Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter: Einprägsam - spannend - mit Lerneffekt 366260289X, 9783662602898, 9783662602904

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Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter: Einprägsam - spannend - mit Lerneffekt
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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1: Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen
1.1 Wichtige Symptome und Zeichen von Schlafstörungen
1.1.1 Schlafstörung
1.1.2 Müdigkeit
1.1.3 Schläfrigkeit
1.1.4 Hypersomnolenz
1.1.5 Hypersomnie
1.1.6 Fatigue
1.2 Begriffe aus der Schlafmedizin
1.2.1 Schlaflatenz
1.2.2 Bettzeit
1.2.3 Schlafperiode
1.2.4 Gesamtschlafzeit
1.2.5 Nächtliche Wachzeit
1.2.6 Schlafeffizienz
1.2.7 Schlafstadium
1.2.8 Polygraphie
1.2.9 Polysomnographie
1.2.10 Aktometrie
1.3 Regulation von Wachheit und Schlaf
1.4 Schlaf und höheres Lebensalter
1.4.1 Normwerte des Schlafes älterer Menschen
1.5 Diagnostik von Schlafstörungen
1.5.1 Erster Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen
1.5.2 Zweiter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen
1.5.2.1 Schlaftagebuch
1.5.2.2 Pittsburgh Sleep Quality Index
1.5.2.3 Epworth Sleepiness Scale
1.5.2.4 Stanford Sleepiness Scale
1.5.2.5 Karolinska-Sleepiness-Scale
1.5.2.6 STOP-BANG-Fragebogen
1.5.2.7 Insomnia Severity Index
1.5.2.8 International Restless Legs Study Group Rating Scale
1.5.2.9 Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS)
1.5.3 Dritter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen
1.5.3.1 Aktometer
1.5.3.2 Polygraphie
1.5.3.3 Weitere Geräte zur Schlafdiagnostik
1.5.4 Vierter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen
Literatur
2: Physische Aktivität und Schlafwerden
Literatur
3: Ich mache kein Auge mehr zu – Insomnie und Selbstmedikation mit Schlafmitteln
Fazit
Literatur
4: Der Schmerz raubt mir den Schlaf – physische Aktivität, Schmerz und Schlaf
Fazit
Literatur
5: Ich bin dauernd so erschöpft – Fatigue nach einer SARS-CoV-2-Infektion
Fazit
Literatur
6: Nach dem Sturz war alles anders – Schmerzen und Schlaf
Fazit
Literatur
7: Ich habe Angst, nach der Operation durchzudrehen – Delirprävention
Fazit
Literatur
8: Ich bin doch nicht verrückt – Delirprävention vor einem elektiven operativen Eingriff
Fazit
Literatur
9: Ich ziehe in ein Pflegeheim – Psychische Belastung bei einem Umzug ins Pflegeheim
Fazit
Literatur
10: Erst schläft er nicht, dann schläft er zu viel
Fazit
Literatur
11: Hilfe, meine Beine spielen verrückt! – Restless Legs und Eisenmangel
Fazit
Literatur
12: Meine Beine bewegen sich wieder, die Therapie hilft nicht mehr – Augmentation und Restless Legs
Fazit
Literatur
13: Ich schlafe doch schon so viel und bin trotzdem immer müde – obstruktive Schlafapnoe
Fazit
Literatur
14: Ich verstehe das nicht, sie schläft so wechselhaft – Demenz und irregulärer Schlaf
Fazit
Literatur
15: Ich kann nachts nicht mehr schlafen und schlafe am Tag – Demenz und Schlaf
Fazit
Literatur
16: Hilft Sauerstoff bei obstruktiver Schlafapnoe? – Rescue-Behandlung bei Intoleranz von CPAP
Fazit
Literatur
17: Das Beatmungsgerät hilft ja gar nicht, was soll ich machen? – Zentrale Schlafapnoe unter einer APAP-Behandlung
Fazit
Literatur
18: Warum soll ich ein PAP-Gerät anwenden, mir fehlt doch nichts – APAP-Einleitung bei obstruktiver Schlafapnoe
Fazit
Literatur
19: Ich kann mit der Maske nicht schlafen, die nehme ich nicht mehr – UKPS-Einleitung bei APAP-Intoleranz
Fazit
Literatur
20: Ich finde keinen Schlaf, das kann doch keine Schlafapnoe sein – COMISA
Fazit
Literatur
Stichwortverzeichnis

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Helmut Frohnhofen

Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter Einprägsam – spannend – mit Lerneffekt

Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter

Helmut Frohnhofen

Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter Einprägsam - spannend - mit Lerneffekt Unter Mitarbeit von Christoph Schöbel, Martina Gross-Sundrup, Iris Rieger

Helmut Frohnhofen Schlafmediziner, Somnologe (DGSM) Orthopädie und Unfallchirurgie/Altersmedizin Universitätsklinikum Düsseldorf Düsseldorf, Deutschland

ISBN 978-3-662-60289-8    ISBN 978-3-662-60290-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.­dnb.­de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Umschlaggestaltung: deblik Berlin / Fotonachweis Umschlag: © Monkey Business/ stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomodell), ID: 84421096 Planung/Lektorat: Hinrich Kuester Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

V

Inhaltsverzeichnis 1

Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen................................1

1.1 Wichtige Symptome und Zeichen von Schlafstörungen....................................................3 1.1.1 Schlafstörung............................................................................................................................................3 1.1.2 Müdigkeit...................................................................................................................................................4 1.1.3 Schläfrigkeit..............................................................................................................................................4 1.1.4 Hypersomnolenz.....................................................................................................................................5 1.1.5 Hypersomnie............................................................................................................................................5 1.1.6 Fatigue........................................................................................................................................................5 1.2 Begriffe aus der Schlafmedizin....................................................................................................5 1.2.1 Schlaflatenz...............................................................................................................................................5 1.2.2 Bettzeit........................................................................................................................................................6 1.2.3 Schlafperiode............................................................................................................................................6 1.2.4 Gesamtschlafzeit.....................................................................................................................................6 1.2.5 Nächtliche Wachzeit...............................................................................................................................6 1.2.6 Schlafeffizienz...........................................................................................................................................6 1.2.7 Schlafstadium...........................................................................................................................................7 1.2.8 Polygraphie...............................................................................................................................................7 1.2.9 Polysomnographie.................................................................................................................................7 1.2.10 Aktometrie.................................................................................................................................................8 1.3 Regulation von Wachheit und Schlaf........................................................................................8 1.4 Schlaf und höheres Lebensalter..................................................................................................9 1.4.1 Normwerte des Schlafes älterer Menschen...................................................................................10 1.5 Diagnostik von Schlafstörungen................................................................................................11 1.5.1 Erster Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen................................................................12 1.5.2 Zweiter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen............................................................13 1.5.3 Dritter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen..............................................................17 1.5.4 Vierter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen..............................................................19 Literatur......................................................................................................................................................19 2

Physische Aktivität und Schlafwerden........................................................................21



Literatur......................................................................................................................................................23

3

I ch mache kein Auge mehr zu – Insomnie und Selbstmedikation mit Schlafmitteln...................................................................25



Literatur......................................................................................................................................................29

4

 er Schmerz raubt mir den Schlaf – physische Aktivität, D Schmerz und Schlaf..................................................................................................................31



Literatur......................................................................................................................................................39

VI

Inhaltsverzeichnis

5

I ch bin dauernd so erschöpft – Fatigue nach einer SARS-CoV-2-Infektion................................................................................................41



Literatur......................................................................................................................................................50

6

Nach dem Sturz war alles anders – Schmerzen und Schlaf............................51



Literatur......................................................................................................................................................55

7

I ch habe Angst, nach der Operation durchzudrehen – Delirprävention..................................................................................57



Literatur......................................................................................................................................................62

8

I ch bin doch nicht verrückt – Delirprävention vor einem elektiven operativen Eingriff.............................................................................63



Literatur......................................................................................................................................................67

9

I ch ziehe in ein Pflegeheim – Psychische Belastung bei einem Umzug ins Pflegeheim....................................................................................69



Literatur......................................................................................................................................................72

10

Erst schläft er nicht, dann schläft er zu viel..............................................................73



Literatur......................................................................................................................................................78

11

 ilfe, meine Beine spielen verrückt! – Restless Legs H und Eisenmangel........................................................................................................................81



Literatur......................................................................................................................................................86

12

 eine Beine bewegen sich wieder, die Therapie M hilft nicht mehr – Augmentation und Restless Legs...........................................87



Literatur......................................................................................................................................................90

13

I ch schlafe doch schon so viel und bin trotzdem immer müde – obstruktive Schlafapnoe....................................................................91



Literatur......................................................................................................................................................96

14

I ch verstehe das nicht, sie schläft so wechselhaft – Demenz und irregulärer Schlaf.......................................................97



Literatur......................................................................................................................................................103

15

I ch kann nachts nicht mehr schlafen und schlafe am Tag – Demenz und Schlaf..............................................................................................105



Literatur......................................................................................................................................................111

16

 ilft Sauerstoff bei obstruktiver Schlafapnoe? – H Rescue-Behandlung bei Intoleranz von CPAP........................................................113



Literatur......................................................................................................................................................117

VII Inhaltsverzeichnis

17

 as Beatmungsgerät hilft ja gar nicht, was soll ich machen? – D Zentrale Schlafapnoe unter einer APAP-Behandlung.......................................119



Literatur......................................................................................................................................................124

18

 arum soll ich ein PAP-Gerät anwenden, mir fehlt doch nichts – W APAP-Einleitung bei obstruktiver Schlafapnoe.....................................................127



Literatur......................................................................................................................................................132

19

I ch kann mit der Maske nicht schlafen, die nehme ich nicht mehr – UKPS-Einleitung bei APAP-Intoleranz........................................................135



Literatur......................................................................................................................................................140

20

I ch finde keinen Schlaf, das kann doch keine Schlafapnoe sein – COMISA................................................................................................141



Literatur......................................................................................................................................................146



Serviceteil

Stichwortverzeichnis..............................................................................................................................151

1

1

Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen Inhaltsverzeichnis 1.1

Wichtige Symptome und Zeichen von Schlafstörungen – 3

1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6

S chlafstörung – 3 Müdigkeit – 4 Schläfrigkeit – 4 Hypersomnolenz – 5 Hypersomnie – 5 Fatigue – 5

1.2

Begriffe aus der Schlafmedizin – 5

1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8 1.2.9 1.2.10

S chlaflatenz – 5 Bettzeit – 6 Schlafperiode – 6 Gesamtschlafzeit – 6 Nächtliche Wachzeit – 6 Schlafeffizienz – 6 Schlafstadium – 7 Polygraphie – 7 Polysomnographie – 7 Aktometrie – 8

1.3

Regulation von Wachheit und Schlaf – 8

1.4

Schlaf und höheres Lebensalter – 9

1.4.1

Normwerte des Schlafes älterer Menschen – 10

1.5

Diagnostik von Schlafstörungen – 11

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_1

1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4

E rster Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen – 12 Zweiter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen – 13 Dritter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen – 17 Vierter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen – 19

Literatur – 19

3 1.1 · Wichtige Symptome und Zeichen von Schlafstörungen

1

Qualitativ und quantitativ ausreichender Schlaf ist wichtig für Wohlbefinden, kognitive und physische Leistungsfähigkeit sowie gute Lebensqualität. Gestörter Schlaf hat erhebliche negative Auswirkungen auf die Gesundheit. Gestörter Schlaf reduziert nicht nur die Lebensqualität, er beeinflusst auch die physische, psycho-­ mentale und soziale Funktionsfähigkeit. Damit ist gestörter Schlaf nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft relevant und sozialmedizinisch bedeutsam. Aufgrund der Häufigkeit von Schlafstörungen gerade im höheren Lebensalter ist eine Abklärung sinnvoll, denn viele Schlafstörungen sind in der Regel gut behandelbar. Schlaf kann nicht erzwungen werden. Diese so wichtige Tatsache muss sehr früh bei der Abklärung und der Behandlung jedweder Schlafstörung vermittelt werden. Die Akzeptanz dieser Tatsache entlastet den Patienten, verändert seine Haltung gegenüber dem eigenen Schlafvermögen und fördert die therapeutisch notwendige Offenheit gegenüber etablierten und wirksamen Therapien.

1.1 

Wichtige Symptome und Zeichen von Schlafstörungen

In der Schlafmedizin sind Fachbegriffe etabliert, mit deren Hilfe der Schlaf und Schlafstörungen beschrieben werden können. Der Gebrauch dieser Begriffe ist wichtig, um den Schweregrad einer Schlafstörung und deren Ansprechen auf eine Therapie erfassen zu können. Daher erfolgt zunächst eine kurze Darstellung wichtiger Begriffe und Methoden, die in der Schlafmedizin etabliert sind. 1.1.1 

Schlafstörung

Definition Eine Schlafstörung liegt dann vor, wenn das Schlafvermögen, die Schlafqualität oder die Schlafmenge sich deutlich vom Schlaf gesunder Personen unterscheiden und die Tagesbefindlichkeit dadurch beeinträchtigt wird.

Ist die Tagesbefindlichkeit nicht beeinträchtigt, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit keine relevante Schlafstörung vor. Die Art der Beeinträchtigung am Tage ist unspezifisch und zeigt ein weites Spektrum. Daher sollte beim Vorliegen der folgenden Symptomatik differenzialdiagnostisch auch an eine zugrunde liegende Schlafstörung gedacht werden. Das Symptomspektrum einer Schlafstörung reicht von Problemen bei der Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit, über Stimmungsschwankungen, gedrückter Stimmung und depressiver Episode bis hin zu Stressintoleranz, verändertem Sozialverhalten, Schlaflosigkeit und exzessiver Einschlafneigung (excessive daytime sleepiness, EDS) (Mullington et al., 2021). Häufig treten mehrere dieser Symptome gleichzeitig auf.

4

1

Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

Dies internationale Klassifikation der Schlafstörungen (ICSD-3) unterscheidet sechs Hauptgruppen von Schlafstörungen. Die international etablierten Klassifikationssysteme für Erkrankungen wie die International Classification of Diseases in der elften Version (ICD-11), das Diagnostic and Statistical Manual in seiner fünften Version (DSM-5) und die ICSD-3 haben sich zwischenzeitlich bezüglich der Klassifikation von Schlafstörungen weitestgehend angeglichen. Bei der Diagnosestellung einer Schlafstörung sollte dennoch das verwendete Klassifikationssystem angegeben werden, um eine Vergleichbarkeit zu erreichen. z Klassifikation der Schlafstörungen nach ICSD-3 (Ito & Inoue, 2015)

1. 2. 3. 4. 5. 6. 1.1.2 

Insomnie Schlafbezogene Atmungsstörungen Zentralnervöse Störungen der Wachheit Zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen Parasomnien Schlafbezogene Bewegungsstörungen

Müdigkeit

Müdigkeit ist das subjektive Gefühl der Erschöpfung. Die Leistungsfähigkeit ist bei körperlichen, psychischen oder kognitiven Anforderungen reduziert. Müdigkeit ist die physiologische Folge langer Wachheit und signalisiert den Bedarf an Schlaf. Ausreichend langer Schlaf beseitigt Müdigkeit. Die Beseitigung von Müdigkeit durch ausreichend langen Schlaf ist ein wichtiges differenzialdiagnostisches Merkmal, um Müdigkeit von Schläfrigkeit (7 Abschn.  1.1.3) und Fatigue (7 Abschn. 1.1.6) abzugrenzen.  



