondere in oder für Unternehmen aus Baden-Württemberg entstehen kann. • Anwendungsspektrum: Spektrum an möglichen Anwendungen, die von dem Trend betroffen sind. • Reduzierung der Umweltbelastung: Priorisierung der Trends, deren Auswirkungen ein hohes Potenzial zur Reduzierung von Umweltbelastungen haben. • Technologiestärke: Technologiestärke von FuE-Einrichtungen und Industrie in Baden-Württemberg. • Relevanz: Relevanz für Zielgruppen von Umwelttechnik BW. Auf Basis der Ergebnisse der Experteninterviews und der projektinternen Analyse wurden Trends mit geringer Relevanz für diese Kategorien aussortiert. Die als relevant priorisierten Trends wurden für die weitere Verwendung jeweils in einem Trend-Datenblatt final beschrieben. Neben der finalen Beschreibung wurde eine Cross-Impact-Analyse durchgeführt, um Zusammenhänge innerhalb und zwischen den einzelnen Leitmärkten zu identifizieren und die im System bedeutsamsten Trends zu identifizieren.

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4.1.3.6 Visualisierung: Basis für Kommunikation und Umsetzung Im Vordergrund der Visualisierung stand die Zielsetzung, dass die entwickelte Roadmap von Umwelttechnik BW zur eigenen strategischen Planung und zur strategischen Orientierung von FuE- Einrichtungen und Unternehmen eingesetzt werden soll. Dementsprechend wurden verschiedene Visualisierungskonzepte erarbeitet und durch ein Force-Atlas-Diagramm ergänzt (vgl. beispielsweise Khokhar 2015, S. 70 f.) das die Ergebnisse der Cross-Impact-Analyse darstellt (siehe Abb. 4.2). Insbesondere die enge Verknüpfung der Leitmärkte „Kreislaufwirtschaft“ und „Wasser“, ebenso wie der eher geringe Zusammenhang mit Trends im Bereich des Leitmarktes „Luft“ konnte hierdurch verdeutlicht werden. Mit den Informationen aus den Trend-Datenblättern, der Cross-Impact-Analyse und den Möglichkeiten der Roadmap-Visualisierung wurde die endgültige Roadmap von der Agentur tat.sache Studio für Kommunikation visualisiert (siehe Abschn. 4.1.4) und in gedruckter und elektronischer Form veröffentlicht (vgl. Umwelttechnik BW 2017). Zusätzlich wurde durch die Agentur ein Software-Tool entwickelt. Es enthält die Visualisierung der Roadmap und alle Trend-Datenblätter und kann individuelle grafische Auswertungen erstellen. So können beispielsweise alle Trends mit einer hohen Relevanz und/oder einem Zeithorizont von 0 bis 5 Jahren dargestellt werden. Dies ermöglicht die kontinuierliche Weiterentwicklung sowie die Darstellung von zielgruppengerechten, ausgewählten Inhalten basierend auf Anforderungen einzelner Unternehmen.

Abb. 4.2   Force-Atlas-Diagramm der Zusammenhänge zwischen den final ausgewählten Trends auf Basis einer Cross-Impact-Analyse zwischen den Leitmärkten Luft (L), Wasser (W) und Kreislaufwirtschaft (K)

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4.1.4 Ergebnisse der Roadmap Die Roadmap besteht aus 31 Trends in den drei Leitmärkten Wasser, Kreislaufwirtschaft und Luft. Der Leitmarkt „Wasser“ (abgekürzt mit dem Buchstaben „W“) wurde in folgende Bereiche gegliedert: • • • • • •

A: Abwasserreinigung B: Effiziente Wassernutzung C: Wassergewinnung und -aufbereitung D: Wassernetze E: Wasserschutz Ü: Übergreifende Trends

Die Trends im Leitmarkt Kreislaufwirtschaft (abgekürzt mit dem Buchstaben „K“) sind nach den folgenden Kategorien gegliedert: • • • •

A: Abfalldeponierung B: Abfallsammlung, -transport und -trennung C: Abfallverwertung Ü: Übergreifende Trends

Die Trends im Leitmarkt Luft (abgekürzt mit dem Buchstaben „L“) sind nach den folgenden Kategorien gegliedert: • A: Abluftreinigung und Messung • B: Filtertechnik und Katalysatoren • Ü: Übergreifende Trends Die ermittelten Trends wurden in der Roadmap mit Codes versehen, die sie einem Leitmarkt und einer Kategorie in einem Leitmarkt zuordnen, z. B. „W.A.01“ oder „K.C.01“. Die Visualisierung erfolgte in Anlehnung an ein Radarbild. Dies spiegelt den Fokus der Roadmap auf die Trend-Hypothesen und nicht auf Produkte oder die anschließende Anordnung der Trends innerhalb der Zeitachse wider. Die erarbeitete Roadmap mit den wichtigsten grafischen Elementen findet sich in Abb. 4.3. Sie ist folgendermaßen ­aufgebaut: • Die ermittelten Trends sind kreisförmig angeordnet und dabei in die drei Leitmärkte eingeteilt, von denen jeder in einer eigenen Farbe dargestellt ist. • Es wird unterschieden in Markt- und Technologietrends oder eine Kombination daraus. Technologietrends sind dabei grau gekennzeichnet, Markttrends schwarz.

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Abb. 4.3   Entwickelte Roadmap Umwelttechnik. (© Umwelttechnik BW GmbH)

• Der Zeithorizont ist eingeteilt in die Zeitscheiben 0 bis 5 Jahre, 5 bis 10 Jahre und 10 bis 15 Jahre, wobei der größere Abstand vom Mittelpunkt des Bilds einen größeren Zeitabstand bedeutet. • Die Trendrelevanz ist dargestellt, indem ein Trend mit der jeweiligen Farbe des Trends (schwarz, grau oder schwarz/grau) auf einer fünfstufigen Skala markiert ist. Die in der Cross-Impact-Analyse identifizierten Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Trends sind im Zentrum der Roadmap dargestellt. Auf Wunsch von Umwelttechnik BW wird die detaillierte Trendliste nur ausgewählten Akteuren in Baden-Württemberg zur Verfügung gestellt. Daher können hier nur Beispiele für identifizierte Trends aufgezeigt werden:

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• W.A.01 Bedeutung des Themas Energieeffizienz von Kläranlagen (kommunal) steigt (Markttrend, 5 bis 10 Jahre, hohe Relevanz) • W.Ü.01 Wirkungsweise und Effizienz von physikalischen Trennverfahren verbessern sich (Technologietrend, 0 bis 10 Jahre, mittlere bis hohe Relevanz) • K.C.02 Elektroschrott-Recycling: Zunahme der Anwendung (Markttrend, 0 bis 5 Jahre, hohe Relevanz) • K.C.03 Photovoltaik-Recycling: Zunahme der Anwendung/zunehmende Technologieentwicklung (Markt- und Technologietrend, 0 bis 10 Jahre, hohe Relevanz) • L.A.03 Verfahren zur Abscheidung von Quecksilber werden entwickelt und verbreiten sich weiter (Markt- und Technologietrend, 5 bis 10 Jahre, Relevanz mittel bis hoch) • L.Ü.01 Weitere Verbreitung von Verfahren zur Energierückgewinnung aus der Abluft (Markttrend, 0 bis 15 Jahre, mittlere bis hohe Relevanz) Alle 31 Trends wurden in Trend-Datenblättern beschrieben und mit Schlüsselwörtern versehen. Dies ist beispielhaft in Abb. 4.4 dargestellt.

4.1.5 Nutzung der Roadmap Die Umwelttechnik BW präsentierte die entwickelte Roadmap in einer ersten Kommunikationsmaßnahme auf dem „Forum Umwelttechnik“ am 11. Mai 2017 in Stuttgart. Dabei wurden die Ergebnisse vom Projektteam kurz vorgestellt. Einige Unternehmen und Forschungseinrichtungen stellten durch fachliche Impulsvorträge ausgewählte Trendthemen aus ihrer Perspektive dar, um die Relevanz der Trends zu unterstreichen. Weiterhin wurde die Roadmap auf dem 6. Ressourceneffizienz- und Kreislaufwirtschaftskongress Baden-Württemberg im Oktober 2017 einem breiten Publikum präsentiert. Die Roadmap wird in gedruckter und elektronischer Form interessierten Nutzern auf Anforderung zur Verfügung gestellt. Somit kann sie zur strategischen Orientierung von FuE-Einrichtungen und von Unternehmen eingesetzt werden. Darüber hinaus wird die Roadmap von Umwelttechnik BW zur eigenen strategischen Planung eingesetzt. Die Fachverantwortlichen leiten nach der aktiven Beschäftigung mit ausgewählten Markt- und Technologietrends geeignete Handlungsfelder und Aktivitäten ab. Daraus resultierende Aktivitäten sind insbesondere: • die Organisation von Workshops mit Unternehmen und Forschungsinstituten zur Erarbeitung von Ideen für neuartige Produkte, Verfahren oder Geschäftsmodelle, • die Suche geeigneter Partner für Unternehmen und Forschungsinstitute, • die Initiierung von Förderprojekten für Innovationsvorhaben, • die Durchführung thematischer Veranstaltungen (z. B. „After Work Events“), • das Anbieten von Schulungen.

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Abb. 4.4   Beispiel für ein Trend-Datenblatt aus der erarbeiteten Roadmap (gegliedert in: Ausprägung und Beschreibung, Treiber, Barrieren, Leitmarkt, Stichworte, Bedeutung und Auswirkung sowie Einsatzgebiete, Chancen und Risiken (für Technologien). (© Umwelttechnik BW GmbH)

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In einer kontinuierlichen strategischen Beobachtung werden Informationen zu den ermittelten Trends gesammelt, gemäß der Strukturierung in der Roadmap abgelegt und in regelmäßigen Abständen ausgewertet. Bei Bedarf können auch neue Trends ergänzt werden.

4.1.6 Fazit und Ausblick Die Bedeutung von Roadmapping als Kommunikations- und Planungsinstrument ist in Unternehmen gestiegen, begründet durch eine steigende Komplexität der Innovationssysteme. Dies ist z. B. einer steigenden Anzahl an Beteiligten, einem überproportionalen Wachstum an Technologien sowie einer zunehmenden technologischen Konvergenz geschuldet. Sich abzeichnende zukünftige Entwicklungen wie z.  B. eine weiter ansteigende Digitalisierung oder die nutzerzentrierte Integration von Wertschöpfungssystemen (vgl. Fraunhofer-Verbund Innovationsforschung 2018) werden voraussichtlich zu einem verstärkten Einsatz von Roadmaps als strategischem Planungsinstrument führen – in Unternehmen und unternehmensübergreifend. Die zur Entwicklung der Roadmap Umwelttechnik genutzte Methodik kann die Grundlage für ähnliche Roadmap-Projekte in anderen Bereichen sein: Ein Kernaspekt ist dabei, dass die Umwelttechnik-Community in Baden-Württemberg über die Einbindung relevanter Akteure in Workshops und Experteninterviews direkt in den Arbeitsprozess eingebunden wurde. Da die Roadmap nicht für ein bestimmtes Unternehmen, sondern für verschiedene Stakeholder mit unterschiedlichen Interessen erstellt wurde, musste die gängige Methodik weiterentwickelt werden (aufbauend auf den Erkenntnissen einer Studie zur praktischen Anwendung von Roadmapping in der Industrie aus Abele und Schimpf 2016). So wurde die Vorgehensweise unabhängig von konkreten Projekten in Forschung und Entwicklung oder Marktaspekten durchgeführt. Die besondere und für manche Betrachter etwas ungewöhnliche Visualisierung führte zu einem gesteigerten Interesse an der Roadmap. Sie wurde im Außenraum äußerst positiv aufgenommen – und direkt als wichtiger Input für Unternehmen mit Aktivitäten im Bereich Umwelttechnik wahrgenommen. Insofern kann hier von einem „Halo-Effekt“ gesprochen werden: Dieser beschreibt das Phänomen, dass die Qualität einer Eigenschaft auf die wahrgenommenen Qualitäten anderer Eigenschaften abstrahlt. Die viel zitierte Wirkung einer guten Visualisierung führte also dazu, dass die fachlichen Inhalte der Roadmap besser beachtet und akzeptiert wurden. Für die Praxis bedeutet dies, dass die oft aufwendigen Aktivitäten zur Visualisierung am Ende eines Roadmapping-Prozesses einen großen Nutzen für die Kommunikation und die Akzeptanz der Ergebnisse haben, einen wichtigen Erfolgsfaktor darstellen und nicht vernachlässigt werden sollten.

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Vorstellbar wäre in diesem Kontext als nächster Schritt jedoch noch die dezentrale Orchestrierung der Inhalte für eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Aktualisierung. Diese ist derzeit periodisch in definierten Zeitabständen geplant.

4.2 Fallstudienfragen 1. Recherchieren und definieren Sie das Phänomen des Halo-Effekts. Wo liegt der Ursprung des Begriffs und wie wird dieser in einem betriebswirtschaftlichen Kontext verwendet? Erläutern Sie das Phänomen anhand von drei Beispielen aus Ihrem persönlichen oder beruflichen Umfeld. 2. Welche Zielstellung verfolgt Umwelttechnik BW mit der Erstellung einer unternehmensübergreifenden Roadmap für das Thema Umwelttechnik? 3. Recherchieren Sie den Begriff der Technologie-Markt-Matrix und erstellen Sie eine beispielhafte Technologie-Markt-Matrix für einen Automobilhersteller mit einem Umfang von sieben Zeilen und sieben Spalten. 4. Was bedeuten die Begriffe Primär- und Sekundäranalyse? Welche Vor- und Nachteile sind mit den jeweiligen Analyseformen verbunden? 5. Recherchieren Sie im Internet und/oder in der Literatur die Vorgehensweise halbstrukturierter Interviews und stellen Sie eine Liste von Punkten zusammen, die bei der Durchführung von halbstrukturierten Interviews beachtet werden sollten. 6. Erstellen Sie ein Trend-Datenblatt am Beispiel des Trends zu Digitalisierung für ein Unternehmen Ihrer Wahl entsprechend der Untergliederung der Trend-Datenblätter von Umwelttechnik BW. 7. Recherchieren Sie die Methode der Cross-Impact-Analyse und erläutern Sie deren Mehrwert im Rahmen der Entwicklung der „Roadmap Umwelttechnik“. 8. Welchen Mehrwert bietet die „Roadmap Umwelttechnik“ für Unternehmen? Überlegen Sie sich drei Anwendungsbeispiele und erläutern Sie anhand dieser den jeweiligen Mehrwert.

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4.3 Lösungshinweise Im Folgenden sind Vorschläge für Lösungen der ersten vier Fragen dargestellt. Jedoch mögen andere Perspektiven ebenso praxistauglich sein. Die Fallstudie ist zudem auch auf andere Aspekte hin analysierbar. Sie lässt sich sowohl in unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen Teildisziplinen nutzen als auch in mehreren thematischen Ebenen und in variierenden Schwierigkeitsgraden bearbeiten. Zu Frage 1 Der Ursprung des Halo-Effekts liegt in der Natur. Analog wird dieses Phänomen in der Psychologie und auch in der Betriebswirtschaft verwendet. In der Natur bezeichnet er einen atmosphärischen Lichteffekt, bei dem sich ein Lichtring oder ähnliche Lichteffekte um Sonne oder Mond bilden. In Psychologie und der Betriebswirtschaftslehre beschreibt der Halo-Effekt einen Wahrnehmungseffekt, in dem von der Qualität einer Eigenschaft auf Qualitäten anderer Eigenschaften geschlossen wird. Im Falle der Roadmap Umwelttechnik wirkt sich die aufwendig ausgearbeitete Visualisierung entsprechend auf die Wahrnehmung der Qualität der Inhalte positiv aus. Dieser Effekt kann für den ersten Eindruck und das Marketing einer Roadmap genutzt werden, da in diesem Moment die Qualität der Inhalte für den potenziellen Nutzer kaum bewertbar sind. Eine hohe Qualität und nutzergerechte Gestaltung der Inhalte stellen im Roadmapping jedoch in jedem Fall eine notwendig und nicht zu vernachlässigende Voraussetzung für den Erfolg einer Roadmap dar. Zu Frage 2 Die Zielstellung der Erstellung einer Roadmap kann entsprechend der gewählten Einsatzbereiche variieren. Zu den gängigsten Einsatzbereichen gehören die strategische Planung, die Technologieplanung, die FuE-Planung und die Planung von Produkten und Dienstleistungen. Weniger häufig werden Roadmaps auch für die Produktionsplanung, die Trendbeobachtung oder die Marktbeobachtung eingesetzt. Zu den Zielstellungen von Roadmaps gehören beispielsweise die Planungsunterstützung, die Steigerung der Transparenz in Unternehmen oder Unternehmensnetzwerken, die Unterstützung von P ­ rozessen oder die Kommunikationsunterstützung. Grundsätzlich sind für den Einsatz und die Zielstellung von Roadmaps keine festgelegten Grenzen definiert. Im Falle der Road­map Umwelttechnik lag der Einsatzbereich auf der Ebene der strategischen Planung mit der Zielstellung, die eigene strategische Planung zu unterstützen und die Roadmap gleichzeitig FuE-Einrichtungen und Unternehmen als Orientierung für deren Zukunftsplanung zur Verfügung zu stellen.

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Zu Frage 3 Die Technologie-Markt-Matrix dient zur einer transparenten Darstellung der Zusammenhänge von Technologien eines Unternehmens oder Technologiefeldes und deren ­Einsatz auf relevanten Märkten. Hierzu werden Technologien in den Zeilen der Matrix und Märkte in den Spalten dargestellt. Entsprechend werden mögliche Kombinationen in der Matrix gekennzeichnet. Hierdurch können Technologien identifiziert werden, die auf mehr als einem Markt Anwendung finden und durch eine höhere Einsatzbreite attraktiver für Unternehmen sein können. Ebenso können Märkte identifiziert werden, die Bedarf an mehr als einer Technologie haben, wodurch im Marktzugang Synergien entstehen ­können. Zu Frage 4 Sekundärinformationen werden verstanden als bereits erfasste oder dokumentierte Informationen. Diese sind komplementär zu Primärinformationen zu sehen, die direkt bei Experten oder im Feld eigenständig erhoben werden müssen (vgl. Bamberg und Baur 1980, S. 9). Vorteil von Sekundärinformationen ist grundsätzlich die hohe Verfügbarkeit mit einem recht geringen Aufwand. Zu Quellen von Sekundärinformationen zählen beispielsweise das Internet, Bücher, Fachzeitschriften oder Studien. Als Vorteil von Primärinformationen im Gegensatz zu den Vorteilen von Sekundärinformationen ist zu sehen, dass diese situationsspezifisch erhoben werden können. Im Falle der Roadmap Umwelttechnik wurden die Trenddatenblätter auf Basis von Primärinformationen speziell für die Zielgruppe der Roadmap gestaltet und entsprechend mithilfe von Experten der einzelnen Felder ausgearbeitet.

Literatur Abele, T., & Schimpf, S. (2016). Praxisstudie Roadmapping. Einblicke in den praktischen Einsatz, zukünftige Herausforderungen und Erfolgsfaktoren von Roadmaps im unternehmerischen Alltag. Stuttgart: Fraunhofer IAO. http://publica.fraunhofer.de/dokumente/N-389530.html. Zugegriffen: 9. Nov. 2018. Bamberg, G., & Baur, F. (1980). Statistik. München: Oldenbourg. Barker, D., & Smith, D. J. H. (1995). Technology foresight using roadmaps. Long Range Planning, 28(2), 21–28. Carvalho, M. M., Fleury, A., & Lopes, A. P. (2013). An overview of the literature on technology roadmapping (TRM). Contributions and trends. Technological Forecasting and Social Change, 80(7), 1418–1437. Farrukh, C., Phaal, R., & Probert, D. (2003). Technology roadmapping. Linking technology resources into business planning. International Journal of Technology Management: IJTM, 26(1), 2–19.

4  Erfolgreiches Roadmapping: Der Halo-Effekt …

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Fraunhofer-Verbund Innovationsforschung. (Hrsg.). (2018). Wandel verstehen, Zukunft gestalten. Impulse für die Zukunft der Innovation. Unter Mitarbeit von Wilhelm Bauer, Michael Lauster, Thomas H. Morszeck, Thorsten Posselt, Marion A. Weissenberger-Eibl, Sven Schimpf et al. Stuttgart: Fraunhofer-Verbund Innovationsforschung. http://publica.fraunhofer.de/documents/N-491577.html. Zugegriffen: 9. Nov. 2018. Groenveld, P. (1997). Roadmapping integrates business and technology. Research-Technology Management, 40(5), 49–58. Khokhar, D. (2015). Gephi cookbook. Over 90 hands-on recipes to master the art of network analysis and visualization with Gephi. Birmingham: Packt Publishing. Phaal, R. (2004). Technology Roadmapping. In United Nations Industrial Development Organization (UNIDO) Technology Foresight Initiative (Hrsg.), Foresight methodologies. Text book (S. 129–151). O. O: Technology ForeSight Initiative. Schimpf, S., Lang-Koetz, C., Masior, J., & Rötzer, N. (2017). Guidance for environmental technology development of the future. A concise methodology to develop an integrated technology roadmap in the German State of Baden-Württemberg. In Science, markets & society. Crossing boundaries, creating momentum. Institute for manufacturing (S. 7). Leuven: University of Cambridge. http://publica.fraunhofer.de/documents/N-469983.html. Zugegriffen: 9. Nov. 2018. Schippl, J., Grunwald, A., Hartlieb, N., Jörissen, J., Mielicke, U., Parodi, O., et al. (2009). Roadmap Umwelttechnologien 2020. Karlsruhe: Forschungszentrum Karlsruhe in der Helmholtz-Gemeinschaft. Umwelttechnik, B. W. (2017). Roadmap Umwelttechnik bis 2030: Leitmärkte Wasser, Luft und Kreislaufwirtschaft. Stuttgart: Umwelttechnik BW. Warschat, J., Schimpf, S., & Korell, M. (Hrsg.). (2015). Technologien frühzeitig erkennen, Nutzenpotenziale systematisch bewerten. Methoden, Organisation, semantische Werkzeuge zur Informationsgewinnung und -speicherung. Ergebnisse des Verbundforschungsprojektes syncTech – Synchronisierte Technologieadaption als Treiber der strategischen Produktinnovation. Stuttgart: Fraunhofer. http://publica.fraunhofer.de/documents/N-337249.html. Zugegriffen: 9. Nov. 2018.

Dr.-Ing. Sven Schimpf  koordiniert als Geschäftsführer die Aktivitäten des Fraunhofer-Verbunds Innovationsforschung. Er arbeitet seit 2002 als interdisziplinärer Forscher und Vordenker bei der Fraunhofer-Gesellschaft. Während seiner Arbeit im Team FuEManagement am Fraunhofer IAO schloss er 2010 die Promotion an der Universität Stuttgart unter dem Titel „Social Software-Supported Technology Monitoring for Custom-Built Products“ ab. Er war in zahlreiche nationale und internationale Forschungs- und Industrieprojekte involviert, ist regelmäßig in der Hochschullehre und Bewertungsgremien verschiedener Zeitschriften und Forschungsförderer tätig, insbesondere in den Themenfeldern des strategischen FuE-, Technologie- und Innovationsmanagements an der Schnittstelle zwischen Industrie und Forschung. 2017 übernahm er die Rolle der Geschäftsführung des neu gegründeten Fraunhofer-Verbunds Innovationsforschung.

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S. Schimpf und C. Lang-Koetz Prof. Dr.-Ing. Claus Lang-Koetz  ist seit September 2014 Professor für Nachhaltiges Technologie- und Innovationsmanagement an der Hochschule Pforzheim. Neben seiner Lehrtätigkeit leitet er dort Forschungsprojekte, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung oder durch Auftraggeber aus der Wirtschaft. Er studierte von 1994 bis 2000 Umweltschutztechnik und Water Resources Engineering and Management an der Universität Stuttgart, der University of Utah in Salt Lake City und der Montana State University in Bozeman (USA). Darauf arbeitete er neun Jahre lang in der angewandten Forschung an der Universität Stuttgart (Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement) und am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart, zuletzt als Leiter der Arbeitsgruppe Innovative Technologien. Seine Promotion schloss er 2006 an der Universität Stuttgart. Von 2009 bis 2014 leitete er das Innovationsmanagement bei der Eisenmann AG (mittlerweile Eisenmann SE), einem international agierenden Anlagenbauunternehmen.

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Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning Fabian Wiser, Carolin Durst und Philipp Maron

Inhaltsverzeichnis 5.1 Innovationsmanagement bei B2B-Technologieunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.1.1 Das Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.1.2 Vier zentrale Umfeld-Scanning-Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 5.1.3 Trendmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.1.4 Beobachtung der Wettbewerber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 5.1.5 Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5.1.6 Deep Dives. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 5.1.7 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsvorhabens RADAR (Datengetriebenes UmfeldScanning für die Entscheidungen von morgen), das durch das BMBF unter dem Kennzeichen 02K16C190 gefördert wird. F. Wiser ()  TU Braunschweig, Braunschweig, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Durst  Hochschule Ansbach, Ansbach, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Maron  Universität Bremen, Bremen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_5

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F. Wiser et al. Zusammenfassung

Innovationsmanagement wird in der heutigen Zeit für die Überlebensfähigkeit und das Wachstum von Unternehmen immer wichtiger. Hier spielt vor allem das Umfeld-Scanning zur Suche nach relevanten Trends und Technologien im Unternehmensumfeld eine essenzielle Rolle. In dieser Fallstudie werden die UmfeldScanning-Aktivitäten eines Großunternehmens untersucht. Das betrachtete Technologieunternehmen NEXT, das mehr als 80.000 Mitarbeiter hat, existiert seit über 100 Jahren am Markt und zählt in seiner Branche zu einem der führenden Unternehmen weltweit. Das Produktportfolio zeichnet sich durch technologische B2B-Güter aus, die vorwiegend für die Automobilherstellung von Bedeutung sind. Das UmfeldScanning der Innovationsmanagementabteilung der NEXT lässt sich in folgende vier Aktivitäten unterteilen: 1) Das Trendmanagement zur Schaffung einer breiten Wissensbasis; 2) Die Beobachtung der Wettbewerber zum regelmäßigen Leistungsvergleich; 3) Das Netzwerken zum Austausch mit Kunden und der direkten Konkurrenz; 4) Das Durchführen von sogenannten Deep Dives zur tiefergehenden Recherche von Trends und Technologien. Im Rahmen dieses Beitrags werden die vier Umfeld-Scanning-Aktivtäten im Detail untersucht und Herausforderungen beschrieben. Durch die Bearbeitung der Fragen im zweiten Teil der Fallstudie lernt der Leser u. a., wie die beschriebenen Herausforderungen gelöst werden können, welche Informationsquellen im Innovationsmanagement eine Rolle spielen und welche technologischen Hilfsmittel auf der Suche nach Trends und Technologien zum Einsatz kommen.

5.1 Innovationsmanagement bei B2B-Technologieunternehmen 5.1.1 Das Unternehmen Das in dieser Fallstudie betrachtete Technologieunternehmen NEXT, das mehr als 80.000 Mitarbeiter hat, existiert seit über 100 Jahren am Markt und zählt in seiner Branche zu einem der führenden Unternehmen weltweit. Das Produktportfolio zeichnet sich durch technologische B2B-Güter aus, die vorwiegend für die Automobilherstellung von Bedeutung sind. Daneben werden aber auch andere Industrien mit den technologischen Fabrikaten beliefert. Aktuelle Veränderungen in der Struktur des Unternehmens zielen auf eine stärkere Orientierung an digitalen Technologien und Geschäftsmodellen ab. Insbesondere spielen die Makrotrends autonomes Fahren und Elektromobilität eine wichtige Rolle für die Zukunft von NEXT.

5.1.2 Vier zentrale Umfeld-Scanning-Aktivitäten Um das Unternehmensumfeld systematisch nach relevanten Innovationen und Trendimpulsen abzusuchen, führt NEXT verschiedene Aktivitäten in seinen Innovations-

5  Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning

Beobachtung der Webewerber

Trendmanagement 1

Deep Dive

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Netzwerken 2

Deep Dive 4

3

Deep Dive 4

4

Abb. 5.1   Zentrale Umfeld-Scanning-Aktivitäten der NEXT

managementabteilungen durch. Die vier zentralen Umfeld-Scanning-Aktivitäten der NEXT sind in Abb. 5.1 dargestellt. Zu ihnen gehören 1) das Trendmanagement, 2) die Beobachtung der Wettbewerber, 3) das Netzwerken und 4) die tiefergehenden Recherchen, sogenannte Deep Dives. Diese vier Aktivitäten sind für das Unternehmen überlebensnotwendig und gewährleisten seine Wettbewerbsfähigkeit sowohl in den bestehenden Geschäftsfeldern als auch in neu entstehenden Märkten.

5.1.3 Trendmanagement Die Identifikation, Dokumentation und Priorisierung von Trends spielt eine entscheidende Rolle im Umfeld-Scanning der NEXT. Vor allem das strukturierte Dokumentieren von Trendwissen ist eine zentrale Aufgabe des Trendmanagements. Denn ohne fortlaufende Dokumentation ist es nicht möglich, Trendwissen zu speichern, zu aktualisieren und für das Innovationsmanagement bereitzustellen. Zielsetzung „Wenn ich das Ziel in einem Satz formuliere, wäre es: Prepare our company for the future.“ – Innovationsmanager

Damit NEXT ideal auf die Zukunft vorbereitet werden kann, wurden verschiedene Unterziele definiert. Hierzu zählt auch die proaktive Einleitung von Maßnahmen – gerade im Entwicklungsbereich –, um auf potenzielle zukünftige Veränderungen frühzeitig zu reagieren und gleichzeitig neue Werte für die Kunden zu schaffen: „Und wenn man, wie wir, als Lösungsanbieter wahrgenommen werden möchte, dann ist es der falsche Ansatz, darauf zu warten, dass der Kunde auf uns zukommt und mit uns über Themen spricht, die in Zukunft für ihn interessant wären.“ – Innovationsmanager

Um proaktiv relevante Forschungs- und Entwicklungsprojekte anzustoßen, benötigen die Entscheider bei NEXT eine breite Wissensbasis und Verständnis über die relevanten Veränderungen und deren Auswirkungen auf das Unternehmensumfeld. Hierzu werden

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F. Wiser et al.

im Trendmanagement entsprechende Informationen gesammelt und in strukturierter und transparenter Form festgehalten. Wichtig ist hierbei, dass dieser Prozess iterativ und regelmäßig durchgeführt wird. Nur so kann eine aktuelle Entscheidungsgrundlage für das Management von NEXT und den betreffenden Abteilungen geschaffen werden. Aktivitätsbeschreibung Für das Trendmanagement von NEXT sind  mehrere Innovationsmanager zuständig. Diese sammeln kontinuierlich Informationen über das Unternehmensumfeld, interpretieren diese und halten sie strukturiert in Form einer Trendlandkarte fest. Diese besteht aus einem PowerPoint-Dokument, welches Mega-, Makro- und Mikrotrends (siehe Tab. 5.1) zu einem bestimmten Thema vereint und deren Verbindung zueinander aufzeigt. Sobald eine Trendlandkarte fertiggestellt ist, wird diese an die betreffenden Geschäftseinheiten weitergeleitet und fließt dort in die Entscheidungsprozesse der Forschungs- und Entwicklungsabteilung ein. Diese kann dann gegebenenfalls ein neues Forschungsprojekt mit dem Ziel initiieren, ein zukünftiges Produkt oder eine Dienstleistung zu entwickeln. Grundsätzlich lässt sich der Trendmanagementprozess bei NEXT in drei Arbeitsschritte (siehe Abb. 5.2) unterteilen: 1. Informationssammlung – Messe- und Kongressbesuche – Durchführung von Patentanalysen – Organisation und Durchführung von persönlichen Gesprächen/Telefoninterviews mit Kunden, Lieferanten, Mitarbeitern anderer Business Units und wissenschaftlichen Einrichtungen – Internet- und Literaturrecherche

Tab. 5.1  Mega-, Makro- und Mikrotrends. (Quelle: Durst et al. 2017, S. 5) Megatrends

Makrotrends

Mikrotrends

Beschreibung

Beobachtbare VerGroße soziale, wirtschaftliche, poli- änderungen, die in eine spezifische Richtung gehen tische, ökologische oder technische ­Veränderungen

Erste konkrete Anzeichen von aufkommenden Trendbewegungen

Wirkungsdauer

25–30 Jahre

5–10 Jahre

3–5 Jahre

Geltungsbereich

Beeinflussen alle Lebensbereiche weltweit

Weit verbreitet, beeinflussen Häufig auf bestimmte aber nicht zwingend alle Regionen und Märkte Akteure und Regionen beschränkt

Beispiele

Urbanisierung Klimawandel Digitalisierung Individualisierung

Shoppertainment Quantified Self Collaborative Consumption Cyber-Kriminalität

Fahrradkultur Snackables Home Robots Mobile Recruitment

5  Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning

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Organisaon und Speicherung der Informaonen

Bedarfsidenfikaon für die Ausführung des Trendmanagements

Informaonssammlung

Informaonsanalyse & -interpretaon

Informaonsverteilung & Kommunikaon

Informaonsverwertung

Abb. 5.2   Trendmanagementprozess bei NEXT

2. Informationsverarbeitung – Zusammenführung, Verdichtung und Interpretation von gesammelten Informationen – Erstellung der Trendlandkarte: Dokumentation der relevanten Trends und Priori­ sierung 3. Verteilung von Informationen – Weiterleitung der Trendlandkarte an Auftraggeber/Management Bei der Durchführung des Trendmanagements agieren die Innovationsmanager eigenverantwortlich und unterliegen nur geringen Vorschriften der Unternehmensleitung bezüglich der Gestaltung ihrer Arbeitsaktivitäten. Da die personellen Ressourcen begrenzt sind, priorisieren die Innovationsmanager ihre Aufgaben nach Bedarf der anderen Business Units bzw. Auftraggeber. Herausforderungen • Schwache Positionierung des Trendmanagements in der Unternehmensstruktur: Aktuell ist das Trendmanagement hierarchisch der Forschungs- und Entwicklungsleitung untergeordnet, obwohl es inhaltlich in vielen strategischen Themen auf übergeordneten Ebenen agiert (Entscheidungen über die Zukunft des Unternehmens). Hierdurch kommt es zu langen Entscheidungswegen, die dazu führen, dass wichtige Themen im Unternehmen zu spät verstanden und entschieden werden. • Subjektive Interpretation von Trendinformationen: Die Interpretation von Informationen über Trends ist kompliziert und wird stark von persönlichen Kenntnissen und Erfahrungen geprägt. Dies kann dazu führen, dass   die Mitarbeiter des Innovationsmanagements die Informationen unterschiedlich bewerten und zu ­unterschiedlichen bzw. gegenläufigen Handlungsempfehlungen kommen. Dies kann sich letztendlich in einer Unsicherheit bezüglich der resultierenden Erkenntnisse abzeichnen (Aussagekraft von Daten vs. Bauchgefühl). • Erschwerter Zugang zu externen Informationen: Die gewonnenen Ergebnisse des Trendmanagements sind teilweise unvollständig, da nicht alle Informationen bzw. Informationsquellen zugänglich sind (z. B. Patentinformationen werden zeitversetzt veröffentlicht, fehlender Zugang zu wissenschaftlichen Artikeln und Patentdatenbanken, sprachliche Barrieren)

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F. Wiser et al.

5.1.4 Beobachtung der Wettbewerber Die Wettbewerber des Technologieunternehmens werden durch regelmäßiges Wettbewerber-Benchmarking (Leistungsvergleich) und kontinuierliches Patentmonitoring überwacht. Zielsetzung Über den regelmäßigen Leistungsvergleich mit den Wettbewerbern verfolgt NEXT das Ziel, Wissen über die sich abspielenden Entwicklungen und Veränderungen bei der Konkurrenz und im Markt abzubilden und so die eigene Strategie anzupassen. „Das ist die Kernzielsetzung meines Erachtens: Es geht darum, den Wettbewerber zu verstehen; zu klären, wo man selbst im Wettbewerb steht, um aus dem Verhalten des Wettbewerbers zu lernen und, darauf basierend, Entscheidungen für das eigene Unternehmen zu treffen.“ – Leiter Corporate Development

Durch die regelmäßige Abfrage der Finanzkennzahlen können einzelne Wettbewerber identifiziert werden, die aufgrund ihrer individuellen durchgeführten Tätigkeiten und/ oder bestimmter Ereignisse einen Leistungszuwachs verzeichnen. So können Rückschlüsse für die eigene Unternehmensstrategie abgeleitet werden oder tiefergehende Recherchen angestoßen werden. Neben dem Leistungsvergleich überwacht NEXT in kontinuierlicher Form (wöchentlicher Zyklus) das technologische Umfeld durch Patentmonitoring. Im Rahmen des Patentmonitorings werden sowohl die Veränderungen in den Technologieportfolios der Wettbewerber als auch die technologischen IPC1-Klassen überwacht, die relevant für die Kernprodukte und Produktionsprozesse des Unternehmens sind. Dadurch soll gewährleistet werden, dass technologische Entwicklungen bei Wettbewerbern oder in den Märkten nicht unentdeckt bleiben, wodurch diese eine potenzielle Gefahr für das Unternehmen darstellen würden: „Generell möchte ich wissen, was in meinem Markt los ist. Dort gibt es nicht nur die großen Player, die mir mit ihren Technologien in der Regel bestens bekannt sind, sondern auch viele kleine. Allerdings konzentriert man sich immer auf die großen, sodass sich im Hintergrund unbemerkt ein, bis dato, kleiner Wettbewerber entwickeln kann.“ – Mitarbeiter Intellectual Property

So wie bei dem Wettbewerberbenchmarking können auch aus dem Patentmonitoring zusätzliche Deep Dives angestoßen werden (siehe Abschn. 5.1.6).

1IPC:

Internationale Patentklassifikation.

5  Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning

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Aktivitätsbeschreibung Die Aktivitäten der Wettbewerbsbeobachtung sind zweigeteilt und werden durch die Abteilungen Corporate Development und IP-Management ausgeführt: Wettbewerberbenchmarking  Im Wettbewerberbenchmarking arbeitet das Corporate Development an Reports, die als Entscheidungshilfe vierteljährlich an das Management übergeben werden. Um einen Report anzufertigen, werden zuerst verschiedene Informationsquellen, wie Unternehmensdatenbanken und Newsletter, beobachtet und Geschäftsberichte der Wettbewerber analysiert. Das daraus gewonnene Wissen wird dann in Form einer PowerPoint-Präsentation aufbereitet. Im finalen Schritt wird diese Präsentation an die anfragende Geschäftseinheiten bzw. das Management übergeben. Für das Wettbewerberbenchmarking ist es wichtig, dass sich das Corporate Development gemeinsam mit den anfragenden Geschäftseinheit in regelmäßigen Abständen die zu untersuchenden Wettbewerbsfelder definiert. Nur so kann eine relevante Entscheidungsgrundlage geschaffen werden, die z. B. über die Gründe einer Leistungssteigerung bei der Konkurrenz Aufschluss gibt. Sollten die Gründe für eine solche Steigerung nicht ersichtlich sein, wird ein Deep Dive veranlasst. Patentmonitoring  Beim Patentmonitoring werden durch die IP-Professionals2 spezifische Suchkriterien (z. B. zu beobachtende Unternehmen und/oder IPC-Klassen) definiert und bei den Patentdatenbanken als Suchanfragen eingetragen. Hier erfolgt, wie im Wettbewerberbenchmarking, eine enge Kooperation mit dem Auftraggeber, um möglichst bedeutungsvolle Ergebnisse für das Unternehmen zu erzielen. Ist eine Suchanfrage in den Datenbanken eingestellt, so wird die Suche einmal wöchentlich automatisch ausgeführt und ein Report per E-Mail an das Corporate Development bzw. an den Auftraggeber geschickt. Herausforderungen • Zeitverzögerung im Veröffentlichungsprozess: Patente werden erst 18 Monate nach ihrer Anmeldung veröffentlicht. Dadurch besteht eine kontinuierliche Unsicherheit, da das Monitoring stets als unvollständig bzw. rückständig angesehen werden muss. • Vernebelungsstrategien: Wettbewerber versuchen durch verschiedene Strategien die Identifikation des Firmennamens und der Sache zu erschweren (z. B. Anmeldung des Patents unter einer Teilgesellschaft und/oder in einer falschen IPC-Klasse). • Kapazitätsprobleme: Die Erstellung einer detailierten Wettbewerbsanalyse ist aufwendig. Dabei sind die intern vorhandenen Kapazitäten zur Erstellung dieser Berichte - wie in jedem Unternehmen - begrenzt. Mitarbeiter müssen die die zu untersuchenden Kompetitoren selektiv auswählen, was unvermeidlich dazu führt, dass wichtige Wettbewerbsinformationen durch das Raster fallen.

2IP:

Intellectual Property.

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F. Wiser et al.

5.1.5 Netzwerken Die Innovationsmanager von NEXT führen mehrere Aktivitäten durch, bei denen sie über den persönlichen Austausch von Informationen Erkenntnisse über Veränderungen und Entwicklungen im Unternehmensumfeld erhalten. Hierzu zählen aus Sicht des Technologieunternehmens neben den allgemeinen persönlichen Netzwerken durch den Besuch von Veranstaltungen, wie Messen oder Round Table Talks, insbesondere Kundengespräche und die Zusammenarbeit mit Entwicklungspartnern. Zieldefinition Beim Netzwerken geht es in erster Linie um die Sammlung von Informationen und Hinweisen von teilweise direkten Wettbewerbern im Unternehmensumfeld. Eine wichtige Perspektive dafür ist der Austausch mit den Kunden: „Wir versuchen über die Kundengespräche Trends und Entwicklungen bei unseren Kunden zu identifizieren. Am Ende des Tages wollen wir halt unsere Produkte verkaufen. Und damit wir wissen, was wir kurz-, mittel- und langfristig verkaufen werden, müssen wir uns vorbereiten und mit den direkten und indirekten Kunden im Gespräch sein.“ – Leitung Produktmanagement

Gerade für die Weiterentwicklung des Unternehmens sind die Vernetzung und das entsprechende Netzwerken mit Technologie- und Entwicklungspartnern besonders wichtig. Dies zielt darauf ab, intern fehlendes Wissen über neue Technologien und Märkte zu erschließen und darüber zukünftige Technologien und Märkte besser zu verstehen und auch zugänglich zu machen: „[Umfeld-Scanning mit bzw. über Partner] ist gerade dann wichtig, wenn ich relativ am Anfang einer Entwicklung stehe. Jetzt wollen wir uns in Zukunft Technologien anschauen, die ein Stück weit weg sind von unserem Kerngeschäft. Das heißt, dort besitzen wir selbst kein Verständnis dafür, was wir uns anschauen müssen. Dort ist ein Partner extrem wertvoll, der sich mit solchen Technologien beschäftigt und Wissen mitbringt, worauf wir selbst achten müssen.“ – Leiter Sondereinheit für Strategie – Digitale Geschäftsmodelle

Die dritte Aktivität im Bereich Netzwerken wird als allgemeines Netzwerken auf Netzwerkveranstaltungen bezeichnet. Es wird das Knüpfen von persönlichen Kontakten beabsichtigt, die für die zukünftige Entwicklung des Unternehmens von Bedeutung sein können. „Oft werden auf Konferenzen neue Ansätze vorgestellt. Und dann sagst du dir selbst: ‚Darüber sollten wir mal nachdenken.‘ Und dann nehme ich es mit und verteile es in der Organisation“ – Leiter Think Tank

5  Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning

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Aktivitätsbeschreibung Das Ergebnis des Netzwerkens kann unterschiedliche Formen annehmen. Beispielsweise können über den Besuch und die aktive Teilnahme an Netzwerkveranstaltungen Impulse für das Unternehmen aufgenommen werden, die zur Verfolgung neuer Lösungsansätze genutzt werden. Oder durch das Protokoll eines Kundengespräches wird festgehalten, wohin sich der Kunde weiterentwickeln möchte. Hierdurch können neue Wegweiser für die Strategie des Unternehmens abgeleitet werden. Die Kontaktaufnahme mit Kunden, Partnern und auf Veranstaltungen läuft trotz unterschiedlicher Zielsetzungen ähnlich ab: Zu Beginn wird die Kontaktaufnahme vorbereitet. Dazu werden z. B. Teilnehmerlisten oder Referenten auf Netzwerkveranstaltungen im Vorfeld gesichtet oder Listen anzusprechender Punkte in Kundengesprächen erstellt. Im Anschluss daran wird die eigentliche Aktivität ausgeführt und es wird mit Kunden, Entwicklungspartnern, zufälligen Kontakten auf Netzwerkveranstaltungen gesprochen und Informationen werden ausgetauscht. Die wichtigen Elemente werden dabei beispielsweise in Form eines Protokolls, einer übergebenen Präsentation oder einer Notiz auf einer Visitenkarte festgehalten und im Anschluss im Unternehmen als Wissensartefakte verteilt. Die Innovationsmanager greifen beim Netzwerken auf ein breites Spektrum von Hilfsmitteln zurück: Zur Vorbereitung von Terminen oder Veranstaltungen werden beispielsweise im Internet Informationen eingeholt. Auch soziale Plattformen für beruflichen Austausch, wie LinkedIn oder XING, werden zur Kontaktierung von interessanten Gesprächspartnern genutzt. Während beim allgemeinen persönlichen Netzwerken nur eine geringe Form der Dokumentation erfolgt, wird beim Umfeld-Scanning durch Kundengespräche oder bei der Zusammenarbeit mit Partnern ein höherer Dokumentationsaufwand betrieben. Dazu werden insbesondere PowerPoint, Excel oder auch Outlook verwendet. Herausforderungen • Hoher Aufwand in der Wissensdokumentation und -distribution: Die Dokumentation der Ergebnisse ist mit hohem zeitlichen Aufwand verbunden und wird nur in vereinzelten Fällen später nochmal genutzt. Dazu gibt es keine einheitliche Struktur im Unternehmen, in denen entsprechendes Wissen im Unternehmen festgehalten wird. Es besteht auch eine Herausforderung darin, das so erstelle Wissen global im Unternehmen zu verteilen (Mehrsprachigkeit). • Soziale Hürden: Der Erfolg des Netzwerkens ist abhängig von den individuellen Fähigkeiten und Motiven sowohl der einzelnen Mitarbeiter des Technologieunternehmens als auch der jeweiligen Gesprächspartner: – Hat der Gesprächspartner kein Interesse am Mitarbeiter des Unternehmens, können keine Informationen ausgetauscht werden. – Besitzt der Mitarbeiter kein Interesse daran, sich mit dem Gesprächspartner auszutauschen, können ebenfalls keine Informationen ausgetauscht oder Kontakte geknüpft werden (falsches Mindset/fehlende soziale Fähigkeiten des Mitarbeiters).

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• Negativer Einfluss des Zufalls: Der Zufall entscheidet darüber, ob ein interessanter Kontakt entsteht bzw. sich im zeitlichen Verlauf als nützlich erweist. Dies hängt auch eng mit dem zuvor genannten Aspekt der individuellen Persönlichkeiten zusammen, da im Gespräch beidseitiges Interesse vorhanden sein muss, damit Informationen ausgetauscht werden. „Ich kenne kein Unternehmen, welches einen strukturierten Prozess für das Netzwerken besitzt. Denn die besten Kontakte und die besten Erkenntnisse, die ich habe, sind durch absolut zufällige Begegnungen entstanden.“ – Leiter Think Tank

5.1.6 Deep Dives Nach dem Erkennen eines Trends durch Trendmanagement, Wettbewerbsanalyse oder das Netzwerken werden detailliertere Informationen dazu gesammelt. Hierzu führen die Innovationsmanager tiefergehende Recherchen, sogenannte Deep Dives, durch. Zieldefinition Das Ziel der Deep Dives ist die Generierung von Wissen über wesentliche Aspekte des Unternehmensumfeldes, welches später als Entscheidungsgrundlage für den zukünftigen Kurs oder nachgelagerte Aktionen verwendet wird. „Das Ziel ist, ein Bild vom Markt zu erhalten, damit man sein Geschäft versteht. Sowohl technisch als auch wirtschaftlich. Von den Trends, von den Entwicklungen bei anderen Akteuren, die sich in meinem Geschäft mitbewegen. (…) Dass man wirklich ein Bild von einer Branche oder von einem Thema aufzeigt, und zwar wirklich detailliert über mehrere Seiten und unter verschiedenen Blickrichtungen.“ – Leiter Produktmanagement

Das durch die Recherche generierte Wissen fungiert dahin gehend nicht nur als Entscheidungs-, sondern auch als Orientierungshilfe. Denn durch die Ausführung der Recherche wird der Mitarbeiter in die Lage versetzt, Vergleiche zwischen dem eigenen Unternehmen und den Entwicklungen des Unternehmensumfeldes zu erstellen. Durch diesen Lernprozess können neue potenzielle Entwicklungs- und Verbesserungsmöglichkeiten identifiziert werden. „Das durch die Recherchen generierte Bild ist wichtig für die Orientierung. Auch im Sinne eines Abgleiches bzw. Vergleiches des eigenen subjektiven Bildes davon, was in meinem Geschäft geschieht. (…) Dadurch kann ich verstehen, wie mein Markt funktioniert und ob ich mich in diesem positioniere oder eben auch nicht positioniere.“ – Leiter Corporate Development

Gerade bei tiefergehenden Recherchen im Bereich Technologie/Patente kann auch ein ganz anderes Ziel verfolgt werden, nämlich, ob die gefundene Technologie auch genutzt werden darf oder ob diese über Patente und entsprechende Schutzrechte geschützt ist:

5  Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning

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„Wir haben die sogenannte FTO Analyse, Freedome to Operate. In diesem Falle möchte die Entwicklung wissen, ob sie mit einem zukünftigen Produkt oder durch die Verwendung einer Technologie ein bestehendes Schutzrecht verletzt oder nicht. (…) Am Ende kommt da ein ‚Ja‘ oder ein ‚Nein‘ raus.“ – IP-Professional

Diese Form der Patentsuche ist zum Teil sogar von Gesetzgeberseite bei großen Unternehmen wie der NEXT vorausgesetzt. Aktivitätsbeschreibung Nach Erhalt eines Rechercheauftrags beginnt die jeweilige Abteilung damit, Informationen bezüglich des konkreten Rechercheziels zu sammeln. Hier steht dem Mitarbeiter offen, inwiefern er seine Reports strukturiert, welche Informationsquellen herangezogen werden (siehe Tab. 5.2) und wie er seine Recherche genau durchführt. Im Anschluss an die Informationssammlung werden die Ergebnisse interpretiert und in Berichten und Präsentationen festgehalten. Teilweise werden abschließend die zentralen Aussagen in Form eines Executive Summarys nochmal herausgestellt, um den Entscheidungsfindungsprozess des Managements zu unterstützen. Im finalen Schritt werden die Ergebnisse und das damit verbundene Wissen an die Auftraggeber kommuniziert und verteilt. Herausforderungen • Informationsflut: Durch Recherchen kann gerade im Internet eine Vielzahl von unterschiedlichen Informationen gefunden werden. Diese hohe Informationsmenge muss allerdings auch entsprechend verarbeitet werden, damit konkrete Aussagen für spätere Entscheidungen entwickelt werden können. • Subjektive Interpretation der Informationen: Die Interpretation der identifizierten Trendinformationen erfolgt häufig nur durch einen Mitarbeiter. Dadurch ist das Rechercheergebnis stark abhängig von den persönlichen Fähigkeiten, Erfahrungen, Kenntnissen und Motiven des Mitarbeiters.

Tab. 5.2  Typen verschiedener Informationsquellen für das Trendmanagement. (Quelle: Durst et al. 2017, S. 6) Extern

Intern

Primärdaten

Mitarbeiter Kunden Interne Expertennetze Kongresse Medien (z. B. News, RSS-Feeds) Wettbewerber

Sekundärdaten

Branchenberichte Patentdatenbanken Publikationen Trenddatenbanken

Interne Dokumente (z. B. Verkaufsberichte) Interne Datenbanken (z. B. Ideendatenbanken)

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• Schwerer Zugang zu internen Informationen: Informationen, die im Unternehmen vorhanden sind und möglicherweise für die Recherche von Relevanz wären, werden teilweise erst nach mehrfachem Nachfragen herausgegeben bzw. kommuniziert. Ursachen dafür können in der Unternehmenskultur liegen (Angst vor „Machtverlust“ durch Abgabe von Wissen), darin, dass Wissen nicht frei kommuniziert wird (Silodenken), oder in einer zu hohen Arbeitsauslastung durch das Tagesgeschäft und ein damit verbundenes geringes Interesse an Wissensaustausch.

5.1.7 Fazit Mithilfe des Umfeld-Scannings bezweckt NEXT, seine Stellung am Markt beizubehalten und auszubauen, um so der Konkurrenz immer einen Schritt voraus zu sein. Die vier vorgestellten Aktivitäten helfen hierbei, alle relevanten Informationskanäle (siehe Tab. 5.2) abzudecken und daraus vorausschauend Unternehmensstrategien und neue Produktideen für die Zukunft abzuleiten.

5.2 Fallstudienfragen 1. Welche Kompetenzen sollte Ihrer Meinung nach ein Innovationsmanager mit sich bringen? 2. Weshalb wird das Innovationsmanagement sowohl für große als auch für kleine Unternehmen immer wichtiger? 3. Wie würden Sie die Herausforderungen zu den vier vorgestellten Umfeld-ScanningAktivitäten lösen? Gerne können Sie hierzu methodisch (z. B. TRIZ nach Altshuller 1999) vorgehen. 4. Welche Informationsquellen sind im Trendmanagement wichtig? 5. Welchen der in Tab. 5.2 dargestellten Informationsquellen lassen sich die vier Umfeld-Scanning-Aktivitäten zuordnen? 6. Inwiefern unterscheiden sich Umfeld-Scanning-Aktivitäten des vorgestellten B2B-Technologieunternehmens von denen eines klassischen B2C-Unternehmens? 7. Wie bewerten Sie den Umgang mit technologischen Hilfsmitteln im Innovationsmanagement? Welche Tools können Sie diesbezüglich nennen und wie würden Sie diese kategorisieren? 8. Entwickeln Sie eine Trendlandkarte zu einem Megatrend (z. B. Klimawandel). Welche Subtrends (Makro- und Mikrotrends) könnten hier für NEXT von hoher Bedeutung sein? 9. Wieso ist das Umfeld-Scanning mittels Patentdatenbanken problematisch?

5  Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning

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5.3 Lösungshinweise Die vorgestellten Lösungshinweise sind als Vorschläge anzusehen und stellen keine klar vorgegebene Antwort dar. Zu Frage 1 Hier kann ein Blick auf aktuelle Stellenausschreibungen im Internet nützlich sein. Zu den Kompetenzen eines Innovationsmanagers gehören u. a. folgende: • Hochschulabschluss in wirtschaftswissenschaftlichem oder technischem Feld • Wissenschaftliche Arbeitserfahrung (evtl. Promotion) • Kommunikationsfähigkeit • Teamfähigkeit • Kreativität • Eigeninitiative • Disruptives Denken • Erfahrungen in der Business-Domäne des Unternehmens • Erfahrungen mit Innovationsmanagement-Software • Sehr gute Englischkenntnisse Zu Frage 2 Innovationsmanagement wird wichtiger, weil … • sich die Marktverhältnisse schneller ändern. • es immer mehr Information gibt, welche analysiert werden müssen (Informationsflut). • Start-ups durch disruptive Ideen und agiles Vorgehen die Geschäftsmodelle bestehender Konzerne ins Wanken bringen. Diese drei Gründe motivieren den Existenzschutz eines Unternehmens. Es ist aber wichtig, dass das Innovationsmanagement nicht nur eine „passive Defensivstrategie“ einsetzt, sondern proaktiv vorgeht. So kann ein Wettbewerbsvorteil, basierend auf einem größeren und besseren Produkt- und Service-Portfolio, in einem steigenden Unternehmenswachstum resultieren. Zu Frage 3 • Lösungsansätze für das Trendmanagement: – Schwache Positionierung des Trendmanagements in der Unternehmensstruktur: Eine zusätzliche Instanz wird in die Organisationsstruktur eingesetzt (beispielsweise ein Mitglied eines Strategiegremiums), welches die Ergebnisse des Trendmanagements direkt in strategische Entscheidungen einbringen kann, ohne über die Leitung der Forschung und Entwicklung zu gehen.

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– Subjektive Interpretation von Trendinformationen: Hinzuziehen eines externen Beraters mit entsprechender Fachexpertise, der zwischen den einzelnen Parteien vermittelt bzw. zusätzliche Informationen einbringt, die bisher nicht in der Beurteilung berücksichtig worden wurden. – Erschwerter Zugang zu externen Informationen: Das Definieren von klaren Recherchezielen und ein vorheriges „Skimming“ von Abstracts, bevor ein Artikel oder eine Patentrecherche angefordert wird, helfen dem Unternehmen, Geld zu sparen und leichter an relevante Informationen zu kommen. • Lösungsansätze für die Beobachtung der Wettbewerber: – Zeitverzögerung im Veröffentlichungsprozess: Aufgrund des 18-monatigen Veröffentlichungsprozesses von Patenten werden verstärkt wissenschaftliche Arbeiten analysiert, die vor einem Patent Hinweise auf technologische Entwicklungen geben können. – Vernebelungsstrategien: Erweiterung der Suche mit wissenschaftlichen Quellen und dem Internet. – Kapazitätsprobleme: Die Unternehmensführung muss auf die Wichtigkeit des Benchmarkings hingewiesen werden, damit neue Ressourcen für die Aktivität freigegeben werden. Eventuell hilft auch das Hinzuziehen von externen Beratern. • Lösungsansätze für das Netzwerken: – Hoher Aufwand in der Wissensdokumentation und -distribution: Erschaffung eines globalen Cloud-Storages (Innovationsplattform), auf dem Dokumente in englischer Sprache gespeichert und geteilt werden können. – Soziale Hürden: Innovationsmanager sollten für das Netzwerken geschult werden (z. B. Präsentationsworkshops). – Negativer Einfluss des Zufalls: Fokus auf Besuche von ausschließlich für das Unternehmen relevanten Veranstaltungen. Die gewonnene Arbeitszeit kann dann für andere Umfeld-Scanning-Aktivitäten verwendet werden. • Lösungsansätze für die Deep Dives: – Informationsflut: Automatisierung der Recherchetätigkeiten mithilfe von Machine-Learning-Software. – Subjektive Interpretation der Informationen: Gefundene Ergebnisse werden von mehreren Mitarbeitern interpretiert und bewertet. – Schwerer Zugang zu internen Informationen: Einführung eines internen „Wissensmarktplatzes“, auf dem Informationen über das Umfeld des Unternehmens geteilt werden können und der eine Form der Belohnung beinhaltet (z. B. Gamification). Zu Frage 4 Relevante Informationsquellen können u. a. sein: • Internet(-Suchmaschinen) • Patente

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• Wissenschaftliche Artikel • Persönlicher Austausch mit Dritten (Kunden, Partnerunternehmen, Konferenzen) • Medien (Fernsehen, Zeitschriften) • Internes Mitarbeiterwissen • Konsumenteninformationen (Umfragen) • Marktwissen Zu Frage 5 • Trendmanagement: Im Trendmanagement werden vorwiegend externe Quellen herangezogen. Insbesondere die sekundären Daten, also wissenschaftliche Artikel und Patente, spielen eine Rolle. Es können aber auch Trends aus Primärdaten, z. B. durch das Lesen von Fachzeitschriften, abgeleitet werden. • Beobachtung der Wettbewerber: Bei der Analyse der Wettbewerber werden Geschäftsberichte, Newsletter und Unternehmenskennzahlen der Konkurrenz (externe Primärdaten) sowie relevante Patentveröffentlichungen im Unternehmensumfeld (externe Sekundärdaten) untersucht. • Netzwerken: Da sich die Innovationsmanager beim Netzwerken mit Kunden, Partnern und anderen Unternehmen in ihrem Geschäftsbereich über relevante Veränderungen und Trends unterhalten, sind hier externe Primärdaten ein wichtiger Faktor. • Deep Dives: Bei den Deep Dives stellen die Innovationsmanager ein detailliertes Bild zu einem gefundenen Trend zusammen. Hierzu beziehen sie sich auf Daten aus allen vier definierten Bereichen in Tab. 5.2. So können z. B. interne Ergebnisberichte aus der vorangegangenen Trendmanagementaktivität zu einer Patentrecherche oder zu Wissensaustausch mit einer Fachabteilung führen. Zu Frage 6 Ein B2C-Unternehmen muss, im Gegensatz zu NEXT, explorative Marktstudien durchführen, um z. B. relevante Consumer-Trends frühzeitig zu erkennen. Hier spielt vornehmlich die Befragung von Konsumenten bzw. potenziellen Kunden eine Rolle. So können diese z. B. durch Surveys oder Interviews befragt werden und die Ergebnisse sowohl quantitativ als auch qualitativ ausgewertet werden. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal ist, dass im Gegensatz zu B2B-Unternehmungen im B2C-Bereich die Patente für den Erfolg von Produkten und Services von geringerer Relevanz sind. Zu Frage 7 Technologische Hilfsmittel spielen gerade im Innovationsmanagement eine zunehmend wichtige Rolle. So können z. B. Prozesse durch Machine-Learning-Ansätze automatisiert und dadurch Zeit und Arbeitskosten gespart werden. Außerdem können relevante Trendsignale frühzeitiger erkannt werden und sichern damit eine erfolgreiche Marktpositionierung.

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Softwares, mit denen Innovationsmanager arbeiten, können in folgende Kategorien unterteilt werden: • Suche nach Trends: – Internet-Suchmaschinen – Patentdatenbanken – Wissenschaftliche Datenbanken – Trendmanagementsoftware – Social Media – Webseiten für das Networking (XING, LinkedIn etc.) • Dokumentation, Kategorisierung und Priorisierung: – Textverarbeitungssoftware und Präsentationsprogramme (Office-Suite) – Mindmap-Tools – Innovationsplattformen mit Trendradaren • Kommunikation: – E-Mail – Internettelefonie – Telefonkonferenzen – Blogs, Foren, Wikis – Cloud-Speicher Zu Frage 8 Da die Hauptkunden von NEXT in der Automobilindustrie tätig sind, hat auch der Klimawandel (Megatrend) eine wichtige Bedeutung für das Unternehmen: Ein Makrotrend hierzu sind alternative Treibstoffe und insbesondere Elektroautos. Tesla wäre in diesem Fall ein gelungenes Beispiel für die Instanz eines Mikrotrends, da die Firma durch ihr Geschäftsmodell den Markt disruptiv verändert hat. Ein weiterer Makrotrend, der dem Klimawandel entgegenwirken soll, ist die „Collaborative Consumption“, also das Teilen von bestehenden Ressourcen. Auch im Falle von Autos kann „ko-konsumiert“ werden, um die Umwelt zu schonen und um Kosten zu sparen. Die Unternehmen car2go und uberPOOL sind Beispiele. Zu Frage 9 Da der Prozess von der Einreichung eines Patents bis zu seiner Veröffentlichung mehrere Monate dauert, spiegelt eine Umfeld-Scanning-Analyse auf Patente keinen aktuellen Stand der Trends und Technologien wider. Zudem versuchen konkurrierende Unternehmen, ihre Patentanmeldungen zu verschleiern, indem sie diese auf andere Namen oder in Randkategorien registrieren lassen.

5  Aktivitäten und Herausforderungen im Umfeld-Scanning

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Eine weitere Herausforderung ist die Mehrsprachigkeit der Patente. So können meist von fremdsprachigen Texten, die nicht in Englisch oder der Landessprache des Unternehmens verfasst wurden, nur die übersetzten Abstracts (kurze Patentzusammenfassungen) gelesen werden. Darüber hinaus stellen sowohl das technologische Vorwissen des Innovationsmanagers als auch sein geübter Umgang mit den Patentdatenbanken bzw. der Erstellung von relevanten Suchanfragen einen kritischen Erfolgsfaktor für das Umfeld-Scanning dar. Förderhinweis  Dieses Forschungs- und Entwicklungsprojekt wird/ wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Programm „Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen“ (02K16C190) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichungen liegt bei den Autoren.

Literatur Altshuller, G. (1999). The innovation algorithm: TRIZ, systematic innovation, and technical creativity. Worcester: Technical Innovation Center. Durst, C., Durst, M., & Saffer, M. (2017). Weak Signals, Hypes oder Trends - Innovationspotenziale erkennen und Wettbewerbsvorteile sichern. Nürnberg: ITONICS GmbH. Wächter, S. (2015). Innovationsmanagement: „Ohne Innovation überleben Unternehmen nicht!“ – Interview mit Tammo Ganders, ZIBD. European Management School. https://ems.de/mainzer-manager/innovationsmanagement-ohne-innovationen-ueberleben-unternehmen-nicht/. Zugegriffen: 2. Juli 2018.

Weiterführende Literatur Aguilar, F. J. (1967). Scanning the business environment. New York: Macmillan. Albright, K. S. (2004). Environmental scanning: Radar for success. Information Management Journal, 38(3), 38–45. Choo, C. W. (2002). Information management for the intelligent organization: The art of scanning the environment. Medford: Information Today Inc. Daft, R. L., Sormunen, J., & Parks, D. (1988). Chief executive scanning, environmental characteristics, and company performance: An empirical study. Strategic Management Journal, 9, 123–139. Lee, C., Jeon, J., & Park, Y. (2011). Monitoring trends of technological changes based on the dynamic patent lattice: A modified formal concept analysis approach. Technological Forecasting and Social Change, 78, 609–702.

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F. Wiser et al. Fabian Wiser  arbeitet seit September 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik an der TU Braunschweig. In seiner Forschung und seinem Promotionsvorhaben beschäftigt er sich mit der Analyse von computergestützter Gruppenarbeit und sozio-technischen Systemen im Innovationsmanagement. Er schloss sein Studium der internationalen Wirtschaftsinformatik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Jahr 2016 ab und arbeitete als Business Analyst bei einem IT-Beratungsunternehmen.

Prof. Dr. Carolin Durst  lehrt an der Hochschule Ansbach in den Gebieten Digital Business, Digital Marketing und Digital Transformation. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Analyse und der Gestaltung von sozio-technischen Systemen. Als Scientific Director der ITONICS GmbH begleitet Carolin Durst die Methoden- und Produktentwicklung der Software Suite für strategisches Innovationsmanagement.

Philipp Maron ist als Analyst in einer In-House-Strategieberatung mit Schwerpunkt auf den Themen „digitale Geschäftsmodellinnovation“ und „Unternehmenstransformation“ tätig. Er studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Bremen sowie an der Central Queensland University in Brisbane. Im Rahmen seines Studiums war Philipp Maron als Visiting Consultant für eine mittelständische Unternehmensberatung mit Schwerpunkt auf Innovationen im Bereich Automotive tätig und engagierte sich des Weiteren als studentischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für industrienahe Dienstleistungen der Universität Bremen. In seiner Abschlussarbeit analysierte er die Innovationsmanagement- und Umfeld-Scanning-Aktivitäten von Technologieunternehmen.

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Geschäftsmodellentwicklung für den boomenden Markt des E-Sports Gerhard Hube und Toni Wagner

Inhaltsverzeichnis 6.1 Marktanalyse und Entwicklung eines zusätzlichen Geschäftsmodells. . . . . . . . . . . . . . . . 78 6.1.1 Die Entwicklung der Gaming-Branche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 6.1.2 Entwicklung eines ganzheitlichen Geschäftsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 6.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Zusammenfassung

Kaum eine andere Branche hat in den vergangenen Jahren ein so rasantes Wachstum entwickelt wie der sogenannte „E-Sport“. Fast unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit werden in diesem Geschäftsfeld inzwischen Umsätze entwickelt, die größer sind als in der klassischen Film- und Kino-Branche. Erst langsam begreifen auch große Unternehmen, welche Potenziale in diesem boomenden Bereich vorhanden sind, und investieren zumindest in Werbung und Sponsoring. Damit entwickeln sich rund um den E-Sport zahlreiche weitere Geschäftspotenziale, die insbesondere von kleinen, kreativen und schnellen Unternehmen der IT und Digitalbranche genutzt werden können. E-Sport erreicht über das Internet täglich und rund um die Uhr mehrere Millionen

G. Hube ()  Schriesheim, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Wagner  Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_6

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Nutzer verteilt über alle Kontinente der Erde. Dabei entstehen Unmengen von Daten, die wiederum für Spieleentwickler und Werbetreibende wertvoll sein können. Genau hier wird versucht, ein Geschäftsmodell zu entwickeln, das mithilfe einer intelligenten und schnellen Analysesoftware verwertbare Auswertungen selektieren und damit Sponsoren und Werbetreibende unterstützen kann. In dieser Fallstudie soll für das IT Unternehmen vAudience mithilfe der Business Model Canvas ein Geschäftsmodell entwickelt und daraus Handlungsempfehlungen abgeleitet werden.

6.1 Marktanalyse und Entwicklung eines zusätzlichen Geschäftsmodells 6.1.1 Die Entwicklung der Gaming-Branche Die Gaming-Branche entwickelt sich seit einigen Jahren mit einer rasanten Geschwindigkeit und erzeugt immer wieder Schlagzeilen, wie in Abb. 6.1 abgebildet, die erkennen lassen, dass sie sich schon längst aus dem Schatten etablierter Geschäftsfelder der Musik und Unterhaltungsbranche emanzipiert hat. Die Umsätze mit einzelnen Spielen wie dem „Grand Theft Auto“ GTA5 übersteigen inzwischen die der bislang erfolgreichsten Kinofilme wie „Avatar“ oder „Star Wars“ (vgl. Michelsen und Plass-Fleßenkämper 2018, S. 1).

Abb. 6.1   Schlagzeile der Computerbild 2018 zum Umsatzerfolg des Videospiels „GTA 5“. (Quelle: Michelsen und Plass-Fleßenkämper 2018, S. 1)

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Es ist also ein neuer großer Markt entstanden, der sowohl Arbeitsplätze sichert als auch vielfältige neue Geschäftspotenziale entstehen lässt. Und das nicht nur für die großen Spieleentwickler und Plattformanbieter, sondern auch im Umfeld der Gaming-Branche. Da viele der Spiele auch im Wettbewerb zwischen einzelnen Spielern oder auch Mannschaften ausgetragen werden, ist eine Form des elektronischen Sports entstanden, der sogenannte „E-Sport“. Dieses neue Phänomen beschreibt das Spielen von Computerspielen im Einzel- oder Mehrspielermodus in einem Wettkampf (vgl. Müller-Lietzkow 2006, S. 102 f.), der sowohl online übertragen wird als auch live in großen Arenen verfolgt werden kann, wie in Abb. 6.2 das Halbfinale der E-Sports Disziplin „Counter-Strike“ in der vollbesetzen Lanxess Arena in Köln 2016. Bei der Weltmeisterschaft von „League of Legends“ (LoL), einem der weltweit beliebtesten Online–Strategiespiele, verfolgten 80.000 Zuschauer live das Finale in einem der größten Stadien der Welt in Peking. Knapp 58 Mio. Zuschauer sahen das Finale online und es wurden Preisgelder von ca. fünf Millionen US-Dollar ausgeschüttet (vgl. Sebek 2018). Damit hatte das Finale sogar mehr Zuschauer als das Fußball-WM-Finale zwischen Deutschland und Argentinien am 13. Juli 2014 mit ca. 75.000 Zuschauern in Rio de Janeiro (vgl. Hermanns 2015). Neben LoL gibt es eine Reihe weiterer Onlinespiele, wie z. B. „DOTA2“ oder „Counter Strike“, die ähnliche Größenordnungen erreichen und online Millionen sowie live in großen Arenen zehntausende Menschen mobilisieren. Insgesamt geht man für 2018 weltweit von über 380 Mio. E-Sport-Zuschauern aus, die entweder gelegentlich oder regelmäßig die Spiele verfolgen. Dabei wird ein Umsatz von geschätzt über 900 Mio. US$

Abb. 6.2   Halbfinale des Spiels „Counter-Strike“ in der Lanxess Arena in Köln 2016. (Quelle: Wagner 2016)

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erzeugt, der auf der Basis der bisherigen Wachstumsraten von über 40 % jährlich bis 2021 auf über 1,6 Mrd. US$ steigen soll. Davon sind neben dem Sponsoring die Werbeeinnahmen der zweitgrößte Umsatzanteil (vgl. Newzoo 2018, S. 22; siehe Abb. 6.3). Auch in Deutschland wachsen die Umsätze im E-Sport seit 2016 kontinuierlich und könnten 2020 bereits über 130 Mio. EUR betragen, wie in Abb. 6.4 dargestellt. Dabei entsteht rund um den E-Sport eine Art neues Ökosystem mit verschiedenen Stakeholdern. Besonders der Bereich des Sponsorings und der Werbung wird zunehmend für Unternehmen interessanter, die nicht aus der naheliegenden Gaming- und Hardware-Branche kommen, sondern aus der Finanz- oder Konsumgüterbranche. Durch Sponsoring können somit auch branchenfremde Unternehmen Zugang zu der neuen Zielgruppe erlangen (vgl. Deloitte 2017, S. 3 f.). So ist die Bausparkasse Wüstenrot der aktuelle Hauptsponsor der deutschen E-Sport-Liga 2018 – neben anderen Sponsoren wie z. B. intel, Gillette, McDonald’s und Pringles (vgl. ESL 2018; siehe Abb. 6.5). Betrachtet man die Zuschauer etwas genauer, versteht man recht schnell das wachsende Interesse vieler Unternehmen. Die Zuschauer beim E-Sport sind sehr homogen, d. h. tendenziell jung, männlich und technikaffin und somit für ein gezieltes Marketing gut geeignet (vgl. Deloitte 2017, S. 4). Außerdem zeichnen sich Videospieler durch einen relativ hohen Bildungsgrad aus, was dementsprechend auf ein attraktives Haushaltseinkommen schließen lässt (siehe Abb. 6.6). Um den Anschluss an diese wachsende E-Sport-Gemeinde nicht zu verlieren, gründete eine Vielzahl von Bundeliga-Klubs wie Schalke 04, VFL Wolfsburg oder der VFB Stuttgart bereits eigene Abteilungen, die meist mit dem Onlinespiel FIFA in der Gamer­ szene Präsenz zeigen wollen (vgl. Sebek 2018; siehe Abb. 6.7).

Abb. 6.3   Umsatz und Umsatzanteile des E-Sports weltweit. (Quelle: nach Daten von Newzoo 2018, S. 21 f.)

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Abb. 6.4   Umsatzentwicklung mit E-Sport in Deutschland. (Quelle: in Anlehnung an Deloitte 2017, S. 4)

Spieleplattform „twitch“ Twitch ist eine der bekanntesten und meistgenutzten sogenannten „Livestreaming“- oder „LetsPlay“-Plattformen. Angefangen haben die beiden Gründer Justin Kan und Emmett Shear bereits 2007 mit der Idee, ihr Leben mithilfe einer Videokamera an der Baseballmütze zu filmen und über die Website justin.tv zu veröffentlichen. Daraus entwickelte sich über die Zeit ein Format, mit dem Gamer sich selbst sowie das Spiel live im Internet übertragen und gleichzeitig mit den Zuschauern kommunizieren oder das Geschehen kommentieren. Diese Rubrik gewann sehr schnell Aufmerksamkeit und 2011 entschieden sich die beiden Gründer, eine eigene Website mit dem Namen „twitch tv“ dafür ins Leben zu rufen. Schnell entwickelte sich diese Plattform zu einer der erfolgreichsten Livestreaming-Plattform für Spiele wie „Dota“, „Overwatch“ oder „League of Legends“. Twitch entwickelte sich so zu einem Partner für Turniere und E-Sport-Events und wird

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Abb. 6.5   Sponsoring der E-Sport-Liga (ESL) durch die Bausparkasse Wüstenrot. (Quelle: ESL 2018)

Abb. 6.6   Bildungsgrad und Haushaltseinkommen von Videospielern in Deutschland. (Quelle: Game 2017, S. 38)

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Abb. 6.7   Das E-Sport-Team des 1. FC Köln. (Quelle: Games Wirtschaft 2018)

von Playstation und Xbox als Software integriert. Die sogenannten „Streamer“ also Spieler, die ihr Spiel im Livestream anbieten, entwickeln sich zu populären Personen mit einer großen Anzahl von Followern (vgl. Kühl 2014). Alleine mit den 25 beliebtesten Spielen verbrachten die Zuschauer über 950 Mio. Stunden vor den Bildschirmen (vgl. Newzoo 2018, S. 25). Während dieser Zeit stehen die Zuschauer auch miteinander im Austausch, kommunizieren via Chat und nutzen andere interaktive Angebote der Plattformen. So entstehen Millionen von Chatdaten, die für verschiedene Zwecke ausgewertet und genutzt werden könnten. In Abb. 6.8 ist der Chatverlauf auf der rechten Seite des Bildschirms zu sehen, während in der Mitte der Streamer sein Spiel zeigt. Nach wie vor können Zuschauer kostenfrei an den Livestreams teilnehmen. Über Abos bekommen sie zusätzliche Möglichkeiten, wie beispielsweise die Teilnahme an Gewinnspielen, die der Streamer während seines Streams veranstaltet, oder das Nutzen von speziellen Emotes (Smileys) im Chat. Auch für die Werbung wird twitch immer interessanter und schließlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich einer der OnlineGiganten für twitch interessiert. 2014 wurde twitch für 970 Mio. US$ von Amazon übernommen (vgl. Postinett 2014). Inzwischen halten sich weltweit täglich im Durchschnitt über 15 Mio. Zuschauer bei twitch auf, verbringen dabei über 5,8 Billionen Stunden am Bildschirm und erzeugen über 360 Mio. Chats (vgl. twitch 2018b, S. 1). Wie auch insgesamt im E-Sport sind 80 % der twitch-Nutzer zwischen 16 und 34 Jahre alt. Die Idee des Start-ups „vAudience“ ist es nun, über eine Analyse und Auswertung dieser Chatdaten ein neues Geschäftsmodell zu erzeugen.

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Abb. 6.8   Screenshot eines twitch-Kanals mit Chatverlauf. (Quelle: twitch 2018a)

6.1.2 Entwicklung eines ganzheitlichen Geschäftsmodells Das Start-up vAudience „vAudience“ steht für „virtual Audience“ und ist ein 2014 als GmbH gegründetes Start-up aus Würzburg, das über ein Exist-Stipendium und zwei Finanzierungsrunden das Licht der Welt erblickte. vAudience kreiert Software-Produkte, die es Fans ermöglichen sollen, virtuell an Live-Events teilzunehmen. Im Juni 2017 ging vAudience mit dem ersten Produkt, BOBMOB, an den Markt (siehe auch Abb. 6.9). BOBMOB ist eine „gamified Social-Viewing–Plattform“ für E-Sports und twitch-Streaming. Aktuell folgt die Entwicklung einer mobilen Second-Screen-Lösung in Zusammenarbeit mit Sky für den Fußballmarkt. Inzwischen beschäftigt das Unternehmen 15 Mitarbeiter und kooperiert u. a. mit SKY, der iWelt AG und der Hochschule in Würzburg (vgl. BR Mediathek 2017). Durch seine Nähe zum E-Sport und zur Livestreaming-Plattform twitch will das junge Unternehmen ein weiteres Standbein entwickeln und möchte aus den Chatdaten der twitch-Plattform ein eigenes Geschäftsmodell entwickeln. Über die verschiedenen Chat-Funktionen entstehen nach Angaben von vAudience über 900 Mio. Chat-Nachrichten, die von vAudience analysiert und ausgewertet werden können. Es ist zunächst noch völlig offen, welcher Mehrwert damit erzeugt werden kann und welchen Wert die Daten überhaupt haben könnten.

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Abb. 6.9   Homepage und bisherige Produkte von vAudience. (Quelle: vAudience 2018)

Als Ideen werden die Markenwahrnehmung, der Einfluss von Kampagnen oder Stimmungsbewertungen aufgeworfen. Als potenzielle Kunden könnten die Sponsoren oder auch Werbetreibende infrage kommen, aber auch die Plattformanbieter wie twitch selbst oder die Streamer, die damit ihre Zuschauerzahlen erhöhen und ihre Attraktivität als Werbeplattform vergrößern möchten. Dazu gilt es aber auch herauszufinden, inwieweit es bereits Wettbewerber für diese Form der Datenauswertung gibt und wer die potenziellen Kunden für diese Auswertung sein könnten. Es geht also darum, aus einem riesigen „Datenhaufen“ nutzbaren und wertigen Content in Form eines Geschäftsmodells für das Unternehmen zu entwickeln. Beschreibung des Analysetools Die Chatinhalte sind wie in Abb. 6.10 dargestellt aufgrund der sehr verkürzten und mit Emoticons und Abkürzungen gespickten Kommunikation nur eingeschränkt auswertbar. Für die Auswertung kann das kostenfreie Analysetool Kibana verwendet werden. Kibana kann dabei mit verschiedenen Rohdaten gespeist werden. Diese können dann anhand von Filtern sortiert und selektiert werden. Anschließend werden die Auswertungen z. B. als Torten- oder Balkendiagramme dargestellt (Abb. 6.11). Datenwert Dass sich Daten inzwischen zu einem neuen Rohstoff entwickelt haben, ist mittlerweile bekannt und je nach Inhalt und Kontext sowie Angebot und Nachfrage werden

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Abb. 6.10   Darstellung von verschiedenen Chatverläufen auf twitch. (Quelle: twitch 2018c)

Abb. 6.11   Screenshot einer Auswertung mithilfe von Kibana. (Quelle: Kibana)

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Abb. 6.12   Individueller Datenwert nach einer Studie der Financial Times. (Quelle: nach Daten von Financial Times)

Daten gehandelt. Dabei treten sowohl nach Ländern als auch nach Themenbereich mitunter große Unterschiede auf, wie in Abb. 6.12 dargestellt. Besonders interessant sind personenspezifische Daten wie gesundheitliche Informationen oder Wendepunkte im Leben wie Heirat, Schwangerschaft oder Krankheit (vgl. Fröhlich 2014). Beschreibung Datenbewertung Die Daten, die für das Unternehmen vAudience aus den Chatverläufen zur Verfügung standen, wurden anhand der Bewertungssystematik von „DAWEX“ analysiert und beurteilt (vgl. Dawex 2018; siehe Abb. 6.13). Um die Möglichkeiten der Auswertung aufzuzeigen, wurden aus einer kurzen Stichwortanalyse „Food Facts“ erstellt (siehe Abb. 6.14). Hinweise zur EU-weiten Datenschutz-Grundverordnung DSGVO Seit dem 25. Mai 2018 gilt in Deutschland und EU-weit einheitlich die neue Verordnung zum Schutz persönlicher Daten, die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Darin wird der Schutz persönlicher Daten natürlicher Personen geregelt. Es geht insbesondere darum, dass die Verwendung persönlicher Daten nur mit Einwilligung der betreffenden Personen geschieht. Personenbezogene Daten dürfen demnach nur „für festgelegte, eindeutige und legitime Zwecke erhoben werden“ (BFDI 2018, S. 11). Als personenbezogene Daten werden dabei „alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person (im Folgenden ‚betroffene Person‘) beziehen“ verstanden (BFDI 2018, S. 44).

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Kriterium

Stellung im Markt

Seltenheit

Wahrhaftigkeit

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Bewertung • •

Schwache Marktposition (Start-up) Know-how der Investoren vorhanden

• • •

Prinzipiell hat jeder Zugriff USP: Live-Daten Twitch besitzt Daten ebenfalls

• •

Sentiscore nicht zufriedenstellend Verfälschung der Daten durch Werbung/ Bots Sprache und Verständlichkeit nicht transparent genug Nennhäufigkeit einziges Auswertungskriterium

• •

• Volumen







Genauerer und verbesserter Sentiscore, welcher eine qualitative Bewertung zulässt Rein quantitative Auswertung für Unternehmen eher uninteressant

Aktuell 700 bis 900 Mio. Datensätze (Tendenz steigend) Nur kleiner Anteil der Daten kann genutzt werden

Frequenz



Echtzeitfähige Datensammlung

Strukturiert



Möglich mit Kibana

Dokumentiert

• • •

Dokumentiert in Kibana Keine Aufbereitung der Daten Filtermöglichkeiten

• • •

Gegeben aus Chatverläufen Keine persönlichen Angaben Bot trackt nur Chatverläufe ab 8 Zuschauern

Nachhaltigkeit

• •

Bisher verfügbar auf unbestimmte Zeit Abhängig von twitch

Abhängigkeit



Abhängig von twitch

Vollständigkeit

Anmerkungen



USP!



„Mundgerechtere“ Aufbereitung für interessierte Unternehmen



Vernetzung mit twitch möglich, um an Userdaten zu gelangen?

Abb. 6.13   Bewertung der Chatdaten, die vAudience zur Verfügung stehen

Eine Verarbeitung der Daten ist nur dann rechtmäßig, wenn die betroffene Person „ihre Einwilligung zu der Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten für einen oder mehrere bestimmte Zwecke gegeben hat“ (BFDI 2018, S. 54). Allerdings enthält die DSGVO auch eine Regelung, die eine Verarbeitung von Daten, bei denen eine Identifizierung nicht möglich ist, von weitergehenden Verpflichtungen befreit (vgl. BFDI 2018, S. 66).

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Abb. 6.14   Auswertung aus einer Chatanalyse über einen Zeitraum von vier Wochen

Geschäftsmodellentwicklung mit der Business Model Canvas Die Entwicklung zukünftiger Geschäfte ist nicht mehr nur mit der Entwicklung eines neuen Produktes getan, das auf potenzielle Märkte ausgerichtet ist. Vielmehr ist es immer wichtiger, in ganzheitlichen Geschäftsmodellen zu denken, um im Wettbewerb der Zukunft bestehen zu können (vgl. Gassmann et al. 2013, S. 4 f.). Getrieben ist diese Entwicklung insbesondere von Internet-Start-ups wie Airbnb oder Uber, die mit ihren Plattformen die Geschäftsmodelle etablierter Unternehmen angreifen. Auch wenn es nach wie vor eine Vielzahl verschiedener Definitionen und Ansätze für Geschäftsmodelle gibt (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011; Maurya 2012; Gassmann et al. 2013; Doleski 2014; Schallmo 2013) geht es im Grunde immer darum, die wichtigsten Komponenten für ein Geschäft in ein stimmiges Gesamtkonzept zu bekommen und dies auf möglichst einfache und übersichtliche Art darzustellen und zu erklären. In der Praxis hat sich dabei die sogenannte „Business Model Canvas“ von Osterwalder und Pigneur (2011, S. 48) weit verbreitet. Das Geschäftsmodell wird darin in neun Felder aufgeteilt und auf einer Seite visualisiert, deshalb auch der Name „Canvas“, was mit Leinwand übersetzt werden kann (Abb. 6.15).

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Abb. 6.15   Die neun Felder eines Geschäftsmodells. (Quelle: in Anlehnung an Osterwalder und Pigneur 2011, S. 48)

Die neun Bausteine sind in der Abb. 6.15 dargestellt und können wie folgt stichpunktartig erläutert werden (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 21–45): 1. Wertangebote: Beschreibt den Kern des Geschäftsmodells, stellt das Produkt oder die Dienstleistung für definierte Kundengruppen dar, jedes Wertangebot sollte ein Kundenproblem lösen oder ein bestehendes Kundenbedürfnis erfüllen. 2. Kanäle: Beschreibt, wie eine Organisation die Kundengruppen erreicht und diese zielführend anspricht. Es wird zwischen Kommunikations-, Distributions- und Verkaufskanälen unterschieden. 3. Kundenbeziehung: Zwischen dem Unternehmen und dem Kundensegment. Kundenbeziehungen haben einen sehr hohen Stellenwert, beeinflussen die Motivation und Bindung der neuen Kundengruppe und prägen die gesamte Kundenerfahrung. 4. Einnahmequellen: Betrachtet die erwarteten Einkünfte aus den Kundengruppen, berücksichtigt die Zahlungsbereitschaft der Kundensegmente, kann grundlegend als einmalige Transaktion oder als wiederkehrende Einnahmen aus fortlaufenden Zahlungen gestaltet sein, unterscheidet zwischen Festpreis und variablen Preisen.

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5. Schlüsselressourcen: Erläutert die wichtigsten Mittel, die zur erfolgreichen Umsetzung benötigt werden. Die Ressourcen ermöglichen dem Unternehmen, das Wertangebot zu erzeugen, die Beziehungen aufzubauen, die Kundengruppen zu bedienen und die erforderlichen Einnahmen zu generieren. Die Schlüsselressourcen können in physischer, finanzieller, intellektueller oder menschlicher Form eingesetzt werden. 6. Kundensegment: Besteht inhaltlich aus den unterschiedlichen Gruppen von Personen und Organisationen, die ein Unternehmen mit dem neuen Geschäftsmodell bzw. Produkt oder der Dienstleistung erreichen will. Wichtig ist dabei, die konkreten Bedürfnisse, Verhaltensweisen oder Merkmale spezifischer Kunden zu ermitteln, um die anderen Geschäftsmodellkomponenten darauf auszurichten. 7. Schlüsselaktivitäten: Ähneln den Schlüsselressourcen, beschreibt die wichtigsten Handlungen der Organisation zur Erfüllung des Wertversprechens. 8. Schlüsselpartner: Definiert das Netzwerk von Partnern und Lieferanten, die zum Schaffen des Wertangebots und somit zur erfolgreichen Umsetzung des Geschäftsmodells beitragen. Es wird zwischen vier verschiedenen Formen von Partnerschaften unterschieden: strategische Allianz, zwei Nicht-Wettbewerber, eine Partnerschaft zwischen Wettbewerbern, ein Joint Venture sowie eine Käufer-Anbieter-Beziehung. 9. Kostenstruktur: Beschreibung aller Kosten, die bei der Umsetzung des Geschäftsmodells entstehen. Man differenziert zwischen einer Kostenorientierung, die auf eine schlanke Kostenstruktur fokussiert ist, und einer wertorientierten Kostenstruktur, bei der die Konzentration eher auf einem erstklassigen Wertangebot liegt.

6.2 Fallstudienfragen 1. Wer könnten mögliche Abnehmer/Kunden der Chatdaten-Auswertungen sein? 2. Welche Daten bzw. Inhalte könnten aus den vorhandenen Chatdaten sinnvoll verwendet werden? 3. Wie könnte ein Geschäftsmodell mithilfe der Business Model Canvas aussehen? 4. Was sollte bezüglich der DSGVO berücksichtigt werden? 5. Welche Handlungsempfehlungen sehen Sie für vAudience in diesem besonderen Markt des E-Sports?

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6.3 Lösungshinweise Zu Frage 1 Wie in Abb. 6.3 dargestellt, teilt sich der Umsatz durch E-Sport in diverse Bereiche auf, an denen jeweils verschiedene Unternehmen interessiert sein könnten. Daneben könnten auch die Streamer eine interessante Zielgruppe sein, da diese ebenfalls Werbung einblenden und Interesse daran haben könnten, diese gezielter einzusetzen. Im Folgenden werden einige Beispiele genannt, die weiter ergänzt werden können. Die Bereiche Merchandising/Ticketing scheinen zwar weniger attraktiv zu sein, aber die Veranstalter der großen Events könnten durchaus Interesse an Auswertungen von Chatverläufen während der Übertragungen haben. Potenzielle Zielgruppen für Chatdatenanalysen Spielehersteller

Medienrechte/ Plattformen

Werbung

Sponsoring

Ubisoft

Twitch

BenQ

Wüstenrot

Ubisoft

McDonald

Merchandising/ Streamer Tickets

Needforseat Gillettte Razer

Intel BMW Bundesligavereine

Zu Frage 2 Aufgrund der besonderen „Sprache“ der E-Sport-Community ist tatsächlich nur ein geringer Anteil der Chatinhalte verwertbar. Nur etwa 10 bis 20 % lassen sich sinnvoll analysieren. Eine Auswertung von emotionalen Situationen ist leider nicht möglich. Somit bleiben tatsächlich nur Auswertungen über Stichworte und Begriffe, aber auch nach Firmen und Namen. Damit könnten Analysen erstellt werden, die z. B. die Wirksamkeit von Werbekampagnen oder Bannern während des Spiels erfassen. Der große Vorteil der Chatanalyse ist die Echtzeiterfassung, d. h., Sponsoren oder Werbekunden könnten direkt auf die Analysen reagieren. Eine weitergehende Auswertung der Chatdaten in Bezug auf die besonderen Lebensumstände erscheint sehr schwierig, auch wenn gerade diese Daten für Werbetreibende von besonderem Interesse sind.

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Zu Frage 3

Bussines Model Canvas vAudience

1. Kundensegmente: Potenzielle Kunden stammen wahrscheinlich aus dem Nischenmarkt, da es sich meist um Anbieter von Gaming-Equipment handeln wird, z. B. um einen Hersteller von Gaming-Stühlen. Des Weiteren könnten Vermarkter von E-Sports-Teams und Streamer selbst Kunden sein, welche mithilfe des Algorithmus die Stimmung in ihrem Chat analysieren könnten. 2. Kundenbeziehung: Kunden werden persönlich von Mitarbeitern betreut. In enger Zusammenarbeit sollen Grafiken erstellt werden. 3. Kanäle: Aufmerksamkeit soll über die vAudience-Facebook Seite generiert werden. Zusätzlich wäre es vorstellbar, dass man die bestehende Reichweite des zweiten Produktes „BOBMOB“ nutzt, um auf den Algorithmus aufmerksam zu machen. Selbstverständlich wird auch auf der Website darüber informiert. 4. Werteversprechen: Der Hauptnutzen des Algorithmus besteht darin, Analysen von Begriffen und möglichst eindeutige Bezüge herzustellen, die einen Rückschluss auf das Konsumverhalten oder die Beurteilung von Marken oder Produkten zulassen. Gelingt hier der Bezug zu bestimmten Sachverhalten oder Verhaltensmustern, kann der Nutzer gezielt mit entsprechenden Zusatzinfos oder Werbung bedient werden. Mit einem günstigen Preis könnte man sich einen Wettbewerbsvorteil sichern.

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5. Schlüsselaktivitäten: Um den Algorithmus nutzen zu können, müssen die Chatdaten gespeichert und ausgewertet werden. Bei der Analyse sollten die Auswertungen grafisch aufbereitet werden und es sollte auf individuelle Wünsche der Kunden eingegangen werden. 6. Schlüsselressourcen: Zu den Schlüsselressourcen zählen der Algorithmus und die Chatdaten selbst sowie Grafiker und die Server, um die Daten zu speichern. 7. Schlüsselpartner: Da die Daten von twitch stammen, ist der Streaming-Anbieter der wichtigste Partner. Des Weiteren ist man auf Investoren und die Serveranbieter angewiesen. Als Auswertungstool wird aktuell Kibana verwendet. 8. Einnahmequellen: Es sind zwei verschiedene Einnahmequellen denkbar. In der ersten Variante schließt ein Kunde ein Abo ab und bekommt monatlich eine festgelegte Anzahl an Auswertungen. In der zweiten Variante werden Grafiken zu einem Einzelpreis verkauft. 9. Kostenstruktur: Die höchsten Kosten sind die Personalkosten. Des Weiteren fallen Kosten für die Server an. Zu Frage 4 Eine Identifizierung der Chat-Nutzer scheint für vAudience nicht möglich zu sein, denn es werden keine Klarnamen verwendet und es besteht keine Rückverfolgbarkeit für vAudience. Für die Zwecke der Verarbeitung ist eine Identifizierung auch nicht notwendig, man könnte sich demnach auf den Artikel 11 der DSGVO berufen. Dies sollte aber tatsächlich von einem entsprechenden Anwalt geprüft werden. Zu Frage 5 Mithilfe der erstellten „Food Facts“ wie die Beispiele zu Pizza oder Burger (Abb. 6.14) könnte versucht werden, bei Sponsoren oder Werbeanbietern Interesse zu wecken und auf die Möglichkeiten einer gezielten Chatanalyse hinzuweisen. Da der Aufwand für eine Erstellung überschaubar ist, könnte man z. B. auch Analysen zu Nennung bestimmter Firmen aufnehmen und dies in Grafiken darstellen. Diese Grafiken könnte man dann entweder direkt an potenzielle Unternehmen senden, die sich bereits bei twitch engagieren, oder auf besonderen Social-Media-Kanälen, die von den E-Sport-Nutzern verwendet werden. Sollte sich das in der E-Sport-Community verbreiten, könnte das wiederum das Interesse bei Sponsoren und Werbepartnern wecken. Für den ersten Schritt sollte man noch nicht zu viel Zeit und Ressourcen einsetzen, sondern in einem ersten Piloten die Resonanz testen und dann über weitere Schritte wie die Programmierung verfeinerter Auswertungsalgorithmen entscheiden.

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G. Hube und T. Wagner

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Prof. Dr. Gerhard Hube  erhielt 2010 einen Ruf an die Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg für das Lehrgebiet „Strategisches Innovationsmanagement“. Dort leitet er den Masterstudiengang „Innovation im Mittelstand“ und verantwortet das „3D Drucklabor“ sowie das „Digital Business Lab“ in Würzburg. Gerhard Hube ist Mitglied des Technologie- und Forschungsausschusses der IHK Mainfranken, sowie Jurymitglied für den Innovationspreis Bayern. Nach dem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens sammelte er über 15 Jahre Erfahrung in leitenden Positionen in Praxis und Wissenschaft und promovierte 2006 am Fraunhofer Institut IAO in Stuttgart zu Innovations- und Wissensmanagement. Gerhard Hube ist Preisträger des Fraunhofer IAO Innovationspreises und erhielt den Förderpreis des Vereins zur Förderung produktionstechnischer Forschung für seine Dissertation.

Toni Wagner  ist einer von vier Gründern der vAudience GmbH, die Mitte 2016 mit der Vision angetreten ist, aus passivem Zusehen ein aktives Erlebnis zu machen. Zuvor hatte er mehr als zehn Jahre lang als Molekularbiologe an Stammzellen und Zell-Zell-Kommunikation geforscht. Über die Patentabteilung der Uni Würzburg hat er dann 2010 die Viserion UG (Geschäftsführer) gegründet, die er 2011 an den Klett-Verlag verkauft und mit diesem zusammen die K.lab GmbH (als technischer Leiter) gegründet hat. Mit vAudience geht er diesmal den „amerikanischen“ Weg und wächst mit Nutzerzahlen, Risikokapital und jeder Menge Hightech-Innovation.

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Businessmodellinnovation im Bereich von Cross-Media- und DigitalContent-Services Joachim Hafkesbrink und Sarah Samuttis

Inhaltsverzeichnis 7.1 Entwicklung eines Online-Geschäftsmodells für einen Special-Interest-Verlag. . . . . . . . . 7.1.1 Ausgangssituation und Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Der Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Hintergrundmaterial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3.1 Cross-Media: Konvergenz der Medien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3.2 Businessmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3.3 Businessmodellinnovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3.4 Typen von Businessmodellen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3.5 Business Model Canvas nach Osterwalder und Pigneur. . . . . . . . . . . . . . 7.1.3.6 Analyse der Businessmodellumgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3.7 Businessmodelle im E-Business. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

In dieser Fallstudie besteht die Aufgabe darin, für einen Special-Interest-Verlag ein neues Online-Geschäftsmodell zu entwickeln, welches den Nutzern interaktive Erfahrungen mit hohem Mehrwert vermittelt. Vor dem Hintergrund bestimmter J. Hafkesbrink ()  Duisburg, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Samuttis  Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_7

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Rahmenbedingungen im Bereich E-Publishing und einer Kurzcharakterisierung der Ausgangssituation soll ein (mobiles) Angebot für den übergeordneten Use-Case „Jakobsweg mit dem Rad“ entwickelt werden. Hierzu wird eine Reihe von Tools präsentiert, mit denen die Fallstudie bearbeitet werden kann. Zentrales Instrument ist eine Business Modell Canvas, welche die Entwicklung des Businessmodells in strukturierter Weise unterstützt. Die Fallstudie eignet sich insbesondere für Gruppenarbeiten bis zu fünf Personen.

7.1 Entwicklung eines Online-Geschäftsmodells für einen Special-Interest-Verlag 7.1.1 Ausgangssituation und Hintergrund

Beispiel

Technavio’s analysts forecast the global digital publishing market to grow at a CAGR of 10,19 % during the period 2018–2022 (vgl. ReportLinker 2018; Abb. 7.1). Zeitsprung – Wir gehen zehn Jahre zurück in das Jahr 2008. Die Verlags- und Medienindustrie befand sich in einer Phase maximaler Verunsicherung. Das Internet und die

Abb. 7.1   Weltmarkt E-Publishing bis 2022. (Quelle: Statista 2019)

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Abb. 7.2   Zeitschriftenausschnitte. welt kompakt Abb. 7.3   Generation C

damit verbundenen neuen Möglichkeiten multimedialer Information und Kommunikation hatten zu einer echten Disruption geführt. Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftenverlage sahen sich mit dem aufkommenden Online-Shift konfrontiert. Studien über das Mediennutzungsverhalten zeigten eine deutliche Veränderung in Richtung mobiler Applikationen verbunden mit einem steigenden Bedarf an multimedialen Inhalten. Sinkende Abonnentenzahlen einhergehend mit Auflagenrückgang und Abwanderung von Werbekunden in das Internet sprechen bis heute eine deutliche Sprache (siehe Abb. 7.2). Wie ist die Situation heute? Interaktive IT- und Medientechnologien charakterisieren in starkem Maße die gegenwärtige Lebens- und Arbeitswelt und insbesondere die heranwachsenden Generationen. Publisher müssen heute interaktive Erfahrungen kreieren, um insbesondere die jüngeren Kundengenerationen zu binden. Die Verlags- und Medienindustrie ist zunehmend gefordert, diesen Zeitgeist bei ihren Produkt- und Serviceinnovationen umzusetzen. Solche interaktiven Erfahrungen können am besten in digitalen Geschäftsmodellen realisiert werden. Diese kommen dem Mediennutzungsverhalten der neuen Generationen Y, Z und C (mobil, always-on, Nutzung digitaler Medien in Schule, Freizeit und am Arbeitsplatz, C = Connection; Abb.  7.3) besonders entgegen.

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Abb. 7.4   Special-Interest-Zeitschriften. (Quelle: pubiz 2016)

7.1.2 Der Fall Sie sind Geschäftsführer1 eines mittelständischen Verlagshauses, des O&I-Verlages. Das Produktportfolio von O&I besteht aus Special-Interest-Zeitschriften rund um die Themen Lifestyle, Wellness, Reisen, Freizeit und Hobby. Bisher haben Sie mehr oder weniger erfolgreich mit elektronischen Zeitschriften im PDF-Format und ­Webauftritten experimentiert. In diesem Zusammenhang konnten Sie Kapazitäten im Bereich von Webjournalismus und App-Entwicklung aufbauen, haben aber bisher lediglich auf Online-Ausgaben Ihrer Print-Produkte gesetzt. Sie verfolgen den Markt seit zehn Jahren mit wachsender Sorge. Zuletzt gab ein Fundstück bei www.pubiz.de den entscheidenden Anstoß für Sie, das Heft sprichwörtlich in die Hand zu nehmen (siehe Abb. 7.4). Sie setzen das Thema auf die Tagesordnung für die nächste Strategiesitzung mit den Spartenleitern. An den Abonnentenzahlen und Werbeerlösen für das letzte Jahr lesen Sie ab, dass in zwei Bereichen akuter Handlungsbedarf vorliegt: 1) im Segment Moun-

1Zur

Vereinfachung wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter.

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tain Bikes, E-Bikes und 2) im Segment Reisemagazine, insbesondere Reiseführer zum Jakobsweg. Im Rahmen der Strategiesitzung initiieren Sie eine offene Diskussion über folgende Fragen: 1. Welche Online-Services sind für die beiden Segmente denkbar, die zunächst additiv zum bestehenden Papierformat laufen sollen, dieses aber langfristig ablösen sollen? 2. Ist eine Hybridlösung denkbar, um Synergien aus beiden Segmenten zu erzeugen und beide Bereiche zusammen zu vermarkten? 3. Wie könnte ein neues E-Business-Geschäftsmodell für eine solche Hybridlösung aussehen? Was passiert in der Strategiesitzung? Etwas Typisches und Erwartbares: Zunächst gewinnen die Bedenkenträger die Überhand. Die beiden Segmente liefen sowieso eher schlecht als recht. „Wenn sich zwei Lahme zusammentun, wird kein Gesunder daraus!“ „Eins und eins ergibt in diesem Fall nicht drei, sondern eineinhalb.“ Ihre Diagnose: Innovationsbremser aufgrund eines kognitiven Lock-ins! Doch Sie geben nicht auf! Sie beauftragen Ihren neuen Assistenten, für die nächste Strategiesitzung eine kurze Marktrecherche zu dem Thema „Jakobsweg mit dem Rad“ vorzubereiten. Was Sie nicht wissen: Ihr Assistent ist begeisterter Mountain-Biker – ein Auftrag also, der ihm gerade recht kommt! In der folgenden Strategiesitzung präsentiert Ihr Assistent das Ergebnis der Marktund Wettbewerbsanalyse. Eindeutiger Befund ist, dass für beide Themen separat betrachtet vielfältige Offline- und Online-Produkte verfügbar sind und es für die Schnittmenge „Jakobsweg mit dem Rad“ einige Blogs und Reiseberichte gibt, die auf ein stark wachsendes Kundeninteresse treffen. Die Online-Produkte sind jedoch nicht auf interaktive Erfahrungen ausgerichtet. Es handelt sich bisher eher um gespiegelte OnlineVersionen der Printerzeugnisse. Sie treffen die Entscheidung, das Thema mit folgender Maßgabe weiterzuverfolgen: Für die nächsten Strategiesitzungen soll Ihr Assistent ein Vorgehen für eine systematische Businessmodellentwicklung vorbereiten mit dem Ziel, eine Hybridlösung für Online-Services „Jakobsweg mit dem Rad“ zu erarbeiten. Es soll ein digitales Geschäftsmodell entstehen, welches dynamischen Content mit hohem Kundennutzen erzeugt, stark interaktiv ausgerichtet ist und Communitys und komplementäre Wertschöpfungspartner systematisch einbindet. Zur Businessmodellentwicklung soll ein bekanntes Canvas-Format genutzt (­Osterwalder und Pigneur 2011) und auf ein E-Businessmodell übertragen werden.

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7.1.3 Hintergrundmaterial 7.1.3.1 Cross-Media: Konvergenz der Medien Der Begriff „Konvergenz“ wird im Allgemeinen mit „Annäherung, Übereinstimmung von Meinungen, Zielen“ etc. umschrieben (lat. „convergere“  = zusammenneigen). Medienkonvergenz beschreibt dementsprechend das Zusammenwachsen der Medien-, Telekommunikations- und IT-Branche (vgl. Gomez 2007, S. 36). Treiber von Konvergenz sind in erster Linie die Diffusion von Informations- und Kommunikationstechnik in Wirtschaft und Gesellschaft verbunden mit einer Digitalisierung von Diensten und Infrastruktur über das Internet sowie die zunehmende Verbreitung mobiler Breitbandtechnologien. Auch Standards und offene Schnittstellen begünstigen den Konvergenzprozess von digitalen Services und zwischen verschiedenen Softwareanwendungen. Konvergenz führt dann zur Innovation, wenn aus der Kombination zuvor getrennter (technologischer) Welten etwas Neues mit Mehrwert für den Nutzer entsteht. Die Branchen nähern sich einander an, teilweise oder vollständig verbunden mit (partiellen) Substitutions-, Synergie- und Innovationseffekten. Aus der Kumulation solcher Ereignisse können neue Branchen bzw. neue Geschäfte entstehen (z. B. die Multimedia-Branche) mit fluiden, offenen Grenzen, die aufnahmefähig sind für die Ankopplung weiterer fremder oder bislang peripherer Branchensegmente: Hardware, Software, Content und Services verschmelzen zu IPTV-, Domotik-, Entertainment-, und Kommunikationsservices oder darüber hinaus z. B. mit Ambient-Assisted-Living und Healthcare-Services. Praktisch jeder Lebens- und Arbeitsbereich ist betroffen. Wir sprechen von digitaler Transformation bzw. Digitalisierung. Da durch die offenen Schnittstellen ein Markteintritt auch für viele kleine und mittlere Unternehmen leicht möglich ist, kommt es getrieben durch Konvergenzprozesse gerade in der digitalen Medienwirtschaft zu dem Phänomen von Quereinsteigern, die mit innovativen Diensten etablierte Geschäftsmodelle ehemaliger Branchenführer ins Wanken bringen (z. B. Aggregatoren wie Google). Konvergenz findet auf verschiedenen Ebenen statt, z. B. • in oder zwischen Branchen: Verschmelzung verschiedener Medienunternehmen untereinander oder mit Unternehmen anderer Branchen (siehe hierzu die u­mfangreichen M&A-Aktivitäten im Mediensektor); • in technologischer Infrastruktur: Zusammenwachsen von Diensten und Anwendungen in den Netzen der Telekommunikationsanbieter (z. B. Sprach- und Datendienste im ­Festnetz oder mobil); • in Endgeräten der Informations- und Kommunikationstechnik: Zusammenwachsen verschiedener Einzelmedien und Funktionen zu einem multimediafähigen Endgerät: Smartphones vereinen z. B. Funktionen von Mobiltelefonen und PDA (­Personal Digital Assistent), siehe Abb. 7.5;

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Abb. 7.5   Konvergenz auf Produktebene (Beispiel Smartphone)

• in Diensten: Internet-Service-Provider oder Betreiber von Webportalen kombinieren unterschiedliche Softwareanwendungen und Dienste (z. B. über Social-Media-Applikationen, Location-based Services) und schaffen so neue Dienste, die von unterschiedlichen Geräten stationär oder mobil genutzt werden können. In der digitalen Medienwirtschaft entstehen durch Konvergenzprozesse verbunden mit Rekonfiguration bzw. Neubündelung von Wertschöpfungsstufen neue Wertschöpfungssysteme, letztendlich ein neuer gemeinsamer Markt, in dem neue Angebote zur Verfügung stehen, um komplexe Nutzerbedürfnisse z. B. im Bereich TIME (Telekommunikation, Information, Medien, Entertainment) zu bedienen. Die Folgen von Konvergenz sind, dass Branchengrenzen überschritten werden, verwischen oder sich auflösen und Unternehmen gezwungen werden, an vorher klar definierten Schnittstellen zu angrenzenden Branchen oder gar in den Kernfeldern der verschmelzenden neuen Branchensegmente eigene ­Kompetenzen aufzubauen. Der nächste Innovationsschub durch Konvergenzprozesse ist mit der Erwartung verbunden, dass die physische Welt mehr und mehr in das Internet eingebettet wird. Mit dem sogenannten „Outernet“ (auch als Web of Things, Internet der Dinge bezeichnet; siehe Abb. 7.6) ist jedoch nicht „nur“ eine Digitalisierung von bisher analogen Wertschöpfungsprozessen im Sinne der Ankopplung an die IT gemeint, sondern auch die intelligente Vernetzung von Applikationen zur Verbindung von Internet und physischen Artefakten (sogenannte CPS: Cyber-Physische Systeme), wodurch die Grenze zwischen virtueller und physischer Welt durchlässig wird. Hier sprechen wir heute von Industrie und Arbeiten 4.0. Mit dem Outernet eröffnen sich neue Möglichkeiten zur Realisierung innovativer Produkt-Service-Systeme rund um das Thema „Verhältnis von Mensch und Dingen zueinander“. Dinge werden mit Informationsressourcen aus dem Internet verbunden, können mit Kommunikationsangeboten und Dienstleistungen angereichert werden.

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Abb. 7.6   Outernet. (Quelle: TrendOne 2008)

­ rodukte werden zu hybriden Produkt-Service-Systemen, sie werden zur Verkaufsfläche P für das Marketing, aber auch zur Interaktionsfläche für innovative Services wie z. B. geodaten-, tageszeit- und situationsabhängige Informations-, Lern- und Transaktionsdienste. Dies gilt für Konsumgüter ebenso wie für Investitionsgüter. Diese Potenziale werden sowohl Businessmodelle wie auch Kollaborations- und Lernsysteme und am Ende auch die Organisation der Wissensarbeit nachhaltig revolutionieren. Zu unterscheiden ist im Hinblick auf die hier vorgetragenen Überlegungen „schwache“ von „starker Konvergenz“ (vgl. Coenen 2008, S. 79). In der Gesamtschau der digitalen Medienwirtschaft wird deutlich, dass diese zunächst eine Enablingfunktion für die analoge Wirtschaft ausübt. Durch die Digitalisierung von Geschäftsprozessen und

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Abb. 7.7   Konvergenzmatrix

ihre Umsetzung über das Internet werden vielfältige Transaktionen zwischen Unternehmen z. B. im Bereich E-Business (B2B-E-Commerce), zwischen Unternehmen und Konsumenten z. B. über den Versandhandel (B2C-E-Commerce oder Online-Banking) und direkt z. B. über Webshops der Unternehmen ermöglicht. Dies kann als „schwache Konvergenz“ bezeichnet werden, d. h. dort, wo IP-basierte Produkte und Dienste bzw. Infrastrukturen in anderen Branchen lediglich unterstützend bzw. als Enabler wirken. Ein Beispiel für „starke Konvergenz“ hingegen ist das IP-basierte Zusammenwachsen von Geschäftsprozessen oder -modellen im Internet der Dienste, wo neue Produkte bzw. Services durch Kombination von unterschiedlichen Technologien, Inhalten und Medien mit einem echten Mehrwert für den Kunden entstehen und die Einzelbeiträge aus bisher getrennten Welten zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Services untrennbar miteinander verschmolzen sind. Als Beispiel dienen geodatenbasierte mobile Tourismusführer oder etwa IP-basierte augmentierte Lernumgebungen für Anwendungstechnik in der Produktion (sogenannte Knowledge-Hotspots als ein Beispiel für Outernet-Services). Abb. 7.7 illustriert die Konvergenz unterschiedlicher Bereiche innerhalb der digitalen Medienwirtschaft. Die Tabelle enthält in der ersten Spalte und der obersten Zeile eine Reihe von Medien und Technologien, die aneinander gespiegelt werden. Auf diese Weise

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entstehen innerhalb der Tabelle unterschiedliche Konvergenzfelder. So wird beispielsweise aus der Kombination von „Infotainment“ und „Augmented/Virtual Reality“ das Konvergenzfeld „Realworld/interactive Storytelling“. Diese Konvergenzfelder können als neue/mögliche Geschäftsfelder verstanden werden. Ein Beispiel für „Realworld/interactive Storytelling“ ist das von der Werbeagentur Jung von Matt bereits im Jahr 2011 produzierte mobile, interaktive Real-Life-Spiel „The Witness“. Hierbei wird der Zuschauer selbst zu einer Figur des Spiels. Er muss an einem realen Ort des Geschehens mithilfe seines Smartphones Rätsel lösen und Entscheidungen treffen, die sich auf den gesamten weiteren Verlauf der Handlung auswirken.

7.1.3.2 Businessmodelle Nach Osterwalder und Pigneur (2010, S. 14) offenbart ein Businessmodell, wie das Unternehmen Werte erzeugt, vermittelt und sichert, d. h. Umsätze und Gewinne aus diesen erzielt. Viele Autoren betrachten das Geschäftsmodell dabei als die Kombination und das Zusammenspiel relevanter Elemente.2 So identifiziert Stähler (2002, S. 42–47) die drei Elemente Value Proposition, Architektur der Leistungserstellung und Ertragsmodell, während Chesbrough und Rosenbloom (2002, S. 533 f.) dem Geschäftsmodell sechs Funktionen zuschreiben. Diese beziehen sich auf das Nutzenversprechen, die Festlegung des Marktsegments, die Struktur der Wertschöpfungskette, die Kosten- und Ertragsstruktur, die Positionierung des Unternehmens innerhalb des Wertschöpfungsnetzwerkes sowie auf die Formulierung einer Wettbewerbsstrategie. Beim Vergleich diverser Ansätze zeigt sich, dass sowohl die Anzahl als auch die Art der Elemente nicht deckungsgleich sind, jedoch Überschneidungen aufweisen (vgl. Schallmo 2013a, S. 22). Um ein schlüssiges, allgemeines Modell als Grundlage für zukünftige Konzepte und Tools zu schaffen, analysiert Osterwalder (2004, S. 2–46) vorherige Ansätze, ihre Zusammenhänge und Überschneidungen und leitet daraus die Business Model Ontology ab, nach der sich ein Geschäftsmodell aus den vier Segmenten Infrastruktur, Produkt, Kundenschnittstelle und finanzielle Aspekte zusammensetzt. Osterwalder clustert das Businessmodell innerhalb dieser Segmente weiter in Elemente und Sub-Elemente und identifiziert dabei neun essenzielle „Building Blocks“, die in den untersuchten Definitionsansätzen wiederkehrend vorkommen und gemeinsam das Geschäftsmodell bilden.Diese Ontologie bildet die Grundlage für das Tool „Business Model Canvas“ (vgl. Abschn. 7.1.3.5). 7.1.3.3 Businessmodellinnovationen In den vergangenen Jahren sind innovative Geschäftsmodelle aufgrund ihrer hohen Relevanz für Unternehmen zunehmend in den Fokus der Innovationsforschung und Praxis gerückt (vgl. Euchner und Ganguly 2014, S. 33). Chesbrough (2007, S. 12) erklärt: „a

2In

einigen Definitionen werden diese als Komponenten, Bestandteile, Objekte oder Konzepte bezeichnet, (vgl. Schallmo, D., Geschäftsmodell-Innovation 2013a, S. 22).

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better business model often will beat a better idea or technology“. Er bezieht sich damit auf Produkt- und Serviceinnovationen, mit denen sich Unternehmen weniger erfolgreich gegen die Konkurrenz behaupten können als solche, die innovative Businessmodelle schaffen (vgl. Chesbrough 2007, S. 12). Somit zählt er zu jenen Autoren, die die Veränderung eines Geschäftsmodells als eine Art Hilfsmittel betrachten, um Werte aus technologischen Innovationen und Ideen zu sichern, d. h. in Erträge umzuwandeln. Aus dieser Sicht wird z. B. die einst bei Xerox erfolgte Einführung eines neuartigen Ertragsmodells (Leasing) als Hilfsmittel eingeordnet, das die Kommerzialisierung eines innovativen Kopiergerätes erst ermöglicht hat. Das Businessmodell wurde demzufolge angepasst, um die Produktinnovation erfolgreich der Kundengruppe zuführen zu können. Andere Autoren betrachten das Businessmodell darüber hinaus selbst als eine Quelle der Innovation, welche die entscheidende Differenzierung vom Wettbewerb ermöglicht und damit den Schlüssel zum Unternehmenserfolg darstellt. Entsprechend wird die Geschäftsmodellinnovation als eine eigenständige Innovationsart eingeordnet (vgl. Zott et al. 2010, S. 1032; Chesbrough und Rosenbloom 2002, S. 551). Bis heute besteht keine Einigkeit darüber, wie eine Geschäftsmodellinnovation zu definieren ist (vgl. Schallmo 2014, S. 9–11). Weis (2014, S. 43) beschreibt sie als „Realisierung eines neuartigen Geschäftsmodells oder die neuartige Realisierung eines signifikanten Anteils des bestehenden Geschäftsmodells“. Diese erfolgt bewusst, um die Bedürfnisse der Kunden besser zu befriedigen und daraus selbst einen Nutzen, in Form eines Wettbewerbsvorteils, zu ziehen. Auch Osterwalder und Pigneur (2011, S. 140) sehen den Kern der Geschäftsmodellinnovation in der Entwicklung neuer Mechanismen, mit Hilfe derer unerfüllte oder nur latent vorhandene Kundenbedürfnisse befriedigt werden, um als Unternehmen Wert zu schöpfen und Einkünfte zu realisieren. Hierzu gilt es, Bestehendes infrage zu stellen und überholte Geschäftsmodelle durch neue zu ersetzen (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 140). So schaffte z. B. der Diners Club 1950 eine erfolgreiche Geschäftsmodellinnovation, indem er die heute fest als Zahlungsmittel etablierte Kreditkarte einführte. Apple entwickelte ein völlig neuartiges Geschäftsmodell, indem es ergänzend zu seinem Produkt eine mit dem iPod kompatible Plattform zum Musikdownload entwickelte. Mit dieser führte Apple seine Kunden und die Inhaber der Musiklizenzen zusammen und wurde zum weltweit größten Online-Musikanbieter, was wiederum den Verkauf der iPods pushte (vgl. Heinemann und Gehrckens 2016, S. 738; Osterwalder und Pigneur 2011, S. 102 f.). Auch in der Verlagsbranche gelang es Unternehmen wie Lulu.com erfolgreich, auf veränderte Kundenbedürfnisse, technologische Entwicklungen und den zunehmenden Wettbewerb zu reagieren. Lulu.com ersetzte das traditionelle, auf der Publikation von Bestsellern basierende Geschäftsmodell durch eine Plattform, die Nischenschriftstellern die Möglichkeit bietet, ihre Werke anzubieten. Das Geschäftsmodell führt die Autoren mit einer neuen Kundengruppe, den Nischen-Lesern, zusammen und hält eine Print-on-demand-Infrastruktur vor, durch die die Werke erst gedruckt werden, sobald ein Kunde den Kauf tätigt (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 74 f.). Im Zuge dieser Geschäftsmodellinnovation wurde ein Großteil der Bausteine, u. a. das

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Abb. 7.8   Intensitätsgrade von Businessmodellinnovationen. (Quelle: in Anlehnung an Schaltegger et al. 2012)

­ ertversprechen, die angesprochenen Kundensegmente, die Schlüsselressourcen und W -aktivitäten sowie das Ertragsmodell, modifiziert. Die Beispiele zeigen auf, wie spielverändernde Businessmodelle traditionelle Geschäfte bedrängen oder ablösen, d. h. disruptiv wirken können. Dies verdeutlicht das hohe Erfolgspotenzial radikaler Geschäftsmodellinnovationen. Doch auch die Erweiterung der Grenzen eines Geschäftsmodells, welche die Wettbewerbsfähigkeit verbessert, stellt bereits eine inkrementelle Businessmodellinnovation dar (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 9; Schallmo 2013a, S. 24 f.). Demzufolge können unterschiedliche Innovationsgrade vorliegen. In Abhängigkeit von Art und Umfang der angepassten Elemente benennen Schaltegger et al. (2012, S. 109–111) die aus Abb. 7.8 hervorgehenden vier Intensitätsgrade, womit sie innerhalb der inkrementellen bzw. radikalen Innovation eine nochmalige Differenzierung vornehmen (vgl. auch Lüdecke-Freund 2013, S. 6).

7.1.3.4 Typen von Businessmodellen Gassmann et  al. (2013, S.  17) stellen heraus, dass 90  % der Geschäftsmodellinnovationen nicht auf neuartigen Ideen, sondern auf der kreativen Imitation und Rekombination vorhandener Muster beruhen. Sie sind damit „Variationen von etwas, das bereits zuvor existiert hat, in anderen Industrien, in anderen Märkten oder in anderen Kontexten“ (Gassmann et al. 2013, S. 17). Eine Übersicht über erprobte Geschäftsmodelltypen und die zugrunde liegenden Muster dient dem Unternehmen demnach als Inspirationsquelle und unterstützt bei der Entwicklung eigener Businessmodellinnovationen. Gassmann et al. (2013, S. 17–20) identifizieren im Zuge ihrer Analyse 55 solcher Muster, aus denen sich die untersuchten Geschäftsmodelle zusammensetzen und die wiederum als Basis für neue Kombinationen, d. h. weitere innovative Geschäftsmodelle dienen (vgl. auch Brillinger et al. 2017, S. 2 f.). Ein Praxisbeispiel für die erfolgreiche Anwendung vorhandener Muster ist das Unternehmen Nestlé, das u. a. das Köder-und-Haken-Muster aufgegriffen hat. Das Muster geht auf das Konzept des Rasierklingenherstellers Gillette zurück, der den Verkauf ­seiner

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austauschbaren Klingen unterstützt, indem er das Rasiergerät einst verschenkte und auch heute noch kostengünstig anbietet. Das Basisprodukt ködert die Kunden, indem die Kaufbarriere aufgelöst bzw. niedrig angesetzt wird. Die Nutzung des Produktes erfordert jedoch den Kauf gewinnträchtiger Folgeleistungen, wie hier der kompatiblen Rasierklingen. Dies verschafft dem Unternehmen langfristig wiederkehrende Einnahmen, die die kostenfreie Abgabe des Basisproduktes schnell quersubventionieren (vgl. Gassmann et al. 2013, S. 202–204; Osterwalder und Pigneur 2011, S. 108–111). Nestlé schafft eine Geschäftsmodellinnovation, indem es die erfolgreich erprobte Logik aufgreift und auf die Kaffeebranche überträgt. So bietet Nestlé seine Nespresso-Maschine günstig an, um die Kunden zu ködern. Die für den Kaffeekonsum wiederkehrend benötigten Kapseln werden hingegen zu einem erhöhten Preis vertrieben. Nestlé durchbricht damit erstmals die Branchenlogik und schafft eine radikale Geschäftsmodellinnovation, die bisherige Geschäftsmodelle bedrängt (vgl. Gassmann et al. 2013, S. 20 f.). Ein Unternehmen kann bereits ein neues Geschäftsmodell schaffen, indem es ein einzelnes Muster auf seine Branche und in den spezifischen Kontext überträgt. Die Kombination mehrerer Muster kann darüber hinaus die Wettbewerbsfähigkeit steigern, da die Imitation aufgrund der erhöhten Komplexität erschwert wird. So hat Nestlé Nespresso neben dem „Köder-und-Haken-Muster“ auch die Muster „Direct Selling“ und „Lock-in“ übernommen (vgl. Gassmann et al. 2013, S. 20 f.). Entgegen der Branchenlogik vertreibt Nespresso seine Kaffeekapseln nicht über den Einzelhandel, sondern direkt an den Kunden. Hierfür setzt es einen Online-Shop sowie vereinzelte Flagship-Stores als Distributionskanäle ein (vgl. Zolnowski und Böhmann 2013, S. 47 f.). Ist der Kunde erst einmal geködert, soll er durch die Einrichtung hoher Wechselkosten an das Unternehmen gebunden werden. Nestlé erreichte dies anfangs durch eine Patentierung der kompatiblen Kaffeekapseln, die den Einsatz kostengünstigerer Substitute verhinderten. Ein Ausweichen auf Substitute wäre seinerzeit mit hohen Umstellungskosten (neue Maschine) verbunden gewesen (vgl. Gassmann et al. 2013, S. 163–165). Auch Osterwalder und Pigneur (2011) stellen eine Auswahl an Mustern zusammen, die als Inspirationsquelle für die (Weiter-)Entwicklung eines Geschäftsmodells dienen sollen. Sie beschränken sich dabei auf fünf grundlegende Muster: Das Muster Long Tail sieht den Verkauf vieler Nischenprodukte in jeweils geringer Stückzahl vor, mit dem sich in Summe ein gleich hoher oder gar höherer Umsatz erzielen lässt als durch den Verkauf weniger Spitzenartikel. Die zunehmende digitale Vernetzung wirkt unterstützend, da sie den Verkauf zu geringen Vertriebskosten über das Internet ermöglicht. Das Prinzip lässt sich auf Leistungen wie Werbung oder Abonnements übertragen. Lulu.com setzt das Muster innerhalb der Verlagsbranche um, indem es sich vom bestsellerorientierten Geschäft löst und die Werke vieler Nischenautoren anbietet (vgl. Anderson 2008, S. 5 f.; Osterwalder und Pigneur 2011, S. 71–79). Der Kern der Multisided Platform liegt in der Zusammenführung zweier oder mehrerer Kundengruppen über eine Plattform mit dem Ziel, einen Wert aus der Vermittlung zu schöpfen. So stellt Lulu.com eine digitale Plattform bereit, die Autoren und Leser zusammenführt, um Erträge aus Veröffentlichungsgebühren und Provisionen zu

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g­enerieren. Die Herausforderung liegt in der Lösung des „Henne-und-Ei-Problems“. Das Netzwerk muss zunächst aufgebaut werden; um die eine Kundengruppe anzuziehen, muss die andere jedoch vorhanden sein. Eine Möglichkeit, diese Hürde zu überwinden, liegt in der Subventionierung eines Kundensegments durch kostenfreie oder vergünstigte Angebote (vgl. Caillaud und Jullien 2003, S. 310; Osterwalder und Pigneur 2011, S. 82). Profitiert mindestens ein Kundensegment langfristig von einem kostenfreien Angebot, das durch einen anderen Teil des Businessmodells oder durch ein anderes Kundensegment subventioniert wird, so handelt es sich um ein FREE-Geschäftsmodell. Die Einnahmen können dabei z. B. durch Werbung oder durch kostenpflichtige Premiumservices, die ein Teil des Kundenstamms in Anspruch nimmt (Freemium-Muster), generiert werden (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 93–100). Das Entflechtungsmodell basiert auf der Annahme, dass ein Unternehmen zugleich in den drei Geschäftsarten Kundenbeziehungs-, Produktinnovations- und Infrastrukturgeschäft aktiv sein kann, welche unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden müssen. Um hieraus resultierende Konflikte und hemmende Kompromisse zu vermeiden, werden die Geschäftseinheiten entflochten, d. h. voneinander getrennt (vgl. Hagell III und Singer 2000, S. 151; Osterwalder und Pigneur 2011, S. 61–69). Als fünftes Muster wird das Open-Business-Modell genannt. Mit einem offenen Geschäftsmodell können Unternehmen Werte schaffen und sichern, indem sie externe Partner systematisch einbeziehen. Dabei können sowohl externe Kenntnisse, Technologien oder geistiges Eigentum in den eigenen Innovationsprozess integriert werden, wie auch ungenutzte Güter oder geistiges Eigentum extern nutzbar gemacht und monetarisiert werden, indem z. B. Lizenzen vergeben oder Joint-Ventures eingegangen werden (vgl. Chesbrough 2006, S. 2 f.; Chesbrough et al. 2006, S. 1; Osterwalder und Pigneur 2011, S. 113 f.).

7.1.3.5 Business Model Canvas nach Osterwalder und Pigneur Die Business Model Canvas (BMC) dient als eine Art Leinwand, auf die innerhalb des definierten Rahmens bestehende oder potenzielle neue Geschäftsmodelle gemalt werden können, woraus sich ihre Bezeichnung ableitet. Um diese Funktion erfüllen zu können, wird sie in Form eines Posters aufgehängt oder auf eine freie Fläche aufgezeichnet und gemeinsam im Team, z. B. unter Zuhilfenahme von Haftnotizen, erarbeitet (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 46). Die BMC ist intuitiv verständlich, ohne die Grundlogik eines Geschäfts zu stark zu vereinfachen, und gewährleistet, dass die am Innovationsprozess Beteiligten über ein gemeinsames Grundverständnis verfügen (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 19; siehe Abb. 7.9). Die linken Bausteine der BMC repräsentieren die Ressourcen-Seite, die rechten Bausteine die Markt-Seite, womit sie die in der strategischen Unternehmensführung häufig diskutierten Grundmodelle des Ressource-based Views (vgl. Kellermanns et al. 2016, S. 26–30) und des Market-based Views (vgl. Keuper 2010, S. 19–26) vereint. Die BMC kombiniert damit den Ansatz, der die Unternehmensressourcen und deren Qualität als Ausgangpunkt heranzieht (Inside-out-Perspektive), mit der marktorientierten

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Abb. 7.9   Business Model Canvas. (Quelle: in Anlehnung an Osterwalder und Pigneur 2011, S. 48)

Herangehensweise, im Zuge derer die Erfolgsfaktoren für das Businessmodell aus den Anforderungen des Umfelds abgeleitet werden (Outside-in-Perspektive) (vgl. Bea und Haas 2016, S. 29–31).

7.1.3.6 Analyse der Businessmodellumgebung In Vorbereitung auf die Geschäftsmodellgestaltung sollte ein Überblick über den spezifischen Kontext gewonnen werden, in dem das neue Businessmodell positioniert wird. Hierzu können die vier Bereiche der Geschäftsmodellumgebung analysiert werden. Wie aus Abb. 7.10 hervorgeht, wirken sowohl Schlüsseltrends als auch Markt-, Branchenund makroökonomische Kräfte auf das Businessmodell ein (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 204 f.). Innerhalb der vier Kräfte lassen sich mehrere Unterbereiche untersuchen. So werden im Zuge der Marktanalyse u. a. die Hauptmarktsegmente identifiziert, zentrale Aspekte herausgefiltert, die Einfluss auf die Kundenlandschaft haben, sowie die Wünsche und Anforderungen der Kunden erforscht. Aus der Untersuchung der Geschäftsmodellumgebung lassen sich Chancen und Risiken für das Geschäftsmodell ableiten (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 205 f.). Wichtige Trends, die seit zehn Jahren die Verlagsindustrie nachhaltig beeinflussen, sind: 1. Demografischer Wandel: Die deutsche Bevölkerung wird bei Fortsetzung aktueller demografischer Entwicklungen schrumpfen und die Altersstruktur wird sich hin zu

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Abb. 7.10   Geschäftsmodellumgebung. (Quelle: in Anlehnung an Osterwalder und Pigneur 2011, S. 205)

einem größeren Anteil älterer Bürger verschieben. Auf diese Weise wird sich auch die Altersstruktur der Verlagsmitarbeiter verändern. Besonders Mitarbeiter, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind, müssen ihre Kompetenzen zunehmend um Know-how im Bereich der neuen Medien erweitern. Für Verlage besteht die Aufgabe darin, diese Mitarbeiter zur Weiterbildung zu motivieren und diese zu ermöglichen. 2. Fachkräftemangel: Durch den demografischen Wandel hat sich in den letzten Jahren auch das Problem des Fachkräftemangels verstärkt. Verlage müssen zunehmend aktiv um Fachkräfte werben. Die Einbindung freier Mitarbeiter erhält in diesem Zusammenhang eine zunehmende Bedeutung. 3. Veränderung der Berufsbilder: Da sich der Bereich der neuen Medien rasant weiterentwickelt, entwickeln sich neue Berufsbilder (z. B. Social-Media-Manager, E-Commerce-Manager). Verlage müssen ihr Know-how im Bereich der neuen Medien erweitern, um Fachkräfte und deren Kompetenzen richtig einschätzen zu können. 4. Verschärfung des Datenschutzes: Es werden zunehmend gesetzliche Regelungen bezüglich des Datenschutzes erlassen (z. B. Umgang mit Kundendaten, Richtlinien zur Verwendung von Cookies). Dies müssen Verlage bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle im Bereich digitaler Medien berücksichtigen (aktuell: EU-DSGVO). 5. Urheberrechtsproblematik: Im Internet ist es häufig problematisch, Inhalte vor der widerrechtlichen Vervielfältigung und Verbreitung zu schützen (z. B. Piraterie im Internet). Verlage haben die Aufgabe, geeignete Strategien zum Schutz ihrer Inhalte zu entwickeln, sofern diese digital vermarktet werden.

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6. Branchenverschmelzung: Es lassen sich seit einigen Jahren Konvergenzprozesse in der IT-, Kommunikations- und Medienbranche beobachten (vgl. Abschn. 7.1.3.1). Dabei verschmelzen durch Technologiekonvergenz Medienprodukte und -kanäle sowie ganze Medienmärkte und Branchen. Die Digitalisierung und die Branchenkonvergenz führen dazu, dass eine Vielzahl branchenfremder (Internet-)­Unternehmen zu Wettbewerbern von Verlagshäusern werden. 7. Internationalisierung: Durch das Internet werden die Barrieren zur Erschließung internationaler Märkte geringer. Dies kann sowohl Chancen für kleine und mittlere Verlage als auch Risiken durch neue Wettbewerber bedeuten. 8. Veränderungen des Werbemarktes: Werbekunden verändern zunehmend ihre Bedürfnisse (z. B. zunehmende Buchung von Online-Werbung, Veränderung der Messeinheiten für Online-Werbung). Verlage müssen mit entsprechenden Angeboten darauf reagieren. Gleichzeitig muss sich mit der zunehmenden Individualisierung in allen Bereichen des Informationskonsums z. B. die Ansprache (potenzieller) Konsumenten von einem breiten Marketingansatz hin zu einem stärker personalisierten und direkten Ansatz ändern. Konsumenten wollen lediglich Werbung erhalten, die ihren Interessen und ihrer Situation angepasst ist (Targeting etc.). 9. Veränderungen des Mediennutzungsverhaltens: Durch die neuen Medien verändert sich das Mediennutzungsverhalten der Rezipienten grundlegend (z. B. Bedürfnis, immer online zu sein, weniger Interesse an Print bei jüngeren Personen, starkes Bedürfnis nach Interaktion). Verändertes Konsumentenverhalten als Ergebnis des demografischen Wandels (Entstehung einer „Computation Generation“), neuer Lifestyles (Zunahme von „Kick & Cult“), Virtualisierung (Trends hin zu OnlineChats, Blogs etc.) und Individualisierung (mit „Personality as a Trend“), neue Arbeitsformen („Telework, virtuelle Teams“) sowie neue Schlüsseltechnologien wandeln das gesamte Geschäftsumfeld für Verleger. 10. Veränderung der Beziehung zu Rezipienten – vom Consumer zum ­Prosumer: Durch das bereits erwähnte veränderte Mediennutzungsverhalten ändert sich die Beziehung der Verlage zum Rezipienten. Mediennutzer wollen immer stärker partizipieren und eigene Inhalte beisteuern, was für Verlage bedeutet, dass sie die Beziehungen zu Rezipienten stärker interaktionsorientiert gestalten müssen (z. B. Foren anbieten, in denen gemeinsam diskutiert werden kann). 11. Neue Enabling-Technologien: Sogenannte Enabling-Technologien entwickeln und verbreiten sich immer rasanter (z. B. Augmented Reality, Location-based Services). Diese ermöglichen eine Vielzahl neuer Anwendungen, die für Kunden interessant sind. 12. Neue Endgeräte: Nachdem neue Endgeräte längst für den Massenmarkt verfügbar sind (z. B. Tablet-Computer, E-Book-Reader, Smartphones etc.), drängen jetzt neue Devices auf den Markt (Google Glass, flexible Screens, virtuelle Buttons etc.). Verlage müssen diese Endgeräte in ihren Produktstrategien berücksichtigen. 13. Neue Internetdienste: Die zunehmende Digitalisierung, Enabling-Technologien, neue Endgeräte sowie das veränderte Mediennutzungsverhalten führen zu einer

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Abb. 7.11   Bewertung von Trends

steigenden Vielfalt von Internetdiensten wie z. B. Social-Media-, E-Learning- und E-Commerce-Angeboten. Sofern Verlage im digitalen Bereich aktiv werden wollen, sind die unterschiedlichen Internetdienste als Partner in der Wertschöpfungskette auch für sie relevant. Die Bewertung der Trends als Rahmenbedingung für die Business Model Canvas kann mithilfe einer einfachen Matrix erfolgen, mit der 1) zunächst geprüft wird, wie relevant der jeweilige Trend für das Unternehmen ist, 2) beurteilt wird, in welcher Weise die Trends die zentralen Unternehmensressourcen bzw. Handlungsfelder beeinflussen, und 3) untersucht wird. welche Stärken und Schwächen in den einzelnen Building Blocks der BMC vorliegen. Aus dem zeilen- und spaltenweisen Abgleich der Bewertungen ergibt sich relativ schnell ein erstes Bild über wichtige Einfluss- und Gestaltungsfelder der BMC (Abb. 7.11). Nutzen Sie zur Bewertung von Verstärkungseffekten bei Umfeldtreibern eventuell Tools wie die NeXT-Methode (Needs based on Conflicts between Trends, vgl. Kobayashi et al. 2006). Denken Sie hier insbesondere auch an aufkommende technologische Möglichkeiten. Recherchieren Sie in diesem Zusammenhang die Enablingfunktion von neuen Schrittmachertechnologien im Medien- und Telekommunikationsbereich. Mit der NeXT-Methode werden relevante Trends einander gegenübergestellt mit dem Ziel, Konfliktpunkte in der Zukunft zu prognostizieren. Diese stellen Innovationsfelder mit großem Potenzial dar, da sie direkt aus absehbaren Technologieentwicklungen und Marktbedürfnissen entstehen. Abb. 7.12 zeigt ein Beispiel für die Gegenüberstellungen

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Abb. 7.12   NeXT-Methode. (Quelle: in Anlehnung an Kobayashi et al. 2006, S. 5)

von Trends nach der NeXT-Methode. Hier lassen sich u. a. Konflikte zwischen der steigenden Internetnutzung (3-2) und den Anforderungen an die Datensicherheit (1-2) sowie auch zwischen den komplexer werdenden Technologien (3-1) und der zunehmenden Alterung der Bevölkerung (2-1) erkennen. Die hier vorgestellten Instrumente helfen bei einer systematischen Bearbeitung von Trends. Frühwarnung, strategische Orientierung und Inspiration für neue Produkte sind damit selbst in kleinen Unternehmen mit einem vertretbaren Aufwand umsetzbar.

7.1.3.7 Businessmodelle im E-Business Für den spezifischen Bereich des E-Business leisten u. a. Timmers (1998, S. 5–7) und Wirtz (2013, S. 277–279) einen Beitrag zur Identifikation relevanter Geschäftsmodelltypen. Timmers (1998) stellt elf Typen zusammen, die er gemäß Abb. 7.13 nach ihrem Innovationsgrad und dem Umfang der integrierten Funktionen klassifiziert (vgl. Wirtz 2013, S. 306–331). Der Geschäftsmodelltyp „E-Shop“ integriert nur wenige Funktionen und weist den geringsten Innovationsgrad auf. Timmers (1998, S. 5–7) fasst hierunter sowohl Online-Shops, über die Leistungen vertrieben werden, als auch Web-Auftritte, die der Bewerbung des Unternehmens und seines Leistungsportfolios dienen. Der Typ „E-Auction“ integriert wenige Funktionen, wie den Biet-Mechanismus, die Zahlfunktion sowie gegebenenfalls die Auslieferung, und weist einen mittleren Innovationsgrad auf. Der Typ „Virtual Community“ basiert auf der Bereitstellung von Informationen durch die Mitglieder und kann Einnahmen über Beiträge und Werbeleistungen erzielen. Er integriert ein mittleres Maß an Funktionen und zeigt einen recht hohen Innovationsgrad. Der Typus „Value Chain Integrator“ weist das höchste Maß an Funktionsintegration und den höchsten Innovationsgrad auf.

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Abb. 7.13   Geschäftsmodelltypen im E-Business. (Quelle: In Anlehnung an Timmers 1998, S. 7)

Abb. 7.14   4 C Net Business Model Typology. (Quelle: in Anlehnung an Wirtz 2013, S. 277–331)

Wirtz (2013, S. 277–279) differenziert zwischen den vier Basis-Geschäftsmodellen „Content“, „Commerce“, „Context“ und „Connection“ (4Cs). Wie aus Abb. 7.14 hervorgeht, unterteilen sich diese in mögliche Varianten. So fallen Mall-Betreiber (z. B. amazon.com) oder Banner-Schaltungen unter die Variante „Attraction“ und zählen damit ebenso zum Typus „Commerce“ wie Auktionsplattformen (z. B. Ebay) oder Preisvergleichsmaschinen (z. B. guenstiger.de), welche der Variante „Bargaining/Negotation“ entsprechen (vgl. Wirtz 2013, S. 306–331). Ein Unternehmen kann sein Geschäftsmodell auf einem der Basistypen aufbauen oder mehrere Typen kombinieren. Während Googles ursprüngliches, auf einer reinen

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Online-Suchmaschine basierendes Geschäftsmodell unter den Typus Context fiel, w ­ endet das Unternehmen heute mit seiner Vielzahl an Services auch die dem Typus Content (z. B. Google Maps, Google News), Commerce (z. B. Google Shopping, Google Play) und Connection (z. B. GMail, Google+) zugrunde liegenden Muster an (vgl. Wirtz 2016, S. 291). Es schafft damit ein komplexes Geschäftsmodell, das schwer zu imitieren ist (vgl. Gassmann et al. 2013, S. 204). Die Autoren nehmen unterschiedliche Klassifizierungen und Eingrenzungen vor, die Überschneidungen aufweisen. So fällt die den Auktionsportalen zugrunde liegende Logik bei Gassmann et al. (2013, S. 86 f.) unter das „Auction“-Muster. Timmers (1998, S. 5–7) erfasst sie unter dem Typus „E-Auction“. Bei Wirtz (2013, S. 306 f.) ist das Muster eine mögliche Ausprägung des Basis-Geschäftsmodells „Commerce“. Die bislang umfassendste Studie zu vorhandenen Geschäftsmodellmustern und ihren Überschneidungen vollziehen Remane et al. (2017, S. 31–53), die im Rahmen einer Literaturanalyse 356 übergreifende und E-Business-spezifische Muster aus 22 Originalquellen abgleichen und dabei 182 verschiedene Muster identifizieren (vgl. Brillinger et al. 2017, S. 3 f.; Remane et al. 2017, S. 9). Als Ergebnis dieser „Meta-Analyse“ präsentieren die Autoren eine Morphologie über Businessmodelldimensionen, die als Tool für Businessmodellinnovationen herangezogen werden kann (siehe Abb. 7.15).

7.2 Fallstudienfragen 1. Welche Gründe haben den O&I Verlag dazu bewegt, eine Online-Produkt-Innovation in Angriff zu nehmen? Welche Treiber im Umfeld der Verlags- und Medienbranche sind für den O&I Verlag besonders relevant? 2. Welche Architektur ist für die Hybridlösung „Jakobsweg mit dem Rad“ zu empfehlen? 3. Welche Kundensegmente dürften sich als besonders empfänglich für Online-­ Angebote in dem angezielten Marktsegment erweisen? 4. Welche Wertangebote erzeugen einen interessanten Kundennutzen verbunden mit entsprechenden Mehrwerten über das Papierformat hinaus? 5. Welche Kundenbindungsstrategien sind für die angezielte Hybridlösung zu empfehlen? 6. Über welche Kanäle kann die Zielgruppe am besten erreicht werden? 7. Welche Erlösmodelle sind für die Hybridlösung „Jakobsweg mit dem Rad“ denkbar? 8. Welche Schlüsselaktivitäten sind umzusetzen, um die angestrebte Hybridlösung zu implementieren? 9. Welche Schlüsselressourcen sind zur Umsetzung des neuen Geschäftsmodells erforderlich? 10. Welche Schlüsselpartner werden zur Umsetzung des neuen Geschäftsmodells benötigt?

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Abb. 7.15   Businessmodellmorphologie. (Quelle: in Anlehnung an Remane et al. 2017, S. 21)

11. Welche Investitions- und welche laufenden Kosten werden durch das neue Geschäftsmodell verursacht? 12. Wie sieht ein ökonomisch sinnvolles Erlös- und Kostenmodell für die Hybridlösung „Jakobsweg mit dem Rad“ aus? 13. Abschlussfrage: Zu welchem Ergebnis kommen Sie im Hinblick auf das geplante Geschäftsmodell? Ist ein hybrides Geschäftsmodell „Jakobsweg mit dem Rad“ tragfähig und machbar oder sollte sich Ihr Team auf die Umsetzung von OnlineModellen für die Sparten Bikes und Jakobsweg separat konzentrieren?

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7.3 Lösungshinweise Bitte denken Sie daran: Es gibt keine falschen oder richtigen, sondern nur gut begründete Lösungen! Nutzen Sie die im Theorieteil vorgestellten Begriffe, Modelle und Tools zur Beantwortung der Fragen. Die Erarbeitung der Fallstudie eignet sich insbesondere für eine Gruppenarbeit mit bis zu fünf Teilnehmern. Nutzen Sie zur Bearbeitung die Business Model Canvas nach Osterwalder und Pigneur (vgl. Abb. 7.9). Zu Frage 1 Der Druck auf Verlagshäuser, sinkende Auflagenzahlen und Werbeabonnements durch Innovationen im Bereich von Online-Produkten und -Services zu kompensieren, wächst. Wesentliche Gründe liegen in der Veränderung des Mediennutzungsverhaltens, in neuen technologischen Möglichkeiten im Rahmen der digitalen Transformation, in der Individualisierung von Lebensstilen etc. Die wesentlichen Treiber für den Online-Shift in der Verlagswirtschaft sind auch für das Verlagshaus O&I relevant. Diskutieren Sie mithilfe der im Theorieteil vorgestellten Trendmatrix (Abb. 7.11) zunächst die Bedeutung der unterschiedlichen Einflussgrößen. Welche der Treiber – möglicherweise in Kombination – können eine maßgebliche Hebelwirkung auf das geplante Geschäftsmodell bewirken? Nutzen Sie zur Bewertung von Verstärkungseffekten bei Umfeldtreibern eventuell Tools wie die NeXT-Methode (siehe Abb. 7.12). Denken Sie hier insbesondere auch an aufkommende technologische Möglichkeiten. Recherchieren Sie in diesem Zusammenhang die Enablingfunktion von neuen Schrittmachertechnologien im Medien- und Telekommunikationsbereich. Überlegen Sie, ob die beispielhaft genannten Treiber noch ergänzt werden müssen. Diskutieren Sie folgende Fälle für jeden einzelnen Trend: • Stellt der Trend eine Bedrohung dar, führt er z. B. zu Substitutionseffekten bei Produkten, verändert er Spielregeln im Markt zuungunsten des eigenen Unternehmens? • Stellt der Trend eine Chance dar, führt er z. B. dazu, dass neue Kundenbedürfnisse entstehen, die man bedienen könnte? Zu Frage 2 Wenn das neue Geschäftsmodell das Ziel verfolgt, den Kunden möglichst interaktive Erfahrungen zu ermöglichen, ist eine entsprechende Gesamtarchitektur aufzubauen. Bei E-Business-Modellen geht es nicht nur darum, Online-Produkte und -Services zu verkaufen, sondern darüber hinaus eine Kundenbindung zu gewährleisten, Wertschöpfungspartner mit komplementären Kompetenzen bzw. Ressourcen einzubinden und digitale Transaktionen in der gesamten Wertschöpfungskette umzusetzen. Überlegen Sie unter Berücksichtigung der im Theorieteil dargelegten Modelle, wie eine Gesamtarchitektur des hybriden Geschäftsmodells aussehen könnte. Um Ansätze zu entwickeln, können

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die Bausteine einer aufgezeichneten Business Model Canvas einzeln betrachtet werden, um z. B. Ideen für neue Wertangebote, Kundensegmente und Einnahmequellen zu generieren. Jeder Baustein kann ein Ausgangspunkt für Ihre Überlegungen sein. Das zuvor erlangte Verständnis des Umfelds ermöglicht es, dabei auf Kundenbedürfnisse und Trends einzugehen. Nutzen Sie Haftnotizen, auf die Sie kurze, prägnante Begriffe oder Zeichnungen aufbringen, um die Canvas in der Gruppe zu erarbeiten. Überlegen Sie hierbei auch, welche Dimensionen des 4 C-Modells (Abb. 7.14) in dem neuen Geschäftsmodell zu berücksichtigen sind. Führen Sie hierzu zu folgenden Aspekten ein Brainstorming in der Gruppe durch: Commerce: • Ist die Einrichtung eines virtuellen Marktplatzes sinnvoll, wenn ja, zu welchen Zwecken (Fahrrad-Markt, Sportartikel etc.)? • Welche Art von Marktplatz könnte einen Mehrwert für die Kunden erzeugen (C2C, B2C)? • Welche Links sollten in der Wertschöpfungskette für welche Kunden bzw. Schlüsselpartner eingerichtet werden, um Mehrwerte für die Plattform-Nutzer zu erzeugen?

Collaboration: • Können B2B-Netzwerke mit Wertschöpfungspartnern etabliert werden, die für die Kunden der Plattform die Auslieferung komplexer Serviceangebote mit hoher Kundenbindung ermöglichen? • Versprechen die Netzwerke die Hervorbringung nachhaltiger Innovationsimpulse für die Weiterentwicklung des Geschäftsmodells? • Werden durch die Netzwerke organisationale Kompetenzen für den Betrieb und die Weiterentwicklung des Geschäftsmodells ausgebaut? • Kann durch die Poolung komplementärer Kompetenzen dem Anspruch von Time-toMarket angesichts von „Online First“ besser entsprochen werden?

Communication: • In welcher Weise können Communities of Affinity als Quelle von Innovationen genutzt werden? • Wie können Communities of Affinity als Hebel zur Kundenbindung genutzt werden? • Können Communities of Experts als Quelle von Innovationen etabliert werden? • In welcher Weise kann der Austausch von implizitem Wissen auf der Plattform unterstützt werden? Sind hierfür Tools auf der Plattform denkbar? • Kann der Austausch von Informationen auf der Plattform vermarktet werden?

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• Welche digitalen Kommunikationswege und -services sind als Ersatz für herkömmliche Kommunikationsformen und Produkte denkbar?

Connection: • In welcher Weise kann ein A3-Mehrwert (Anytime, Anywhere, Anyone) umgesetzt werden, z. B. durch Location-based Services, Augmented-Reality-Lösungen? • Welche Contents (Blogs, Videos, Nachrichten, Informationen, Games, Musik) verschaffen den Nutzern einen Mehrwert? • Welche Connections (Foren, Communities etc.) sind in der Gesamtarchitektur vorzusehen? Überlegen Sie insbesondere, wie Sie ein zentrales Problem der Kommunikation zwischen den Kunden lösen: Auf dem Pilgerweg zu Fuß unterhalten sich die Teilnehmer regelmäßig während der Wanderung. Radtouren sind demgegenüber wesentlich kommunikationsärmer. Nutzen Sie zur Diskussion über die Gesamtarchitektur auch die Businessmodellmorphologie aus Abb. 7.15. Zu Frage 3 Innerhalb des Elementes Kundensegmente gilt es zu definieren, welche Personengruppen oder Organisationen das Unternehmen erreichen möchte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich die Segmente hinsichtlich ihrer Wünsche, ihrer Zahlungskraft und der bevorzugten Art der Kundenbeziehung unterscheiden und sie über verschiedene Kanäle erreicht werden können (vgl. Maurer und Faschingbauer 2013, S. 49; Osterwalder und Pigneur 2011, S. 24 f.). Erstellen Sie eine Kundensegmentierung für das neue Geschäftsmodell. Differenzieren Sie nach Altersgruppen, Geschlecht, Einkommen, beruflichem Status etc. Arbeiten Sie mit „Personas“, um typische Kundenprofile zu erzeugen, die Sie sich bei der Diskussion über die Gesamtarchitektur des Geschäftsmodells, über Wertangebote, Maßnahmen der Kundenbindung etc. jeweils vor Augen führen. Geben Sie den Personas einen Namen, mit dem Sie diese fiktiven Kunden ansprechen. Was will der Kunde? Welche User-Journeys können aus den Personas abgeleitet werden? Die Personas müssen für sämtliche an der Umsetzung des Geschäftsmodells beteiligten Akteure eine Orientierung geben. Alle Fragen der Umsetzung (Transaktionen, Design, Interfaces etc.) müssen an den Personas reflektiert werden. Recherchieren Sie, wie Personas gebildet werden, welchen Zweck sie haben, und konstruieren Sie mindestens vier bis fünf unterschiedliche Personas mit einem aussagekräftigen Profil.