1.1.3 

Schläfrigkeit

Schläfrigkeit ist die verminderte Wachheit als Folge einer reduzierten zentralnervösen Aktivierung der Hirnrinde. Betroffene Patienten schlafen zu Zeiten, an denen üblicherweise Wachheit erwartet wird. Auch ausreichend langer Schlaf führt nicht zu einer Beseitigung der Schläfrigkeit. Schläfrigkeit ist kein physiologisches Phänomen und bedarf einer weiteren Abklärung, da eine Vielzahl behandelbarer Störungen Schläfrigkeit am Tage auslösen kann. Schläfrigkeit wird durch validierte Fragebögen erfasst. Selbstbeurteilungsinstrumente zur Erfassung von Schläfrigkeit sind die Epworth Sleepiness Scale (ESS), die Stanford Sleepiness-Scale (SSS) oder die Karolinska Sleepiness Scale (KSS). Die ESS erfasst die durchschnittliche Schläfrigkeit über einen längeren Zeitraum (sog. trait-sleepiness), die SSS und die KSS messen die aktuelle Schläfrigkeit (sog. state-sleepiness). Der Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS) ist das bisher einzige Fremdbeurteilungsinstrument zur Erfassung von Schläfrigkeit bei älteren Menschen. Schläfrigkeit am Tage wird durch Patientenbeobachtung erfasst. Eine aktive

5 1.2 · Begriffe aus der Schlafmedizin

1

Mitarbeit des Patienten ist nicht mehr erforderlich. Durch seine Konzeption eignet sich der EFAS daher auch zur Beurteilung von Menschen, die in ihrer Selbsteinschätzung beeinträchtigt sind. 1.1.4 

Hypersomnolenz

Hypersomnolenz ist ein Überbegriff für eine Gruppe von Störungen der Vigilanz, die einen zentralen Ursprung haben. 1.1.5 

Hypersomnie

Hypersomnie bezeichnet das Phänomen der Schlafsucht. Klinisch äußert sich die Hypersomnie in Form von Tagesschläfrigkeit. Die Ursache einer Hypersomnie ist die Reduktion der zentralnervösen Aktivierung. Die von einer Hypersomnie Betroffenen schlafen nachts häufig sehr lange – nicht selten zehn und mehr Stunden – und benötigen nach dem Aufwachen längere Zeit, um richtig wach zu werden. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 5  % der Menschen in der Allgemeinbevölkerung betroffen sind. Die Hypersomnie ist nicht physiologisch, belastet die Betroffenen und muss schlafmedizinisch abgeklärt werden. 1.1.6 

Fatigue

Fatigue bezeichnet einen Zustand der andauernden Erschöpfung, Leistungsschwäche und Kraftlosigkeit, der sich durch körperliche Ruhephasen oder Schlaf nicht beseitigen lässt. Dieses Kriterium unterscheidet Fatigue auch von der physiologischen Müdigkeit nach langen Wachphasen. Patienten mit Fatigue sind nicht schläfrig. Dadurch unterscheidet sich Fatigue von Schläfrigkeit. Die Ursachen von Fatigue sind vielfältig.

1.2 

Begriffe aus der Schlafmedizin

1.2.1 

Schlaflatenz

Die Schlaflatenz (Sleep Latency, SL) oder auch Latency to persistent sleep ist die Zeitspanne vom Aufsuchen des Bettes bis zum definitiven Einschlafen. Die Schlaflatenz dient der Erfassung einer Einschlafstörung. Sie wird üblicherweise erfragt und kann mit apparativen Verfahren wie der Aktometrie (Abschn. 1.5.3.1) oder der Polysomnographie (Abschn. 1.2.9) gemessen werden. Die physiologischen Schlaflatenz liegt bei etwa 15–20 min und sollte nicht länger als 30 min dauern (Ohayon et al., 2005).

1

6

Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

1.2.2 

Bettzeit

Die Bettzeit (Time-in-Bed, TIB) ist die Zeitspanne vom Aufsuchen des Bettes bis zum morgendlichen Verlassen des Bettes. Sie ist die Summe aus Schlaflatenz, ­Gesamtschlafzeit und Wachzeit im Bett. 1.2.3 

Schlafperiode

Die Schlafperiode (Sleep Period Time, SPT) ist die Zeit vom erstmaligen Einschlafen bis zum letztmaligen Aufwachen. Sie setzt sich zusammen aus der Summe von Gesamtschlafzeit (TST) und nächtlicher Wachzeit (WASO). 1.2.4 

Gesamtschlafzeit

Die Gesamtschlafzeit (Total Sleep Time, TST) ist die Zeit, die schlafend im Bett verbracht wird. Die Gesamtschlafzeit kann erfragt oder gemessen werden. Eine Messung kann, wie bei allen schlafmedizinischen Zeitwerten mit der Aktometrie (Abschn. 1.5.3.1) oder der Polysomnographie (Abschn. 1.2.9) erfolgen. Diskre­ panzen zwischen der angegebenen und der gemessenen Gesamtschlafzeit sind nicht selten und können z. B. auf eine Wahrnehmungsstörung des Schlafes – sog. paradoxe Insomnie – hinweisen. Die Gesamtschlafzeit beträgt physiologischerweise sieben bis acht Stunden. Auch ältere Menschen erreichen häufig diese Schlafmenge, allerdings verteilen sich die Schlafphasen oft über 24 h (Ohayon et al., 2005). 1.2.5 

Nächtliche Wachzeit

Die nächtliche Wachzeit (Wake-After-Sleep-Onset, WASO) ist die Zeit, die nach dem erstmaligen Einschlafen und vor dem letztmaligen morgendlichen Erwachen wach im Bett verbracht wird. Die WASO nimmt mit dem Alter zu. Zeiten von bis zu zwei Stunden können für die WASO im Einzelfall noch normal sein. Entscheidend für die Relevanz der WASO ist immer die Tagesbefindlichkeit (Ohayon et al., 2005). 1.2.6 

Schlafeffizienz

Die Schlafeffizienz (Sleep Efficiency, SE) errechnet sich aus dem Quotienten der Gesamtschlafzeit und der im Bett verbrachten Zeit. Lange Bettzeiten ohne Schlaf reduzieren die Schlafeffizienz. Die Schlafeffizienz sinkt mit zunehmendem Lebensalter, sollte aber einen Wert von etwa 80  % auch im höheren Lebensalter nicht unterschreiten (Ohayon et al., 2005).

7 1.2 · Begriffe aus der Schlafmedizin

1.2.7 

1

Schlafstadium

Durch die elektrophysiologischen Parameter Elektroenzephalogramm (EEG), Elektroocculogramm (EOG) und Elektromyogramm (EMG) können Schlafstadien bestimmt werden. Die Registrierung erfolgt im Rahmen einer Polysomnographie. Dabei werden Zeitabschnitte von jeweils 30 s, die auch als Epochen bezeichnet werden, bewertet. Das während einer Epoche führende Schlafstadium wird für die Klassifikation der gesamten Epoche gewertet. Die Schlafstadien N1, N2 (Leichtschlaf), N3 (Tiefschlaf) und REM-Schlaf (Rapid Eye Movement, REM) können anhand der oben genannten elektrophysiologischen Parameter unterschieden werden. Aus der Summe der Bewertungen der einzelnen Epochen ergibt sich das sog. Hypnogramm. Die Auswertung erfolgt manuell oder mit Unterstützung durch Computerprogramme. Die manuelle, epochenweise Beurteilung des Schlafes kann Mikroveränderungen des Schlafes, die zeitlich kürzer als 30 s sind, methodenbedingt nicht erfassen. Dies bedeutet aber, dass der Schlaf auch bei einem physiologisch erscheinenden manuell erstellten Hypnogramm durchaus gestört sein kann. Computerprogramme erlauben bei der Auswertung von Polysomnographie feinere Analysen und die Erstellung von sog. Powerspektren. 1.2.8 

Polygraphie

Die Domäne der Polygraphie (PG) ist die Diagnostik schlafbezogener Atmungsstörungen durch den Einsatz kleiner tragbarer Geräte, die auch ambulant eingesetzt werden können. Dabei werden je nach Ausführung Parameter des Atemgasflusses, Schnarchgeräusche, Atemanstrengung, Pulsfrequenz, Sauerstoffsättigung und Körperlage aufgezeichnet. Die meisten Polygraphiegeräte erlauben zudem die Unterscheidung zwischen einer zentralen und einer obstruktiven Schlafapnoe. Der Aufzeichnungszeitraum sollte wenigstens sechs Stunden umfassen. Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Geräte in der Regel keine Schlafparameter registrieren. Daher eignen sich Polygraphiegeräte nie zum Ausschluss einer schlafbezogenen Atmungsstörung (SBAS). Andererseits ist ein schwerer Befund in der Polygraphie beweisend für eine SBAS und erlaubt die direkte Behandlung einer schlafbezogenen Atmungsstörung auch ohne Polysomnographie. Dennoch ist eine Polysomnographie zur Sicherung der Diagnose sinnvoll, da weitere – komorbide – Schlafstörungen nur so entdeckt werden können. 1.2.9 

Polysomnographie

Bei einer Polysomnographie (PSG) werden zusätzlich zu den bei der Polygraphie aufgezeichneten Parametern die zur Beurteilung der Schlafstadien relevanten Parameter Elektroenzephalogramm (EEG), Elektroocculogramm (EOG), Elektromyo-

8

1

Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

gramm (EMG) sowie ein Elektrokardiogramm (EKG) und eine Videoaufzeichnung der Nacht durchgeführt. Die Videoaufzeichnung ermöglicht die Diagnostik von Parasomnien (→), Bewegungsstörungen im Schlaf und hilft auch bei der Differenzialdiagnose nächtlicher Epilepsien. 1.2.10 

Aktometrie

Bei der Aktometrie wird das Aktivitätsprofil einer Person mit Hilfe eines kleinen Gerätes von der Größe einer Armbanduhr (sog. Aktometer) aufgezeichnet. Aus dem so gemessenen Bewegungsprofil kann verlässlich auf Schlaf- und Wachzeiten geschlossen werden (van Someren, 1997). Die großen Vorteile der Aktometer sind deren geringe Größe und die damit verbundene gering Belastung und hohe Akzeptanz seitens der Patienten sowie die Möglichkeit der Aufzeichnungsdauer über mehrere Tage. Daher eignen sich Aktometer hervorragend zur Diagnostik und Verlaufskontrolle von Störungen des zirkadianen Rhythmus und von nächtlichen Bewegungsstörungen. Aktometer eignen sich insbesondere zur schlafmedizinischen Diagnostik bei Demenzkranken (Mahlberg & Walther, 2007).

1.3 

Regulation von Wachheit und Schlaf

Der Schlaf besteht aus den beiden fundamentalen physiologischen Komponenten REM-Schlaf (Rapid-Eye-Movement-Schlaf, paradoxer Schlaf) und Non-REM-­ Schlaf. Der Non-REM-Schlaf gliedert sich weiter in die Stadien Leichtschlaf (N1 und N2) und Tiefschlaf (N3) (Berry et al., 2017). Der Schlaf beginnt mit dem Schlafstadium N1, geht in das Schlafstadium N2 über, erreicht dann Tiefschlafniveau (N3) und führt über das Schlafstadium N2 zur ersten REM-Schlafphase. Dieser physiologische Ablauf wird als Schlafzyklus bezeichnet. Ein solcher Schlafzyklus dauert zwischen 60 und 90  min und endet immer mit einer REM-Phase. Der normalerweise etwa sechs bis acht Stunden andauernde Nachtschlaf besteht aus drei bis fünf solcher Schlafzyklen. Mit Fortschreiten der Nacht nimmt der Tiefschlafanteil (N3) kontinuierlich ab und die Länge der REM-Schlafphasen nimmt zum Ende der Nacht zu. Tiefschlaf ist ein indirekter Hinweis auf die reversible Verschaltung von zerebralen Neuronen. Diese Verschaltung ermöglicht eine Synchronisation der neuronalen Aktivität, die im Tiefschlaf (N3) in langsamen, hochamplitudigen EEG-Wellen ihr elektrophysiologisches Korrelat findet. Im Laufe einer Nacht lösen sich die Verschaltungen der Neuronen wieder, die Synchronisation nimmt ab und die Menge an Tiefschlaf sinkt (Saper et al., 2005). Die Regulation von Wachheit und Schlaf wird durch zwei grundlegende Mechanismen gesteuert, die als homöostatischer Prozess (Prozess S) und zirkadianer Prozess (Prozess C) bezeichnet werden (Borbély, 1982). Der homöostatische Prozess (Prozess S) wird durch Akkumulation von Schlafdruck als Folge von Wachheit interpretiert. Das morphologische Substrat ist der Adenosingehalt des Gehirns, der mit andauernder Wachheit ansteigt. Schlaf am

9 1.4 · Schlaf und höheres Lebensalter

1

Tage reduziert den sich physiologisch aufbauenden Schlafdruck. Nachtschlaf baut den Schlafdruck ab und der Zyklus beginnt von vorne (Saper, 2013). Der zirkadiane Prozess (Prozess C) ist durch Oszillationen von Wachheit und Schlaf über eine 24-Stunden-Periode gekennzeichnet. Die Oszillationsfrequenz ist genetisch determiniert. Sie wird aber auch von Umweltfaktoren wie die Helligkeit der Umgebung oder die körperliche Aktivität beeinflusst (Saper, 2013). Diese Oszillationen werden durch den Hauptschrittmacher („Innere Uhr“ oder „Master Clock“) im Nucleus suprachiasmaticus (SCN) gesteuert. Der SCN selbst wird direkt von Neuronen der Netzhaut versorgt und erhält so die wichtige Information über die Helligkeit der Umgebung. Zudem sendet und empfängt der SCN Signale an und aus dem Organismus und integriert so den Stoffwechsel mit den Informationen aus der Umwelt (Hirota & Fukada, 2004). Auf diese Weise wird der endogene Rhythmus des SCN an die Anforderungen aus der Umwelt angepasst. Diese Anpassung wird auch als Entrainment bezeichnet. Da eine helle Umgebung, fehlende Dunkelheit in der Nacht, „Lichtverschmutzung“ oder Blindheit direkten Einfluss auf die Oszillationen des SCN haben, können hierdurch Störungen des zirkadianen Rhythmus verstärkt oder ausgelöst werden (Saper et al., 2005). Die komplexe Organisationsform von Wachheit und Schlaf erklärt, warum emotionale oder kognitive Belastungen den Schlaf rauben, warum nach einer opulenten Mahlzeit Müdigkeit auftritt, warum körperliche Aktivität die Wachheit steigert oder überlange Wachphasen von Helfern, z.  B. bei Katastropheneinsätzen, ohne kurzfristigen Schlafbedarf möglich werden. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge erlaubt andererseits aber auch, bei Störungen in diesem System spezifische und rational begründete therapeutische Interventionen zu entwickeln.