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Zu Frage 4 Der Baustein Wertangebote beschreibt die Gesamtheit der Produkte und/oder Services, die das Unternehmen anbietet, um für bestimmte Kundensegmente Nutzen zu stiften. Ein Wertangebot erfüllt ein bestehendes oder neu gewecktes Bedürfnis oder ist in der Lage, ein Kundenproblem zu lösen (vgl. Johnson et al. 2008, S. 52; Osterwalder und Pingeur 2011, S. 27 f.). Es bietet sich an, die Wertangebote u. a. aus der Betrachtung der gebildeten Personas abzuleiten. Was verschafft dem Kunden einen nachhaltigen Mehrwert? Führen Sie ein Gruppen-Brainstorming durch, indem Sie mögliche Kundennut­ zen rund um die angestrebte Hydridlösung diskutieren. Nehmen Sie auch hier das 4 C-Modell zu Hilfe. Bilden Sie Use-Cases für die unterschiedlichen Personas. Welche Use-Cases entstehen entlang des Jakobsweges mit dem Rad? Was passiert in der Vorbereitungsphase, was danach? Welche Transaktionen bzw. Interaktionen sind in diesem Prozess denkbar, welche können Grundlage für einen Service bzw. ein Angebot auf der Plattform sein, welche Transaktionen und Interaktionen sind an der Peripherie des Geschäftsmodells denkbar (z. B. mit weiteren Stakeholdern wie Radhersteller, Sportartikelhersteller, Hotels, Eventveranstalter, regionale Tourismusanbieter)? Welche Ansatzpunkte für Mehrwerte sind für das Geschäftsmodell in Erwägung zu ziehen? • Inhalte/Themen: Was spricht speziell die Zielgruppe radfahrender Pilger an? (Beispiel: Themen aus dem Bereich Biking, Mountain Biking, E-Biking kombiniert mit Tourenplanung und Sightseeing entlang des Pilgerweges) • Empfehlungssysteme: Radtouren, Übernachtungsmöglichkeiten, Sehenswürdigkeiten • Dynamische Inhalte: Event-Hinweise, tageszeitabhängige Informationen etc. • Blog/Forum/Wiki: um mit und zwischen den Kunden einen stärkeren Dialog zu ermöglichen • RSS-Feed/Podcasts: um bestimmte Inhalte individuell/themenbezogen abonnieren zu können • Nutzergenerierte Inhalte: für Radtouren, Sehenswürdigkeiten etc. • Multimedia: Mischung aus Text, (Bewegt-)Bildern, Tondokumenten, Live-Blogging • Location-based Services (LBS): geodatenbezogene Angebote (lokaler oder regionaler Kontext, objektbezogen etc.) • Mash-ups: Integration zusätzlicher Inhalte von Drittanbietern für ein (individualisiertes) Angebot gegenüber den Online-Nutzern • Interaktive Anwendungen: Gewinn-/Suchspiele als interaktive Applikationen zur Kundenbindung • Profiling: Möglichkeiten für ein Nutzer-Profiling zur Individualisierung von Inhalten • Kontextsensitive/individualisierte Werbeschaltung: Einblendung passender Werbung • Entertainment/Gaming: Unterhaltungs- oder Spielangebote im Umfeld des originären Contents

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Nutzen Sie zur Ausarbeitung von Ideen für Kundenmehrwerte auch die Konvergenzmatrix aus Abb. 7.7. Zu Frage 5 Der Baustein Kundenbeziehungen umfasst alle Arten von Beziehungen, die das Unternehmen mit den gewählten Kundensegmenten eingeht, um neue Kunden zu akquirieren, langfristige Bindungen mit ihnen einzugehen und den Verkauf zu steigern (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 32). Überlegen Sie anhand unterschiedlicher Aspekte, wie Kunden für das neu entwickelte Angebot gewonnen und gebunden werden können: • Der Jakobsweg ist eine länderübergreifende Tour mit über 200.000 Pilgern, die jedes Jahr in Santiago di Compostela ankommen. Etwa 10 bis 15 % davon sind Radfahrer. Im Kern geht es also um eine internationale Plattform mit vorwiegend mobilen Services. Denken Sie daran, dass der Jakobsweg praktisch bei den Endnutzern an der Haustür beginnt, und das in ganz Europa. Sollte das Angebot mehrsprachig sein, um Zugangsschwellen zu senken? • Die Community „Jakobsweg – Caminho Portugues“ auf Facebook hat mehr als 7500 Mitglieder. • Die Entwicklung neuer mobiler Services ist umso leichter am Markt durchzusetzen (und für Endkunden umso attraktiver), wenn möglichst viele Informationsanbieter sich auf einer gemeinsamen Plattform präsentieren. Welche additiven Angebote sind für die Zielgruppe so interessant, dass diese Ihr Online-Businessmodell nachhaltig wahrnehmen? • Zentral ist, geeignete Mehrwerte für den Endkunden zu generieren. Menschen, die an Pilgerrouten interessiert sind, aber auch Pilger, die sich aktuell im Pilgererlebnis befinden, sollten an jedem Ort und zu jeder Zeit auf weitgehend individualisierte und zielgruppenspezifische Informationen zugreifen können – z. B. Navigations- und Routeninformationen, kulturhistorische Informationen zu einzelnen Sehenswürdigkeiten, Museen, Kirchen etc., Regional- und Stadtinformationen, Veranstaltungs- und Touristikinformationen. Insofern sollte auch die touristische Anbieterseite, die jeweiligen regionalen Akteure aus Kultur und Wirtschaft entlang der Jakobs-Pilger-Wege in Europa, mit ihren aktuellen Angeboten und Informationen auf der Plattform vertreten sein und so die Zielgruppen unmittelbar ansprechen. • Der Bereich Tourismus, Kultur und Erlebniswelten eignet sich in besonderer Weise für die Entwicklung von multimedialen mobilen Angeboten. Hier kommt es in der Regel darauf an, dass auch die Informationsnutzer Inhalte generieren und so eine bidirektionale Informationsstrategie verfolgt wird (Stichwort: Reiseerlebnisse, Erfah­ rungsberichte). So wird den Pilgern selbst ein Forum für ihren Erlebnis- und Erfahrungsaustausch geschaffen. • Überlegen Sie, ob Sie Geocaching als Anreizinstrument einsetzen können.

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Zu Frage 6 Die Kanäle stellen die Berührungspunkte zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden dar. Innerhalb dieses Bausteines überlegen Sie, welche Kommunikations- und Distributionskanäle der O&I-Verlag nutzen kann, um die gewählten Kundensegmente zu erreichen. Ein einziger Kanal, wie z. B. eine eigene Website, kann dabei gleichzeitig mehrere Funktionen erfüllen (Information, Bereitstellung des Angebotes, Kundenpflege und Möglichkeit der Bewertung) (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 30 f.). Überlegen Sie, welche direkten und indirekten Kanäle für die Distribution, das Marketing und den Verkauf Ihres Angebotes genutzt werden können. Bei direkten Channels stellen Sie selbst den Kontakt zum Endkunden her, bei indirekten Channels geschieht dies über Dritte. Wägen Sie Vor- und Nachteile ab und begründen Sie, welche Kombination von Kanälen aus Ihrer Sicht am effektivsten und kosteneffizientesten ist. Zu Frage 7 Die Einnahmequellen umfassen alle Einkünfte, die das Unternehmen aus den Kundensegmenten bezieht. Bei der Bearbeitung dieses Bausteins sollten Sie hinterfragen, wofür die Kunden bereit sind zu zahlen, welche Art der Zahlung sie bevorzugen und wie viel die einzelnen Einnahmequellen zum Gesamtumsatz beitragen können. Hierbei werden einmalige Transaktionseinnahmen und laufende Einnahmen aus wiederkehrenden Zahlungen betrachtet (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 34 f; Schallmo 2013b, S. 64). Nach einer langen Phase der „Kostenlos-Kultur“ im Internet verbunden mit der Angst vor einer Selbst-Kannibalisierung von Printprodukten hat die Verlagsindustrie vielfältige Wege gefunden, auch im Online-Bereich Erlöse zu erzielen. Unterschiedliche Erlösmodelle bieten auch für Verlage zahlreiche Inspirationen, Online-Services erfolgreich zu vermarkten. Recherchieren Sie zunächst das Spektrum möglicher Erlösmodelle und bewerten Sie deren Eignung für das Geschäftsmodell „Jakobsweg mit dem Rad“. Erarbeiten Sie entlang der gängigen Erlösmodelle Vorschläge, mit welchen Online-Angeboten in der Wertschöpfungskette des neuen Geschäftsmodells welche Erlösarten erzielt werden können. Nutzen Sie zur Inspiration auch das vorgestellte 4 C-Modell (Abb. 7.14). Anhaltspunkte für Erlösmodelle: 1. Werbebasiert: Auf der Website bzw. App erhalten Nutzer entgeltfrei Content und Service; Dienste werden durch Anzeigen finanziert. Das werbebasierte Modell funktioniert am besten bei viel besuchten oder hoch spezialisierten Websites. Es ist heute das gebräuchlichste Modell, oft in Kombination mit anderen Geschäftsmodellen. Beispiel: Hersteller von Mountainbikes werben auf dem Portal. 2. Transaktionsbasiert: Der Service der Website bzw. App oder die Internetseite selbst bringen Käufer und Verkäufer zusammen und unterstützt ihre Transaktionen. Der Broker erhält für jede Transaktion eine Gebühr oder Provision. Beispiel: Hotels und Restaurants sind über ein Vouchersystem in das Portal eingebunden.

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3. Informationsbasiert: Die angebotenen Dienste sammeln Nutzerdaten und nutzen diese, um sie an Interessenten für Marktuntersuchungen weiterzuverkaufen. 4. Lizenzbasiert: Nutzer müssen für den Zeitraum ihrer Nutzung der Anwendungen oder des Inhalts eine Gebühr entrichten. 5. Subskriptionsbasiert: Nutzer müssen für die Nutzung der Webdienste eine regelmäßige Gebühr entrichten. Dieses Modell beinhaltet Werbung und wird häufig auch von communitybasierten Services und Verlagen (z. B. Zeitungen) genutzt. Wesentlicher Content ist entgeltfrei und Premiumdienste erfordern ein Abonnement. 6. In-App: Verkauf virtueller Güter (beispielsweise neue Funktionen) innerhalb einer Anwendung, ohne dass die mobile Anwendung selbst etwas kostet. Zu Frage 8 Unter den Schlüsselaktivitäten werden die wichtigsten Handlungen erfasst, die zwingend erforderlich sind, um das Wertangebot zu schaffen, den gewählten Kundensegmenten zu vermitteln, die Kundenbeziehungen zu pflegen und Einnahmen zu generieren, die letztlich Gewinne ermöglichen. Bennen Sie die einzuleitenden Schlüsselaktivitäten und überlegen Sie, welche dieser Aktivitäten der O&I-Verlag aus wettbewerblichen Gründen selbst durchführen sollte (nicht-imitierbare Kernkompetenzen) und welche Sie auslagern würden (Frage 10). In der Fallbeschreibung ist unterstellt, dass der Verlag O&I bereits seit einigen ­Jahren mit Online-Aktivitäten experimentiert. Deshalb ist zunächst zu klären, welche Schlüsselressourcen im Unternehmen zur Verfügung stehen (Frage 9). Hier können Sie zur Bearbeitung der Fallstudie nur Annahmen treffen. Zu Frage 9 Die Schlüsselressourcen umfassen alle für das Businessmodell notwendigen Ressourcen, die für das Unternehmen und seine Kunden Wert schaffen. Hierzu zählen sowohl physische Ressourcen wie Sachanlagen, Systeme oder IT-Infrastrukturen als auch finanzielle und intangible Ressourcen (menschliche und intellektuelle). Sie können im Besitz des Unternehmens sein oder von Partnern erworben, gemietet oder geleast werden (vgl. Osterwalder und Pigneur 2011, S. 38 f.). Die Umsetzung eines neuen Geschäftsmodells im Bereich multimedialer mobiler Applikationen bedarf unterschiedlicher technischer und personeller Ressourcen, insbesondere: • Administration: Nutzermanagement, Content-Management, Zugangsrechtemanagement, Berichtswesen • Dienste: Umwandlung und Anreicherung von Content, Systemintegration, Rechtema­ nagement, Lizenzgebühren, Rechnungslegung • Marketing: Werbung, virtuelle Ausstellungsräume, Sponsoring, Special Offers, CRM-Werkzeuge, Suchmaschinenoptimierung, Kundenfeedback

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• E-Commerce: Kataloge, Produktpräsentationen, Online-Bestellmöglichkeiten, Lizenzmodelle • Content: Artikel, multimediale Formate (Bilder, Videos, IPTV, Animationen, Präsentationen), Mehrsprachigkeit, Podcasts, Webinars, Links, digitale Rechteverwaltung • Portalmanagement: Seitenlayout, multiple Domainnamen, Integration eines CMS, Management verschiedener Portale • Community-Funktionen: RSS-Feeds, Empfehlungssysteme, Foren, Blogs, Wikis, Social Bookmarking • Personalisierung: My Profile, Saved Search, Bookmarks, Highlighting, Annotation, Keyword Alerting • Suchmaschinen-Know-how: Boole’sche Suche, semantische Suche, Rechtschreibprüfung • Monetarisierungsfunktionen: Abonnements, Pay-per-View, Werbung, Bundles, verlinkte und spezielle Angebote, Geschenkgutscheine • App-Erstellung: Nutzungssituationen, Funktionen, Informationsdesign, Interaktionsdesign/Usability Engineering/Barrierefreiheit, grafische Benutzerschnittstellen, Entwicklung von Online- und Mobile-Applikationen, Entwicklung von individuellen nativen App-Funktionen, API-Integration, Mobile-Anwendungen (mobile Kommunikation, Electronic Devices, RFID, QR-Codes etc.) Überlegen Sie, inwieweit Sie ein „offenes“ Geschäftsmodell entwickeln sollten. Treffen Sie Annahmen über eigene Kompetenzen und solche, die Sie über das Partnernetzwerk mobilisieren. Zu Frage 10 Die Schlüsselpartner umfassen alle Lieferanten und Geschäftspartner, die wesentlich zum Erfolg des Geschäftsmodells beitragen bzw. die für ein neues Modell benötigt werden. Überlegen Sie – je nach Ausgestaltung des Wertangebotes – welche Akteure bzw. Stakeholder Sie in Ihr neues Geschäftsmodell einbinden müssen. Beispiele: • Mash-up-Partner: stellen aktuellen Inhalt bereit, evtl. Echtzeitinformationen, die Sie als echte Mehrwerte zur Steigerung der Attraktivität Ihres Angebotes benötigen (z. B. Wetter-, Verkehrs-, Standortinformationen etc.) • Tourismuspartner: stellen kulturhistorische Informationen zu einzelnen Sehenswürdigkeiten, Museen, Kirchen etc., Regional- und Stadtinformationen, Veranstaltungs- und Touristikinformationen zur Verfügung • Ad-Server-Partner: stellen Anzeigenverwaltung und Erfolgsmessung von Werbung als Funktion zur Verfügung • Hotel- und Beherbergungspartner: stellen Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung

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• Restaurantpartner: stellen Verpflegung bereit • etc. Welche Anreize können Sie den Stakeholdern bieten und welche Beiträge erwarten Sie von den Partnern? Zu Frage 11 und 12 Auch hier können Sie nur Annahmen treffen in Abhängigkeit vom Wertangebot, von der Kombination der genutzten Erlösmodelle, vom Diffusionsverlauf Ihres Angebotes im Markt, von der Anzahl und Vertragssituation mit Wertschöpfungspartnern etc. Überlegen Sie sich ein einfaches Kalkulationssystem (z. B. mithilfe von Excel), um die wichtigsten Investitions- und laufenden Kosten einerseits und die möglichen Erlöse andererseits gegenüberstellen zu können.

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Prof. Dr. Joachim Hafkesbrink  ist an der FOM Hochschule als Dozent beschäftigt, seit 2014 hauptberuflich mit einer Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Unternehmensführung und Organisation. Seit 1996 ist er als Gutachter für das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie für die EU-Kommission (European Research Council) tätig. Im Rahmen seiner nunmehr über 30-jährigen Tätigkeit als Geschäftsführer von verschiedenen Forschungs- und Beratungsunternehmen und Forschungseinrichtungen konnte Joachim Hafkesbrink ein breites Spektrum von wissenschaftlichen und praktischen Erfahrungen in den Bereichen Innovationsforschung und -management, Industrie-, Handels- und Handwerks-Consulting wie auch in der Politik- und Verbandsberatung sammeln. Sarah Samuttis  studierte Wirtschaft und Management an der FOM Hochschule in Bochum und schloss das Studium mit Auszeichnung ab. Als Assistentin der Geschäftsführung und Leiterin der Personalund Finanzabteilung eines Dienstleistungsunternehmens in der Sportbranche gewann sie Einblick in alle Unternehmensbereiche und übernahm wachsende Verantwortung innerhalb der Konzernstruktur. Seit 2016 setzt sie sich wissenschaftlich mit dem Thema Business Model Innovation auseinander. Sie wandte verschiedene Methoden der Geschäftsmodellentwicklung erfolgreich in der Praxis an und wirkte dabei an der digitalen Transformation eines etablierten Businessmodells mit.

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Customer Centricity für digitale Geschäftsmodelle und Innovationen im Smart-Home-Bereich Axel Sprenger und Oliver Böpple

Inhaltsverzeichnis 8.1 Digitalisierung in der Pool-, Spa- und Wellness-Branche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 Kurzvorstellung Pool-, Spa- und Wellness-Branche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Die Pool-Tech GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3 Gefährliche Wettbewerber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4 Strategie gesucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4.1 Schritt 1: SWOT-Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4.2 Schritt 2: Digitalstrategie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4.3 Schritt 3: Design-Thinking-Workshop. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4.4 Schritt 4: Überarbeitung der Digitalisierungsstrategie. . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4.5 Schritt 5: Technisch-funktionale Absicherung und Kundenakzeptanztest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.4.6 Testergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.5 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A. Sprenger () · O. Böpple  Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Böpple E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_8

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Zusammenfassung

Für die Anbieter analoger Angebote spielt es keine Rolle, ob der Kunde ein gekauftes Produkt jemals nutzt. Das sieht in der digitalen Welt völlig anders aus. Die meisten digitalen Produkte werden als Pay-per-Use-Modell angeboten, was absolut wörtlich genommen werden kann: No Use – No Pay. Aber wie kann man noch während der Entwicklung ermitteln, ob ein digitales Angebot im Markt auch wirklich genutzt werden wird? Diese Fallstudie stellt einen Ansatz zur Prognose der Nutzung vor und zeigt an einem Beispiel aus dem Smart-Home-Bereich, wie Design-Thinking, Akzeptanzbewertung und andere Methoden der Berücksichtigung der Kundensicht im Entwicklungsprozess zusammenspielen.

8.1 Digitalisierung in der Pool-, Spa- und Wellness-Branche 8.1.1 Kurzvorstellung Pool-, Spa- und Wellness-Branche Die Pool-, Spa- und Wellness-Branche konnte aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage und der Entwicklung einer reichen Oberschicht in asiatischen und osteuropäischen Märkten seit der Finanzkrise 2007 deutlich zulegen und hohe Wachstumsraten und Renditen erzielen.

Auch der Trend zur Decarbonisierung hilft der Branche, weil sparsamere Techniken für neue Pools und Bestandspools entwickelt und nachgerüstet werden müssen. Dazu kommt, dass die Erderwärmung, die in vielen Ländern des Südens katastrophale Folgen hat, in nördlichen Regionen zu neuen Absatzmärkten für die Poolbranche führt. In Summe also eine gute Ausgangslage, die sich positiv in den Absatzzahlen der letzten Jahre niedergeschlagen hat. Der Bundesverband Schwimmbad & Wellness (bsw) gibt keine offiziellen Zahlen bekannt, teilt auf Anfrage aber einige Zahlen für Deutschland aus einer Erhebung von 2017 mit:

8  Customer Centricity für digitale Geschäftsmodelle … Außenpool in die Erde eingelassen Private Hallenbäder Aufstellbecken mit mehr als 1 m Wasserefe und > 1.500 € Gesamt: Quelle: bsw

133 546.500 131.200 85.000 762.700

In Frankreich und Spanien, den wichtigsten Märkten Europas, ist die Anzahl der Schwimmbäder ungleich höher. Nach Information von Marktteilnehmern schätzt man den Bestand an Swimmingpools in privater Hand 2018 alleine in Frankreich auf ca. 1,9 Mio. bei einem Zuwachs von beeindruckenden 50.000 pro Jahr. Europaweit ergibt sich damit ein Bestand von ca. sechs Millionen privaten Pools. Zusammen mit Instandhaltung, Wartung und einem umfangreichen Zubehörmarkt spricht man in der Branche von einem Marktvolumen in Europa von rund fünf Milliarden Euro in der Wertschöpfungskette.

8.1.2 Die Pool-Tech GmbH Die fiktive Firma Pool-Tech GmbH produziert Schwimmbad-Chemie, technische Komponenten zur Reinigung von Schwimmbädern und Zubehör für öffentliche und private Pools. Die Pool-Tech hat ihren Sitz im Westerwald und profitiert vom guten Angebot an Arbeitskräften und einem vergleichsweise niedrigen Lohnniveau. Am Standort wird entwickelt, produziert und auch der Vertrieb aller Produkte gesteuert. Stand 2018 hat die Pool-Tech GmbH knapp 100 Mitarbeiter, die Hälfte davon in der Produktion, die übrigen in der Logistik, der Entwicklung, im Labor sowie im Vertrieb und im Service. Das gute Betriebsklima äußert sich in einer hohen Loyalität der Mitarbeiter, was sich in einer durchschnittlichen Betriebszugehörigkeit von 18 Jahren ausdrückt. Der Umsatz liegt bei ca. 15 Mio. EUR und einem Wachstum von sechs Prozent pro Jahr, was auf dem Niveau des Branchendurchschnitts liegt. Gegründet 1947 von Hans Feldmann, wuchs die Firma während der Wirtschaftswunderjahre stetig. Eine größere Investition Anfang der 1970er-Jahre wurde der Firma dann fast zum Verhängnis. Als der Markt für energieintensive Produkte wie Schwimmbäder nach der Ölkrise 1973 vorübergehend zusammenbrach, stand die Firma kurz vor der Pleite. Erst als Wolfgang Feldmann 1980 übernahm, erholte sich die Firma langsam. Der Einbruch ist lange her, aber der Schock saß tief und Tugenden wie Sparsamkeit und größte Vorsicht bei Investitionen haben sich in die Firmen-DNA eingebrannt. 2017 übergab Wolfgang Feldmann die Firma an seine Kinder, die Geschwister Annika und Jan Feldmann, und zog sich vollständig aus der Firma zurück.

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8.1.3 Gefährliche Wettbewerber Den mittelständischen Herstellern wie der Pool-Tech stehen viele Schwimmbadbauer und Fachhändler gegenüber, die die Endkunden in ihren Regionen betreuen. Die Fachhändler planen und realisieren private und öffentliche Schwimmbadprojekte. Auch die Betreuung der Kunden während des Betriebs ist fest in der Hand der Fachhändler, sodass Firmen wie die Pool-Tech keinen direkten Kontakt zu Endkunden haben. Seit gut 20 Jahren sind Baumärkte als Retailer aktiv und bieten chemische Produkte und einfache Pools zum Selbstaufbau an. Pool-Tech nutzte die Chance und machte den Vertriebskanal über Baumärkte zu einem festen Bestandteil ihrer Vertriebsstrategie. Infolge der hohen Verhandlungsmacht der großen Baumärkte ist die Profitabilität dieses Vertriebskanals jedoch unbefriedigend. In den letzten Jahren entstand durch den Online-Handel ein weiterer Vertriebskanal, den die Pool-Tech noch nicht nutzt. Chemische Produkte sind weitgehend austauschbar oder zumindest für den Kunden schlecht unterscheidbar. So haben sich mehrere Anbieter mit einem vergleichbaren Produktspektrum wie dem der Pool-Tech in den Online-Handel begeben und liefern sich dort einen massiven Preiskampf. Eine zusätzliche Konkurrenz entsteht mittelfristig durch die Energieversorger, die als Smart-Home-Ausrüster mit ihren Systemen alle technischen Einheiten im Haus steuern. Da liegt nahe, auch den Pool mitsamt Zubehör in das Home-Control-System aufzunehmen und entsprechende Anbindungen zu entwickeln.

8.1.4 Strategie gesucht Als Hersteller von chemischen und technischen Produkten konzentriert sich die PoolTech heute auf Produktion und Vertrieb. Die erfahrene Vertriebsmannschaft pflegt gute Beziehungen zu den Schwimmbadbauern und Baumärkten und hat es geschafft, durch Partnerschaften in asiatische und osteuropäische Märkte vorzudringen. Annika und Jan Feldmann übernehmen also eine solide und gut geführte Firma. Ihnen ist aber auch klar, dass sie die Pool-Tech neu ausrichten müssen. Besonders das Thema Digitalisierung bereitet ihnen Kopfzerbrechen: „Es gibt viele sporadische Ideen, aber keine richtige Strategie für die Zukunft“, stellt Annika Feldmann unzufrieden fest. Ihren Bruder, der sich bei Pool-Tech um das Finanzielle kümmert, treiben die Kosten für Investitionen in die Zukunft um: „Technologische Entwicklungen verschlingen hohe Summen. Da kann man schnell viel Geld verbrennen. Wenn wir da ran gehen, müssen wir sicher sein, dass wir unser Kapital an der richtigen Stelle investieren“. Neben dem Geschwisterpaar sind der Produktions-, der Logistik-, der Entwicklungs- und der Vertriebsleiter Teil des Führungskreises. Die Diskussion ist schwieriger als gedacht. Im Führungskreis ist man skeptisch, ob wirklich akuter Handlungsbedarf besteht. Schließlich entwickelt sich die Firma stabil und positiv. Seit der Finanzkrise

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2007 blickt die Pool-Tech auf zehn sehr erfolgreiche Jahre zurück und angesichts der guten Konjunkturaussichten scheint keine akute Gefahr in Sicht. Alle Mitglieder des Führungskreises haben viel über Digitalisierung gehört. In Branchen- und Mittelstandsvereinigungen überwiegen deutlich die kritischen Stimmen. Kaum ein Unternehmer kann bisher von positiven Erfahrungen berichten. Deshalb können die Führungskräfte die Meinung des Betriebsrats, der der Digitalisierung skeptisch gegenübersteht, durchaus nachvollziehen (Abb. 8.1). Die Geschwister beschließen, mithilfe einer SWOT-Analyse eine systematische Bestandsaufnahme durchzuführen, und hoffen, so die Mitglieder des Führungskreises und später auch den Betriebsrat zu überzeugen.

8.1.4.1 Schritt 1: SWOT-Analyse Das Führungsteam trifft sich an einem Samstag zu einem ersten Strategie-Workshop. Die Gruppe hat sich eine SWOT-Analyse vorgenommen, die interne Faktoren, aber auch alle denkbaren Umfeldfaktoren im Markt betrachten soll. Am späten Nachmittag steht die Gruppe dann etwas erschöpft vor dem Ergebnis ihrer Arbeit (siehe Tab. 8.1). Die SWOT-Analyse hat die Richtung gezeigt, eine Strategie ist sie noch nicht. 8.1.4.2 Schritt 2: Digitalstrategie Die bisherigen Diskussionen im Führungsteam haben deutlich gezeigt, wie unsicher der gesamte Führungskreis im Umgang mit digitalen Themen ist. Deshalb beschließen die Feldmanns, einen Workshop zur Strategieentwicklung mit einem externen Berater und einem Coach zu machen. Neben dem Führungsteam lädt der Vertriebsleiter noch einen Schwimmbadbauer und Fachhändler ein, der als Kunde der Pool-Tech auftritt, aber auch die Sichtweise der Endkunden in den Workshop einbringen soll. Bis tief in die Nacht arbeitet sich die Gruppe durch die Schnittstellen, die für das eigene Geschäft und eine Digitalisierungsoffensive wichtig sind: • • • •

Mögliche Datenquellen Bedarfe der direkten und indirekten Kunden Bedarfe externer Stakeholder Bedarfe interner Stakeholder

Ergebnisse: 1. Datenquellen Wie schon in der SWOT-Analyse festgestellt, verfügt die Pool-Tech über eine ganze Reihe an Daten bzw. Komponenten, die Daten erzeugen. An erster Stelle stehen die Bestelldaten über chemische Verbrauchsgüter. An zweiter Stelle befinden sich in den technischen Komponenten eines jeden Pools viele Sensoren, die kontinuierlich den Status des Poolwassers (Temperatur, PH-Wert, Redox-Potenzial) erfassen und mit Pumpen und anderen Aktuatoren die Anlage steuern. Nachteil: Sämtliche Daten

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Abb. 8.1   E-Mail des Betriebsrats

b­ leiben derzeit in der Pool-Steuerung. Um die Daten auswerten zu können, muss jede Anlage mit einer SIM-Karte versehen werden, die die Daten kontinuierlich an den Pool-Tech-Server schickt. An dritter Stelle stehen die Nutzungsdaten. Über die Sensoren kann in gewissem Umfang auf das Nutzerverhalten geschlossen werden, aber auch diese Informationen sind für die Pool-Tech bislang nicht zugänglich. 2. Kundenbedürfnisse Der Schwimmbadbauer als direkter Kunde wünscht sich von der Pool-Tech als Lieferant technisch überzeugende Produkte, attraktive Konditionen und eine enge Betreuung durch den Gebietsvertreter und das Serviceteam. Über die Endkunden berichtet der Schwimmbadbauer, dass er es im Wesentlichen mit zwei Kundengruppen zu tun hat: – Der preisbewusste Kunde, der seine Anlage gerne selbst wartet. – Der Premium-Kunde, dem eine individuelle Anlage mit vielen Ausstattungen wichtig ist und der gerne eine Full-Service-Betreuung in Anspruch nimmt.

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Tab. 8.1  SWOT-Matrix der Pool-Tech GmbH Stärken

Schwächen

Tradition und Erfahrung „Guter Name“ bei den direkten Abnehmern Hohe Qualität bei Technologie und Prozessen Starkes Vertriebsnetz, langjährige, sehr gute Zusammenarbeit mit Partnern (Schwimmbadbauern) Hands-on-Mentalität

Geringer Anteil an der Wertschöpfungskette Fehlende Erfahrung und Expertise im Bereich digitale Technologien und neue Geschäftsmodelle Traditionelle, eher hierarchisch geprägte Führungskultur Kein Kontakt zum Endkunden und damit verbunden wenig Erfahrung in der ­Ermittlung von Kundenbedürfnissen ­jenseits technischer Lösungen

Chancen

Risiken

Marktwachstum in die Breite (neue Märkte infolge Klimaerwärmung und teilweise hohem Wirtschaftswachstum) und die Tiefe (Wellness-Trend begünstigt margenstarke, exklusive Anlagen) Forderungen nach Energieeffizienz stärken die Nachfrage nach neuen technischen Systemen Pool-Tech-Produktportfolio mit starken Assets für die Digitalisierung: Die von Pool-Tech ausgelieferten Anlagen verfügen über zahlreiche Sensoren, die große Mengen von technischen Daten erzeugen Gute Basis für Kooperationen mit bisherigen Partnern

Konjunktur: Pools sind Luxus-Produkte. Konjunkturschwankungen wirken sich stark auf die Nachfrage aus Hohe Kosten für Technologie-Ausbau Mittelstarke Konkurrenz durch direkte Wettbewerber Konkurrenz durch andere Marktteilnehmer innerhalb und außerhalb der Branche, die ihre Wertschöpfungskette und Marktanteile aggressiv ausbauen: Schwimmbadbauer, Baumärkte mit Eigenmarken, Online-­ Händler, Smart-Home-TechnologieUnternehmen

3. Externe Stakeholder Neben den Schwimmbadbauern spielen die Baumärkte heute noch eine wichtige Rolle. Man wird sich aber schnell einig, dass man die Zusammenarbeit mit den Baumärkten nicht weiter ausbauen möchte. Beim Thema Online-Handel möchte man den Wettbewerbern nicht das Feld überlassen, sondern baldmöglichst einsteigen. Kontrovers werden Smart-Home-Anbieter aus anderen Branchen diskutiert. Keinesfalls möchte man als Pool-Anbieter von den Smart-Home-Anbietern „gekapert“ werden. Worst-Case-Szenario wäre, dass die Smart-Home-Anbieter auf alle Daten der Poolsteuerung zugreifen und diese ohne Zutun von Pool-Tech verwerten. 4. Interne Stakeholder Betriebsintern hat das Schreiben des Betriebsrates an die Geschäftsleitung die größte Sorge klar auf den Punkt gebracht: Um Arbeitsplätze zu erhalten und auch in angestammten Bereichen weiter wachsen zu können, muss die neue Strategie die Belange der aktuellen Belegschaft im Auge behalten. Klar ist aber auch, dass eine Qualifizierung der vorhandenen Mitarbeiter nicht ausreichen wird, d. h., dass Kompetenzen durch Neueinstellung aufgebaut werden müssen.

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Die Gruppe einigt sich auf folgenden Plan: • Um die vielen vorhandenen Daten nutzen zu können, müssen alle Anlagen mit SIM-Karten ausgestattet werden. In der Entwicklungsabteilung sollen die IT-Voraussetzungen geschaffen werden, um die Daten auf einem Pool-Tech-Server strukturiert sammeln und auswerten zu können. • Die Entwicklung erhält den Auftrag, eine App zu entwickeln, mit der Kunden über ihr Smartphone oder Tablet ihren Pool überwachen und steuern können. • Es ist zu prüfen, ob vorhandene Anlagen mit SIM-Karten nachgerüstet werden können. • Um Kundenbestellungen, die über die App ausgelöst werden, effizient zu verarbeiten, muss ein Online-Shop gegründet werden. • Die Betreuung der Kunden vor Ort soll weiterhin durch die Schwimmbadbauer als Partner erfolgen. Der Datenaustausch mit den Schwimmbadbauern muss noch definiert werden. • Um den Betriebsrat und die Mitarbeiter an Bord zu holen, muss eine Betriebsversammlung geplant werden. Die Gruppe ist zufrieden, der Coach macht aber deutlich, dass die Rechnung bisher „ohne den Wirt“ gemacht wurde: „Die Arbeit mit dem Führungsteam der Pool-Tech war gut und hat Spaß gemacht. Aber die Pool-Tech hat das gleiche Problem wie die meisten mittelständischen Betriebe in Deutschland: Die Pool-Tech und auch der Schwimmbadbauer können nicht wirklich sagen, was genau die eigentlichen Bedürfnisse der Poolbesitzer sind. Da müssen wir unbedingt noch nachlegen“.

8.1.4.3 Schritt 3: Design-Thinking-Workshop Strategische Ziele und verschiedene erste Ideen sind also in den Köpfen vorhanden, aber wie geht die Pool-Tech nun mit den Ideen um? Welche davon sollen wie weiterverfolgt werden? Die Unternehmensführung hat bereits viel über Design-Thinking-Ansätze gehört und Annika Feldmann hat die Methode bereits bei einem anderen Unternehmen kennengelernt. Im Kern geht es darum, Ideen aus Sicht von Nutzern/Kunden zu entwickeln. Da die Pool-Tech keinen direkten Kontakt zu Endkunden hat, können die Mitglieder des Führungskreises nur spekulieren, wie das gehen soll. Der Entwicklungsleiter: „Und selbst wenn wir einige Kunden zu einem Austausch einladen würden, weiß ich nicht, wie wir so ein Treffen gestalten sollen. Wollen wir einfach Ideen präsentieren und drauf los diskutieren?“ Mit dieser Frage wird Kontakt zu einem Design-Thinking-Coach aufgenommen und die Situation geschildert. In einem Erstgespräch wird das Verständnis über Design Thinking geschärft. Entlang eines sechsstufigen Entwicklungsprozesses werden reale Probleme aus Kundensicht identifiziert, Fragestellungen entwickelt, darauf aufbauend Ideen generiert, bewertet und ausgewählt. Anschließend werden sogenannte Prototypen erstellt, worunter visuelle Skizzen, Zeichnungen oder auch erste digitale Screens eines Lösungsansatzes zu verstehen sind. Diese Prototypen werden in einem weiteren

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Abb. 8.2   Die sechs Phasen des Design-Thinking-Prozesses. (Quelle: in Anlehnung an Hasso-Plattner-Institut School of Design Thinking)

­ rbeitsschritt Nutzern bzw. Kunden vorgestellt und von diesen bewertet. Diese RückA meldung der Nutzer soll wichtige Hinweise geben, ob die identifizierten Lösungsansätze funktionieren oder nicht (Abb. 8.2). Während des Gespräches weist der Design-Thinking-Coach darauf hin, dass das Wissen darüber, was Nutzer wollen und welche Bedürfnisse sie haben, entscheidend für die Qualität der Lösungsansätze ist. Darüber hinaus ist es wichtig, gegenüber bestehenden Lösungsansätzen ergebnisoffen zu sein und eben „echte“ Kundenbedürfnisse für die weitere Entwicklung zu nutzen. Die Pool-Tech entscheidet sich für die Durchführung eines mehrtägigen Workshops und möchte sich dadurch auch neue Impulse für die interne Arbeitsweise und Kultur holen. Vorbereitung des Design-Thinking-Workshops Um dem Workshop einen geeigneten Arbeitsrahmen zu geben, wurde auf Basis der strategischen Überlegungen eine übergeordnete Kernfragestellung erarbeitet: Wie können wir unseren Kunden neue attraktive Produkte anbieten? Damit ist eine erste Problemstellung definiert. Des Weiteren werden zwei multidisziplinäre Teams vorab zusammengestellt, die möglichst vielfältiges Wissen und Fähigkeiten für die Aufgabenstellung mitbringen. Neben internen Experten aus den Feldern Produktmanagement, Kundensupport, Strategie und Technologie werden die Teams durch externe Fachleute erweitert: User-Experience-Designer, Experten im Feld „Smart Home“ sowie digitale Geschäftsmodellexperten. Daraus ergeben sich zwei gemischte DesignTeams bestehend aus vier bis fünf Personen. Durchführung des Design-Thinking-Workshops Annika Feldmann ist positiv überrascht, als sie und ihr Team den extern gebuchten Workshopraum betreten. Ein offener und lichtdurchfluteter Raum, der sowohl eine kleine Bühne zur Präsentation von Ergebnissen als auch kleine Arbeitsecken für die Teams ausgestattet mit Stehtischen, Whiteboards und verschiedenen Arbeitsmaterialien bietet.

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Neben ersten Teamaktivitäten wie „Warm-ups“, „Kreativ-und Zeichenübungen“ ist die Agenda für die kommenden drei Tage grob wie folgt aufgeteilt: 1. Problem verstehen 2. Kunden beobachten und Interviews führen 3. Problemstellung neu formulieren 4. Ideen entwickeln 5. Ideen durch Prototypen umsetzen Am ersten Tag liegt der Fokus der Teamarbeit auf der Analyse des Umfeldes der Aufgabenstellung, um dahinterliegende Zusammenhänge zu erkennen und um ein einheitliches Verständnis im Team zu erlangen. Beide Teams werden dabei von jeweils einem Design-Thinking-Coach betreut, der die einzelnen Arbeitsschritte erklärt und die Teams bei der Durchführung konkreter Arbeitsaufgaben unterstützt. So haben die Teams technologische Trends und Einflussfaktoren für das bestehende Geschäftsmodell identifiziert, ebenso verschiedene relevante Akteure im Aufgabenfeld. Unter den Führungskräften der Pool-Tech entsteht eine Diskussion, wer eigentlich die Kunden der Pool-Tech sind: Schwimmbadbauer oder die Swimmingpoolkäufer? Es wird die Entscheidung getroffen, jeweils eine der beiden Zielgruppen getrennt voneinander für die Lösungsgestaltung zu verwenden. Daran schließt die Erarbeitung erster sogenannter Kundenprofile an (Wer sind die Kunden? Wie ticken sie? Wie leben sie? Welche Bedürfnisse haben sie?). Ziel des ersten Tages ist es, einen Gesprächsleitfaden für die Interviews am Folgetag zu entwickeln. Denn vorab wurden bereits Interviewtermine mit Swimmingpoolbesitzern und Schwimmbadbauern vereinbart. Die beiden Teams leiten dabei wichtige Themenfelder ab und lernen, über offene Interviewformen herauszufinden, welche Bedürfnisse Kunden haben, wie sie ticken, welche Herausforderung (Pain-Points) sie sehen und was wichtige Kaufentscheidungskriterien sind. Am Ende des ersten Tages üben die Teams diese Interviewtechniken ein, indem sie untereinander Testinterviews führen. Der zweite Tag beginnt mit der Durchführung der Interviews. Von 9 bis 12 Uhr wurden Kunden zu 45-minütigen Slots eingeladen. Beide Teams führen insgesamt sechs Interviews. Dazu haben sie sich jeweils in Zweierteams aufgeteilt. Eine Person führt, wenn möglich, ein persönliches Gespräch, wobei sie sich an den wichtigsten Leitfragen orientiert. Eine zweite Person notiert während des Interviews die wichtigsten Aussagen. Nach der Mittagspause werten die Teams ihre Interviews aus, indem sie sich die wichtigsten Erkenntnisse gegenseitig berichten. Dabei geht es darum, aus dem Kontext heraus die interessantesten Aussagen (Zitate) aufzugreifen, wichtige Bedürfnisse zu erkennen und zu interpretieren. Der Design-Thinking-Coach hilft dabei, die Daten möglichst schnell und einfach visuell zu strukturieren, indem die Erkenntnisse auf Post-its visualisiert und an den Whiteboards gesammelt werden. Von der Geschwindigkeit, mit der im Team ein Bild über Kundenbedürfnisse entsteht und wie schnell Rückschlüsse gezogen werden können, ist Annika Feldmann sehr angetan.

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Die Teams erstellen zwei Personas, die die wichtigsten Anforderungen und Erkenntnisse verdichten und ein realistisches Bild der wichtigsten Kundentypen zeichnen: Persona 1 • Hans A., 53 Jahre, Schwimmbadbauer • verheiratet, zwei Kinder • Bruttoeinkommen 75.000 EUR im Jahr • Wohnhaft in einem Dorf, 20 km von Bonn entfernt, eigenes Haus mit Grundstück • Passionierter Segelflieger • Fußball-Fan • Lieblingsurlaub: Klettern/Wandern in den Alpen Persona 2 • Mark S., 44 Jahre, Businessmanager • verheiratet, drei Kinder • Bruttoeinkommen über 150.000 EUR im Jahr • Wohnhaft in der Umgebung Kölns, eigenes Haus mit Grundstück • Passionierter Rennradfahrer • Yoga • Lieblingsurlaub: Tauchen in Ägypten Im letzten Arbeitsschritt wird basierend auf den Erkenntnissen der zwei Kundengruppen „Schwimmbadbauer“ und „Swimmingpoolbesitzer“ eine Synthese der Daten vollzogen. Es geht in diesem Schritt darum, die Problemstellung neu zu formulieren. Beide Teams interpretieren die wichtigsten Erkenntnisse und ziehen Rückschlüsse, was dies bedeuten kann. Der Design-Thinking-Coach verwendet mehrere Techniken, um eine Art Quintessenz aus den Daten zu ziehen. Richtungsweisend sind die dadurch identifizierten Bedürfnisse im Feld der Swimmingpoolbesitzer (Abb. 8.3). Die Teams haben beide Fragestellungen wie folgt überarbeitet: • Team 1: Wie können wir Hans A., einem 53 Jahre alten Schwimmbadbauer, helfen, seinen Kunden möglichst voll automatisierte Lösungen anzubieten? (Relevanz-Zitat: „Der Großteil meiner Kunden möchte sich um nichts kümmern. Mache rufen mich sogar an, wenn ein wenig Laub im Pool treibt.“) • Team 2: Wie können wir Mark S., einem 44 Jahre alten Businessmanager, ein von außen sichtbares Komfort- und Luxuserlebnis bieten? (Relevanz-Zitat: „Ich liebe das Gefühl, weiter oder auch besser zu sein als andere. Wenn wir Besuch haben, fühlen sich manche wie in der Zukunft. Und staunen, was mein Haus technisch alles kann.“) Beide Teams sind etwas erschöpft von der Geschwindigkeit und Intensität der beiden Tage. Für eine längere Diskussion sorgte die Frage, inwieweit diese Fragestellungen

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Abb. 8.3   Die Kundenbedürfnisse im Smart-Home-Bereich

noch zum bisherigen Auftrag der „App-Entwicklung“ passen. Müde, aber beflügelt endet ein erkenntnisreicher Tag. Der dritte Tag beginnt nun mit der Ideenentwicklung, die auf den neu formulierten Fragestellungen basiert. Damit wird gewährleistet, dass Ideen auf Basis echter Kundenbedürfnisse generiert werden. Jedes Team hat Bilder und Erkenntnisse von den interviewten Personen an der Wand kleben und durch die Interviews eine sehr klare Vorstellung davon, für wen genau Ideen entwickelt werden. Wieder ergreifen die Design-Thinking-Coaches das Wort und führen die Geschwister Feldmann und den Rest der Teams durch eine 45-minütige Ideenentwicklungssession. Es kommen verschiedene Techniken und Methoden zum Einsatz. Am Ende dieses Arbeitsschrittes haben beide Teams weit über 100 Ideen entwickelt. Diese werden nun nach Themen sortiert, um einen besseren Überblick zu erhalten. Dann erfolgt eine Bewertung der Ideen durch die Teams: Welche Ideen versprechen einen großen Nutzen für den Anwender? Welche sind einzigartig? Welche können umgesetzt werden? Nach einer intensiven Diskussion und der Bewertung der Ideen hat jedes Team nun eine engere Auswahl an Lösungsansätzen vor sich. „Eine Idee alleine ist aber nichts wert, solange sie nur auf einem Post-it beschrieben ist“, sagt einer der Coaches. „Im weiteren Arbeitsschritt geht es darum, dass die Ideen als Skizzen visualisiert werden, um ein besseres Verständnis zu erlagen, wie diese Idee umgesetzt werden kann, wie der Kunde diese Lösung nutzt.“ In diesem kreativen Arbeitsschritt wird quasi mit den „Händen gedacht“. Am Ende sollen einfach verständliche visuelle Skizzen stehen. Um auch hier möglichst vielfältige Ideen zu erhalten, wird jedes Team mehrere Prototypen

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gestalten. Dieser Arbeitsschritt erfolgt in zwei Runden (Iterationen), indem sich die Teams gegenseitig Prototypen präsentieren, Feedback erhalten und am Ende jeweils pro Team zwei vorläufige Lösungsansätze präsentieren. Gemeinsam werdend die Ideen hinsichtlich Kundenmehrwert, Umsetzbarkeit und Marktpotenzial bewertet. Gewinner sind zwei Ansätze, einem Swimmingpoolbesitzer eine ganzheitliche Lösung zu bieten, wie er alle Smart-Home-Geräte über eine App steuern kann, damit er einfach und schnell zu „Genussmomenten zu Hause“ kommt. Damit endet der dreitätige Workshop, die Lösungsentwicklung aber natürlich nicht. Die große Frage, die sich nun stellt, ist, welche der Lösungsansätze aus Nutzersicht am erfolgversprechendsten ist. Wie kann möglichst mit einfachen Mitteln das Potenzial aus Nutzerperspektive bewertet werden? Hierfür werden die Interaction-Designer weitere digitale Prototypen erstellen, die dann in Nutzertests bewertet werden.

8.1.4.4 Schritt 4: Überarbeitung der Digitalisierungsstrategie Die Gespräche mit den Kunden haben gezeigt, dass ein wesentlicher Teil der bisherigen Digitalisierungsstrategie (Apps zur Steuerung des Pools) alleine nicht überzeugen wird. Langfristig wollen Kunden keine separate App für jedes Gerät im Haus, sondern eine App, mit der sie alle Geräte überwachen und steuern können, egal von welchem Hersteller die unterschiedlichen Komponenten stammen. Da Pool-Tech verhindern möchte, dass die Smart-Home-Hersteller unkontrolliert auf Daten in der Pool-Steuerung zugreifen, müsste die Pool-Tech mittelfristig eine Schnittstelle zur Verfügung stellen, die Smart-Home-Anwendern kontrolliert Zugriff bietet. 8.1.4.5 Schritt 5: Technisch-funktionale Absicherung und Kundenakzeptanztest Die Pool-Tech hat einen exzellenten Ruf in der Branche. Pool-Tech steht für Qualität und die Feldmanns sind der Überzeugung, dass das nicht nur für Hardware und Serviceleistungen, sondern auch für digitale Dienste, wie die zu entwickelnde Remote-Control-App gelten muss. Entsprechend wichtig ist es, innovative Produkte und Services vor Markteinführung sorgfältig zu testen. Für digitale Produkte gibt es eine Vielzahl von Verfahren zur Absicherung. Die meisten davon sind funktionale Verfahren, die ausschließlich gegen die Spezifikation testen. Das ist wichtig, reicht aber nicht. So kann eine App, die zu 100 % der Spezifikation entspricht, beim Kunden trotzdem durchfallen. Beispiele: • Kunden sehen keinen Mehrwert in der App. • Der Registrierungsprozess ist kompliziert und wird von den Kunden nicht abgeschlossen. • Kunden verstehen die Funktionalität nicht. • Das User Interface ist nicht attraktiv. • Die App ist nicht intuitiv bedienbar, weil die Zielkunden andere mentale Bedienmodelle kennen.

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• Die App fügt sich nicht in die vorhandene digitale Infrastruktur eines Nutzers ein. • Kunden haben Bedenken wegen Datenschutz oder Sorge vor Hackerangriffen. In allen Fällen kann das dazu führen, dass Kunden die App nicht nutzen, die Registrierung abbrechen oder die App nach kurzer Zeit wieder von ihrem Tablet oder Smartphone löschen. In jedem der genannten Fälle würde die Pool-Tech ihre Ziele nicht erreichen können. Wenn die Pool-Tech keinen Zugriff auf die im Pool anfallenden Daten erhält, erübrigen sich alle geplanten Geschäfts- und Erlösmodelle. Während bei Kaufentscheidungen die Nutzung eines Produkts für den Verkäufer keine Rolle spielt – der Umsatz ist mit der Bezahlung des Kaufpreises ja gemacht – ist die tatsächliche Nutzung für den Business-Case der meisten digitalen Geschäftsmodelle entscheidend. Wem nutzt eine perfekt funktionierende Lösung, die keiner nutzt? Payper-Use darf betriebswirtschaftlich gesehen absolut wörtlich genommen werden: No Use – no Pay. Zusammen mit dem Sales- und Marketingleiter entscheidet sich der Entwicklungschef für eine Kombination aus technisch-funktionaler Absicherung und einem Akzeptanztest aus der Perspektive der Kunden. Als Akzeptanztest wählt die Pool-Tech einen Ansatz aus dem Value-Proposition-Design: Der Pain-Gain-Ansatz ist ein implizites Befragungsverfahren, bei dem Kunden getrennt nach den Vor- und Nachteilen eines Produkts, eines Services oder eben einer App gefragt werden. Gemäß der Prospect-Theory aus der Verhaltensökonomik bewerten Kunden vor der Nutzungsentscheidung die Vorund Nachteile eines Angebots und wägen beide gegeneinander ab. Erst wenn die Vorteile deutlich überwiegen, entscheiden sich Kunden für die Nutzung (Endowment Theory). Mit dem Pain-Gain-Akzeptanztest soll also ermittelt werden, ob die Kunden die Remote-Control-App nutzen werden und – falls nicht – wo nachgesteuert werden muss. Die Pool-Tech entscheidet sich für eine Absicherung in der Reihenfolge: 1. Strukturierter Akzeptanztest der Prototypen aus dem Design-Thinking-Workshop nach der Pain-Gain-Methode als Konzeptabsicherung 2. Funktionaler Test 3. Bug-Testing

8.1.4.6 Testergebnisse Zusammen mit Schwimmbadbauern wurden 30 Kunden gefunden, die bereit waren, bei einem Akzeptanztest mitzumachen. Aus den Entwürfen wurde ein einfacher KlickDummy erzeugt, der den Testern vorgestellt wurde (Abb. 8.4). Die Tester mussten keine konkreten Aufgaben erledigen, sondern sollten die App nach eigenem Ermessen erkunden und anschließend in einem kurzen Fragebogen bewerten, welchen Mehrwert („GAIN“) und welche Probleme und Schwierigkeiten („PAIN“) sie mit dem Kauf, der Installation, Registrierung und Nutzung der App sehen. Sowohl GAIN als auch PAIN werden abschließend mit einem Wert auf einer 10er-Skala bewertet.

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Abb. 8.4   App-Dummy zur Poolsteuerung

Der vorgestellte Dummy erreichte nur mäßige GAIN-Bewertungen (7,2 von 10 möglichen GAIN-Punkten). Den Befragten gefiel, dass sie mit der App auf einfache Weise Kontrolle über ihren Pool und damit Sicherheit erhalten, dass ihr Pool chemisch „im grünen Bereich“ ist. Das ist wichtig, schließlich kann der Kunde den Hygienestatus des Pools nicht mit bloßem Auge erkennen. Enttäuschend fanden die Kunden, dass sie nicht die gesamte Funktionalität ihres Pools steuern können. Nach aktuellem Rollout-Plan werden Zusatzfeatures wie Beleuchtung, Gegenstromanlage und Abdeckung erst zu einem späteren Zeitpunkt in die App eingebunden. Kritisch waren mit 4,3 von 10 möglichen Punkten auch die Bewertungen auf der PAIN-Seite. Die Befragten sehen bzw. erwarten keine nennenswerten Probleme hinsichtlich der Registrierung, Attraktivität der Gestaltung, dem Datenschutz und möglichen Hackerangriffen. Stark kritisiert wurden einige Bedienthemen, die für die Nutzer nicht intuitiv genug waren, und der veranschlagte Preis von 299 EUR, der angesichts der überschaubaren Funktionalität als in keiner Weise angemessen bewertet wurde. Die Regressionsanalyse zeigte, dass Preis und Bedienprobleme signifikant auf die PAIN-Bewertung durchschlugen. Sorgen zum Datenschutz bestehen überraschenderweise nicht. Aus den beiden Bewertungen ergab sich ein PAIN-GAIN-INDEX (PGI) von 1,7:

PAIN-GAIN-Index (PGI) =

7,2 GAIN = = 1,67 PAIN 4,3

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Erfahrungswerte zeigen, dass digitale Produkte und Services erst angenommen und genutzt werden, wenn der wahrgenommene GAIN deutlich größer ist als der gefühlte PAIN. Das ist erfahrungsgemäß bei Index-Werten ab 2,5 der Fall:

Die Remote-Control-App wird demnach mit der aktuellen Funktionalität, Performance und dem anvisierten Preis nicht erfolgreich sein, d. h. nur von einem sehr geringen Teil der Kunden angenommen, installiert und genutzt werden. Damit entfallen alle Geschäftsmodelle, die auf der Pool-Anbindung aufbauen (Abb. 8.5). Als die Ergebnisse im Führungskreis vorgestellt wurden, war die Enttäuschung groß. Allerdings waren die Ergebnisse auch plausibel. Zusammen mit Vertrieb und Entwicklung wurde diskutiert, welche Änderungen durchgeführt werden sollten. Der wesentliche Business-Case wird in der Sammlung und Auswertung der Daten und dem Verkauf von Chemikalien und Ersatzteilen erwartet. Von daher ist für die ersten Gehversuche in der digitalen Welt wichtig, dass das Konzept getreu dem Motto „No Use – No Revenue“ überhaupt vom Markt angenommen wird. Dem Führungskreis war klar, dass eine Entwicklung und Markteinführung des aktuellen Konzepts nicht sinnvoll ist. Folgende Maßnahmen werden beschlossen: • Überarbeitung UI an den kritisierten Stellen • Reduzierung Preis • Integration der Steuerung von Beleuchtung und anderer Funktionen zum 1. Release Nach der Überarbeitung wurde die App von einem Dienstleister funktional getestet und zum Bug-Testing über einen weiteren Dienstleister an 20 Probanden mit verschiedenen

PAIN

Nutzenversprechen überarbeiten

Geschäftsmodell überdenken?

Erfolgreiches Geschäftsmodell

PAIN

Barrieren reduzieren

GAIN

Abb. 8.5   Pain-Gain-Bewertung Pool-Tech

GAIN

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Geräten (Tablets, Smartphones) und Betriebssystemen geschickt. Nicht alle Beanstandungen waren reproduzierbar und technisch kurzfristig lösbar, aber die TOP-5-Probleme konnten zur Markteinführung bei Saisonbeginn abgestellt werden.

8.1.5 Ausblick Annika und Jan Feldmann sind zufrieden, dass sie eine Strategie gefunden und erste Schritte in Richtung Digitalisierung ihres Angebots gemacht haben und dabei auch das Führungsteam hinter sich wissen. Dem Betriebsrat und der Belegschaft konnte klargemacht werden, dass die Digitalisierung nicht das aktuelle Produktportfolio ersetzt, sondern dass es sich um Wege handelt, das aktuelle Portfolio aufzuwerten und in noch größerer Stückzahl zu verkaufen. Der Anfang ist also gemacht. Im Moment ist es jedoch nicht möglich, eine Strategie zu formulieren, aus der sich ein Plan für die nächsten drei bis fünf Jahre ableiten lässt. Die Feldmanns werden sich die Ergebnisse aus den Tests vor und nach der Produkteinführung genau ansehen, noch viel mit ihren Kunden sprechen und – noch wichtiger – zuhören müssen.

8.2 Fallstudienfragen 1. Erstellen Sie eine kombinierte SWOT-Matrix, interpretieren Sie die Ergebnisse und formulieren Sie eine Strategie für die Pool-Tech GmbH. 2. Erläutern Sie die Position des Betriebsrats und zeigen Sie mögliche Wege auf, den Betriebsrat mit ins Boot zu nehmen. 3. Was ist eine Persona und wozu werden Personas eingesetzt? 4. Welche verschiedenen Phasen hat der Design-Thinking-Prozess? 5. Was steht am Anfang des Design-Thinking-Prozesses und was am Ende? Was schließt daran an? 6. Was sind beispielhafte Kennzeichen der Arbeitsweise des Design-Thinkings? 7. Welche Testverfahren zur funktionalen Absicherung von digitalen Systemen gibt es und welche Zwecke verfolgen die Tests? 8. Welche Testverfahren mit Involvierung echter Kunden kennen Sie? 9. Was ist der Hauptunterschied zwischen funktionalen Tests und Akzeptanztests? Was sind die Vor- und Nachteile? 10. Warum kann man Kunden nicht einfach direkt fragen, ob sie ein Produkt kaufen würden? 11. Warum ist die subjektive Kundenmeinung auch für Ingenieure wichtig?

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8.3 Lösungshinweise Zu Frage 1 Kombinierte SWOT-Matrix der Pool-Tech GmbH Interne Analyse

Externe

Chancen

Analyse

Stärken

Schwächen

Strategie: „Ausbauen“:

Strategie „Au„auen“:

Produktporolio mit Digitalisierungseignung, Wertschöpfungske­e erweitern

Technologische Kompetenz, Führungskultur, Endkundenkontakt

(„Betreibermodell“) Risiken

Strategie „Absichern“:

Strategie „Vermeiden“:

VertriebspartnerschaŒen gefährden,

Wertschöpfungsanteil weiter verringern,

wenn selbst in Kontakt mit Endkunden

Abdrängen lassen in Red Ocean

Die SWOT-Matrix zeigt Folgendes: • Die Margen in sämtlichen Vertriebskanälen werden geringer. Fokussiert die Pool-Tech weiterhin auf diesen Teil der Wertschöpfung, manövriert sie sich in eine zunehmend gefährliche Lage („Red Ocean“). • Um am Digitalisierungstrend teilhaben zu können, müssen Kompetenzen aufgebaut und die gute Ausgangslage mit dem aktuellen Produktportfolio genutzt werden. • Soll die Wertschöpfungskette nicht kleiner, sondern größer werden und die Pool-Tech näher an den Markt, muss eine Verbindung zum Endkunden hergestellt werden. • Dadurch entsteht die Option, mittelfristig Betreibermodelle anbieten zu k­ önnen. Gleichzeitig darf das nicht auf Kosten der exzellenten Verbindung zu den Schwimmbadbauern und Fachhändlern gehen, die heute den Kontakt zum Endkunden besitzen. Zu Frage 2 Der Betriebsrat vertritt die Position der aktuellen Belegschaft. Da der Schwerpunkt der Pool-Tech derzeit in der Produktion liegt, sieht der Betriebsrat Risiken für die Arbeitsplatzsicherheit, wenn der Schwerpunkt der Wertschöpfung in die digitale Welt verlegt wird. Selbst wenn voraussichtlich die Produktion erhalten bleibt, wird der größte Teil ihrer Leistungen – die Produktion, Logistik und der Service – zunehmend unter Druck geraten. Viele Mitarbeiter fühlen sich vor den Kopf gestoßen, wenn sie sich ausschließlich auf der Schwächen-Seite der SWOT-Matrix (fehlende Kompetenz, veraltete Führungskultur etc.) sehen. Sie fühlen sich wie „das Problem“ und fragen sich, welchen Stellenwert sie für das Unternehmen und seine Führung mittelfristig haben werden.

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Die vorhandenen Arbeitsplätze der Pool-Tech scheinen nicht gefährdet, solange die Rentabilität des vorhandenen Geschäftsmodells nicht nachhaltig unter Druck gerät. Durch neue Geschäftsbereiche, die aus der Digitalisierung heraus entstehen, verringert sich aber der Stellenwert der vorhandenen Wertschöpfung. So wird es wichtig, dass die Führung ein klares Bekenntnis zu und ihre Wertschätzung gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zum Ausdruck bringt. Zu Frage 3 Personas sind Nutzermodelle. Persona-Beschreibungen von möglichen Kundentypen enthalten Name, Geschlecht, Bild, Beruf, Lebensumstände und persönliche Ziele, Vorlieben, Wünsche und Erwartungen. Personas helfen den an der Entwicklung eines neuen Produkts Beteiligten, sich ein konkretes Bild von den Zielkunden zu machen. Personas werden anhand von qualitativen und quantitativen Kundenanalysen spezifisch für jedes Produkt entwickelt. Zu Frage 4 Der Design-Thinking-Prozess besteht aus sechs Phasen: „Verstehen“ und „Beobachten“, „Standpunkt definieren“ „Ideenentwicklung“, „Prototyping“ und „Testen“. Zu Frage 5 Am Anfang des Design-Thinking-Prozesses stehen reale Kundenbedürfnisse. Diese werden durch verschiedene Methoden wie Interviews, Selbsttests und Beobachtung identifiziert. Reale Kundenbedürfnisse sind elementar für die Ideenentwicklung und die Ausgestaltung von Lösungsansätzen. Daran schließen die Entwicklung von Ideen, die Erstellung von Lösungen durch sogenannte Prototypen und das Testen von Lösungen durch Nutzer an. Dieser Arbeitsprozess wird mehrfach in Lernschleifen durchlaufen. Zu Frage 6 Beispielhafte Kennzeichen der Arbeitsweise des Design Thinkings sind: • Das Arbeiten in interdisziplinären Teams • Die Arbeit unter Anleitung eines Coaches/Moderators • Das Testen von Ideen/Lösungen mit geringem Detailgrad/in den frühen Phasen des Innovationsprozesses • Die Identifikation von realen Nutzerbedürfnissen als Ausgangspunkt für Ideenentwicklung • Das Arbeiten in eng vorgegebenen Zeiteinheiten (Time Boxing/Sprints) Zu Frage 7 In der Praxis gibt es eine Vielzahl von Methoden zur funktionalen Absicherung von digitalen Systemen, von denen hier nur die wichtigsten kurz erläutert werden können:

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• Smoke-Test Ein Smoke-Test bezeichnet die allererste Prüfung einer Komponente oder Software. Der Begriff stammt ursprünglich aus dem Handwerk und der Test überprüft dort, ob ein Rohrleitungssystem ein Leck hat, bevor es mit anderen Medien beaufschlagt wird. In der App-Entwicklung werden Basisfunktionalitäten geprüft, bevor detaillierte TestSkripte erstellt und die App zum ausführlichen Test an Dienstleister übergeben wird. • Functional Black-Box-Test Functional Tests überprüfen, ob ein System, eine Komponente oder eine App so funktioniert, wie es in der Spezifikation definiert wurde, d. h. ob die Software alle funktionalen Anforderungsmerkmale des Lastenhefts erfüllt. Funktionale Tests werden i. d. R. automatisiert durchgeführt. Dazu werden die wichtigsten Test-Cases definiert. Abhängig vom Umfang der Eingangs- und Ausgangsvariablen der Software werden nicht alle Variablenkombinationen vollständig durchgetestet, sondern nur ein reduzierter Test-Case-Umfang. Die Reduzierung kann durch Bildung von Äquivalenzklassen für die wichtigsten Variablen oder durch eine zufällig gewählte „unsystematische“ Auswahl definiert werden. Zu beachten ist, dass die meisten Fehler von Softwaresystemen beim seltenen, aber nicht auszuschließenden gleichzeitigen Auftreten extremer Variablenwerte entstehen. Im Gegensatz zu White-Box-Verfahren wird bei Black-Box-Tests nur das externe Verhalten des Systems ohne Beachtung der internen Struktur überprüft. • User-Interface-(UI-)Testing Der User-Interface-Test ist ein funktionaler Test der grafischen Oberfläche einer Software. Ähnlich dem funktionalen Test werden Test-Cases definiert, die alle bzw. die wichtigsten Interaktionen, die ein Nutzer auf einer Bedienoberfläche ausführt, abgebildet. Der Test kann durch Tester oder automatisch erfolgen. • Bug-Testing Die Schwierigkeit beim Bug-Testing ist, dass viele Probleme nur bei bestimmten Hard- und Softwarekonstellationen auftreten. Angesichts einer hohen Zahl von Tablet- und Smartphone-Endgeräten sowie Betriebssystemen und -versionen ergibt sich eine nahezu unendliche Anzahl von Hard- und Softwarekombinationen, die theoretisch getestet werden müssten. Dienstleister mit bis zu mehreren 100.000 Probanden ermöglichen das Testing der wichtigsten Kombinationen in einem strukturierten oder explorativen Testverfahren inkl. Dokumentation der gefundenen Fehler. Zu Frage 8 Die folgenden Testverfahren mit Involvierung echter Kunden spielen bei Tests von digitalen Applikationen heute eine wichtige Rolle: • Usability-Testing Beim Usability-Test werden ausgewählte Nutzer gebeten, bestimmte Test-Cases durchzuführen. Während beim funktionalen Test die durchzuführenden Bedienschritte

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für jeden Case genau vorgeschrieben werden, gibt beim Usability-Test ein Test-Moderator nur das Ziel der Aufgabe vor und der Nutzer führt die Aufgabe unter Laborbedingungen selbstständig aus. Wichtig ist die Auswahl der Tester. Sie müssen der Zielgruppe des Produkts entsprechen. Die Erfahrungen des Testers werden durch Beobachtung, Eye-Tracking und Befragung festgehalten. Bei einer Befragung können bestimmte Fragenkataloge, wie z. B. die System Usability Scale (SUS), ein einfacher und technologieunabhängiger Fragebogen, zum Einsatz kommen, um damit die Gebrauchstauglichkeit eines Systems zu bewerten. Lautes Denken Wie beim Usability-Test wird beim Thinking-Aloud-Test die Benutzerfreundlichkeit eines Produkts durch einen Tester ermittelt. Dabei werden die Nutzer aus der Zielgruppe von einem erfahrenen Moderator animiert, alle Eindrücke und Gedanken auszusprechen. Ziel ist, ein möglichst umfassendes Bild von den kognitiven Prozessen während der Bearbeitung zu erhalten. PAIN-GAIN-Akzeptanztest Während beim Usability-Test nur die Bedienbarkeit eines Produkts bewertet wird, fokussiert die PAIN-GAIN-Methode darauf, die Nutzungswahrscheinlichkeit und unterschiedlichste Treiber und Barrieren der Nutzung zu erfassen. Der PAIN-GAIN-Test kann in der frühen Phase der Entwicklung zur Konzeptbewertung (Proof-of-Concept) aus Kundensicht oder später zur Marktfreigabe eingesetzt werden. Im Feld werden Treiber und Barrieren für die weitere Diffusion in andere Kundensegmente oder Barrieren für die Konversion ermittelt.

Zu Frage 9 Der Hauptunterschied zwischen funktionalen Tests und Akzeptanztests und deren Vorund Nachteile sind: Funktionale Tests überprüfen die Einhaltung der Spezifikation. Dies gilt für alle genannten Testverfahren. Aus Perspektive des Qualitätsmanagements ist eine Einhaltung der Spezifikation nicht verhandelbare Pflicht. Erfüllt jedoch die Spezifikation nicht die Wünsche des Kunden, ist es unerheblich, ob die Spezifikation eingehalten wird oder nicht, solange es nicht zu „harten“ Bugs kommt. Akzeptanztests prüfen, ob ein Produkt die Erwartungshaltung des Kunden erfüllt. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Funktion einwandfrei ist. Der Tester vergleicht seine Erfahrung also nicht mit der Spezifikation, sondern mit seiner persönlichen Erwartungshaltung. Da verschiedene Kundengruppen unterschiedliche Erwartungshaltungen haben, ist eine separate Betrachtung verschiedener Kundengruppen empfehlenswert. In der Praxis wird hierzu mit Personas gearbeitet. Der Akzeptanzbegriff wird in der Praxis nicht durchgängig stringent verwendet. Viele Anbieter nennen angebotene funktionale Tests Akzeptanztests, was streng genommen falsch ist. In der Akzeptanztheorie beschreibt Akzeptanz eine Verhaltensabsicht oder die tatsächliche Nutzung einer Innovation oder Technologie als Ergebnis eines Entscheidungsprozesses.

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Essenziell bei der Bewertung des „Value Proposition Designs“ ist, dass sowohl die Treiber als auch die Barrieren des Angebots betrachtet werden. In der Praxis findet das oft nicht statt. Das Marketing konzentriert sich auf die Werttreiber, die Entwickler mit den genannten Testverfahren auf einen Teil der Barrieren. Psychosoziale Barrieren, wie z. B. Kognitions- oder Imageaspekte, werden dagegen oft vernachlässigt. Zu Frage 10 Im Customer Research unterscheidet man explizite und implizite Verfahren. In den meisten Befragungen werden Kunden explizit, d. h. direkt nach ihrer Meinung gefragt. Bei vielen Themen wird die Antwort von einer angenommenen sozialen Erwünschtheit oder sozialen Normen überlagert und damit verzerrt. Folglich machen Fragen, ob Kunden ein neues Produkt kaufen würden, keinen Sinn. Deshalb wird bei impliziten Befragungsverfahren nach einzelnen Nutzwerten gefragt, die für den Kunden leichter, weil vermeintlich objektiver, zu beantworten sind. Aus den Antworten muss dann auf die Kaufabsicht geschlossen werden. Zu Frage 11 Ingenieure und ITler benötigen objektive, messbare Kriterien, anhand derer sie ihre ­Systeme auslegen und am Ende eindeutig überprüfen können, ob eine Anforderung erfüllt ist oder nicht. Kundenrückmeldungen sind dagegen oft unscharf und subjektiv. Rückmeldungen, dass etwas „irgendwie nicht gut bedienbar ist“, sind für Techniker nicht verwertbar. Subjektive Rückmeldungen müssen also in konkrete Messgrößen übersetzt werden, damit sie von der Technik umgesetzt werden können. Trotzdem definiert die subjektive Kundenmeinung das Entwicklungsziel. Schließlich werden die meisten Kaufentscheidungen heute stark vom Marketing und der der subjektiven Wahrnehmung beeinflusst. Dr. Axel Sprenger  gründete 2017 die Fa. UScale GmbH, ein Beratungsunternehmen, das sich mit der Kundenakzeptanz von digitalen Geschäftsmodellen und Ökosystemen wie der Elektromobilität spezialisiert hat. Er promovierte 1998 im Bereich Maschinenbau und war 16 Jahre in verschiedenen Managementfunktionen entlang der gesamten Prozesskette bei Mercedes-Benz Pkw tätig. Schwerpunkte seiner Tätigkeit waren die Bewertung von Produkten und Dienstleistung aus Kundensicht und die Optimierung von Prozessen und Produkten bezüglich Kundenakzeptanz und -zufriedenheit. Im Anschluss war er als Senior Director und Geschäftsführer bei J.D. Power, einem US-amerikanischen Automotive-Marktforschungsund Beratungsunternehmen, für die Region Europa verantwortvlich.

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Dr. Oliver Böpple  ist seit November 2018 Geschäftsführer der Ellacon GmbH – einer Agentur, die auf digitale Transformation und Innovation spezialisiert ist.Nach seinem Studium der Medien-Beratung an der Technischen Universität Berlin (TU) war er zunächst als Internet Consultant und Ad Campaign Manager bei der Goldbach Media Gruppe in Zürich tätig. Anschließend arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute of Electronic Business (IEB) in Berlin im Bereich Performance Marketing und Digitale Innovation. Seine Promotion schloss er 2013 an der Universität der Künste (UDK) in Berlin zum Thema „Ganzheitliches Performance Measurement System für anwendungsorientierte Marketing-Kommunikation“ ab. 2013 arbeitete er für die YOUSE GmbH und war dort als Standortleiter Stuttgart für Innovationsberatung und User Experience Design tätig.

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Vom analogen Produkt zum Smart Product durch den Einsatz von Digitalisierung und neuen Technologien Carsten Weber und Silvia Rummel

Inhaltsverzeichnis 9.1 Digitalisierung im Uhrengeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.1 Potenziale von Smartwatches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.2 Die Anawatch GmbH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1.3 Die Problemstellung der Anawatch GmbH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Dieser Beitrag beleuchtet sowohl Herausforderungen als auch Chancen in der Uhrenbranche und zeigt auf, wie der Weg vom analogen Produkt hin zu einem zeitgemäßen Wearable gelingen kann. Im Zeitalter der Digitalisierung gelten klassische Armbanduhren als rückständig. „Digitale Hypochonder“ nutzen die Möglichkeiten der Vernetzung mit anderen Geräten und auch dem Internet (IoT), um vielfältige Gesundheitsservices zu nutzen. Das Potenzial von Wearables ist hoch sowohl für die End-User als auch für Hersteller und Anbieter von digitalen Diensten. Am Ende des Tages entscheidet jedes Unternehmen selbst, ob es sich zukünftig in diesem Umfeld beteiligen möchte und damit sein bisheriges Produktportfolio oder sogar Geschäftsmodell anpasst C. Weber ()  Sachsenheim, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Rummel  Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_9

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oder ein zusätzliches neues digitales Geschäftsmodell etabliert. Die Anawatch GmbH als Usecase im Beitrag steht genau vor solchen Herausforderungen. Anhand operativer Einblicke in das Geschäft wird dargestellt, wie die Transformation des Unternehmens in die Digitalisierung gelingen kann.

9.1 Digitalisierung im Uhrengeschäft 9.1.1 Potenziale von Smartwatches Analoge mechanische Armbanduhren gelten in Zeiten der Digitalisierung als rückständig – moderne Menschen schauen auf ihr Smartphone oder ihre Smartwatch, wenn sie wissen wollen, wie spät es ist. Durch aktuelle Trends wie zum Beispiel E-Health, d. h. smarte Gesundheit zur Überwachung und Optimierung der eigenen Gesundheit mittels digitaler Technologien, Vernetzung und digitaler Services, kommen neue Anforderungen der potenziellen Zielgruppen für Smartwatches hinzu. Der Trend hin zur Smartwatch wird in Abb. 9.1 verdeutlicht. Ein einziger Smartwatch-Hersteller (in der Grafik die Firma Apple) schaffte es erstmalig im 4. Quartal 2017, die weltweiten Absatzzahlen der gesamten Schweizer Uhrenindustrie zu übertreffen.

Abb. 9.1   Uhren im Zeitalter der Digitalisierung. (Quelle: Statista 2018a)

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Auch andere Hersteller von Smartwatches platzieren sich verstärkt am Markt. Hierbei ist zu beachten, dass bei den Top-5-Wearables-Herstellern nur ein einziger (Firma FOSSIL) aus der traditionellen Uhrenindustrie kommt (siehe Abb. 9.2). Die anderen vier (Apple, Xiaomi, fitbit und Garmin) kommen aus der Elektronik- und Konsumgüterindustrie und haben sich für die Wearables als neues Produktsegment entschieden. Die Smartwatch gehört zu einer neuen Produktkategorie, den sogenannten Wearables. Wearables sind elektronische Devices und Technologien, welche in den letzten Jahren Einzug in das tägliche Leben von vielen Menschen gefunden haben. Diese Technologien und Computer können entweder in Kleidungsstücke oder medizinische Hilfsmittel eingearbeitet werden oder tauchen in Form von Accessoires auf, die am Körper getragen werden (siehe Abb. 9.3). Jedes dieser Wearables ist entweder direkt oder durch ein anderes Gerät mit dem Internet (IoT = Internet of Things) verbunden und somit in der Lage, Daten mit diesem auszutauschen. Durch die neu entstandenen technischen Möglichkeiten können mithilfe von Wearables neue Anwendungsgebiete wie z. B. Körper-Monitoring oder HumanComputer-Interfaces erschlossen werden. Beim Körper-Monitoring können durch eingebaute Messgeräte bzw. Sensoren Gesundheitsdaten wie Puls und Blutdruck, Schlaf-, Bewegungs- oder Ernährungsdaten gemessen, aufgezeichnet und weitergegeben werden. Bereiche wie Fitness und Gesundheitsvorsorge werden dadurch gestärkt und

Abb. 9.2   Wearables im Vergleich. (Quelle: Statista 2018b)

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Abb. 9.3   Anwendungen von Wearables. (Quelle: Statista 2015a)

­ iteinander vernetzt. In Zukunft kann durchaus auch die Vernetzung dieser Devices in m die Arbeitswelt, Gesundheitsvorsorge und Unterhaltung zusätzliche Vorteile sowie digitale Geschäftsmodelle und Services ermöglichen. Ein Beispiel hierfür ist in Abb. 9.4 über den „digitalen Hypochonder“ zu sehen. Wie in Abb. 9.4 beschrieben, wird der „digitale Hypochonder“ als menschlicher Nutzer von digitalen medizinischen Services definiert. Als Voraussetzung hierfür ist mindestens eine E-Health-Hardware wie z. B. eine Smartwatch notwendig. Durch die Vernetzung mit anderen Geräten und auch dem Internet (IoT) sowie darauf basierenden Apps und Online-Services wird es dem Nutzer möglich, diese für sich gewinnbringend einzusetzen. Dies wird durch Anbieter ermöglicht, welche die Informationen und Daten aus den unterschiedlichen Quellen zusammenbringen, auswerten, analysieren, Rückschlüsse daraus ziehen bis hin zu Vorhersagen treffen und diese den Nutzern/Anwendern oder anderen Anbietern wiederum zur Verfügung stellen. Wenn zusätzlich noch weitere Devices in den Verbund gebracht und miteinander über das Internet der Dinge (IoT) vernetzt werden, können noch weitere übergreifendere digitale Services zur Verfügung gestellt werden. Ein Beispiel von anderen möglichen Devices und deren Änderung des Nutzungsverhaltens vom Jahre 2015 zum Jahre 2017 ist in Abb. 9.5 ersichtlich. Die vorher erwähnten neuen digitalen Dienste mit dem Einsatz von mehreren vernetzten Devices könnten als Beispiel in Zukunft für eine Notfallerkennung im Auto

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Abb. 9.4   Der digitale Hypochonder. (Quelle: Statista 2015b)

nutzbar sein. Der Trigger für einen Notfall an einem Menschen beim Autofahren kann in diesem Beispiel durch eine Smartwatch ausgelöst werden. Die dauerhaft gemessene Herzfrequenz durch die Smartwatch wird im Ernstfall an das mit der Smartwatch verbundene Auto (Connected Car) weitergegeben. Hier werden durch den Notfall-Impuls der Smartwatch mehrere Aktionen angestoßen: Die Fahrerassistenzsysteme bremsen das eigene Auto automatisch ab und bringen es schlussendlich auf dem Standstreifen sicher zum Stehen. Unterstützend hierzu gibt das Auto mit dem Notfall seine Daten (mithilfe Connected Car) bzw. die geplante Aktion des Abbremsens und Auf-densStandstreifen-Fahrens an die nachfolgenden oder im Umfeld vernetzten Autos weiter. Warnblinkanlage wird eingeschaltet, ein Notruf mit Standortinformationen und Daten aus dem Connected Car, Daten zum Gesundheitszustand wie z. B. die Herzfrequenz basierend auf den ermittelnden Gesundheitsdaten der Smartwatch werden an die Einsatzzentrale und an die sich im Umfeld befindlichen Autos zwecks Erste-Hilfe-Maßnahmen automatisch übermittelt, Sprechverbindung wird hergestellt, etc.

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Abb. 9.5   Das Internet der Dinge im Überblick. (Quelle: Statista 2017a)

Eine andere Einsatzmöglichkeit einer Smartwatch stellt die Nutzung als Fitness-­ Tracker dar. Mögliche Gründe für die Nutzung hierfür können der Abb. 9.6 entnommen werden. Die genannten Beispiele und Infografiken zeigen nur einen kleinen Ausschnitt aus dem hohen Potenzial von und durch Wearables wie z. B. eine Smartwatch für die Anwender, Hersteller, Anbieter von digitalen Diensten etc. auf. Jedes Unternehmen entscheidet in seiner Unternehmensstrategie mit Vision, Mission und den strategischen Zielen für sich, ob es sich zukünftig in diesem Umfeld beteiligen möchte und damit sein bisheriges Produktportfolio oder sogar Geschäftsmodell anpasst oder ein zusätzliches neues digitales Geschäftsmodell etabliert. Die nachfolgend beschriebene fiktive Anawatch GmbH steht gerade vor dieser Herausforderung und Entscheidung.

9.1.2 Die Anawatch GmbH Die Anawatch GmbH ist ein deutscher Hersteller von analogen mechanischen Armbanduhren und gilt als mittelständisches Unternehmen, das auf dem europäischen Markt eine herausragende Position hat.

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Abb. 9.6   Digitale Trainingsbegleiter. (Quelle: Statista 2017b)

Eckdaten der Anawatch GmbH • Rechtsform: GmbH • Gründung: 1965 • Sitz: Stuttgart, Baden-Württemberg • Geschäftsführende Gesellschafter: Gerd Schulz und Peter Meier • Mitarbeiter: 805 (2017) • Umsatz: 250 Mio. EUR (2017) • Branche: produzierendes Gewerbe in der Konsumgüterindustrie (Abb. 9.7) Die Anawatch GmbH wurde im Januar 1965 in Stuttgart von Gerd Schulz und Peter Meier gegründet. Ihre Differenzierung vom Wettbewerb stellte seit der Gründung ihre erste Produktlinie „Klassisch“ der zeitlosen, klassischen analogen Armbanduhren dar. Hier haben und hatten sie immer die größten Umsätze und Gewinne sowie die größten und konstanten Absatz- und Umsatzsteigerungen. Im Jahre 2003 entschieden die beiden, dass sie dem Trend und dem Wunsch ihrer Kunden nachkommen und eine neue zusätzliche Produktlinie namens „Retro“ im Markt etablieren. Diese hochmodernen analogen Uhren unterscheiden sich von der klassischen Produktlinie nur im äußeren Design, welches im Retro-Stil, d. h. so wie die Uhren früher optisch aussahen, gestaltet wurde. Die Mechanik und das damit zusammenhängende eigene Uhrwerk konnte 1:1 aus der

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Abb. 9.7   Meilensteine der Anawatch GmbH

Produktlinie „Klassisch“ übernommen werden. In der Designabteilung sowie der Konstruktion, welche beide dem Bereich der Forschung und Entwicklung (FuE) der Anawatch GmbH angehören, mussten jedoch die Neuentwicklungen in Form eines Retro-Designs und die darauf abgestimmten Konstruktionsanpassungen mit den weiterhin bestehenden mechanischen Komponenten entwickelt werden. Die Markteinführung der Produktlinie „Retro“ erfolgte dann im Januar 2004. Die Anawatch GmbH erkannte im Jahre 2008, dass mit den beiden bisherigen Produktlinien „Klassisch“ und „Retro“ hauptsächlich die Kundengruppen ab dem Alter von ca. 30 Jahren angesprochen wurden. Zur Diversifikation und um auch noch die Kundengruppen jünger als 30 Jahre anzusprechen, wurde die dritte Produktlinie „Young Line“ im Jahre 2008 entwickelt und zum Januar 2009 auf den Markt gebracht. Auch hier wieder nur ein abweichendes Design wie bei der Produktlinie „Retro“ (Abb. 9.8). Die Absatz- und damit einhergehenden Umsatzzahlen verzeichneten bis zum Jahre 2015 einen kontinuierlichen, stark steigenden Aufwärtstrend. Dieses rasante Wachstum schwächte sich bis zum Jahre 2017 zu einem geringen, moderaten Absatzwachstum ab. Die beiden geschäftsführenden Gesellschafter Gerd Schulz und Peter Meier traf dies unvorbereitet. Die Umsatzprognosen bis zum Jahr 2025, welche sie daraufhin zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte für alle drei bestehenden Produktlinien erstellten, zeigen einen prognostizierten drastischen Abwärtstrend in ihrer größten und umsatzstärksten Produktlinie „Klassisch“. Allein für diese Produktlinie „Klassisch“ wird ein Umsatzrückgang von 175 Mio. EUR in 2017 auf 120 Mio. EUR in 2025 vorhergesagt. Diese fehlenden 55 Mio. EUR alleine in dieser Produktlinie, welche 2017 70 % des Gesamtumsatzes ausmachten, können durch die beiden anderen neueren Produktlinien „Retro“ und „Young Line“ nicht substituiert werden. Gerd Schulz und Peter Meier entschieden sich 2017 zum ersten Mal seit der Gründung 1965, eine Umsatz- und Gewinnwarnung herauszugeben und die Belegschaft zu informieren (Abb. 9.9).

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Abb. 9.8   Das Produktportfolio der Anawatch GmbH

Abb. 9.9   Umsatzprognosen der Anawatch GmbH

Ergänzend beschlossen sie zu untersuchen, was ihr Unternehmen benötigt, um auf diese Prognose zu reagieren und bis 2020 wieder fit für die Zukunft zu werden. Ihr Unternehmen musste ihrer Meinung nach auf die Anforderungen der digitalen Transformation und ein daraus abgeändertes Produktportfolio vorbereitet werden.

9.1.3 Die Problemstellung der Anawatch GmbH Gerd Schulz und Peter Meier waren sich darüber einig, dass die Transformation des Unternehmens in die Digitalisierung nur gelingen kann, wenn zeitnah radikale ­Innovationen geschaffen werden, die das Unternehmen neu ausrichten und Anawatch in die Zukunft bringen.

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Mit einer E-Mail an die Belegschaft wollten die beiden geschäftsführenden Gesellschafter auf die anstehenden Aktivitäten und Veränderungen aufmerksam machen. Gleichzeitig sollte der Ernst der Lage verdeutlicht werden: Beispiel

Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die letzten Jahre der Anawatch GmbH waren geprägt von großem Erfolg und kontinuierlichem Wachstum. Wir konnten unsere Marke markant positionieren und mit attraktiven, wandlungsfähigen Produkten im Bereich Fashion und Lifestyle nachhaltig verankern. Diese Markenwirkung hatten uns auch die Umsatzzahlen in den letzten Jahren bestätigt und zeitgleich Freiräume für neue Produktideen und Projekte ermöglicht. Dieser Erfolg wurde durch Sie als Mitarbeiter/innen geschaffen, worauf wir sehr stolz sind. Trotz dieses Aufwärtstrends mussten wir feststellen, dass sich unser Business gerade mit einer fast schon erschreckenden Geschwindigkeit wandelt. Was in unserer Wahrnehmung bisher als unikales Lifestyleprodukt von unseren Kunden besonders geschätzt wurde, ist nun durch den Trend „Digitalisierung“ stark bedroht. Es kommt zu einer Verdrängung hochwertiger Produkte durch „smarte watches“ mit gleichzeitigem lifestyle Anspruch. Die sichtbare Verschiebung von bisherigen Werten und Anforderungen unserer Kunden im Premium- als auch Youngline-Segment ist bereits in unseren Umsatzzahlen spürbar. Diese Erkenntnis zwingt uns die Marke Anawatch als Unternehmen jetzt neu zu erfinden. Dem Uhrengeschäft steht ein radikaler Wandel bevor. Auch uns steht ein Wandlungsprozess bevor, hin zu neuen Anforderungen, Produkten und Geschäftsmodellen. Wir bitten Sie diesen Prozess aktiv durch ihre Ideen, ihr Engagement und mit ihren Ressourcen zu unterstützen. Wir sind uns sicher, dass wir diesen Wandel erfolgreich meistern werden, auch wenn dies nun einige Zeit und besonderes Engagement von uns allen fordert. Um den Wandlungsprozess erfolgreich in unserem Unternehmen aufzubauen haben wir vor einigen Tagen ein Projektteam ins Leben gerufen, welches den digitalen Wandel für Anawatch in den nächsten Monaten gestaltet. Bitte helfen Sie alle mit, unser Business neu auszurichten und uns „fit für die Zukunft“ zu machen. Sobald erste Ergebnisse vorliegen werden wir Sie informieren. Mit freundlichen Grüßen Gerd Schulz und Peter Meier (Geschäftsführende Gesellschafter) Mit der Beauftragung von Digitransformers (eine Beratungsfirma mit Fokus auf digitaler Transformation von Unternehmen) sowie dem hierfür ins Leben gerufenen Projektteam waren sich die beiden Geschäftsführer sicher, dass alle Voraussetzungen für einen digitalen Wandel getroffen sind. Nun sollte eine Istanalyse zeigen, welche Maßnahmen es zu ergreifen gilt. Gerd Schulz und sein Partner Peter Meier setzten dem Team einen engen Zeitplan und wollten bereits nach acht Wochen erste Ergebnisse aus der Istanalyse

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im Unternehmen vorgestellt bekommen. Mit einem sich anschließenden Zeitplan für die Maßnahmenumsetzung sollte zudem ein Zeichen in Richtung der Belegschaft gesetzt werden, dass die angestoßenen Aktivitäten eine hohe Priorität genießen. Den beiden Gesellschaftern war bewusst, dass die Umsetzungsphase sicherlich mehrere Monate oder gar Jahre bis zu deren Wirksamkeit andauern kann. In Anbetracht der bereits rückläufigen Umsätze war allerdings die Erwartungshaltung für schnelle Erfolge und die Identifikation ungenutzter Potenziale dementsprechend hoch. Diesem Anspruch an Umsetzungsschnelligkeit war sich die Beratungsfirma ebenfalls bewusst, weshalb neben einer Vielzahl an eng terminierten Interviews auf unterschiedlichen Unternehmensebenen zusätzlich eine Trendanalyse vorgenommen wurde. Vermeintlich unterschätzte oder gar unberücksichtigte Markt- sowie Technologietrends sollten einen zusätzlichen Indikator bilden, um die Handlungsmaßnahmen für die Anawatch GmbH ableiten zu können. Die wichtigsten Ergebnisse aus der Analysephase wurden den Gesellschaftern in einem mehrstündigen Meeting vorgestellt. In die Betrachtung wurden nicht nur die Unternehmensbereiche und Abteilungen einbezogen, sondern auch das bestehende Produktportfolio, die Segmentierung der Kunden sowie das Wettbewerbsumfeld wurden in den Betrachtungen berücksichtigt. Um den Geschäftsführenden Gesellschaftern den Ernst der Lage zu verdeutlichen, wurden nachfolgende fünf provokante Thesen p­ roklamiert: 1. Prozesse: „Unsere Technologien beherrschen wir, neue sind keine Gefahr.“ 2. Kunden: „Digital Natives: Was für Kunden sind das?“ 3. Wachstum: „Potenzial folgt Design und nichts anderem.“ 4. Innovation: „Wir kennen den Markt, da kommen keine radikalen Innovationen.“ 5. Strategie: „Wir sind gut in analogen Produkten, was wollen wir mehr?“ Im Rahmen des Meetings wurden alle fünf Thesen beleuchtet und gemeinsam mit dem Management kritisch diskutiert. Ein ausführlicher Analysebericht wurde ergänzend beigestellt, um die einzelnen Facetten der Schwachstellen detaillierter hervorzuheben. Die Erkenntnisse der Analyse waren zum Teil für Gerd Schulz und seinen Partner Peter Meier überraschend. Im Kern waren die Gesellschafter allerdings der Meinung, dass Digitransformers genau die richtigen Schwachstellen zur richtigen Zeit identifizieren konnte. Auszüge aus dem Analysebericht zur Ist-Situation bei Anawatch: Prozesse: die Untersuchung der bestehenden Primärorganisation (Abb. 9.10) zeigt sehr prägnant auf, dass weder im Bereich F&E noch im Vertrieb oder gar Marketing systematische Aktivitäten erfolgen, um neue Technologien zusammenzutragen, zu bewerten oder gar Markttrends am laufenden Geschäft kritisch zu reflektieren. Nachfolgende Interviews mit den KollegInnen […] sowie deren Aussagen hierzu belegen dies. Demzufolge konnten aufkommenden Trends, wie beispielsweise Individualisierung oder Digitalisierung erst gar nicht die notwendige Beachtung geschenkt und anhand einer Risikobewertung folgerichtig eingeschätzt werden. Die fehlende Berücksichtigung solcher Aktivitäten als auch die fehlende Verankerung von Abläufen und Prozessen für das Technologiemanagement lassen die Schlussfolgerung zu, dass der bisherige Erfolg des

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Abb. 9.10   Die Primärorganisation der Anawatch GmbH

Unternehmens vor allem auf alten Technologien beruht, welche von den Eigentümern vor Jahren erfolgreich etabliert und seither für die Herstellung qualitativ hochwertiger, mechanischer Uhren genutzt wird. Die gegenwärtigen Umsatzrückgänge führen allerdings zu einer Neueinschätzung der Bedeutung neuer Technologien für das Unternehmen sowie dessen vorhandener Prozesslandschaft. Ebenso kann festgehalten werden, dass die F&E-Abteilung im Verhältnis zu anderen Unternehmensbereichen unterdurchschnittlich ausgeprägt ist. Der Aufwand für die Hervorbringung technischer Innovationen kann nur sehr langsam und durch wenige Ressourcen erfolgen, weshalb sich die Entwicklungsaktivitäten in den letzten Jahren immer wieder auf inkrementelle Verbesserungen anstatt auf radikale Ideen fokussierte. Hervorzuheben ist demgegenüber, dass die Kompetenzen der Anawatch GmbH vorwiegend in der eigenen Fertigung liegen und dort insbesondere der Herstellung mechanischer Komponenten besondere Bedeutung beigemessen wird. Andere Unternehmensbereiche wie […] sind für die Größe des Unternehmens durchschnittlich ausgeprägt. Kunden: eine Kundengruppenanalyse bei der Anawatch GmbH zeigt auf, dass sich über 60 % des Kundenstamms im höheren Lebensalter befinden. Die Gruppe mittleren Alters (zwischen 30 und 45 Jahren), welche in der Regel über eine starke bis hohe Kaufkraft verfügen sind mit 17 % im Kundenportfolio vertreten. Bei der Gruppe der unter 30-Jährigen stellt sich ein ähnliches Bild dar, 15 % sogenannter „young potentials“ oder „digital natives“ sind vertreten. Die restlichen 4 % lassen sich keiner spezifischen Gruppe zuordnen […] Der Kundenstamm wirkt diversifiziert aufgestellt und im Durchschnitt gut verteilt. Spiegelt man das Kerngeschäft der Anawatch GmbH an diesen Kundengruppen und deren Umsatz so scheint es, dass diesbezüglich zunächst alles richtiggemacht wurde. Käufer des größten Kundensegments bevorzugen vor allem das ansprechende Design der Modelle „klassisch“ und „retro“, welche sich durch hohe Robustheit und Langlebigkeit auszeichnen. Das gewählte Design, beruht auf dem ehemaligen Designchef Igor Blaupause, welcher in den letzten Jahren das Erscheinungsbild von Anawatch nachhaltig durch sein markantes Design geprägt als auch die Marke stark

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vorangebracht hatte. Mit dem neu hinzu gekommenen Modell „Young Line“ hat sich das Unternehmen zudem in den letzten Jahren auch jüngeren Kundengruppen zugewandt. Allerdings ist hier die erwartete Kaufkraft bei den jüngeren Kunden ausgeblieben bzw. liegt weit unter den Erwartungen von Anawatch. Der Gesamtumsatz wird vorwiegend durch die Modelle „klassisch“ und „retro“ realisiert. Das Modell „young line“ geht hier fast schon in den Betrachtungen unter. Auf Nachfrage von Digitransformers in den Fachbereichen konnte festgestellt werden, dass speziell die Kundengruppe der „digital natives“ aufgrund folgender Faktoren […] unterschätzt wurde. Weder dem Produktmanagement noch der Entwicklung sind die Anforderungen der „digital natives“ wirklich bekannt gewesen. Das „Young Line“ Modell ist vor allem aus einer Designidee des kreativen Kopfs von Igor Blaupause heraus entstanden, um primär dem Wunsch der Geschäftsführung nach einem diversifizierten Produktportfolio nachzukommen, nicht aber um die neue Kundengruppe „digital natives“ und deren Kaufkraft zu gewinnen. Die Bereiche sind zum damaligen Zeitpunkt davon ausgegangen, dass solche Randgruppen keinen großen Einfluss auf das Markengeschäft hochwertiger Uhren haben werden und fokussierten den Designaspekt für die Produktplatzierung. Zudem wurde davon ausgegangen, dass ältere Kundengruppen vielleicht Gefallen an dem „Young Line“ Modell finden und hierdurch weitere Produkte des Unternehmens erwerben. Fälschlicherweise wurden daher keine Aktivitäten unternommen, die Kaufkraft der „digital natives“ explizit zu ermitteln oder gar deren spezifische Anforderungen an die „Uhr der Zukunft“ durch Befragungen oder gar beauftragte Studien aufzunehmen. Es wurde demzufolge auch versäumt genau diese Kundengruppe mit speziellen Angeboten oder Marketingaktivitäten zu umwerben oder gar ein spezielles Kundenerlebnis zu erzeugen (Abb. 9.11). Wachstum: Das unternehmenseigene Team von Designern der Anawatch GmbH, die sich von aktuellen Mode- und Lifestyle Trends inspirieren lassen, haben in den letzten Jahren maßgeblich zum Erfolg des Unternehmens beigetragen. Stetiges Umsatzwachstum und die zugrunde liegenden Verkaufszahlen befanden sich im Schnitt bei ca. 10 % pro Jahr. Eine Notwendigkeit bzgl. einer Neuausrichtung der Wachstumsstrategie wurde damals als nicht notwendig erachtet. Nach dem Wechsel des Chefdesigners zum Wettbewerber, haben Analysen des internen Controllings der Anawatch GmbH aufgezeigt, dass das Umsatzwachstum im vergangenen Jahr überaschenderweise um […] stagnierte. Nach Aussagen des Fachbereichs war die verabschiedete Wachstumsstrategie von 2016 vor allem daraufhin ausgelegt, dass eine Produktdifferenzierung am Markt erfolgt. Hierfür wurde vor 36 Monaten sogar ein Onlineshop live geschalten, indem sich die Kunden ihre Uhren nach in gewissem Ausmaß konfigurieren konnten. Dies kam bei den Kunden zunächst sehr gut an, allerdings konnte das Controlling nachweisen, dass die Umsätze hierdurch nicht weiter stiegen. Eine vom Marketing vorgeschlagene Kundenzufriedenheitsanalyse blieb leider aus. Ebenfalls zeigen die Interviews, dass weitere Marketingmaßnahmen zwar definiert (Suchmaschinenoptimierung und Verbesserung des Onlineshops) aber noch nicht zur Umsetzung gebracht wurden. Innovation: Wie bereits in den vorigen Abschnitten des Berichts verdeutlicht wurde, sind Neuentwicklungen in den letzten Jahren rückblickend immer sehr nah am Kerngeschäft orientiert worden. Radikale Innovationen blieben aus, eine Differenzierung

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Abb. 9.11   Kundengruppen der Anawatch GmbH nach Alter

am Markt ist nicht erfolgt. Dem Aspekt „Patente“ wurde ebenfalls zu wenig Beachtung geschenkt und hatte nur rudimentär bzw. einzelfallbezogen stattgefunden. Zusätzliche Quellen für neue Ideen wie bspw. Marktstudien und Trendanalysen wurden zuletzt vor 24 Monaten durchgeführt. Das Mandat für die Beauftragung solcher Studien war in der Vergangenheit im FuE-Bereich verankert. Nachdem allerdings das Budget für FuE-Aktivitäten in den letzten Jahren eher rückläufig war und verstärkt in Vertriebs- und Fertigungsaktivitäten investiert wurde, zeigte sich die Marketing-Abteilung einmalig bereit eine bereichsübergreifende Marktstudie zu beauftragen. Die Erkenntnisse wurden zwischen den Fachbereichen selbstverständlich ausgetauscht, hatten aber für die Entwicklungsabteilung nur wenig neue Aspekte für Produktideen erbracht. Demgegenüber kamen Ideenkampagnen, welche durch den damaligen Chefdesigner Igor Blaupause initiiert wurden, in der Belegschaft und insbesondere im FuE-Bereich gut an. Der Output in Richtung Design wurde als wertvolle und ergänzende Quelle angesehen. Da allerdings der Aufwand für die Kampagnendurchführung einen Großteil der Design-Ressourcen verschlang musste sich Igor Blaupause entscheiden und so wurden die Aktivitäten nach 3 Kampagnen wiedereingestellt. Interviews zeigen, dass neben dem Designbereich ­niemand ein eindeutiges Mandat in den Fachbereichen besitzt, um Innovationsaktivitäten voranzutreiben ohne, dass diese dem Tagesgeschäft aufgrund begrenzter Ressourcen weichen müssen. Ein Innovationsmanager oder gar eine Instanz (Referent oder Team), welche sich intensiv dem Innovations- und Technologiemanagement widmet kann im Unternehmen nicht vorgefunden werden. Ebenfalls weist der im Unternehmen etablierte Produktentstehungsprozess bei näherer Betrachtung Schwächen auf. Zwar basiert das Vorgehen auf einem Stage-Gate-Prozess mit definierten Checklisten und Abbruchkriterien, allerdings wird im

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Prozess nicht zwischen Innovations- und Produktpflegeprojekten unterschieden. Zudem kann festgehalten werden, dass […]. Mit den Erkenntnissen aus dem Bericht waren sich Gerd Schulz und Peter Meier einig, dass schneller denn je im Unternehmen ein Wandlungsprozess stattfinden musste. Digitransformers wurde umgehend mit der Maßnahmenrealisierung beauftragt. Nachfolgende Fragestellungen (siehe Abschn.  9.2) haben der Beratungsfirma geholfen, eine optimales Lösungspaket für die Anawatch GmbH auszuarbeiten:

9.2 Fallstudienfragen 1. Weshalb wird von der Beratungsfirma Digitransform der Aufbau eines Innovationsund Technologiemanagement-Teams empfohlen? Wo könnte eine solche Abteilung sinnvollerweise im Unternehmen verankert werden? Begründen Sie Ihre Zuordnung des Teams im Unternehmen. 2. Welche Aufgaben sollten typischerweise vom Innovations- und Technologiemanagement-Team übernommen werden? Setzen Sie die Aufgaben in eine sinnvolle zeitliche Reihenfolge und begründen Sie. 3. Wie hätte das Unternehmen den aufkommenden Trend „Wearables“ erkennen und für sich richtig bewerten können? Was hätte dem Unternehmen an dieser Stelle als Hilfsmittel oder Werkzeug dienen können? 4. Wie kann eine Stabstelle die digitale Transformation im Unternehmen wirklich anstoßen, steuern und realisieren? Erläutern Sie Ihre Vorschläge. 5. Welche Fähigkeiten und Kompetenzen benötigen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Anawatch GmbH zukünftig, um die digitale Transformation im Unternehmen wirklich umsetzen zu können? Begründen Sie Ihre Annahmen. 6. Wie kann das Unternehmen neue Geschäftsmodelle für sich identifizieren und nutzbar machen? Benennen Sie dabei die nutzbaren Methoden und Vorgehensweisen. 7. Wie kann mit dem Trend „Digitalisierung“ ein differenzierendes Geschäftsmodell für einen wiederkehrenden Umsatz im Unternehmen geschaffen werden? Welche Möglichkeiten sehen Sie hier? Bennen Sie Ihre Ideen und deren Möglichkeiten für die Anawatch GmbH. 8. Mit welchen Technologien kann im Falle der Anawatch GmbH die Uhr hin zu einer Smartwatch oder einem Wearable digitalisiert werden? Auf was wird es besonders ankommen? 9. Welche Auswirkungen hat die digitale Transformation mittelfristig auf die Organisati­ ons­ form der Anawatch GmbH? Begründen Sie, was das Unternehmen zukünftig benötigen wird und wie dies durch eine innovative Organisation abgebildet werden kann. 10. Wie verändert die Smartwatch das Kundenerlebnis der Anawatch-Kunden zukünftig? Welche Möglichkeiten sehen Sie hier und was würden Sie der Geschäftsleitung empfehlen?

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9.3 Lösungshinweise Das vorliegende Kapitel soll den Lesern der Fallstudie Lösungsvorschläge bieten. Sämtliche Ausführungen sind als Vorschläge zu betrachten und dienen lediglich als Anregung. Es werden bewusst keine finalen Lösungen ausformuliert, da es die „eine richtige Lösung“ in der vorliegenden Fallstudie nicht gibt. Dem bzw. der Bearbeitenden bleibt es selbst überlassen jeweils eine eigene Lösung zu kreieren oder gar ganz neue Ideen auszuarbeiten, um der Anawatch GmbH zu helfen. Zu Frage 1 Um aufkommende Trends und Veränderungen im eigenen Unternehmensumfeld wahrnehmen zu können, ist es ratsam, systematisch die Auswirkungen neuer Technologien zu scannen. Im Tagesgeschäft können solche Aufgaben durch Mitarbeitende im Forschungsund Entwicklungsbereich oft nur mit zu wenig Aufmerksamkeit bearbeitet werden, was sich im Rahmen der Fallstudie bereits gezeigt hat. Die Hauptaufgabe der Mitarbeitenden des FuE-Bereichs liegt in der Realisierung von Produktideen und nicht in der Recherche potenziell interessanter Technologien. Es empfiehlt sich daher, ein Team mit dieser besonderen Aufgabe zu beauftragen. Nur so können rechtzeitig Technologie- und Markttrends identifiziert, Entwicklungsaktivitäten angestoßen und drohenden Disruptionen am Markt entgegengewirkt werden. Die Literatur macht hierzu unterschiedliche Vorschläge, wo ein solches Team im Unternehmen verankert werden kann (vgl. Bullinger 1994) und mit welchen strategischen und operativen Tätigkeiten es betraut werden sollte. Eine Möglichkeit stellt die Verankerung des Teams im Bereich von Forschung und Entwicklung dar. Je nach strategischer Ausrichtung ist allerdings auch eine marktseitige Verankerung in der Organisation vorstellbar, beispielsweise im Marketing. Ermitteln Sie unter Zuhilfenahme der Literatur, wo ein solches Team im Falle der Anawatch GmbH am besten verankert werden sollte. Stellen Sie heraus, ob die Aufgaben eher strategischer oder operativer Natur sind. Berücksichtigen Sie dabei auch die Einbindung der Geschäftsführer. Zu Frage 2 Die Basis für Innovationen bilden oft Technologien. Diese gilt es, systematisch zu identifizieren, zu bewerten, im Einzelfall zu entwickeln, zu adaptieren und schließlich erfolgreich am Markt zu platzieren. Nutzen Sie die Literatur (Schuh et al. 2011), um eine systematische Vorgehensweise abzubilden, die sowohl neue Technologien als auch Produktideen in Einklang bringen kann. Berücksichtigen Sie in Ihren Überlegungen ­folgende Aspekte: • Umfeldanalyse • Technologiemanagement • Trendmanagement • Strategische Planung

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• Ideenmanagement • Ressourcenmanagement • Innovationsmanagement • Roadmaps Beschreiben Sie anschließend anhand Ihrer erstellten Vorgehensweise, welche bereits vorhandenen Hilfsmittel aus der Fallstudie integriert werden können und welche dem Unternehmen noch fehlen. Prüfen Sie ebenfalls, wie Ihre entwickelte Vorgehensweise an den Produktentstehungsprozess der Anawatch GmbH gekoppelt werden kann. Zu Frage 3 Nachdem die Anawatch GmbH bis dato keinen systematischen Prozess nutzt, um neue Themen zu dokumentieren, werden nachfolgend einige Vorschläge aus der Literatur (vgl. Albers und Gassmann 2005; Bullinger 1994, 2008; Niemand 2009; Schuh et al. 2011; Spath und Warschat 2008) aufgelistet. So können Trends bspw. durch • • • • •

den Aufbau eines unternehmenseigenen Wikis, einen Markt- und Technologieradar, den Gartner-Hype-Cycle, Studien oder Fachmessen, Kongresse oder Verbandstätigkeiten

dokumentiert oder auch identifiziert werden. Nutzen Sie die Literatur, um herauszufinden was genau davon der Anawatch GmbH geholfen hätte. Prüfen Sie ebenfalls, welche Modifikationen notwendig wären, um dem Unternehmen aus der Fallstudie die Dokumentation und Auswertung von Trends zielführend zu ermöglichen. Zu Frage 4 Nutzen Sie die bestehende Unternehmensorganisation, um Ihren Vorschlag auszuarbeiten. Berücksichtigen Sie bei Ihrer Ausarbeitung, dass es sich um ein völlig neues Thema für das Unternehmen handelt und dass mit solchen Initiativen oft auch ein Veränderungsprozess auf Ebene der Mitarbeitenden stattfinden muss. Zu Frage 5 Wenn Unternehmen den Weg in die Digitalisierung beschreiten, dann rücken neben technischen Fragestellungen oft auch die Kompetenzen der Mitarbeitenden verstärkt in den Vordergrund. Auf welche Kompetenzen soll der Personalbereich zukünftig beim Recruting achten? Sind es rein die technischen Kompetenzen oder werden zukünftig ganz andere Anforderungsprofile benötigt? Im vorliegenden Fall der Anawatch GmbH werden neue Typen von Stellen geschaffen, wie bspw. ein Chief Digital Officer (CDO). Ebenso werden klassische Ingenieure durch Softwareentwickler, Agile Moderatoren, Content Manager oder Vergleichbares ersetzt.

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Ermitteln Sie mithilfe von Kompetenz-Maps die Soft und Hard Skills der Mitarbeiterprofile im Bereich Digitalisierung, um dem Personalbereich der Anawatch GmbH eine Hilfestellung im Recruting-Prozess zu bieten. Begründen Sie die Auswahl der Skills. Zu Frage 6 Um neue Geschäftsmodelle identifizieren zu können, bietet die Literatur unterschiedliche Ansätze und Methoden, derer sich die Anawatch GmbH bedienen kann: • Design Thinking • Lean Startup • Lego Serious Play • Business Model Generation • Business Model Canvas • Blue Ocean Strategy • Personas • usw. Zum Teil sind sich die Methoden ähnlich oder ergänzen einander. Stellen Sie heraus, was Anawatch auf jeden Fall helfen kann, und skizzieren Sie idealerweise in Ihrem gewählten Modell eine erste Lösung für das Geschäftsmodell von Anawatch. Zu Frage 7 Die digitale Transformation beginnt nicht nur beim Produkt. Vielmehr ist eine konsequente Fokussierung auf die Customer Experience wesentlicher Bestandteil des Erfolgs. Um differenzierende Geschäftsmodelle zu realisieren, muss eine radikale Nutzerzentrierung erfolgen, d. h., Kunde oder auch eigene Mitarbeitende müssen im Zentrum der Betrachtungen stehen. Im Falle der Anawatch GmbH gilt es herauszufinden, was genau die Mehrwerte für die Kunden sind, welche noch gar nicht bewusst gemacht oder erfragt wurden. Mit einer Fokussierung auf differenzierende Mehrwertdienste, die beim Kunden Begeisterung auslösen (z. B. monatliche Pauschalen oder Abrechnung nach Volumen oder Nutzung), kann sich das Unternehmen im Markt neu positionieren. Finden Sie anhand der Fallstudie heraus, welche Mehrwerte dies konkret sein können. Nutzen Sie eine Mindmap, um Ihre Ideen zu skizzieren. Prinzipielle Überlegungen zur Schaffung wiederkehrender Umsätze finden sich hier: • Erweiterung bestehender und neuer Produkte um zusätzliche digitale Services & Apps • Nutzung und Verwertung erfasster Daten des Users für neue Geschäftsmodelle • Einbindung, Austausch und Zugriff in bestehende oder neue Plattformen (digitales Ökosystem)

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Zu Frage 8 Um eine analoge Uhr „smart“ zu machen, werden im Produkt neue Funktionen und Techniken benötigt. Auf der Seite von Enduser-Geräten ist ebenfalls eine entsprechende Anbindung erforderlich. Im Falle der Anawatch GmbH sind diese technischen Voraussetzungen noch nicht umgesetzt. Listen Sie auf, welche Techniken in die Armbanduhr aus Ihrer Sicht eingebettet werden müssen, um eine smarte Watch zu gestalten. Ermitteln Sie zudem, was aufseiten des Endgeräts (beispielsweise Tablet oder Smartphone) technisch wünschenswert ist, um ein Wearable mit Differenzierungsmerkmalen zu generieren. Hinweise zu Techniken und Anbindungen sind beispielsweise: • Vernetzung mit anderen Geräten wie Smartphone/andere Wearables/… herstellen (z. B. über Bluetooth, WLAN …) • Vernetzung mit dem Internet zum Austausch von Daten (SIM-Karte) • Eingebaute Sensorik zur Messung von beispielsweise Temperatur, Luftdruck, Herzfrequenz, Luftfeuchtigkeit, GPS, Höhenmesser usw. • Nutzung von 3-D-Druck zur Herstellung kundenindividueller Gehäuse • Vernetzung mit digitalen Plattformen und Ökosystemen (IOS, Android …) oder Cloudansätzen Zu Frage 9 Radikale Veränderungen machen oft nicht beim Produkt halt, sondern wirken sich auch auf die eigene Unternehmensorganisation aus. Im Falle der Anawatch GmbH stellt sich die Frage, ob die bisher gültige Primärorganisation bereits optimal aufgestellt ist für eine digitale Transformation. Die Hinweise der Fallstudie deuten darauf hin, dass dies nicht so ist. Prüfen Sie mit den vorliegenden Daten, welche organisatorischen Voraussetzungen bereits getroffen wurden und welche es noch zu ergreifen gilt. Prüfen Sie in diesem Zusammenhang auch, welche innovativen Ansätze im Falle der Anawatch GmbH genutzt werden können. Sind dies Inkubatoren, Labs, digitale Einheiten losgelöst von der restlichen Unternehmensstruktur oder ist es erforderlich, einen eigenen Geschäftsbereich zu gründen? Argumentieren Sie Ihre Empfehlungen am Beispiel Anawatch. Zu Frage 10 Als Basis für die Platzierung der neuen Smartwatch am Markt können Ihnen die vorigen Fragestellungen dienen. Ebenfalls können die im einführenden Teil der Fallstudie vorgestellten Studien einen Hinweis geben. Stellen Sie sich die Frage, in was die beiden Geschäftsführer Gerd Schulz und Peter Meier investieren. Nutzen Sie beispielsweise das KANO-Modell, um die Anforderungen der Kunden hervorzuheben.

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Weiterführende Literatur Abele, T. (2006). Verfahren für das Technologie-Roadmapping zur Unterstützung des strategischen Technologiemanagements. Dissertation (Jost Jetter Verlag, Heimsheim; Nr. 441). Baessler, E., Eversheim, W., Bauernhansl, T., & Brandenburg, F. (2003). Innovationsmanagement für technische Produkte. Berlin: Springer. Gassmann, O. (2006). Open innovation: Externe Hebeleffekte in der Innovation erzielen. Eine Öffnung des Innovationsprozesses erhöht das Innovationspotential. zfo wissen, 3(2006), 75. Gassmann, O., & Kobe, C. (2006). Management von Innovation und Risiko Quantensprünge in der Entwicklung erfolgreich managen. Monographie (2. Aufl.). Berlin: Springer Verlag. Gerpott, T. J. (1999). Strategisches Technologie- und Innovationsmanagement: Eine konzentrierte Einführung. Monographie. Stuttgart: Schäffer-Poeschel (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 2017).

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Gerybadze, A. (2004). Technologie- und Innovationsmanagement Strategie, Organisation und Implementierung. Monographie. München: Vahlen. Großklaus, R. H. G. (2008). Neue Produkte einführen: Von der Idee zum Markterfolg (1. Aufl.). Wiesbaden: Gabler Fachverlag. Hemetsberger, A. (2009). Qual der Wahl – Welche Methode führt zu kundenorientierten Innovationen? Unter Mitarbeit von Johann Füller. In K. Matzler (Hrsg.), Kundenorientierte Unternehmensführung. Kundenorientierung-Kundenzufriedenheit-Kundenbindung. Unter Mitarbeit von Hans H. Hinterhuber. (6. Aufl.). Wiesbaden: Gabler Fachverlag. Herstatt, C. (1992). Developing new product concepts via the lead user method: A case study in a “Low Tech” Field. Journal of Product Innovation Management, 9, 213–221. Herstatt, C. (2001). Fortschrittliche Kunden zu radikalen Innovationen stimulieren. Arbeitspapier, Nr. 9. Unter Mitarbeit von Christian Lüthje und Christopher Lettl. Specht, G. (2002). F&E-Management: Kompetenz im Innovationsmanagement. Unter Mitarbeit von Christoph Beckmann und Jenny Amelingmeyer (2. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Strebel, H. (Hrsg.). (2007). Innovations- und Technologiemanagement. Unter Mitarbeit von U. Gelbmann, A. Hasler, E. Perl, A. Posch, G. Steiner, S. Vorbach, & K.-A Zotter. Wien: WUV. Stummer, C., Günther, M., & Köck, A. M. (2010). Grundzüge des Innovations- und Technologiemanagements (3. aktual. Aufl.). Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG. Thudium, T. (2005). Technologieorientiertes strategisches Marketing: Die Entwicklung eines neuen Bezugsrahmens zur Generierung von Marketingstrategien für technologieorientierte Unternehmen. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag. Tschirky, H. (Hrsg.). (1998). Technologiemanagement: Idee und Praxis. Monographie. Unter Mitarbeit von Stefan Koruna. Zürich: Orell Füssli Verlag & Verlag industrielle Organisation (Technology, Innovation und Management). Wagner, P. (2011). Mit der Lead-User-Methode zum Innovationserfolg. Ein Leitfaden zur praktischen Umsetzung. Leipzig: CLIC Executive Breifing. Walcher, D. (2007). Der Ideenwettbewerb als Methode der aktiven Kundenintegration. Theorie, empirische Analyse und Implikationen für den Innovationsprozess. Dissertation. 1. Aufl. Wiesbaden: GWV Fachverlage GmbH. Zahn, E. (1995). Handbuch Technologiemanagement. Monographie. Stuttgart: Schäffer- Poeschel.

Carsten Weber  verbindet in seiner Tätigkeit die physische Welt (Produkte und Technologie) mit der digitalen/virtuellen Welt (IT, Software, Daten, Künstliche Intelligenz, Systeme und Internet-Technologie/-Dienste sowie deren Vernetzung einschließlich IoT) und gestaltet daraus nachhaltig die Welt der Zukunft: eine durchgängige Digitalisierung mit Smart Economy, Smart Mobility, Smart Services, Smart Products, Sharing Economy sowie Industrie 4.0 und Arbeit 4.0. Seit über 25 Jahren ist Carsten Weber in der Management-, Prozess- und IT-Beratung im Umfeld der diskreten Industrie tätig. Bis 2004 war er bei Siemens Business Services als Solution Manager Automotive für die neue weltweite Branchenausrichtung, Business Development, Beratung und den Aufbau im Bereich Automobilindustrie verantwortlich. Dann wechselte er zu MHP Management und IT-Beratung GmbH (MHP – A Porsche Company), wo er das Competence Center Automotive sowie das Produkt- und Innovationsmanagement sowie als Associated Partner weltweit den Geschäfts-

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C. Weber und S. Rummel bereich Digital Services & Solutions (Engineered Services, Software & Technology) leitete und MHP in mehreren Organisationen – darunter der Verband der Automobilindustrie (VDA) – vertrat. Seit November 2018 ist Carsten Weber als Senior Vice President (SVP) und Head of Industry Solutions bei der GFT Technologies SE beschäftigt. Darüber hinaus analysiert er die globalen Trends, Trends der diskreten Industrie, den Wertewandel der unterschiedlichen Generationen und deren zukünftige Auswirkungen auf Unternehmen, Mitarbeiter, Geschäftspartner, Kunden, Produkte und Prozesse. Dies rundet er mit der Mitarbeit im Kompetenz Centrum für Technologie- & Innovationsmanagement (KCT) an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management sowie der Betreuung von Bachelor- und Master-Arbeiten ab. Als Dozent hat Carsten Weber Lehraufträge an der HTWG Konstanz, der FOM Stuttgart sowie der HfWU Nürtingen-­ Geislingen. Die Schwerpunkte in der Lehre liegen zurzeit im Vertriebsmanagement, technischen Vertrieb, B2B-Marketing, digitale Transformation, in Geschäftsstrategien sowie im Produktmanagement im Zeitalter der Digitalisierung. Dr. Silvia Rummel  beschäftigt sich intensiv mit der Thematik Technologiemanagement in der Unternehmenspraxis. Sie hat Technologiemanagement mit den Schwerpunkten Innovationsmanagement sowie Konstruktionstechnik an der Universität Stuttgart studiert. Bereits während ihres Studiums sowie ihrer Diplomarbeit sammelte sie Praxiserfahrung mit ihrem späteren Arbeitgeber, der  Festo AG & Co. KG.  Im Zeitraum von 2009 bis 2014 promovierte sie berufsbegleitend in der Abteilung Innovationsund Technologiemanagement zum Thema „Bewertungsbasierte Tauglichkeitsprüfung von Technologiekonzepten in der Technologieentwicklung“. 2015 wechselte Silvia Rummel bei Festo in den Bereich Verfahrensentwicklung als Referentin und Projektleiterin. Dort befasst sie sich mit modernsten Verfahren und Technologien im Fabrikalltag. Die Verfahrensentwicklung ist dabei als Bindeglied zwischen Entwicklungsprojekten und dem Produktionsanlauf zu sehen. Die meisten Projekte finden in einem internationalen Kontext statt. Seit 2018 leitet Silvia Rummel ein Technologieentwicklungsteam, welches mit dem Aufbau von spezifischem TechnologieKnow-how im Bereich mechanischer Bearbeitung betraut ist. Parallel arbeitet sie mit dem Team sowohl an dem Aufbau eines Früherkennungsprozesses für neue Technologien als auch an dem Ausbau von Technologieroadmaps. Als Dozentin an der FOM lehrt Silvia Rummel zurzeit die Schwerpunkte Technologiemanagement, Trendforschung und Innovation sowie Beschaffung und Fertigung am Standort in Stuttgart.

Vom Auftragsverarbeiter zum Original Equipment Manufacturer

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Arnd Schaff

Inhaltsverzeichnis 10.1 Innovationsmanagement in der Metallindustrie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.1 Marktüberblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.2 Technologien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1.3 Unternehmen: BLESTA GmbH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Die Auftragsfertigung ist ein Industriebereich, der sich auf die effiziente Abarbeitung meist weitgehend vorgegebener Kundenaufträge spezialisiert hat. Im dieser Fallstudie gerät ein Auftragsfertiger in eine existenzielle Krise und muss den Bereich der reinen Abarbeitung von Aufträgen verlassen. Basis für die notwendige Geschäftsprozessinnovation sind eine genaue Analyse der Stärken und Schwächen des Unternehmens

Die in dieser Fallstudie beschriebene Unternehmensgeschichte beruht auf realen Vorbildern, die aus Gründen der Vertraulichkeit verfremdet wurden und in der vorliegenden Form nicht existieren – ohne dabei aber die wesentlichen Lernelemente der Fallgeschichten zu verlieren. Die im Folgenden verwendeten Namen sind fiktiv, ebenso wie der Ort der Handlung. A. Schaff (*)  KCT der FOM-Hochschule, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_10

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A. Schaff

und der daraus folgende Aufbau von erweiterten oder ganz neuen Kernkompetenzen. Zwei unterschiedliche Innovationsrichtungen führen zum einen zu einem FullService-Angebot im Bereich des Maschinenbaus und zum anderen zur Entwicklung eigener Endprodukte. Auf dem Weg dahin sind verschiedene Hürden in der Organisation, der Generierung von Produktideen und der Unternehmenskultur zu überwinden. Die in dieser Fallstudie behandelten formalen Methoden und Ansätze sind: Kernkompetenzanalyse, Market-based View of Strategy, Ressource-based View of Strategy, Synectics, Stage-Gates, Quality-Function-Deployment.

10.1 Innovationsmanagement in der Metallindustrie Beispiel Früher hat es gereicht, einfach gut in dem zu sein, was wir machen. Wir haben unsere Firma auf unserem Wissen in der Stahl- und Blechverarbeitung aufgebaut, und waren damit viele Jahre sehr erfolgreich in der Auftragsverarbeitung. Heute zählt oft nur noch der Preis, und es gibt viele Konkurrenten in Osteuropa, die auch wirklich gute Arbeit machen. Wir müssen uns grundlegend verändern, uns weiterentwickeln, sonst werden wir untergehen (Firmengründer Karsten Peters, BLESTA GmbH, auf dem Höhepunkt der Krise 2009).

10.1.1 Marktüberblick Blech- und Stahlbauteile werden heute in sehr vielen Bereichen verwendet. Vom kleinen Blechteil in Computern und Maschinen bis hin zu sehr großen, geschweißten Anlagen, vom Stuhlbein aus Edelstahl bis zum U-Boot-Rumpf reicht das Spektrum der möglichen Kundenwünsche, die durch verschiedenste, oft hochspezialisierte Anbieter bedient ­werden. Zwei wichtige Kriterien für die Aufteilung dieses fast unüberschaubaren Marktes sind die Komplexität der hergestellten Güter und die dabei produzierten Stückzahlen. Die Marktaufteilung ist mit einigen Beispielprodukten in Abb. 10.1 dargestellt. Die heutige Welt der komplexen Stahlweiterverarbeitung außerhalb der Massenfertigung ist geprägt von sehr vielen kleinen und kleinsten Anbietern, die einen nahezu unüberschaubar großen Markt unter sich aufteilen. Die typische Firmengröße eines solchen Anbieters liegt in Westeuropa zwischen fünf und 20 Beschäftigten. Wenige Unternehmen beschäftigen mehr als 50, nur eine Handvoll mehr als 100 Mitarbeiter. Sehr wenige Unternehmen haben den Sprung auf eine Größenordnung oberhalb eines KMU (kleine und mittelgroße Unternehmen) geschafft und beschäftigen mehr als 250 Mitarbeiter. Diese Unternehmen arbeiten gleichzeitig mit kleinen und mittleren Produkt-Stückzahlen (typisch: einige 10 bis einige 100 Stück pro Produkt und Jahr), oft

komplexe Weiterverarbeitung

Abb. 10.1   Markteinteilung der Stahlweiterverarbeitung nach Komplexität und Stückzahlen, mit Beispielprodukten und -industrien

einfache Produkte

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Einzelstücke, Kleinund mi lere Serien

Massenprodukon

• Schlossereiteile für Privatkunden

• Befesgungsteile • Drahtnetze • Rohre

• Sonderfahrzeugbau • Maschinenbau • Anlagenbau • Schi au

• Automobilindustrie • Sanitärindustrie • Regalhersteller

wird auch nur ein Stück produziert. Der Umsatz pro Mitarbeitendem liegt typischerweise in einer Größenordnung von etwa 70.000 bis 100.000 EUR, sodass ein Unternehmen mit 100 Beschäftigten einen Umsatz von sieben bis zehn Millionen Euro pro Jahr erwirtschaften kann. Typische Branchen und Anwendungsbereiche sind der Maschinen- und Anlagenbau, Sonder- und Nutzfahrzeuge, Ladeneinrichtungen, Kräne und andere Hubeinrichtungen, Hallen und Lagerbau, Brücken – und viele andere. Abb. 10.2 stellt einige Beispiele ­bildlich dar. Das Unternehmen in dieser Fallstudie, die BLESTA GmbH, ist in diesem Bereich kleiner und mittlerer Stückzahlen tätig. Gegen diese Welt der komplexen Stahl- und Blechweiterverarbeitung mit mittleren und kleinen Stückzahlen grenzen sich Unternehmen ab, die Komponenten in hoher Stückzahl produzieren. Solche Stückzahlen lassen sich u. a. im Automobil- und Motorradbau oder bei einfachen Massenprodukten erreichen. Eine Auswahl solcher Anwendungen zeigt Abb. 10.3. Unternehmen in diesem Bereich sind i. d. R. höher bis hoch automatisiert und im Mittel erheblich größer als die Betriebe im Segment kleiner und mittlerer Stückzahlen. Während das erste Unternehmenscluster von einem großen Anteil händischer Arbeit, eher geringer Automatisierung und einem sehr hohen Grad an Unterschiedlichkeit in den Produkten gekennzeichnet ist, fertigen die zuletzt vorgestellten Unternehmen mit hohem Automatisierungsgrad, stärker standardisierter Arbeit und einem geringeren Grad an Variation. Der Fokus liegt auf der Erzielung maximaler Effizienz und minimaler variabler Stückkosten, angesichts großer und größerer Mengen.

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A. Schaff

Abb. 10.2   Auswahl an Stahl- und Blechbaugruppen in mittlerer und kleiner Stückzahl (von oben): Sonderfahrzeugbau, Maschinenbau, Kranbauteil, Nutzfahrzeug, Landmaschine, Brücke. (Quelle: pixabay)

10.1.2 Technologien Genauso vielfältig wie die Anwendungsbereiche sind auch die Technologien, die in der Weiterverarbeitung von Stahl genutzt werden (vgl. König 2013). Die wichtigsten Technologien im Bereich der komplexen Weiterverarbeitung bei mittleren und kleineren Stückzahlen sind: • Blechzuschnitt (Laser- und Plasmaschneideanlagen) • Biegen (einfache und zum Teil hochautomatisierte Biegeeinrichtungen) • Bohren, Drehen und Fräsen (einfache Handgeräte, hochkomplexe Bohr- und Fräszentren und Drehbänke) • Stanzen und Pressen (einfache und komplexe Anlagen) • Schweißen (Handschweißen, Schweißanlagen und Schweiß-Roboter) • Oberflächenbeschichtung (Lackierung, Pulverbeschichtung) • Montage (i. d. R. händisch)

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Abb. 10.3   Auswahl an Stahl- und Blechbaugruppen in großer Stückzahl (von oben): Kugellager, Automobilteile, Motorradteile, Kronkorken, Schrauben, Federn. (Quelle: pixabay)

10.1.3 Unternehmen: BLESTA GmbH Die Karsten Peters Blech- und Stahl GmbH, kurz BLESTA GmbH, wurde vom Gründer 1972 in Westfalen auf Basis eines kleinen Schlossereibetriebes gegründet. Das Unternehmen beschäftigte sich in den ersten zwei Jahrzehnten zunächst nur mit lokalen Kunden aus dem regionalen Umfeld des Unternehmens. Technologisch hat sich der Gründer nur wenig vom ursprünglichen Schlossereibetrieb entfernt, die Produktion war durch einen sehr geringen Grad an Automatisierung und Standardisierung geprägt. Das individuelle Know-how der Mitarbeiter war für die Qualität und den Erfolg entscheidend. Durch diese eher handwerklich orientierte Produktion war das Spektrum möglicher Aufträge begrenzt, und so stieß das Unternehmen bereits Ende der 1980er-Jahre an seine Wachstumsgrenzen. Das Kundenspektrum bestand aus Privatkunden (z. B. Teile für die Ausstattung von Häusern und Gärten), kleinen Maschinen- und Fahrzeugbaufirmen der Umgebung sowie lokalen Bauunternehmen, die einfache Stahlteile für ihre Bauprojekte bestellten. Zu dieser Zeit hatte die BLESTA GmbH etwa 25 Mitarbeitende, bei einem Jahresumsatz von ca. zwei Millionen Euro (umgerechnet). Ein großer Gewinn war damit nicht

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Phase 1: handwerklich orienerter Betrieb Stärken

Schwächen

• • • •

• Selbst milere Stückzahlen nur mit Mühe produzierbar • Kaum Flexibilität beim Personal • Großauräge/größere Kunden nicht vorhanden • Wertschöpfungsefe durch fehlende Maschinen recht gering • Technisch ineffizienter älterer Maschinenpark • Zukauf fehlender Technologien notwendig • Kein kodifiziertes Wissen, keine dokumenerten Prozesse • Keine Entwicklungs-/ Konstrukonsleistung möglich



• • • •

Hohe Flexibilität Kleine Stückzahlen machbar Hohe Kundennähe Auskömmliches Preisniveau bei kleineren Kunden Großes Know-How bei allen Mitarbeitenden Sehr übersichtliche Organisaon mit hoher Mitarbeiterbindung Einfache Prozesse Geringe Abschreibung durch kleinen (älteren) Maschinenpark Geringe finanzielle Belastung durch kleines Kreditvolumen

Abb. 10.4   Stärken und Schwächen der handwerklich orientierten ersten Phase des Unternehmens

zu erzielen. Der Gründer war mit dem branchenüblichen Gehalt eines KMU-Geschäftsführers zufrieden. Abb. 10.4 fasst die damaligen Stärken und Schwächen zusammen. 1995 trat der Sohn des Gründers in die Firma ein, nach Beendigung eines Maschinenbaustudiums. Durch seine Industriepraktika, die er hauptsächlich in großen, namhaften Unternehmen des Maschinen- und Fahrzeugbaus absolviert hatte, war ihm das große Potenzial der BLESTA GmbH sofort klar. Im eher ländlich geprägten Umfeld gab es nur sehr wenige Zulieferer, die in der Lage waren, die immer größer werdenden Stückzahlanforderungen der Kunden bei gleichzeitig anspruchsvolleren Konstruktionen zu erfüllen. Er erkannte diese Entwicklung als Marktchance und begann den Um- und Ausbau des Unternehmens, zusammen mit seinem Vater. Diese Phase der Neuorientierung war um das Jahr 2000 abgeschlossen. Nach einem erheblichen Ausbau war die Firma in der Lage, ein ganz anderes Kundensegment als früher anzusprechen: große Maschinen- und Fahrzeugbauunternehmen im Raum Norddeutschland, mit einem stetig wachsenden Bedarf an Zulieferteilen aus Stahl. In den folgenden Jahren veränderte sich der Markt weiter. Zu dem vorhandenen Wachstum kamen immer höhere Anforderungen der Kunden an die Qualität und Teilekomplexität. Die besten Zulieferer waren in der Lage, den Wünschen der Kunden durch eigene konstruktive Vorschläge gerecht zu werden, und wurden so in kleinen Teilbereichen zu ­Entwicklungspartnern. Ende 2007 konnte das hochprofitable Unternehmen einen Umsatz von 53 Mio. EUR vorweisen. Die Wertschöpfung umfasste dabei das gesamte Spektrum der Technologien in Abschn. 10.1.2 sowie eine sehr fähige Konstruktionsabteilung. Abb. 10.5 beschreibt

10  Vom Auftragsverarbeiter zum Original Equipment Manufacturer

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Phase 2: industrieller Zulieferer Stärken

Schwächen

• Hohe Automasierung ermöglicht größere Stückzahlen mit guter Kostenposion • Komplexe Auräge können mit voller Wertschöpfung in-house bearbeitet werden • Schnelle Reakonsfähigkeit auf Kundenwünsche • Sehr fähige und erfahrene Konstrukonsabteilung • Übernahme von (beschränkten) Entwicklungsaufgaben • Gute Flexibilität beim Personaleinsatz durch Arbeitszeitkonten und Zeitarbeit • Prozesse, IT und Organisaon auf industriellem Niveau

• Hohe Auslastung des Maschinenparks erforderlich, um Abschreibung und Finanzierung zu decken • Merkliche Kosten im administraven Bereich durch immer größere Kundenanforderungen • Steigender Preisdruck der Kunden bei wachsenden Stückzahlen, abnehmende Profitabilität • Große Abhängigkeit von 2 Kunden, die zusammen 75% des Umsatzes generieren

Abb. 10.5   Stärken und Schwächen der zweiten Phase des Unternehmens als industrieller Zulieferer

die Stärken und Schwächen dieser Phase. Die größte Sorge des Managements bestand in der Abhängigkeit von zwei großen Kunden. Mitte 2008 brach die weltweite Finanzkrise aus, die sich auch dramatisch auf die Auslastung fast aller produzierenden Industrieunternehmen auswirkte – so auch leider auf die beiden Großkunden der BLESTA. Der Umsatz dieser Kunden brach nachhaltig in 2008 und 2009 auf 15 % des vorherigen Niveaus ein, mit katastrophalen Folgen für die Auslastung. Auch alle anderen Kunden verzeichneten deutlich sinkende Auftragseingänge, wenn auch nicht so deutlich wie die beiden Großkunden. Am Tiefpunkt der Krise lag die Auslastung der BLESTA nur noch bei 20 %. Der Verlust in den Jahren 2008 und 2009 war trotz aller kurzfristigen Maßnahmen so groß, dass die beiden Unternehmenslenker eine grundsätzliche Um- und Neuorientierung des Unternehmens durchführen mussten, um zu überleben: die BLESTA musste sich in einem Innovationsprozess neu erfinden. Die kostenorientierten Restrukturierungsmaßnahmen waren schnell in einem Maße umgesetzt, wie es für die Unternehmer noch tragbar war: eine kleine Dependance in Osteuropa trug zur Senkung der Personalkosten bei, im Bereich der nicht wertschöpfenden Tätigkeiten wurde deutlich eingespart und im Produktionsbereich sorgte ein Leistungslohn für steigende Produktivität. Das alles reichte jedoch bei Weitem nicht für das langfristige Überleben aus.

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Innovation war gefragt, auf allen Ebenen. In einem aufrüttelnden Schreiben der Unternehmensleitung heißt es dazu: Beispiel

Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur Kosten einzusparen, ist nicht genug. (…) Wir müssen uns neu erfinden, als gesamtes Unternehmen. Dabei kann und darf kein Bereich außen vor bleiben, es gibt keine Denkhürden. Wir brauchen neue Kunden, neue Produkte und vielleicht sogar ganz neue Geschäftszweige. Dieser Wandlungsprozess ist der Schlüssel zum Überleben, und wir bitten jeden, diesen Prozess aktiv mit Tatkraft und Ideenreichtum zu unterstützen. (…) Auch wenn der Wandel sicher einige Zeit dauern wird, sind wir dabei gut aufgestellt – unsere Rücklagen und die Unterstützung unserer Hausbanken werden uns helfen, diese Zeit der Neuorientierung erfolgreich zu meistern. (…) Um unsere Aktivitäten zu koordinieren, haben wir das Projekt MIZ ins Leben gerufen: „Mit Innovation in die Zukunft“. Das soll auch unser Leitspruch in der kommenden Zeit sein. (…) Eure Geschäftsleitung, Karsten und Stefan Peters. Es wurde eine Projektgruppe aus den fähigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Unternehmens zusammengesetzt. Diese Gruppe entschied sich zu Beginn für die Methode der Kernkompetenzanalyse, mit deren Hilfe die Erfolge, aber auch Misserfolge der Vergangenheit analysiert wurden. Es existieren in der Literatur verschiedene Vorschläge zum Vorgehen. Die BLESTA wählte den folgenden Prozess in vier Schritten (Kerth et al. 2015, S. 52 ff.): 1. Detaillierte Analyse der Erfolge der Vergangenheit: „Welche Produkte, Prozesse, Kundengruppen, Kundennutzen konnten in der Vergangenheit besonders erfolgreich umgesetzt werden? Warum war/ist das so?“ 2. Prüfung der Ausbaufähigkeit: „Welche der vorhandenen Kompetenzen bieten noch Potenzial für weitere Verbesserungen?“ 3. Gegencheck durch Negation: „In welchen Bereichen und aus welchen Gründen wurden in der Vergangenheit Aufträge verloren oder gar nicht erst angeboten?“ 4. Management der Kernkompetenzen: Darstellung des jeweiligen Kompetenzniveaus versus Marktrelevanz als Basis für die Aktionsplanung. Die wichtigsten Ergebnisse der ersten drei Schritte der Analyse fasst Abb. 10.6 zusammen. Karsten und Stefan Peters leiteten aus den Ergebnissen zwei wesentliche Innovationsrichtungen und darauf ausgerichtete Management-Agenden für das Unternehmen ab. Durch diese Veränderungen sollte die in Abb. 10.7. dargestellte Zielpositionierung in der

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Kern-

Ausbaufähigkeit

Kompetenzen • Konstrukon von mechanischen Komponenten und Baugruppen aus Stahl und Aluminium • Fergung einfacher und komplexer mechanischer Baugruppen im mileren Stückzahlbereich • Hoher Automasierungsgrad und Automasierungs-KnowHow • Überdurchschnilich gute Konstrukteure und Fergungsmitarbeiter • Sehr professionelle Auragssteuerung und – abwicklung

• Automasierung weiter steigerungsfähig, dadurch noch bessere Kostenposion • Ausbau der Fähigkeiten im Bereich Hydraulik und Elektrik, dadurch verbesserter Kundenzugang • Einbezug und Montage von nicht-metallischen Bauteilen, z.B. aus Kunststoff • Auau von Fähigkeiten im Bereich Steuerungstechnik im eigenen Haus (sta Zukauf) • Erweiterungen im Bereich des Testens von Produkten

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Negaon • Auräge mit einem wesentlichen Anteil an hydraulischen oder servoelektrischen Aufgaben • Entwicklungsauräge bzw. Auräge mit einem größeren Entwicklungsanteil • Anfragen zu Komplemontagen inkl. Zukaueilen • Anfragen aus dem Maschinenhandel und von Endkunden nach eigenen Lösungen

Abb. 10.6   Ergebnisse der Kernkompetenzanalyse als Basis für künftige Management-Aktivitäten

Vormaterial

Halbfabrikate

komplexe Bauteile und Komponenten

Endprodukte

Wertschöpfungskee Produktbeispiele • Stahlbleche • Rundstäbe • Draht

• • • •

Rohre • Gier • Blechzuschnie • einfache Kleinteile (Schrauben, • Winkel, …) •

Schweißbauteile • Komplee Mechaniken Maschinen und Einhausungen Anlagen (als (Gehäuse) Auragsarbeit) Fahrwerke • Eigene FunkonsbauEndprodukte gruppen

Abb. 10.7   Angestrebte Unternehmensposition in der Wertschöpfungskette: komplexe Bauteile und Komponenten, Endprodukte

Wertschöpfungskette erreicht werden: Das Unternehmen wollte sich in einer Vorwärtsintegration weiter in Richtung komplexerer Aufgaben entwickeln, bis hin zu Endprodukten, und dadurch eine deutlich verbesserte Position im Wettbewerb erreichen (vgl. Reese 2016, S. 15 ff.). Einfachere Aufgaben, vor allem im Bereich von reinen Halb-

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fabrikaten, sollten endgültig abgelegt werden, nicht zuletzt auch wegen der kaum noch vorhandenen oder sogar negativen Profitabilität. Innovationsrichtung 1 Aufbau eines Full-Service-Angebotes für bestehende und künftige Kunden im Maschinenbau. Zusätzlich zu den bestehenden Angeboten in Fertigung und Konstruktion sollten folgende weitergehende Bereiche abgedeckt werden: • Grundlagenentwicklung für mechanische Baugruppen und Komponenten • Koordination (und gegebenenfalls Durchführung) von Testverfahren für Prototypen • Integration elektronischer, elektrischer und hydraulischer Komponenten • Einbezug auch nicht-metallischer Komponenten und weiterer Zukaufteile in der ­Montage • Steuerungstechnik für Systembaugruppen inklusive eigener Programmierung • Übernahme von erweiterten Garantien für vollständige Systembaugruppen (Mechanik, Elektrik, Hydraulik) • Übernahme der Fertigungsverantwortung für komplette Maschinen/Anlagen als Auftragsarbeit Diese Art von Komplettangebot war zum damaligen Zeitpunkt eine Innovation im Markt. Derart weitgehende Services gab es bis dahin nur in speziellen Anwendungssegmenten, im Großanlagenbau oder in Verbindung mit High-Tech-Anteilen. Im Bereich des Standard-Maschinenbaus war es (und ist es auch heute noch) üblich, dass das produktbezogene Know-how und die entsprechenden Aktivitäten alleine beim Kunden lagen. Durch die Verlagerung der Aktivitäten zum Zulieferer können aber in der Wertschöpfungskette Synergien realisiert werden und so durch diese Geschäftsprozessinnovation für beide Parteien Marktvorteile erzielt werden. Abb. 10.8 fasst die Synergien zusammenfassen. Um diese Zielsetzungen zu erreichen, wurden umfangreiche Managementaktivitäten eingeleitet. Schon innerhalb von zwei Jahren gelang es, vier größere Unternehmenskunden für das angebotene Full-Service-Paket der BLESTA zu gewinnen. Drei der vier Unternehmen lassen auch heute noch komplette Fertigungsmaschinen von BLESTA mitentwickeln und bauen. Als Vorgabe dienen alleine die technischen Leistungsparameter der Anlagen. Alle anderen Aspekte werden von BLESTA in eigener Hoheit entwickelt, getestet, gebaut und auch garantiert. Diese erste innovative Stoßrichtung wurde und wird vom Management als sehr erfolgreich bewertet.

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Marktvorteile eines Full-Service Angebotes Zulieferer

Kunde

• Weitgehendes Alleinstellungsmerkmal im Markt • Hohe Bindung / guter Zugang zum Kunden • Deutlich efere und potenell profitablere Wertschöpfung als bei einfacher Zulieferung • Know-How Zuwachs ermöglicht auch andere Geschäsfelder

• Entlastung von komplexen Aufgaben im Fergungsbereich • Flexible Kapazitätserweiterung, auch im Entwicklungsbereich • Konzentraon auf Marktentwicklung und Kundennutzen möglich • Umfassendere Nutzung des Zulieferer-Know-Hows • Verlagerung von Haungsrisiken auf den Zulieferer

Abb. 10.8   Marktvorteile durch die Schaffung eines Full-Service-Angebots im Bereich der Zulieferung

Innovationsrichtung 2 Entwicklung eigener Endprodukte im Bereich des Maschinen- und Anlagenbaus. • Konzeption von eigenen Maschinen und Anlagen für die produzierende Industrie • Vermarktung dieser neuen Endprodukte unter eigenem Namen • Aufbau eines/mehrerer Vertriebskanäle und Services Dieser zweite Bereich gestaltete sich in der Umsetzung deutlich schwieriger. Drei Jahre nach der Entscheidung für diese Stoßrichtung existierten lediglich zwei fertige Maschinen für die industrielle Holzbearbeitung. Allerdings ließ der Umsatz noch sehr zu wünschen übrig. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten von beiden Maschinen erst einige wenige Prototypen verkauft werden. Von industriellen Stückzahlen war BLESTA noch weit e­ ntfernt. Aufgrund dieser Schwierigkeiten starteten Karsten und Stefan Peters eine strukturierte Aufarbeitung der Gründe für die Schwierigkeiten. Als wesentliche Problemursachen stellten sich dabei folgende Aspekte heraus: • Mangel an Innovationskraft: Im Unternehmens waren bis dato nur sehr wenig wirklich kreative Ideen vorhanden. Die „neuen“ Produkte bestanden zum größten Teil auf nur wenig abgewandelten „Kopien“ bestehender Maschinen. Entsprechend gering war das Interesse des Marktes. Die vorhandene Entwicklungsmannschaft bestand vor allem aus Konstrukteuren, technischen Zeichnern und Produktionsspezialisten, die es gewohnt waren, genau spezifizierte Wünsche der Kunden umzusetzen. Weitergehende

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Kreativität war in der Vergangenheit nur wenig gefragt, und es fehlten dafür auch die notwendigen Werkzeuge und Prozesse. • Fehlender Kundenbezug: Die Entwicklung der neuen Produkte fand fast komplett in-house im Entwicklungsteam statt. Traditionell waren Kunden in die Konstruktionsarbeit nicht involviert, und so wurde es auch in diesem neuen Prozess der konzeptionellen Entwicklung versäumt, den Kunden einzubinden. Der wirkliche Nutzenbedarf des Kunden war deshalb nur wenig oder gar nicht bekannt. Die entwickelten Produkte konnten deshalb im Markt nicht durch innovative Zusatznutzen punkten, sondern wurden als einfallslose Kopien bestehender Angebote wahrgenommen. • Defizite in Marketing & Vertrieb: Wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, fehlten sowohl im Marketing als auch im Vertrieb das notwendige Know-how für den Aufbau einer eigenen Produktsparte. Im bis dahin auf die Auftragsfertigung spezialisierten Betrieb waren ganz andere Vertriebsprozesse notwendig als bei der Vermarktung von Eigenprodukten. Die bestehende Mannschaft hatte versucht, sich mit „Bordmitteln“ in diese für das Unternehmen neuen Bereiche hinein zu entwickeln. Dieser rein interne Wissensaufbau war allerdings nicht ausreichend gut gelungen. Auf Basis dieser Analyse entschied sich das Management für folgende Veränderungen und Verbesserungsmaßnahmen: • Schulung und Anwendung von Techniken für die kreative Ideenentwicklung, u. a. Synectics. • Aufbau eines strukturierten Entwicklungsprozesses mit Stage-Gates, an denen jeweils die zu erreichenden Entwicklungsziele abgeprüft werden. • Nutzung eines strukturierten Prozesses zur Erfassung und Integration des Kundennutzens in den Entwicklungsprozess, u. a. Quality-Function-Deployment. • Rekrutierung von Spezialisten in den Bereichen Vertrieb und Marketing sowie Nutzung von externem Beratungs-Know-how. Besonderen Fokus legte das Management dabei auf die Anwendung neuer Techniken für die Entwicklung von Ideen – hier schien ein besonderer Verbesserungsbedarf zu herrschen, denn ohne gute Ideen schienen alle anderen Verbesserungen sinnlos. Ziel war, die bestehende Entwicklungsmannschaft auf einen neuen Kreativitätspfad zu führen, nachdem jahrzehntelang nur die Detailkonstruktion im Vordergrund stand. Synectics ist eine sehr kreative Methode der Ideenentwicklung, bei der Analogien aus (zum Teil völlig) fachfremden Bereichen genutzt werden (vgl. Prince 2009, S. 256 ff.). In der ersten Stufe werden Lösungen für konkrete Teilprobleme in anderen Wissensbereichen gesucht. So kann z. B. die Biologie (Früchte der großen Klette; Arctium lappa) als Grundlage für die Entwicklung eines Klettverschlusses dienen. Darüber hinaus

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werden aber auch völlig freie, rein symbolische Analogien genutzt, um neuartige Lösungsansätze zu entwickeln. Bei der BLESTA wurde der erste Ansatz angewendet: die Suche nach konkreten Ansätzen aus anderen Wissensgebieten. Als Ergebnis konnten die Konstrukteure der Firma zwei neue Ideen für das Handling von Teilen in Verarbeitungsmaschinen entwickeln. Im Nachhinein stellte sich die Anwendung der Synectics­Methode allerdings als nur bedingt erfolgreich heraus, vor allem wegen der Widerstände in der Organisation. Erfolgreicher war die Nutzung des Quality-Function-Deployment(QFD)-Ansatzes zur Ableitung von konkreten, neuartigen Kundennutzen (vgl. Kerth et al. 2015, S. 256 ff.). Ursprünglich wurde der Ansatz für die Qualitätssicherung entwickelt. Heute hat sich die Methode als eines der Standardwerkzeuge in der zielgerichteten Entwicklungsarbeit etabliert. QFD verfolgt in aller Konsequenz das Ziel des Kundennutzens. Konzeptentwicklung, Konstruktion, Produktion und Vertrieb richten sich daran aus. Ein wichtiger erster Teilschritt ist die Identifikation der wichtigen Kundennutzen und deren Priorisierung. In einer zweiten Dimension werden dann existierende oder neue Lösungsansätze zur Befriedigung dieser Nutzenelemente dargestellt. In der so generierten Matrix werden die Kundennutzen mit konkreten technischen und serviceorientierten Lösungsansätzen in Verbindung gebracht. Die Produkte des Wettbewerbs werden im Vergleich zu den eigenen Ansätzen bewertet und so mögliche Ansatzpunkte für Alleinstellungsmerkmale ­entwickelt. Ebenfalls erfolgreich war die Einführung eines professionellen Entwicklungsprozesses (vgl. Lindemann 2016, S. 399 ff.). Die qualitätsgetriebene Organisation war bereits mit der Anwendung systemischer Prozesssteuerung vertraut und so konnte der neue Prozess störungsfrei und ohne Widerstände etabliert werden. Insbesondere die Einführung von Stage-Gates erwies sich als sehr hilfreich (vgl. Ellis 2016, S. 93 ff.). Als große Schwierigkeit stellte sich der Aufbau eines professionellen, endproduktorientierten Marketings und Vertriebs heraus. Es gelang zwar, entsprechende Fachkräfte am Markt anzuwerben. Aber die Integration in die vorhandene Unternehmensmannschaft stellte sich als unerwartet schwierig heraus. Es waren vor allem kulturelle Aspekte, die immer wieder zu Missverständnissen und Reibung in der angestrebten Geschäftsprozessinnovation führten (vgl. Schein und Schein 2018, S. 14 ff.). Der kulturelle Hintergrund und das Aufgabenverständnis der „alten“ Organisationsmitglieder unterschieden sich erheblich von der Ausrichtung des neu akquirierten Personals, und so dauerte es schmerzhafte Jahre, bis ein gemeinsames Verständnis erreicht wurde. Im Ergebnis und in Summe aller Maßnahmen gelang es der BLESTA, vom reinen Auftrags-Blechverarbeiter zu einem Anbieter kompletter Systemlösungen und sogar Original Equipment Manufacturer im Bereich Maschinenbau zu werden. So konnte der drohende Untergang des Unternehmens durch Innovation verhindert werden, auch wenn der Prozess nicht immer geradlinig und störungsfrei verlief.

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10.2 Fallstudienfragen 1. Beschreiben Sie, warum und in welcher Weise sich das Unternehmen von der ersten Phase (handwerklich orientierter Betrieb) in die zweite Phase (industrieller Fertiger) weiterentwickelt hat – und auch weiterentwickeln musste. Auf welche Hürden wird das Unternehmen dabei wohl gestoßen sein? 2. Bitte definieren Sie den Begriff Kernkompetenzen. Was ist generell darunter zu verstehen, was zeichnet Kernkompetenzen aus? Wie beurteilen Sie die von der BLESTA identifizierten Kernkompetenzen im Hinblick auf Relevanz und ­Nachhaltigkeit? 3. Informieren Sie sich über die strategischen Modelle des „Market-based View of Strategy“ und des „Ressource-based View of Strategy“. Welche Vorteile bietet das letztere Modell? Auf welchem Ansatz beruht die Kernkompetenzanalyse als wichtiges Strategietool? 4. Bitte studieren Sie die verschiedenen Ansätze zur Kernkompetenzanalyse und bewerten Sie danach den in der Fallstudie gewählten Ansatz. 5. Bitte übernehmen Sie die Rolle des Managements und entwickeln geeignete Management-Ansätze/Planungen aus den Ergebnissen der Kernkompetenzanalyse. Wie beurteilen Sie die Stoßrichtungen des realen Managements? 6. Welche Kriterien würden Sie heranziehen, um eine ideale Position in der Wertschöpfungskette als Ziel eines Veränderungsprozesses zu bestimmen? 7. In der Fallstudie wird (nur) von den Vorteilen der beiden neuen Stoßrichtungen gesprochen. Welche unternehmerischen und marktspezifischen Risiken ergeben sich auf der anderen Seite, Ihrer Meinung nach? 8. Welche Ansätze würden Sie verfolgen, um aus einer Organisation, die sich bisher jahrzehntelang nur mit Detailkonstruktion beschäftigt hat, eine innovative, ideenreiche Produktentwicklung zu formen? Wo liegen die größten zu lösenden Probleme? 9. Bitte informieren Sie sich über den Synectics-Ansatz zur Ideenentwicklung. Welche Vorteile und welche Nachteile sehen Sie in der Anwendung dieses Ansatzes? Was vermuten Sie als Ursache der Widerstände, auf die das Management in der Organisation gestoßen ist? 10. Beschreiben Sie, welche Elemente in einem professionellen Entwicklungsprozess nicht fehlen dürfen. Was sind Stage-Gates (Phase-Gates) und welche Funktion haben sie? 11. Bitte informieren Sie sich über die Geschichte und die verschiedenen Ausprägungen des Quality-Function-Deployments (QFD). Beschreiben Sie in eigenen Worten die Vorgehensweise und die Arbeitsschritte in ausgewählten QFD-Ansätzen. Wie bewerten Sie die Auswahl des QFD-Ansatzes als Methode zur Implementierung der Kundenorientierung bei der BLESTA? 12. Welche (kulturellen) Gründe werden zu den Problemen bei der Integration neuer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit beruflichem Hintergrund in endproduktorientierten Unternehmen in die „alte“ Organisation geführt haben? Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie?