1.4 

Schlaf und höheres Lebensalter

Der Schlaf verändert sich über die Lebensspanne. Es ist wichtig, die altersnormalen Veränderungen des Schlafes zu kennen, um einerseits Fehlerwartungen eines älteren Menschen an das eigene Schlafvermögen zu korrigieren und andererseits normalen Schlaf von relevant gestörtem Schlaf im höheren Lebensalter abgrenzen zu können (Cooke & Ancoli-Israel, 2011). Die häufigsten phänotypischen Veränderungen des Schlafes älterer Menschen sind die Zunahme von Unterbrechungen des Nachtschlafes sowie das Auftreten längerer Wachperioden in der Nacht. Diese Veränderungen weisen auf eine veränderte Interaktion zwischen dem Schlafdruck (Prozess S) und dem Wachantrieb (Prozess C) hin (Ohayon, 2004). Die klinischen Folgen sind bei älteren Menschen die Abnahme der nächtlichen Schlafmenge, des Tiefschlafanteils in der Nacht, der Schlafeffizienz sowie eine Zunahme von Leichtschlaf. Begleitet werden diese Veränderungen von kurzen Schlafperioden (Napping) am Tage (Ancoli-Israel & Ayalon, 2006). Auch zeigen ältere Menschen einen Trend dahin, abends früher zu Bett zu gehen und morgens früher zu erwachen. Es erfolgt ein langsamer Wechsel des Chronotyps von der „Eule“ hin zur „Lerche“.

1

10

Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

1.4.1 

Normwerte des Schlafes älterer Menschen

Eine Möglichkeit, Normwert zu erstellen, ist die Untersuchung einer sehr gesunden Personengruppe. Deren Parameter gelten dann als normal. Dieses Vorgehen erfolgte auch bei freiwilligen älteren Menschen, um Normalwerte für den Schlaf zu finden. In diese Untersuchung wurden nur Personen eingeschlossen, die strenge Auswahlkriterien erfüllten. Diese Personengruppe wurde dann für mehrere Nächte in einem Schlaflabor untersucht (Reynolds et  al., 1985). Von den über 400 freiwilligen Probanden erfüllten nur 9 % die Einschlusskriterien. Dies bedeutet auch, dass der Schlaf bei älteren Menschen immer auch im Kontext der Komorbidität gesehen werden muss. Dennoch sind die Ergebnisse dieser kleinen Studie wichtig. Verglichen mit den Werten gesunder jüngerer Probanden, finden sich bei gesunden älteren Menschen eine leicht reduzierte Gesamtschlafzeit, eine deutlich reduzierte Schlafeffizienz, die aber immer noch oberhalb von 80 % liegt, eine leicht verlängerte Schlaflatenz und eine nächtliche Wachzeit von etwa einer Stunde. In einer weiteren Untersuchung wurden ausschließlich gesunde Probanden verschiedener Altersgruppen umfangreich schlafmedizinisch untersucht. Das Studienkollektiv umfasste 44 jüngere (Alter 20–30 Jahre), 35 mittelalte (Alter 40–55 Jahre) und 31 ältere (Alter 66–83 Jahre) Probanden (Dijk et al., 2010). In dieser Studie waren Männer und Frauen in der jüngeren und mittelalten Gruppe gleich häufig, in der älteren Probandengruppe überwog der Frauenanteil. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie waren eine signifikant abnehmende Gesamtschlafzeit in der Nacht (TST) mit zunehmendem Alter. Die TST lag bei den älteren Probanden aber immer noch oberhalb von sechs Stunden. Die Anzahl nächtlicher Aufwachereignisse nahm ebenso zu wie die Wachzeiten in der Nacht. Der Anteil an Tief- und REM-Schlaf nahm mit dem Alter ab. Die subjektive Schlafqualität unterschied sich nicht zwischen den Altersgruppen Die Erholsamkeit des Nachtschlafes war in der mittelalten Probandengruppe am besten, bei allerdings erheblicher Streuung der Einzelwerte. In einer Metaanalyse konnten die Daten von 3577 Probanden mit einer Altersspanne von 5 bis 102 Jahren analysiert werden. Die wesentlichen Veränderungen der Schlafparameter mit dem Alter bestätigten die Ergebnisse der vorherigen Studien (Ohayon, 2004). Die Schlafdauer, die auch genetisch beeinflusst wird (Jones et al., 2016), nimmt gemäß dieser Metaanalyse vom 40. bis zum 70. Lebensjahr um etwa 10 min pro Lebensdekade ab und verändert sich danach kaum noch. Pro Lebensdekade reduzieren sich der Tiefschlafanteil (Schlafstadium N3) um etwa 2 % und die Schlafeffizienz um etwa 3 %. Vom 30. bis zum 70. Lebensjahr stieg die nächtliche Wachzeit (wake after sleep onset, WASO) um etwa 10 min pro Lebensdekade an und verändert sich danach kaum noch. Weniger deutliche Veränderungen zeigen die Einschlaflatenz und der Anteil der Schlafstadien N1 und N2. Die Schlaflatenz der 20-Jährigen war um etwa 5 % kürzer als die der über 70-Jährigen (Ohayon, 2004). Diese Untersuchungen zeigen, dass sich die wesentlichen Veränderungen des Schlafes in der mittleren Altersgruppe vollziehen. Hier nehmen die Gesamtschlafzeit und der Tiefschlafanteil am deutlichsten ab und die nächtliche Wachzeit nimmt am deutlichsten zu. Die Schlaflatenz zeigt die geringsten Veränderungen mit dem

11 1.5 · Diagnostik von Schlafstörungen

1

Alter. Die Untersuchungen zeigen auch, dass die Veränderungen bei gesunden Menschen mit zunehmendem Alter eher leicht bis moderat ausgeprägt sind und die Gesamtschlafzeit in der Regel einen Wert von sechs Stunden nicht unterschreitet. Auffallend sind jedoch die Altersunterschiede bei der subjektiven Wahrnehmung des Schlafes. Hier zeigen sich zwischen den Altersgruppen keine signifikanten Unterschiede zwischen der angegebenen Gesamtschlafzeit, der Einschlaflatenz oder der Anzahl der nächtlichen Aufwachereignisse, wohl aber bezüglich der gesamten nächtlichen Wachliegezeit, die  – bei allerdings breiter Streuung  – mit dem Lebensalter zunimmt.

1.5 

Diagnostik von Schlafstörungen

Die Abklärung einer Schlafstörung sollte unabhängig vom Lebensalter schrittweise erfolgen. Die diagnostischen Schritte bauen aufeinander auf, müssen aber nicht alle bei jedem Patienten erfolgen. Vielmehr bietet ein schrittweises Konzept Perspektiven für Ärzte und Patienten, um im Bedarfsfall die Diagnostik qualifiziert zu erweitern, wenn die Schlafstörung dies erfordert oder die eigenen diagnostischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Das Ziel eines schrittweisen Vorgehens ist es, eine qualifizierte schlafmedizinische Diagnostik und Behandlung effizient sicherzustellen und eine Überwie auch Unterdiagnostik sowie eine Über- oder Unterbehandlung zu vermeiden. >>Die Abklärung einer Schlafstörung erfolgt in diagnostischen Schritten, die inhaltlich und konzeptionell definiert sind und aufeinander aufbauen.

Die Diagnostik einer Schlafstörung beginnt wie bei jeder anderen Erkrankung auch mit dem Erheben der Eigen- und die Fremdanamnese. Zusätzlich erfolgt eine gründliche körperliche Untersuchung. Die körperliche Untersuchung erfolgt mit einem besonderen Fokus auf körperliche Erkrankungen und anatomische Besonderheiten mit Einfluss auf den Schlaf. Hier muss insbesondere auf Fehlstellungen im Nase-, Mund-, Kiefer- und Gesichtsbereich geachtet werden. Anschließend erfolgt eine spezifische schlafmedizinische Diagnostik, bei der validierte Fragebögen (→) und Protokolle (→) verwendet werden, deren Auswahl sich einerseits an den Ergebnissen der Anamneseerhebung orientiert, andererseits aber auch die kognitiven Fähigkeiten eines Patienten berücksichtigen muss. Gerade ältere Menschen haben manchmal Schwierigkeiten, Fragebögen auszufüllen. Erweitert wird die Diagnostik dann durch eine apparative Basisdiagnostik mit dem Einsatz von Aktometern (→) und/oder einem Polygraphiegerät (→). Diese apparative Diagnostik objektiviert Veränderungen von physiologischen Schlafparametern. Die kardiorespiratorische Polysomnographie mit Videoaufzeichnung der Nacht stellt die umfangreichste, aber auch aufwendigste schlafmedizinische Diagnostik dar. Nicht bei allen Schlafstörungen müssen diese hier aufgeführten diagnostischen Schritte durchgeführt werden. Oft erlaubt die Anamneseerhebung in Verbindung mit validierten Fragebögen sowie einer Verlaufsbeurteilung schon eine verlässliche Diagnosestellung.

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Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

1.5.1 

Erster Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen

Den ersten und wichtigsten diagnostischen Schritt zur Abklärung einer Schlafstörung bildet Anamnese. Durch die Anamnese soll zunächst geklärt werden, ob überhaupt eine Schlafstörung vorliegt und ob eine weitere Diagnostik erforderlich ist. Einfache Fragen, wie die nach der Zufriedenheit mit dem eigenen Schlafvermögen, nach der Erholsamkeit des Nachschlafes und nach der Tagesbefindlichkeit sind schon sehr aussagefähig. Wer mit seinem Nachtschlaf zufrieden ist und sich am Tage wohlfühlt, hat in der Regel keine relevante Schlafstörung. Andererseits ist übermäßige Müdigkeit und Einschlafneigung am Tage trotz ausreichender Gelegenheit zum Schlafen auch im höheren Lebensalter nicht normal und weist auf einen gestörten Schlaf hin. Die bedeutet auch, dass relevant gestörter Nachtschlaf immer die Tagesbefindlichkeit negativ beeinflusst. Gerade bei älteren Menschen ist es wichtig, zusätzlich den Partner oder die Angehörigen zu befragen (Fremdanamnese), da zum Beispiel Schnarchen oder Tagesschläfrigkeit vom Patienten nicht immer berichtet werden oder als altersnormal hingenommen werden. Ganz wichtig ist die Fremdanamnese bei der wachsenden Anzahl von Patienten mit Hirnleistungsstörungen, einer Demenz oder einer depressiven Episode. Schlafstörungen werden nach der Internationalen Klassifikation der Schlafstörungen (ICSD-3) in die sechs Hauptgruppen Insomnie, schlafbezogene Atmungsstörungen, Hypersomnolenz-Syndrome, Parasomnien, Störungen des zirkadianen Rhythmus und schlafbezogene Bewegungsstörungen unterteilt. Nicht selten liegen bei älteren Menschen mehrere Schlafstörungen gleichzeitig vor. Hier hilft diagnostisch auch die Verlaufsbeurteilung. An eine komorbide Schlafstörung sollte immer dann gedacht werden, wenn eine einmal eingeleitete Therapie keinen Erfolg zeigt. Eine strukturierte Schlafanamnese, die sich an der Klassifikation der Schlafstörungen gemäß der ICSD-3 orientiert, wurde von der amerikanischen geriatrischen Gesellschaft (AGS) konsentiert. . Tab.  1.1 zeigt eine Zusammenstellung dieser Fragen und die möglichen damit assoziierten Schlafstörungen. Die Fragen können von jedem Arzt, der ältere Menschen betreut, auch ohne spezielle schlafmedizinische Vorkenntnisse gestellt werden. Sie erlauben zudem eine orientierende Einordnung einer möglichen Schlafstörung, jedoch noch keine definitive schlafmedizinische Diagnose (Beaulieu-Bonneau & Hudon, 2009). Zur Basisdiagnostik einer Schlafstörung gehört immer auch eine körperliche Untersuchung. Neben den Vitalparametern wie Pulsfrequenz und Blutdruck erfolgen die klinische Untersuchung von Herz und Lunge sowie die Messung des Halsumfangs (s. auch Stop-Bang-Skala). Auf Zeichen einer Herzinsuffizienz und einer ventilatorischen Insuffizienz ist besonders zu achten. Auch der Nasen-Rachen-Raum wird inspiziert, um Engstellungen zu erkennen, zum Beispiel durch große Tonsillen, Fehlbildungen wie eine Deviation des Nasenseptums oder eine Hyper- oder Hypognatie. Anlassbezogen wird die Diagnostik durch eine Bildgebung ergänzt.  

13 1.5 · Diagnostik von Schlafstörungen

1

.       Tab. 1.1  Anamnesefragen zum Schlaf im höheren Lebensalter. (Bloom et al., 2009) Screeningfragen bei vermuteter Schlafstörung im höheren Lebensalter

Mögliche Schlafstörung

Um wie viel Uhr gehen Sie normalerweise zu Bett?

Störung des zirkadianen Rhythmus, Schlafhygiene

Zu welcher Uhrzeit erwachen Sie morgens normalerweise?

Störung des zirkadianen Rhythmus, Früherwachen bei Insomnie (Schlaflosigkeit), Schlafhygiene

Fällt es Ihnen häufig schwer einzuschlafen?

Insomnie, Einschlafstörung

Wie oft wachen Sie in der Nacht auf ?

Insomnie, Durchschlafstörung

Wenn Sie nachts aufwachen, fällt es Ihnen schwer wieder einzuschlafen?

Insomnie

Schnarchen Sie nachts?

schlafbezogene Atmungsstörung

Haben Sie Atempausen während des Schlafes?

schlafbezogene Atmungsstörung

Bewegen Sie sich nachts heftig im Bett oder treten Sie um sich?

Bewegungsstörungen im Schlaf, REM-Schlaf-­ bezogene Verhaltensstörungen

Wissen Sie, ob Sie im Schlaf essen, umherlaufen, treten oder schreien?

Parasomnien (Bewegungsstörungen im Schlaf)

Fühlen Sie sich tagsüber überwiegend müde oder schläfrig?

Hinweis auf gestörten oder nicht erholsamen Schlaf (Schlafmenge, Schlafqualität)

Schlafen Sie mehrfach tagsüber ein?

Hypersomnolenz (Schläfrigkeit)

Kommt es vor, dass Sie tagsüber einschlafen, ohne dies zu wollen?

Hypersomnolenz

Wie viel Schlaf benötigen Sie, um sich wach und leistungsfähig zu fühlen?

individuell empfundener Schlafbedarf

Nehmen Sie Präparate, um Ihren Nachtschlaf zu verbessern?