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10.3 Lösungshinweise In diesem letzten Kapitel sollen Hinweise und Anregungen für die Bearbeitung der Fragen gegeben werden. Andere Ansätze sind möglich: Das Ziel ist nie eine „richtige“ Antwort, sondern die kritische eigene Auseinandersetzung mit den Fakten. In diesem Sinne werden hier bewusst keine fertigen Lösungen ausformuliert, sondern vielmehr wird darauf Wert gelegt, wichtige Elemente und Denkrichtungen anzusprechen. Dem Bearbeiter der Fallstudie bleibt es überlassen, daraus jeweils eine eigene Lösung zu entwickeln. Zu Frage 1 Eine entscheidende Rolle spielten wohl vor allem die Schwächen und die daraus resultierenden Nachteile des damaligen Unternehmens, inklusive der wirtschaftlichen Grenzen, an die man gestoßen war. Diskutieren Sie die Aufgabe vor allem auf Grundlage von Abb. 10.4 und erarbeiten Sie, welche wirtschaftlichen Nachteile sich aus den dargestellten Schwächen jeweils ergeben. In Summe war das Unternehmen an die Wachstumsgrenze gestoßen, bei unzureichendem Ertrag und einer ungewissen Zukunft. Mögliche Hürden bei der Veränderung vom Handwerksbetrieb zum Industriezulieferer ergeben sich typischerweise durch (u. a.): • Unzureichende oder fehlende Standard-Prozessabläufe • Managementfunktionen auf Einzelperson(en) konzentriert, Führung „auf Zuruf“ • Fehlendes betriebswirtschaftliches und strategisches Know-how • Sorge vor komplexeren Strukturen, langfristiger Verschuldung und Abnahme der Flexibilität • Sorge vor geringerer Profitabilität bei größeren (übermächtigen) Kunden/Aufträgen • Sorge vor der Anonymisierung der Betriebes Fallen Ihnen noch weitere Hürden ein? Zu Frage 2 Es gibt viele Definitionen des Begriffes „Kernkompetenz“. Eine hilfreiche Sichtweise ergibt sich aus der Herkunft und Wirkung von Kernkompetenzen. Sie rühren aus den besonderen Fähigkeiten eines Unternehmens oder einer Organisation her – sowohl im relativen wie auch im absoluten Sinn. Relativ betrachtet sind das die im internen Vergleich besonders gut ausgeprägten Fähigkeiten. Wenn diese Fähigkeiten auch auf einer absoluten Skala hervorragend sind, hat ein Unternehmen im Wettbewerb eine überdurchschnittlich gute Startposition. Es kommt natürlich darauf an, in welcher Weise die Kernkompetenzen genutzt werden: Nur bei optimaler Nutzung ergibt sich aus den ­Kompetenzen auch ein Markterfolg. Sie zu haben, reicht alleine nicht aus. Besonders wertvolle Kernkompetenzen sind knapp (d. h. ein Engpassfaktor im Markt), schwer imitierbar und schwer substituierbar (d. h. nachhaltig vorhanden, in mittel-/langfristiger Perspektive). Betrachten Sie aus diesem Blickwinkel die in Abb. 10.5

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dargestellten Stärken/Schwächen der Phase 2 und die auf dieser Basis ermittelten Kernkompetenzen in Abb. 10.6 (linker Teil). Ergeben sich die Kernkompetenzen für Sie daraus auf nachvollziehbare Weise, und wo würden Sie gerne noch mehr wissen? Zu Frage 3 Beide Modelle gehören zu den Standardinstrumenten der strategischen Marktanalyse. Entsprechend viel Literatur ist vorhanden, die Sie zur Beantwortung dieser Frage heranziehen können (vgl. Sminia 2018, S. 18 ff.; Barney und Clark 2007, S. 3 ff.; Meffert 2004, S. 296 ff.). Eng verbunden mit dem Market-based View ist das Structure-Conduct-Performance-Paradigma (SCP-Paradigma) nach Joe S. Bain. Es stellt, neben einer grundsätzlichen Haltung in der Strategieentwicklung, auch ein praktisches Werkzeug dar, um Unternehmen aus Sicht des Market-based Views zu untersuchen. Die zugrunde liegende Sichtweise ist, dass die Marktstruktur (S) das optimale Verhalten im Markt (C) bestimmt, aus dem heraus sich wiederum die optimalen Ergebnisse (P) ergeben. Gegenstand der Betrachtung sind Unternehmen mit einer ähnlichen Strategie, aber unterschiedlichem wirtschaftlichen Erfolg. Wenn das Verhalten realer Unternehmen gegen das im SCP-Paradigma beschriebene optimale Verhalten gespiegelt wird, ergeben sich daraus die Gründe für suboptimale Performanz. Diese Sichtweise berücksichtigt die unternehmensindividuellen Stärken und Schwächen nicht. Unterschiede in den Ressourcen der Unternehmen werden vernachlässigt und die Unternehmen als gleich betrachtet. Das bietet den Vorteil einer schnellen Analysemöglichkeit, allerdings sind die Aussagen sehr generisch und die entsprechenden Empfehlungen schnell imitierbar. Aus diesem Grund wurde der Ressource-based View entworfen (Wikipedia o. J.). Dort wird angenommen, dass ein langfristig vorhandener Marktvorteil auf den wertvollen Ressourcen eines Unternehmens beruht. Ressourcen sind dann wertvoll, wenn sie zum einen verglichen mit den Ressourcen des Wettbewerbs hinreichend unterscheidbar und vorteilhaft sind, und zum anderen langfristig beim Unternehmen verbleiben, also nicht mobil sind. Wenn beide Bedingungen erfüllt sind, ergibt sich ein nachhaltiger Marktvorteil. Aus dem Literaturstudium und den kurzen Erläuterungen fällt die Beantwortung der Frage sicher sehr einfach, welchem der beiden Konzepte die Kernkompetenzanalyse eher entspricht. Zu Frage 4 Es gibt einige gut beschriebene Varianten der sogenannten Kernkompetenzanalyse (vgl. Reisinger et al. 2017, S. 83 ff.). Nutzen Sie Fachbücher zum strategischen Management und auch das Internet, um sich zu informieren. Hilfreiche Stichworte und Ansätze dazu sind die VRIN-, VRIO- und VRINO-Methoden. VRIN steht darin z. B. für Value (V), Rarity (R), Inimitability (I) und Non-Substitutability (N). VRIO ist der Nachfolger von VRIN und ersetzt die Nicht-Austauschbarkeit durch das Stichwort Organisation. VRINO

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kombiniert beide Ansätze schließlich. Nicht durch Zufall werden Sie durch die Stichworte an den Ressource-based View of Strategy erinnert, der bereits in Frage 3 behandelt wurde. Alle Verfahren der Kernkompetenzanalyse versuchen, die vorhandenen Ressourcen einer Organisation möglichst gut hinsichtlich ihres Wertes und der Nachhaltigkeit zu beschreiben, um daraus einen Handlungsplan abzuleiten. Das von der BLESTA gewählte Verfahren enthält alle Aspekte, die bei der Analyse der Kernkompetenzen beachtet werden sollten, und bietet durch die „Negation“ auch eine Komplettsicht auf Bereiche, die bisher vielleicht noch gänzlich unbeachtet gewesen sind. Eine Einschränkung auf die bestehenden Kompetenzen lässt notwendigerweise die größten Defizite außen vor und stellt damit eine gefährliche Einschränkung dar. Zu Frage 5 Hier ist alleine Ihre Kreativität als Managerin/Manager gefragt. Am Ende Ihrer Analyse sollten Sie einen strategischen Handlungsplan mit Arbeitspaketen, Zeitzielen (inklusive Zwischenzielen) und Verantwortlichkeiten entworfen haben. Leitfragen könnten dabei sein (unter vielen anderen möglichen): • Was sind Ihre strategischen Stoßrichtungen (Märkte, Position in der Wertschöpfungskette) und wie viele können Sie parallel verfolgen? • Wie können Sie feststellen, ob Ihre Stoßrichtungen realistisch (d. h. weder über- noch unterambitioniert) sind? • Wie sichern Sie sich gegen mögliche Risiken bei der Umsetzung Ihrer Strategie ab? • Wie motivieren Sie die bestehende Organisation zu dieser Geschäftsprozessinnovation? Die beiden Ansätze des bestehenden Managements scheinen auf den ersten Blick folgerichtig aus den Kernkompetenzen und Defiziten hervorzugehen. Allerdings hat man sich keine wirklichen Gedanken um die Umsetzbarkeit/Hürden, Risiken und den notwendigen Change-Prozess in der Organisation gemacht, insbesondere im Hinblick auf die zweite Stoßrichtung der Endprodukte. Die angestrebte Zielposition in der Wertschöpfungskette war mehr durch ein „weg vom Alten“ geprägt, also eine Fluchttendenz, als von neutraler strategischer Analyse. Zu Frage 6 Einige mögliche Kriterien zur Bestimmung der optimalen Position in der Wertschöpfungskette könnten sein: • Umsatzvolumen und Branchenprofitabilität in der jeweiligen Stufe der Wertschöpfungskette • Wettbewerbsdichte und -intensität • Zukunftserwartung hinsichtlich Marktvolumen und Profitabilität

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• Qualität der bereits im Unternehmen vorhandenen und für die jeweilige Position benötigten Ressourcen • Abschätzung des Realisierungsaufwands und der Risiken • Reaktion der aktuellen Partner in der Wertschöpfungskette (Kunden, Wettbewerber, Lieferanten) Welche Kriterien sind Ihnen zusätzlich wichtig? Zu Frage 7 Ein mögliches Risiko ergibt sich aus einer Überdehnung der Organisation, die von der deutlich ausgedehnten Wertschöpfungstiefe überfordert und auch verängstigt wird. Dadurch besteht das Risiko des Verlustes von wichtigen Mitarbeitenden (Abwanderung/ Krankheit/innere Kündigung) und eines Motivationsverlusts. Gleichzeitig steigen die Kapitalbindung und der Anteil an Overheadkosten weiter an, was den Druck auf die Auslastung und das zu erzielende Preisniveau erhöht. Es ist zu erwarten, dass die Vorlaufzeiten von Aufträgen (deutlich) ansteigen, wenn es um tiefere Wertschöpfung, Entwicklungsanteile oder gar fertige Produkte geht. Die dadurch notwendige Vorfinanzierung und kapazitive Bindung des Personals darf nicht unterschätzt werden. Das betrifft bereits im Vorfeld eines Projektes die Vertriebsphase: Der Preis für die hohe Kundenbindung im Erfolgsfall ist i. d. R. ein sehr hoher (Personal-)Aufwand in der Akquisephase über einen langen Zeitraum hinweg. Typische ­Vorlaufzeiten für Zulieferteile liegen im Bereich von wenigen Monaten, komplexe Projekte benötigen leicht einen Vorlauf von deutlich mehr als einem Jahr. Die Entwicklung eigener Endprodukte birgt besonders große Risiken (und sollte immer sehr gründlich abgewogen werden). Bestehende Kunden im Maschinenbaumarkt betrachten die Endprodukte der BLESTA möglicherweise als Bedrohung. Der Zulieferer kann so schnell zu einem (zumindest so wahrgenommenen) Konkurrenten werden, mit entsprechenden negativen Folgen für den Umsatz. Gleichzeitig muss kritisch hinterfragt werden, wie weit ein Zulieferer wie BLESTA von den Fähigkeiten eines Unternehmens mit eigenen Endprodukten entfernt ist. Wie sich auch im vorliegenden Fall gezeigt hat, sind die zu überwindenden Schwierigkeiten oft deutlich höher als erwartet, mit entsprechenden Folgen für die Kosten und den Zeitplan. Zu Frage 8 Die Ansätze zur Organisationsentwicklung ergeben sich aus dem Status quo. Die bestehende Organisation ist gewohnt, enge Vorgaben der Kunden umzusetzen. Die dabei benötigten Kompetenzen sind gute zeichnerische Fähigkeiten, ein hohes Qualitätsbewusstsein, ein Sinn für die Verbesserungsmöglichkeiten des Vorhandenen und sehr gute produktionstechnische Kenntnisse, um eine gute Grundlage für eine effiziente Produktion zu schaffen. Kreativität ist dabei nur im Hinblick auf die effektivste und effizienteste Umsetzung einer Konstruktion in der Fertigung gefragt. Ganz neue Lösungen oder sogar Produkte benötigen vor allem die Fähigkeit, sich von Bestehendem zu lösen und auf Basis eines

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(zu ermittelnden) Kundennutzens etwas ganz Neues zu schaffen. Diese beiden Fähigkeiten waren in der alten Organisation praktisch nicht vorhanden. Daraus ergeben sich u. a. diese Ansätze: • Verständnis der zukünftig zu erzielenden Kundennutzen als Teil eines Marketing- und Produktentwicklungsplans • Schulung in Kreativitätstechniken und -prozessen • Einführung eines Innovationsmanagements • Kultureller Change-Prozess in Richtung größere Handlungsspielräume und Risikobereitschaft Fallen Ihnen noch weitere Ansätze ein? Zu Frage 9 Einige Vorteile des Synectics-Ansatzes sind: • • • •

Förderung des assoziativen Denkens und der kreativen Ablösung vom Detailproblem Entwicklung ganz neuer Perspektiven und ganzheitlicher Sichtweisen auf das Problem Übertragung von Lösungsansätzen aus artfremden Wissensgebieten Spielerischer Zugang zur Aufgabenstellung, dadurch Vermeidung von Erfolgsdruck und Frustration

Mögliche Nachteile sind: • Verwirrung, Gefühl der Hilflosigkeit und Frustration bei Menschen mit geringem Zugang zu Kreativität • Ablehnung als „Spielerei“, insbesondere bei sehr technisch orientierten Mitarbeitenden • Notwendige Übersetzungsleistung der Ergebnisse in umsetzbare Problemlösungen Vor dem Hintergrund der bisherigen Organisation und Aufgaben der BLESTA werden die Hürden sofort klar: Die allein auf technische Problemlösung fokussierte Mannschaft war mit diesem kreativen Ansatz schlicht überfordert. Ohne einen längerfristigen kulturellen Wandlungsprozess hatte die Methode keine wirkliche Chance und scheiterte, weil der Grundansatz der Methode von der bisherigen Arbeitsweise zu weit entfernt war. Zu Frage 10 Entwicklungsprozesse sind in der Literatur bereits sehr häufig analysiert und dokumentiert worden, sodass an dieser Stelle der Hinweis darauf ausreichen muss. Eine vollständige Aufzählung würde hier den Rahmen deutlich sprengen. Unverzichtbare Grundelemente sind u. a.:

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• Genau spezifizierte Entwicklungsziele, inklusive wirtschaftlicher Ziele und des zu befriedigenden Kundennutzens • Prozessplanung mit Zeitplanung und Verantwortlichkeiten • Planung der organisatorischen Einbindung aller Beteiligten (FuE, Vertrieb/Marketing, Produktmanagement, Qualitätssicherung, Controlling, Patentabteilung) • Prüfung möglicher Verletzungen von Schutzrechten Dritter Stage-Gates/Phase-Gates dienen der Qualitätssicherung im Entwicklungsprozess. Wie die Namen nahelegen, geht es um eine Tor-Logik. Ein bestimmter Entwicklungsschritt muss erst vollständig abgearbeitet werden, bevor sich das Tor zur nächsten Phase öffnen darf. Zu diesem Zweck werden die zu erreichenden Parameter genau spezifiziert und abgeprüft. Wenn alle geforderten Elemente vorhanden sind, ist die Phase abgeschlossen und der Prozess kann in das nächste Stadium eintreten. Der erste Schritt in der Einführung einer Stage-Gate-Logik ist die Aufteilung des Gesamtprozesses in sinnvolle, in sich geschlossene Unterprozesse, an deren Ende ein gut dokumentier- und prüfbarer Zustand besteht. Zu Frage 11 Ähnlich wie beim Entwicklungsprozess existiert für das QFD ein sehr großer Fundus an Literatur, sodass die Wiederholung an dieser Stelle weder machbar noch notwendig erscheint. Wenn Sie in Ihrer Beschreibung auf die typischen vier Phasen eines QFD-Projektes eingehen, werden Sie nichts vergessen: House of Quality, Product/Service Design, Process Design und Process Control. Legen Sie dabei besonderen Wert auf den ersten Schritt, das House of Quality. Die Auswahl der QFD-Methode bei der BLESTA war eine gute Wahl. Zum einen ist die Methode sehr gut geeignet, um Kundennutzen in Produkte umzusetzen. In diesem Bereich lag, wie die Geschichte dokumentiert, eines der größeren Probleme. Zum anderen ist der Ansatz an sich sehr strukturiert und gut dokumentiert, sodass er gut zur Organisationskultur der BLESTA zu passen scheint – in Summe also eine passende Wahl! Zu Frage 12 Erfahrungsgemäß unterscheiden sich die kulturellen Leitparameter eines Servicedienstleisters von denen eines endproduktorientierten Unternehmens. Die „alte“ BLESTA war stolz darauf, die (gut definierten) Wünsche der Kunden umzusetzen und im Rahmen der Vorgaben die optimale Lösung für die Produktion zu finden. Qualität und Effizienz waren dabei die wesentlichen Ziele, und höchste Genauigkeit in allen Prozessen die zugrunde liegende Norm. Kulturell hat sich daraus ein eher rigides System mit einem klaren Bild von „falsch“ und „richtig“ ergeben.

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Im Bereich von Endprodukten existieren deutlich höhere Freiheitsgrade und ein Schwarz-Weiß-Denken führt i. d. R. nicht zum Erfolg. Experimentieren und sukzessive Weiterentwicklung beim Produktdesign gehören zum Entwicklungsprozess. Die Grundlage dafür ist eine fehlertolerante Kultur, die zumindest zu Beginn deutlich im Gegensatz zur alten Kultur stand. Zusätzlich unterscheidet sich der Vertrieb eines Auftragsfertigers erheblich von dem eines Produktlieferanten. Der Auftragsfertiger punktet durch beste Prozesse und ist daher oft sehr technisch und detailgetrieben in der Akquise. Beim Endprodukt dagegen spielen die Details der Ausführung oft keine Rolle, dafür aber die Überzeugung des Kunden hinsichtlich des Gesamtpakets „Produkt“. Folgerichtig unterscheiden sich auch die Mentalitäten im Verkauf deutlich: Der Auftragsfertiger beschäftigt dort oft technische Spezialisten mit einem Produktionshintergrund, die nicht dem Bild eines „typischen“ Vertriebsmitarbeiters entsprechen. Oft besteht eine Abneigung gegen „Verkäufer“, die weniger Fachkenntnisse in der Produktion haben (dafür aber andere wichtige Fähigkeiten mitbringen). Die Lösung dieses Problems liegt in einem langfristigen kulturellen Wandel und der Annäherung an eine weniger rigide, kreative Arbeitsweise, ohne dabei die Stärken in Qualität und Effizienz zu verlieren.

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A. Schaff Prof. Dr. Arnd Schaff  ist seit 2017 als Professor mit dem Spezialgebiet Change-Management an der FOM Hochschule tätig. Daneben unterhält er in Essen eine Praxis für Psychotherapie und ein Beratungsunternehmen. Er begann seine berufliche Karriere nach dem Studium der Physik und der Promotion in Physikalischer ­Chemie als Unternehmensberater bei McKinsey & Company. Dort beschäftigte er sich hauptsächlich mit Reorganisations- und Restrukturierungsaufgaben, zuletzt als Projektleiter. 2002 wechselte er in die produzierende Industrie und verantworte in einem Siemens-Tochterunternehmen als Vice President Operations die Produktion in vier Werken. Ab 2005 war er als Bereichsvorstand und Geschäftsführer der deutschen Gesellschaft für die Business Unit Tropfenabscheider in der schwedischen Munters AB tätig. Als President Business Area leitete er dort das weltweite Geschäft, die Entwicklung und die Produktion. Danach wurde er in den Konzernvorstand eines Industrieunternehmens berufen. Im Jahr 2015 begann Arnd Schaff seine Lehrtätigkeit an der FOM, zunächst als freiberuflicher Dozent.

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Vom einfachen Sägewerk zum Weltmarktführer in der Bierdeckel-Produktion 300 Jahre Tradition und Leidenschaft aus dem Schwarzwald Georg Bouché und Christoph J. Kansy

Inhaltsverzeichnis 11.1 Produktmanagement eines außergewöhnlichen Werkstoffes aus Fichtenholz. . . . . . . . . . 11.1.1 Wie alles vor mehr als 300 Jahren begann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.2 Umfirmierung in eine Aktiengesellschaft und harte Jahre während des Zweiten Weltkrieges. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.3 Management-Buy-out . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.4 Equivest und Kinsky Capital. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.5 Übernahmen in Sachsen, in den USA und eine Insolvenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.6 Investitionen in Millionenhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.7 Ökologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.8 Der Einstieg in die Fußbodenindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.1.9 Der Blaue Engel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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G. Bouché ()  FOM Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] C. J. Kansy  Weisenbach, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_11

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Zusammenfassung

Im Jahr 1716 wurde in Süddeutschland, im Murgtal, nicht weit von der Stadt Baden-Baden der Grundstein gelegt, in einem kleinen Sägewerk, das sich über drei Jahrhunderte zum Weltmarktführer der Bierdeckel-Produktion in Europa, Nord-, Zentral- und Südamerika, aber auch in Asien und Australien entwickelte. Mit dem nachwachsenden Rohstoff, Fichtenholz, das lokal aus der nachhaltigen Forstwirtschaft bezogen wird, werden heute auch Produkte für die Bauindustrie hergestellt. Das Unternehmen Katz überlebte zwei Weltkriege, Turbulenzen, Management-Buyouts wie auch eine Insolvenz und wird heute von einem Traditionsunternehmen, der Papierfabrik August Koehler SE, geführt, nachdem sich Private-Equity-Investoren für die Bierdeckelproduktion begeistern konnten. Die Muttergesellschaft investiert bis heute Beträge in Millionenhöhe, um eine Expansion vor allem auch auf dem amerikanischen Markt mit zwei Niederlassungen immer weiter voranzutreiben. Der ökologische Ansatz des Bierdeckelproduzenten begeistert die Medien und lässt das kleine Örtchen Weisenbach mit nur 2500 Einwohnern stolz auf die Papierfabrik sein. Es stellt sich die Frage, ob der Bierdeckel, der großen Brauereien und Getränkeherstellern als Werbemittel dient, eine Zukunft hat. So macht sich das Management des Unternehmens gemeinsam mit den Eigentümern Gedanken, welche Produkte sich noch aus Holzschliff herstellen lassen. Der Einstieg in die Bauindustrie – als Zulieferer für Fußbodenprodukte – lag nahe. Doch der Weg war nicht immer einfach.

11.1 Produktmanagement eines außergewöhnlichen Werkstoffes aus Fichtenholz 11.1.1 Wie alles vor mehr als 300 Jahren begann Im Jahr 1716 übernahm Johann Georg Katz im Süden von Deutschland, im idyllischen Murgtal im badischen Gernsbach, ein Sägewerk, um mit der Produktion von Telegrafenmasten und Eisenbahnschwellen zu beginnen. Er war im selben Jahr von Pforzheim nach Gernsbach gezogen, wo sein Vater bereits im Flößergewebe tätig war, vor allem, weil ihm klar war, welches Potenzial in der Weiterverarbeitung des eigenen Holzes steckte. Das Murgtal ist dicht besiedelt mit international agierenden Unternehmen aus der Papierindustrie. Smurfit Kappa mit einem Umsatz in Milliardenhöhe produziert Verpackungen und das aus Amerika stammende holzverarbeitende Unternehmen Glatfelter mit Hauptsitz in York in Pennsylvania produziert neben Teebeuteln auch Dekorpapiere, z. B. für die Fußbodenindustrie. Die Mayr-Melnhof Karton AG als einer der größten Hersteller von Karton auf Recyclingpapierbasis mit mehr als 8800 Beschäftigten hat als führender Produzent von Faltschachteln ebenfalls einen Produktionsstandort im Murgtal, um nur ein paar der Schwergewichte zu nennen.

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Das Unternehmen, das heute als Katz GmbH & Co. KG firmiert, gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten Unternehmen weltweit, allerdings nicht mehr als Produzent für die Telefon- und Eisenbahnindustrien, sondern als Weltmarktführer für die Produktion von Bierdeckeln und Glasuntersetzern. Wie konnte es dazu kommen? Nach einer Umfirmierung im Jahr 1853 zu Katz & Klumpp übernahm Casimir Otto Katz nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1880 nicht nur das Unternehmen, sondern er kaufte auch zwei Jahre später die Belzermühle in Weisenbach. Der Ort Weisenbach, der 2500 Einwohner zählt, betrieb eine Holzschleiferei, nur wenige Kilometer entfernt von Gaggenau. In dieser Fabrik wurden Holzabfälle der nahegelegenen Sägewerke zu Holzschliff für die umliegenden Papierfabriken weiterverarbeitet und dann auch auf Rundsiebmaschinen sogenannte Handholzpappe produziert. Die Murg eignete sich perfekt, um deren Wasserkraft zu nutzen. So kam es im Jahr 1900 zu dem Erwerb der Erlenmühle in Weisenbach. Schnell merkte man, dass die Holzabfälle aus dem Sägewerk prädestiniert waren, um Untersetzer herzustellen. Casimir Otto Katz konnte damals nicht vermuten, dass sein Unternehmen im 21. Jahrhundert von Weisenbach aus den Weltmarkt beliefern würde. Nach Aussagen der heutigen Unternehmensführung kommen heute 70 % aller Bierdeckel weltweit aus dem Werk in Süddeutschland. Seit 1903 wird dort der Bierdeckel, wie wir ihn heute kennen, hergestellt, sodass das Werk 1909 ausgebaut werden musste. Im Laufe der Industrialisierung, die bereits im 18. Jahrhundert vor allem in England begann, wurde dann im Jahr 1928 das Patent für die erste automatische Bierdeckeldruckmaschine angemeldet, mit welcher man 30.000 Untersetzer pro Tag produzieren konnte. Der Zeitungsartikel in Abb. 11.1 zeigt auf, wie im Jahr 1716 mit einer Holzschleiferei vor mehr als drei Jahrhunderten der Grundstein gelegt wurde für ein Unternehmen, welches vom Weltmarkt nicht mehr wegzudenken ist.

Abb. 11.1   Was mit der Flößerei begann. (Quelle: Badisches Tagblatt 22. August 2016d)

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11.1.2 Umfirmierung in eine Aktiengesellschaft und harte Jahre während des Zweiten Weltkrieges Noch vor dem Zweiten Weltkrieg wurde das Unternehmen zu einer Aktiengesellschaft umfirmiert, sodass man ab dem Jahr 1930 mit dem Namen Katz & Klumpp AG – mit Sitz in Gernsbach – agierte. Obwohl das Sägewerk auch während des Zweiten Weltkrieges betrieben wurde, konnte es sich in dieser Zeit nicht weiterentwickeln, da es zu einem kriegsbedingten Stillstand kam. Ab dem Jahr 1946 lief das Pappen und Bierdeckelwerk wieder in vollem Gange. Kurz nach dem Eintritt von Casimir Katz in den Vorstand der Aktiengesellschaft im Jahre 1951 wurde das eigentliche Sägewerk in Gernsbach geschlossen, in welchem bis zum Jahr 1953 immer noch Masten für die Telefon- und mittlerweile auch die Stromnetze produziert wurden. Zwei Jahre später wurde auch das Sägewerk im Nachbarort Weisenbach geschlossen, um sich ganz der Produktion von Pappe und Bierdeckeln zu widmen. Wie häufig bei Aktiengesellschaften üblich kam es zum Einstieg von Investoren, die die Mehrheit der Katz & Klumpp AG erworben hatten. Das Unternehmen Pfleiderer GmbH aus Neumarkt in der Oberpfalz sowie die Richtberg KG aus Bingen hielten die Produktion in Weisenbach für lukrativ, sodass sie sich im Jahr 1962 zu dem Erwerb der Aktien entschlossen. Die Pfleiderer GmbH beschäftigte sich mit der Herstellung von Holzwerkstoffen, speziell von Faserplatten für Möbel und den Innenausbau, und beschäftigte rund 3500 Mitarbeiter in Deutschland und Polen. Das 1894 im württembergischen Heilbronn gegründete Unternehmen wuchs in der Nachkriegszeit zu einem der größten Unternehmen Europas im Bereich Holzverarbeitung heran. Heute wird es an der Börse in Warschau in Polen geführt. Neben der Produktion des reinen Materials lag es nahe, die Produktion dank der Erfindung der Bierdeckelstanzung und der vorherigen Bedruckung in Form einer innovativen Maschine noch zu perfektionieren. So konnten mittlerweile nicht mehr nur 30.000 Bierdeckel, sondern mehr als eine Million Bierdeckel pro Tag produziert werden, und zwar bereits im Jahr 1969. Ein Jahr später firmierte das Unternehmen unter dem Namen Katz Werke AG und stellte fünf Jahre später vom traditionellen Buchdruck auf den Offsetdruck um. Regelmäßige Investitionen von weiteren Stanzanlagen und einer voll automatisierten Verpackungslinie durften nicht fehlen. Der Erfolg führte dazu, dass die sich das Unternehmen Pfleiderer im Jahr 1978 dazu entschloss, die Katz-Werke komplett zu erwerben. Es blieb ruhig um das Unternehmen im Murgtal bis in das Jahr 2000.

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11.1.3 Management-Buy-out Im Jahr 2000 entschloss sich die Geschäftsführung des Unternehmens zu einem Management-Buy-out, um so die Katz-Werke übernehmen zu können. Elmar Hohmann, Paul Kistner und der Vertriebsleiter für den Export, Ulrich Mehlhase, sicherten sich so die Anteile an der mittlerweile international agierenden Bierdeckelproduktion. Man holte sich Hilfe von Investoren aus England. Richard Brewster wurde in die Geschäftsführung entsandt. Ein Name, der international Anklang findet, wurde notwendig, sodass die Gesellschaft nun unter dem Namen Katz International Coasters GmbH & Co. KG operierte. Es kam zu einer weiteren Gründung, der Interbrandpro Gesellschaft. So arbeite sich die Interbrandpro zu dem weltweit führenden Anbieter von Bier- und Glasuntersetzern sowie als Produzent von Werbeträgern aus Pappe hoch. Übernahmen von Unternehmungen im Jahr 2001 in Quarmby in Großbritannien – Jarvis Porter und Waterlomat aus Belgien verhalfen den Weisenbachern dazu, eine internationale Unternehmensgruppe entstehen zu lassen. Erst im Jahr 1903, also fast zwei Jahrhunderte später, wird der erste Bierdeckel in Süddeutschland produziert, wie in dem Zeitungsartikel in Abb. 11.2 beschrieben wird.

Abb. 11.2   1903 entsteht im Murgtal der erste Bierdeckel. (Quelle: Badisches Tagblatt 24. August 2016a)

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11.1.4 Equivest und Kinsky Capital Im Jahr 2005 wurde das Unternehmen, das mittlerweile als Interbrandpro Holding GmbH an Private-Equity-Investoren mit den Namen Equivest und Kinsky Capital veräußert. Den Begriff Private Equity könnte man mit Eigenkapital übersetzen. Es ist eine Form der Beteiligung an Unternehmen, außerhalb der Börse. Das heißt, die Anteile werden nicht frei über eine Börse erworben, sondern durch private Anleger in Form von Kapitalbeteiligungsgesellschaften. Wird das Kapital jungen, innovativen Unternehmen bereitgestellt, die naturgemäß ein hohes Risiko, aber auch entsprechende Wachstumschancen in sich bergen, so spricht man von Risikokapital oder Wagniskapital (englisch Venture Capital). Die Katz-Werke wurden ab sofort über die Anthemius Vermögensverwaltung gelenkt, geführt und geleitet. Der aus England stammende Garry Hobson fungierte vorerst als Chief Operating Officer, dann als Sprecher der Geschäftsleitung und später als CEO zusammen mit dem Verkaufsdirektor der Gruppe, Dirk Brennenstuhl, dem technischen Direktor, Mark Ketterle, und dem Geschäftsführer Finanzen, Andrew Thompson, was zum Rückzug der Anteilseigner Richard Brewster und Elmar Hohmann als Geschäftsführer führte. Sie sind den Katz-Werken allerdings als strategische Berater erhalten geblieben, um die Unternehmung weiter zu begleiteten und um die weitere Entwicklung der Gruppe zu unterstützen. Dank neuer Eigentümer werden Schwierigkeiten überwunden. Der Auszug aus dem Badischen Tagblatt in Abb. 11.3 blickt zurück.

11.1.5 Übernahmen in Sachsen, in den USA und eine Insolvenz In den Jahren 2006 und 2007 folgten weitere Übernahmen in Sachsen und in den USA. Das Unternehmen Kurprinz aus Großschirma sowie eine Unternehmung aus Buffalo im Staat New York und Johnston City aus Tennessee reihten sich in die Katz-Gruppe ein.

Abb. 11.3   Turbulente Jahre mit gutem Ende. (Quelle: Badisches Tagblatt 26. August 2016b)

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0.2% 0.6% 0.8% 2.3% 0.7%

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5.7% 8.7%

6.2%

48.5%

26.3%

Papierfabrik August Koehler SE Koherl Kehl GmbH Koehler Greiz GmbH & Co. KG Koehler Renewable Energy GmbH B E B Bio Energie Baden GmbH GBE - Gocher Bioenergie GmbH EBE - Elsflether Bioenergie GmbH WBE - Wiesmoorer Bioenergie GmbH KATZ GmbH & Co. KG The KATZ Group Americas, Inc.

Abb. 11.4   Die Koehler Gruppe. (Quelle: Koehler Jahreschronik 2016)

Führte die Finanzkrise zu einem sinkenden Bierkonsum? Das bedarf weiterer Erörterungen, aber im April 2009 musste die Katz-Gruppe Insolvenz anmelden. Nur wenige Monate später, im September 2009, kommt die in Notlage befindliche Bierdeckelproduktion mithilfe der Papierfabrik August Koehler AG als eigenständige Organisation innerhalb der Koehler-Gruppe schnell wieder auf die Beine. Koehler Paper Group Die Papierfabrik August Koehler, die als SE mit Sitz in Oberkirch firmiert und nur eine Autostunde von Weisenbach entfernt liegt, zeigte großes Interesse an dem Unternehmen, das Holzschliffpappe produzierte. Koehler schaut ebenfalls auf eine lange Tradition zurück – zwar nicht bis in das Jahr 1716, aber immerhin bis 1807. In diesem Jahre wurde die Papierfabrik gegründet, die sich mit über 700 Mio. EUR Jahresumsatz einen Namen als Produzent von Spezialpapieren auf dem Weltmarkt gemacht hat. Fünf Geschäftseinheiten versorgen alle fünf Kontinente mit Fein- und Spezialpapieren, Dekorpapieren und Selbstdurchschreibepapieren, die auch als Blaupausen immer noch im Einsatz sind. So kann auf ein Papier geschrieben werden, und darunterliegende Dokumente werden so ebenfalls beschrieben. Mit den Thermopapieren ist Koehler ebenfalls Weltmarktführer. Brancheninsider sagen, dass weltweit 90 % aller Kassenbons, Boardingpässe und Kontoauszüge auf Papier von Koehler gedruckt werden (vgl. Koehler Jahreschronik 2014). Die 1800 Mitarbeiter der Koehler-Gruppe (vgl. Papierfabrik August Koehler SE o. J.) teilen sich wie in der Abb. 11.4 gezeigt insgesamt zehn Gesellschaften auf.

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11.1.6 Investitionen in Millionenhöhe Es geht schnell am Standort Weisenbach. Neben dem neuen Geschäftsführer Daniel Bitton werden im Namen des neuen Inhabers in siebter Generation, Kai Furler, der auch als Vorstandsvorsitzender der Koehler Paper Group und als weiterer Geschäftsführer der Katz Werke agiert, über 30 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt. Investitionen in Millionenhöhe fließen von Oberkirch in das Murgtal, um den Produzten von Holzschliffpappe wieder wirtschaftlich unabhängig zu machen. So kommt es im August 2010 zur Inbetriebnahme einer Wärmerückgewinnungsanlage sowie einer neue Druckmaschine. Der Artikel in Abb. 11.5 zeigt auf, wie das Traditionsunternehmen, die Muttergesellschaft und die Stadt miteinander zusammenarbeiten. Weisenbach, mit nur 2500 Einwohnern ist stolz auf den Bierdeckel. Heute produziert das Unternehmen rund vier Milliarden Bierdeckel und 30.000 t Holzschliffpappe pro Jahr. Aber damit nicht genug. Die neue Geschäftsführung fordert Innovationen und eine Erweiterung der Geschäftstätigkeiten. So produziert das Unternehmen auch Verpackungen für die Industrie, wie z. B. kleine Behälter für Käse neben Windeltorten für die Drogerie-Marke dm.

Abb. 11.5   Traditionsunternehmen auf der Erfolgsspur. (Quelle: Badisches Tagblatt 29. September 2016c)

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Mit QR-Codes, die Barbesucher mithilfe ihres Smartphones auf eine Homepage lenken sollen, speziellen Bierdeckeln für die Europa- und Weltmeisterschaften, auf die Schminkfarbe aufgebracht wurde, oder auch Bierdeckel mit Rubbel-Feldern, Lacken sowie Düften versucht das Unternehmen, sich weiterzuentwickeln. Schnell stellt man sich die Frage, wie lange der Bierdeckel fortbestehen wird. Dieser wird ja von Konzernen, die Marken wie Heineken, Fosters oder Coca-Cola betreiben, kostenlos an deren Abnehmer weitergegeben. Auch die Medien interessieren sich für das Unternehmen. So besuchte ein Nachrichtenteam des Privatsenders RTL die Katz, nachdem der Fernsehsender auf dem Gipfeltreffen der Weltmarktführer im Januar 2015 in Schwäbisch Hall auf die Bierdeckelproduzenten aufmerksam wurden. Im Fokus des Beitrages, der noch im gleichen Monat live aus Köln ausgestrahlt wurde, standen der Bierdeckel und die Möglichkeit, diesen als Werbeträger für Brauereien zu nutzen. Nach der Aussage eines Mitarbeiters bei der Katz aus der Marketingabteilung war an dem Tag mit einer Einschaltquote von 1,3 Mio. Zuschauern und einem Marktanteil von RTL, der bei 17 % lag, die Ausstrahlung des Beitrages innerhalb des Nachrichtenjournals die meistgesehene Sendung in Deutschland. Die ProSiebenSat.1-Mediengruppe ließ für das Wissensmagazin Galileo im Jahr 2014 einen Beitrag von der Produktionsfirma Storyhouse Productions drehen, bei der die gesamte Produktion gezeigt wurde. Galileo läuft seit dem Jahr 1998 täglich auf dem Sender ProSieben mit einer Einschaltquote, die über eine Million Zuschauer pro Tag erreicht. Weiter beteiligt sich die Katz an Veranstaltungen, wie z. B. dem 500-jährigen Jubiläum des deutschen Reinheitsgebotes, dem ältesten noch gültigen Lebensmittelgesetz, in Form von gesponserten Bierdeckeln für eine Veranstaltung im Jahr 2016 im Technomuseum in Mannheim für die Sonderausstellung „Bier, Braukunst und 500 Jahre Reinheitsgebot“. So kommt es im Jahr 2012 zu der Betätigung in einem neuen Geschäftsbereich. Mit dem Katz Display Board, das externe Unternehmen beidseitig kaschieren können, sollen Hängeschilder, Aufsteller und weitere Präsentationsmittel den Weltmarkt erobern. Die Supermarktkette LIDL verwenden diese z. B. in ihren Supermärkten in Großbritannien. Der Re-Launch der Internetseite im Jahr 2014 soll die Besucher direkt zu den vier Geschäftsbereichen führen, in den die Katz engagiert ist: Bierdeckel, Green Lignin – die Unterlage, auch Trittschalldämmung genannt –, Display Boards für den Einzelhandel und individuelle Industrielösungen.

11.1.7 Ökologischer Ansatz Die Holzschliffpappe aus der Produktion der Katz-Werke ist ein umweltfreundliches Produkt. Jeden Tag erreichen bis zu acht Lkws das Unternehmen in Weisenbach. Diese

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liefern Fichtenholz, aus kontrollierter Forstwirtschaft. Holz, das gerodet werden muss, und maximal aus einem Umkreis von 200 km stammt. So stellen nicht nur die Bierdeckel und Glasuntersetzer eine ökologische Alternative zu Produkten anderer Unternehmen dar, sondern vor allem auch das Katz Display Board. Am Point-of-Sale, in Supermärkten oder in den Bekleidungsgeschäften kommen häufig Schilder zum Einsatz, die Chemikalien wie mineralölbasierende Rohstoffe enthalten, z. B. Leichtschaumplatten oder PVC-Schildern.

11.1.8 Der Einstieg in die Fußbodenindustrie Im Jahr 2014 gelingt den Katz-Werken der Einstieg in die Fußbodenindustrie, auch wenn dies gar nicht deren Absicht war. Der Laminatbodenhersteller Alsapan Epi aus Frankreich sowie der Fußbodenhersteller Egger aus Österreich kontaktierten zeitgleich das Werk in Weisenbach, da beide Unternehmen das Material für sehr geeignet hielten, um als Unterlage unter Fußböden zum Einsatz zu kommen. Parkett, Laminat und innovative Fußböden, die sich LVT nennen, was für „Luxury Vinyl Tile“ steht, werden entweder fest mit dem Unterboden verklebt oder schwimmend verlegt, also lose. Sollte der Fußboden schwimmend verlegt werden, bedeutet dies, dass dieser einfach auf den Estrich gelegt wird. Dank Klick-Verbindungen der einzelnen Fußbodenpanäle können die Planken nicht verrutschen. Dringend notwendig ist der Einsatz einer sogenannten Trittschalldämmung, die verschiedene Eigenschaften mit sich bringen muss. Ausgleich von Unebenheiten des Estrichs und eine Verbesserung des sogenannten Tritt- und Gehschalls. Personen, die sich in Stockwerken unterhalb der Räume, in denen Fußboden verlegt wurde, sollen den Auftritt z. B. mit Stöckelschuhen weniger wahrnehmen, aber auch der Schall im Raum wird durch die Unterlagen reduziert. All diese Eigenschaften bringt das Material aus Holzschliff der Katz-Gruppe mit. Zur weltweit renommierten Domotex-Messe, deren Schwerpunkt auf Fußböden liegt und die jährlich in Hannover stattfindet, führte die Katz ihre erste Dämmunterlage mit dem Markennamen „Green Lignin“ ein. Jedes Jahr versucht das Unternehmen, Neuheiten zu zeigen, z. B. beschichtete Oberflächen mit umweltfreundlichen Materialen, die das Wegrutschen von den Fußbodenplanken bei der Verlegung vermeiden sollen. Die sogenannte Anti-Slip-Oberfläche haftet am Oberboden. So wird auch beim Einwirken von Kräften wie z. B. beim Begehen oder durch Druckbelastung Fugenbildung entgegengewirkt.

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11.1.9 Der Blaue Engel Eine Marke musste her. Mit dem Namen „Green Lignin“ sind die Katz-Werke mittlerweile nicht nur auf dem deutschsprachigen Markt aktiv, sondern auch in West-, Nord-, Süd und Osteuropa. Green steht dabei für umweltfreundlich, und Lignin, das ein festes Biopolymer ist, und für die Verholzung von Zellen während des Wachstums bei Bäumen sorgt. Es gibt dem Produkt der Katz-Werke als Festigungselement die besonderen Eigenschaften des Unterlagenmaterials für die Fußbodenindustrie. Mit dem Slogan „Holz + Stärke = Stille“ überrascht die ökologische Geh- und Trittschalldämmung der Katz. Sie bedient, als ein Anbieter von vielen, einen Nischenmarkt in der Baubranche. Dank der umweltfreundlichen Produktion und der natürlichen Rohstoffe trägt das neue Produkt sogar den Blauen Engel. Der Blaue Engel, auch bekannt als Blauer Umweltengel, ist eine Auszeichnung, die für besonders umweltschonende Produkte und Dienstleistungen in Deutschland seit 1978 vergeben wird. Das Produkt wird sowohl von Fußbodenanbietern als Zubehör vertrieben als auch von Produzenten direkt mit dem Fußboden innerhalb des Produktionsprozesses verbaut. Im Jahr 2017 konnte einer der führenden Produzenten für Fußboden gewonnen werden: Das Unternehmen Tarkett aus Schweden hat sich ebenfalls entschieden, das Produkt der Katz-Werke direkt auf deren Fußbodenplanken zu kaschieren. Im Jahr 2018 arbeitete das Unternehmen an einer neuen Produktidee, um das Material auch für Wände zu verwenden. Konkret bringt der Holzschliff generell sehr gute Eigenschaften mit, um als Dämmmaterial eingesetzt werden zu können.

11.2 Fallstudienfragen 1. Wie sehen Sie die Entwicklung der Katz Gruppe und deren Betätigung in neuen Geschäftsbereichen? 2. Wie, denken Sie, wird sich der Bierdeckelmarkt entwickeln? 3. Die Produktion der Verpackungen für Lebensmittel wurde weitgehend eingestellt, da die Produktion nicht gewinnbringend war. Welche Maßnahmen halten Sie hier für angebracht? 4. Der Markt der sogenannten Display Boards ist hart umkämpft. Was würden Sie empfehlen, wie sich die Katz Gruppe präsentieren sollte? 5. Welche weiteren Geschäftsfelder eignen sich für neue Produkte, für die die Holzschliffpappe der Katz-Gruppe zum Einsatz kommen könnte?

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11.3 Lösungshinweise Zu Frage 1 Die Entwicklung ist durch die lange Tradition und die schwierigen Jahre mit der Insolvenz und dem Turnaround als positiv zu bewerten. Die Betätigung in den neuen Geschäftsbereichen ist unbedingt notwendig, um sich als Unternehmung breiter aufzustellen, denn es ist nicht klar, ob Bierdeckel weiterhin als Werbeträger und Untersetzer Verwendung finden. In Anlehnung an die Ansoff-Matrix gibt es vier mögliche Schritte: 1. Mit den aktuellen Produkten bestehende Märkte weiter erschließen. 2. Mit dem aktuellen Produktportfolio neue Märkte erreichen. 3. Mit neuen Produkten die aktuellen Märkte penetrieren. 4. Mit neuen Produkten neue Märkte erschließen. Gerade die Baubranche ist sehr interessant. Nicht nur in Deutschland wird renoviert, saniert und neu gebaut. Zu Frage 2 Unklar ist, ob der Bierdeckel weiterhin Anklang finden wird. Die Kunden der Katz, wie große Brauereien oder Konzerne, nutzen Bierdeckel als reine Werbeträger und verschenken diese. Das heißt, damit wird kein Umsatz generiert. Bierdeckel kommen in vielen Restaurants und Bars nicht mehr zum Einsatz. Ein Substitutionsprodukt – vergleiche Porters Five Forces – sind Servietten, die unter einem Cocktail platziert werden. Ebenfalls unklar ist, ob die Katz die Vormachtstellung halten kann. Wie entwickelt sich die Konkurrenz aus den USA, aus Asien oder auch aus Osteuropa? Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob der Markt generell groß genug ist. Zu Frage 3 Wichtig ist es hier, Skaleneffekte vorzufinden. Sprich: Wie lassen sich hier Produkte entwickeln, die anfangs zwar zum Teil hohe Werkzeugkosten mit sich bringen, die dann aber – einmal produziert – in einem Markt mit Potenzial in großen Mengen verkauft werden können? Produktinnovationen sind hier auch wichtig. Was muss eine Verpackung liefern und wie hebt sie sich nicht nur preislich vom Wettbewerb ab? Die Abnahmemengen, und damit verbunden die Größe der Kunden, spielen hier eine Rolle.

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Zu Frage 4 Die Katz-Gruppe sollte als strategischer Partner für die Lebensmittelbranche auftreten und der Zulieferer für die großen Lebensmittelketten werden. Sie sollte in direkte Geschäftsverbindungen treten und nach günstigeren Alternativen für die Produktion suchen, um auch preislich interessant zu sein. Zu Frage 5 Gerade die Bauzuliefererindustrie und der Werkstoff Holz sind interessante Komponenten. Allerdings wirkt der verarbeitete Holzschliff häufig minderwertig und wird als einfache Pappe wahrgenommen. Ebenfalls kommt einem die Spielzeugbranche in den Sinn: Rohstoff für Puzzle oder Brettspiele, wobei das Material geeignet sein muss. Da die aktuellen Produkte, die mit der Maschine produziert werden, speziell sind, ist es generell sinnvoll, über Diversifikation nachzudenken. Das heißt: Welche neuen Produkte lassen sich entwickeln, die unter Umständen mit den traditionellen Produkten nichts mehr zu tun haben? Das beinhaltet die beiden Ansätze von Ansoff: mit neuen Produkten aktuelle Märkte erschließen oder mit neuen Produkten neue Märkte erreichen.

Literatur Badisches Tagblatt. (2016a). Der Murgtäler, 1903 entsteht im Murgtal der erste Bierdeckel, Nr. 196. Zugegriffen: 24. Aug. 2016. Badisches Tagblatt. (2016b). Der Murgtäler, Turbulente Jahre mit gutem Ende, Nr. 198. Zugegriffen: 26. Aug. 2016. Badisches Tagblatt. (2016c). Der Murgtäler, Traditionsunternehmen in der Erfolgsspur, Nr. 27. Zugegriffen: 29. Sept. 2016. Badisches Tagblatt. (2016d). Der Murgtäler, Was mit der Flößerei begann, Nr. 194. Zugegriffen: 22. Aug. 2016. Koehler Jahreschronik. (2014). Koehler Gruppe. Koehler Jahreschronik. (2016). Koehler Gruppe. Papierfabrik August Koehler SE. (o. J.). Unternehmen. https://www.koehlerpaper.com/de/unternehmen/mitarbeiter.php. Zugegriffen: 3. Sept. 2018.

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G. Bouché und C. J. Kansy Dr. Georg Bouché  ist Unternehmensberater in seiner Beratungsgesellschaft Bouché & Jakob sowie Dozent an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in Stuttgart und Mannheim. Seine Tätigkeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Internationalisierung, Marketing, strategischer Vertrieb und Business Development. Seine Auftraggeber sind etablierte Unternehmen aus Europa und Asien, aber auch junge Start-ups, die er mit viel Enthusiasmus unterstützt. Georg Bouché arbeitet auch als Honorardozent an Hochschulen in Deutschland, Luxemburg und in Spanien. Zudem ist er Gesellschafter eines Snowboardunternehmens, im Vorstand einer sozialen Hilfsorganisation, die sich in Afrika engagiert, und Honorarkonsul der Republik Gambia in Baden-Württemberg und Bayern. Er begann seine akademische Ausbildung an der Europa Universität Viadrina in Deutschland sowie an der Universidad de Almeria in Spanien. Außerdem hat er einen MBA von der University of Birmingham aus Großbritannien und von der FUNDESEM Business School aus Spanien. Er promovierte an der Liverpool John Moores University in Großbritannien im Bereich internationales Marketing an der Faculty of Business and Law. Vor der Gründung seiner Beratungsgesellschaft war Georg Bouché in Spanien für ein Private-Equity-Unternehmen als Management Consultant tätig und hat unter anderem für die Gesellschaft eine Niederlassung in China aufgebaut. Davor hat er für eine Stuttgarter Werbemedien Agentur ein Büro in München etabliert. Christoph J. Kansy  ist seit über 30 Jahren in der Fußboden-Branche mit Dämmstoffen und in der Fußbodentechnik tätig. Nachdem er seine eigene Unternehmung, mit der er Unterlagsbahnen in Osteuropa produzierte, verkaufte, schloss er sich der Carl Prinz GmbH als Key Account Manager an und war auch als Projektleiter für diverse Unternehmen tätig, die Trittschalldämmung vertreiben und produzieren. Seit 2013 ist er für die KATZ Group tätig, die zur August Koehler Papierfabrik SE aus Oberkirch gehört, und dort für das Business Unit Sound Reduction Board mit der Marke Green Lignin verantwortlich.

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Liza Wohlfart, Flavius Sturm und Frank Wagner

Inhaltsverzeichnis 12.1 Darf’s ein bisschen weniger sein?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.1 Klasse statt Masse für den kleinen Geldbeutel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1.2 Weitergehende Nutzung der Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Frugale Innovationen bieten eine gute Qualität zu niedrigen Preisen. Ein bekanntes Beispiel sind die günstigen Angebote von Fluglinien wie Eurowings und Ryanair. Im produzierenden Bereich überzeugen schlanke, robuste Produkte wie der kleine Mähdrescher Crop Tiger des Unternehmens Claas, der speziell für den asiatischen Markt entwickelt wurde. Gemeinsam ist all diesen Innovationen, dass sie keine Abstriche in Bezug auf die hohe Wertigkeit der Lösung machen, um Kosten zu sparen. Stattdessen setzen sie auf eine bewusste Beschränkung von Funktionsumfang und Leistungsniveau.

L. Wohlfart () · F. Wagner  Fraunhofer IAO, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] F. Wagner E-Mail: [email protected] F. Sturm  Fraunhofer INT, Euskirchen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_12

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Dies gelingt, indem die Lösung radikal auf eine bestimmte Kundengruppe ausgerichtet wird. Overengineering und Technikverliebtheit weichen damit einem klaren Blick auf das, was die Kunden wirklich brauchen und wertschätzen. Wie die Entwicklung frugaler Innovationen gelingt, zeigt der Beitrag am fiktiven Beispiel des Mittelständlers SoulMöbel, der individualisierte Büromöbel für Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz herstellt. Der Premiumanbieter möchte zukünftig auch potenzielle Kunden bedienen, die Interesse am Portfolio von SoulMöbel haben, sich dieses zurzeit aber nicht leisten können oder wollen. Mithilfe einer Kombination verschiedener Innovationsmethoden gelingt es dem Unternehmen, eine erste frugale Lösung zu entwickeln, die am Markt überzeugen kann. Das Fallbeispiel wurde auf Basis verschiedener Projekte des Fraunhofer IAO mit Unternehmen im In- und Ausland entwickelt. Die vorgestellte Methodik hat sich insbesondere auch in der Arbeit mit kleinen und mittleren Unternehmen bewährt. Insgesamt steigt die Bedeutung frugaler Innovationen und zwar nicht nur aufgrund der wachsenden Mittelschicht in Schwellenländern. Auch in westlichen Märkten setzen viele Kunden vermehrt auf bewusste Beschränkung und Vereinfachung. Diese Entwicklung wird durch aktuelle gesellschaftliche Trends wie den Neo-Minimalismus weiter angetrieben.

12.1 Darf’s ein bisschen weniger sein? „Frugal Innovation – hat das etwas mit Pilzen zu tun?“ Zugegeben, der Begriff „frugal“ erklärt sich nicht von selbst. Schuld daran ist, wie so oft, die Forschung im englischsprachigen Raum mit ihrem guten Gespür für neue Trends. Am Fraunhofer IAO wird das Phänomen Frugal Innovation bereits seit rund zehn Jahren untersucht. Damals beobachteten die Wissenschaftler mit Blick auf die Forschung und Praxis, dass es eine wachsende Nachfrage nach und clevere Lösungen für Kunden gibt, die gute Qualität zu niedrigen Preisen möchten. Nur, wie nennt man das Kind? Ein Begriff hatte sich damals noch nicht etabliert, verschiedene Varianten wie Low-Cost-, Best-Cost-, Best-Value- und eben auch frugale Innovation waren im Umlauf. Schließlich setzte sich das durch, was für englische Muttersprachler am naheliegendsten ist: der Begriff frugal (zu deutsch: günstig). Bekannte Beispiele frugaler Innovationen liefern Dienstleister wie die Fluglinien Eurowings und Ryanair, aber auch frugale Sachgüter sind auf Erfolgskurs, wenn sie auch häufig nicht für den hiesigen Markt gedacht sind. Landwirte in Indien mit kleinen Feldern brauchen ganz andere Maschinen als ihre US-amerikanischen Kollegen, die riesige Flächen bewirtschaften, wie der Landmaschinenhersteller Claas erkannt hat. Sein Mähdrescher Crop Tiger wurde speziell für den asiatischen Markt entwickelt. Dem guten Namen von Claas werden alle Produkte des Unternehmens gerecht, trotz ihrer Unterschiede. Auch Daimler hat die hohe Attraktivität des indischen Markts entdeckt und bietet den dortigen Kunden unter der Marke BharatBenz neben Lkws auch Schul-, Belegschafts- und Touristenbusse an.

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Das Beispiel der Budget Fluglinien zeigt, dass frugale Innovationen nicht nur Potenzial in Schwellenländern haben. Auch in Industrienationen gibt es eine deutliche Nachfrage nach günstigen, einfachen Lösungen, die durch aktuelle Trends wie die Do-it-yourself-Bewegung, die Share Economy und den postmodernen Minimalismus weiter angetrieben wird (vgl. Zukunftsinstitut 2017, 2018). Wie Sie frugale Innovationen, ob für Schwellenländer oder Ihren heimischen Markt, Schritt für Schritt entwickeln können, zeigt Ihnen die folgende beispielhafte Fallstudie. Sie wurde auf Basis verschiedener Projekte des Fraunhofer IAO mit Unternehmen im In- und Ausland entwickelt.

12.1.1 Klasse statt Masse für den kleinen Geldbeutel Der Mittelständler SoulMöbel stellt hochwertige, individualisierte Büromöbel für Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz her. SoulMöbel hat zahlreiche Design-Preise gewonnen und ein Renommee als Premiumanbieter aufgebaut. Seit mehreren Jahren zeigen auch potenzielle Kunden Interesse, die sich für die hochwertigen Produkte von SoulMöbel begeistern, sich diese aber nicht leisten können und auch nicht auf Standardprodukte klassischer Billiganbieter zurückgreifen möchten. Statt einer Masse an Funktionalitäten, die den Preis steigern, ist Klasse gefragt im Sinne eines stimmigen Produkts, das genau das liefert, was der Kunde benötigt. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.  Frugal kommt vom lateinischen „frugalis“ (wirtschaftlich, sparsam). Im Englischen hat sich frugal in der Alltagssprache etabliert. Wenn man es schafft, eine schöne und zugleich günstige Reise zu organisieren, ist einem der „nice frugal holiday“ gelungen. In der Wissenschaft stehen bei frugalen Innovationen nicht ausschließlich Kosten- bzw. Preisaspekte im Vordergrund, sondern eben auch Qualität, Fokussierung und Reduktion, wie oben beschrieben. Wie könnte eine solche Lösung aussehen? Und welche Auswirkungen hätte das Angebot auf das Geschäftsmodell von SoulMöbel? Die Schritte hin zu einem Angebot für das frugale Einstiegssegment sind im Folgenden dargestellt. Die Methodik wurde am Fraunhofer IAO entwickelt und in dieser oder ähnlicher Weise in verschiedenen Projekten erfolgreich eingesetzt. Schritt 1: Bestimmung der Leistungsmerkmale Zunächst wählt das Team ein Produkt und eine Zielgruppe aus, für die ein frugales Konzept entwickelt werden soll: Bürotische für kleine, designaffine Unternehmen.

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Beispiel

Herr Müller ist perplex. „Ich habe Ihnen hier einmal verschiedene Angebote Zusammengestellt. Alle Hotels verfügen über einen Pool, eine Sauna und einen Fitnessraum. Vollpension ist inklusive, vom umfangreichen Frühstücksbuffet bis hin zum Gala-Dinner“, verkündet der Mitarbeiter des Reisebüros stolz. „Ganz günstig ist das natürlich nicht, dafür bekommen Sie aber das volle Programm. Es gibt sogar eine Kinderbetreuung für Ihre Kleinen.“ Herr Müller runzelt die Stirn. „Das ist mir viel zu viel. Ich möchte den ganzen Tag wandern und brauche abends einfach nur ein gutes Bett und eine heiße Dusche. Geht es nicht ein bisschen einfacher?“ Schlichte, preisgünstige Hotels sind keine Seltenheit mehr. Vielmehr rollen Angebote für den kleinen Geldbeutel wie Motel One und Ibis Budget zurzeit ordentlich den Markt auf. Das Verständnis, dass viele Kunden eine günstige Lösung ohne viel Schnickschnack, aber mit guter Qualität möchten, ist im Tourismusbereich längst angekommen. Aber wie sieht es in anderen Industrien aus? Selbst bei Vorreitern wie der Hotel- und der Flugbranche stellt sich die Frage, ob manche Services wirklich nötig sind. Handtücher werden nur noch bei Bedarf gewechselt, aber das Bad jeden Tag geputzt. Wer macht das schon bei sich zu Hause? Und auch bei kurzen Flügen bietet die Flugbegleitung einen Snack an, obwohl man im Regionalzug gut ohne diesen Service auskommt. Ein kurzes Brainstorming zeigt die großen Potenziale und den Charme von frugaler Innovation und macht schnell klar, dass ein Zuviel oft nicht nur unnötig, sondern auch nervig sein kann. Der Strategy Canvas von Kim und Mauborgne beginnt mit einer Analyse der vorhandenen Lösungen sowohl des eigenen Unternehmens wie auch der Konkurrenz. Zunächst werden die wichtigsten kaufentscheidenden Faktoren (Leistungsmerkmale) der Lösung auf der horizontalen Achse aufgeführt. Danach wird auf der vertikalen Achse das Leistungsniveau notiert, das die Merkmale der Lösungen erreichen. Im Anschluss wird die Wertkurve für die neue Lösung erstellt, indem das Leistungsniveau der Merkmale angehoben, gesenkt oder entfernt wird. Auch ein Hinzufügen neuer, gegebenenfalls bislang unbeachteter Merkmale ist möglich, um sich zu differenzieren. Kern des Ansatzes der beiden Autoren ist die Überlegung, dass sich durch eine Neuausrichtung auf Basis von Wertkurven neue, bislang nicht erschlossene Märkte bedienen lassen, in denen es bislang keinen Wettbewerb gibt (vgl. Kim und Mauborgne 2015, S. 27–48).

Durch die Arbeit mit dem Strategy Canvas hat SoulMöbel mehr Klarheit im Hinblick auf die Lösung, die seine frugalen Kunden überzeugen wird (siehe Abb. 12.1). Insbesondere die Faktoren Qualität und Originalität werden für die Kunden entscheidend sein. Ergonomie und Individualisierbarkeit des Bürotisches werden als weniger wichtig eingeschätzt. Nun geht es darum, die Leistungsmerkmale in konkrete technische Anforderungen zu übersetzen.  Tipp  Bei frugalen Innovationen ist es wichtig, den Fokus auf eine bestimmte, eng gefasste Kundengruppe zu legen. Wenn Sie eine Lösung auf wenige Grundfunktionen reduzieren möchten, können Sie nicht jedem Kunden gerecht werden. Stellen Sie daher am Anfang sicher, dass Sie ausreichend Klarheit über Ihre frugale Kundengruppe haben.

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Leistungsniveau

hoch

Vorhandenes Angebot Individualisierbarkeit

Originalität

Qualität

Ergonomie

Kundenrelevante Faktoren Erschwinglichkeit

niedrig

Angebot des Wettbewerbs Frugales Angebot

Abb. 12.1   Beispielhafte Wertkurve des frugalen Bürotisches

Schritt 2: Analyse der technischen Anforderungen Die Übersetzung der Leistungsmerkmale in technische Anforderungen erfolgt über ein vereinfachtes House of Quality. Zunächst wird die Bedeutung der kundenrelevanten Leistungsmerkmale untereinander verglichen. Danach bewertet das Team die Bedeutung der verschiedenen Anforderungen anhand der Merkmale. Bei Anforderungen mit einer hohen relativen Bedeutung ist gute Leistung wichtig; weniger wichtige Anforderungen kommen mit geringerer Leistung aus.  Definition  Frugale Innovationen beschreiben neue Lösungen, die schlicht, günstig und zugleich qualitativ hochwertig sind. Neben dieser Gemeinsamkeit gibt es durchaus Unterschiede, was die Ausrichtung frugaler Innovationen betrifft. Im Folgenden sind drei typische Varianten dargestellt. 1) Grassroots Frugal beschreibt die Entwicklung frugaler Lösungen durch kleine Erfinder mit beschränkten Ressourcen. Unternehmer der Grassroots-Frugal-Ausrichtung werden auch der Do-it-yourself-Bewegung bzw. dem Maker Movement zugeordnet. Auch der indische Jugaad-Ansatz fällt in diese Kategorie. Ein bekanntes Beispiel einer Grassroots-Frugal-Innovation ist der Ton-Kühlschrank MittiCool, der ganz ohne Strom auskommt und von einem Inder erfunden wurde. In diesem Beitrag stehen 2) Corporate Frugal Innovations im Vordergrund, d. h. frugale Innovationen, die von etablierten Unternehmen auf den Markt gebracht werden. Auch hier gibt es einen bekannten Kühlschrank, den chotuKool, der vom indischen Unternehmen Godrej entwickelt wurde. Der Chotokool ist leicht, kompakt und individualisierbar. Eine optimale Lösung für Familien mit wenig Platz. Aber auch junge Leute, die Grillen gehen, begeistern sich für das Gerät, wie sich später zeigte. Bei 3) Inclusive Innovation stehen soziale Anliegen im Vordergrund. Ziel ist es, Menschen einen Zugang zu hochwertigen Produkten zu geben, die sich diese bislang nicht leisten konnten.

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Durch das House of Quality hat SoulMöbel einen guten Überblick über die Relevanz der einzelnen technischen Anforderungen und damit eine erste Vorstellung von dem Auftrag an die Produktentwicklung. Was die Umsetzung angeht, gibt es jedoch verschiedene Optionen. Welche besonders geeignet für die frugale Lösung von SoulMöbel sind, wird im nächsten Schritt festgelegt. Tab. 12.1 zeigt ein beispielhaftes, vereinfachtes House of Quality. Die Leistungsmerkmale Qualität und Originalität wurden auf Basis der Wertkurvenübung besonders hoch bewertet. Neben diesen Faktoren wurden auch die Erschwinglichkeit, die Ergonomie und die Individualisierbarkeit der Lösung betrachtet. In der Matrix ist eine Verknüpfung zu drei technischen Anforderungen dargestellt: dem Material sowie der Farb- und der Formgebung. Aus dem Produkt von Relevanz des Leistungsmerkmals und Korrelation mit der jeweiligen Funktionalität ergibt sich die Relevanz der Anforderung (z. B. an das eingesetzte Material). Im Beispiel zeigt sich u. a., dass das Material der Tischplatte besonders relevant ist, wenn es um die Erschwinglichkeit, die Qualität und die Originalität geht, und dass es insgesamt die höchste Relevanz hat. Der Faktor Originalität hat den stärksten Einfluss auf die technischen Anforderungen. Beim House of Quality werden Leistungsmerkmale („Was wollen die Kunden?“) technischen Funktionalitäten („Wie kann das umgesetzt werden?“) gegenübergestellt. Die Leistungsmerkmale werden dafür zunächst nach ihrer relativen Bedeutung gewichtet (Gesamtsumme: 1,0). Dann erfolgt eine Bewertung der Korrelation der einzelnen Merkmale mit den Anforderungen, z. B. auf einer Skala von 0 (keine Korrelation) bis 6 (hohe Korrelation). Dadurch lässt sich ableiten, welche Funktionalitäten besonders wichtig für die Zufriedenheit der Kunden sind (vgl. Hauser und Clausing 1988).

Schritt 3: Ableitung der Funktionalitäten Die weitere Bestimmung der technischen Funktionalitäten erfolgt durch einen morphologischen Kasten. Für jede Funktionalität werden verschiedene Optionen generiert. Abhängig von der Bedeutung der Funktionalität werden dann geeignete Optionen ausgewählt und es wird ein stimmiges Gesamtkonzept zusammengestellt. Tab. 12.1  Beispielhaftes, vereinfachtes House of Quality für SoulMöbel Funktionalitäten Leistungsmerkmale

Material Farbgebung Formgebung Rele- Korrelation Relevanz Korrelation Relevanz Korrela- Relevanz tion vanz

Erschwinglichkeit

0,2

6

1,2

1

0,2

3

0,6

Ergonomie

0,1

1

0,1

0

0

6

0,6

Qualität

0,3

6

1,8

0

0

3

0,9

Originalität

0,3

6

1,8

6

1,8

6

1,8

Individualisierbarkeit

0,1

3

0,3

6

0,6

3

0,3

Summe

1,0

5,2

2,6

4,2

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Tab. 12.2 zeigt, wie eine solche Lösung durch die Kombination verschiedener Optionen konzipiert werden kann. Beim Material wird ein hochwertiges, aber gebrauchtes Holz gewählt. Hintergrund ist die Idee, dass hierfür Teile alter Tische genutzt werden können, die Kunden des High-End-Segments beim Kauf neuer Möbel anrechnen lassen. Kosten werden zudem über die eingeschränkte Farbgebung gesenkt: Die Tische werden lediglich farblos lasiert erhältlich sein. Ein besonderes Highlight der frugalen Produktlinie wird die originelle organische Formgebung der Tische sein, die auf Ecken und Kanten verzichtet. Der morphologische Kasten ist eine Kreativitätstechnik, die von dem Schweizer F. Zwicky entwickelt wurde. Sie zerlegt ein Problem zunächst in seine elementaren Bestandteile und sucht für jedes Element dann geeignete Lösungsmöglichkeiten. Anschließend werden die Einzellösungen zur Gesamtlösung kombiniert (Vgl. Schawel und Billing 2018, S. 219–221).

Nun, da die Lösung steht, geht es darum, das vorhandene Geschäftsmodell im Hinblick auf die frugale Innovation zu überprüfen. Die Arbeit am Geschäftsmodell ist ein wesentlicher Teil der Entwicklung frugaler Innovationen, schließlich geht es um eine neue Kundengruppe mit ganz anderen Anforderungen. Demzufolge müssen beispielsweise oft neue Partner oder auch Vertriebswege gesucht werden. Zudem bietet das Geschäftsmodell Möglichkeiten zur Einsparung von Kosten. Man denke hier nur an Ikea, dessen Kunden die Möbel selbst aus dem Lager holen. Auch die zusätzlichen Services wie Kinderbetreuung und kostenlose Baby-Nahrung, die Ikea Familien bietet, sind Teil des Geschäftsmodells.  Nach Weyrauch und Herstatt (2016) sind insbesondere drei Merkmale charakteristisch für frugale Innovationen: eine substanzielle Kostenreduktion, die Konzentration auf Kernfunktionalitäten und ein optimiertes Leistungsniveau. Wohlfart et al. (2016) ergänzen die Faktoren „Fokussierung auf eine bestimmte, preissensitive Kundengruppe“ und eben „innovatives Geschäftsmodell“. Der folgende Abschnitt beschreibt, wie die Arbeit am Geschäftsmodell bei SoulMöbel gestaltet wurde.

Tab. 12.2  Beispielhafter morphologischer Kasten für den frugalen Bürotisch Material Tischplatte

Teure Lösung

Günstige Lösung

Ungewöhnliche Lösung

Hochwertiges Holz

Spanplatte, Billigholz

Gebrauchtes Holz

Farbgebung

6 Varianten

Eine Farbe, farblos

Kundenindividuell

Formgebung

Klassische Varianten

Eine Variante

Originelle Varianten









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Schritt 4: Konzeption des Geschäftsmodells Für die Arbeit am Geschäftsmodell wird eine Weiterentwicklung des Business Model Canvas von Osterwalder genutzt, die Methode „Story Trees“. Neben den neun Gestaltungsfeldern des Business Model Canvas werden hier im Sinne einer SWOT-Analyse auch förderliche und hinderliche Faktoren betrachtet. Dadurch gelingt es dem Unternehmen, eine in sich stimmige Gesamtlösung für ihre frugalen Kunden zu entwerfen. Der Business Model Canvas von Alexander Osterwalder (vgl. Strategyzer 2018) ist eine Methode, mit der die zentralen Gestaltungselemente eines Geschäftsmodells beschrieben werden können. Osterwalder stellt dabei neun Elemente in den Vordergrund: Kundensegmente, Wertversprechen, Vertriebskanäle, Kundenbeziehungen, Einnahmequellen, Ressourcen, Aktivitäten, Partner und Kostenstruktur.

Der Storytree des Unternehmens SoulMöbel zeigt, dass neben einer verstärkten Bewerbung des Ankaufs gebrauchter Tische auch die Entwicklung einer neuen Werbekampagne wichtig ist, mit der die neuen Kunden erreicht werden können. Und auch die Vertriebswege müssen gegebenenfalls überdacht werden. Hierfür ist es nötig, weiteres Wissen über die zukünftigen Kunden einzuholen, z. B. im Hinblick darauf, wie sie ihre Möbel erwerben und wie lange sie bereit sind, darauf zu warten. Als Pluspunkte kann SoulMöbel seinen guten Namen und sein gutes Designteam einbringen.  Tipp  Frugale Innovationen überzeugen nicht nur durch ihren günstigen Preis und ihre Einfachheit. Erfolgreiche frugale Entwickler achten explizit auch auf die Elemente, die ihre frugalen Kunden positiv überraschen, begeistern – und bieten bei diesen Punkten mehr an, als die Kunden erwarten. Man denke nur an die vielen Highlights, die Ikea jungen Familien bietet, oder die hervorragende Matratze, die Sie bei dem Besuch eines Ibis Budget Hotels erwartet. Im Gegenzug dazu gibt es bekannte Beispiele gescheiterter frugaler Innovationen, denen eben dieser Punkt zum Verhängnis wurde. Die Entwickler hatten zu wenig Augenmerk darauf, was ihren Kunden wichtig ist und worauf sie gerne verzichten. Denken Sie daher bei der Entwicklung frugaler Innovationen an den Faktor Begeisterung: Wie können Sie bei Ihren frugalen Kunden einen positiven Wow-Effekt erzeugen?

12.1.2 Weitergehende Nutzung der Vorgehensweise Die vorgeschlagene Vorgehensweise hat sich für die Entwicklung frugaler Lösungen sehr bewährt. Darüber hinaus kann sie auch für den Entwurf von hochwertigen Innovationen eingesetzt werden. So entschloss sich ein Kunde des Fraunhofer IAO beispielsweise, im Projekt zeitgleich eine frugale und eine neue hochwertige Lösung zu entwerfen.

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12.2 Fallstudienfragen 1. Frugale Innovationen gibt es in unterschiedlichen Varianten. Neben Corporate, Grassroots und Inclusive Innovations führt die Literatur oft auch sogenannte Reverse Innovations auf. Was zeichnet diese Innovationen aus? Führen Sie eine kurze Recherche durch. 2. Frugale Innovationen legen den Fokus auf eine bestimmte, eng gefasste Kundengruppe. Überlegen Sie am Beispiel frugaler Fluglinien, wer ihre wichtigsten Kundengruppen sein könnten und welche Kunden nicht im Vordergrund stehen. 3. Beim Blick auf das Geschäftsmodell einer frugalen Lösung ist es wichtig, einen guten Überblick über Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken im Hinblick auf frugale Märkte zu haben. Nutzen Sie eine SWOT-Analyse, um diese Aspekte beispielhaft für einen Anbieter hochwertiger Motorroller zu analysieren, der das Einstiegssegment durch eine frugale Sparte erschließen möchte. 4. Frugale Innovationen punkten trotz ihrer bewussten Beschränkung auch durch Begeisterungsmerkmale. Als Anbieter hochwertiger Haushaltsgeräte haben Sie eine frugale Waschmaschine speziell für Studenten entwickelt, die nur die wichtigsten Programme anbietet und nur eine kleine Trommel hat. Überlegen Sie sich in einem kurzen Brainstorming drei bis vier Zusatzfunktionalitäten, die bei Ihrer Zielgruppe Begeisterung auslösen könnten. 5. Trotz der Fokussierung auf bestimmte Kunden überzeugen frugale Innovationen später oft auch andere Zielgruppen, die zunächst nicht angedacht waren. Welche Zielgruppe könnte über die Studenten hinaus Interesse an Ihrer frugalen Waschmaschine haben? 6. Die Methode Strategy Canvas hilft Ihnen, Ansatzpunkte zur Senkung von Kosten zu finden, indem kundenrelevante Faktoren in Ihrer Leistung reduziert oder ganz weggelassen werden. Welcher weitere Ansatz könnte zu einer Kostenreduktion beitragen und welche Methode könnte hierfür genutzt werden? 7. Würden Sie frugale Innovationen als disruptive Innovationen bezeichnen? Was sagt die Wissenschaft? 8. Analysieren Sie das Geschäftsmodell von Uber. Wie unterscheidet sich der Dienstleister von klassischen Taxis? Gibt es eine noch günstigere Low-Cost-Variante mit weniger Qualität, wie bei anderen frugalen Innovationen? Welche besonderen Highlights bietet Uber, die zur Begeisterung der Kunden beitragen? Nutzen Sie gegebenenfalls eine Wertkurve, um die Unterschiede herauszuarbeiten. 9. Frugale Hotels sind derzeit stark im Trend, wie man am Erfolg von Motel One und Ibis Budget sieht. Suchen Sie in einer kurzen Recherche nach zwei weiteren Hotelketten, die man als frugale Innovation einordnen kann.

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12.3 Lösungshinweise Die folgenden Lösungshinweise sind nur einige der möglichen Antworten auf die Fallstudienfragen. Darüber hinaus ist die beschriebene Fallstudie auch auf weitere Aspekte hin analysierbar. Zu Frage 1 Reverse Innovations werden zunächst für einen Schwellenmarkt entwickelt und dann später auch auf dem heimischen Markt angeboten (vgl. Govindarajan und Trimble 2012). Zu Frage 2 Frugale Fluglinien bieten einen günstigen Flug ohne viel Komfort. Leistungen wie Beinfreiheit, Verpflegung oder Gepäck können bei Bedarf zusätzlich zum Basispreis gebucht werden. Wichtige Kunden der Low-Cost-Fluglinien sind beispielsweise Geschäftskunden, die zu einem kurzen Termin reisen, oder auch Wochenendausflügler. An Kunden, die eine lange Urlaubsreise an ferne Orte antreten, richten sich diese Fluglinien nicht vorrangig. Zu Frage 3 Wichtige Stärken des Unternehmens könnten sein gutes Renommee und sein vorhandenes Vertriebsnetz sein. Eine mögliche Schwäche ist wahrscheinlich fehlendes Wissen über die besonderen Bedürfnisse der frugalen Kundschaft. Chancen bieten sich gegebenenfalls durch die zunehmend schwierige Verkehrssituation in den Innenstädten, die zukünftig mehr Pendler dazu bewegen könnte, vom Auto auf andere Verkehrsmittel umzusteigen. Ein Motorroller könnte für Kunden mit schlechter Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr eine gute Alternative für sonnige Tage sein, wenn er als Zweitfahrzeug nicht zu teuer ist. Ein Risiko stellen sicher die günstigen Motorroller aus dem asiatischen Raum dar, die sich auf den westlichen Märkten ausbreiten. Was die Konkurrenz betrifft, kann das Unternehmen gegebenenfalls punkten, wenn seine frugale Lösung für die Kunden ganz klare Vorteile bietet, beispielsweise was das Design und die Robustheit betrifft. Sein hochwertiges Image könnte es einfacher machen, diese Vorteile darzustellen. Zu Frage 4 Studenten könnten sich über ein individualisierbares Signal freuen, das anzeigt, wenn die Maschine fertig ist, oder auch eine App, die in diesem Fall eine kurze Nachricht schickt. Dem Gerät könnte eine plakative Anleitung im Piktogramm-Stil beiliegen, die erläutert, wann welches Programm zu wählen ist und worauf generell geachtet werden sollte. Sinnvoll wäre gegebenenfalls auch eine App, mit der sich die Maschine von unterwegs aus starten lässt, damit die Wäsche auch gewaschen werden kann, wenn die Tage zwischen Vorlesungen, Übungen und Bibliotheksbesuchen schwer planbar sind.

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Zu Frage 5 Berufstätige mit Zweitwohnsitz wären gegebenenfalls ebenso interessiert an Ihrer frugalen Waschmaschine oder auch alleinstehende Rentner. Zu Frage 6 Ein weiteres wichtiges Prinzip zur Kostenreduktion ist das Ersetzen von Komponenten durch vorhandene, kostengünstige Alternativen. Hierfür könnten Analogien zur Natur (Bionics) oder anderen Industrien (Cross-Industry Innovation) verwendet werden. Zu Frage 7 Rao (2013) argumentiert, dass frugale Innovationen die Definition disruptiver Innovationen nach Christensen treffen und damit als disruptiv bezeichnet werden können. Christensen et al. (2015) bestätigen Raos Einschätzung. Ihrer Definition nach könnte man frugale Innovationen sowohl als Low-End-Disruption einordnen, die den Markt quasi von unten aufräumt und Produkte für mehr Kunden erschwinglich macht, als auch als New-Market-Disruption, die ganz neue Märkte schafft. Zu Frage 8 Uber beschäftigt Privatpersonen, die mit ihrem eigenen Fahrzeug unterwegs sind. Eine noch günstigere Variante in manchen Städten wie London sind Motorradtaxis, die weniger Qualität z. B. im Hinblick auf Witterungsschutz bieten. Ein besonderes Highlight von Uber ist das einfache Zahlen über Kreditkarte vorab. Darüber hinaus können Kunden mitverfolgen, wann genau der Uber-Fahrer bei ihnen ist. Zu Frage 9 Ikea und Marriott haben 2014 die Hotelkette Moxy gestartet, die sich an junge, designorientierte Kunden richtet. Die Hans Brinker Hotels in Amsterdam und Lissabon werben mit viel Humor für ihren frugalen Charme und sind ihrem Image entsprechend bewusst einfach gestaltet.

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Liza Wohlfart (M.A.)  ist Senior Consultant und Projektleiterin sowie Leiterin des Zentrums für frugale Produkte und Produktionssysteme am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Schwerpunkt ihrer Expertise sind die Themen Innovations- und Technologiemanagement, insbesondere strategische Vorausschau, frugale Innovationen und der Faktor Mensch in der Forschung und Entwicklung. In ihren Forschungs- und Beratungsprojekten hat Liza Wohlfart weltweit Unternehmen bei ihren Entwicklungsvorhaben begleitet, u. a. in Brasilien, Russland, Malaysia, Australien, der Türkei und verschiedenen europäischen Staaten, und dabei ebenso mit großen Konzernen zusammengearbeitet wie mit kleinen Mittelständlern. Liza Wohlfart ist Trainerin im Zertifikatslehrgang PLM Professional. Darüber hinaus hält sie regelmäßig Vorträge und Vorlesungen, veranstaltet Seminare und ist Autorin zahlreicher Fachpublikationen. Zurzeit baut sie am Fraunhofer IAO ein Labor für frugale Innovationen auf. Adj. Prof. (QUT) Dr.-Ing. Frank Wagner (Ing.)  leitet den Bereich Strategische FuE Kooperationen am Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart und ist Mitglied im Lenkungskreis des Instituts. Er ist Adjunct Professor an der Queensland University of Technology QUT in Brisbane, Australien, und Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart im Studiengang Technologiemanagement. Zusätzlich ist er als Unternehmensbeirat tätig und unterstützt die Europäische Kommission als beratender Experte. Er hat langjährige Erfahrungen aus Forschungs- und Beratungsprojekten im Bereich der Automobil- und Konsumgüterindustrie sowie im Maschinen- und Anlagenbau in Europa, Amerika, Asien und Australien. Seine Hauptarbeitsgebiete sind F&E-, Technologie- und Innovationsmanagement, strategische Unternehmensentwicklung, sowie Advanced Manufacturing und Industrie 4.0.

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Flavius Sturm (Dipl.-Ök.)  ist Senior Researcher und Projektleiter am Fraunhofer Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen (INT) im Bereich Corporate Technology Foresight. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Weiterentwicklung und Anwendung von Methoden und Verfahren zur strategischen Vorausschau im Kontext von Innovations- und Technologiemanagement. In diesem Zusammenhang hat er zahlreiche Projekte in verschiedenen Branchen im In- und Ausland geleitet.

Neugeschäftgenerierung mithilfe der Cross-Industry-Innovation-Methode (Inside-Out)

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Zeynep Yaman und Thomas Abele

Inhaltsverzeichnis 13.1 Technotomobilia GmbH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Diese Fallstudie zeigt anhand der Automotive-Branche, wie Neugeschäftgenerierung mithilfe der Cross-Industry-Innovation-Methode funktioniert und wie mithilfe eines systematischen Ansatzes auf Basis bestehender Kompetenzen neue Felder identifiziert und Umsätze generiert werden können. Eingesetzt werden unter anderem die AnsoffMatrix und Methoden zur Abstraktion, ähnlich TRIZ.

Z. Yaman ()  TIM Consulting, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Abele  FOM HS für Oekonomie & Management, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_13

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Abb. 13.1   Fiktive Ausschnitte aus Wikipedia

13.1 Technotomobilia GmbH Als Ingenieur habe ich in verschiedenen Staaten Amerikas gearbeitet und Reisen unternommen, und habe gemerkt, dass ich in meiner Heimat Schlüsselkomponenten des Verbrennungsmotors herstellen könnte und tun müsste. Aus diesem Zweck ging ich nach Deutschland zurück und gründete die Fabrik Technotomobilia Firmengründer Bastian Brava.

Mit technischem Pioniergeist, voller Ideen und überzeugt vom Erfolg gründete Bastian Brava 1910 die Technotomobilia GmbH1. Die Firma wuchs über 50 Jahre hinweg stetig (siehe Abb. 13.1). Dies machte sich in den Absatzzahlen sowohl bei der Teileproduktion für die Automobilindustrie als auch bei Spezialmaschinen bemerkbar.

1Bei

der Technotomobilia GmbH handelt es sich um ein fiktives Unternehmen.

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In den 1960er Jahren boomte der Automobilmarkt so stark, dass der Fokus zeitweise nur noch auf der Teileproduktion lag. Heute sind wieder beide Bereiche stark vertreten. Die beiden Standbeine der Technotomobilia sind also primär die Teilefertigung und der Maschinenbau, wobei beide Bereiche stark den Automobilmarkt bedienen. Schon immer standen die überdurchschnittliche Qualität und das präzise Handwerk im Mittelpunkt, was das Unternehmen in seiner Branche bekannt gemacht hat. Seit zwölf Jahren wird das Unternehmen nun von den Brüdern Horst und Holger Müller und deren erfahrenem Team erfolgreich weitergeführt. Der Maschinenpark wurde um mehrere Neubauten und Produktionshallen erweitert. 2010 feierte die Technotomobilia GmbH ihr 100-jähriges Jubiläum. Die Teilefertigung beinhaltet neben den klassischen Teilen für die Automobilindustrie auch Teile für Sonderanwendungen wie Generatoren, Lokomotiven und Schiffe (siehe Abb. 13.2). Auch gibt es kleinere Bereiche der Prototypenfertigung sowie Rennsportteile. Die Rohteile stammen aus firmeneigenen Gesenk- und Presseschmieden. Da die Technotomobilia alle Wertschöpfungsschritte beherrscht, werden sämtliche Arbeitsschritte auch ausschließlich am Firmenstandort in Stuttgart durchgeführt. Auch hier werde durch „Simultaneous Engineering“ bereits vor Beginn der Fertigung Prozesse optimiert und angepasst. Die Kompetenzen der Technotomobilia im Bereich Teilefertigung sind: • • • • • • • • •

„Simultaneous Engineering“ Lastenheft und Konzeption Verfahrensentwicklung und Werkstoffoptimierung Prototypenbau und Bauteileprüfungen Zeichnung und Design Fertigung und Schmieden Wärmebehandlung und Werkstoffprüfung Oberflächenbehandlung und Härten Montage und Versand

Abb. 13.2   Geschäftsbereiche der Technotomobilia

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Im Bereich Maschinenbau deckt die Technotomobilia GmbH die gesamte Wertschöpfungskette vom Lastenheft über die vor- und nachgelagerten Prozessschritte bis hin zum weltweiten technischen Support ab. Alle Teilprozesse von der Fertigung über die Montage bis hin zur Abnahme durch den Kunden finden bei der Technotomobilia vor Ort statt. Durch „Simultaneous Engineering“ werden Leistung, Kosten und Design einer Härteanlage vor Beginn der Fertigung optimiert. Die Kompetenzen in diesem Bereich lassen sich wie folgt verdichten: • „Simultaneous Engineering“ • Lastenheft und Konzeption • Konstruktion und Entwicklung • Produktion und mechanische Fertigung • Montage und Inbetriebnahme • Prozessentwicklung und Qualitätsprüfung • Auslieferung und Montage • 24h-Service Die Geschäftsführer Horst und Holger Müller der Technotomobilia äußerten sich vor einigen Wochen mit folgenden Worten gegenüber den eigenen Mitarbeitenden und Lieferanten: Beispiel

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Leserinnen und Leser, die Gesamtentwicklung unseres Unternehmens mit neuen Produktionshallen und -kapazitäten lässt einen Aufschwung erhoffen. Die wesentliche Ursache hierfür ist die zunehmende Nachfrage des Marktes nach Automobilteilen, einem unserer stärksten Geschäftsbereiche. Doch ist diese Nachricht nur bedingt positiv. Viele unserer Kunden aus dem Automobilbereich lagern zukünftig verbrennungsmotorrelevante Teile aus und beauftragen daher uns mit der Produktion. Um dieser Nachfrage gerecht zu werden, haben wir ausreichende Investitionen getätigt. Die Gründe, warum die Automobilisten die Teile nicht mehr selbst produzieren, sind der schwindende Fokus und der Wechsel der Kernkompetenzen der Automobilisten vom Verbrennungsmotor hin zur Elektromobilität. Dadurch rechnet unsere Branche zwar mit einer in den nächsten fünf Jahren weiteren Verbesserung unserer Auftragslage. Doch auf lange Sicht muss sich die Technotomobilia jedoch ebenfalls auf einen Wandel einrichten. Es ist unabdingbar, dass wir uns strategisch, strukturell und kostenseitig auf künftige Geschäftsentwicklungen neu einstellen. Es ist daher wichtiger denn je, auf Marktentwicklungen richtig und rechtzeitig reagieren zu können. Nur dann können wir

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weiterhin erfolgreich bleiben. Daher planen wir, in nächster Zeit zukunftsweisende wettbewerbssichernde Investitionen zu tätigen. Hochachtungsvoll Horst und Holger Müller. Ein Presseausschnitt zeigt zudem den Trend weg vom Verbrennungsmotor hin zur Elektromobilität (Abb. 13.3).

Abb. 13.3   Pressemitteilung. (Quelle: Sorge und Eckl-Dorna 2016)

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Eine weitere Pressemitteilung eines A-Lieferanten der Technotomobilia GmbH lautete 2017 zudem: Trotz ihres hochmodernen Maschinen- und Anlagenparks hat die ABC GmbH seit einiger Zeit mit wirtschaftlichen Problemen innerhalb ihres Industriezweiges zu kämpfen. Gründe hierfür sind nicht nur die Energiewende mit dem Ausstieg aus der Atomenergie, sondern auch die schrittweise Reduzierung fossiler Brennstoffe stellt die gesamte Industrie vor große Herausforderungen. Ebenso verunsichern Verschärfungen des Emissionsrechtehandels und der EEG-Umlage sowie Billigimporte aus Schwellenländern die Zukunft dieser Industrien und die daran hängenden Arbeitsplätze. (Fiktiver Auszug aus Stuttgarter Aktuelle 16.12.2017).

Als auch die Nachricht von Holger und Horst Müller an seine Mitarbeitenden und Lieferanten sind ein Indiz dafür, dass die Entwicklungen am Markt Handlungen seitens der Geschäftsführung bedürfen. Wie im Schreiben an die Belegschaft angekündigt, ist es der Anspruch der Technotomobilia GmbH, mit möglichst minimalem Aufwand neue Geschäftsfelder und -möglichkeiten zu identifizieren, die – falls möglich – unabhängig vom verbrennungsmotorgetriebenen Automobilmarkt sind. Gewünscht wäre es, gezielt Produkte zu identifizieren, die mit den aktuellen Kompetenzen und den internen Fertigungsmöglichkeiten wirtschaftlich und qualitativ produzierbar sind, um so aus einer Hand neue Produkte zu bieten und dadurch neue Absatzmärkte zu erschließen. Als strategische Stoßrichtung haben die Brüder Müller hierfür unterschiedliche Wachstumsstrategien betrachtet (siehe Abb. 13.4).

Abb. 13.4   Unterschiedliche Wachstumsstrategien. (Quelle: in Anlehnung an Scheuss 2008, S. 111)

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Abb. 13.5   Produkt-Markt-Matrix nach Ansoff. (Quelle: in Anlehnung an Wikipedia o. J.a)

Abb. 13.6   Phasen der Cross-Industry-Innovation. (Quelle: Ili 2010, S. 301)

Die Produkt-Markt-Matrix (auch Ansoff-Matrix, nach ihrem Erfinder Harry Igor Ansoff, oder Z-Matrix) ist ein Werkzeug für das strategische Management von Unternehmen und diente der Unternehmensführung als Hilfsmittel zur Planung des Wachstums. Hierbei gibt es vier mögliche Produkt-Markt-Kombinationen (siehe Abb. 13.5). Nach kurzer Zeit stand fest, dass die Geschäftsführer eine noch recht unerforschte Innovationsmethode namens Cross-Industry-Innovation wählen wollten. Eine Methode, die große Ähnlichkeit mit dem TRIZ-Modell hat und in der Literatur noch wenig belegt war. Zwar gab es keine bewährten Vorgehensmodelle, wie Cross-Industry-Innovation angewandt wird, jedoch war dies kein Grund für die Technotomobilia GmbH, sich an diesem neuartigen Ansatz nicht zu versuchen. In der Ansoff-Matrix befand man sich nämlich in dem Feld der Marktentwicklung. Das war aus der Perspektive der Risikobetrachtung die bessere Wahl als Diversifikation oder Produktentwicklung. Somit wurde der Grundstein gelegt, mit Bestehendem Neues zu schaffen und Märkte zu erschließen. Das Prinzip dieser Cross-Industry-Innovationsmethode stützt sich auf drei Phasenabschnitte: Abstraktion, Analogie und Adaption (siehe Abb. 13.6).

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Abb. 13.7   Verwendung verschiedener Methoden zur Abstraktion. (Quelle: in Anlehnung an Gassmann und Sutter 2011, S. 221)

Wie der Begriff schon vermuten lässt, ist die Cross-Industry-Innovation Teil der Open Innovation. Die zwei Bewegungsrichtungen Inside-Out (IO) und Outside-In (OI) sind so auch analog für Cross-Industry-Innovation anwendbar. Je nach Abstraktionsobjekt ergibt sich entweder die Inside-Out- bzw. die Outside-In-Betrachtung oder beides (siehe Abb. 13.7). Vorerst wurden die technischen Kompetenzen des Unternehmens bzw. der einzelnen Geschäftsbereiche so abstrahiert, dass sie allgemein und funktional definiert werden konnten. Beispielsweise ist die Kompetenz bzw. der USP eines Lackherstellers nicht die Lackherstellung selbst, sondern sie kann durchaus unterschiedliche Ausprägungen haben. Es könnte somit sein, dass der Lackhersteller einen unverwechselbaren Maschinenpark hat oder einige bestimmte Eigenschaften der Lacke gewährleistet oder gar patentiert hat oder die technische Kompetenz in Bezug auf das Material gegebenenfalls auch hier ein Patent besitzt. So könnte beispielsweise das Material schnelltrocknend, luftdicht, wasserabweisend, rostschützend, schalldämpfend oder Ähnliches sein. Damit hat man ganz einfach auch schon die Phase der Abstraktion durchlaufen. Mit der Definition von Schlüsselbegriffen ist ein wichtiger Grundstein für die zweite Phase gelegt. Die Abstraktion bei der Technotomobilia GmbH führte zu dem Ergebnis, dass man zahlreiche Eigenschaften und Dimensionen definieren konnte, die in dem Maschinenpark hergestellt werden konnten. Demnach wurde ein sogenanntes Produktprofil X erstellt.

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Nach diesem Abstraktionsschritt konnte nun die in dieser Phase wichtige Recherche und Suche nach Analogien in anderen Industrien beginnen, mit dem Ziel, bewusstes Wachstum in Feldern herbeizuführen, die man bisher nicht bedient hatte, oder in Branchen, in denen man bisher keine Expertise besaß. Ein kleiner Auszug der durch die Abstraktion identifizierten und anschließend in der Analogiephase bzw. in der Suche verwendeten Begriffe ist: „groß“, „symmetrisch“, „Festigkeit“, „temperaturbeständig“ etc. Hierbei werden alle Grenzen überschritten, d. h., weder Branchen- noch Marktgrenzen stellen bei der Suche ein Hindernis dar. Durch die Analogiebildung ist es nämlich möglich, abstrahierte Informationen bzw. die Schlüsselbegriffe in die Suchdatenbanken einzuspeisen und damit zu sehen, wo es Anknüpfungspunkte geben könnte. Dort liegt dann auch der schwierigste Teil und Schlüssel des Erfolges: Die Kompetenz, während der Suche im gesamten Universum der Datenbanken nach neuen Anknüpfungspunkten relativ schnell zu filtern, ob ein Adaptionspotenzial gegeben ist oder nicht. Wie in jedem Trichter wird über die Prozesszeit der Raum enger und es etablieren sich am Ende nur einige wenige Ideen, die dann weiteren Filterungen unterzogen werden. Beispielsweise wurde so herausgefunden, dass die Produktion von Teilen im Bereich Offshore, in Landmaschinen und Baumaschinen durchaus interessant sein könnten. Denn die Technotomobilia GmbH konnte Produkte aus einer Hand, mit exzellenter Qualität und bei gewissen Stückzahlen auch mit extremer Wirtschaftlichkeit versprechen. So manche Investition in die Forschung und die Entwicklung neuer Produkte wäre durchaus teurer und zeitaufwendiger gewesen.

13.2 Fallstudienfragen 1. Welche Gründe haben die Technotomobilia GmbH dazu bewegt, zu wachsen? 2. Die Produkt-Markt-Matrix nach Ansoff bietet zwei Richtungen, um mit neuen Produkten zu wachsen: Produktentwicklung und Diversifikation. Warum, denken Sie, hat sich die Technotomobilia dennoch für die Option Marktentwicklung entschieden? 3. Versuchen Sie, den zusammengesetzten Begriff bzw. die einzelnen Wörter „Cross“, „Industry“ und „Innovation“ einzeln zu definieren, und suchen Sie anschließend im Internet/in der Literatur nach einer passenden Definition für den Begriff der „Cross-Industry-Innovation“. 4. Beschreiben Sie Vor- und Nachteile der Cross-Industry-Innovation-Methode. 5. Was bedeutet Outside-In und Inside Out in einfachen Worten? Nennen Sie je ein Produktbeispiel für eine Outside-In, und eine Inside-Out-Innovation.

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Abb. 13.8   Schema der Gore-Tex© Outdoor-Bekleidung. (Quelle: Wikipedia o. J.b)

6. Was bedeutet TRIZ? Und welche Gemeinsamkeit hat TRIZ mit der hier beschriebenen Methode, der Cross-Industry-Innovation? 7. Wählen Sie fünf bis sechs Schlüsselbegriffe für die Technotomobilia GmbH auf Basis der genannten Kompetenzen der beiden Geschäftsbereiche, mit denen potenzielle Produkte gesucht werden können. 8. Versuchen Sie, am Beispiel einer Funktionsjacke von Gore-Tex© die Phasen der Cross-Industry-Innovation-Methode zu durchlaufen, sodass es am Ende zu einer Idee für eine andere Anwendung kommt (siehe Abb. 13.8). 9. Im Text ist vom Universum der Datenbanken die Rede. Welche Datenbanken fallen Ihnen ein, die bei der Suche genutzt werden könnten? 10. Was ist aus Ihrer Sicht die zukünftige Rolle von Big Data bzw. künstlicher Intelligenz für Cross-Industry-Innovation?

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13.3 Lösungshinweise Sämtliche Lösungen sind Vorschläge und keine absoluten Antworten. Andere Perspektiven mögen ebenso praxistauglich sein. Die Fallstudie ist zudem auch auf andere Aspekte hin analysierbar. Sie lässt sich sowohl in unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen Teildisziplinen nutzen als auch in mehreren thematischen Ebenen und in variierenden Schwierigkeitsgraden abfragen. Zu Frage 1 Generell gibt es eine Vielzahl von Gründen, warum ein Unternehmen wachsen will oder muss. Übergeordnet ist vor allem der nachhaltige Erfolg. Dem untergeordnet findet man Branchenindikatoren und unternehmensspezifische Indikatoren. Letztere sind beispielsweise Produktinnovationen oder neue Absatzwege (vgl. Reiter 2011, S. 19). Die hier beschriebenen Gründe, die diskutiert werden können, sind hauptsächlich brancheninduziert. Beschrieben werden die Abhängigkeit der Technotomobilia GmbH vom Automobilmarkt und damit verbundene Herausforderungen der Automobilindustrie. Im Einzelnen sind das die Entwicklungen der Elektromobilität und damit Verdrängung der Technologie des klassischen Verbrennungsmotors. Aber auch die Energiewende, neue Emissionsregulationen und Wettbewerb aus Billiglohnländern stellten Gefahren für die Wettbewerbsfähigkeit und dadurch für das wirtschaftliche Wachstum der Technotomobilia GmbH dar. Zu Frage 2 Hier sollte bedacht werden, dass sowohl Produktentwicklung als auch Diversifikation Kapazität sowie finanzielle Mittel erfordern und daher schwieriger in der Umsetzung sind. Denn neue Produkte, ganz gleich, ob sie in bestehenden oder in neuen Märkten verkauft werden sollen, bergen immer ein gewisses Risiko. Zu Frage 3 Eine worttrennende Einzeldefinition des Begriffs Cross-Industry-Innovation soll das Verständnis für die Begriffszusammensetzung wecken. • Hierbei ist die Interpretation des Wortes „Cross“ entscheidend. Je nachdem, wie dieses interpretiert wird, kann „über die Unternehmensgrenzen“ hinaus bereits „Cross“ bedeuten, aber auch der Wechsel in ganz andere Branchen ist eine Interpretation des Wortes, die eine höhere Reichweite aufweist. • Generell sollte man sich die Reichweite wie eine Zwiebelschale vorstellen. Das Unternehmen steht im Zentrum. Je weiter nach außen die Zwiebelschalen bzw. Ebenen betrachtet werden, desto größer ist der Bereich, in dem Innovationspotenziale gesucht werden. • Es werden dabei Grenzen überquert.

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Zu Frage 4 Hinweis: Die Vor- und Nachteile der Cross-Industry-Innovation-Methode sind im Vergleich zur klassischen FuE herauszuarbeiten. Die Merkmale der klassischen FuE sind eine meist hohe Dauer, damit verbunden hohe Kosten und Kapazitäten, die hierfür benötigt werden. Zudem ist die klassische FuE in den meisten Unternehmen prozessual starr organisiert und sehr branchenspezifisch, was meist den für Innovationen nötigen Weitblick verschließt. Bei Entwicklern sind bestimmte Problemstellungen bekannt, was auch den Blick über den Tellerrand versperren kann. Umgangssprachlich ist das mit dem Spruch zu vergleichen: „Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr“. Die Schaffung von Neuem basierend auf Technologie und Kundennutzen ist ebenfalls ein Ansatz, der vernachlässigt werden sollte. Einige Vorteile der Cross-Industry-Innovation-Methode sind somit folgende (vgl. Abele 2016, S. 130 f.): • Eine größere Innovationsreichweite und der dadurch erlangte Wettbewerbsvorsprung führen zu einer stärkeren Differenzierung des Leistungsangebotes. Damit sind die Potenziale der Wachstumsraten und Margen hoch. Beides ist dabei wiederum weiterer Antrieb für die eigene Innovationskraft. • Die Öffnung und die branchenunabhängige Betrachtung der Kompetenzen stärken die Innovationskraft, führen zu radikalen Innovationen und steigern die Innovationsgeschwindigkeit durch eine Verkürzung der Innovationszyklen. • Da keine vollständige Neuentwicklung stattfindet, sondern nur die eigene Kompetenz an das gefundene Problemfeld adaptiert wird, verkürzt sich die Entwicklungszeit. Die kürzere Entwicklungszeit führt hierbei zu einer Kostensenkung, welche ebenfalls die Margen erhöhen kann. Generell herrscht somit ein geringeres Risiko im Vergleich zu FuE-Vorhaben. • Durch das Auffinden neuer Anwendungsfelder, die mit bestehenden Kompetenzen bedient werden können, werden neue Geschäftsfelder und -möglichkeiten erschlossen. • Branchenfremdes Know-how kann generell ohne Wettbewerbskonflikte genutzt werden. Zudem schafft der Fokus auf Analogien eine neue Sichtweise auf das eigene Leistungsangebot. • Das Darbieten einer Lösung für ein branchenfremdes Problem sichert Know-how und gegebenenfalls auch Lizenzrechte. Branchenfremde Nutzung des eigenen Know-hows verhilft zu verringerten Projektrisiken, da die Funktionsfähigkeit schon in der eigenen Branche bewiesen wurde und sich bewährt hat. Nachteile könnten das Abschweifen in irrelevante Märkte sein und das höhere Risiko, dass die Marktanforderungen nicht getroffen werden. Außerdem könnte auch hier der Fall auftreten, dass die Suche zu keinem wirtschaftlichen Erfolg führt.

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Zu Frage 5 Hier sollten die zwei unterschiedlichen Aufgabenstellungen unterschieden werden (vgl. Dürmüller 2012, S. 24): • Outside-In-Ansatz (OI): Der Outside-In-Ansatz nutzt Inspirationen aus anderen Branchen, um das eigene Leistungsangebot innerhalb der heutigen Produkt-Markt-Strategie weiterzuentwickeln. • Inside-Out-Ansatz (IO): Inside-Out bedeutet, strategische Diversifikationschancen in Form neuer Produkt-Markt-Felder in anderen Industrien zu erschließen. Dies geschieht auf Basis eigener vorhandener Lösungen, Wissen, Fähigkeiten und Kernkompetenzen. Beispiele für Cross-Industry-Innovation: Ein Beispiel für Outside-In ist die Neuentwicklung des Nähfußes von Nähmaschinen der Firma Bernina. Das Problem, das Bernina hatte, waren ungleichmäßige Stichlängen, die durch die Mechanik und die Stoffeigenschaften bedingt waren. Man hatte also Lösungen gesucht, um die Abstände der Stichlängen kontrollierter zu steuern, und wurde in der Optik fündig. Durch einen optischen Computer-Maus-Standardsensor im neuen Bernina-Nähfuß wird die Nadel so gesteuert, dass die Stichlängen konstant sind (vgl. Hard Tecs 4U o. J.). Ein Beispiel für Inside-Out ist die Gore-Tex©-Funktionsjacke. Der Stoff Polytetrafluorethylen (PTFE) besitzt eine einzigartige Membraneigenschaft, was als Lösung weitere Problemfelder bedienen konnte. Das heißt, man kann sich fragen, wo dessen Eigenschaften noch Anwendung finden können. Aktuell wird die Technologie in zwölf Industrien eingesetzt und erfolgreich vermarktet, die von Membranen für medizinische Implantate bis hin zu Anwendungen als Isolationsmaterial für elektrische Kabel reichen (vgl. Gore o. J.). Zu Frage 6 Hier kann die Definition des Begriffes TRIZ Hinweise für die Antwort liefern. TRIZ ist das russische Akronym für „тeopия peшeния изoбpeтaтeльcкиx зaдaч“ (Teoria reschenija isobretatjelskich sadatsch), was sinngemäß übersetzt bedeutet: „Theorie des erfinderischen Problemlösens“ oder „Theorie zur Lösung erfinderischer Probleme“ bzw. im Englischen „Theory of Inventive Problem Solving (TIPS)“ (vgl. Wikipedia o. J.c). Wie bei TRIZ, wo das Problemlösen durch Herunterbrechen auf Eigenschaften funktioniert, wird auch bei der Cross-Industry-Innovation-Methode die Kompetenz betrachtet. Durch Herunterbrechen der Kompetenzen in allgemeingültige Eigenschaften kann eine Basis geschaffen werden, mit der in entfernten „Zwiebelschalen“ Innovationspotenziale gesucht werden können.

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Zu Frage 7 In Abschn. 13.1 wurden Kompetenzen wie Schmieden, Wärmebehandlung, Oberflächenbehandlung, Härten, mechanische Fertigung und Montage genannt. Auf Basis dessen könnten mögliche Schlüsselbegriffe folgende sein: • stabil • widerstandsfähig • temperaturbeständig • montierbar • robust • belastbar • präzise Zu Frage 8 Wie in Abschn. 13.1 beschrieben, durchläuft die Cross-Industry-Innovation-Methode drei Phasen. Diese können folgendermaßen am Beispiel Goretex© angewandt werden (vgl. Abele 2016, S. 113 ff.): 1. Die Adaption hat die Aufgabe, technische Funktionen und den Kontext des Problems und Kundennutzens zu analysieren und abstrakte Schlüsselbegriffe zu definieren. 2. Die Analogie sucht Schlüsselbegriffe in anderem Kontext oder anderen Industrien. Außerdem sucht sie oberflächliche und strukturelle Ähnlichkeiten des Problems, der Lösung oder der Industrie. 3. Die Adaption analysiert die Zielquelle und baut Verständnis auf relevantem Wissen auf, um bewerten und filtern, übertragen und anpassen zu können. Cross-Industry-Innovation-Phasenbeschreibung am Beispiel von Gore-Tex©: Die klassischen Funktionsjacken von Gore-Tex© besitzen die Eigenschaft, dass sie auf einer Seite Luft und Feuchtigkeit durchlassen, von der anderen Seite aber undurchlässig sind gegenüber äußeren Einflüssen wie z. B. Regen und Wind. • Die Adaption nach der Analyse der technischen Funktionen und dem Kontext des Problems könnte Schlüsselbegriffe hervorbringen wie: wasserabweisend, luftdicht, luftdurchlässig, atmungsaktiv, dicht, Membran, Luftbarriere, Wasserbarriere, wasserabsorbierend, Absorption u. v. m. • Die Analogie, also die Suche der Schlüsselbegriffe in anderem Kontext oder in strukturell ähnlichen Ähnlichkeitsgebilden könnte somit sein, diese Begriffe bewusst mit Branchen wie Luft- und Raumfahrttechnik oder Automobil- bzw. Medizintechnik zu „crossen“. • Die Adaption, also die Analyse könnte hervorbringen, dass beispielsweise die Automobilindustrie in Fahrzeugbeleuchtungen ein mögliches Feld wäre. Fahr-

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zeugbeleuchtungen sind dicht verbaut, haben aber dennoch das Problem des Feuchtigkeitsstaus, müssen von außen aber 100 % dicht sein. Oder Industriefilter, die bestimmte chemische Stoffe filtern, aber bestimmte Dinge nicht filtern sollten. Oder dass gar einige Medizinpflaster eben genannte Eigenschaften aufweisen sollten, damit Wunden bestmöglich verheilen können. Zu Frage 9 Für die Suche können generell alle Informationsquellen genutzt werden. Die Informationsquellen variieren aber nach gesuchtem Schlüsselbegriff. Einige Beispiele sind neben Google auch Patentdatenbanken, bibliografische Datenbanken, Fachzeitschriften und Veröffentlichungen, Fachliteratur, Bücher und Publikationen, soziale Plattformen wie Xing oder LinkedIn, Bildsuchmaschinen wie Pinterest, aber auch gezielte Gespräche mit Fachexperten etc. Zu Frage 10 Da bereits das Internet mit seinen Eigenschaften der Vernetzung und Suchcharakteristik einen erheblichen positiven Einfluss auf die Cross-Industry-Innovation hatte, werden auch in Zukunft durch die Entwicklungen von Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) die verborgen liegenden Abstraktionen leichter und automatisierter auffindbar. Heute geschieht der Großteil der Arbeit in den drei Cross-Industry-Innovation-Phasen noch weitestgehend manuell.

Literatur Abele, T. (Hrsg.). (2016). Die frühe Phase des Innovationsprozesses: Neue, praxiserprobte Methoden und Ansätze. Wiesbaden: Springer Gabler. Dürmüller, C. (2012). Der Blick über den Tellerrand. io new management Zeitschrift für Unternehmenswissenschaften und Führungspraxis, 2012(Mai/Juni), 24–27. Gore. (o. J.). Homepage. www.gore.de. Zugegriffen: 27. Jan. 2018. Gassmann, O., & Sutter, P. (2011). Praxiswissen Innovationserfolg: Von der Idee zum Markterfolg. München: Hanser. Hard Tecs 4U. (o. J.). Roundup: 13 Tatstaturen und Tastaturkombis. https://www.ht4u.net/ old/2004/tastatur_roundup/index2.php. Zugegriffen: 27. Jan. 2018. Ili, S. (2010). Open innovation umsetzen: Prozesse, Methoden, Systeme, Kultur. Düsseldorf: Symposion. Reiter, M. (2011). Bewertung von Unternehmenswachstum. Eine theoretische und empirische Untersuchung. Hamburg: Diplomica. Scheuss, R. (2008). Handbuch der Strategien: 220 Konzepte der weltbesten Vordenker. New York: Campus. Sorge, N.-V., & Eckl-Dorna, W. (2016). Deutschland ohne Diesel und Benzin – kann das funktionieren? Manager Magazin. http://www.manager-magazin.de/unternehmen/autoindustrie/elektroautos-wie-wuerde-ein-verbrenner-verbot-funktionieren-a-1116158.html. Zugegriffen: 15. Mai 2018.

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Wikipedia (o. J.a). Produkt-Markt-Matrix. https://de.wikipedia.org/wiki/Gore-Tex & http://de.wikipedia.org/wiki/Produkt-Markt-Matrix. Zugegriffen: 27. Jan. 2018. Wikipedia. (o. J.b). Gore-Tex. https://de.wikipedia.org/wiki/Gore-Tex. Zugegriffen: 27. Jan. 2018. Wikipedia. (o. J.c). TRIZ. https://de.wikipedia.org/wiki/TRIZ. Zugegriffen: 27. Jan. 2018.

Zeynep Yaman (M. Eng.) ist seit 2015 als Technologie- und Innovationsmanagement Consultant bei der TIM Consulting tätig. Nach dem Abschluss ihres Studiums der internationalen technischen Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Esslingen und dem anschließenden Master in Industrial Management an der Hochschule in Aalen promoviert sie aktuell an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management zum Thema Cross-Industry Innovation. Ihre Praxiserfahrung und ihr Schwerpunkt bei ihren Beratungsprojekten rund um Technologie- und Innovationsmanagement, u. a. Prozessmanagement, sind hauptsächlich im Automobilbereich und im Maschinen- und Anlagenbau. Prof. Dr. Thomas Abele  ist seit 2011 Professor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Stuttgart. Die von ihm 2009 gegründete Beratung TIM CONSULTING ist spezialisiert auf Projekte, Schulungen sowie Audits im Bereich des Technologie- und Innovationsmanagements. Er war nach seinem Studium des Wirtschaftsingenieurwesens an der Universität Karlsruhe (TH) sowie der University of Massachusetts in Boston als Projektleiter am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart tätig. Seine Promotion schloss er 2006 an der Universität Stuttgart zum Thema „Verfahren für das Technologie-Roadmapping zur Unterstützung des strategischen Technologiemanagements“ ab. 2005 wechselte Thomas Abele in die Unternehmensentwicklung der Alfred Kärcher GmbH & Co. KG und war dort zuletzt als stellvertretender, operativ leitender Bereichsleiter Corporate Development u. a. für die Strategieentwicklung verantwortlich. Von September 2009 bis Februar 2011 war er als Professor für Technologie- und Innovationsmanagement an der German University in Kairo, Ägypten, tätig.

Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

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Michael Schaffner

Inhaltsverzeichnis 14.1 Nutzung von Ansätzen aus Systemtheorie und Wissensmanagement. . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.1 Ausgangssituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.2 Organisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.3 Problem und Zielsetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.4 Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.1.5 Rollen im Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Während Produktinnovationen häufig systematisch durchgeführt werden, verlaufen Prozessinnovationen (Optimierung von organisatorischen Abläufen) nicht selten unstrukturiert und werden nur inkonsequent als „Stückwerk“ neben dem Tagesgeschäft praktiziert. Neben der Zeit fehlt es häufig an instrumentellem Wissen. Auch wird der Aufwand einer organisationalen Innovation oft als zu hoch und der Nutzen als zu gering eingeschätzt. In dieser Fallstudie wird eine Prozessinnovation diskutiert, die im Zuge der Digitalisierung von Produktionsprozessen (Stichwort: Industrie 4.0) einen hohen Aktualitätsgrad besitzt. Zur Anwendung kommen ganzheitliche Überlegung aus der Systemtheorie, der Verhaltensökonomie, der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung und des Wissensmanagements. M. Schaffner ()  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_14

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M. Schaffner

14.1 Nutzung von Ansätzen aus Systemtheorie und Wissensmanagement 14.1.1 Ausgangssituation Das fiktive Unternehmen MüBa GmbH1 aus Niedersachsen (ca. 3500 Mitarbeitende, ca. 650 Mio. EUR Umsatz pro Jahr) gehört zu den Hidden Champions2 des deutschen Maschinenbaus in der Textilindustrie3. Der Textilmaschinenbau, aus dem einst die erste industrielle Revolution hervorging, ist schon seit den historischen Ursprüngen eine innovative, hochtechnisierte und industrialisierte Branche. Hergestellt werden Einzelmaschinen (in Groß- und Kleinserien oder als Sondermaschinen) und verkettete Systemlösungen (vgl. Abb. 14.1). Das Unternehmen MüBa GmbH erfuhr mit der Wiedervereinigung und Öffnung des osteuropäischen Wirtschaftsraums in den 1990er-Jahren einen – in der Firmengeschichte beispiellosen – Aufschwung. Umsatz, Mitarbeiterzahl und Auslandsvertretungen haben sich in den letzten knapp 30 Jahren nahezu verdreifacht. Nicht nur die gute Wirtschaftsentwicklung, sondern auch die zentrale Lage, die Logistikanbindung und die Nähe zu Hochschulstandorten zur Akquirierung von Fachkräften haben den Wachstumspfad begünstigt. Das heutige Produkt- und Service-Spektrum ist auf kundenindividuelle Systemlösungen in der Textilmaschinenindustrie ausgerichtet. Das Leistungsversprechen der MüBa GmbH setzt auf Kundennähe und Innovation (vgl. Firmen-Website in Abb. 14.2). Im Textilmaschinenbau liegt Deutschland – nur noch knapp vor China – auf Rang 1 der exportstärksten Länder (vgl. VDMA 2018, S. 5). Das Angebot von intelligenten Mehrwert-Services wird im Maschinen- und Anlagenbau der Textilbranche als kaufentscheidendes Kriterium verstanden, damit sich Kunden für „Made in Germany“ entscheiden. Als intelligente Mehrwert-Services (Smart Services) werden u. a.

1Die

Legende der MüBa GmbH ist konstruiert. Die Fallstudie musste aus marktpolitischen Gründen anonymisiert (Branche, Name, Lokalität) und faktengeglättet werden. Die dargestellte Situation basiert auf realen Fallerfahrungen. Dargestellt werden hier lediglich fallstudienrelevante Daten und Unternehmensaspekte. 2Als Hidden Champions werden mittelständische Unternehmen bezeichnet, die in Nischen-Marktsegmenten Europa- oder Weltmarktführer geworden sind. Sie sind „heimliche Gewinner“, weil sie sowohl in der Öffentlichkeit kaum bekannt als auch in der Regel keine Aktiengesellschaften sind und so auch nicht von Analysten und Investoren beobachtet werden (vgl. Haric 2018). 3Der Textilmaschinenbau zählt in Deutschland zu den bedeutenden Fachzweigen des Maschinen- und Anlagenbaus. Die Branche beschäftigte im Jahr 2016 ca. 11.544 Mitarbeitende und produzierte im Jahr 2017 Textilmaschinen und Zubehör im Wert von 3,5 Mrd. EUR in Deutschland und von ca. einer Milliarde Euro in den ausländischen Fertigungsstätten. Mit einer Exportquote von 95 % gehört die Branche zu den exportstärksten Zweigen des gesamten Maschinenbaus (vgl. VDMA 2018, S. 4).

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

245

Abb. 14.1   Blick in die Werkhalle einer industriellen Weberei. (Quelle: © warloka79 – Fotolia. com)

Dienstleistungen verstanden, die mithilfe von digitalen Lösungen die Handhabung der Textilmaschinen für Techniker und Kunden optimieren helfen (z. B. bei Installation, Bedienung, Instandhaltung, Entsorgung).4 Die MüBa GmbH hat sich zwar strategisch einer hohen Innovationsfähigkeit verschrieben (siehe Website), sich bislang (traditionell) aber vorwiegend auf die Produktinnovation konzentriert (z. B. Produktivität, Energieeffizienz, Steuerungssoftware für die Textilveredelung, integrierte Ansteuerung aus der ERP/PPS-Software heraus oder Produktion innovativer Textilien). Die Prozessinnovation durch „intelligente“ Dienstleistungen (z. B. hinsichtlich geringer Stillstandzeiten, vorausschauender Wartung, Unterstützung des internen Wartungspersonals) wurde eher vernachlässigt. Diese Erkenntnis wurde erstmals im Jahr 2017 deutlich, als im Rahmen einer Bachelor-Thesis von Bianca Schneider in einer Kundenumfrage (Vollerhebung, n = 256, Rücklaufquote ca. 18 %) die Servicequalität durch die Kunden kritisiert wurde (vgl. Abb. 14.3). Dem ersten Schock, denn das Ergebnis war sehr überraschend für die Führungsebene, folgte eine Zeit der Besinnung und Kritik – von einigen an der Studie selbst und von anderen an der eigenen Leistungsfähigkeit.

4Vgl.

zur Vertiefung von „Industrie 4.0“, „digitale Fabrik“ und „Smart Services“ u. a. Acatech (2013).

246

M. Schaffner

Abb. 14.2   Das Unternehmen MüBa GmbH

hohe Produktqualität 100%

Weiterempfehlung aufgrund der Produktqualität

90% 80%

hohe Servicequalität

70% 60%

50% 40%

Weiterempfehlung aufgrund der Servicequalität

30% 20%

Freundlichkeit des Personals

10% 0%

Self-Service (Problemlösungs-DB für Kunden)

Aktualität Servicedokumentaon

Abb. 14.3   Kundenumfrage zur Servicequalität 2017

Erreichbarkeit des Services

schnelle Ursachen- & Lösungsfindung

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

247

14.1.2 Organisation Das Unternehmen MüBa GmbH hat mit ca. 2500 Mitarbeitenden ihren Firmenhauptsitz in Niedersachsen. Hier ist der technische und innovative Firmenkopf angesiedelt, u. a. mit der zentralen IT, der FuE, dem Produktmanagement, der Produktion sowie dem Vertrieb und Marketing. Das Unternehmen ist in über 100 Ländern mit Vertriebs-, Verwaltungs- und Serviceorganisationen vertreten. Zusätzlich zu den Mitarbeitenden in Niedersachsen arbeiten daher an rund 130 Standorten (Deutschland und international) weitere ca. 550 Mitarbeitende. In Rumänien befindet sich zusätzlich eine outgesourcte Software-Entwicklung (ca. 50 Mitarbeitende) und in China eine Produktion von Teilkomponenten (ca. 400 Mitarbeitende). Die Fertigungstiefe ist mit über 70 % relativ hoch, dennoch wird bei Spezialkomponenten (z. B. Steuerungen, Motoren, Pumpen) auf bewährte Zulieferer zurückgegriffen. Das Unternehmen wird in vierter Generation, nach wie vor in Familienhand, von zwei geschäftsführenden Gesellschaftern gleichberechtigt geleitet. Die kaufmännische Seite wird vertreten vom 48-jährigen Diplom-Betriebswirt Thomas Müller (Urenkel von Anton Müller), der vor allem für die Wahrung traditioneller Firmenwerte, Strategien und Strukturen bekannt ist. Die technische Seite liegt in der Hand der 51-jährigen Dr.-Ing. Sabine Bauer-Moll (Ehefrau des jüngst verstorbenen Urenkels von Fritz Bauer). Mitarbeiter attestieren ihr, sehr offen für Ideen zu sein, Routinen aufbrechen zu wollen und das Ohr am Herzen der Mitarbeitenden und Kunden zu haben. Die Firmenstruktur ist im Organigramm ersichtlich (vgl. Abb. 14.4).

Müller & Bauer GmbH Thomas Müller Kfm. Leitung

Verwaltung B. Heinrich (100 MA)

IT-Mgt. V. Durst (50 MA)

Einkauf H. Cremer (25 MA)

Vertrieb P. Hellfrich (100 MA)

Dr. Sabine Bauer-Moll Techn. Leitung

Konstrukon K. Marker (250 MA)

AV/PPS/QS B. Kurth (25 MA)

Produkon S. Maier (2.800 MA)

Service C. Wurster (150 MA)

Buchhaltung

SystemAdmin

strateg. Einkauf

Verkauf Deutschland

F&E

AV/PPS

Serienfergung

Montage, Installaon

Controlling

ApplicaonMgt.

operaver Einkauf

Verkauf Welt

Projekte

Qualitätssicherung

Fergungsstrecken

Wartung, Instandsetz.

Personal

EnterpriseSoluons

Warenlogisk

Verkaufsinnendienst

SWEntwicklung

Sondermasch.bau

Ersatzteilwesen

technische Dienste

Standortbetreuung

Komponenten

Schulung

Markeng ProduktMgt. Techn. Dokument.

Abb. 14.4   Das Organigramm der MüBa GmbH

248

M. Schaffner

Die Verwaltung wird geleitet von dem sehr zurückhaltenden Buchhalter Bernd Heinrich (51 Jahre, seit 25 Jahren im Unternehmen). Ihm unterstehen u. a. die Technischen Dienste, zu denen neben der Reinigung auch das technische Gebäudemanagement zählt. Hier fallen in der Elektronik, beim Testbetrieb der für Kunden vorinstallierten Anlagen, immer wieder mögliche Servicefälle auf. Die 55-jährige Helga Cremer, die den Einkauf leitet, ist erst seit fünf Jahren im Unternehmen. Die Konzeption und Implementierung des strategischen Einkaufs, der zuvor sträflich vernachlässigt wurde, gehört neben dem Tagesgeschäft zu ihren Sonderaufgaben. Dabei hat Frau Cremer identifiziert, dass die meisten Lieferanten von Baugruppen nicht in der Lage sind, Servicedokumentation im XML-Format, zur datentechnischen Verarbeitung, und übersetzt in die relevanten Zielsprachen der Exportländer zu liefern.5 Dies soll bei künftigen Rahmenverträgen und in der Lieferantenbewertung intensiver berücksichtigt werden. Der 53-jährige Volker Durst leitet das IT-Management, das bis in die 1990er-Jahre hinein (historisch gewachsen) noch der Verwaltung unterstellt war. Durst war damals Teamleiter einer gerade einmal zwölfköpfigen IT-Mannschaft und bekam die Chance, das IT-Management im Zuge des Unternehmenswachstums zu einer serviceorientierten, eigenständigen Abteilung auszubauen. Die Zuordnung zum kaufmännischen Bereich blieb jedoch unangetastet. Herr Durst ist sehr innovationsorientiert und beobachtet intensiv die Technologiemärkte. Die Kollegen sagen: „Der hat sein Ohr auf den Schienen!“ Volker Durst ist stets bestrebt, die neuesten Technologien, Theorien, Frameworks und Best Practices zu beobachten, um ihre Anwendung für die MüBa zu bewerten. Als Vorstandsmitglied in einem Interessenverband für IT-Manager werden ihm zudem Kontaktmöglichkeiten zum Erfahrungsaustausch eröffnet, die ihm ansonsten verschlossen blieben. Allerdings fühlt sich Durst von seinem eher konservativen Chef, T. Müller, zunehmend ausgebremst. Der studierte Maschinenbau-Ingenieur Bernd Hellfrich ist ein charismatischer 50-Jähriger, der seit vier Jahren den Vertrieb leitet. Als Ingenieur hat Hellfrich nie gearbeitet, vielmehr blickt er auf 20 Jahre Berufserfahrung im internationalen Vertrieb zurück. Mit seiner technischen Kompetenz versteht er es aber, seine Vertriebsteams auf die produktions- und kundenrelevanten Verkaufsaspekte auszurichten. Dem Vertrieb ist die 15-köpfige Technische Dokumentation (Leitung: Thomas Köster, 44 Jahre) unterstellt, was ebenfalls historische Ursachen hat. Denn dem Vertrieb war ursprünglich ein Team „Kommunikation“ zugeordnet, das die Beziehung zum Markt verantworten sollte. Hier entstanden die vertriebsunterstützenden Informationsprodukte (z. B. Prospekte, Kataloge, Datenblätter) sowie die technischen Produktunterlagen (z. B. Installations-, Betriebs- und Wartungsanleitungen, Schulungsunterlagen, Ersatzteilkataloge).

5Die

Dokumentation von Zulieferteilen wird überwiegend als PDF in der Sprache Englisch geliefert.

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

249

Im Zuge des Wachstums und der gestiegenen juristischen Bedeutung6 von technischer Produktliteratur wurde das Team 1993 aufgeteilt in Marketing und Technische Dokumentation – blieb aber dem Vertriebsleiter unterstellt. In der Technischen Dokumentation arbeiten Technische Redakteure, Illustratoren und Projektmanager (z. B. Steuerung der Dokumentations- und Übersetzungsprojekte). Technische Produktliteratur dient in erster Linie der Information und Instruktion definierter Zielgruppen (z. B. Techniker, Bedienpersonal) zum bestimmungsgemäßen Gebrauch der Produkte, zur haftungsrechtlichen Absicherung des Herstellers sowie der dauerhaften und gesetzlich geforderten Archivierung aller relevanten Informationen. In der Technischen Dokumentation laufen daher alle erforderlichen Informationen aus z. B. Konstruktion (FuE), Produktmanagement oder Kundenservice zusammen.7 In der Konstruktion, geleitet von Klaus Marker (36 Jahre), werden die Textilmaschinen, deren Steuerung und die Fertigungsstrecken konzipiert und projektiert. Marker ist ein Netzwerker. Er pflegt enge Kontakte innerhalb des Unternehmens, aber auch zu Kunden, Hochschulen und Experten. Neben der Entwicklung neuer Maschinen und Steuerungen ist die Konstruktion auch verantwortlich für die Risikobeurteilung und die Zulieferung relevanter Informationen für die Technische Dokumentation. Die Qualitätsbeurteilung des erstellten Redaktions-Contents (Texte, Illustrationen, Bilder, Videos etc.) erfolgt in Zusammenarbeit zwischen Entwicklern und Technischen Redakteuren. Bettina Kurth ist 47 Jahre alt, seit über 20 Jahren im Unternehmen und hat bis vor drei Jahren als Gruppenleiterin einer Fertigungsinsel in der Produktion gearbeitet. Sie kennt das Unternehmen, die Produkte und die Produktion „aus dem Effeff“ und ist aufgrund ihres ausgleichenden Charakters bei allen sehr beliebt. Als die Ableitungsleitung für die Produktionsplanung und -steuerung sowie Qualitätssicherung altersbedingt frei wurde, war ihre Nominierung eine logische Konsequenz. Der Produktion steht der sehr durchsetzungsstarke Sascha Maier vor (48 Jahre) vor. Unter ihm ist die Fertigung in weitere Unterabteilungen (Serienmaschinenbau) und Fertigungsinseln (Sondermaschinenbau) organisiert. Herr Maier ist auch verantwortlich für den Prototypenbau sowie den Installations- und Funktionstest der Maschinen vor der Auslieferung an den Kunden (Testbetrieb).

6So

sind die Haftungsrisiken für Schäden beim Endabnehmer infolge eines fehlerhaften Produktes, wobei die Technische Dokumentation als Produktbestandteil verstanden wird, erheblich gestiegen. In EU-Staaten beruht die Produkthaftung auf der EG-Richtlinie 85/374 EG. Die Produkthaftungsrichtlinien in den USA (z. B. bezüglich Haftung für bestimmte Produkteigenschaften, fahrlässige Verletzung einer Sorgfaltspflicht oder Haftung für durch das Produkt verursachte Schäden) werden zudem im Allgemeinen als wesentlich risikoreicher angesehen als in Europa. In EU-Staaten greift zudem die Maschinenrichtlinie (2006/42 EG). Hier werden u. a. für die Technische Dokumentation klare Vorgaben für Gefahrenabschätzungen, Kennzeichnungspflichten und Veröffentlichungen der Dokumente in den Landessprachen der Exportländer gegeben. 7Vgl. zur Vertiefung Wikipedia (o. J.); Drewer und Ziegler (2011).

250

M. Schaffner

Der internationale Kundenservice wird von Claudia Wurster (42 Jahre) verantwortet. In Abstimmung mit dem Vertriebsinnendienst (Auftrags- und Projektmanagement), der Konstruktion und der Produktion steuert sie die Montage und Installation bei den Kunden an. Parallel erfolgen notwendige Schulungen des Bedien- und Wartungspersonals – teils beim Kunden vor Ort, aber auch zentral im Schulungszentrum des Stammhauses. Systemstörungen schlagen in der Serviceabteilung auf, woraufhin das Ersatzteilwesen und die Instandsetzungsteams aktiviert werden. Nur die neueren Maschineninstallationen verfügen über ein sogenanntes Condition Monitoring, das bis zu ca. 70 % aller möglichen Systemstörungen erfasst und remote meldet. Frau Wurster kritisiert seit längerer Zeit, dass im Kundenservice noch kein Computerized Maintenance Management System (CMMS) im Einsatz ist und alles weitgehend mit kommerzieller Office-Software (Excel, Access etc.) gesteuert wird.8

14.1.3 Problem und Zielsetzung Die Bachelor-Thesis an der FOM-Hochschule von Frau Schneider, die die Kundenzufriedenheit der Firma MüBa GmbH untersuchen sollte, hat das Führungsteam aufgeschreckt. Dass die Servicequalität von den Kunden schlecht bewertet wurde, hat die meisten Führungskräfte überrascht. Claudia Wurster entgegnete jedoch in einem Jour fixe: „So ganz überraschend ist dies für mich nicht. Der Komplexität der Maschinensteuerung und den zunehmenden Abhängigkeiten zwischen den verketteten Systemen ist es geschuldet, dass immer neue unbekannte Fehlerabhängigkeiten auftreten, die in der FuE-Risiko- und Gefahrenabschätzung und im Testbetrieb vorher unentdeckt geblieben sind“. Dies war der Auslöser für einen kurzen Disput, denn Volker Durst legte nach: „Leute, habt ihr schon mal was von Industrie 4.0 und Predictive Maintenance9 gehört? Wenn wir nicht langsam reagieren, sind wir bald weg vom Fenster.“ Jetzt fühlte sich der Geschäftsführer Müller auf den Schlips getreten, dem das ewige Genörgel von Volker Durst („Die IT muss näher an die Produktion heranrücken.“) auf die Nerven geht. Da Müller aber einen offenen Disput mit Durst vermeiden wollte, machte er eine andere Flanke auf: „Ist nicht die Technische Dokumentation für korrekte und umfassende Serviceunterlagen zuständig?“, worauf sich Thomas Köster einschalten musste: „Wir sind als Vertriebsanhängsel doch

8Ein

CMMS ist ein System zur Instandhaltungsplanung und -steuerung. Hier werden instandhaltungsrelevante Informationen datenbankgestützt verwaltet (z. B. Serviceverträge, Wartungs- und Inspektionspläne, Instandhaltungsaufträge, Servicedokumentationen, Ersatzteil- und Werkzeuglisten). 9Predictive Maintenance steht im Konzept Industrie 4.0 für „vorausschauende Wartung“. Dabei werden Mess- und Produktionsdaten aus dem Condition Monitoring von Maschinen und Anlagen genutzt, um Wartungsinformationen abzuleiten. Ziel ist dabei die Störungsvorhersage und proaktive Wartung, um Störungszeiten zu minimieren (Störungsvermeidung).

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

251

weiter weg von Produktion und Service als die Eisbären im Hannover’schen Zoo von ihrem natürlichen Lebensraum. Mal im Ernst, wir sind doch nur das letzte Glied in der Produktionskette und müssen irgendwie die Terminverzögerungen aus den vorherigen Planungsstufen aufholen, um den Liefertermin halten zu können. Würden wir früher in die Roadmap- oder Projektplanung involviert und schneller eine Rückmeldung aus anderen Abteilungen erhalten, könnte unsere Doku sehr viel hochwertiger sein. Meine Vision ist ja, weg vom Papier zu gehen und ein fallbasiertes Servicesystem zur Fehlerdiagnose und Problemlösung anzubieten. Aber wer fragt mich schon? Unser neues Redaktionssystem sollte dies jedenfalls hergeben. Volker, was meinst du dazu?“ Diese Steilvorlage wollte sich Durst nicht entgehen lassen und er entgegnete: „Du meinst ein Expertensystem? Sicherlich! Vorausgesetzt, wir schaffen es, aus unseren eingefahrenen Prozessen auszubrechen.“ Bevor es weiter zu eskalieren drohte, unterbrach Frau Dr. Bauer-Moll den Jour fixe, mit dem Hinweis, sich zunächst etwas „aufschlauen“ zu müssen. Nach der Sitzung bat Frau Dr. Bauer-Moll Herrn Hellfrich, über das Produktmanagement in Erfahrung bringen zu lassen, was einzelne Schlüsselkunden ganz konkret für Erwartungen haben. Frau Wurster wurde gebeten, die Probleme der heutigen und künftigen Servicelandschaft zu umreißen. Die Ergebnisse lagen nach drei Wochen vor, waren ziemlich eindeutig und korrespondierten miteinander. Folgende Kunden-Stellungnahmen konnte das Produktmanagement aus Telefoninterviews zusammentragen: • „Der Service ist gut erreichbar.“ • „Es dauert bisweilen aber sehr lang, bis der Servicetechniker das Problem verstanden, identifiziert oder nachvollzogen hat.“ • „Es entsteht der Eindruck, dass unsere Service-Probleme einzigartig sind.“ • „Wir wünschen uns eine schnellere Reaktionszeit.“ • „Um schneller reagieren zu können, würden unsere Techniker gerne auch einmal selbst aktiv werden.“ • „Die Dokumentationen sind leider nicht alle auf dem neuesten Stand.“ Aus dem Servicebereich waren folgende Stimmen zu hören: • „Es muss oft aufwendig recherchiert werden, ob ein Fehler bereits bei anderen Kunden weltweit aufgetreten ist und Kollegen Erfahrung damit haben.“ • „Die MüBa weiß eigentlich nicht, was sie schon alles weiß.“ • „Wir sammeln oft Erfahrungen an mehreren Stellen mehrfach – und verbrennen uns dabei die Finger.“ • „Im Service haben wir einen richtigen Datenfriedhof.“ • „Wer liest eigentlich unsere Serviceberichte und lernt etwas daraus?“ • „Unsere Verteilung über 100 Ländern, in verschiedenen Sprachen und unterschiedlichen Zeitzonen verschärft die Situation hinsichtlich Kommunikation und Verständigung.“

252

M. Schaffner

• „Wir haben bei den neueren Maschinen bereits Standard-Fehlercodes, die eigentlich nur geschickt mit den bereits fertigen Handlungsanweisungen und technischen Informationen verknüpft werden müssten – macht aber keiner.“ Es wurde eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben, ob das in der Technischen Dokumentation10 vorhandene Redaktionssystem11 für eine serviceerweiternde Nutzung konzipiert werden kann. An dieser Studie waren der Hersteller des Redaktionssystems sowie der IT-Leiter, Volker Durst, und der Leiter der Technischen Dokumentation, Thomas Köster, beteiligt. Im Ergebnis entstand folgendes Grobkonzept, das unter dem Projekttitel „MüBa@ XPS“ geführt wurde: 1. Es wird ein Paradigmenwandel angestrebt. Das Redaktionssystem wird nicht mehr nur als Produktionssystem für die Produktliteratur in Richtung Kunden verstanden, sondern soll als technische Basis für „Professional Services“ auch andere Fachabteilungen unterstützen. Dabei wird ein neues Rollenverständnis für die Technische Dokumentation (vgl. Schaffner 2017) angestrebt (vgl. Abb. 14.5).12

10Mit

Technischer Dokumentation sind in erster Linie Informationsprodukte gemeint, die eine Herstellerfirma nach außen abgibt, um den bestimmungsgemäßen Gebrauch ihrer Produkte sicherzustellen, auch unter haftungsrechtlichen Gesichtspunkten und der Einhaltung relevanter Normen (z. B. Bedienungs-, Betriebs- und Serviceanleitungen, Installationshandbücher, Gefährdungsbeurteilungen, Wartungs- und Schmierpläne, Schulungsunterlagen, Ersatzteillisten oder Konformitätserklärungen). Unter Technischer Kommunikation versteht die Gesellschaft für Technische Kommunikation e. V. (www.tekom.de) – etwas weiter gefasst – Informationsprodukte für dingliche Güter oder Services über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg, von der Entwicklung über die Nutzung bis hin zur Entsorgung. Dies schließt beispielsweise auch Konstruktionsdaten, Risikobeurteilungen, technische Marketingunterlagen, Abnahmeprotokolle, Vertriebs- und Serviceberichte sowie Entsorgungs- und Recyclingnachweise nach der Demontage ein. 11Einsatz finden in der Technischen Dokumentation spezifische Redaktionssysteme. Da Texte und Grafiken in den meisten Unternehmen wiederkehrend in unterschiedlichen Dokumenten vorkommen (z. B. bei Varianten eines Maschinentyps), werden die redaktionellen Inhalte in Content. Management.Systemen (CMS) als granulare Einheiten datenbankgestützt, strukturiert verwaltet und verarbeitet. Der Aufbau Technischer Dokumentationen folgt so der Konstruktion modularer Komponenten im Maschinen- und Anlagenbau, um die Wiederverwendung technischer Baugruppen in Versionen, Varianten oder Weiterentwicklungen auch auf der redaktionellen Content-Ebene abbilden zu können. Einsatz findet die XML-Technologie, die eine Trennung von Inhalt und Gestaltung zulässt und je nach Informationstyp den Inhalt individuell layoutet, arrangiert und darbietet (z. B. für Print- oder Online-Produkte). Integriert sind Redaktionssysteme in der Regel mit Translationssystemen zur Übersetzung der Content-Bausteine in die relevanten Zielsprachen. Dies erfolgt zumeist durch professionelle Übersetzer und halb automatisch unter datenbankgestützter Wiederverwendung bereits übersetzter Content-Fragmente (in Ausnahmefällen auch bereits durch maschinelle Übersetzung). 12Zur weiteren Recherche bezüglich eines innovativen Verständnisses von Technischer Kommunikation vgl. www.tekom.de, www.schaffner.de und Schaffner (2018b).

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

253

(Technisches) Wissensmanagement → „Wissensmanager“ -

strategische Einflussnahme auf die Einführung und Durchführung von Wissensmanagement Bereitstellung und Management der Infrastruktur für Wissensmanagement Design und Umsetzung der Kodifizierung von implizitem Wissen Nutzbarmachung von (technischem) Wissen als Produk‚vfaktor in einem Wertschöpfungsprozess (z.B. aus Fehlern/Erfahrungen lernen), inklusive Wissenstransferförderung und Wissensbewertung

Technische Kommunika on → „Manager von Wissensmanagementprojekten“ - Informa‚onsversorgung aller mit der Herstellung oder Veränderung von Produkten befassten internen und externen Akteure (Wissensbrokering) - Erstellung von Informa‚onsprodukten für dingliche Güter oder Services über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg (von der Entwicklung bis zur Entsorgung) - Erstellung seman‚scher Beziehungen zwischen Informa‚ons-/Wissensartefakten Technische Dokumenta on → „Wissensarbeiter“ -

Beschreibung erklärungsbedür•iger Produkte und Dienstleistungen sammeln, bewerten, verdichten, verbalisieren relevanter Informa‚onen strukturierte Au–ereitung von Informa‚onen und Archivierung Instruk‚on definierter Zielgruppen ha•ungsrechtliche, normengerechte Absicherung

Abb. 14.5   Paradigmenwandel in der Technischen Dokumentation. (Quelle: Schaffner 2018a)

2. Im Fokus steht dabei zunächst im Kundenservice die Instandhaltung13 durch Einrichtung eines fall- und regelbasierten Service-Expertensystems zur schnellen Fehlerdiagnose und Problemidentifikation sowie Erstellung von Lösungsvorschlägen – und zwar weltweit verfügbar. 3. Das Redaktionsteam wird folgende, neue Aufgaben verantworten: – Aufnahme und Prüfung von Service-Techniker-Feedbacks – Erzeugung von Informationsbausteinen zu Symptomen, Ursachen und Lösungen aus den Feedbacks – Redaktionelle Überarbeitung der Wissensbausteine (z. B. zielgruppengerechte Fachsprache für Techniker, Vertriebsmitarbeiter, Bedienpersonal) – Pflege von ontologischem Beziehungswissen (Fehlercode/Problemsymptom  → Lösung) – Einleitung des Übersetzungsprozesses in die Landessprachen der wichtigsten Exportländer – Synchronisation der Wissensbausteine mit der Know-how-Datenbank

13Unter Instandhaltung wird die Erhaltung eines funktionsfähigen Zustands oder die Wiederherstellung nach einem Ausfall von technischen Systemen und Baugruppen verstanden. Neben der Instandsetzung (z. B. Reparatur) wird hierunter auch die frühzeitige Inspektion und Wartung verstanden (z. B. Vermeidung von Schäden und Ausfällen) sowie die Systemverbesserung (z. B. Optimierung durch Nachrüstung).

254

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– Tägliche Freigabe von neuen Service-Fällen für das Wissenssystem, auf das die Techniker im Feld online zugreifen können – Redaktionelle Pflege der Wissensbausteine bezüglich Richtigkeit, Aktualität, Relevanz etc. 4. Das Redaktionssystem wird entsprechend vorbereitet und in die Systemlandschaft integriert. Hierzu gehören beispielsweise: – Einrichtung von Metadaten zur Identifikation von z. B. Kunden, Kundensystemen, Servicefällen, Problemlösungen, Medienausprägungen (Text, Audio, Video, Augmented Reality etc.) – Verknüpfung der relevanten Content-Inhalte im Redaktionssystem (u.  a. Anleitungen, Fallbeschreibungen, Lösungsmuster) mit den Maschinen-Stücklisten einerseits und diese wiederum mit den Stücklisten der bei den Kunden aktuell verbauten Systeme (u. a. unter Berücksichtigung von nachträglichen Einbauten) 5. Zur Unterstützung dieser Entwicklung sind international geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen.

14.1.4 Konsequenzen Den Beteiligten wurde schnell bewusst, dass es sich bei „MüBa@XPS“ im Kern nicht um ein IT-Projekt handelt, sondern um ein Projekt des Wissensmanagements.14 Die technische Umrüstung wurde zwar als aufwendig, aber als in absehbarer Zeit realisierbar bewertet. Schwieriger hingegen schien es um die Akzeptanz von „MüBa@XPS“ in der breiten Anwendung bestellt zu sein. Zwar sei der Vorteil für Kunden und Servicetechniker rational nachvollziehbar, wurde geurteilt, aber ein Expertensystem lebt davon, dass mit ihm auch friktionsfrei gearbeitet wird (z. B. Identifikation und Verknüpfung relevanter Fälle und Lösungen, Bewertung der Konsequenzen und Nutzung der dargebotenen Hilfestellungen). Bei der Umsetzung waren immerhin weit mehr als 500 Mitarbeitende aus unterschiedlichen Funktionsbereichen weltweit zu aktivieren. Kernproblem war und ist, dass die Mitarbeitenden zunächst einen hohen Aufwand betreiben müssen (Contenterzeugung), sich der Nutzen für den einzelnen aber nicht unmittelbar, sondern zeitversetzt einstellt. Es wurde daher mit einem Piloten begonnen, um im Quick-Win-Verfahren allen Beteiligten den besonderen Nutzen zu beweisen und die Zweifler zu begeistern (vgl. Fallstudienfrage 4). Zu den größten Kritikern zählte bei MüBa GmbH der Geschäftsführer Thomas Müller („Rechnet sich der ganze Aufwand wirklich?“). Es wurden daher auch ökonomische Überlegungen angestellt, die den Nutzen und einen Return-on-Investment präzisieren. Darüber hinaus wurde die Organisation umgestellt (Aufbau und Ablauforganisation), um die relevanten Akteure enger miteinander zu verzahnen.

14Vgl.

zum Wissensmanagement u. a. Lehner (2012); Probst et al. (2012); North (2016).

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

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14.1.5 Rollen im Unternehmen • Bauer-Moll, Dr. Sabine: geschäftsführende Gesellschafterin, Technische Leitung • Cremer, Helga: Head of Purchasing • Durst, Volker: Head of IT-Management • Heinrich, Bernd: Head of Administrations • Hellfrich, Peter: Head of Sales • Köster, Thomas: Leitung Techn. Dokumentation • Kurth, Bettina: Head of Industrial Engeneering • Maier, Sascha: Head of Production • Marker, Klaus: Head of Construction • Müller, Thomas: geschäftsführender Gesellschafter, Kaufmännische Leitung • Schneider, Bianca: Studierende an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management • Wurster, Claudia: Head of Customer Service

14.2 Fallstudienfragen Hinweis für Dozenten: Die Fallstudienfragen müssen nicht vollumfänglich behandelt werden. Auch die Bearbeitung einzelner Frage oder die Aufteilung von Fragenkomplexen auf Gruppen ist denkbar. 1. Wie lässt sich das Problemumfeld konkretisieren? 2. Welche Interessen verfolgen die einzelnen Stakeholder, welche Interessen sind zielharmonisch und welche konfliktär? 3. Mit welchen konzeptionellen Ansätzen könnte begonnen werden? 4. Warum wurde ein Quick-Win-Pilot ins Leben gerufen und welches Pilotprojekt wäre denkbar? 5. Welche organisatorischen Maßnahmen bieten sich an, um die Konzeption und Implementierung von „MüBa@XPS“ zu unterstützen? 6. Wie können Wissensmanagement im Allgemeinen und das Projekt „MüBa@XPS“ ökonomisch begründet werden? 7. Welche Rahmenbedingungen können das Projekt „MüBa@XPS“ fördern? 8. Welche organisatorischen Konsequenzen ergeben sich für die MüBa (gegebenenfalls auch als Folge der Ergebnisse aus Frage 6 und 7)?

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14.3 Lösungshinweise Sämtliche Lösungsansätze sind Vorschläge und keine absoluten Antworten. Andere Perspektiven mögen ebenso praxistauglich sein. Es ist Kreativität bei der Lösung gefragt, auch wenn nicht alle interessierenden Sachverhalte im Rahmen einer Fallstudie hier dargestellt werden können. Gehen Sie daher auch von selbst gewählten Annahmen aus und entwickeln hieraus eigene Lösungskonzepte. Die als Lösungshinweise vorgestellten theoretischen Erklärungsansätze sind eigenständig zu recherchieren. Literaturhinweise dienen lediglich als erste Anhaltspunkte. Zu Frage 1 Die Problemlage erscheint vielschichtig und tangiert offensichtlich normative, strategische, taktische und operative Aspekte. Wie unterscheiden sich diese? Die Problemlage ist auch interdisziplinär, da es sowohl marktliche, technische wie auch personale und organisatorische Dimensionen umfasst. Finden Sie eine passende Darstellungsform (Struktur), um die Vielschichtigkeit der Aspekte zu berücksichtigen. Zu Frage 2 Sollen komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge ganzheitlich beschrieben und erklärt werden, bedient sich die Organisationsforschung den systemtheoretischen Ansätzen (vgl. Vahs 2015, S. 37 ff.). Die System- und Interaktionsbeziehungen untereinander (Organisationseinheiten) und zur Umwelt (Kunden, Lieferanten, Wettbewerber, Hochschulen, Medien, Gesellschaft etc.) bestimmen den Kontext von Wachstums-, Anpassungs- und Selbstregulationsprozessen. Nach der systemorientierten Sichtweise kann ein Unternehmen trotz hoher Wandlungsprozesse stabil bleiben, wenn ausdifferenzierten Teilsystemen (z. B. Abteilungen, Teams, Mitarbeitern) ausreichende Handlungskompetenz übertragen wird, um im Bedarfsfall schnell auf Umweltänderungen reagieren zu können (Kybernetik) – im Idealfall sogar antizipativ oder die Umwelt beeinflussend (z. B. Induzierung von Kundenbedürfnissen, Lobbyarbeit, Public Relations). Ganzheitlichkeit, Kommunikation, Dynamik, Umweltoffenheit, Gestaltungsorientierung und Selbstorganisation sind typische Merkmale einer systemorientierten Unternehmensführung. Ausgangspunkt dieser Sichtweise ist häufig eine Stakeholder-Analyse (Wer verfolgt heute und zukünftig welche Interessen?), um beispielsweise die Sensibilität zu fördern, den Handlungskontext zu beschreiben und etwaige Entscheidungskompetenzen zu definieren. Zu Frage 3 Hier wird nicht nach technischen Aspekten gefragt, denn diese sind weitgehend lösbar, sondern es geht um die Einrichtung eines Wissensmanagements. Denn Wissensmanagement steht in erster Linie für das Management der Rahmenbedingungen für die Wissensarbeit (z. B. Explizierung, Transfer, Nutzung). Das Bausteinmodell nach Probst et al. (2012) liefert hilfreiche Ansätze. Das Modell besteht aus acht Bausteinen (vgl. Abb. 14.6), ­

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

Bewertung der Erreichung von Wissenszielen • z.B. Kennzahlen, Indikatoren, Interviews, Messungen (Kompetenz, veraltete/ genutzte Artefakte etc.)