Hinweis auf Insomnie

1.5.2 

Zweiter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen

Der zweite Schritt der Diagnostik bei einer aufgrund der Basisdiagnostik (erster Schritt) vermuteten Schlafstörung besteht in einer strukturierten Erfassung des Schlafes und der Symptomatik am Tage mit Hilfe von validierten Assessmentinstrumenten. Eines der wichtigsten qualitativen Assessmentinstrumente ist das Schlaftagebuch. Weitere Assessmentinstrumente sind validierte Fragebögen, die gezielt bei einer konkreten Verdachtsdiagnose angewendet werden und zur weiteren Sicherung und Quantifizierung einer Schlafstörung beitragen. Die Fragebögen eignen

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Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

.       Tab. 1.2  Auswahl häufig verwendeter Fragebögen zum Schlaf und zu Schlafstörungen Instrument

Anwendung

Schlaftagebuch

Dokumentation des Schlafverhaltens und der Tagesbefindlichkeit

Pittsburgh Sleep Quality Index (PSQI)

Schlafqualität und Schlafmuster

Epworth Sleepiness Scale (ESS)

Schweregrad der Schläfrigkeit am Tage

Stanford Sleepiness Scale

aktuelle Schläfrigkeit

Karolinska Sleepiness Scale

aktuelle Schläfrigkeit

STOP-BANG-Questionnaire (SBQ)

Schlafapnoe

Insomnia Severity Index (ISI)

Insomieschweregrad und Insomniefolgen

International Restless Legs Study Group Rating Scale (IRLSGRS)

Restless-Legs-Diagnose und Schweregrad

Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS)

Fremdbeurteilung der Schläfrigkeit

sich auch zur Verlaufskontrolle einer Schlafstörung und zum Nachweis des Ansprechens einer Schlafstörung auf eine Therapie. . Tab. 1.2 listet häufig verwendete validierte Fragebögen zur Schlafdiagnostik auf und verweist auf deren Anwendungsbereich. Die einzelnen Assessmentinstrumente werden später auch bei den jeweiligen Kasuistiken besprochen.  

>>Die Diagnose einer Schlafstörung erfolgt synoptisch unter Berücksichtigung aller bisher erhobenen Befunde. Das Ergebnis eines einzelnen Fragebogens ist zur Diagnosestellung nicht ausreichend.

1.5.2.1

Schlaftagebuch

Ein sehr wertvolles diagnostisches Hilfsmittel in der Schlafmedizin ist das Schlaftagebuch. Ein Schlaftagebuch kann nicht nur vom Patienten, sondern auch von Angehörigen oder Betreuungspersonen geführt werden. Daher ist auch die Anwendung zum Beispiel in einem Pflegeheim bei der Betreuung Demenzkranker möglich und sinnvoll. Ein Schlaftagebuch sollte über wenigstens zwei Wochen geführt werden. Die Dokumentation in einem Schlaftagebuch ähnelt einem Stundenplan. Der Patient oder seine Bezugsperson tragen jeden Abend und jeden Morgen die Bettund die Aufstehzeiten ein. Weiterhin werden die im Bett verbrachte Zeit (Time-in-­ Bed, TIB), die geschätzte Dauer bis zum Einschlafen (Schlaflatenz), die Anzahl von Aufwachereignissen in der Nacht, die kumulative nächtliche Wachzeit (Wake after Sleep Onset, WASO), die Gesamtschlafzeit (Total-Sleep-Time, TST), die Erholsamkeit des Schlafs und besondere Ereignisse eingetragen.

15 1.5 · Diagnostik von Schlafstörungen

1

Als weitere wichtige Parameter sollten die Tagesbefindlichkeit und die subjektive Leistungsfähigkeit, die Häufigkeit und Dauer von Schlafphasen am Tage und des Mittagsschlafs, der Alkoholkonsum am Abend, die Einnahme von Schlafmitteln sowie weitere wichtige Vorkommnisse mit vermutetem Einfluss auf den Schlaf dokumentiert werden. Für den behandelnden Arzt ist ein solches Schlaftagebuch bei geringem Zeitund Kostenaufwand eine wertvolle Informationsquelle, die Aufschluss über das Schlafverhalten und Beschwerden gibt. Aus dem Gesamtbild des Schlaftagebuchs lassen sich weiterhin differenzialdiagnostische und therapeutische Maßnahmen ableiten. Typische Beispiele sind der Verdacht auf eine Hypersomnolenz bei mangelnder Erholsamkeit des Schlafs trotz ausreichender Schlafdauer oder der Verdacht auf eine depressive Episode bei regelmäßigem morgendlichen Früherwachen (vor fünf Uhr) mit Stimmungstief am Morgen und Besserung der Stimmung im Tagesverlauf. Eine der wichtigsten Informationen, die das Schlaftagebuch bietet, besteht in den Hinweisen darauf, ob der Patient durch eine mangelnde Schlafhygiene zur Aufrechterhaltung seiner Schlafprobleme selbst beiträgt. Hierzu gehören beispielsweise der gerade in der Selbsteinschätzung häufig bagatellisierte, in den Schlaftagebüchern aber dokumentierte regelmäßige moderate Alkoholkonsum am Abend, die Dauer und der Zeitpunkt des Mittagsschlafs, unregelmäßige Bett- und Aufstehzeiten sowie die Dauer der Bettzeit insgesamt. Das Schlaftagebuch dokumentiert zudem das Ausmaß einer Schlafstörung und ermöglicht die Dokumentation von Veränderungen im Verlauf. 1.5.2.2

Pittsburgh Sleep Quality Index

Der Pittsburgh Sleep Quality Index (PSQI) (Buysse et al., 1989) erfragt systematisch zahlreiche Parameter zum Schlaf und zur Befindlichkeit. Die Befragung bezieht sich auf den Zeitraum der letzten vier Wochen. Aus den Antworten ergeben sich die sieben Unterpunkte Schlafqualität, Schlaflatenz, Schlafdauer, Schlafeffizienz, Schlafstörungen, Schlafmittelkonsum und Tagesmüdigkeit, die auf einer Likert-Skala jeweils mit 0 bis 3 Punkten bewertet werden. Aus der Summe der Unterpunkte wird ein Gesamtscore mit einem Umfang von 0–21 Punkten gebildet. Sechs und mehr Punkte des Gesamtscore sprechen für eine schlechte Schlafqualität. Der PSQI wurde auch für ältere Menschen validiert, eignet sich zur Beurteilung der Schlafqualität, erlaubt aber nicht die Diagnose einer Schlafstörung. Der PSQI sollte nur bei Menschen mit ausreichender Gedächtnisleistung verwendet werden. Der Fragebogen kann zusammen mit der Auswerteanleitung unter der Adresse 7 www.­Schlaffragebogen-­PSQI.­pdf (Zugriff 24.05.2022) eingesehen werden.  

1.5.2.3

Epworth Sleepiness Scale

Die Epworth Sleepiness Scale (ESS) (Johns, 1991) ist ein Selbstbeurteilungsbogen zur Erfassung von andauernder („trait-sleepiness“) Tagesschläfrigkeit. Der Patient soll auf einer dreistufigen Likert-Skale (0–3) beurteilen, wie wahrscheinlich er in acht verschiedenen Situationen einschlafen würde. Die Einzelbewertungen werden

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1

Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

zu einem Summenscore (Spannweite 0–24) aufaddiert. Werte von 11 oder mehr Punkten sprechen für eine ausgeprägte Tagesschläfrigkeit. Der Bewertungszeitraum bezieht sich auf die letzten beiden Wochen und setzt eine ausreichende Introspektionsfähigkeit und Gedächtnisleistung voraus. Die ESS kann auch als Fremdbeurteilungsinstrument von Bezugspersonen ausgefüllt werden. Der Fragebogen ist unter anderem unter der Adresse 7 www.­prosomno.­de einsehbar (Zugriff 25.05.2022).  

1.5.2.4

Stanford Sleepiness Scale

Bei der Stanford Sleepiness Scale (SSS) (Glenville & Broughton, 1978) beurteilt der Patient auf einer siebenstufigen Likert-Skala seinen aktuellen Grad an („state-­ sleepiness“) Schläfrigkeit. Die SSS eignet sich zur kurzfristigen Verlaufsbeurteilung von Schläfrigkeit, setzt aber eine ausreichende Introspektionsfähigkeit voraus. Die SSS kann in einer englischen Version unter anderem unter der Adresse 7 www.­ aurora.­edu eingesehen werden (Zugriff 25.05.2022).  

1.5.2.5

Karolinska-Sleepiness-Scale

Ähnlich wie die SSS beurteilt die KSS (Akerstedt & Gillberg, 1990) das aktuelle Ausmaß an Schläfrigkeit („state-sleepiness“) auf einer zehnstufigen Rangskala. Die KSS kann unter anderem unter in einer englischen Version unter 7 www.­med.­ upenn.­edu eingesehen werden (Zugriff 25.05.2022).  

1.5.2.6

STOP-BANG-Fragebogen

Die Bezeichnung „STOP-BANG“ ist ein Akronym, welches aus acht Fragen zur Abschätzung der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer obstruktiven Schlafapnoe gebildet wird (Chung et al., 2008). Die Fragen werden mit ja (1 Punkt) oder nein (0 Punkte) beantwortet. Der Summenscore umfasst einen Bereich von 0 bis 8 Punkten. Fünf und mehr Punkte oder zwei positive STOP-Fragen und männliches Geschlecht oder BMI > 35 kg/m2 bzw. ein Halsumfang von mehr 41 cm bei Frauen oder von mehr als 43 cm bei Männern gelten als pathologisch. Die acht Fragen lauten: 1. S – Schnarchen Sie laut? 2. T – Fühlen Sie sich tagsüber müde oder schläfrig? 3. O  – Wurden bei Ihnen Atempausen, Würgen oder Keuchen im Schlaf beobachtet? 4. P – Haben Sie hohen Blutdruck? 5. B – Beträgt der Body-Mass-Index mehr als 35 kg/m2? 6. A – Beträgt das Alter mehr als 50 Jahre? 7. N – Wie groß ist der Halsumfang 8. G – Welches Geschlecht haben Sie? Die STOP-BANG kann in einer deutschen Version unter 7 www.­stopbang.­ca (Zugriff 25.05.2022) eingesehen werden.  

17 1.5 · Diagnostik von Schlafstörungen

1.5.2.7

1

Insomnia Severity Index

Der Insomnia Severity Index (ISI) (Bastien et al., 2001) besteht aus sieben Fragen zur Schlaflosigkeit (Insomnie). Erfragt werden der Phänotyp einer Insomnie, ob also Ein- oder Durchschlafstörungen oder Früherwachen vorliegen, die Zufriedenheit mit dem eigenen Schlafvermögen, die Auswirkungen der Schlafstörung auf die Tagesbefindlichkeit und auf die sozialen Aktivitäten sowie die Sorge über das eigene Schlafvermögen. Der Beurteilungszeitraum bezieht sich auf die letzten beiden Wochen. Jede der sieben Fragen wird auf einer Likert-Skala von 0 bis 4 bewertet werden. Der Gesamtsore umfasst 0 bis 28 Punkte. Werte von 8 bis 14 Punkten werden als subklinische, Werte von 15 bis 21 Punkten als moderate und Werte von mehr als 22 Punkten als schwere Insomnie interpretiert. Der ISI erfordert eine ausreichende Gedächtnisleistung und erlaubt aufgrund des Zeitraumes von zwei Wochen keine Unterscheidung zwischen einer akuten ( 3 Monate). Die deutsche Version des Fragebogens kann unter 7 https://www.­digotor.­info/Downloads/Scores/ISI.­pdf ?m=1609281800& (Zugriff 25.05.2022) eingesehen werden.  

1.5.2.8

International Restless Legs Study Group Rating Scale

Die International Restless Legs Study Group Rating Scale (IRLSGRS) (Walters et al., 2003) wurde zur Diagnosestellung und zur Verlaufsbeurteilung des Restless-­ Legs-­Syndroms (RLS) konzipiert. Die Skala besteht aus 10 Fragen zum Restless-­ Legs-­Syndrom (RLS), die jeweils auf einer Likert-Skala von 0 bis 4 bewertet und zu einem Summenscore (Bereich 0 bis 40 Punkte) aufaddiert werden. Die Schweregradeinteilung erfolgt anhand des Summenscores und lautet leicht (1 bis 10 Punkte), moderat (11 bis 20 Punkte), schwer (21 bis 30 Punkte) und sehr schwer (mehr als 31 Punkte). Der Fragebogen ist unter anderem unter 7 www.­kssg.­ch einsehbar (Zugriff 25.05.2022).  

1.5.2.9

Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS)

Der Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS) wurde speziell für die Anwendung in der Geriatrie und in Pflegeheimen konzipiert. Der EFAS ist ein Fremdbeobachtungsinstrument, bei dem über eine Woche hinweg beobachtet wird, ob ein Patient zu Zeitpunkten schläft, an denen Wachheit normal wäre. Der Fragebogen wurde extern mit Hilfe der Pupillographie validiert und korreliert mit geriatrischen Problemen wie Frailty, Sturz sowie funktionelle und kognitive Einschränkungen. 1.5.3 

Dritter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen

Beim dritten diagnostischen Schritt in der schlafmedizinischen Abklärung werden apparative Techniken verwendet. Die hier verwendeten Geräte sind klein, kaum belastend und können ambulant eingesetzt werden. Die Auswahl des jeweiligen Gerätes richtet sich nach der schlafmedizinischen Fragestellung. Die Anzahl verfügbarer Geräte ist groß. Eine Einteilung der verfüg-

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1

Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

baren Geräte zur Untersuchung von Schlafstörungen wurden von Nancy Collop (Collop et al., 2011) vorgeschlagen. Diese Einteilung bewertet sechs Kategorien, die mit dem Akronym SCOPER abgekürzt wurden. Diese Kategorien umfassen die diagnostischen Bereiche Schlaf (S), kardiovaskuläre Parameter (C), die Oximetrie (O), die Körperlage (P), das Elektroenzephalogramm (E) und den Atemgasfluss an Mund und Nase (R). 1.5.3.1

Aktometer

Ein Aktometer hat die Größe einer Armbanduhr, ist nicht belastend und wird auch von Demenzkranken problemlos akzeptiert. Das Gerät zeichnet die körperliche Aktivität über mehrere Tage auf. Aus den so gewonnenen Aktivitätsprofilen kann auf den Schlafrhythmus und die Schlaf- und Wachzeiten geschlossen werden. Die Aktivitätsprofile korrelieren gut mit den bei der Polysomnographie dokumentierten Schlaf- und Wachzeiten. Jedoch kann anhand der Daten eines Aktometers keine Schlafstadienanalyse erfolgen und die Aufzeichnung reicht nicht zum Abklärung einer schlafbezogenen Atmungsstörung aus. Die Domäne des Einsatzes von Aktometern ist die Frage nach einer zirkadianen Rhythmusstörung und einer Insomnie. Der große Vorteil der Aktometer ist der mögliche lange Aufzeichnungszeitraum von zwei und mehr Wochen. Optimal in der Diagnostik ist die Kombination der Anwendung eines Aktometers und des zeitgleichen Führens eines Schlaftagebuches. 1.5.3.2

Polygraphie

Polygraphiegeräte zeichnen Biosignale wie Atemgasfluss, Pulsfrequenz, Körperlage, Sauerstoffsättigung und Schnarchgeräusche auf. Der Schlaf wird nicht registriert. Das Ergebnis einer Polygraphie ist bei Nachweis einer Schlafatmungsstörung beweisend, kann aber nie eine Schlafatmungsstörung ausschließen, da nicht beurteilt werden kann, ob ein Patient wirklich geschlafen hat. Daher ist die gleichzeitige Anwendung einer Aktometrie mit einer Polygraphie ist sinnvoll. So lässt sich abschätzen, ob ein Patient während der polygraphischen Aufzeichnung wahrscheinlich geschlafen hat. Diese Kombination von Polygraphie und Aktometrie reduziert auch den Anteil falsch-negativer Befunde bei der Polygraphie. Die Geräte können stationär oder ambulant angewendet werden. Sie erlauben in Kombination mit validierten Fragebögen die Formulierung einer Verdachtsdiagnose. Eine definitive Klärung kann erforderlich werden und macht dann eine Polysomnographie erforderlich. 1.5.3.3

Weitere Geräte zur Schlafdiagnostik

Eine wachsende Anzahl von Smartphone- und Smartwatch-Anwendungen zur Erfassung von Schlafvariablen sind verfügbar. Hier muss klar gefordert werden, dass diese Applikationen mittels einer Polysomnographie validiert sein müssen, um die Ergebnisse verwerten zu können. So hilfreich ein gesundheitsbewusster Lebensstil ist, nicht valide Messungen können verunsichern, eine falsche Sicherheit erzeugen und unnötige Gesundheitskosten verursachen.