Welches Wissen ist für den Unternehmenserfolg wichg? • normave, strategische und operave Ziele • z.B. SWOT-Analyse, Balanced Scorecard





Welche Informaonen, welches Wissen ist im Unternehmen vorhanden? • Idenfikaon Wissensträger • Wissenslücken entdecken • z.B. Wissenslandkarte, Skill Maps •

Schließen der Wissenslücken durch externe Wissensquellen • z.B. neue Mitarbeiter, Fachliteratur, Berater, Patentkauf, Kongresse, Hochschulkooperaon •

Schließen der Wissenslücken durch externe Wissensquellen • z.B. neue Mitarbeiter, Fachliteratur, Berater, Patentkauf, Kongresse, Hochschulkooperaon •

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Wissensziele

Wissensidenfikaon

Feedback

Wissensbewertung Wissensbewahrung

permanentes Prüfen von Richgkeit, Aktualität und Relevanz der Wissensbausteine • z.B. Wissens-Jury, Audits, Qualitätsmanagement, Redakonsprozess, „Haltbarkeitsdatum“ für Wissensartefakte •

Nutzer & Anbieter zusammenbringen • Reziprozität im Wissenstransfer sicherstellen • Ermugung zur Wissensnutzung • z.B. Coaching, „Leuchtturm“-Projekte, Portale/ „Marktplätze“, Anreize, Gamificaon, Push&Pull •

Wissenserwerb Wissensentwicklung

Wissensnutzung Wissens(ver)teilung

Wahl geeigneter Medien je Zielgruppe Metadaten, Zugriffsrechte • z.B. IT-Tools, „Gelbe Seiten“ der Wissensträger, Storytelling, Lessons Learned, Debriefing, Boot-Camps • •

Abb. 14.6   Wissensmanagementmodell. (Quelle: in Anlehnung an Probst et al. 2012)

die jeweils einen Teilaspekt des Wissensmanagements beschreiben und sich auch gegenseitig beeinflussen. Es ist an den klassischen Managementprozess angelehnt: • Ziele setzen, controllen und bewerten, • Managementaufgaben (hier: „Bausteine“) festlegen und • spezifische Instrumente auswählen. Das Modell ist aber auch gut für einen Neueinstieg geeignet, da mit einem beliebigen Baustein begonnen werden kann, der am erfolgversprechendsten ist. Zu denken ist insbesondere daran: Welche Wissensziele sollen verfolgt werden? Wie lässt sich die Erreichung dieser Wissensziele letztlich messen? Mit welchen Wissensmanagementaufgaben (Probst unterscheidet hier sechs Bausteine) soll begonnen werden und was könnten hilfreiche Ansätze sein? Zu Frage 4 Wissensmanagement geht stark mit Change-Management einher, da erhebliche Veränderungen im Umgang mit dem eigenen und fremden Wissen im organisationalen Kontext stattfinden. Nach Krebsbach-Gnath (vgl. Vahs 2015, S. 326 ff.) können grund-

258

M. Schaffner Abwartende und Gleichgülge

Untergrundkämpfer

Opportunisten

wenige Mitarbeitende, die aber andere „mitreißen“ können

akve Gläubige Visionäre und Missionare

der/die Ideengeber müssen versuchen, die Akteure für sich zu gewinnen

die meisten Mitarbeitenden sind Zweifler und müssen überzeugt werden

suchen nur den persönlichen Vorteil, der deutlich werden muss

arbeiten verdeckt als Smmungsmacher und Kolporteure

wenige Mitarbeitende, deren sachliche Krik akv genutzt werden muss

offene Gegner Emigranten

ohne Perspekve, sind die wenigen Leistungsträger die ersten, die das Unternehmen verlassen

Abb. 14.7   Personentypen in Wandlungsprozessen. (Quelle: in Anlehnung an: Vahs 2015)

sätzlich sieben Typen von Personen und Personengruppen in einem Change-Prozess unterschieden werden, die sich im Unternehmen oft in einer Normalverteilung finden (vgl. Abb. 14.7). Mit diesen Personentypen muss individuell umgegangen werden. • • • •

Visionäre aktivieren andere durch gute Argumente. Aktive Gläubige unterstützen Veränderungen aktiv, sie sollten Best Practices erarbeiten. Opportunisten sehen nur persönliche Vor-/Nachteile. Abwartende sind Zweifler und durch schnelle erste Erfolge als aktive Gläubige zu gewinnen. • Untergrundkämpfer kolportieren und versuchen zu verhindern, sie sind eher auszuschalten. • Offene Gegner können mit Kritik Verbesserungen einleiten, sie sollten Gehör finden. • Emigranten (oft Leistungsträger) müssen ausreichend Perspektiven aufgezeigt bekommen. Zu Frage 5 Anstöße zur Beantwortung dieser Frage lassen sich aus der Fallstudie sowie aus den Fragen 2 und 3 ableiten. Zu Frage 6 Die Wertschaffung durch Wissensmanagement ist allgemein anerkannt (z. B. Vermeidung von Wissensverlust durch ausscheidende Mitarbeiter, schnelle und adäquate Problemlösung zur Steigerung des Kundennutzens), doch gründet sich die Bilanzierung von

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

259

Kosten und Nutzen durch die Anwendung von Wissen stets auf unsicheren Erwartungsgrößen (ex-ante unbekannte Nutzeneffekte, schwer kalkulierbare Gesamtkosten). Oft fallen rund 50 % des Gesamtaufwands bei der Einführung eines Wissens­managementSystems für die Gestaltung der Veränderungsprozesse (Change-­Management) an. Eine ökonomische Begründung für Wissensmanagement lässt sich argumentativ führen. Denn Wissen ist ein knappes Gut. Für knappe Güter bilden sich in der marktwirtschaftlichen Betrachtung Märkte heraus. Angebot und Nachfrage werden dabei über Marktausgleichsbeziehungen (Preis/Tauschwert als Lenkungsfunktion) ausgeglichen. Das Wissensmarkt-Konzept stammt von North aus dem Jahr 1998 und definiert, wie Wissensnachfrager und -anbieter in Kontakt gebracht werden (vgl. North 2016, S. 247 ff.). Wie kann der Wissensmarkt für die MüBa GmbH konkretisiert werden? Wer ist Wissensanbieter und Wissensnachfrager? Welche (gemeinsamen) Interessen werden verfolgt? Was sind Anreize für den Wissenstransfer? Wie kann der Wissenstransfer gesteuert werden? Zur ökonomischen Verteidigung des WiMa-Projektes dient die Wirtschaftlichkeitsbetrachtung. Unter qualitativen Aspekten bieten sich die nicht-monetäre Nutzwertanalyse (NWA) und unter quantitativen Aspekten die monetäre Kostennutzenanalyse (KWA) an. Arbeiten Sie hier bitte konzeptionell: • Zu NWA: Stellen Sie ein Zielsystem für MüBa@XPS auf, das einen Katalog möglicher Nutzwerte umfasst (z. B. zehn). Wie könnte eine Gewichtung dieser Nutzwerte vorgenommen werden? Definieren und skalieren Sie anschließend die Zielerträge, damit die – meist sehr unterschiedlichen – Nutzwerte auf einer Punkteskala (von z. B. sechs) bewertet werden können. • Zu KWA: Welche Kosten und Nutzen könnten einander gegenübergestellt werden? Stellen Sie jeweils fünf bis zehn Aspekte auf. Denken Sie beim Nutzen vor allem an Einspareffekte über verkürzte oder eliminierte Prozessschritte. Was sind die Prozesskostentreiber? Wie können diese bewertet und reduziert werden? Die KWA wird für einen definierten Zeitpunkt aufgestellt. Sind Effekte über mehrere Zeiträume zu erwarten, werden die monetären Kosten- und Nutzenströme (Investitionen versus Einsparungen) abgezinst, um den Barwert (Gegenwartswert) zu bestimmen (dynamische Investitionsrechnung, vgl. Kapitelwertmethode). Zu Frage 7 Mitarbeitende müssen als Wissensanbieter auch zur Wissensteilung und Wissensnachfrager zum Wissenskonsum motiviert sein. Das Bewahren von persönlichem Fach- und Erfahrungswissen wird oft als Machtbasis genutzt, um Abhängigkeiten zu schaffen (z. B. Unkündbarkeit aufgrund von Herrschaftswissen). Oder es wird der Aufwand gescheut. Zur partizipativen Kultivierung von Wissen und Vermeidung von „Herrschaftswissen“

260

M. Schaffner

hat Moser ein Modell zur Förderung der Wissenskooperation entwickelt (vgl. Moser 2002, im Internet über die Universität Zürich recherchierbar). Im Kern basiert das Konzept auf zwei Aspekten: • Kultur der Reziprozität • Affordanz der Wissenskooperation Eine Kultur der Reziprozität in der Wissenskooperation bedeutet, dass jeder Bereitschaft zeigt, sein Wissen zu teilen. Fehlende Reziprozität (Asymmetrie) führt zu einem Klima des Misstrauens (z. B. „Ich gebe mein Wissen und der andere nicht“). Organisationskulturell muss im Betrieb eine soziale Anerkennung für kooperatives Verhalten erzeugt werden, wobei eine geeignete Unternehmensvision die kollektive Überzeugung fördert, dass dank gemeinsamer Kompetenzen die Arbeit effektiver und effizienter ist. Dies setzt – dem strategischen Management folgend – die Definition von konkreten Wissenszielen und Controlling-Kennzahlen zur Erfolgsmessung voraus. Bei der Affordanz in der Wissenskooperation („to afford“ = anbieten) werden die Rahmenbedingungen so geschaffen, dass Mitarbeiter zur Handlung (hier: Wissensaustausch) angeregt und ein kooperatives Verhalten gefördert wird. So laden beispielsweise Büros und Pausenräume zum Gespräch und Austausch ein, Sitzungen lassen genügend Zeit für den Austausch oder technische Angebote erleichtern den Wissenstransfer (z. B. Kollaborationstools, Portale). Zur Aktivierung von Mitarbeiterengagement dient auch eine Recherche nach innovativen Ansätzen der Führung, u. a. Transformationale Führung, Empowerment und Führung virtueller Teams (vgl. Schaffner 2015). Zu Frage 8 Beim Wissensmarkt-Konzept nach North geht es im Wesentlichen um die Festlegung eines konkreten Marktverantwortlichen, der als Wissensmanager die spezifischen Rahmenbedingungen (z. B. Organisation, Raumplanung, Technik) sowie „Spieler“ und Spielregeln (Wer kann/darf wie andere kontaktieren?) bestimmt. Zu seinen Aufgaben gehört auch, den Wissenstransfer aktiv zu gestalten. Es sind z. B. (anspruchsvolle) Ziele zu setzen und Ergebnisse/Erfolge zu messen (Wissenscontrolling). Auch müssen Wissenslandkarten erstellt (Wissensdomänen, Wissensträger, Wissenslücken etc.) und Anreizstrukturen geschaffen werden (Belohnungssystem, Gamification, Usability etc.).

Literatur Acatech. (Hrsg.). (2013). Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 – Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0. Frankfurt: Plattform Industrie 4.0. Drewer, P., & Ziegler, W. (2011). Technische Dokumentation. Würzburg: Vogel.

14  Servicemanagement im Maschinenbau als Prozessinnovation

261

Haric, P. (2018). Hidden Champions, Version 14.02.2018, 17:31. Gabler Wirtschaftslexikon. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/hidden-champions-54015/version-277074. Zugegriffen: 16. Aug. 2018. Lehner, F. (2012). Wissensmanagement – Grundlagen, Methoden und technische Unterstützung. München: Hanser. Moser, K. S. (2002). Erfolgreich Wissen teilen. Unimagazin, 2, 22–24. North, K. (2016). Wissensorientierte Unternehmensführung (6. Aufl.). Wiesbaden: Springer Gabler. Probst, G., Raub, S., & Romhardt, K. (2012). Wissen managen (7. Aufl.). Wiesbaden: Springer Gabler. Schaffner, M. (2015). Motivation und Führung. In D. Wagner (Hrsg.), Praxishandbuch Personalmanagement (S. 521–592). Freiburg: Haufe. Schaffner, M. (2017). Industrie 4.0 – eine Revolution auch für die Wissensarbeit in der Technischen Kommunikation. In M. Stumpf (Hrsg.), EUKO 2017 – Kommunikation und Digitalisierung. Proceedings zur 17. internationalen Tagung des Forschungsnetzwerkes Europäische Kulturen in der Wirtschaftskommunikation, Track 2 (S. 20–25). Essen: MA Akademie. Schaffner, M. (2018a). Technische Redakteure als Wissensmanager. In J. Hennig, & M. Tjarks-Sobhani (Hrsg.), Schriften zur Technischen Kommunikation. Band 23 „Nutzen für Produkt und Unternehmen durch Kompetenz der Technischen Redaktion“ (S. 155–170). Stuttgart: tcworld. Schaffner, M. (2018b): Industrie 4.0: Technische Redakteure werden zu Semantikmodellierern. In B. Hermeier, T. Heupel, & S. Fichtner-Rosada (Hrsg.), Arbeitswelten der Zukunft – Wie die Digitalisierung unsere Arbeitsplätze und Arbeitsweisen verändert (S. 107–129). Wiesbaden: Springer Gabler. Vahs, D. (2015). Organisation – Ein Lehr- und Managementlehrbuch (9. Aufl.). Stuttgart: SchäfferPoeschel. VDMA. (Hrsg.). (2018). Branchenportrait Textilmaschinen 2018. https://txm.vdma.org/maerktekonjunktur. Zugegriffen: 16. Aug. 2018. Wikipedia. (o. J.). Technische Dokumentation. https://de.wikipedia.org/wiki/Technische_Dokumentation. Zugegriffen: 16. Aug. 2018.

Prof. Dr.-Ing. Michael Schaffner  ist seit 2013 Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Organisationslehre, Technologie- und Innovationsmanagement, sowie wissenschaftlicher Studienleiter an der FOM Hochschule in Berlin. Als kooptierter Wissenschaftler forscht er am FOM Kompetenzzentrum für Technologie- und Innovationsmanagement (KCT) auf den Gebieten Industrie 4.0 und Wissensmanagement in Produktionsumgebungen und für Technische Dienstleistungen. Er ist Gründer und Inhaber der BIOS Dr.-Ing. Schaffner Beratungsgesellschaft mbH.

Vom Produkt- zum ServiceGeschäftsmodell

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Steffen Weimann und Sebastian Arnold

Inhaltsverzeichnis 15.1 Die Ära der Konzentration auf den Kunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.1 Servicetransformation? – Ein ganz normaler Tag!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.2 Vom Produkt zum Service. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.1.3 Ausgangssituation bei der Bengele Schweißtechnik GmbH. . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

264 265 267 269 278 279 284

Zusammenfassung

Die Ära der Konzentration auf den Kunden ist da. Das bedeutet ein radikales Umdenken für Produkthersteller – den Übergang für Unternehmen vom Produkthersteller zum Dienstleistungsanbieter. Vor allem der klassische Mittelstand ist davon betroffen, um auch zukünftig im Wettbewerb bestehen zu können. Aber wie kann eine so radikale Veränderung gelingen, ohne das bestehende Geschäftsmodell zu gefährden? Es bedarf einer neuen strategischen Ausrichtung, der Serviceorientierung der Organisation und Systeme, einer Veränderung der Unternehmenskultur und -werte, aber auch der Implementierung eines kundenzentrierten Innovationsmanagements. In der Folge verändert sich die Geschäftslogik hin zum Serviceangebot und neue S. Weimann ()  FOM Hochschule, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Arnold  Berglen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_15

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S. Weimann und S. Arnold

unabhängige Geschäftsmodelle entstehen als eigenständige Services auf der Ebene digitaler Plattformen. Im Vordergrund steht zukünftig der Nutzen als Werteversprechen und Ergebnis im Leistungserstellungsprozess. Die Bengele Schweißtechnik GmbH ist ein mittelständischer Investitionsgüterhersteller mit langjähriger Erfahrung in der Schweißtechnik, der weiß, wie man qualitativ hochwertige und technisch pfiffige Schweißgeräte baut. Doch die technische Vergleichbarkeit von Schweißgeräten und der allgemeine Wettbewerb haben stark zugenommen. In der Produktentwicklung wird es immer aufwendiger, Alleinstellungsmerkmale zu definieren, um das Angebot vom Wettbewerb abzuheben. Hermann Bartels, Inhaber der Bengele Schweißtechnik, ist sich der Notwendigkeit bewusst, das Geschäftsmodell seines Unternehmens neu auf die Bedürfnisse seiner Kunden auszurichten. Dazu hat er sich im Rahmen einer Situationsanalyse ein umfangreiches Bild gemacht und entsprechende Handlungsfelder identifiziert. Nun engagiert er Sie als Berater, um den Change-Prozess zu begleiten. Sie haben nicht viel Zeit, um sich in die Materie einzuarbeiten. Das Kick-off-Meeting bei Bengele ist nächsten Montag um 10 Uhr geplant. Nutzen Sie die Möglichkeit, um sich anhand von zehn zentralen Leitfragen und dazugehörigen Lösungshinweisen einzuarbeiten. Viel Erfolg!

15.1 Die Ära der Konzentration auf den Kunden „Jede Unternehmergeneration hat ihre ganz eigenen Herausforderungen. Leicht war es zu keiner Zeit. ‚Die Spreu vom Weizen trennt, wer Mut beweist und vorwärts denkt‘ – so das Credo des Firmengründers und Namensgebers der Bengele Schweißtechnik GmbH, Bernhard Engele. Als mein Vater die Firma von Bernhard Engele Ende der 80er übernahm, läutete das einen Generationenwechsel ein. Seine Motivation war, die Werte der Gründergeneration mit neuen Ideen in die Zukunft zu führen und weiterhin qualitativ hochwertige Produkte zu entwickeln. Jetzt ist es an mir. Ein flächendeckendes Händlernetz war bisher der Garant für den Verkauf und die Marktdurchdringung. Doch ich spüre, dass sich etwas grundlegend geändert hat. Die Ära der Konzentration auf den Kunden ist da. Es ist absolut dringlich, alle Bereiche der Organisation auf unsere Kunden auszurichten, um sie bei all dem Wettbewerb an uns zu binden. Unser Geschäftsmodell und unser Denken werden sich grundlegend verändern müssen – vom Produkt zum Service. Dazu gehören Mut und eine klare Strategie. Die Möglichkeiten der Digitalisierung müssen genutzt werden, um Lösungen für unsere Kunden zu schaffen.“ Hermann Bartels, Firmeninhaber der (fiktiven) Bengele Schweißtechnik GmbH in 2. Generation 2015.

15  Vom Produkt- zum Service-Geschäftsmodell

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15.1.1 Servicetransformation? – Ein ganz normaler Tag! Servicetransformation bezeichnet die Veränderung oder den Übergang eines Unternehmens vom Produkthersteller zum Dienstleistungsanbieter. Synonym wird diese Transformation in der Literatur unter anderem als Servitization bezeichnet. Das Serviceangebot als Gegenstand der Servicetransformation wird u. a. als Hybrid Offerings oder Leistungsbündel bezeichnet. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Schaffung eines Kundennutzens in der Kombination von Produkten und Dienstleistungen. Integrated Solutions oder Systemlösungen stellen individuelle, auf den Kunden zugeschnittene Lösung in den Vordergrund (Bruhn und Hadwich 2016, S. 9 f.).

„Der Wecker klingelt wie immer zu früh und reißt mich um 4:45 Uhr jäh aus dem Schlaf. Gut, dass es jetzt im Juli schon früh hell ist. Meine Frühschicht in der Schweißerei der Hopfenbacher GmbH & Co. KG beginnt um 6 Uhr. Dabei konnte ich sowieso nicht gut schlafen. Mit den Aufträgen hinken wir terminlich hinterher. Schon die vierte Woche, dass wir Überstunden im ganzen Betrieb fahren. Ich versuche, mich so leise wie möglich anzuziehen, damit ich Petra und die Kinder nicht wecke. Schnell noch einen Kaffee und dann los. Während der 20-minütigen Fahrt zur Arbeit gehen mir abermals die vor mir liegenden Arbeiten durch den Kopf. Mein Meister war die letzten Tage zunehmend schlecht gelaunt wegen der andauernden Status-Meetings mit der Betriebsleitung. Die wollen natürlich Lösungen und geben den Druck der Geschäftsführung weiter. Wenn es weiter Verzögerungen in den Lieferterminen gibt, dann drohen Vertragsstrafen. Klar, unsere Kunden haben ihrerseits Verpflichtungen ihren Kunden gegenüber. So setzt sich die ganze Kette fort. Da nützt es nichts, mit den technischen Problemen mit den Schweißgeräten, den Zulieferern und obendrein noch dem gestiegenen Krankheitsstand aufgrund der hohen Belastung in der Abteilung zu kommen. Was kann ich da machen, bin ja selbst nur ein kleines Rädchen im Ganzen. Mein Kollege hatte mir gestern vor Ende seiner Schicht noch eine Nachricht in WhatsApp zukommen lassen, dass „… die MIG/MAG Schweißanlage immer wieder aussteigt. Kannst erstmal in Ruhe Kaffee trinken :-)“. Der Servicetechniker war gestern schon da, hatte aber keine Ahnung. Soweit ich weiß, haben wir auch einen Service-Vertrag – aber was heißt das schon? Ich fahre pünktlich um 5:43 Uhr auf den Parkplatz, nehme meine Vespertasche und laufe in Richtung Umkleideschrank. Ich begrüße meine Schichtkollegen, ziehe mich im morgendlichen Ritual um, den linken Sicherheitsschuh zuerst, schnappe mir meine Getränkeflasche und auf in den Kampf. Ich habe Glück. Die Schweißanlage läuft und ich kann an meinem Projekt weiter arbeiten (Abb. 15.1)“. (Michael, 47 Jahre, erfahrener Schweißer der Hopfenbacher GmbH & Co. KG – Kunde der Bengele Schweißtechnik GmbH). „Die letzten zwei Tage Produktschulung waren wirklich interessant. Die neue Generation an Laser-Schweiß-Automaten bringt viele neue Features mit. Der Launch wird sich jedoch aufgrund der Liefersituation wichtiger Lieferanten um ein paar Wochen verzögern. Für uns im Support wird es dann gemeinsam mit den Händlern eine weitere Schulung zur Bedienung und Wartung geben. Ein paar Händler warten schon

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S. Weimann und S. Arnold

Abb. 15.1   Schweißarbeiten bei der Hopfenbacher GmbH & Co. KG, Endkunde der Bengele Schweißtechnik GmbH. (Quelle: Pixabay)

s­ ehnsüchtig auf die neuen Produkte. In den zwei Jahren, seit ich von der Produktion in den Support gewechselt bin, hat sich viel verändert. Mal schauen, was heute ansteht. Auf jeden Fall sind noch drei dringende Calls offen. Bei einem fehlt noch das Ersatzteil, der Techniker war schon vor Ort. Bei dem zweiten ist der Spezialist für das Gerät erst morgen verfügbar und beim Dritten hat der Händler Mist gebaut und den Kunden hängen lassen, weil er nicht das richtige Werkzeug hat. 08:03 Uhr – also erstmal einloggen in das System und einen Überblick verschaffen. Da das Ticket-System schon etwas älter ist, ist es nach wie vor mit viel Aufwand verbunden, die Historie der Geräte ordentlich zu verfolgen. Die Händler sind nicht angebunden, sodass die Kommunikation zu Kundenproblemen meist per E-Mail verläuft. Die Einführung eines neuen Ticket-Systems ist in Planung. Also erstmal E-Mails checken.“ (Anna, 32 Jahre, Support-Mitarbeiterin Bengele Schweißtechnik GmbH). Beispiel

Von: Thilo Häfele (Thilo.Hä[email protected]) Gesendet: 24.07. 07:04 An: [email protected] Betreff: Dringend: Ausfall MIG/MAG Schweißanlage Hopfenbacher GmbH & Co. KG Hallo, bitte veranlassen Sie dringend die Reparatur der Schweißanlage mit der Seriennummer 82934739.

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Es zeigt nach Info der Schweißer immer wieder die Fehlermeldung E012 und fällt mitten im Schweißbetrieb aus. Dann dauert es lange, bis es wieder einsatzbereit ist. Das Gerät haben wir erst vor 4 Jahren gekauft und wie Sie sicher wissen, haben wir immer öfter Schwierigkeiten damit. Wir sind auf die Geräte angewiesen. Unsere Kunden sind schon sauer, weil sich wegen der ständigen Störungen Liefertermine verzögern. Wenn das nicht bald behoben wird, dann stellen wir Ihnen die Geräte auf den Hof und wechseln den Hersteller. Ach, und schicken Sie bitte nicht mehr den Techniker vom letzten Mal, der hat keine Ahnung. Thilo Häfele Produktionsplanung Hopfenbacher GmbH & Co. KG

15.1.2 Vom Produkt zum Service Das Ergebnis im Leistungserstellungsprozess eines Produktherstellers ist ein Produkt. Das Ergebnis im Leistungserstellungsprozess eines Dienstleisters ist ein generierter Nutzen. Der im Rahmen der Service-Dominat Logic1 charakterisierte Nutzen von Dienstleistungen ist spezifisch, erfahrungsbezogen, kontextbezogen und von subjektiver Bedeutung (Lusch und Vargo 2006).

Die besondere Rolle des Kunden oder Konsumenten ergibt sich aus den konstitutiven Merkmalen von Dienstleistungen, allen voran der „Untrennbarkeit von Produktion und Konsumption“ und damit der Integration des externen Faktors in den Leistungserstellungsprozess. Diese Integration, auch Co-Creation genannt, mündet in einer Abkehr von klassischen Rollen und einer stärkeren Einbeziehung der Kunden in den Werterstellungsprozess. Der generierte Nutzen wird als Werteversprechen eines Unternehmens formuliert und umfasst im Wesentlichen die Unterstützung der wertschöpfenden Aktivitäten des Kunden (Tab. 15.1) (vgl. Böhmann et al. 2013). Kunden wollen heute Teil der Geschichte werden, die Unternehmen erzählen. Sie lösen zwei Drittel der Interaktionen im Marketing von Organisationen aus, nur ein Drittel wird noch vom Unternehmen selbst bestimmt. Kaufentscheidungen werden auf unterschiedliche Weise über unterschiedliche Kanäle getroffen. Auch im Service und in der Nutzungsphase von Produkten spielt die Interaktion über viele Kanäle eine entscheidende Rolle. Die Möglichkeiten der Digitalisierung bedeutet eine völlig neue Ära. Kunden denken nicht in Kanälen, sondern in Bedürfnissen und bestimmen ihren Interaktionsbedarf selbst (Andreas Heiz, SAS, und Björn Bloching, Roland Berger).

1Die

Service-dominant Logic kennzeichnet zudem einen Paradigmenwechsel von der Industriellen Ära hin zu einer Service-Ära.

268

S. Weimann und S. Arnold

Tab. 15.1  Unterschiede zwischen Produkt- und Serviceorientierung. (Quelle: in Anlehnung an Böhmann et al. 2013, S. 10) Produktorientierung

Serviceorientierung

Werteversprechen Bereitstellung wertschöpfender Ressourcen

Unterstützung der wertschöpfenden Aktivitäten

Geschäftslogik

Unterstützung von Prozessen, die beim Kunden einen Mehrwert generieren

Bereitstellung von Ressourcen für den Einsatz beim Kunden

Rolle des Kunden Einziger werterstellender Akteur

Co-Producer, Co-Creator

Rolle des Unternehmens

Produzent und Anbieter von Gütern Anbieter eines Leistungsprozesses, als Ressource für den Kunden Co-Producer und Co-Creator in den Kundenprozessen

Perspektive

Ressourcen, die vom Kunden einEin Prozess, bei dem Ressourcen zur gesetzt werden, um einen Mehrwert Unterstützung der wertschöpfenden zu generieren Prozesse des Kunden eingesetzt werden

Kunden sollten entlang der Integration in den Leistungserstellungsprozess, die sich für sie als Customer Journey, also als Reise durch die vom Unternehmen erstellte Dienstleistung darstellt, erfasst und verstanden werden. Dazu ist die intelligente Erfassung und Verknüpfung von Daten unerlässlich. Niemals zuvor war es unter Einsatz von verfügbaren Technologien und Systemen möglich, entsprechende Daten über alle Kanäle zu erfassen, um daraus einen Kundennutzen zu generieren. (vgl. SAS und Roland Berger GmbH 2018). Ein Geschäftsmodell enthält Aussagen darüber mit welcher Kombination an Faktoren die Geschäftsstrategie eines Unternehmens umgesetzt werden soll. Dabei bildet das Geschäftsmodell (Business Model) in stark vereinfachter Form den innerbetrieblichen Leistungserstellungsprozess und die Transformation der dabei eingesetzten Ressourcen in marktfähige Informationen, Produkte oder Dienstleistungen ab. Der Geschäftsmodell-Ansatz kann bei systematischer und zielgerichteter Anwendung den unternehmerischen Erfolg verbessern (Wirtz 2018, S. 4).

Europäische Firmen zeichnen sich durch hervorragende technologische Produkte und Prozessinnovationsfähigkeit aus. Immer wieder versäumen Unternehmen jedoch, ihr Geschäftsmodell anzupassen, und verlieren Wettbewerbsvorteile oder verschwinden ganz vom Markt. Prominente Beispiele dafür sind AEG, Grundig, Nixdorf und Agfa. Produktund Prozessinnovationen bleiben nach wie vor wichtig, jedoch sind Innovationen im Geschäftsmodell ein wichtiger Hebel für das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit, mit höherem Erfolgspotenzial für das innovierende Unternehmen (vgl. Gassmann et al. 2017, S. 4 f.).

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15.1.3 Ausgangssituation bei der Bengele Schweißtechnik GmbH Servicetransformation im Maschinen- und Anlagenbau Aktuell befinden sich viele Maschinen- und Anlagenbauer im Wandel vom reinen Maschinen- zum Lösungsanbieter (Abb. 15.2). Ergebnisse von Studien zeigen, dass viele Betriebe das Potenzial von Serviceangeboten erkannt haben. Sie haben realisiert, dass innovative Services als strategisches Geschäftsfeld zum Schlüssel für unternehmerischen Erfolg werden. Ein ganzheitliches Vorgehen ist notwendig, bei dem vor allem eine Servicestrategie und neue Geschäftsmodelle entwickelt werden. Eine Befragung bei 154 Maschinenbau-Unternehmen, von denen 53 % mehr als 500 Mitarbeitende haben, ergab u. a. folgende Erkenntnisse (vgl. Staufen AG 2016): • 92 % der Unternehmen stufen das Servicegeschäft als wichtig oder sehr wichtig für den Unternehmenserfolg ein. • In den nächsten Jahren erfolgt eine Verschiebung der Umsatzverteilung zugunsten des Servicegeschäfts von zehn bis 20 % auf 20 bis 30 %. • Die Top-5-Themen, die in den nächsten Jahren besonders intensiv verfolgt werden, sind: – Verbesserung der Prozess- und Reaktionsgeschwindigkeit: 51 % – Erhöhung der Kundenbindung: 49 % – Ausbau des Serviceportfolios: 44 % – Qualifizierung von Servicemitarbeitern: 37 % – Industrie-4.0-Lösungen im Service: 35 %

Abb. 15.2   Der Wandel vom reinen Produkt- zum Lösungsanbieter. (Quelle: In Anlehnung an Staufen AG 2018)

270

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Digitale Transformation im Maschinen- und Anlagenbau Laut VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau) treibt der Maschinenbau den digitalen Wandel voran – bis dato vor allem in der Produktion, sollen künftig auch neue Geschäftsmodelle folgen. Digitale Plattformen samt entsprechender Ökonomie sollen dem Maschinenhersteller zusätzliche Wertschöpfung durch Digitale Services bringen (Roland Berger GmbH und VDMA 2018).

Neue Herausforderer im Bereich Digitale Plattformen aus Silicon Valley und China stellen zunehmend hiesige Geschäftsmodelle infrage, die seit ein paar Jahrzenten gut funktionieren. Für Unternehmer ist es schwer zu akzeptieren, dass ihr Geschäft plötzlich auf dem Prüfstand steht. Gleichzeitig scheint es schwierig, die veränderten Kundebedürfnisse auch als neue digitale Geschäftsmodelle zu verstehen. Sicher haben viele kleine und mittelständische Unternehmen Digitalisierungsoffensiven gestartet. Diese konzentrieren sich bislang jedoch auf bestehendes Geschäft oder die Modernisierung der IT-Infrastruktur und der Anwendungen (vgl. Etventure 2018). Digitale Plattformen wie Google, Facebook, Alibaba oder Laserhub (Abb. 15.3) dagegen schaffen im Wesentlichen drei Arten von Mehrwerten mit ihren Plattform- und Geschäftsmodellen (vgl. Roland Berger GmbH und VDMA 2018): • Senkung der Transaktionskosten durch vereinfachte Interaktion in der Vermittlung zwischen Angebot und Nachfrage oder Ermöglichung ganz neuer Transaktionen • Generierung von spezifischen Kundennutzen • Finden des besten Angebots für den individuellen Bedarf

Abb. 15.3   Laserhub – Plattform für Blechbearbeitung. (Quelle: Laserhub 2019)

15  Vom Produkt- zum Service-Geschäftsmodell

271

Abb. 15.4   Ergebnisse digitale Transformation. (Quelle: In Anlehnung an Etventure 2018)

Wie lassen sich abseits vom bestehenden Geschäft eigenständige Geschäftsmodelle auf Plattformebene bauen oder das bestehende Geschäftsmodell maßgeblich verändern? Alles fängt beim Bewusstsein an und mündet in der Fähigkeit, neue Services auf digitaler Basis in das bestehende Geschäftsmodell zu integrieren oder sie zu erweitern. Eine Studie zum Thema Digitalisierung unter Entscheidungsträgern von 2000 deutschen Unternehmen mit einem Mindestumsatz von 250 Mio. EUR zeigt Abb. 15.4. Die Bengele Schweißtechnik GmbH Die Bengele Schweißtechnik GmbH ist ein mittelständischer Industriegüterhersteller für Schweißgeräte und schweißtechnische Automatisierungslösungen mit Hauptsitz in Süddeutschland. Mit viel Leidenschaft, technischem Know-how und Innovationswillen hat sich die Firma zu einem der führenden europäischen Hersteller für Schweißgeräte mit Lichtbogenschweißverfahren entwickelt und beschäftigt international rund 250 Mitarbeiter. Gegründet von Bernhard Engele blickt das Unternehmen auf eine über 60-jährige Firmengeschichte zurück. Kleine Stückzahlen, ein limitiertes Produktangebot und ein ausgeprägter Fokus auf regionale Kunden, wie etwa Schlossereien und kleine handwerkliche Betriebe, prägten die frühen Unternehmensjahre. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde das Produktprogramm kontinuierlich weiterentwickelt. Zusätzliche Schweißverfahren und neue Technologien fanden Einzug in das Produktangebot. Als Absatzweg für die Schweißgeräte entschied sich die Unternehmensleitung für einen indirekten Vertriebsweg über die Zusammenarbeit mit Schweißfachhändlern, die bis heute das Geschäftsmodell des Unternehmens prägen und deren Verkäufe die Haupteinnahmequelle darstellen. Auch Wartungs- und Reparaturdienstleistungen werden größtenteils in Kundennähe über die

272

S. Weimann und S. Arnold

Servicewerkstätten der Schweißfachhändler geleistet. Unterstützt werden sie von der Bengele Schweißtechnik GmbH etwa durch einen technischen Helpdesk, die Bereitstellung von Servicehandbüchern und regelmäßige Produkt-Service Schulungen. Abb. 15.5 zeigt beispielhaft das produktorientierte Geschäftsmodell der Bengele Schweißtechnik GmbH. Kennzeichnend ist, dass das materielle Produktangebot den wesentlichen Bestandteil der Leistungserbringung ausmacht. Konventionelle produktbegleitende Services ergänzen das Sachgüterangebot u. a., um deren Verkauf zu fördern und zusätzliche Erlöse über die Dauer der Produktnutzung zu erwirtschaften (vgl. Bruhn und Hadwich 2016, S. 9). Ende der 1980er-Jahre übernahm die heutige Eigentümerfamilie Bartels das Unternehmen vom einstigen Firmengründer. Seitdem wird der Betrieb von Hermann Bartels in der zweiten Generation geführt. Auch in den Folgejahren blieben Handwerks- und Wertstattbetriebe die Hauptzielgruppe für Bengele Schweißgeräte. Der direkte Kontakt mit Endanwendern war nach wie vor gering, da diese hauptsächlich von den Schweißfachhändlern betreut wurden. Dies änderte sich, als die Geschäftsführung zur Jahrtausendwende die strategische Entscheidung traf, Bengele Schweißgeräte zukünftig auch für Industriebetriebe attraktiv zu machen. Die Geräte mussten den höheren technischen Produktanforderungen und Belastungen wie etwa größeren Fertigungsstückzahlen, Dauerbetrieb und komplexeren

Abb. 15.5   Traditionelle produktorientierte Geschäftsmodelllogik der Bengele Schweißtechnik GmbH

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­ chweißaufgaben im industriellen Umfeld gewachsen sein. Für Hermann Bartels hatte S die Weiterentwicklung des Produktprogramms daher oberste Priorität. Mit dem Ziel vor Augen, die langfristige Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs zu sichern, investierte er in den Folgejahren in die Entwicklung leistungsstarker, intelligenter Schweißgeräte und die Erschließung zusätzlicher Geschäftsfelder. Heute sind die Kunden der Bengele Schweißtechnik GmbH in den unterschiedlichsten Branchen tätig, etwa Landmaschinenbau, Schienentransport, Schiffsbau, Druckbehälterbau, Stahlbau sowie Anhänger- und Sonderteilefertigung. Sie haben die Wahl zwischen drei Lichtbogenschweißverfahren, namentlich Elektrodenschweißen, Metall-Inertgas-/Metall-Aktivgasschweißen (MIG/MAG) und Wolfram-Inertgasschweißen (WIG). Diese besitzen je nach zu verschweißenden Werkstoffen, Festigkeitsanforderungen, Optik oder Wirtschaftlichkeit spezifische Vor- und Nachteile (vgl. Fahrenwaldt et al. 2014). Das Produktprogramm umfasst mittlerweile die folgenden fünf Kernbereiche: 1. Kompakte, tragbare Schweißgeräte für den Einsatz im Handwerk 2. Leistungsstarke Schweißgeräte für die industrielle Fertigung 3. Produkte zur Automatisierung von Schweißaufgaben und Roboterintegration 4. Systeme zur Schweißdatenüberwachung 5. Zubehör (Schweißbrenner, Helme, Handschuhe, Schweißzusatzwerkstoffe) Darüber hinaus beobachtet Hermann Bartels im verarbeitenden Gewerbe auch einen zunehmenden Bedarf für schweißtechnische Beratungsdienstleistungen. Das reine Verkaufen von Schweißgeräten genügt nicht mehr, um die gestiegenen Kundenanforderungen zu erfüllen. Insbesondere immer mehr Industriekunden der Bengele Schweißtechnik GmbH erwarten, dass sie auch bei der Optimierung ihrer Fertigungsprozesse unterstützt werden. Kundenanfragen zu Machbarkeitsstudien, Werkstoffprüfungen, die Programmierung individueller Schweißkennlinien und Finanzierungsoptionen für Schweißgeräte gehören zur Tagesordnung. Hinzu kommen die gestiegene technische Komplexität der Produkte, etwa im Bereich Automatisierung und Roboterintegration, sowie die Vielfalt an Schweißanwendungen und Werkstoffen. Dies spüren auch die Handelspartner. Insbesondere bei der Umsetzung komplexer Kundenprojekte ist immer öfter auch Bengele in die Planung und Inbetriebnahme vor Ort involviert. Insgesamt ist der Beitrag, den Services aktuell zum Unternehmenserfolg leisten, gering, wie die Umsatzauswertung in Abb. 15.6 veranschaulicht. Bei Bengele liegt diese Entwicklung nicht zuletzt daran, dass dem Dienstleistungsgeschäft nicht zugetraut wurde, einen signifikanten Beitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten. Zum Beispiel erfüllten im Vertrieb Dienstleistungen lange Zeit vor allem die Funktion, den Kunden den Kauf eines Schweißgerätes schmackhafter zu machen, z. B. in Form einer kostenlosen Inbetriebnahme oder von Schulungsangeboten. Da sich mit Dienstleistungen mit Ausnahme des klassischen Servicegeschäfts, wie Reparaturen und Wartungen, kaum

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Abb. 15.6   Umsatzverteilung Bengele Schweißtechnik GmbH nach Leistungsangebot

Geld verdienen ließ, wurde dieser Bereich auch nicht mit dem gleichen Nachdruck gefördert und vermarktet wie das Produktprogramm. Darüber hinaus stellen auch Diskussionen und Entwicklungen rund um Industrie 4.0 die Schweißbranche und Gerätehersteller wie Bengele vor neue Herausforderungen. Vereinfacht ausgedrückt verkörpert das Konzept Industrie 4.0 die Vernetzung von technischen Systemen im Produktionsumfeld (z. B. Fertigungsmaschinen) die über das „Internet der Dinge“ in Echtzeit miteinander kommunizieren (vgl. Bauernhansel et al. 2016, S. 6). Der nachfolgende Ausschnitt aus einem Fachartikel verdeutlicht beispielhaft den damit verbundenen Wandel in der Schweißtechnik. Digitale Transformation als Entwicklungsmotor für Schweißsysteme (…) der Fokus von Stromquellenherstellern verändert sich (…): Während jahrzehntelang die Umwandlung von Strom der Schlüssel zum Erfolg war, ist es heute die Digitalisierung des Schweißprozesses. In Zukunft sind Kommunikation, Echtzeit-Datenkontrolle, Datenspeicherung, Cyber-Sicherheit und intelligente Mensch-Maschinen-Interfaces die treibenden Kräfte in der Entwicklung. Software-Tools, die zum Beispiel Parameter optimieren oder Verschleißteile managen, werden eine dominantere Rolle spielen. Die Hardware hingegen rückt in den Hintergrund. Dass sie fehlerfrei funktioniert, ist allerdings nach wie vor Voraussetzung (MM MaschinenMarkt 2017).

Für Hermann Bartels steht fest, dass sich das Unternehmen mittelfristig nicht mehr allein über die technischen Produkteigenschaften seiner Schweißgeräte am Markt behaupten können wird. Mit dem folgenden Schreiben richtet er sich daher umgehend an das Managementteam, indem er den akuten Handlungsbedarf zusammenfasst.

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Beispiel

Von: Hermann Bartels ([email protected]) Gesendet: 28.07. 13:04 An: managementteam Betreff: Einladung zum Strategie Review Werte Kolleginnen und Kollegen, wenn ich einem ein potenziellen Neukunden Bengele vorstelle, dann beschreibe ich uns gerne als mittelständischen Investitionsgüterhersteller mit langjähriger Erfahrung in der Schweißtechnik, der weiß, wie man qualitativ hochwertige und technisch pfiffige Schweißgeräte baut. Gleichzeitig erleben wir, dass die technische Vergleichbarkeit von Schweißgeräten und der allgemeine Wettbewerb in der Branche stark zugenommen haben. In der Produktentwicklung wird es für uns immer aufwendiger, Alleinstellungsmerkmale zu definieren, um unser Angebot vom Wettbewerb abzuheben. Und die teils hohen Preisnachlässe, die wir gewähren müssen, sind schmerzhaft (…). Die Zukunft dieses Unternehmens sehe ich in einer serviceorientierten Ausrichtung unseres Geschäftsmodells. Anstelle der reinen Bereitstellung unserer Produkte rücken wir den Kundennutzen und die Unterstützung deren Wertschöpfungsprozesse in den Vordergrund. Ein wichtiges Element auf dem Weg zum Dienstleistungsanbieter besteht darin, dass wir unser Produktangebot zielgerichtet mit Dienstleistungen kombinieren. Und die voranschreitende digitale Transformation eröffnet uns vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung innovativer digitaler Services, um die Produktivität unserer Kunden zu steigern. Lassen Sie uns mit diesem Schritt die Weichen stellen, damit unsere Kunden uns zukünftig als bevorzugten Lösungspartner rund um das Thema Schweißen wahrnehmen und wir sie für eine langfristige Zusammenarbeit mit Bengele begeistern können. Ich möchte nicht verschweigen, dass dieser Schritt einen Kraftakt darstellt. Sowohl unser Geschäftsmodell als auch unser Selbstverständnis, die Rolle unserer Partner im Fachhandel und die gesamte Organisation werden sich nachhaltig verändern müssen. Mit freundlichen Grüßen Hermann Bartels Geschäftsführender Gesellschafter Unternehmensstrategien beinhalten konkrete Zielsetzungen, die ein Betrieb anstrebt. Mithilfe von Geschäftsmodellen werden Strategien konkretisiert und Optionen entwickelt, wie diese Ziele erreichen werden können. Die anschließende operative Umsetzung des Geschäftsmodells erfolgt über die Festlegung weiterer Maßnahmen (Schallmo 2013, S. 43).

In der Praxis wird beobachtet, dass produzierende Unternehmen unterschiedliche Wege einschlagen können, wenn es um die Erweiterung ihrer Dienstleistungsaktivitäten geht. Einige behalten ihr produktorientiertes Geschäftsmodell und erweitern dieses um konventionelle Services. Andere wiederum entwickeln Services, die weitestgehend nicht mehr mit dem materiellen Produktangebot in Verbindung stehen (vgl. Baines und Lightfoot 2013, S. 5).

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In der Literatur werden diese unterschiedlichen Entwicklungspfade gerne am Beispiel eines Produkt-Service-Kontinuums veranschaulicht (Abb. 15.7). Es wird angenommen, dass der Stellenwert von Dienstleistungen im Leistungsangebot und oftmals auch deren Komplexität zunimmt, je weiter sich das Unternehmen entlang des Kontinuums nach rechts bewegt (vgl. Fließ und Lexutt 2016, S. 53). Ob der Abschluss eines Abonnements für einen Online-Streaming-Dienst, Leasing eines Fahrzeugs, Garantieverlängerung oder ein neuer Mobilfunkvertrag – Dienstleistungen haben vielfältige Formen. Eine Möglichkeit, unterschiedliche Dienstleistungsarten (Abb. 15.8) voneinander abzugrenzen, bietet die Einteilung in Base Services, Intermediate

Abb. 15.7   Produkt-Service-Kontinuum. (Quelle: in Anlehnung an Oliva und Kallenberg 2003, S. 162; Tukker 2004, S. 248)

Abb. 15.8   Dienstleistungsarten. (Quelle: in Anlehnung an Baines und Lightfoot 2013, S. 68)

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Services und Advanced Services. Base Services sind Aktivitäten, die hauptsächlich der Bereitstellung von Produkten dienen. Intermediate Services indes zielen darauf ab, die Funktionsfähigkeit der erworbenen Produkte über die Nutzungsdauer sicherzustellen. Der Hauptnutzen von Advanced Services aus Kundensicht besteht darin, dass Kunden oftmals nicht mehr das physische Produkt erwerben, sondern stattdessen ein definiertes Leistungsversprechen bzw. Ergebnis. Der Anbieter trägt eine größere Verantwortung für die Zuverlässigkeit seiner Produkte und nimmt damit auch mehr Risiko im Falle eines Ausfalls auf sich. Mehrjährige Laufzeiten und regelmäßige Erträge sind typische Eigenschaften von Advanced Services (vgl. Baines und Lightfoot 2013, S. 64–68). So verlockend die Entwicklung von einem stark produktorientierten Unternehmen hin zu einem Dienstleistungsanbieter auch ist, mehrere Studien haben bereits belegt, dass dieser Transformationsprozess mit diversen Herausforderungen verbunden ist (vgl. Baines et al. 2013; Brax 2005; Gebauer et al. 2005; Oliva und Kallenberg 2003). Nachdem sich Hermann Bartels und sein Team ein umfassendes Bild von der aktuellen internen und externen Unternehmenssituation verschafft haben und die strategische Stoßrichtung feststeht, machen sie sich deshalb daran, Handlungsfelder für eine erfolgreiche Servicetransformation bei Bengele abzuleiten. Abb. 15.9 zeigt beispielhaft eine Auswahl potenzieller Hürden für Produkthersteller. Herrmann Bartels sieht die Zukunft des Unternehmens in der serviceorientierten Ausrichtung des vorhandenen Geschäftsmodells. Dieses soll entlang der Handlungsfelder

Abb. 15.9   Herausforderungen der Servicetransformation. (Quelle: Baines und Lightfoot 2013; Fließ und Lexutt 2016; Gebauer et al. 2005)

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behutsam, aber dennoch konsequent neu ausgerichtet werden. Die Handlungsfelder sind bekannt und der Weg soll weiter in Richtung Produkt-Service-Kontinuum beschritten werden. Dabei ist dem Management bewusst, dass die Kundezufriedenheit und die Produktqualität und eine solide Finanz-Situation weiterhin Basis für eine erfolgreiche Transformation sind. Deshalb gilt ein kritisches Augenmerk den Qualitätssicherungssystemen und Kundenzufriedenheitsabfragen. Hierzu wendet Bengele seit Jahren die Balanced Scorecard (BSC) an, um Ziele zu erreichen und den Unternehmenserfolg zu sichern (vgl. Scheibeler 2004). Um die Transformation von extern begleiten zu lassen und sich Erfahrung zur Servicetransformation in die Organisation zu holen, engagiert er Sie als externe Beraterin bzw. externen Berater. Arbeiten Sie sich möglichst schnell in die Materie ein. Nutzen Sie dazu die folgenden Fragen. Das Kick-off-Meeting bei Bengele ist nächsten Montag um 10:00 Uhr mit Herrn Bartels und den Verantwortlichen geplant. Viel Erfolg!

15.2 Fallstudienfragen 1. Bitte definieren Sie den Begriff „Service“ anhand der spezifischen Charakteristika in Abgrenzung zu Produkten. 2. Bitte reflektieren Sie allgemein die Implikationen der Charakteristika von Services für die Unternehmensorganisation und Kunden. 3. Bitte setzen Sie sich näher mit dem Servitization-Ansatz (Servicetransformation) auseinander. Was sind mögliche Beweggründe für produzierende Unternehmen, eine servicebasierte Unternehmensstrategie zu verfolgen? 4. Vor welchen Herausforderungen steht die Bengele Schweißtechnik GmbH im Rahmen der Servicetransformation? 5. Wo steht die Bengele Schweißtechnik GmbH im Kontext der Servitization? Woran machen Sie das fest? 6. Wer sind mögliche Stakeholder, an die die Services der Bengele Schweißtechnik GmbH gerichtet sind? 7. Wie können Bedürfnisse, Ziele und Wünsche der Stakeholder erfasst werden? 8. Was ist ein Geschäftsmodell, wie lässt sich ein Geschäftsmodell darstellen? 9. Bitte stellen Sie Geschäftsmodelle von Bengele auf Basis von Intermediate Services und Advanced Services aktuell und zukünftig mithilfe der Business Model Canvas dar. 10. Bitte entwickeln Sie im Rahmen der Ideengenerierung Service-Geschäfts modell-Ideen für die Bengele Schweißtechnik GmbH.

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15.3 Lösungshinweise Service-Orientierung, Konzentration auf Kundenbedürfnisse und das Denken in Geschäftsmodellen unter Einbezug der Möglichkeiten der Digitalisierung oder digitalen Transformation sind wertvolle Fähigkeiten für ein erfolgreiches Innovationsmanagement bei Dienstleistungen. Die folgenden Lösungshinweise geben lediglich eine Orientierung und beziehen sich auf die vorliegende Fallstudie im Rahmen der Servicetransformation eines Maschinenund Anlagenbauers. Darüber hinaus können die in der Fallstudie verwendeten Methoden und Tools auch in anderen Branchen Anwendung finden. Eine Einordnung in den jeweiligen Kontext sowie die Ergänzung um weitere Konzepte oder Erkenntnisse im B2B oder auch im B2C ist notwendig. „Service“ und „Dienstleistung“ werden gleichbedeutend verwendet. Zu Frage 1 In der Literatur haben sich grundlegende Merkmale von Services herausgebildet. In der englischen Literatur ist von „IHIP“ als Kürzel die Rede. IHIP steht für: • Intangibility (Unantastbarkeit oder Immaterialität) • Heterogeinity (Heterogenität) • Inseperability of Production and Consumption (Untrennbarkeit von Produktion und Konsum) auch „Uno-actu-Prinzip“. Dienstleistung findet nur dann statt, wenn der Konsument (Rolle in der Erbringung einer Dienstleistung) in den Leistungsprozess integriert wird. • Perishability (Vergänglichkeit) Im Rahmen der Servicetransformation bietet die Heterogenität Chancen, z. B. bezüglich der Individualisierung, und das „Uno-actu-Prinzip“ die Möglichkeit der Kundenintegration und Gestaltung von Kontaktpunkten im Leistungsprozess und damit der Kundenbeziehung. Für Hersteller von Gütern dienen Ihre Produkte als Einstiegspunkt für vielfältige Services. Im erweiterten Marketing-Mix für Dienstleistungen (7P) spielen Produkte und die physikalische Umgebung nach wie vor eine entscheidende Rolle. Zu Frage 2 Die Auswirkungen der Charakteristika von Services für die Unternehmensorganisation und Kunden sind weitreichend. Insbesondere zu folgenden Überlegungen: • Schwankungen in der Nachfrage – Die Produktion und der Konsum von Leistung erfolgen simultan. – Werden die Kapazitäten der Dienstleistungsproduktion am Spitzenbedarf ausgerichtet, ergeben sich Leerzeiten und daraus resultierende Leerkosten.

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– Die Orientierung an der Normalnachfrage führt zu überdurchschnittlich langen Wartezeiten. Die Folgen sind in der Regel andauernde Unzufriedenheit der Kunden und geringere Einnahmen durch ausbleibende Kundenbedienung. • Koproduktion = Ungleichartigkeit der Leistung – Der Kunde als externer Einflussfaktor vertritt mitunter individuelle Interessen und besitzt individuelle Fähigkeiten, die innerhalb des Dienstleistungsprozesses zu berücksichtigen sind. Bezogen auf den zeitlichen, mengenmäßigen und qualitativen Einbezug des externen Faktors ist eine Autonomie bei der Gestaltung des Dienstleistungsprozesses nicht möglich. – Die Produktion von Dienstleistungen ist u. a. wegen der Einbindung des Kunden in den Leistungsprozess heterogen. Im Gegensatz zur vorrangig homogenen Sachgüterproduktion sind hauptsächlich Menschen für das Gelingen der Dienstleistung verantwortlich. Somit müssen Dienstleistungsunternehmen die Vielseitigkeit des Menschen berücksichtigen. Diese äußert sich in der Qualifikation, im Auftreten und in der Motivation der Beteiligten bezüglich der Kunden und des Dienstleistenden. • Messbarkeit – Die Ergebnisse von Dienstleistungsprozessen sind aufgrund der Interaktion der Beteiligten und der Immaterialität nur eingeschränkt messbar. – Für Dienstleistungen ist die quantitative Ausprägung der Leistung, wie z. B. das Zählen der Kundenkontakte, ermittelbar. – Aussagen, beispielsweise wie viel Beratung letztendlich produziert (im Sinne von geleistet) wurde, sind nicht oder nur geringfügig gehaltvoll. – Bewertungen der qualitativen Ausprägung von Dienstleistungen stützen sich oftmals auf rein subjektive Eindrücke. Im Unterschied zu Sachgütern lassen sich für Dienstleistungen nur schwer objektive Kriterien zur Bildung eines Qualitätsurteils beobachten, festlegen und bewerten. Zu Frage 3 Produzierende Unternehmen können sehr unterschiedliche Beweggründe haben, warum sie eine serviceorientierte Ausrichtung ihres Geschäftsmodells anstreben. Suchen Sie im Fallstudientext nach Hinweisen, warum sich die Bengele Schweißtechnik GmbH für diesen Schritt entschieden hat. Tipp: Versuchen Sie, diese Gründe in Kategorien einzuordnen. Als Ausgangspunkt könnte sich beispielsweise eine Einteilung in drei Kategorien anbieten, die auch in der Literatur gerne verwendet werden: 1) ökonomische, 2) strategische und 3) marketingtechnische Gründe. Versuchen Sie, ergänzend auch aus der Literatur weitere Vorteile und Chancen zu identifizieren, die im Zusammenhang mit Servitization bzw. allgemein mit Dienstleistungen diskutiert werden.

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Zu Frage 4 Nutzen Sie die exemplarischen Handlungsfelder aus Abb. 15.9 als Orientierungshilfe und diskutieren Sie, inwieweit diese für die Bengele Schweißtechnik GmbH relevant sein könnten. Suchen Sie im Fallstudientext auch nach konkreten Hinweisen und Beispielen. Gibt es vielleicht darüber hinaus noch weitere Themenstellungen, die Hermann Bartels und sein Team berücksichtigen müssen? Ergänzende Denkanstöße: • Prüfen Sie, welchen Stellenwert Dienstleistungen aktuell bei Bengele haben. Werden sie den Kunden in Rechnung gestellt? Welche Erwartungshaltung könnte mit dem aktuellen Vorgehen bei den Kunden auf Dauer entstehen? • Wie schneidet Bengele mit einem Umsatzanteil des Servicegeschäfts von 3 % im Vergleich zu Ergebnissen aktueller Studien ab? • Wie beschreibt Hermann Bartels das heutige Selbstverständnis des Unternehmens? • Überlegen Sie, inwieweit die Mitarbeiter bei der Bearbeitung von Kundenvorgängen im Support durch Softwarelösungen unterstützt werden. Verfügen Sie über alle notwendigen Informationen, um Kunden optimal betreuen zu können? • Berücksichtigen Sie, dass die Schweißfachhändler die wichtigste Schnittstelle zwischen Bengele und den Endanwendern darstellen. Sie sind es, die das Produkt- und Dienstleistungsangebot des Unternehmens bewerben und Kunden auch in der Nachkaufphase betreuen. Wie wichtig ist es, die Fachhändler in die geplante serviceorientierte Ausrichtung des Geschäftsmodells einzubeziehen? Zu Frage 5 Nutzen Sie als Basis für Ihre Einschätzung das Produkt-Service-Kontinuum in Abb. 15.7. Beziehen Sie die vorhandenen Informationen zur historischen Entwicklung von Bengele und die Aussagen des Geschäftsführers in Ihre Überlegungen ein. Prüfen Sie, ob Services zu einem wesentlichen Bestanteil des Leistungsangebots von Bengele zählten oder zugespitzt formuliert als „notwendiges Übel“ betrachtet wurden. Stellen Sie auch Überlegungen dazu an, wie Kunden die aktuelle Serviceorientierung des Unternehmens möglicherweise wahrnehmen. Zu Frage 6 Gerade im B2B-Umfeld ist es oft schwierig herauszufinden, auf wen die Leistungen auf unterschiedlichen Ebenen ausgerichtet sein sollen, wer im Service-System einen Anspruch auf eine Leistung erhebt und welche Rollen und Beziehungen sie untereinander haben. Sind es im vorliegenden Fall die Anwender (Konsumenten) der Schweißgeräte, ist es der Betriebsleiter, die Geschäftsführung (Auftraggeber), die Produktionsplanung oder der Controller beim Kunden? Ist es sinnvoll, sich weiter in das System hineinzudenken und die Kunden der Kunden in die Überlegungen einzubeziehen? Am Ende sollen die Leistungen und die Kommunikation über den Nutzen in Form eines Werteversprechens

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genau auf die Zielgruppe ausgerichtet werden. Um einen Überblick zu bekommen, bietet sich beispielsweise die Erstellung einer Stakeholder-Map an. Zu Frage 7 Zur Erfassung von Bedürfnissen, Zielen und Wünschen ist es notwendig, sich ausreichend mit den „Trägern“ der Bedürfnisse zu beschäftigen und diese zu antizipieren. Natürlich steckt eine Menge Erfahrungswissen in der Organisation. Nach dem Motto: „Wir kennen unsere Kunden.“ Zusätzlich zur Nutzung von internen und externen Informationsquellen hat sich das „Persona“-Konzept etabliert. Dabei geht es um Nutzermodelle, die eine Zielgruppe im Sinne eines zielgruppenspezifischen statt produktorientierten Marketings charakterisieren. In der Analysephase können Personas gestützt durch qualitative und quantitative Methoden genutzt werden, um Zielgruppen genau zu erfassen und ein gemeinsames Bild zu Bedürfnissen und Zielen in der Organisation zu entwickeln. Im Betrieb dienen sie zum Soll-Ist-Abgleich. Zusätzlich dient der Kontext, in dem sich die Personas bewegen, zur Orientierung und Techniken wie das Re-Framing helfen dabei, Motivationen in einem völlig neuen Licht zu betrachten. Während Produktinnovationen oft wettbewerbsgerichtet sind, zielen zielgruppenfokussierte Innovationen auf einen besonderen Nutzen als Alleinstellungsmerkmal ab. Der Schweißer „Michael“ mit seinen demografischen Merkmalen und seinem beschriebenen Umfeld könnte beispielhaft zur Entwicklung einer Persona dienen. Eine kritische Diskussion über die Repräsentativität von Michael stellvertretend für die Zielgruppe „Schweißer“ kann als Ausgangspunkt dienen. Zu Frage 8 Geschäftsmodelle treten in Mustern wie z. B. mieten statt kaufen, Freemium, kostenlose Öllampen auf. Der Begriff des Geschäftsmodells hat sich historisch in der Mitte des letzten Jahrhunderts entwickelt. Geschäftsmodelle entstehen in einem Ökosystem oder Wertschöpfungsnetzwerk mit unterschiedlichen Akteuren wie Kunden und Partnern, unter Wettbewerbsbedingungen wie Technologiesprüngen und gesetzlichen Änderungen sowie im Rahmen von Trends wie Umwelt, Mobilität, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Die Unternehmensstrategie muss als serviceorientierte Strategie im Rahmen der Servicetransformation in das Geschäftsmodell implementiert werden. Geschäftsmodelle können auf Unternehmensebene, auf Bereichsebene oder auf Leistungsebene entwickelt werden. Dabei unterliegen Geschäftsmodelle einem Innovations- und einem Lebenszyklus. Für eine gemeinsame Vorstellung, zur Beschreibung, Visualisierung, Bewertung und Veränderung von Geschäftsmodellen hat sich neben anderen Ansätzen die BusinessModel-Ontologie von Osterwalder und Pigneur in vielen Bereichen etabliert.

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Zu Frage 9 Nutzen Sie für eine Gegenüberstellung und Visualisierung der Geschäftsmodelle die Business Model Canvas von Osterwalder und Pigneur. Stellen Sie Überlegungen zu Abhängigkeiten innerhalb des jeweiligen Geschäftsmodells an. • Überlegungen zur Kundenseite des Geschäftsmodells: – Stellen Sie Überlegungen zu Werteversprechen an, die sich mit den angebotenen Intermediate und Advanced Services verändert haben. – Prüfen Sie, ob damit weitere Zielgruppen erschlossen werden können. – Diskutieren Sie die Auswirkungen auf die Erlösmechanik und Möglichkeiten der Preisgestaltung. – Welche Auswirkungen auf die Kundebeziehung ergeben sich aus den Veränderungen und welche zusätzlichen Kanäle können genutzt werden? • Überlegungen zur Organisation und Leistungserstellung: – Wie verändert sich die Organisation in Verbindung mit Partnern? Welche Auswirkungen hat dies auf die Zusammenarbeit mit dem indirekten Vertriebskanal? – Welche neuen Partnerschaften im Wertschöpfungsnetzwerk sind kritisch für das Geschäftsmodell? – Mit welchen Aktivitäten und Ressourcen wird die Einlösung des Werteversprechens sichergestellt? – Wie wirkt sich die veränderte Organisation auf die Kosten im Unternehmen aus und welche Vorteile ergeben sich daraus für die Kunden? Zu Frage 10 Als Basis zur Ideengenerierung können die aus Personas entwickelten Bedürfnisse dienen. Weiterhin können Kreativitätsmethoden wie Design Thinking oder Brainstorming und viele weitere dabei helfen, erste grundsätzliche Ideen zu sammeln. Bei der weiteren Bearbeitung von Ideen und der Nutzung von Methoden des Service-Designs wie z. B. eines Service-Blueprints, einer Customer Journey Map oder einer Value Map bringen einerseits weitere Ideen hervor und helfen andererseits, Ideen zu verifizieren. Weiterhin liefern diese Methoden wertvolle Hinweise zur Ausgestaltung der Geschäftsmodellbereiche. So können aus Service-Blueprints wertvolle Erkenntnisse zur Gestaltung der Kundebeziehung gewonnen werden. Das Value-Proposition-Design und die Value Map helfen bei der Formulierung des Werteversprechens und der Adressierung der Zielgruppen und deren Wünschen und Zielen. In einem iterativen Prozess können nun Geschäftsmodelle entworfen und weiterentwickelt werden, bis sich ein schlüssiges Bild ergibt. Bei der Bewertung und Auswahl unterschiedlicher Ideen kann ein Stage-Gate-Verfahren dienen. Orientierung können in der Literatur auffindbare Geschäftsmodellmuster geben. Bei Plattform-Geschäftsmodellen wie z. B. Multi-Sided-Plattformen liegt die besondere Herausforderung in der Einordnung der Rollen als Partner und Zielgruppen, der entsprechenden Ausrichtung des Werteversprechens sowie in der Erlösorientierung.

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Steffen Weimann  ist seit 2006 Unternehmer und gewann u. a. 2008 mit seinem Team den Innovationspreis der Initiative Mittelstand für ein neues Flatrate-Geschäftsmodell in der Kategorie IT-Service. Er ist seit 2012 FOM-Dozent für Dienstleistungsmarketing, Digitalisierung und Service Engineering & Maintenance an der Shenyang University (China) für die FOM German-Sino School of Business & Technology. Steffen Weimann ist Gründungsmitglied und Research Fellow des KCT KompetenzCentrum für Technologie- & Innovationsmanagement der FOM. Die von ihm gegründete Beratung SERVICELLE – REAL JOURNEYS unterstützt Produkthersteller und Dienstleister bei der Kundenfokussierung, Serviceorientierung, Servicetransformation, und Digitalisierung. Steffen Weimann studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Fachhochschule Heidelberg und Organisationspsychologie an der LudwigMaximilians-Universität München. Als verantwortlicher Manager Call Center und Leiter Kundenservice & Corporate-IT entwickelte und führte er interne und externe Service-Organisationen bei der Océ Deutschland GmbH und der Nemetschek AG. Sebastian Arnold  absolviert seit Februar 2018 an der University of Technology Sydney (UTS) ein Masterstudium mit Spezialisierung auf Supply Chain Management. Nach Abschluss seines Wirtschaftsingenieurstudiums an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart (DHBW) war er zunächst als Qualitätsmanagementbeauftragter bei der Lorch Schweißtechnik GmbH tätig. Von September 2014 bis Dezember 2017 absolvierte er ein Masterstudium im Fachbereich Technologie- und Innovationsmanagement an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management. Seine Abschlussarbeit schrieb er zum Thema Chancen und Herausforderungen der service-orientierten Geschäftsmodelltransformation für einen mittelständischen Produktionsbetrieb.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Innovationsprozess

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Philipp Wichert

Inhaltsverzeichnis 16.1 Vom schwäbischen Mittelstand zum integrierten Technologiemischkonzern. . . . . . . . . . 16.1.1 Die Wachstumsgeschichte von Eisenmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.2 Das Eisenmann-Fachexpertensystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1.3 Softwaregestütztes Technologieradar und Ideenmanagement. . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Eisenmann ist ein seit fast 70 Jahren nahezu ausschließlich organisch gewachsener Maschinen- und Anlagenbauer. Über die Zeit haben sich Technologien und Fachwissen immer weiter ausdifferenziert, sodass heute viele Querschnittsthemen existieren, die sich durch mehrere Unternehmensbereiche und Kundensegmente ziehen. Eine wichtige Aufgabe ist es, Synergiepotenziale zwischen den Bereichen zu heben und Austausch zu fördern, um effizient und effektiv innovative Produkte in einer immer komplexeren Welt auf den Markt bringen zu können. Zwei wichtige Aktivitäten von Eisenmann sind dabei das Fachexpertensystem und eine Softwareplattform für Technologieradar und Ideenmanagement. Sie sollen helfen, Informationsverteilung, Austausch und Zusammenarbeit über Bereichs- und Disziplingrenzen zu verbessern.

P. Wichert ()  Eisenmann Anlagenbau GmbH & Co. KG, Holzgerlingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_16

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16.1 Vom schwäbischen Mittelstand zum integrierten Technologiemischkonzern 16.1.1 Die Wachstumsgeschichte von Eisenmann Das Unternehmen Eisenmann SE mit Hauptsitz in Böblingen bei Stuttgart (Abb. 16.1) zählt zu den international führenden Anbietern von Anlagen und Dienstleistungen in den Bereichen Oberflächentechnik, Materialflussautomation, Thermoprozess- und Umwelttechnik. Seit mehr als 65 Jahren berät das süddeutsche Familienunternehmen Kunden in aller Welt und baut flexible, energieeffiziente und ressourcenschonende Anlagen nach individuellen Anforderungen für die moderne Produktion und Intralogistik. Mit 27 Standorten weltweit ist Eisenmann in den wichtigsten Märkten vertreten. Eisenmann beschäftigt 3200 Mitarbeitende (Stand 31.12.2016) und erzielte 2016 einen Umsatz von 862 Mio. EUR. Anlagenbau ist eine Business-to-Business Branche, in der Produktionsanlagen in jedem Projekt kundenspezifisch konfiguriert werden. Dabei wird meistens eine Kombination aus Standardkomponenten und individuell entwickelten Lösungen eingesetzt. Anlagen sind hochkomplexe Systeme, die aus einer Vielzahl verschiedenster Technologien bestehen. Die finale Ausgestaltung der Anlage findet erst nach Vertragsunterzeichnung statt und die Anlagennutzung soll meist so schnell wie möglich beginnen. Daher sind große Planungskompetenz, Reaktionsschnelligkeit und langjährige Erfahrung mit den technischen Systemen wichtige Eigenschaften von Eisenmann. Der Maschinenbauingenieur Eugen Eisenmann gründete 1951 in Stuttgart ein Ingenieurbüro und ein Jahr darauf eine eigene Fabrikation für die Fertigung von Holztrocknungsanlagen. Im darauffolgenden Jahr kamen Lackiereinrichtungen und Lack-Einbrennöfen hinzu (Abb. 16.3). Diese frühe Phase prägte die gesamte weitere Wachstumsgeschichte des Unternehmens. Grundsätzlich wurden mit fortschreitendem

Abb. 16.1   Eisenmann-Zentrale in Böblingen 1954. (Quelle: © mit freundlicher Genehmigung von Eisenmann)

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Abb. 16.2   Abgewandelte Ansoff-Matrix. (Quelle: in Anlehnung an Ansoff 1966, S. 132)

organischen Wachstum drei Richtungen verfolgt: die Entwicklung neuer Technologien für bestehende Märkte, die Diversifikation in an bestehende Produkte angrenzende Wertschöpfungsstufen (vertikale Diversifikation) und die Erschließung neuer Märkte mit bestehenden Kompetenzen (angrenzende Märkte) (Abb. 16.2). Eugen Eisenmann gründete sein Unternehmen in den Anfängen der Dritten Industriellen Revolution und konnte somit den Aufstieg der Automatisierung von industrieller Fertigung miterleben und mitgestalten. Daher zieht sich die automatisierte Anlagentechnik als Leitmotiv durch das gesamte Unternehmenswachstum und alle Bereiche. Die erste vertikale Erweiterung des Produktportfolios erfolgte in das Lackiergeschäft. Lackieranlagen und deren Peripherie zählen bis heute zum Kerngeschäft der Firma Eisenmann. Angefangen im Jahre 1953 mit Holzlackieranlagen, wurde schnell das lukrative Segment der Metalllackierung erschlossen. Durch technologische Innovationen konnten in diesem Segment große Fortschritte erzielt werden. 1964 wurde die erste – damals noch anodische – Elektrotauchlackieranlage (ATL) gebaut. Bald darauf lieferte Eisenmann die erste Pulverbeschichtungsanlage (1968). 1976 baute Eisenmann die erste kathodische Tauchlackieranlage Deutschlands. Bereits 1973 wurden zwei der weltweit größten Rohrbeschichtungsanlagen realisiert, eine davon mit dem ersten Epoxid-System in Europa. 1978

Abb. 16.3   Links: Eisenmann Holztrockner, 1952. Rechts: Eisenmann Lackierkabine, 1953. (Quelle: © mit freundlicher Genehmigung von Eisenmann)

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lieferte Eisenmann die weltweit erste Volltauch-Vorbehandlungsanlage für Autokarossen (Abb. 16.4). Die farbgebenden Schichten von Karosse und Anbauteilen werden nicht im Tauchverfahren aufgetragen, sondern gespritzt. Seit Ende der 1970er-Jahre liefert Eisenmann Spritzlackieranlagen für Karossen und Kunststoffanbauteile wie Stoßfänger. Seit den frühen 1980er-Jahren sind Lackieranlagen von Eisenmann bei fast allen bekannten Automobilherstellern im Einsatz. Die Automobil- und Zulieferindustrie bilden noch heute das wichtigste Kundensegment für Eisenmann. 1987 wurden Elektro-Tauchemaillieranlagen dem Portfolio hinzugefügt und zwei Jahre später Email-Einbrennöfen. Die Thermoprozesstechnik hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine lange Tradition bei Eisenmann. Die erste Anlage führt in das Ursprungsjahr 1952 zurück, als ein Trocknungsofen für Holz entwickelt wurde, um es schneller weiterverarbeiten zu können. Nach Einstieg in die Lackiertechnologie ein Jahr später konnte das Know-how über Ofentechnik direkt für die notwendigen Einbrennöfen zum Trocknen der lackierten Bauteile angewendet werden. Materialien auf unterschiedlichste Temperaturen zu erhitzen, ist eine der am vielseitigsten eingesetzten Kernkompetenzen von Eisenmann. Bereits 1968 wurde der angrenzende Markt der thermischen Abluftreinigung (TNV) erschlossen. Die nach dem Lackierprozess in der Abluft verbleibenden Lackreste, Lösemittel und andere Nebenprodukte müssen entsorgt werden, um die Umwelt zu schonen. Diese werden in einer TNV bei sehr hohen Temperaturen ausgebrannt. Durch die zahlreichen Einsatzmöglichkeiten der TNV in anderen Anwendungsfeldern (z. B. in der Chemieindustrie) wurde gleichzeitig der Weg in den Markt der Umwelttechnik geebnet. 1990 erschließt sich Eisenmann mit dem Bau von Brennlinien und Hochtemperaturöfen den neuen Kundenkreis der Keramikindustrie, darunter die bedeutendsten Hersteller von Porzellan, Sanitär- und technischer Keramik. Eine weitere Anwendung für niedrigere Temperaturen sind Oxidationsöfen für die Kohlefaserproduktion, die 2005 auf den Markt kommen. Vom Leichtbautrend konnte das Unternehmen außerdem durch Öfen für die Wärmebehandlung von Aluminium und Stählen profitieren. In den 1960er-Jahren eröffneten neue umwelttechnische Vorschriften weitere Potenziale für Eisenmann. Noch vor der bereits beschriebenen thermischen Abluftreinigung wurde 1962 die erste Anlage zur Abwasserentsorgung im Lackierprozess entwickeln. Ende der 1980er wurden neue Abluftreinigungstechnologien erfolgreich eingeführt: die

Abb. 16.4   Links: Eisenmann liefert die erste Karosserie-Volltauch-Vorbehandlungsanlage der Welt 1978. Rechts: Modernes Tauchsystem Eisenmann E-Shuttle. (Quelle: © mit freundlicher Genehmigung von Eisenmann)

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regenerative Nachverbrennung und das Adsorptionsrad, die sich durch deutlich höhere Energieeffizienz auszeichnen. Innovationen in der Abwasseraufbereitung ermöglichten den Einstieg in weitere Märkte wie die chemische Industrie oder Kläranlagen. Bereits 1982 unterstützte Eisenmann mit seiner Technologie die thermische Energiegewinnung aus Abfall. 2003 entwickelte Eisenmann seine Umwelttechnologie mit der Fertigung von Biogasanlagen entscheidend weiter. Anfang der 2000er-Jahre wurde mit der Munitionsentsorgung ein ungewöhnliches, aber dennoch technologisch nahes Geschäftsfeld erschlossen. Mit ausgefeilten thermischen Prozessen können konventionelle Munition sowie chemische und biologische Kampfstoffe unschädlich gemacht werden. Beispiel: Eisenmann-Anlage zur Energiegewinnung aus Klinikabfällen

Der Auftrag umfasste die Entsorgung von jährlich über 20.000 t Krankenhausabfällen sowie weiteren, zum Teil verpackten industriellen, gefährlichen Abfällen und 10.000 t Flüssigabfällen. Eisenmann hat mit dem Drehrohrofen, der Nachbrennkammer und dem Nassentschlacker das Herzstück der Anlage geliefert. Energetische Verwertung von Reststoffen war 2010 bereits lange Zeit ein Kompetenzbereich von Eisenmann (Abb. 16.5). Der Einstieg in die Entsorgung von Klinikabfällen brachte allerdings neue Herausforderungen mit sich. Die Krankenhausabfälle beinhalten z. B. infektiöse und biologische Stoffe, Nadeln, Laborabfälle und Verbandmaterialien. Die aus dem Drehrohrofen strömenden Rauchgase weisen aufgrund der Inhomogenität des in Boxen oder Fässern eingebrachten Abfalls stark schwankende Zusammensetzungen auf. Aus diesem Grund liefert Eisenmann eine leistungsfähige, ausgemauerte Nachbrennkammer, in der durch die gezielte Zugabe von Sekundärluft der vollständige Ausbrand der Rauchgase bei Temperaturen von mindestens 1100 °C sichergestellt werden kann. Durch den Mix aus festen und flüssigen Abfällen kann eine ideale energetische Verwertung der Abfallstoffe erreicht werden, daher spielte die Energiegewinnung bei diesem Projekt eine wichtige Rolle. Bei dieser Anlage wird aus der bei der Verbrennung entstehenden thermischen Energie mittels Dampfkessel und nachgeschalteter Dampfturbine 2,5 MW elektrische Energie erzeugt.

Abb. 16.5   Eisenmann Presseinformation vom 13. September 2010. (Quelle: Eisenmann 2010)

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Abb. 16.6   Links: Kreisförderer für den Lackierprozess, 1960. Rechts: Zweischienen-Bodenbahn. (Quelle: © mit freundlicher Genehmigung von Eisenmann)

Die zweite wegweisende vertikale Integration von Eisenmann war 1960 der automatische Kreisförderer für Lackieranlagen (Abb. 16.6). Bis heute zeichnet sich das Unternehmen durch innovative Fördertechniksysteme für den gesamten Lackierprozess aus. Automatisierte Fördertechnik ist der Grundstein für die industrielle Automatisierung und daher auch über den Lackierbereich hinaus ein wichtiger Kompetenzbereich von Eisenmann geworden, mit welchem viele weitere Märkte erschlossen wurden. 1981 konstruierte Eisenmann die erste Elektrohängebahn für Intralogistiksysteme. Weitere hängende und bodenmontierte Schienenbahnsysteme, z. B. für den Palettentransport, erweiterten sukzessive das Angebot. Fahrerlose Transport-Systeme (FTS) für die Automobilindustrie wurden erstmals 1983 eingeführt. 2003 baute das Unternehmen das größte und leistungsfähigste Hochregallager in Europa, das über 135.000 Palettenplätze beherbergt und 1,5 Mio. Paletten pro Jahr befördern kann. Über viele Jahre ist Eisenmann rein organisch gewachsen. Seit einiger Zeit werden zusätzlich Unternehmen gekauft oder ausgegründet, um das Portfolio abzurunden. Ergänzend zum Lackapplikationsportfolio wurden zwei Unternehmen erworben, die sich mit Klebetechnik, Hohlraumkonservierung und Dickstoffapplikation befassen. Dadurch kann eine weitere Wertschöpfungsstufe in der Automobilproduktion abgedeckt werden. Der Erwerb eines Spezialisten für Karbonisierungsöfen ergänzt die bestehenden Oxidationsöfen, sodass fortan die komplette Carbonfaserherstellung aus einer Hand angeboten werden kann. Zusammen mit anderen Branchenexperten wurde 2016 das Tochterunternehmen Telos Global gegründet, das die ganzheitliche Betrachtung der Herstellung pressgehärteter Stähle zum Ziel hat. So können die Ofenkompetenz und die Entwicklungserfahrung von Eisenmann in einem übergeordneten Kontext eingesetzt werden, um das Gesamtsystem zu optimieren. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung nehmen auch in der Fabrik der Anteil an der Wertschöpfung und die Komplexität digitaler Produkte und IT-Systeme zu. Den aktuellen Herausforderungen der digitalisierten Industrie begegnet Eisenmann mit seinem neu gegründeten Software-Start-up Enisco, das die Softwareaktivitäten rund um das eigene Produktionsleitsystem E-MES koordiniert und weiter vorantreibt. Damit wird das Ziel verfolgt, die intelligente Fabrik im Zeitalter von Industrie 4.0 Wirklichkeit werden zu lassen. Dieses historische Wachstum macht Eisenmann heute zu einem der weltweit führenden Systemanbieter mit einem breiten, sich über viele industrielle Branchen erstreckenden Portfolio an kundenspezifisch maßgeschneiderten Anlagen und Dienstleistungen.