19 Literatur

1.5.4 

1

Vierter Schritt in der Diagnostik von Schlafstörungen

Die Untersuchung in einem Schlaflabor mit Videodokumentation des Schlafes ist der Gold-Standard in der schlafmedizinischen Abklärung und liefert in der Regel eine definitive schlafmedizinische Diagnose. Aber die Durchführung einer Polysomnographie ist nicht bei allen Schlafstörungen erforderlich. Eine Polysomnographie ist auch nicht überall verfügbar. Sie ist aufwendig und kostenintensiv. Zudem tolerieren ältere Menschen diese Untersuchung weniger gut, wobei die Nykturie und nächtliche Unruhe bei Demenz die Hauptgründe dafür sind. Für Menschen mit Demenz ist die Polysomnographie nur bei leichten Formen der Demenz überhaupt durchführbar. Hier kommen wenige aufwendige Verfahren zur Anwendung. Dabei muss die Auswahl des geeigneten diagnostischen Gerätes individuell erfolgen. Eine Polysomnographie kann ergänzt werden durch einen Multiplen Schlaflatenztest (MSLT), einen Wachbleibetest (Maintenance of Wakefulness Test, MWT) oder eine Pupillographie. Diese Verfahren sind aufwendig, liefern aber solide Ergebnisse bezüglich der Schläfrigkeit bzw. Wachheit. Sie sind wichtig im Kontext einer gutachterlichen Beurteilung, werden aber aufgrund der Komplexität dieser Untersuchung nur in spezialisierten schlafmedizinischen Zentren angeboten.

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Kapitel 1 · Grundlagen und Begriffsklärungen zu Schlafstörungen

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Physische Aktivität und Schlafwerden Inhaltsverzeichnis Literatur – 23

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_2

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Kapitel 2 · Physische Aktivität und Schlafwerden

Wie viele andere körperliche Funktionen verändert sich auch der Schlaf mit zunehmendem Lebensalter. So wie die Haare grau werden, so ergraut auch der Schlaf. Diese Veränderungen müssen von den Schlafstörungen im engeren Sinne abgegrenzt werden. Therapeutisch sind eine schlafmedizinische Beratung und die Anwendung der Schlafhygiene erforderlich.

nnLernziele Die altersphysiologischen Veränderungen des Schlafes kennen Beratung des Patienten ► Beispiel

Ein 76-jähriger, rüstiger Patient stellt sich aufgrund von Schlafproblemen vor. Zwar könne er relativ gut einschlafen, aber er wache schon nach etwa drei Stunden Schlaf auf und liege dann oft eine Stunde wach im Bett, ohne wieder einschlafen zu können. Diese Beschwerden hätten sich langsam in den letzten Jahren so entwickelt. Zunächst sei das etwa alle zwei Wochen einmal vorgekommen, dann ein- bis zweimal pro Woche und seit etwa einem halben Jahr mehrfach in der Woche. Schlafmittel wolle er keine nehmen, aber eine Verbesserung seines Schlafes wünsche er sich schon. ◄

Evaluation Der Patient klagt über Durchschlafstörungen. Entscheidend ist die Frage nach dem Schlafverhalten und der Tagesbefindlichkeit.

► Beispiel

Sie fragen den Patienten nach seinem Schlafverhalten. Dazu gehören Angaben zur Bettzeit, zur Schlaflatenz, zur nächtlichen Wachzeit, zur Aufstehzeit, zur nächtlichen Gesamtschlafzeit, zu Schlafphasen am Tage und zur Tagesbefindlichkeit. Hier berichtet der Patient über eine Bettzeit von 22:30  Uhr, eine Schlaflatenz von 30 min, eine Aufstehzeit von 7:00 Uhr morgens und nächtliches Wachliegen von etwa einer Stunde. Einen Mittagsschlaf macht der Patient nicht und die Tagesbefindlichkeit ist nicht gestört. Der Patient ist rüstig, lebt in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner Ehefrau und ist tagsüber aktiv. Als Erkrankungen bestehen eine medikamentös gut eingestellte arterielle Hypertonie sowie Hüftbeschwerden infolge einer Coxarthrose. Die aktuelle Medikation ist seit Jahren konstant und lautet Candesartan 12 1-0-0, Simvastatin 20 0-0-1, HCT 12,5 1-0-0 und bei Bedarf Ibuprofen 400. Sie bitten den Patienten, über einen Zeitraum von zwei Wochen ein Schlaftagebuch zu führen. ◄

Ein Schlaftagebuch ist ein wichtiges Diagnoseinstrument. Dabei werden Bett- und Aufstehzeiten, Gesamtschlafzeit, Wachliegezeit, Schlaflatenz sowie Beschwerden und Besonderheiten dokumentiert. Ein Schlaftagebuch sollte wenigstens über zwei Wochen geführt werden (Riemann et al., 2017).

23 Literatur

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► Beispiel

Der Patient stellt sich nach zwei Wochen wie vereinbart wieder vor. Sein Schlaftagbuch zeigt einen regelmäßigen Tag-Nacht-Rhythmus mit regelmäßigen Bett- und Aufstehzeiten, einer mit etwa sieben Stunden ausreichend langen Gesamtschlafzeit, keinen Schlaf am Tage und keine Tagessymptomatik. Zusätzlich fragen Sie nach nächtlichem Schnarchen und Atempausen im Schlaf. Beides wird verneint. Die acht Items umfassende STOP-BANG-Skala ergibt zwei Punkte (Lebensalter > 50 Jahre und arterielle Hypertonie). Damit das Vorliegen einer Schlafapnoe wenig wahrscheinlich. Auch die aktuelle Medikation, die seit Jahren unverändert eingenommen wird, erklärt die berichteten Schlafprobleme nicht hinreichend. ◄

Mit dem Alter verändert sich der Schlaf bei gesunden Menschen. Etwa ab dem 40. Lebensjahr nimmt bis zum 70. Lebensjahr Gesamtschlafzeit um etwa zehn Minuten pro Lebensdekade ab, die nächtliche Wachzeit um etwa zehn Minuten pro Lebensdekade zu. Die schlafend im Bett verbrachte Zeit sinkt auch, unterschreitet aber nicht einen Wert von 80 %. Die Schlaflatenz ändert sich nur gering. Die Tagesbefindlichkeit ist nie gestört (Ohayon et al., 2004). >>Es ist wichtig, die physiologischen Veränderungen des Schlafes mit dem Alter zu kennen. Die fehlende Tagessymptomatik ist das entscheidende Kriterium. ► Beispiel

Im vorliegenden Fall beraten Sie den Patienten über die in seinem Fall normalen alterstypischen Veränderungen seines Schlafmusters. Sie erläutern die Grundprinzipien der Schlafhygiene und vereinbaren einen jährlichen Gesundheits-Checkup. ◄

Fazit Es ist wichtig, die physiologischen Veränderungen des Schlafes mit dem Alter zu kennen und von den Schlafstörungen im engeren Sinne abzugrenzen. So kann eine nicht indizierte Überbehandlung vermieden werden.

Literatur Ohayon, M.  M., Carskadon, M.  A., Guilleminault, C., & Vitiello, M.  V. (2004). Meta-analysis of quantitative sleep parameters from childhood to old age in healthy individuals: Developing normative sleep values across the human lifespan. Sleep, 27(7), 1255–1273. Riemann, D., Baum, E., Cohrs, S., Crönlein, T., Hajak, G., Hertenstein, E., Klose, P., et al. (2017). S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Insomnie bei Erwachsenen. Somnologie, 21, 2–44.

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Ich mache kein Auge mehr zu – Insomnie und Selbstmedikation mit Schlafmitteln Inhaltsverzeichnis Literatur – 29

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_3

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Kapitel 3 · Ich mache kein Auge mehr zu – Insomnie und Selbstmedikation…

Schlaflosigkeit und Selbstmedikation zur Behandlung von Schlaflosigkeit sind häufig. Die ungünstigen Folgen einer Selbstmedikation sollten bekannt sein und leitliniengerechte Therapiekonzepte angeboten werden. Diese Konzepte sind in der Regel multimodal, wirksam, benötigen aber Zeit bis zum Einritt des vollen Effektes.

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nnLernziele Abklärung einer Insomnie bei älteren Patienten Sensibilisierung für Selbstmedikation bei Schlafstörungen Langzeiteffekte einer Selbstmedikation mit Hypnotika Prinzipien der schlafmedizinischen Beratung mit Einbeziehen der Familie ► Beispiel

Die Tochter einer 83-Jährigen macht sich Sorgen um ihre Mutter. Die Mutter lebt alleine in ihrer seniorengerechten Wohnung und verrichtet den Alltag weitestgehend selbstständig. Sie erhält Hilfe bei der Hausarbeit, das Einkaufen übernimmt aber die Tochter. Sie habe bei der Hausarbeit ein Schlafmittel entdeckt, welches zwar frei verkäuflich sei. Aber sie mache sich dennoch Sorgen, denn die Mutter habe immer gesund gelebt und, soweit sie wisse, nie Schlafmittel eingenommen. Sie bitten die Tochter, das Präparat zu nennen, welches sie bei der Mutter gefunden habe. Der Wirkstoff heißt Doxylamin. ◄

Bei Doxylamin handelt es sich um Antihistaminikum. Histamin ist ein zerebraler Botenstoff, der die Hirnrinde aktiviert und so die Wachheit fördert. Ein Antihistaminikum dämpft diesen Effekt. Daher werden Antihistaminika nicht nur zur symptomatischen Behandlung von allergischen Reaktionen verwendet, sondern finden auch als Schlafmittel Verwendung. Der Effekt bei Schlaflosigkeit ist jedoch kaum belegt (Riemann et al., 2017). Antihistaminerg wirkende Präparate wie Doxylamin oder Diphenhydramin sind als Schlafmittel frei verfügbar. Aufgrund der fehlenden systematischen Erfassung der Verkaufszahlen fehlen belastbare Daten zur Häufigkeit und Dauer der Einnahme (Meolie et  al., 2005). Der Wirkmechanismus ist eine nichtselektive Hemmung des Histamin-H1-Rezeptors. Die fehlende Selektivität erklärt die anticholinergen Nebenwirkungen von Antihistaminika. Dazu gehören Akkommodationsstörungen, Obstipationsneigung, Harnverhalt, Mundtrockenheit, Sedierung am Tage und Vergesslichkeit (Al Rihani et al., 2021). Patienten, die mehrere Präparate gleichzeitig erhalten, sollten immer nach Mundtrockenheit gefragt werden, da dieses klinische Zeichen auf anticholinerge Effekte hinweist. Nur eine randomisierte placebokontrollierte Studie mit einer Beobachtungszeit von zwei Wochen untersuchte die Wirksamkeit von Diphenhydramin bei älteren Menschen mit Insomnie (Glass et al., 2008). Dabei verbesserte Diphenhydramin signifikant – aber nicht relevant – die Anzahl nächtlicher Aufwachereignisse, deren Häufigkeit von 2,0 auf 1,7 abnahm. Für eine Verbesserung der Schlafqualität, der Gesamtschlafzeit oder der Schlaflatenz fanden sich keine Hinweise (Glass et al., 2008). Ungünstige Effekte von Diphenhydramin am Folgetag der Einnahme betrafen Aufmerksamkeit und Psychomotorik (Katayose et al., 2012).

27 Ich mache kein Auge mehr zu – Insomnie und Selbstmedikation…

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Die langfristige Einnahme von Medikamenten mit anticholinergen Effekten ist zudem mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Demenz assoziiert. So fand eine prospektive Beobachtungsstudie mit mehr als 3000 Probanden eine Verdopplung der Inzidenz einer Demenz, wenn Medikamente mit anticholinergen Effekten über vier und mehr Jahre eingenommen wurden (Gray et al., 2015). ► Beispiel

Sie nehmen die Sorgen der Tochter ernst und bitten Sie, einmal gemeinsam mit der Mutter in die Sprechstunde zu kommen. Auch soll sie die Mutter bitten, über zwei Wochen ihre Schlafzeiten und ihre Befindlichkeit in einem Schlafprotokoll aufzuschreiben. Bei der Vorstellung in der Sprechstunde ist die 83-jährige Patientin in einem guten Allgemeinzustand. Die körperliche Untersuchung ergibt einen altersentsprechenden guten Allgemein- und Ernährungszustand. Sie klagt jedoch über Mundtrockenheit. Der Medikationsplan umfasst die vier Präparate Acetylsalicylsäure, Amlodipin, Hydrochlorothiazid und Pantoprazol. Alle diese Präparate sind in der Regel gut verträglich. Beim geriatrischen Screening findet sich eine ausreichende Kraft, da die Patientin von einem Stuhl aus dem Sitzen fünfmal ohne Armeinsatz aufstehen kann. Die Balance ist jedoch beeinträchtigt, da sie den Tandemstand nur für zwei Sekunden ausführen kann. Das Gangbild ist unauffällig. Beim Screening der Gedächtnisleistung ergibt der Six-Item-Screener drei von sechs möglichen Punkten. Dies weist auf eine Gedächtnisstörung hin, da der Grenzwert von fünf Punkten unterschritten wurde. Im anschließend durchgeführten Mini-Mental-Test (Grenzwert 26 Punkte) erreicht die Patientin 23 von möglichen 30 Punkten. Dies weist auf eine milde Hirnleistungsstörung hin, da der Grenzwert von 26 Punkten nicht erreicht wurde. Das Schlaftagebuch wird bei der nächsten Konsultation vorgelegt. Auf den ersten Blick erkennen sie sehr lange Schlafphasen am Nachmittag. Die Dauer des täglich gehaltenen Mittagsschlafes reicht von 60 bis 190 min und beträgt im Durchschnitt etwa 90 min. Die Bettzeit liegt bei 20:30 Uhr, die Schlaflatenz unter Einnahme der Schlafmittel bei 30 min. Die Aufwachzeit liegt zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Die Gesamtschlafzeit beträgt etwa sechs Stunden. Der Nachtschlaf wird dreimal aufgrund einer Nykturie unterbrochen. Das anschließende Einschlafen erfolgt nach etwa 30 bis 45 min. ◄

Evaluation Die betagte Patientin hat eine milde Balance- und eine milde Hirnleistungsstörung. Die Kraft im Beckenbereich ist angesichts der Fähigkeit, fünfmal von einem Stuhl ohne Zuhilfenahme der Arme aufzustehen, ausreichend. Das Schlafverhalten ist jedoch nicht physiologisch. Die Dauer des Mittagschlafes ist zu lang, die Bettzeit zu früh gewählt. Hier bietet sich eine verhaltenstherapeutische Intervention in Form einer Beratung hinsichtlich Schlafhygiene an. Dabei soll der Mittagsschlaf, der den sich tagsüber aufbauenden Schlafdruck nimmt, auf maximal 20 min verkürzt werden. Die Selbstmedikation mit Diphenhydramin soll ausschleichend beendet werden.