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Abb. 16.7   Layout einer Automobilproduktion. (Quelle: © mit freundlicher Genehmigung von Eisenmann)

Lackieranlagen für Karossen, Felgen und Anbauteile wie Kunststoff-Stoßfänger sind die größten Geschäftsfelder von Eisenmann. Diese bieten alle notwendigen Komponenten für die Tauch- und Spritzlackierung, die Fördertechnik sowie alle peripheren Produkte beispielsweise zur Abluftreinigung, Abwasserreinigung und Lacktrocknung an (Abb. 16.7). Roboterbasierte Lackiertechnik, Klebetechnik, Hohlraumkonservierung und Dickstoffapplikationen als High-Tech-Felder des Unternehmens sind in einem separaten Geschäftsbereich aufgestellt. Darüber hinaus hat Eisenmann ein breites Angebot umwelttechnischer und hochtemperaturtechnischer Lösungen sowie Intralogistiksystemen. Für alle Anlagen werden Servicekonzepte angeboten, von Wartungsverträgen bis hin zu Full-Service- und Betreibermodellen. Das Produktionsleitsystem E-MES fungiert als Plattform nicht nur zur Anlagensteuerung, sondern darüber hinaus auch für neuartige Digitalprodukte wie Predictive Maintenance, Echtzeitüberwachung und Entscheidungsunterstützung. Als global aufgestelltes Unternehmen beliefert und betreut Eisenmann seine Kunden auf allen Kontinenten. Dies geht mit lokalen Anforderungen einher, was die Komplexität und Heterogenität des Produktportfolios weiter erhöht. Beispiel: Die Eisenmann VarioLoc

In der Automobillackierung werden heutzutage vorwiegend Rollenbahnen als Fördersystem verwendet, auf denen die Karosserien auf Stahl-Schlitten (Skids) laufen. Rollenbahnen sind inflexibel und erfordern einen hohen Investitionsaufwand. Durch die schweren Skids und die vielen benötigten Förderelemente sind die Betriebskosten hoch. Mit der VarioLoc führt Eisenmann ein für die Karossenfördertechnik revolutionäres neues System ein, das aber auf etablierten Produkten und Know-how aus dem Intralogistik-Bereich beruht (Abb. 16.8 und16.9). Erstmalig hat jetzt jede Karosse ihren eigenen Antrieb, sodass individuelle Taktzeiten und dynamische F ­ ahrweisen

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Abb. 16.8   Eisenmann Unternehmenszeitschrift DaVinci N°9, Mai 2016

Abb. 16.9   Eisenmann VarioLoc. (Quelle: © mit freundlicher Genehmigung von Eisenmann)

realisiert werden können. Neben der Flexibilität im Prozess erhöht sich auch die Flexibilität der Auslastung ohne Effizienznachteile, da sich nur so viele VarioLocs im System bewegen, wie Karossen produziert werden. Durch intelligente Sensorik, Ortungsmöglichkeit und wegweisende Steuerungstechnik kann sie auch als EnablerTechnologie für neue Servicegeschäftsmodelle (z. B. Pay per Use) fungieren.

16.1.2 Das Eisenmann-Fachexpertensystem Im Sonderanlagenbau werden in jedem Auftrag individuelle Kundenwünsche erfüllt. Keine Anlage gleicht der anderen. Über viele Jahre und in verschiedenen Bereichen

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angesammeltes Erfahrungswissen ist dabei von unschätzbarem Wert, um Auftragsumfänge schnell einschätzen zu können und die Übertragbarkeit von Erkenntnissen aus vorherigen Projekten zu prüfen. Eisenmann kann auf eine große Anzahl erfahrener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückgreifen und hat erkannt, dass deren Wertschätzung und die Förderung der Wissensweitergabe von großer Bedeutung sind. Durch das historische Wachstum kam es zu einer sehr starken Verflechtung von Wissen, Kompetenzen, Technologien und Märkten. Um Wertschätzung, Informationsfluss und die Synergiefindung gezielter umzusetzen, wurde 2011 das Eisenmann Fachexpertensystem gegründet. Ein Fachexpertensystem bietet Weiterentwicklungsmöglichkeiten für verdiente Mitarbeitende, die keine Aufstiegsmöglichkeit in eine Führungslaufbahn haben oder wahrnehmen wollen. Die Unternehmensleitung legte zusammen mit den Bereichsleitungen strategisch relevante Themen fest, die mehrere Bereiche berühren. Die Bestimmung geeigneter Expertinnen und Experten für das jeweilige Thema war in den meisten Fällen nicht schwer, da viele Kandidatinnen und Kandidaten bereits große Bekanntheit und Reputation in Spezialgebieten erreicht hatten. Durch die Verleihung von Titeln, Prämien und Benefits wurde ihre Rolle als Experte auch ohne hierarchische Linienfunktion hervorgehoben. Eine Herausforderung für das Expertensystem war allerdings die Bearbeitung neuer wichtiger Themenbereiche, die bisher noch nicht zu den Kernkompetenzen des Unternehmens gehört hatten. Insbesondere durch die fortschreitende digitale Transformation wurden und werden neue Kompetenzen wichtig, wie z. B. die Datenanalyse, das Big-Data-Management oder Cloud-Technologien. Dazu können Mitarbeitende fortgebildet oder externe Experten, die über die benötigten Kompetenzen verfügen, gezielt angeworben werden. Die Bekanntheit und Präsenz im Unternehmen wird durch eine eigene Intranetseite erreicht, auf der auch Steckbriefe zu allen Experten und deren Themen veröffentlicht werden. Die Experten verfügen über Freiräume, um das Wissen in ihrem Feld kontinuierlich zu vertiefen. Damit fungieren sie als Impulsgeber und fachliche Berater für alle Bereiche. Gleichzeitig unterstützen sie die externe Positionierung des Unternehmens, z. B. auf Konferenzen oder in Normungsgremien, und pflegen aktive Partnerschaften mit relevanten Unternehmen, Instituten und Lehrstühlen. Um den Austausch der Experten untereinander zu fördern, werden regelmäßig halbtägige „Expert Talks“ veranstaltet. Dort können die Spezialisten ihre Themengebiete ausführlich darstellen und weitere Synergiepotenziale miteinander diskutieren. Zudem werden Impulsvorträge z. B. zu universellen Trendthemen gehalten. Als Fachexperte kann ich mich auch außerhalb meines Tagesgeschäfts beratend in Projekte einbringen. Dabei werde ich nicht nur aufgrund meiner Expertise in Verfahrenstechnik angefragt. Durch meine langjährige Erfahrung in der Branche kenne ich viele Kunden, Chemie- und Lacklieferanten persönlich, kann Kontakte herstellen oder geeignete Ansprechpartner vermitteln Dr. Johann Halbartschlager, Senior Expert Verfahrenstechnik.

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Über lange Zeit war ein Großteil der Entwicklungs- und Engineering-Kompetenz im Stammhaus konzentriert. So waren ein reger Austausch durch persönlichen Kontakt und auch zufällige Begegnungen („Kaffeeküchengespräche“) gewährleistet. Mit der zunehmenden Globalisierung, der Gründung weiterer Standorte und dem Zukauf von Unternehmen entsteht aber der Bedarf nach neuen Kommunikationstechniken, die einen effizienten Austausch über Distanzen und verteiltes bzw. vernetztes Arbeiten ermöglichen. Dies war einer der Gründe zur Einführung des im nachfolgenden Kapitel beschriebenen Softwaresystems.

16.1.3 Softwaregestütztes Technologieradar und Ideenmanagement Um die Dokumentation, Auffindbarkeit und Diffusion von Informationen im Unternehmen zu verbessern und die Zusammenarbeit insbesondere über Bereichsgrenzen hinweg zu erleichtern, wurde eine Softwareplattform installiert. Zwei Funktionen werden darauf abgebildet: Wissensmanagement für Technologien (Technologieradar) und kampagnenbasiertes Ideenmanagement. Um die schnelle und benutzerfreundliche Auffindbarkeit und Verknüpfung von Inhalten zu gewährleisten, sind alle Inhalte mit einem leistungsfähigen Metadatensystem versehen. Metadaten dienen der Kategorisierung und Beschreibung von Inhalten. Wichtigstes Metadatum bei Eisenmann ist das Themenfeld. Die Kategorisierung der Inhalte im System erfolgt nicht nach der Organisationsstruktur des Unternehmens (z. B. Bereich des Erstellers eines Eintrags), sondern nach der übergeordneten Funktion. So sind z. B. Tauchsysteme für die Beförderung von Karossen durch die Becken genauso dem Themenfeld Fördertechnik zugeordnet wie Palettentransportsysteme und Hängeförderer. Eine Liste von Themenfeldern wurde anhand des Produkt- und Kompetenzportfolios von Eisenmann festgelegt. Inhalte können immer nur einem Themenfeld zugeordnet werden. Mittels einer Matrix sind allen Themenfeldern die verwendenden Unternehmensbereiche in Mehrfachauswahl hinterlegt. So ist gewährleistet, dass Inhalte zu Querschnittsthemen unabhängig vom Ersteller allen Bereichen zur Verfügung stehen. Neben der diskreten Zuordnung zu einem Themenfeld und der Mehrfachauswahl der Unternehmensbereiche können beliebig viele Schlagworte vergeben werden. Mit steigender Anzahl der Beiträge bildet sich so ein zusätzliches Suchsystem über z. B. die Häufigkeit einzelner oder gemeinsam verwendeter Schlagworte. Durch die Kombination aus strikter, diskreter Kategorisierung anhand des Themenfelds und der Mehrfachauswahl des Unternehmensbereichs sowie die vollkommen freie Schlagwortvergabe entsteht ein komplexes Metadatensystem. Dieses ermöglicht verschiedene Suchstrategien, je nach Zielstellung der Datenbankrecherche. So können bereits existierende Ideen über das zugeordnete Themenfeld und die Schlagworte neuen Aufgabenstellungen zugeordnet werden, wo sie auch Anwendungspotenzial haben – unabhängig von der ursprünglichen Aufgabenstellung, zu der die Idee eingereicht wurde.

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Im Technologieradar können Führungskräfte eines Bereichs sich alle aktuell für ihren Bereich relevanten Technologien anzeigen lassen. Oder ein Entwickler kann das übergeordnete Themenfeld seiner aktuellen Aufgabe nach Inspirationen oder Lösungsansätzen durchsuchen. Im Technologieradar werden Informationen zu allen relevanten und möglicherweise interessanten externen Technologien abgelegt. Jede Technologie wird in einem eigenen Datensatz inklusive Metadaten gespeichert. Jedem Themenfeld sind mehrere Experten aus verschiedenen Bereichen (auch über das Fachexpertensystem hinaus) zugeordnet, die über neu eingestellte Technologien benachrichtigt werden. Anhand einiger Kriterien können sie eine erste Einschätzung zu Relevanz und Chancen aus Eisenmann-Sicht abgeben. So lässt sich sehr schnell ein Überblick über die Technologie aus einer ganzheitlichen Unternehmenssicht darstellen. Technologien, die für mehrere Bereiche einen Impact haben, sind natürlich insgesamt relevanter als welche, die nur einen Bereich betreffen. Bei Eisenmann haben grundsätzlich sehr viele Mitarbeiter, nicht nur im FuE-Umfeld, möglichen Kontakt mit neuen Technologien. Quellen sind z. B. Patente, Verbandsarbeit, Kunden, Messebesuche, Konferenzen, Fachpresse, Lieferanten und Kooperationspartner. Um niemanden auszuschließen oder potenzielle Quellen zu vernachlässigen, hat eine breite Mitarbeiterschaft zumindest eingeschränkten Zugriff auf das Technologieradar. Darüber hinaus ist auch die automatische Anbindung externer Quellen angedacht. Der Markt der Intelligence-Dienstleister, die kundenspezifisch aufbereitete Informationspakete bereitstellen, wächst stetig. Dadurch könnte eine noch umfassendere automatische Befüllung des Technologieradars realisiert werden. Im Mittelpunkt steht allerdings immer der Mensch, der durch Kreativität und unkonventionelles Denken die unvorhergesehenen Analogien und Synergiepotenziale aufdecken kann. Daher soll das Technologieradar auch in keinem Fall zwischenmenschliche Interaktion und Kooperation substituieren, sondern eher unterstützen, leiten und effizienter machen. Die aufbereiteten Informationen im Technologieradar werden als Diskussionsgrundlage für Workshops und zur Entscheidungsfindung verwendet. Die Plattform liefert Input zur Strategiefindung, für die Entwicklungs-Roadmap, Wettbewerbsbeobachtung und Scouting von neuen Partnern. Ein vielversprechendes Anwendungsfeld ist das Thema Start-up-Scouting. Junge Unternehmen probieren besonders in ihrer frühen Phase verschiedene Geschäftsmodelle und Kundensegmente aus, um den besten Anwendungsfall für ihr Produkt zu identifizieren. Durch den Fokus auf die Funktion einer Technologie bei der Gestaltung des Wissensmanagementsystems können Start-ups so anhand ihres Know-hows und nicht anhand ihres aktuellen Zielmarkts identifiziert und bewertet werden. Beispiel: Arbeit mit dem Technologieradar von Eisenmann

Entwickler E. hat den Auftrag bekommen, ein neues Flächenspeicherkonzept für Karossen, inklusive Fördertechnik, für Automobilhersteller zu entwickeln. Fördertechnik ist bei Eisenmann ein sehr weit verbreitetes Thema und wird an vielen verschiedenen Stellen eingesetzt. Daher möchte er sich zuerst über den Wissensstand im

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Konzern informieren. Er wählt dazu zwei Vorgehensweisen. Als Erstes lässt er sich alle Technologien im Themenfeld „Fördertechnik“ anzeigen. Durch diese fokussierte Einschränkung des Suchfeldes kann er sich schnell einen konkreten Überblick verschaffen. Darüber hinaus möchte er aber noch einen offeneren, umfassenderen Blick auf die Aufgabe bekommen, wichtige Aspekte und angrenzende Themen herausarbeiten und sich inspirieren lassen. Daher experimentiert er mit verschiedenen Schlagworten und Schlagwortkombinationen. So findet er z. B. heraus, dass es insbesondere bei schienenloser Fördertechnik durch Machine Learning und Schwarmintelligenzansätze aktuell großen Forschungsaufwand und Innovationspotenzial gibt. Er beschließt, sich ergänzend zur konstruktionstechnischen Entwicklung auch intensiv mit Softwarethemen zu beschäftigen. Durch die eingestellten Technologien erfährt er, dass der Bereich Intralogistiksysteme bei Eisenmann sich bereits länger mit diesen Themen beschäftigt, sodass er über die Kollegen schnell an viele weiterführende Informationen und Kontakte gelangen kann. Zusätzlich zur Recherche auf der Softwareplattform sucht er noch den Austausch mit dem Fachexperten in den Themenkomplexen Fördertechnik, Intralogistiksimulation und Machine Learning. Im Laufe seines Entwicklungsprojekts identifiziert er weitere Technologien, die er im Technologieradar einpflegt. Dadurch steht das Wissen anderen Kollegen zur Verfügung. Durch die Bewertung der Experten aus den verschiedenen Bereichen kann er zudem schnell feststellen, für wen eine Technologie noch relevant ist, sodass gegebenenfalls Entwicklungsressourcen gebündelt werden können. Im Ideenmanagement werden im Rahmen von Kampagnen Lösungsvorschläge gesammelt. Eine Kampagne behandelt dabei immer eine konkrete Aufgabenstellung. Diese kann z. B. aus dem Entwicklungsprozess kommen, aus einzelnen Projekten, oder – zur Konkretisierung des Anwendungspotenzials einer besonders interessanten Technologie – aus dem Technologieradar verwendet werden. Im Ideenformular müssen eine Beschreibung der Idee, der angestrebte Mehrwert und ein grober Umsetzungsplan eingetragen werden. Ideen werden mit denselben Metadaten versehen wie Technologien. Dadurch können Ideen auch kampagnenübergreifend verglichen und ausgetauscht werden. Auch wenn Ideen sich für einen Anwendungsfall nicht eignen, können sie unter anderen Rahmenbedingungen oder zu einem späteren Zeitpunkt relevant werden. Das Ideenmanagement wird vornehmlich für bereichsübergreifende Themen mit vielen Teilnehmern verwendet. Ein Kreativworkshop mit kleiner Teilnehmerzahl ist leistungsfähiger, aber bei einer großen Zahl geografisch verstreuter Teilnehmer oft unpraktikabel. Mit dem Ideenmanagementsystem kann über weite Strecken des Ideensammlungs- und Bewertungsprozesses verteilt gearbeitet werden. Wie auch beim Technologieradar soll die persönliche Kommunikation und Zusammenarbeit nicht ersetzt, sondern unterstützt werden. Die gesammelten Ideen können von der Kampagnenjury bewertet und geclustert werden. Auch wenn alle Ideen einer Kampagne aufgrund derselben zugrunde liegenden

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Problemstellung theoretisch vergleichbar sind, können sie sich doch stark unterscheiden, z. B. nach der Höhe von Chance und Risiko. Durch die Bildung von Clustern werden Ideen noch effizienter verglichen. Außerdem können die vorgesehene Umsetzungsdauer und der geplante Aufwand als Filter berücksichtigt werden. So lassen sich beispielsweise schnell und unkompliziert Quick-Wins mit der Umsetzung einer kleinen Idee verwirklichen, während ein umfangreicheres Projekt zur Umsetzung einer Idee mit langfristiger Perspektive gestartet wird. Die Einführung eines Softwaresystems für Technologieradar und Ideenmanagement war nach dem Expertensystem ein weiterer Meilenstein in der Systematisierung der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit bei Eisenmann. Der sehr ergiebige, aber unstrukturierte Austausch „in der Kaffeeküche“ konnte so ein Stück weit automatisiert und auch für verteiltes Arbeiten zugänglich gemacht werden. Zudem wurde die Arbeit der Fachexperten erleichtert und deren Reichweite erhöht. Sie sind nun in der Lage, ihr Wissen schneller und einfacher zu explizieren, breit zu streuen und für die Zukunft zu sichern. Weiterhin gelangen sie einfacher an Informationen aus allen Bereichen und können über die Abgabe von Einschätzungen direkt Feedback geben.

16.2 Fallstudienfragen 1. Beschreiben Sie das Konzept der Ansoff-Matrix. Welche Diversifikationsrichtungen gibt es? Welche Vor- und Nachteile hat die von Eisenmann gewählte Diversifikationsrichtung? 2. Eisenmann ist als Spartenorganisation aufgestellt. Dabei werden Bereiche nach bearbeiteten Märkten unterteilt. Beschreiben Sie bitte die Vor- und Nachteile, allgemein und aus Sicht von Eisenmann. 3. Wie könnte eine Organisationsstruktur aussehen, die nur auf die Realisierung von Synergiepotenzialen von Querschnittstechnologien konzentriert ist? 4. Beschreiben Sie ausgehend vom aktuellen Portfolio des Unternehmens, wie in Abschn. 16.1 beschrieben, mindestens drei bereichsübergreifende Themenfelder von Eisenmann. 5. Wie könnten Maßnahmen zur Steigerung der bereichsübergreifenden Kooperation für Eisenmann aussehen? Mit welchen Kennzahlen könnte der Erfolg der Maßnahmen gemessen werden? 6. Inwieweit können Open Innovation und Cross-Industry-Innovation relevante Themen für das Unternehmenswachstum und die Eisenmann-interne Zusammenarbeit sein? 7. Was ist Pivoting? Wie reagiert das Eisenmann Technologieradar auf Pivots von gescouteten Start-ups? 8. Konzipieren Sie einen Ansatz, um neue Ideen oder Technologien auszuprobieren, zu testen und mit greifbaren Prototypen den Fachbereichen vorzustellen.

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16.3 Lösungshinweise Zu Frage 1 Die Ansoff-Matrix ist eine Darstellung von vier generischen Wachstumsstrategien. Dabei werden die möglichen Kombinationen von neuen und bestehenden Produkten und Märkten betrachtet (vgl. Thommen et al. 2017, S. 542 ff.). Ein Wachstum mit bestehenden Produkten auf bestehenden Märkten („Marktpenetration“) beschreibt eine tiefere Durchdringung der Märkte durch intensivere Bearbeitung. Weiterhin können neue Absatzmärkte für bestehende Produkte („Marktentwicklung“) gesucht oder neue Produkte für bestehende Märkte („Produktentwicklung“) entwickelt werden. „Diversifikation“ beschreibt die Entwicklung neuer Produkte für neue Märkte. In diesem Zusammenhang können drei Diversifikationsrichtungen unterschieden werden (vgl. Thommen et al. 2017, S. 544 ff.): horizontal, vertikal und lateral. Bei horizontaler Diversifikation besteht ein sachlicher Zusammenhang zu den bestehenden Produkten, z. B. durch die eingesetzte Fertigungstechnologie oder Rohstoffe (z. B., wenn ein Automobilhersteller zukünftig Motorräder herstellt). Vertikale Diversifikation bezieht sich auf vor- oder nachgelagerte Wertschöpfungsstufen. Bei einer lateralen Diversifikation besteht kein Zusammenhang zu bestehenden Produkten, Technologien oder Märkten. Eisenmann verfolgt die vertikale Diversifikation durch die Erschließung angrenzender Wertschöpfungsstufen, z. B. der Abluftreinigung und Abwasserreinigung in Lackierprozessen. Dies hat den Vorteil, dass die Abhängigkeit von Systemlieferanten reduziert wird, das Umfeld bekannt ist und Kommunikationskanäle bestehen. Außerdem können Synergiepotenziale mit bestehenden Produkten genutzt werden. Als Nachteil kann die steigende technologische Komplexität angesehen werden. Durch die Fokussierung auf ein konkretes Umfeld bestehen eine höhere Risikokonzentration und Abhängigkeit von einer Branche als beispielsweise bei einer lateralen Diversifizierung. Zu Frage 2 Die Vorteile einer Spartenorganisation sind die übersichtliche Organisationsstruktur, die sich an den jeweiligen Markt individuell anpassen kann. Weiterhin steigern kurze Kommunikationswege und schnelle Entscheidungsfindung die Effizienz der Organisation (vgl. Thommen et al. 2017, S. 466 ff.). Nachteilig können Silodenken und Konkurrenz zwischen den Bereichen sein, sowie ein großer Bedarf an spezialisierten Führungskräften. Bei Eisenmann zeigen sich die Vorteile insbesondere durch die effiziente kundenorientierte Marktbearbeitung, bei der die jeweilige Branchenkultur, Kommunikations- und Entscheidungsprozesse berücksichtigt werden. Da Eisenmann durch das organische Wachstum viele Querschnittskompetenzen und -technologien hat, ist die Nutzung von Synergiepotenzialen eine Herausforderung. Der administrative Aufwand und das Konfliktpotenzial bei internen Verrechnungspreisen hemmt Cross-Selling-Aktivitäten.

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Zu Frage 3 Denkbar wäre z. B. eine agile Organisation, in der crossfunktionale Teams zu schnellen, schlanken Projekten (z. B. nach Scrum oder Design Thinking) zusammenfinden. Die Teams bilden sich je nach konkreter Aufgabe oder Kundenanforderung (vgl. Häusling et al. 2018, S. 20). Daher können vor allem Querschnittskompetenzen viel effizienter eingesetzt werden. Die klassische Aufbauorganisation ist dabei nahezu abgeschafft, somit existieren auch keine Bereichsgrenzen mehr. Die Organisation ähnelt eher einer Teamstruktur (vgl. Thommen et al. 2017, S. 472 f.). Zu Frage 4 • Fördertechnik: Intralogistiksysteme, Beförderung von zu lackierenden Bauteilen (Karossen, Anbauteile) • Ofentechnik: Lacktrockner, Wärmebehandlung, Oxidationsöfen für Kohlenstofffaser • Abwasserbehandlung: Lackabfälle, chemische Industrie, Kläranlagen Zu Frage 5 Eine Maßnahme wäre der Einsatz von interdisziplinären kooperationsfördernden Entwicklungsmethoden wie Design Thinking oder Scrum. Innovationsprojekte könnten von einer zentralen Stelle initiiert und geleitet werden, um Silodenken zu vermeiden. Mitarbeiter werden dazu aus verschiedenen Bereichen temporär in das entsprechende Projekt entsendet. Die Bereiche fungieren somit als interne Kunden für die Entwicklungsergebnisse und der Erfolg der Innovationsprojekte könnte direkt über die Kundenzufriedenheit gemessen werden. Erfolgsfaktoren einer Kooperation sind z. B. Kosten-, Risiko- und Fehlerreduzierung sowie Zeitersparnis durch die Verteilung der Arbeit und Bündelung von Ressourcen und Know-how (vgl. Hauschildt und Salomo 2007, S. 285). Input-Output-orientierte Kennzahlen wären z. B. Anzahl technisch erfolgreicher Innovationsvorhaben/Anzahl Partnerunternehmen oder Gesamtkosten aller Innovationsvorhaben/Anzahl Innovationsvorhaben (vgl. Hagenhoff 2008, S. 237). Kennzahlen, die zur Messung des Erfolgs von Ideeninitiativen eingesetzt werden können, sind z. B. (vgl. Schat 2017, S. 137 f.) Periodenerfolg/Kosten, Gesamtnutzen, Annahmequote, Umsetzungsquote, Ideen pro Mitarbeiter, Beteiligungsquote. Diese gelten auch für bereichsübergreifende Projekte. Zu Frage 6 Open Innovation beschreibt die Öffnung eines rein unternehmensinternen Innovationsprozesses zur Außenwelt. Dabei können externe Ideen zur Steigerung der eigenen Innovationskraft verwendet oder interne Ideen extern kommerzialisiert werden (vgl. Chesbrough 2006, S. xxiv ff.; Reichwald und Piller 2006, S. 95 f.). Es steht damit im Gegensatz zum weit verbreiteten Closed-Innovation-Ansatz, bei dem sämtliche Entwicklungsaktivitäten intern durchgeführt werden (vgl. Chesbrough 2006, S. xx f.). Durch Open Innovation sollen Geschwindigkeit, Effizienz und Erfolgsquote von Innovationsprozessen erhöht werden, da es insbesondere in einer Welt steigender Komplexität und

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Interdisziplinarität immer schwieriger wird, alle notwendigen Kompetenzen im eigenen Unternehmen zu kultivieren. In großen, global aufgestellten Mischkonzernen wie Eisenmann, die in mehr oder weniger autarken Profit Centern organisiert sind, findet naturgemäß nur bedingt bereichsübergreifender Austausch statt. Somit könnten Innovatoren aus anderen Konzernbereichen als quasi externe Einheiten in konzerninternen Open-Innovation-Prozessen genutzt werden (vgl. Neyer et al. 2009, S. 410 ff.). Bei Eisenmann kommen Querschnittsthemen in verschiedenen Bereichen vor. Daher wäre eine Verwendung eigener Ideen in einem anderen Bereich oder die Nutzung von Know-how aus anderen Bereichen zur Lösung eigener Probleme vorstellbar. Dies könnte durch ein Open-Innovation-Mindset und die entsprechenden Strukturen befördert werden. Cross-Industry-Innovation ist ein Derivat von Open Innovation (vgl. Enkel und Gassmann 2010, S. 256). Eine Cross-Industry-Innovation ist die Anwendung von aktuellem Know-how, Technologien, Lösungskonzepten etc. auf branchenfremde Anwendungen oder die Nutzung branchenfremden Wissens für eigene Aufgabenstellungen (vgl. Gassmann und Sutter 2008, S. 224 ff.). Der Prozess lässt sich in drei Phasen unterteilen (vgl. Gassmann und Sutter 2008, S. 229 ff.): Abstraktion, Analogiesuche und Adaption. In der Abstraktionsphase gilt es, sich von der aktuellen Aufgabe zu lösen, um den möglichen Lösungsraum aufzuweiten. Dabei wird z. B. versucht, sich auf den zugrunde liegenden Kundennutzen, die allgemeine Funktion des Systems oder die zur Problemlösung notwendigen Kompetenzen zu fokussieren. Die Abstraktion stellt eine große Herausforderung dar, weshalb sich der Einsatz von Kreativitätstechniken wie z. B. TRIZ empfiehlt. Die Ergebnisse der Abstraktion dienen als Suchkriterien, um Analogien in anderen Branchen zu identifizieren. Zur Recherche können z. B. nach Funktionalitäten sortierte Datenbanken helfen, wie Patentdatenbanken, Industrielisten und DIN-Normen. In der Adaptionsphase werden die vielversprechendsten identifizierten analogen Technologien an die ursprüngliche Aufgabenstellung im Rahmen eines Entwicklungsprojekts angepasst. Eisenmann hat in der Vergangenheit häufig bestehendes technologisches Know-how in anderen Branchen angewendet und so weiteres Unternehmenswachstum ermöglicht (Erschließung angrenzender Märkte). Mit Cross-Industry-Innovation gäbe es einen Ansatz, um systematisch und methodengestützt nach weiteren Anwendungspotenzialen für das Know-how des Unternehmens zu suchen. Motivation dazu wäre, die bestehende hohe Abhängigkeit von der Automobilindustrie zu reduzieren. Zum Beispiel können mithilfe lateraler und horizontaler Diversifikation neue Produkte und Anwendungen in anderen Industrien gezielt verfolgt werden. Zu Frage 7 Pivoting ist ein Begriff aus dem Start-up-Themenkomplex. Damit wird eine strukturelle Kurskorrektur bei Strategie, Produkt oder Skalierungsvorhaben beschrieben. Vor allem in der frühen Phase der Unternehmensgründung steht noch nicht fest, wie nachhaltig Werte und Kundennutzen geschaffen werden können. Pivoting ist im Rahmen des Lean-Start-

16  Interdisziplinäre Zusammenarbeit im Innovationsprozess

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up-Konzepts dabei eine strukturierte Methode, um konsequent auf Markt-Feedback zu reagieren (vgl. Ries 2011, S. 149 ff.). Mit dem Eisenmann-Technologieradar sollen auch interessante Start-ups identifiziert werden. Da Technologien im Radar nach Funktion und nicht nach Anwendung kategorisiert werden, können Start-ups unabhängig von ihren vergangenen und aktuellen Pivots identifiziert und bewertet werden. Darüber hinaus könnten Start-ups mit interessanter Technologie, aber einem anderen Anwendungsbereich bei einem neuen Pivot im Eisenmann-Kontext unterstützt werden. Darüber hinaus ist sogar vorstellbar, dass mit mehreren Pivots verschiedene Kundensegmente von Eisenmann getestet werden. Zu Frage 8 Ein möglicher Ansatz wäre ein unternehmensinternes Inkubatorenprogramm. Im Unternehmenskontext bietet ein Inkubator (von engl. incubator – „Brutkasten“) die Möglichkeit, unkompliziert Ideen in frühen Phasen weiterzuentwickeln, die nicht zum aktuellen Geschäft oder den aktuellen Prozessen passen. Die Unterstützung erfolgt z. B. finanziell und durch Zugang zu Unternehmensressourcen, die Schaffung von einer geeigneten Umgebung (z. B. Kreativräume, Produktionsmitteln, Material, Umgehen bürokratischer Prozesse), die Vermittlung von Kontakten (Unternehmensintern, Unternehmensextern, Kunden) und Coaching/Mentoring (Design Thinking, Lean Startup, TRIZ, Scrum). Die Unterstützung hält dabei über einen längeren Zeitraum an. Bei erfolgversprechenden Ideen sind mehrere Jahre bis zur Kommerzialisierung nicht unüblich (vgl. Weiblen und Chesbrough 2015, S. 71 f.).

Literatur Ansoff, H. I. (1966). Management-Strategie. München: Moderne Industrie. Chesbrough, H. (2006). Open innovation. The new imperative for creating and profiting from technology. Boston: Harvard Business School Press. Enkel, E., & Gassmann, O. (2010). Creative imitation. Exploring the case of cross-industry innovation. R&D Management, 40(3), 256–270. Gassmann, O., & Sutter, P. (2008). Praxiswissen Innovationsmanagement. Von der Idee zum Markterfolg. München: Hanser. Hagenhoff, S. (2008). Innovationsmanagement für Kooperationen. Göttingen: Göttingen University Press. Hauschildt, J., & Salomo, S. (2007). Innovationsmanagement (4. Aufl.). München: Vahlen. Häusling, A., Römer, E., & Zeppenfeld, N. (2018). Praxisbuch Agilität. Tools für Personal- und Organisationsentwicklung. Freiburg: Haufe. Neyer, A.-K., Bullinger, A. C., & Moeslein, K. M. (2009). Integrating inside and outside innovators. A sociotechnical systems perspective. R&D Management, 39(4), 410–419. Reichwald, R., & Piller, F. T. (2006). Interaktive Wertschöpfung. Open Innovation, Individualisierung und neue Formen der Arbeitsteilung. Wiesbaden: Gabler. Ries, E. (2011). The Lean Startup. London: Penguin. Schat, H.-D. (2017). Erfolgreiches Ideenmanagement in der Praxis. Wiesbaden: Springer Gabler.

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P. Wichert

Thommen, J.-P., Achleitner, A.-K., Gilbert, D. U., Hachmeister, D., & Kaiser, G. (2017). Allgemeine Betriebswirtschaftslehre (8. Aufl.). Wiesbaden: Springer Gabler. Weiblen, T., & Chesbrough, H. W. (2015). Engaging with Startups to Enhance Corporate Innovation. California Management Review, 57(2), 66–90.

Philipp Wichert  leitet seit 2014 das Innovationsmanagement der Eisenmann SE. Er hat BWL an der RWTH Aachen und der FernUni Hagen studiert. Nach zwei Jahren am Fraunhofer IAO in Stuttgart wechselte er 2011 zur Ed. Züblin AG, um dort das Innovationsmanagement mit aufzubauen.

Erfolgsfaktoren im Value Engineering anhand von fluidtechnischen Produkten

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Hendrik Rust und Daniel Nowack

Inhaltsverzeichnis 17.1 Value Engineering bei fluidtechnischen Produkten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.2 Fallstudienfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17.3 Lösungshinweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung

Value Engineering (VE) ist eine Methode, mit deren Hilfe der Wert eines Produktes durch das Gegenüberstellen erforderlicher Funktionen und der Produktionskosten gesteigert wird. Häufig wird unter Kostenreduzierung nur die Tätigkeit des Einkaufs verstanden, günstigere Preise bei Zulieferern zu verhandeln. Hier liegt das Potenzial oftmals in der Größenordnung von zwei Prozent pro Jahr und kann schnell erschöpft sein. Mit der Methodik des Value Engineerings und der Überarbeitung des Produktdesigns lässt sich diese Quote verzehnfachen und somit lassen sich durchaus Einsparungen im Bereich von 20 bis 30 % generieren. Der „Value Improvement Process“ ist eine wertvolle Methode, die alle Bereiche des Unternehmens auf dem Weg zu einem optimierten Produktdesign begleitet und dazu überflüssige Komponenten und

H. Rust ()  Remshalden, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Nowack  Rheinberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Abele (Hrsg.), Fallstudien zum Technologie- & Innovationsmanagement, FOM-Edition, https://doi.org/10.1007/978-3-658-25068-3_17

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H. Rust und D. Nowack

Produktionsprozesse sowohl beim Lieferanten als auch in der eigenen Fertigung eliminiert. Eine intensive Zusammenarbeit der Fachbereiche stellt einen entscheidenden Faktor für erfolgreiches VE dar. Ob ein Produkt Potenzial zur Überarbeitung aufweist, lässt sich anhand von Produktselektionskriterien feststellen. Dazu zählen unter anderem die Stückzahl, der Umsatz und negative Margen. Es ist wichtig, in Form von Workshops oder Meetings das selektierte Produkt mit allen relevanten Fachbereichen zu beleuchten und gemeinsam eine Priorisierung der Kosten und des Nutzens des möglichen Projektes zu erstellen. Auf der Kostenseite lassen sich z. B. Entwicklungsund Werkzeugkosten, auf der Nutzenseite unter anderem Einsparungen pro Stück und der Return on Investment aufzeigen. Das VE-Projekt durchläuft die vier Prozessschritte Funktionsanalyse (Functional Analysis), Kostenanalyse (Cost Analysis), Handhabungsanalyse (Handling Analysis) und Montage- und Fehleranalyse (Assembly & Mistake Proofing Analysis). Das Vorgehen wird anhand eines Überströmventils und das Potenzial der Methode am Praxisbeispiel eines VE-Projekts bei einem Pneumatik-Zylinder-Enddeckel aufgezeigt.

17.1 Value Engineering bei fluidtechnischen Produkten Value Engineering ist eine Methode, mit deren Hilfe der Wert eines Produktes durch das Gegenüberstellen erforderlicher Funktionen und der Produktionskosten gesteigert wird. Die IMI hat dazu ein strukturiertes Vorgehen definiert, welches unter dem Begriff ‚Value Improvement Process‘ Anwendung findet. Es ist eine sehr wertvolle Methode, die alle Bereiche des Unternehmens auf dem Weg zu einem optimierten Produktdesign begleitet und dazu überflüssige Komponenten und Produktionsprozesse, sowohl beim Lieferanten als auch in der eigenen Fertigung, eliminiert. Die Ergebnisse führen zu einer Verringerung der Herstellkosten und genieren damit eine verbesserte Marge. Das strukturierte Vorgehen verzeichnete bereits Erfolge in der Überarbeitung bestehender Produkte, ebenso wie bei der Entwicklung neuer Produkte. Dabei hat die Optimierung des Designs IMI die Möglichkeit gegeben, über konkurrenzfähige Angebote neue Geschäfte zu generieren. Der Prozess lieferte bereits in großen und kleinen Produktportfolios bedeutend vorteilhafte Einsparungen, und das nicht nur für IMI, sondern vor allem auch für seine Kunden. In Zukunft muss IMI diesen Weg weiterverfolgen, um aus Kostensicht wettbewerbsfähig zu bleiben. Value Engineering ist ein nachhaltiger Weg, um weiterhin die erwarteten Margen, Kosten und Ergebnisse bei gleichbleibender Qualität und Liefertreue zu erreichen Daniel Nowack, Global Procurement Director IMI.

IMI Precision Engineering ist eines der weltweit führenden Unternehmen der Antriebs- und Fluidtechnik. Mit 5300 Mitarbeitenden und einem erwirtschafteten Umsatz von 791 Mio. Pfund im Jahr 2017, was in etwa 45 % des Gesamtumsatzes entspricht, stellt es neben den beiden weiteren Geschäftsbereichen IMI Hydronic Engineering und IMI Critical Engineering den größten Geschäftsbereich der IMI plc dar. Das 1927 von Firmengründer und Pionier Carl Norgren gegründete Unternehmen Norgren umfasst heute unter IMI Precision Engineering das Portfolio von IMI Norgren, IMI Buschjost, IMI FAS, IMI Herion sowie

17  Erfolgsfaktoren im Value Engineering …

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IMI Maxseal und beinhaltet damit die angesehensten Produktprogramme der Antriebsund Fluidtechnik. Diese stellen sich zusammen aus Druckschaltern, Verschraubungen und Schläuchen für nahezu alle Industrieanwendungen, einer großen Auswahl an Vakuumpumpen und Vakuum-Flach- und Balgsaugnäpfen, einem umfangreichen Produktportfolio an Druckaufbereitung sowie Ventilen und Zylindern, die in Abb. 17.1 zu sehen sind. Anwendung finden diese Produkte und ihre Konzeptlösungen vor allem in den Branchen Bahn, Energie, Industrie-Automation, Nahrungsmittel und Getränke und der Sparte der Nutzfahrzeuge. IMI Precision Engineering präsentiert sich mit diesem Produktspektrum momentan laut eigenen Angaben weltweit als Nummer vier im Bereich Pneumatik. IMI verzeichnet eine längere Historie im Value Engineering (VE), dem zur Kostenreduzierung während der Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 Nachdruck verliehen wurde. Von da an wurde das Value Engineering durch eine enge und gute Interaktion zwischen Einkauf und Entwicklung im Lead sowie in enger Zusammenarbeit mit der Produktion und stellenweise dem Vertrieb und der Qualitätssicherung verfestigt und ausgebaut. Eine intensive Zusammenarbeit der Fachbereiche stellt einen entscheidenden Faktor für erfolgreiches Value Engineering bei Produkten dar (vgl. Rust und Heck 2018). Wegen eines Lebenszyklus von teilweise 25 Jahren hatten einige Produkte über viele Jahre keine Überarbeitung erfahren. Dies ist aber keinesfalls untypisch, denn die gebräuchlichste Kostenreduktionsmethode zu dieser Zeit war, im Einkauf günstigere Preise zu verhandeln. Damit lag das Einsparpotenzial bei rund zwei Prozent pro Jahr und war schnell erschöpft. Mit der Methodik des Value Engineerings und der Überarbeitung des Produktdesigns lässt sich diese Quote verzehnfachen und somit lassen sich Einsparungen im Bereich von 20 bis 30 % generieren. Um festzustellen, ob ein Produkt Potenzial zur Überarbeitung aufweist und bei welchem Produkt es sinnvoll ist, die nächste Überarbeitung anzugehen, lässt sich anhand von Produktselektionskriterien ausfindig machen. Dazu zählen: • die Stückzahl, • der Umsatz,

Abb. 17.1   Aktoren- (links) und Ventilproduktportfolio (rechts) von IMI Precision Engineering

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• • • •

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der Zeitraum seit der letzten Überarbeitung, das Potenzial zur Überarbeitung, teure Prozesse in der Produktion sowie negative Margen.

Das Potenzial eines Produkts lässt sich weiterhin durch die Beantwortung folgender Fragen feststellen: • Wurde teures Material verwendet? • Liegt eine alte Konstruktion zugrunde? • Ist möglicherweise ein teurer Zulieferer gelistet und gibt es die Chance zum Sourcing in einem Low-Cost-Land? Das Fundament eines gelungenen VE-Projekts bildet die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Unternehmen. Würde das Projekt von jeder Abteilung alleine betrachtet und bearbeitet werden, so würden diese ihre eignen Ziele sowie das für sie am besten geeignete Kosten-Nutzen-Verhältnis für ihren Anteil in Bezug auf die Realisierung des Gesamtproduktes verfolgen. Das eigentliche Ziel – die Maximierung des gesamten Unternehmenswertes – würde damit nicht realisiert werden. Wird aber darauf geachtet, dass zur Bearbeitung eines VE-Projekts Mitarbeiter bereichsübergreifend eingesetzt werden, so kommt es zu einer projektorientierten Gesamtwirkung. Dies stellt die beste Grundlage dar, um nachhaltig und effizient die Probleme zu lösen. (Vgl. VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung 2011). Anhand der genannten Fragstellungen ist die Identifikation eines passenden Produktes für den VE-Prozess möglich. Im weiteren Verlauf ist es wichtig, in Form von Workshops oder Meetings das selektierte Produkt mit allen relevanten Fachbereichen zu beleuchten. Dazu zählen der Einkauf, die Entwicklung, die Qualitätssicherung, die Produktion sowie Vertreter aller Ebenen bis zur zweiten Führungsebene. Neben den Meetings in großer Runde empfiehlt es sich, eine Stunde in der Woche Brainstorming auf Komponentenebene durchzuführen. Auch hier ist es sinnvoll, wenn sich jeweils Vertreter aus den Bereichen Einkauf, Entwicklung, Qualitätssicherung und Produktion zusammenfinden. Des Weiteren sollte hierbei eine Priorisierung der Kosten und Nutzen des möglichen Projektes vollzogen werden. Auf der Seite der Kosten lassen sich Entwicklungskosten, Werkzeugkosten, gegebenenfalls Verschrottungskosten, Restmengenkosten, Qualifizierungskosten beim Kunden sowie die Laufzeit des Projekts und der Lebenszyklus berücksichtigen. Als Nutzen können die Einsparungen pro Stück und der Return on Investment aufgezeigt werden. In all den Stufen und Phasen obliegt den Verantwortlichen eine wichtige Pflicht: Das richtige Vorleben und Vorangehen, vor allem der Verantwortlichen im Einkauf und der Entwicklung, ist maßgeblich für ein erfolgreiches Value-Engineering-Projekt. Wurde das Produkt selektiert und die Kosten und Nutzen analysiert, so kommt es zur Präsentation und Freigabe in einem Steering Board. Mit dem folgenden Kick-off-Meeting

17  Erfolgsfaktoren im Value Engineering …

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startet das Projekt. Zu Beginn sollte das Lastenheft verfasst werden. Es dient neben der Definition der Ziele und Anforderungen als roter Faden während des Projektes. Auch Kundengespräche können zu dieser Zeit sehr sinnvoll sein, um deren Anforderungen so gleich im Lastenheft aufzunehmen. Das Projekt durchläuft im Folgenden die in der Abb. 17.2 dargestellten vier Bereiche Funktionsanalyse (Functional Analysis), Kostenanalyse (Cost Analysis), Handhabungsanalyse (Handling Analysis) und Montage- und Fehleranalyse (Assembly & Mistake Proofing Analysis). Eine Funktionsanalyse analysiert und identifiziert Konzepte als zielgerichtete Wirkungen, die bei der Erstellung der Produkte bedeutsam waren. Der Prozess lässt sich in drei Stufen gliedern. Zunächst gilt es, das Objekt der Analyse zu verstehen. Es ist wichtig, ein auf einer Datensammlung basierendes, detailliertes Verständnis des Objektes zu erreichen: Welche Funktion soll das Objekt erfüllen? Wie hängen die Funktionen

Abb. 17.2   Value-Engineering-Prozess bei IMI Precision Engineering

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zusammen? Weiterhin sollte die Hauptfunktion von den Nebenfunktionen unterschieden werden. Dies ist über eine präzise Definition der Funktionen möglich. Um die Beziehungen und Zusammenhänge der einzelnen Funktionen zu verstehen, ist eine Systematisierung der Funktionen unerlässlich. An dieser Stelle sollte man sich noch einmal bewusst werden, in welcher Art und Weise das Produktdesign bereits von den Funktionen bestimmt wird. Während des Entwurfs des Produktdesigns werden das Ziel und der Zweck des Produktes eingearbeitet und unter Beachtung dieser die Form des Produktes bestimmt. Da das Produktdesign somit auf den Zielen und gewünschten Eigenschaften des Produktes aufgebaut ist, ist eine Funktionsanalyse nicht mehr als eine grundlegende Analyse des Produktdesigns. (Vgl. Akiyama 1991). Die Funktionsanalyse wird somit verwendet, um Teile mit geringem Beitrag zur Funktion des Produktes aufzuzeigen, die möglicherweise durch Eliminierung oder Kombination mit anderen Teilen effizienter konstruiert werden können. Hierzu werden die Teile eines Produktes in zwei verschiedene Gruppen geclustert. Unterschieden wird zwischen A-Teilen, die essenziel wichtig für die Produktfunktion sind, und B-Teilen, die es nicht sind. Die Einteilung lässt sich mithilfe der in Abb. 17.3 dargestellten Bewertungstabelle vornehmen. Hierbei werden die mit der Tabelle gelieferten Fragen zu jedem Teil des Produktes gestellt und durch die Beantwortung die Zuweisung in die passende Clusterung vorgenommen. Grundlage für die Clusterung bilden die zuvor ermittelten und festgehaltenen Funktionsanforderungen aus dem Lastenheft und die Evaluation der ganzheitlichen Betrachtung, die festlegt, ob ein Produkt als Ganzes oder als Reihe funktioneller Untereinheiten zu betrachten ist. Abb. 17.4 zeigt ein Überströmventil, bei dem die funktionale Bewertung beispielhaft durchgeführt werden soll. Das Ergebnis der Bewertung und die Unterteilung in A- und B-Teile des Ventils ist in Abb. 17.5 dargestellt. Diese Potenzialmöglichkeit lässt sich anhand der Designeffizienz aufzeigen und berechnen:

Designeffizienz =

Anzahl der A − Teile ∗ 100 Gesamtanzahl der Teile

Bei IMI wird eine Designeffizienz von 60 % oder höher angestrebt. Führt man diese Berechnung für das Beispiel aus der Abb. 17.5 mit einer Gesamtanzahl von sieben Teilen, wovon vier als A-Teile identifiziert werden konnten, durch, erhält man eine Designeffizienz von 57 %. Da diese Quote unter der Mindestvorgabe liegt, wird Handlungsbedarf deutlich. Durch die Überprüfung einer möglichen Kombination der Teile oder die Eliminierung von B-Teilen lässt sich so ein neues, überarbeitetes Produktdesign gestalten. In dem Beispiel des Überströmungsventils konnte IMI durch das Zusammenfügen des Gehäuses (Housing) und des Basisadapters (Base Adapter) sowie des Kolbens (Piston) und Verschlussstopfens (Seal Plug) eine neue Verteilung in Form von einer Gesamtanzahl an fünf Teilen und vier A-Teilen erreichen. Dies führt zu einer Designeffizienz von 80 % und beinhaltet Kosteneinsparungen in nahezu allen Bereichen entlang der Wertschöpfungskette zeigt Abb. 17.6.

17  Erfolgsfaktoren im Value Engineering …

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Abb. 17.3   Funktionale Bewertungstabelle zur Identifikation von A- und B-Teilen

Den zweiten Schritt im Value-Improvement-Prozess bildet die Kostenanalyse. Der Zweck dieser ist die Identifikation von möglichen Kosteneinsparungen auf Komponentenebene. Dies wird am besten erreicht, indem man sich auf kostenintensive Teile in der Baugruppe und kostengünstigere Komponenten mit hohen Stückzahlen fokussiert.

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Abb. 17.4   Überströmventil im Zusammenbau, mit einzelnen Komponenten und als Schnittdarstellung

Abb. 17.5   A-Teile und B-Teile eines Überströmventils

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Abb. 17.6   Neue Zuordnung der A-Teile und B-Teile nach dem Value-Improvement-Prozess

Die Komponenten werden dabei auf mögliche Änderungen des Designs, des Herstellungsverfahrens und des Materials überprüft. Um diese Analyse strukturiert anzugehen, ist es sinnvoll, sie in drei Schritten zu durchlaufen: Identifikation, Analyse und Aktualisierung. Außerdem sollten alle Ergebnisse in Kalkulationstabellen festgehalten werden, um später als Referenz für Kostenverbesserungen genutzt werden zu können. Die erste Phase stellt die Identifikation der zu analysierenden Komponenten dar. Dabei handelt es sich normalerweise um die Bauteile mit den höchsten Kosten. Mithilfe der Pareto-Analyse, auch bekannt als 80/20-Regel, lassen sich typischerweise 80 % der Kosten einer Baugruppe auf 20 % der Teile abbilden. Um diese Teile ausfindig zu machen, ist es nötig, alle Komponenten und Kosten aufzulisten und nach absteigender Höhe der Kosten zu sortieren. Über eine Visualisierung in Form eines Pareto- und Kreisdiagramms, wie in Abb. 17.7 am Beispiel eines Überströmventils dargestellt, ist die Identifikation der Komponenten mit hohen Kosten (in Prozent von den Gesamtkosten) und somit von hohen Potenzialen möglich. In der folgenden Analysephase gilt es nun, die ausgewählten Teile hinsichtlich möglicher Einsparungen im Design, dem Prozess oder des Materials zu analysieren. Daher ist es ratsam, für jede Komponente verschiedene Parameter, wie z. B. die Form, die Materialstärke oder die Toleranz, in die Kalkulationstabelle mit aufzunehmen. Im Team werden gemeinsam mögliche Alternativen aufgelistet sowie deren Einsparungen, Investitionskosten und der damit verbundene Genehmigungs- und Zertifizierungsaufwand. Jede Alternative sollte betreffend die Aufwands- und Implementierungszeit bewertet werden. Sind eine schnelle Implementierung sowie ein geringer Investitionsaufwand möglich? Sind ein Investitionsaufwand sowie eine Validierung und Zustimmung des Kunden notwendig? Sind eine intensive Validierung sowie eine Kundengenehmigung und Zertifizierung vonnöten? Je nach Beantwortung dieser Fragen lassen sich die Projekte in „schnell“, „mittel“ und „lang“ in Bezug auf die Umsetzung der Einsparung kategorisieren. Des Weiteren lassen sich in dieser Phase weitere Einsparungen über eine Make-orBuy-Analyse identifizieren. Auch diese Alternative wird in die Kalkulationstabelle

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Abb. 17.7   Pareto-Diagramm (links) und Kreisdiagramm (rechts) mit der jeweiligen Angabe des prozentualen Bauteilanteils an den Gesamtkosten

a­ ufgenommen. In der folgenden Aktualisierungsphase werden die Alternativen im Team überprüft und jeweils die besten schnell, mittel- und langfristigen Lösungen ausgewählt. Diese werden zusammen mit den Investitionskosten, etwaigen Genehmigungs- oder Zertifizierungsanforderungen und ihren potenziellen Einsparungen in die Kostenanalyse-Kalkulationstabelle übernommen. Ist die Tabelle mit jeweils den besten Alternativen aus allen identifizierten Komponenten gefüllt, lässt sich nun das attraktivste Projekt auswählen. Führt dieses Projekt zu einer Änderung der Komponentenanzahl im Produkt, so ist eine Aktualisierung der Funktionsanalyse und der Designeffizienz nötig. Auf die Kostenanalyse folgt in einem dritten Schritt die Handlingsanalyse. Diese bewertet, wie die Komponenten zum Zeitpunkt der Montage präsentiert werden. Dabei greift IMI auf zwei Methoden zurück: die manuelle Handlingsanalyse und die Analyse einer automatischen Werkstückzuführung (Automatic-Feed-Analyse). Ziele der Anwendung der manuellen Handlingsanalyse sind die Verbesserung des Arbeiterschutzes, die Reduzierung der Montagezeiten sowie die Reduzierung der Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung der Komponenten oder von Montagefehlern. Teil der manuellen Handlingsanalyse ist die Berechnung eines Handling-Indexes für jedes Bauteil. Dieser kommt durch die Bewertung der folgenden drei Rubriken zustande: Größe und Gewicht, Handlingsschwierigkeiten und Einfachheit der Orientierung. In der ersten Rubrik „Größe und Gewicht“ gilt ein Teil dann als ideal, wenn es praktisch mit einer Hand greifbar ist. Eine höhere Punktzahl und damit eine schlechte Bewertung erfahren Komponenten, die sehr klein sind und eine Greifhilfe, mehr als eine Hand zur Handhabung oder – durch ein hohes Gewicht verursacht – unterstützende Hebezeuge benötigen. Auch in der zweiten Rubrik „Handlingsschwierigkeiten“ werden Bauteileigenschaften, die beim Handling zu Problemen führen können, wie z. B. scharfe Kanten oder zerbrechliches Material, mit einer hohen Punktzahl versehen. Als Abschluss erfolgt die Bewertung der Einfachheit der Orientierung in Rubik drei hinsichtlich der Einbaurichtung

17  Erfolgsfaktoren im Value Engineering …

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und Rotationsausrichtung. Diese Eigenschaften eines Bauteils können mitunter negative Auswirkungen auf die Montagezeit haben oder gar zu Montagefehlern führen. Im Idealfall liegt ein rotationssymmetrisches Bauteil vor, bei dem die Einbaurichtung eindeutig erkennbar oder beliebig ist. Nach dem Summieren der Bewertungsergebnisse der drei Rubriken pro Bauteil erfolgt ein Abgleich mit einem zuvor festgelegten Grenzwert. Wird dieser Wert überschritten, sind Maßnahmen zur Verbesserung einzuleiten. Mit der Analyse der automatischen Werkstückzuführung ist eine höhere Kostenersparnis und Qualität erzielbar, indem der Bediener von der manuellen Ausrichtung und Positionierung der Teile entbunden wird. So ist es möglich, in einem teilweise manuellen Montageprozess durch automatisierte Zuführung und Ausrichtung der Komponenten auch mit den automatisierten Teilbereichen des Prozesses mitzuhalten. Automatische Zuführsysteme müssen sowohl die Funktion des Vereinzelns als auch das Anordnen der Teile an einer bestimmten Position aus einer zufälligen Position beherrschen. Über die Analyse der Eignung der physikalischen Eigenschaften und der Orientierung lässt sich ähnlich wie bei der manuellen Handlingsanalyse zu jedem Bauteil ein Index aufstellen, über den mögliche Probleme demaskiert werden können. Der vierte und letzte Schritt im Value-Improvement-Prozess ist die Montageund Fehleranalyse. Sie beurteilt die Schwierigkeit der Ausführung jedes einzelnen Montagevorgangs, der erforderlich ist, um ein Produkt aus seinen Bauteilen zusammenzusetzten und zu testen. Diese Vorgänge finden sich in einem Ablaufdiagramm des Montageprozesses unter der Berücksichtigung der Bewertung wieder. Sein Zweck ist es, durch die Identifikation von nicht wertsteigernden und stark wertsteigernden Aktivitäten Montagezeiten und -kosten zu reduzieren. Die Analyse bewertet sowohl die Montage- als auch die Nicht-Montageprozesse, die beim Zusammenbau eines Produktes durchgeführt werden. Eine zusätzliche Greifanalyse wird bei automatisierter Montage durchgeführt. Die grundlegende Vorgehensweise bei der Montage- und Fehleranalyse beginnt mit der Definition der Montagereihenfolge für die Montage der Komponenten und Baugruppen. Diese werden in die Montageanalysetabelle eingetragen. In den Montageprozessen unterscheidet man zwei Gruppen. Auf der einen Seite werden Prozesse eingeordnet, die direkt die Montage betreffen und wertsteigernd für das Produkt sind. Auf der anderen Seite finden sich Prozesse wieder, die den Montageprozess unterstützen und keinen Mehrwert darstellen. Dies sind z. B. Platzierungen auf Werkstückträgern oder teilweise Demontagen. Unter die Nicht-Montageprozesse fallen zusätzliche oder sekundäre Tätigkeiten. Ergänzt wird nun noch der Fehleranalyseprozess, der nötig wird, sofern ein Produkt auf Fehlmontagen aufgrund unzureichender Konstruktion getestet werden muss. Jeder Prozess sollte dabei durch ein Symbol visualisiert in die Montageanalysetabelle eingehen. Dies dient der Anschaulichkeit des Ablaufs. Weiterhin sollte jeder Prozess hinsichtlich der Schwierigkeit der Montage bewertet werden. Abschließend erfolgt die Analyse für Verbesserungspotenziale in der Montage. Wichtig ist es, im gesamten ValueImprovement-­Prozess einen Ausgleich aller vier Analysen zu schaffen und die neuen Erkenntnisse der einzelnen Schritte in den vorangegangenen zu aktualisieren. Im gesamten Projektverlauf sind wöchentliche Arbeitsrunden mit den relevanten Fachbereichen sinnvoll, in denen die Ergebnisse der Aufgaben aus der letzten Runde präsentiert und dis-

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kutiert werden. Darauf basierend werden Beschlüsse gefasst und neue „To Dos“ definiert. Die Bereiche Entwicklung und Einkauf sollten dabei immer vertreten sein. Strategische Meetings sind außerdem alle vier bis sechs Wochen gemeinsam mit der Projektleitung und der zweiten Führungsebene zu empfehlen. Die Ziele des Value Engineerings lassen sich in Einsparungen pro Jahr angeben. Weiterhin ist die Gegenüberstellung der Herstellkosten und der Kosten nach dem Value-Engineering-Prozess für das Produkt ausschlaggebend. Dies lässt sich in Prozent angeben und spiegelt den Erfolg des Projekts wider. Beispiel anhand eines Pneumatik-Zylinder-Enddeckels

Ein konkretes Beispiel des Value-Improvement-Prozess-Einsatzes stellt die Überarbeitung des Pneumatik-Zylinder-Enddeckels von IMI dar. Der Enddeckel lag zu Beginn des Projektes wie in Abb. 17.8 dargestellt, aus zwei Komponenten aufgebaut vor. Auslöser für das Projekt stellten die veraltete Konstruktion des Enddeckels und die hohen Stückkosten dar. In einem Team aus Einkauf und Entwicklung in der Führung sowie Beteiligten aus den Bereichen Produktion, Vertrieb und Qualitätssicherung wurde das Projekt mithilfe des Value-Engineering-Prozesses bearbeitet. Wie zuvor detailliert beschrieben, wurde dabei für das Produkt eine Funktions- und Kostenanalyse sowie Handlings- und Montageanalyse durchgeführt. Aus den Analysen ließen sich schlussendlich folgende Produkt- und Prozessänderungen ableiten: • Änderung des Herstellverfahrens von einer spanenden Fertigung hin zu einem Aluminiumdruckgussverfahren • Materialänderung der H-Befestigung von Edelstahl zu Aluminium • Materialeinsparungen durch ein neues, komprimiertes Produktdesign • Reduzierung der Teileanzahl von sechs auf fünf Einzelteile • Änderung der Bearbeitung, da das Nachbearbeiten der Außenkonturen nun nicht mehr nötig war

Abb. 17.8   Ursprünglicher Pneumatik-Zylinder-Enddeckel

17  Erfolgsfaktoren im Value Engineering …

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Abb. 17.9   Pneumatik-Zylinder Enddeckel nach dem Value-Improvement-Prozess in schematischer Darstellung (Ansicht von oben [links] und Seitenansicht [rechts])

Das neue Produktdesign zeigt Abb. 17.9. Der Enddeckel wird dabei in zwei Ansichten gezeigt. Die einst zwei großen, spanend gefertigten Hauptmodule wurden zu einem Bauteil fusioniert. Die beschriebenen Änderungen führten zu Einsparungen im Produktionsprozess, den Materialkosten und der Bearbeitung in Form von weniger Arbeitsschritten und Werkzeugen, ebenso wie zu einer Reduzierung der Bearbeitungszeit. Insgesamt konnte so eine Kostenreduktion von ca. 72 % auf ein Drittel der ursprünglichen Kosten für einen Enddeckel erreicht werden und Einsparungen pro Jahr im siebenstelligen Bereich generiert werde.

17.2 Fallstudienfragen 1. Welche technisch-operativen Erfolgsfaktoren gibt es beim Value Engineering? 2. Welche strategisch-prozessualen Erfolgsfaktoren sind beim Value Engineering wichtig? 3. Welche Optionen gibt es, Kosten bei Produkten zu reduzieren? 4. Wie kann und sollte der Kundennutzen in Value-Engineering-Projekten Eingang finden? 5. Welche Methoden eignen sich bei der Bearbeitung von Value-Engineering-Projekten? 6. Wodurch unterscheidet sich das Value Engineering von dem traditionellen Weg der Kostenreduzierung? 7. Welche Risikofaktoren sollten bei einem Value-Engineering-Projekt beachtet werden? 8. Eignet sich das Value Engineering für einen Kundensonderauftrag mit geringer Stückzahl? 9. Ist der Value-Engineering-Prozess auch für Neuentwicklungen nutzbar?

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17.3 Lösungshinweise Sämtliche Lösungen sind Vorschläge und keine absoluten Antworten. Andere Perspektiven mögen ebenso praxistauglich sein. Die Fallstudie ist zudem auch auf andere Aspekte hin analysierbar. Sie lässt sich sowohl in unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen Teildisziplinen nutzen, als auch in mehreren thematischen Ebenen und in variierenden Schwierigkeitsgraden abfragen. Zu Frage 1 Die technisch-operativen Erfolgsfaktoren für ein Value-Engineering-Projekt setzen sich aus unterschiedlichen Bereichen zusammen: 1. Die Interaktion und gute Zusammenarbeit aller beteiligten und relevanten Fachbereiche. Dazu zählen der Austausch von neuen Informationen und Erkenntnissen sowie die gegenseitige Unterstützung und Prüfung von kritischen und/oder komplexen Redesignansätzen. 2. Die Gründlichkeit der Analyse. Für ein gelungenes Projekt sind die grundlegenden Informationen und Erkenntnisse das Fundament der neuen Ideen und Lösungsansätze. Aus diesem Grund ist eine saubere Dokumentation des Produktaufbaus, der Produktfunktion, der Stückliste, des Lastenhefts, der Kostenstruktur sowie aller weiteren Analysen ausschlaggebend für eine erfolgreiche Neu- oder Weiterentwicklung. 3. Die Potenzialübersicht mit den verbundenen Eintrittswahrscheinlichkeiten. Auf ihr basiert die Entscheidung für das eigentliche Projekt. 4. Ein strukturierter Projektplan versehen mit Arbeitspaketen und Verantwortlichkeiten. Er dient der Statusabfrage im Projekt und gibt die weiteren Vorgehensweisen an. Um eine effiziente Gruppenarbeit zu gewährleisten, ist die Bestimmung von Verantwortlichen für jedes Arbeitspaket unabdingbar. 5. Eine saubere Dokumentation und Erklärung der Teilschritte, Annahmen und Quellen. Dies macht Entscheidungen im Nachhinein nachvollziehbar und mögliche Ungereimtheiten aufklärbar. Zu Frage 2 Bezüglich der strategisch-prozessualen Erfolgsfaktoren im Value-Engineering-Projekt lassen sich unterschiedliche Bereiche beleuchten. 1. Eine der wichtigsten Aufgaben für die Verantwortlichen im Lead ist das richtige Vorleben und Vorangehen im Projekt. Dem Support der Projektverantwortlichen durch das Top-Management kommt hierbei besondere Bedeutung zu. 2. Nur durch einen klar definierten Prozess ist eine erfolgreiche prozessuale Abwicklung eines Value-Engineering-Projektes möglich.

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3. Die Generierung eines neuen Lastenheftes sollte am Anfang jedes neuen Value-Engineering-Projektes stehen. Es beinhaltet sowohl den Status quo also auch die Anforderungen und Restriktionen an die neue Entwicklung und verdeutlicht das eigentliche Ziel der Entwicklung. Während des gesamten Projektes ist der Stand der Entwicklung immer wieder mit den Vorgaben aus dem Lastenheft abzugleichen und bezüglich der Zielführung zu überprüfen. 4. Durch regelmäßige Meetings, auch mit der Managementebene, können Fortschritte und strategische Ziele überprüft und wenn nötig angepasst werden. Zu Frage 3 Um Kosten bei Produkten zu reduzieren, lassen sich viele verschiedene Analysen und Methoden anwenden (vgl. Rust und Heck 2018). Es ist für jedes Projekt zu überprüfen, welcher Methodeneinsatz sinnvoll ist. 1. Die Make-or-Buy-Analyse: Sie stellt die Herstellkosten den Kosten eines möglichen Zukaufs gegenüber und kann durch einen Wechsel zur Eigenfertigung oder zum Zukauf zu Kosteneinsparungen führen. Neben der quantitativen Analyse sind auch qualitative Aspekte, wie z. B. der Know-how-Abfluss bei Zukauf, zu beleuchten. 2. Weitere Einsparungen sind durch einen Lieferantenwechsel möglich. Hierbei kann auch der Bezug aus einem Low-Cost-Land berücksichtigt werden, welcher mit einer genauen Überprüfung der Qualität einhergehen sollte. 3. Über einen Materialwechsel, erkennbar über den Abgleich der Spezifikationen aus dem Lastenheft und dem momentan vorliegenden Material, lässt sich ein teures Material oft durch ein günstigeres ersetzen. Ein Materialwechsel verbunden mit geringeren Materialkosten kann die Teilekosten signifikant reduzieren. 4. Bei der Überprüfung einer alternativen Produktionsart, wie z. B. der generativen Fertigung oder dem Kunststoffspritzgruß statt spanender Fertigung, sind besonders die Investitionskosten und Stückzahlen zu berücksichtigen. 5. Auch der Ansatz an den grundlegenden Annahmen, wie z. B. die Reduzierung der Anforderungen im Lastenheft oder das Eliminieren von nicht ausschlaggebenden Funktionen und Features, kann zu einer Kostenreduktion des Produktes führen. Zu Frage 4 1. Der Kundennutzen sollte im Value-Engineering-Projekt über eine Kundenbefragung Eingang finden. Dadurch werden die Anforderungen an die Funktion und eventuell an das Design ersichtlich. 2. Neben der Kundenbefragung könnte auch eine Vertriebs- und Servicebefragung durchgeführt werden. Die Vertriebs- und Servicebefragung könnte tendenziell bessere und detailliertere Ergebnisse bringen, da das Verhältnis des Vertriebs- oder Servicemitarbeiters zu den operativen Mitarbeitern des Kunden oftmals enger und vertrauensvoller ist als das bei der Kundenbefragung meist antwortende Management des Kunden.

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3. Nicht jedes Kundenbedürfnis verfügt über den gleichen Nutzen oder „Value“. Daher ist eine Priorisierung der Kundenbedürfnisse festzulegen. Dies ist z. B. mithilfe des paarweisen Vergleichs und der Nutzwertanalyse sowie des House of Quality möglich. 4. Bei jedem Value-Engineering-Projekt muss überprüft werden, ob die Erfüllung der Kundenbedürfnisse durch die Einsparmaßnahmen beeinflusst, verbessert oder reduziert wird. 5. Alle gesammelten Ergebnisse aus den Kundenumfragen oder Analysen sind in das Lastenheft aufzunehmen. Zu Frage 5 Bei der Bearbeitung eines Value-Engineering-Projektes können sehr viele Methoden an unterschiedlichen Punkten eingesetzt werden (vgl. Rust und Heck 2018). Die folgenden Beispiele stellen nur einen Ausschnitt aus dem Repertoire dar. 1. Die Erstellung eines Lastenhefts zur Definition des eigentlichen Zieles des Projekts. 2. Die „Product Tear Down“-Methode nach Yoshihiko Sato (2005). Sie führt zu einer detaillierten Darstellung des Produktes, der Funktion sowie der Kosten und ermöglicht eine Wettbewerbsanalyse. 3. Die Nutzwertanalyse und der paarweise Vergleich. Sie stellen Methoden zur Priorisierung von Anforderungen und Spezifikationen dar. 4. Über die Methode des morphologischen Vergleiches lassen sich unterschiedliche Varianten einer neuen Produktentwicklung durchdenken und abbilden. 5. Der Einsatz von Problemlösungsmethoden, wie z. B. Kreativitätsmethoden oder diskursiven Lösungsmethoden, finden vor allem bei der Generierung von neuen Lösungsansätzen Einsatz. 6. Die Make-or–Buy-Analyse kann durch die Angebotsabfrage externer Lieferanten, und auch durch dadurch entstehenden Wettbewerb mit der internen Produktion, zu Kostenreduzierungen führen. 7. Die Pareto-Analyse, auch als 80/20-Regel bekannt, dient der Analyse von Kostentreibern in Produkten. Zu Frage 6 Der traditionelle Weg der Kostenreduzierung führte meist über die Verhandlungen des Einkaufs hinsichtlich besser Einkaufspreise der benötigten Materialen zu Kosteneinsparungen am Produkt. Der Value-Engineering-Prozess geht dahingegen ein solches Projekt anders an. 1. Im Value-Engineering-Prozess wird nicht auf den Einkauf, sondern die Beteiligung aller relevanten Bereiche wie Entwicklung, Produktion, Vertrieb und Qualitätssicherung gesetzt. 2. Er sieht außerdem eine Änderung der Konstruktion, vor allem bei veralten Konstruktionen vor.

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3. Es werden im Value-Engineering-Projekt Überarbeitungspotenziale am Produkt sowie im Prozess und Handling identifiziert und verbessert. 4. Auch die Anpassung an neue Kundenanforderungen ist durch Designänderungen zu realisieren. 5. Über die Ermittlung der Verbesserungspotenziale in den verschiedenen Bereichen lassen sich im Vergleich zur traditionellen Kostensenkung sehr viel höhere Einsparungen erreichen. Zudem ist die Kostenreduzierung mit dem Value-Engineering-Ansatz oftmals deutlich nachhaltiger. Zu Frage 7 Risikofaktoren lassen sich sowohl in der Teamarbeit als auch im Prozess, dem Produkt oder dem Markt ausmachen. Hierbei sollten besonders auf folgende Faktoren geachtet werden. 1. Das Nichteinhalten von Terminen für Meetings und Workshops führt oft zu einer Verzögerung oder gar Versandung des Projekts. Ausschlaggebend ist hierbei oft das Vorleben und Vorangehen der Verantwortlichen. Das Definieren von Verantwortlichkeiten und Terminen für die festgelegten Aufgaben durch die Verantwortlichen ist dabei unbedingt nötig. 2. Bei einer Kosteneinsparung z. B. durch einen Lieferantenwechsel ist unbedingt die Qualität zu überprüfen. Die überarbeitete Variante sollte die im Lastenheft definierte Qualität in jedem Fall beibehalten, um für den Kunden weiterhin attraktiv zu bleiben. 3. Fehlende Bewertungsstandards in den Analysen können zu unterschiedlichen, durch die Persönlichkeit des Bearbeiters herbeigeführten Bewertungen führen. Dies lässt sich durch eine präzise Beschreibung der Vorgehensweise, die mit Kennzahlen gemessen und beschrieben werden kann, vermeiden. 4. Auch die Marktsituation kann sich als Risikofaktor erweisen. Wird z. B. während der Bearbeitung des Projektes eine neue Technologie oder ein neues Produkt durch den Wettbewerb eingeführt, kann sich das eigene Projekt als „unnötig“ erweisen. Daher ist eine detaillierte Marktanalyse vor Beginn und während des Projekts durchzuführen und die Ergebnisse im Lastenheft aufzunehmen bzw. nachzupflegen. Eine schnelle Projektabwicklung wirkt dem Risikofaktor ebenfalls entgegen. Zu Frage 8 Grundsätzlich ist ein Value-Engineering-Projekt für hohe Absatzstückzahlen besser geeignet, da es oft mit höheren Investitionskosten verbunden ist. Diese können oft über ein hohes Absatzvolumen mit dann geringen Aufschlägen auf die Teilekosten umgelegt werden. Des Weiteren führen Einsparungen pro Stück bei einer hohen Absatzmenge zu höheren Einsparungen pro Jahr und so zu einem größeren Vorteil für das Unternehmen. Es sollten dennoch auch Produkte, die z. B. aufgrund einer Sonderanfertigung eine geringere Absatzmenge haben, geprüft werden. Finden sich etwa negative Margen

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bei Produkten oder handelt es sich um eine sehr alte Produktkonstruktion, ist die Überprüfung eines Value-Engineering-Projektes unter der Berücksichtigung der Eintrittswahrscheinlichkeiten der Potenziale nötig. Zu Frage 9 Der Value-Engineering-Prozess lässt sich auch bei Neuentwicklungen einsetzten. Dabei wird das Konzept des neuen Produktes hinsichtlich der Überarbeitungspotenziale überprüft. Die beschriebenen Analysen sind auch vor der Einführung eines Serienprodukts durchführbar und garantieren oft ein effizientes Produktdesign. Außerdem ist die Einbindung von Erkenntnissen aus früheren Projekten möglich.

Literatur Akiyama, K. (1991). Function analysis: systematic improvement of quality and performance. Cambridge: Productivity Press. Rust, H., & Heck, T. J. (2018). Erfolgsfaktoren im Value Engineering. VDI Wertanalyse-Praxistag 2018, Friedrichshafen. Düsselorf: VDI Wissensforum. Sato, Y. (2005). Value analysis tear-down: a new process for product development and innovation. New York: Industrial Press. VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung (Hrsg.). (2011). Wertanalyse – Das tool im value management. Berlin: VDI.

Prof. Dr.-Ing. Hendrik Rust folgte 2015 dem Ruf an die Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, lehrt dort Produkt- und Technologieentwicklung und gründete gleichzeitig die Beratung PLAN B, die sich auf Prozesse, Methoden und Studien im Bereich der Produkt- und Technologieentwicklung spezialisiert hat. Er studierte Maschinenbau an der Universität Hannover mit dem Schwerpunkt Konstruktion und Entwicklung und begann seine berufliche Laufbahn als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Robotersysteme beim Fraunhofer-Institut Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in Stuttgart. Er promovierte an der Universität Stuttgart im Bereich Maschinenbau zum Thema „Objekterfassung in verrauchten Umgebungen für teleoperierte kettenbasierte Manipulatorfahrzeuge“. Ab 2000 arbeitete Hendrik Rust bei der Firma Kärcher als Gruppenleiter Vorentwicklung, nachfolgend als Leiter Zentrale Forschung und Entwicklung und zuletzt als Leiter Entwicklung Consumer Floor Care. 2008 wechselte er als Technical Director und Mitglied der Geschäftsleitung zu dem Hersteller von Pneumatik- und Hydraulikkomponenten IMI Norgren. Zuletzt war er ab Ende 2010 Geschäftsführer des Weltmarktführers im vorbeugenden baulichen Brandschutz Firma Stöbich Brandschutz.

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Daniel Nowack (Dipl. Betriebswirt) ist der Globale Einkaufsdirektor von IMI und Precision Engineering. Daneben ist er Executive Member von IMI Precision Engineering und in dieser Funktion verantwortlich für Einkauf, VAVE, Tear Down und Lagerbestand. Er studierte Betriebswirtschaft an der VWA in Duisburg. Seine berufliche Laufbahn begann er als Groß- und Außenhandelskaufmann in einer Elektrogroßhandlung. Nach der Ausbildung führte sein Weg in den Einkauf bei den Espera Werken in Duisburg. Nach einem 1,5-jährigen Abstecher in die Welt des Controllings bei Thyssen Sonnenberg wechselte zurück in den Einkauf bei Makita Power Tools. Hier verantwortete er den europäischen Einkauf für Zubehörteile für Elektrowerkzeuge. Während der Zeit bei Makita absolvierte er ein Abendstudium zum Fachkaufmann für Einkauf und Materialwirtschaft. Nach 3,5 Jahren übernahm er seine erste Aufgabe bei seinem heutigen Arbeitgeber der IMI Norgren GmbH, wo er als strategischer Einkäufer begann.