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Kapitel 3 · Ich mache kein Auge mehr zu – Insomnie und Selbstmedikation…

► Beispiel

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Sie besprechen diese Maßnahmen mit der Patientin und der Tochter. Sie weisen insbesondere auf die anticholinergen Effekte von Doxylamin hin und erklären der Patientin, dass ihre Mundtrockenheit sowie die psychomotorischen und kognitiven Auffälligkeiten auch Folge der Einnahme dieses Schlafmittels sein können. Sie verordnen zudem ambulante Physiotherapie, um die Balancestörung zu verbessern. Das Erläutern solcher Zusammenhänge motiviert Patienten, denn die vorgeschlagenen Veränderungen sind nachvollziehbar und werden dann eher beachtet. ◄

Ihr Vorschlag beinhaltet die Umsetzung der Regeln der Schlafhygiene (angelehnt an den Patientenratgeber der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin, DGSM): 55 Stehen Sie jeden Tag um dieselbe Uhrzeit auf. 55 Treiben Sie regelmäßig Sport oder sorgen Sie für ausgewogene Bewegung. 55 Nehmen Sie stimulierende Getränke oder Medikamente nur mit ausreichendem Abstand zum Zubettgehen zu sich. 55 Rauchen Sie nicht kurz vor dem Schlafen. 55 Vermeiden Sie Tagschlaf und v. a. abendliches Einnicken. (Achtung: Das passiert v. a. schnell beim Fernsehen!) 55 Reduzieren Sie ihren Alkoholkonsum; vermeiden Sie, Alkohol als Schlafmittel zu verwenden. 55 Meiden Sie eine langfristige tägliche Einnahme von Schlaftabletten oder gehen Sie vorsichtig und sparsam mit ihnen um. Meistens verschreiben Ärzte Schlafmittel für maximal 4 Wochen. Nehmen Sie nie Schlafmittel zusammen mit Alkohol ein. 55 Vermeiden Sie schwere Mahlzeiten vor dem Zubettgehen. 55 Schließen Sie vor dem Zubettgehen den Tag gedanklich ab und lassen Sie große und kleine Sorgen vor der Schlafzimmertür. Schreiben Sie belastende Dinge auf eine „To-do-Liste“ oder führen Sie beispielsweise ein Tagebuch. Diese Regeln sind nachweislich wirksam, reichen aber häufig als alleinige Maßnahme nicht aus. Daher muss der Erfolg der Schlafhygiene im klinischen Verlauf beurteilt und das Therapiekonzept ggf. erweitert werden. ► Beispiel

Nach vier Wochen stellt sich die Patientin vereinbarungsgemäß wieder vor. Sie hat ihren Mittagschlaf auf eine halbe Stunde verkürzt, dadurch, dass sie mittags einen Wecker stellt. Auch die Bettzeit hat sie um eine Stunde auf 21:30 Uhr verschoben. Auf die Einnahme eines Schlafmittels verzichtet sie vollständig seit zwei Wochen. Die Schlaflatenz gibt sie mit etwa 30 min an, sie wache nachts zweimal auf, um zur Toilette zu gehen, schlafe aber schnell wieder ein. Die nächtliche Gesamtschlafzeit betrage etwa sieben Stunden. Auf Nachfrage berichtet die Patientin, dass sich ihre Mundtrockenheit deutlich gebessert habe. Das Screening der Hirnleistung zeigt keine Veränderung, die Balance hat sich leicht verbessert. Die Patientin ist in der Lage, den Tandemstand für fünf Sekunden ­durchzuführen. ◄

29 Literatur

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Fazit Die ungünstige Wirkung von Hypnotika auf die Hirnleistung persistiert nach ersten Untersuchungen auch längere Zeit nach der Beendigung der Einnahme. Dabei ist noch unklar, ob dieser Effekt reversibel ist und wie lange der Zeitraum einer Restitution überhaupt dauert (Puustinen et al., 2014). Als Konsequenz sollten daher Hypnotika bei älteren Menschen zurückhaltend und nur intermittierend und zeitlich befristet verordnet werden. Die ausführliche Beratung, Aufklärung und Begleitung eines älteren Patienten mit Insomnie unter Einbindung des familiären Umfeldes können zu einer erfolgreichen Behandlung einer Insomnie ausreichen. Wichtig ist auch die längerfristige Begleitung eines Patienten zur Stärkung der erreichten Verhaltensänderung.

Literatur Al Rihani, S. B., Deodhar, M., Darakjian, L. I., Dow, P., Smith, M. K., Bikmetov, R., et al. (2021). Quantifying anticholinergic burden and sedative load in older adults with polypharmacy: A systematic review of risk scales and models. Drugs & Aging, 38(11), 977–994. https://doi.org/10.1007/ s40266-­021-­00895-­x Glass, J. R., Sproule, B. A., Herrmann, N., & Busto, U. E. (2008). Effects of 2-week treatment with temazepam and diphenhydramine in elderly insomniacs: A randomized, placebo-controlled trial. Journal of Clinical Psychopharmacology, 28(2), 182–188. https://doi.org/10.1097/JCP.0b013e31816a9e4f Gray, S. L., Anderson, M. L., Dublin, S., Hanlon, J. T., Hubbard, R., Walker, R., et al. (2015). Cumulative use of strong anticholinergics and incident dementia: A prospective cohort study. JAMA Internal Medicine, 175(3), 401–407. https://doi.org/10.1001/jamainternmed.2014.7663 Katayose, Y., Aritake, S., Kitamura, S., Enomoto, M., Hida, A., Takahashi, K., & Mishima, K. (2012). Carryover effect on next-day sleepiness and psychomotor performance of nighttime administered antihistaminic drugs: A randomized controlled trial. Human Psychopharmacology, 27(4), 428–436. https://doi.org/10.1002/hup.2244 Meolie, A. L., Rosen, C., Kristo, D., Kohrman, M., Gooneratne, N., Aguillard, R. N., et al. (2005). Oral nonprescription treatment for insomnia: An evaluation of products with limited evidence. Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Official Publication of the American Academy of Sleep Medicine, 1(2), 173–187. Review. Puustinen, J., Lähteenmäki, R., Polo-Kantola, P., Salo, P., Vahlberg, T., Lyles, A., et al. (2014). Effect of withdrawal from long-term use of temazepam, zopiclone or zolpidem as hypnotic agents on cognition in older adults. European Journal of Clinical Pharmacology, 70(3), 319–329. https://doi. org/10.1007/s00228-­013-­1613-­6 Riemann, D., Baglioni, C., Bassetti, C., Bjorvatn, B., Dolenc Groselj, L., Ellis, J. G., et al. (2017). European guideline for the diagnosis and treatment of insomnia. Journal of Sleep Research, 26(6), 675–700. https://doi.org/10.1111/jsr.12594

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Der Schmerz raubt mir den Schlaf – physische Aktivität, Schmerz und Schlaf Inhaltsverzeichnis Literatur – 39

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_4

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Kapitel 4 · Der Schmerz raubt mir den Schlaf – physische Aktivität, Schmerz und Schlaf

Andauernde Schmerzen und gestörter Schlaf treten häufig gemeinsam auf. Beide Symptomkomplexe begünstigen sich gegenseitig und sollten im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzepts behandelt werden.

nnLernziele Zusammenhang zwischen physischer Aktivität, Schmerz und Schlaf Anwendung dieser Kenntnisse und Integrieren in ein Therapiekonzept

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► Beispiel

Ein 80-jähriger, rüstiger Patient stellt sich aufgrund einer zunehmenden Handschwellung nach einem Wespenstich vor. Aufgrund der Diagnose Handphlegmone erfolgt die stationäre Aufnahme zur intravenösen Antibiotikatherapie. Als Dauermedikation erhält der Patient aufgrund einer stabilen Koronarerkrankung und einer arteriellen Hypertonie ASS 100, Metoprolol und Valsartan. Weiterhin nimmt er wegen Refluxbeschwerden einen Protonenpumpenhemmer. Zudem fällt auf, dass im Medikationsplan das Hypnotikum Zopiclon aufgeführt ist. Auf Nachfrage berichtet der Patient, Zopiclon schon seit mehreren Jahren zur Nacht einzunehmen. Er habe dieses Medikament vor Jahren verschrieben bekommen, weil er nicht mehr habe schlafen konnte. Seither habe er es regelmäßig eingenommen. Aktuell gibt er seine Bettzeit mit 22:00 Uhr an, er lese noch ein wenig und schlafe dann ein. Aber es gibt viele Tage, an denen er lange wach liege und trotz der Einnahme von Zopiclon einfach nicht einschlafen könne. Die Dosis von Zopiclon habe er aber bisher nicht erhöht. Morgens stehe er gegen sieben Uhr auf und sei einigermaßen ausgeschlafen. Er komme mit dem Medikament auf eine Gesamtschlafzeit von etwa vier bis fünf Stunden. Einen Auslassversuch habe er bisher nicht unternommen, schließlich wolle er ja schlafen. Auf die Frage nach Tagesmüdigkeit wird diese verneint, jedoch könne es vorkommen, dass er abends beim Fernsehen schon mal einschlafe. In anderen Situationen passiere so etwas eigentlich nicht. Er schlafe tagsüber kaum. Als Gründe für seine Schlafstörung berichtet der Patient von Rückenschmerzen. Diese hätten schon vor fast 20 Jahren nach einem Bandscheibenvorfall begonnen. Er sei danach nie wieder richtig beschwerdefrei gewesen. Aber in den letzten fünf Jahren sei es mit dem Rücken so schlimm geworden, dass er sich oft kaum bewegen konnte. Das Spazierengehen musste er wegen der Schmerzen ganz aufgeben. Er verbringe viel Zeit zu Hause und könne seine Wohnung aufgrund der Schmerzen kaum noch verlassen. Der Tag sei insbesondere nach dem Tode seiner Ehefrau vor zwei Jahren sehr eintönig geworden. Er habe kaum noch Lust, etwas zu unternehmen, da ja die Rückenschmerzen so schlimm seien. Diese Schmerzen stören seinen Schlaf eigentlich nicht, da er ja gute Schmerzmittel bekomme und schon von verschiedenen Spezialisten am Rücken behandelt worden sei, allerdings mit mäßigem Erfolg. ◄

33 Der Schmerz raubt mir den Schlaf – physische Aktivität…

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Evaluation Dieser Fall hat drei schlafmedizinische Themen: Schmerz und Schlaf, körperliche Aktivität sowie chronische Schlaflosigkeit mit Langzeiteinnahme eines Hypnotikums.

z Diagnostisches Vorgehen – Anamnese

Aufgrund der klinischen Schilderung ist vom Vorliegen einer chronischen Insomnie auszugehen. Die insomnischen Beschwerden bestehen seit mehreren Jahren und treten an den meisten Tagen der Woche auf. Auch die Tagesbefindlichkeit ist gestört, da der Patient angibt, morgens nicht erholt zu sein und auch tagsüber gelegentlich einzuschlafen. Dieses Einschlafen am Tage wird eher hingenommen und bagatellisiert. Der Pittsburgh Sleep Quality Index (PSQI) wird angewendet, um die Schlafqualität zu beurteilen. Dieser ergibt einen Gesamtwert von 14 Punkten und überschreitet den Grenzwert von 5 Punkten deutlich. Für den Gesamtscore des PSQI sind die Subskalen Ein- und Durchschlafen, Schlafeffizienz und Schlafmedikation verantwortlich. Der PSQI erlaubt noch keine schlafmedizinische Diagnose. Der Score muss synoptisch unter Berücksichtigung der Anamnese und weiterer Scores interpretiert werden. Der Schweregrad der Insomnie wird mit Hilfe des Insomnia Severity Index (ISI) bestimmt. Hier erreicht der Patient eine Gesamtscore von 19 Punkten und überschreitet den Grenzwert von sieben Punkten deutlich. Phänotypisch bestehen Ein- und Durchschlafstörungen, eine zu geringe Gesamtschlafzeit und eine Nichterholsamkeit des Schlafes. Diese Beschwerden werden als belastend empfunden. Die Ergebnisse von PSQI und ISI bilden das Ausmaß einer Schlafstörung bzw. Insomnie ab, dienen aber gleichzeitig auch zur Verlaufskontrolle und zur Beurteilung des Ansprechens auf eine Therapie. ► Beispiel

Die Ergebnisse der Schlaffragebögen besprechen Sie mit dem Patienten und bestätigen das Vorliegen einer relevanten Schlafstörung. Sie erläutern dem Patienten mögliche Zusammenhänge zwischen Schlaf, Schmerz und Alltagsaktivität. Ebenso weisen Sie darauf hin, dass die schon über Jahre erfolgte Einnahme des Hypnotikums offensichtlich doch nicht die erwünschte Verbesserung des Schlafes bewirkt hat. ◄

z Weiteres diagnostisches Vorgehen

Dieses konkrete Ansprechen ist wichtig, um dem Patienten Zusammenhänge zu erläutern und ihn so als Ko-Therapeuten zu gewinnen. Dies erleichtert auch den Einstieg in die ausschleichende Beendigung der Hypnotikamedikation. Zudem bitten Sie den Patienten, ein Schlaftagebuch über wenigstens zwei Wochen zu führen. Dabei soll er auf einem vorgefertigten Blatt seine Schlafzeiten mit einem Stift markieren und Besonderheiten notieren. Zudem müssen die belastenden Rückenschmerzen weiter abgeklärt werden. Dazu überweisen Sie den Patienten an einen Orthopäden.

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Kapitel 4 · Der Schmerz raubt mir den Schlaf – physische Aktivität, Schmerz und Schlaf

► Beispiel

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Nach drei Wochen stellt sich der Patient erneut bei Ihnen vor. Bei dieser Visite legt Ihnen der Patient das Schlafprotokoll vor. Dieses zeigt schematisch die Schlaf- und Wachphasen über eine Woche. Die Bettzeit und die Aufstehzeit sind jeweils mit Pfeilen markiert. Die Schlafphasen werden durch die dunklen Balken dargestellt. Schmerzen werden durch Punkte dokumentiert, wobei die Größe des Punktes die Stärke des Schmerzes wiedergibt. Aus diesem Protokoll ist ersichtlich, dass die anamnestischen Angaben sich graphisch abbilden. Der Orthopäde hat eine Kernspintomographie der Wirbelsäule veranlasst und eine lumbale Spinalkanalstenose diagnostiziert. Aufgrund des rüstigen Allgemeinzustandes hat er eine operative Therapie der lumbalen Spinalkanalstenose angeraten. Da Sie dem Patienten auch dazu raten, entschließt er sich dazu, diesen Eingriff durchführen zu lassen. Aufgrund des möglichen Zusammenhangs der Schmerzen mit dem gestörten Schlaf vereinbaren Sie mit dem Patienten, dass vor der Einleitung weiterer Maßnahmen zunächst der operative Eingriff abgewartet werden soll. ◄

z Die Langzeiteinnahme von Hypnotika

Die Verordnung von Hypnotika muss bei älteren Menschen aufgrund der damit verbundenen Risiken immer kritisch hinterfragt werden. Bei dieser Personengruppe verfünffacht die Einnahme von Hypnotika das Risiko für kognitive Probleme (Glass et al., 2005) und verdoppelt das Risiko für psychomotorische Nebenwirkungen (Allain et al., 2005). Ein Risikofaktor für die Verordnung von Hypnotika ist ein Krankenhausaufenthalt. Die Wahrscheinlichkeit für eine Hypnotikaverordnung verdreifacht sich nach einem Krankenhausaufenthalt (Grad et al., 1999). Diese Ergebnisse wurden durch eine weitere Studie bestätigt. Zudem konnte in dieser Studie gezeigt werden, dass viele Pateinten ihren Benzodiazepinkonsum nach der Krankenhausentlassung nicht fortsetzten, wenn sie während des Krankenhausaufenthaltes keine Benzodiazepine erhalten hatten (Zisberg et al., 2012). Diese Zahlen zeigen eindrücklich, welch wichtige Bedeutung einem Krankenhausaufenthalt hinsichtlich einer Hypnotikaverordnung zukommt. Die wichtigen Konsequenzen aus diesen Studien sind: 55 Ältere Patienten bei einem Krankenhausaufenthalt unabhängig von der jeweiligen Fachrichtung stets nach der Einnahme von Hypnotika zu fragen 55 Mit den Patienten im Falle einer Hypnotikaeinnahme alternative Behandlungskonzepte und die ausschleichende Beendigung der Hypnotikaeinnahme zu besprechen 55 Eine Neuverordnung von Hypnotika zu vermeiden ► Beispiel

Im vorliegenden Fall erfolgte die Hypnotikaeinnahme schon über mehrere Jahre. Hier wurde der Krankenhausaufenthalt dazu genutzt, die Hypnotikaeinnahme zu thematisieren. Der Effekt der Hypnotika war angesichts der erhobenen Schlafanamnese nicht zufriedenstellend. Dies erleichterte das Ansprechen dieses Themas, und der Patient war offen für Alternativen. ◄

35 Der Schmerz raubt mir den Schlaf – physische Aktivität…

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Das klinische Ziel der Verordnung von Hypnotika ist die Verbesserung des Schlafes. Hier zeigen zahlreiche Studien signifikante, wenn auch moderate Effekte, von Hypnotika auf die Schlaflatenz, die nächtliche Wachzeit und die Schlafdauer. Die Number Needed to Treat (NNT) wird für eine signifikante Veränderung des Schlafes für Hypnotika mit 13 angegeben. Dies bedeutet, dass 13 Personen behandelt werden müssen, um bei einer Person einen günstigen Effekt zu erreichen. Je kleiner die NNT ist, umso wirksamer ist eine Therapie. Eine NNT kleiner 100 wird allgemein als Indikator für eine wirksame Therapie akzeptiert. Die Number Needed to Harm (NNH) beträgt bei älteren Menschen für die Behandlung mit Hypnotika 6 (American Geriatrics Society, 2015). Damit ist das durch eine Hypnotikaverordnung verursachte Risiko für eine Schädigung doppelt so hoch wie deren Nutzen. Zu diesen unerwünschten Wirkungen zählen Benommenheit am Tage, Schwindel, Kopfschmerzen, Albträume in der Nacht, Erschöpfung und Fatigue, und Magen-Darm-Beschwerden (Glass et al., 2005). Eine Insomnie soll auch im höheren Lebensalter behandelt werden, denn sie beeinflusst die Lebensqualität und erhöht das Sturzrisiko (Avidan et al., 2005). Die mit der Einnahme von Benzodiazepinen verbundenen Probleme sind hinreichend bekannt. Daher stellt sich die Frage, ob die Einnahme von sog. Z-­ Substanzen weniger problematisch ist. Hierzu sind kaum Daten verfügbar. Die durchgeführten Studien waren klein und dauerten nur wenige Wochen. Die Analyse von Krankenkassendaten ergab jedoch ein fast verdoppeltes Risiko für Stürze mit hüftnahen Frakturen bei älteren Personen, wenn sie Z-­ Substanzen oder Benzodiazepine einnahmen (Wang et al., 2001). Auch wenn die Datenlage bezüglich der Z-Substanzen noch weniger umfangreich ist als bei den Benzodiazepinhypnotika, darf daraus nicht geschlossen werden, dass Z-­Substanzen weniger problematisch sind. In einer vergleichenden Untersuchung von Diphenhydramin mit Temazepam zeigte Diphenhydramin keine signifikante Verbesserung mehrerer Schlafparameter (Glass et al., 2008). Von der Einnahme von Diphenhydramin durch ältere Menschen wird zudem aufgrund der anticholinergen Effekte von Diphenhydramin abgeraten (American Geriatrics Society, 2015). Doxepin hat in einer niedrigen Dosierung von 3 bis 6 mg einen günstigen Effekt auf den Schlaf, ohne die bei höheren Dosierungen von Doxepin bekannten anticholinergen Effekte zu zeigen. Doxepin ist in den USA in niedriger Dosis als Hypnotikum zugelassen, nicht jedoch in Deutschland. Bei älteren Menschen sollte auch immer an eine komorbide OSAS gedacht werden. Die Kombination aus Insomnie und obstruktiver Schlafapnoe (COMISA) ist nicht selten. Und Hypnotika sind bei einer OSA kontraindiziert, da sie die obstruktive Schlafapnoe verschlimmern. Die Beendigung der regelmäßigen Einnahme von Hypnotika verfolgt einen multimodalen Ansatz. Grundsätzlich muss der Patient mit einem solchen Vorgehen einverstanden sein. Der multimodale Ansatz besteht aus einer Kombination von Reduktionsprotokollen, zusammen mit einer verhaltenstherapeutischen Intervention zur Therapie der Insomnie. Ein solcher Ansatz ist wirksam. In einer Fall-­ ­ Kontroll-­ Studie mit fast 600 Teilnehmern gelang die Reduktion einer Hypnotikaeinnahme bei 35 % in der Interventionsgruppe, wohingegen sie um 4 %

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in der Kontrollgruppe anstieg (Salonoja et al., 2010). Weitere Studien belegen die Effizienz eines solchen kombinierten Ansatzes auch für ältere Menschen (Morgan, Dixon, et al., 2003). Ein praxistaugliches und erfolgreiches Schema zur Reduktion der Benzodiazepin- oder Z-Substanz-Medikation besteht in einer Verminderung der Dosis um jeweils 25 % pro Woche (Voshaar, Gorgels, Mol, van Balkom, van de Lisdonk, et al., 2003). Eine initial hohe Dosis des Hypnotikums und ein schlechter Gesundheitszustand waren unabhängige Prädiktoren für eine erhöhte Rückfallrate nach zunächst erfolgreicher Reduktion des Hypnotikums (Voshaar, Gorgels, Mol, van Balkom, Breteler, et al., 2003). Auch die Bereitschaft zur Teilnahme an einer kognitiven Verhaltenstherapie korreliert negativ mit dem Gesundheitszustand (Morgan, Thompson, et  al., 2003). Die durchschnittlich erforderliche Behandlungsdauer wird mit etwa sieben Wochen angegeben (Morin et al., 2004). >>Bei Patienten mit chronischer Einnahme eines Hypnotikums ist eine Beendigung der Hypnotikaeinnahme im Rahmen eines multimodalen Konzeptes möglich. Ein schlechter Gesundheitszustand und eine hohe Dosis des Hypnotikums sind Indikatoren für eine reduzierte Adhärenz und eine erhöhte Rückfallrate. Diese Patientengruppe bedarf einer besonderen Aufmerksamkeit.

Die Beendigung einer Hypnotikatherapie erfordert einen mitarbeitenden Patienten. Besteht eine Abhängigkeitsproblematik oder finden sich Hinweise für eine fehlende Compliance, ist eine ausschleichende Beendigung einer Hypnotikaverordnung oft nicht erfolgreich (Voshaar et al., 2006). Gerade im Kontext einer Langzeitverordnung von Hypnotika sollte der Grund dafür gesucht werden. Oft besteht zusätzlich eine depressive Episode oder eine Angsterkrankung, die dann anders behandelt werden können. Wie kann nun eine über längere Zeit erfolgte Einnahme von Hypnotika beendet werden? Dazu gibt es mehrere Wege. Die kognitive Verhaltenstherapie bei Insomnie (KVT-I) ist die Therapie der Wahl. Sie ist auch bei älteren Menschen erfolgreich. In einer kleinen Studie reduzierte sich die Wachzeit in der Nacht von 108 auf 51 min in der KVT-I-Gruppe, von 103 auf 99  min in der Zopiclon-Gruppe und von 154 auf 130  min in der Placebogruppe (Sivertsen et al., 2006). Eine KVT-I ist zeitaufwendig und nicht so verfügbar, um den Bedarf zu decken. Aus diesem Grunde wurden kurze verhaltenstherapeutische Interventionen entwickelt und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit untersucht. Auch bei älteren Patienten mit chronischer Insomnie ließ sich zeigen, dass eine solche Kurztherapie, bestehend aus zwei Sitzungen und einem Telefongespräch, innerhalb von vier Wochen mit einer Remissionsrate von 54  % in der Interventionsgruppe gegenüber 13 % in der Kontrollgruppe hochsignifikante Verbesserungen einer Insomnie zeigte (Buysse et al., 2011). Weitere Optionen entwickeln sich durch die zunehmende Verbreitung elektronischer Angebote. Diese Entwicklung ist vielversprechend und wird in den kommenden Jahren weitere Möglichkeiten für Patienten und Behandelnde eröffnen.

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Körperliche Aktivität verbessert ebenfalls den Schlaf (Nguyen & Kruse, 2012). Wie und welche körperliche Aktivität die größte Effektivität hinsichtlich der Verbesserung des Schlafes zeigt, wurde und wird in Studien untersucht. In einer Studie ließ sich zum Beispiel zeigen, dass körperliche Aktivität über 2 Wochen die Schlafdauer und die Schlafqualität verbesserte. Dabei ist der Zeitpunkt der körperlichen Aktivität hinsichtlich der Wirkung auf den Schlaf mit entscheidend. Die deutlichsten Effekte zeigten sich bei moderater körperlicher Aktivität, wenn diese am Vormittag erfolgte (Yamanaka et al., 2015). Auch wenn zahlreiche Studien den positiven Effekt von körperlicher Aktivität auf die Schlafqualität belegen, bestehen immer noch erhebliche Unsicherheiten. Zum einen ist noch unklar, welche Art von Aktivität in welchem Umfang erforderlich ist, um den Schlaf zu verbessern. Zum anderen ist unklar, ob eine Dosis-­ Wirkungsbeziehung zwischen körperlicher Aktivität und Schlafqualität besteht und ob es Schwellen für körperliche Aktivität gibt, unter- und oberhalb denen kein Effekt auf den Schlaf zu erwarten ist (Kline, 2014). Klar ist aber, dass Inaktivität mit einer geringeren Gesamtschlafzeit korreliert (Imes et  al., 2021). Dieser Zusammenhang ist gerade für ältere und pflegebedürftige Menschen sowie Personen mit einem aus anderen Gründen reduzierten Aktivitätsniveau wichtig. Über längere Zeiträume ausgeübte körperliche Aktivität hat einen moderaten Effekt auf die Schlafqualität, die Gesamtschlafzeit, die Schlaflatenz und Schlafeffizienz (Kredlow et al., 2015). Menschen mit höhere Freizeitaktivität haben einen qualitativ besseren Schlaf (Wennman et al., 2014) ► Beispiel

Die Probleme einer längeren Einnahme von Hypnotika wurden ausführlich besprochen. Gleichzeitig wurde der Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Schlafqualität thematisiert. Da der Patient aufgrund seiner Rückenprobleme seit Jahren weniger körperlich aktiv sein konnte und die Schlafprobleme mit der reduzierten körperlichen Aktivität auftraten, ist ein Zusammenhang wahrscheinlich. Auch dies wurde ausführlich besprochen. Der erste Schritt war nun eine orthopädische Vorstellung. Dabei konnte eine symptomatische lumbale Spinalkanalstenose diagnostiziert werden. Der ansonsten rüstige Patient stimmte einer operativen Therapie der Spinalkanalstenose zu. Nach erfolgreich verlaufener Operation erfolgte eine Rehabilitationsbehandlung. Die Zeit der stationären Rehabilitation wurde auch genutzt, um die Hypnotikamedikation schrittweise zu reduzieren. Dies gelang mit einer Reduktion der Dosis um 25 % alle vier Tage. Dieses Vorgehen war möglich, weil der Patient zuvor über das therapeutische Gesamtkonzept zuvor umfangreich informiert worden war. Die ausschleichende Beendigung der Hypnotikamedikation führte zu keinen Entzugserscheinungen. Die fast vollständige Rückbildung der Rückenschmerzen nach der Operation ermöglichten dem Patienten einen aktivieren Lebensstil. Er unternahm nun täglich am Vormittag Spaziergänge von etwa einer Stunde Dauer.

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Sein Schlafvermögen besserte sich deutlich. Die angegebene Gesamtschlafzeit betrug nun sieben Stunden. Er machte etwa dreimal in der Woche einen Mittagsschlaf, der aber nie länger als 30 min andauerte. ◄

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>>Die Beziehung zwischen Schmerzen und Schlaf ist wechselseitig. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass andauernde Schmerzen den Schlaf stören. Andererseits senkt gestörter oder nicht ausreichender Schlaf die Schmerzschwelle. In Studien an jungen Freiwilligen sank die Schmerzschwelle nach einer Restriktion des Nachschlafes. Als Ursache wird eine Beeinträchtigung des endogenen schmerzhemmenden Systems vermutet. Dies bedeutet auch, dass die Verbesserung von gestörtem Schlaf in ein multimodales Behandlungskonzept einer Schmerztherapie integriert werden muss. ► Beispiel

Nach der erfolgreichen operativen Therapie der lumbalen Spinalkanalstenose bildeten sich die initial ausgeprägten Schmerzen zurück. Der Patient war nun in der Lage, sich deutlich mehr zu bewegen, und nahm seine täglichen Spaziergänge wieder auf. Die Zopiclonmedikation konnte vereinbarungsgemäß ausschleichend über einen Zeitraum von vier Wochen beendet werden. Der Schlaf verbesserte sich deutlich. Das nach drei Monaten wiederholte Assessment des Schlafes ergab für die ISI 6 Punkte und für den PSQI 4 Punkte. Beide Skalen lagen damit im Normalbereich. ◄

Fazit Dieser Fall verdeutlicht drei wesentliche schlafmedizinische Aspekte. Zum einen war es wichtig, die chronische Hypnotikaeinnahme als Problem wahrzunehmen und den Patienten darauf anzusprechen, obwohl er aufgrund einer ganz anderen Erkrankung stationär aufgenommen worden war. Die Hypnotikamedikation wurde als Indikator für ein Schlafproblem erkannt. Zudem zeigte der Patient trotz der Einnahme von Hypnotika kein zufriedenstellendes Schlafverhalten. Dies zeigt, dass auch bei einer Hypnotikaeinnahme immer nach dem Effekt dieser Medikation gefragt werden muss. Wichtig war zudem, die schmerzbedingte Inaktivität zu beseitigen, die sich selbst ungünstig auf das Schlafverhalten auswirkte. Dies gelang durch eine operative Therapie der Lumbalkanalstenose. Zuletzt muss auch die wechselseitige Beziehung zwischen Schlaf und Schmerzempfinden beachtet werden. Mit der Beseitigung der Schmerzen war wieder eine ausreichende körperliche Aktivität möglich. Dies ermöglichte die ausschleichende Beendigung der Hyponotikatherapie. Der umfangreich informierte und in das Gesamtkonzept eingebundene Patient trug dieses Vorgehen mit, ohne dass ein Rückfall auftrat. Dieses Beispiel zeigt auch, wie wichtig die Information und Einbindung des Patienten und mitbehandelnder Einrichtungen ist. Die dauerhafte Beendigung einer über einen längeren Zeitraum erfolgten Hypnotikaeinnahme ist auch bei älteren Menschen im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes möglich.

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Kapitel 4 · Der Schmerz raubt mir den Schlaf – physische Aktivität, Schmerz und Schlaf

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Ich bin dauernd so erschöpft – Fatigue nach einer SARS-CoV-2-Infektion Inhaltsverzeichnis Literatur – 50

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_5

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Kapitel 5 · Ich bin dauernd so erschöpft – Fatigue nach einer SARS-CoV-2-Infektion

Müdigkeit, Schläfrigkeit am Tage und Fatigue sind unterschiedliche Symptome, die jeweils eine eigene Pathophysiologie haben. Da sich die Behandlungskonzepte sehr unterscheiden, müssen diese Symptomkomplexe erkannt und verlässlich unterschieden werden. Nur dann ist eine erfolgreiche Behandlung möglich.

nnLernziele Abgrenzung einer Fatigue von Müdigkeit und Schläfrigkeit Quantifizierung einer Fatigue Behandlungsoptionen bei Fatigue

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► Beispiel

Frau W. ist 82 Jahre alt und lebt seit drei Jahren in einem Seniorenheim. In ihrem Zuhause war Frau W. immer wieder gestürzt. Nach den Stürzen konnte sie aus eigener Kraft noch mühsam selbst aufstehen. Bei ihrem letzten Sturz hatte sie sich eine Oberschenkelhalsfraktur zugezogen. Den Notrufknopf hatte sie diesmal nicht in ihrer Nähe. Dieser lag noch auf dem Küchentisch und war so für sie unerreichbar. Erst der Pflegedienst, der gegen 10 Uhr morgens kann, fand sie liegend in ihrer Wohnung. Der Rettungswagen wurde gerufen und sie kam ins Krankenhaus. Nach der komplikationslosen Versorgung der Oberschenkelhalsfraktur wurde sie zur weiteren Rehabilitation in eine geriatrische Akutklinik verlegt. Nach der Rehabilitation war sie aber weiterhin auf Fremdhilfe angewiesen und erhielt aufgrund ihrer Einschränkungen den Pflegegrad 2. Nach dem letzten Sturz mit langem Liegen, ohne sich selbst helfen zu können oder Hilfe herbeirufen zu können, entwickelte sie eine große Angst vor einem erneuten Sturz. Eine Rückkehr in ihre seit dem Tod ihres Ehemannes vor fünf Jahren alleine bewohnte Wohnung im zweiten Stock eines Mehrfamilienhauses war nicht mehr möglich. Daher erfolgte der Umzug in ein Pflegeheim. Hier fühlte sie sich wohl, hatte viele Kontakte zu den Mitbewohnern und war mit ihrem Rollator mobil. Sie nahm an den Angeboten des Hauses teil und wurde sogar in den Beirat des Heimes gewählt. Geistig war sie nicht eingeschränkt und körperlich konnte sie sich noch ausreihend selbst versorgen. Dann erkrankte sie, wie viele ihrer Mitbewohner auch, an einer SARS-CoV-2-­ Infektion. Sie war drei Wochen lang krank, musste sich jedoch nicht in stationäre Behandlung begeben. Diese Zeit im Heim war schwer, da sie in ihrem Zimmer isoliert war und ihre gewohnten Kontakte aufgrund der Hygieneregeln nicht mehr pflegen durfte. Sie hat diese akute Krankheitsphase jedoch gut überstanden. Eine starke Müdigkeit blieb zurück. Zudem war die körperliche Belastbarkeit jetzt sehr gering. Wenn sie mit ihrem Rollator über den Flur lief, war sie schon nach wenigen Metern so erschöpft, dass sie eine Pause einlegen musste. Sie musste sich tagsüber mehr als früher ausruhen, schlief aber nicht. Auch nachts konnte sie jetzt nicht mehr gut durchschlafen. Dabei war sie ein Leben lang immer eine gute Schläferin. Das kenne sie so nicht, sagte sie. Das war alles neu. Die Symptome dauern nun schon fast sechs Monate an und eine wesentliche Besserung sei bisher nicht eingetreten. Auch die Mitarbeit im Heimbeirat falle ihr schwer, da sie sich nicht mehr so lange konzentrieren könne. Sie habe daher ihre Mitarbeit im Heimbeirat aufgeben müssen. Dies sei ihr schwergefallen und sie sei darüber immer noch sehr betrübt. ◄

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Diese Krankengeschichte lässt an ein Post-COVID-Syndrom denken. Für diese Verdachtsdiagnose spricht einmal der zeitliche Zusammenhang mit der akuten SARS-CoV-2 Infektion, von der sie als Mitglied einer Hochrisikogruppe (Heimbewohnerin) betroffen war. Weiterhin dauern die Symptome schon mehr als 12 Wochen an. Von einem Long-COVID-Syndrom wird bei einer Beschwerdedauer von bis zu vier Wochen gesprochen, dauern die Beschwerden noch länger an, liegt ein Post-COVID-Syndrom vor. Evaluation Als führende Symptomatik klagt die Bewohnerin über ausgeprägte Müdigkeit, sehr geringe körperliche Belastbarkeit, schnelle Erschöpfung mit fehlender Erholung nach einer Ruhepause und eine geringe Konzentrationsleistung.

Diese Symptomatik ist charakteristisch für ein Fatigue-Syndrom, welches auch nach einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten kann. Die Symptomatik ist jedoch unspezifisch, sodass differenzialdiagnostisch immer andere mögliche Ursachen diskutiert werden müssen. Die Kriterien für ein Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) sind in . Tab. 5.1 dargestellt.  

.       Tab. 5.1  Symptome des Chronischen Fatigue-Syndroms (CFS). (Carruthers et al., 2011) Hauptkriterien

Nebenkriterien, von denen wenigstens vier vorliegen müssen

Ausschlusskriterien

Akutes Auftreten der Beschwerden und Dauer über wenigstens sechs Monate Nicht Folge andauernder Belastung oder einer organischen Erkrankung Ruhe bessert die Beschwerden nicht Erhebliche Reduktion des vorherigen Aktivitätsniveaus

Berichtete Gedächtnis- oder Konzentrationsstörung Halsschmerzen Druckschmerzhafte Lymphknotenschwellungen an Hals und in der Axilla Muskelschmerzen Schmerzen an mehreren Gelenken Neu aufgetretene Kopfschmerzen Unerholsamer Schlaf Andauerndes (24 h) Krankheitsgefühl (Malaise) nach Belastung

Major Depression Tumor-Fatigue Alkoholabusus Hochgradige Adipositas Immer: Ausschluss anderer Erkrankungen. Die Differenzialdiagnose ist breit.

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Kapitel 5 · Ich bin dauernd so erschöpft – Fatigue nach einer SARS-CoV-2-Infektion

► Beispiel

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Zunächst erklären Sie Ihrer Patientin diese Situation. Am Anfang der Abklärung steht eine medizinische Untersuchung, die mit der Erhebung einer ausführlichen Anamnese beginnt. Als wesentliche Erkrankungen bestehen bei der Patientin arterielle Hypertonie, ein milder Diabetes mellitus, eine Osteoporose sowie Gelenkbeschwerden im Bereich des Rückens und beider Hüften. Der Diabetes war bisher diätetisch gut einstellbar, wie ein vor zwei Monaten bestimmter HBA1C-Wert von 7,2 % zeigt. Die Osteoporose wird mit Vitamin D in einer Dosierung von 20.000 IE einmal in der Woche sowie seit drei Jahren mit einem Bisphosphonat in Tablettenform behandelt. Die Gelenkbeschwerden im Bereich der Hüfte behandelt sie mit Einreibungen. ◄

Diese Krankheitskombination findet sich häufig bei älteren Menschen. Etwa ein Drittel der über 70-Jährigen haben einen Diabetes mellitus. Eine hyperglykämische Entgleisung verursacht Müdigkeit und Erschöpfung und induziert eine Polyurie, wenn der Blutzuckerspiegel die Nierenschwelle überschreitet. Die Folge der Polyurie ist eine Exsikkose, die von vielen älteren Menschen aufgrund des fehlenden Durstgefühls nicht wahrgenommen wird. Klinisch weisen stehende Hautfalten am Oberkörper oder Bauch auf eine Exsikkose hin. Hautfalten am Handrücken sind bei älteren Menschen aufgrund des atrophierenden Unterhautfettgewebes kein klinisch verlässliches Zeichen für eine Exsikkose. Die arterielle Hypertonie ist mit einer Zweifachtherapie aus einem AT1-­Blocker und einem Kalziumantagonisten gut eingestellt. Diese beiden Präparate sind bezüglich der geklagten Symptomatik oder der Auslösung von Schlafstörungen unproblematisch. Wichtig ist aber, den Blutdruck auch einmal im Stehen zu messen, um eine orthostatische Hypotonie (OH) nicht zu übersehen. Die OH kann klinisch als Erschöpfung und geringe Leistungsfähigkeit imponieren. >>Eine OH liegt vor, wenn innerhalb der ersten drei Minuten in stehender Position der Blutdruck systolisch um wenigstens 20 mmHg und/oder diastolisch und wenigstens 10 mmHg abfällt.

Der Blutabfall bei einer OH kann – muss aber nicht – mit Symptomen einhergehen. Als Risikofaktoren für eine OH gelten neben einer Exsikkose und unerwünschten Medikamenteneffekten auch eine periphere Polyneuropathie, wie sie bei einem Diabetes mellitus häufig angetroffen wird. In der klinischen Untersuchung sollten daher der Reflexstatus und die Vibrationsempfindlichkeit am Knöchel (Pallästhesie) geprüft werden. Die Osteoporose ist eine häufige, aber viel zu selten behandelte Erkrankung bei älteren Menschen. Die aktuelle DVO-Leitlinie zur Osteoporose sieht bei Frauen bereits ab einem Lebensalter von 75 Jahren die Indikation zur Behandlung (7 http://www.­dv-­osteologie.­org/osteoporose-­leitlinien) (eingesehen 25.05.2022). Ähnliche Symptome können auch durch eine Anämie, eine Hyponatriämie, eine Hypothyreose, eine fortgeschrittene Leber- oder Nierenerkrankung sowie eine Nebennierenrindeninsuffizienz verursacht werden.  

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► Beispiel

Seit der SARS-CoV-2-Infektion schlafe sie viel schlechter. Sie gehe gegen 21:00 Uhr zu Bett und schlafe schnell ein, wache aber immer wieder auf und liege dann lange Zeit wach. In guten Nächten schlafe sie etwa fünf Stunden, häufig aber viel weniger. Morgens sei sie nicht ausgeschlafen. Aber tagsüber könne sie auch nicht schlafen, obwohl sie sehr müde sei. Bei der körperlichen Untersuchung bestehen keine kardiopulmonalen Insuffizienzzeichen. Der Befund ist altersentsprechend ohne Anhalt für periphere Ödeme. Stehende Hautfalten finden sich weder im Bereich des Oberkörpers noch am Bauch. Der Blutdruck beträgt 135/75 mmHg in liegender Position und 125/65 mmHg unmittelbar nach dem Aufstehen. Dies schließt eine orthostatische Hypotonie (OH) aus. Das Körpergewicht beträgt 52 kg bei einer Körpergröße von 152 cm. Daraus errechnet ein Body-­ Mass-­Index von 22,5 kg/m2. Beim geriatrischen Screening fällt eine milde kognitive Beeinträchtigung auf, da der Mini-Mental-Status-Test eine Score von 23/30 Punkten ergibt. ◄

Definition Der Mini-Mental-Status-Test (MMSE) ist ein sehr weit verbreiteter Test zur Prüfung der Hirnleistung. Dabei werden Orientierung, Kurzzeitgedächtnis, Rechenfähigkeit und Praxie geprüft. Der Gesamtscore des MMSE reicht von 0 bis 30 Punkten. Werte von weniger als 27 Punkte gelten als auffällig. Der MMSE ist jedoch nicht geeignet, eine neuropsychologische Diagnose zu stellen.

► Beispiel

Weiterhin liegt eine moderate Gebrechlichkeit mit einem Wert von 5 auf der neunstufigen Clinical Frailty Scale vor. Die Clinical Frailty Scale (CFS) ist ein valides Assessmentinstrument, welches anhand von Piktogrammen ein klinisches Globalurteil ermöglicht. Die Stimmung der Patientin ist trotz ihrer aktuellen Beschwerden nicht wesentlich beeinträchtigt. Die WHO-5-Well-Being-Skala zeigt einen Wert von 15 (Grenzwert 12), die Geriatrische Depressionsskala-(GDS-15) Skala einen Wert von 4 (Grenzwert 5). Die Laborwerte zeigen keine Auffälligkeiten. Blutbild und Differenzialblutbild sowie die Eiweißelektrophorese sind unauffällig. Damit ist eine Anämie ausgeschlossen und eine hämatologische Erkrankung wenig wahrscheinlich. Die normal großen Erythrozyten mit normalen HB-Gehalt machen einen schweren Eisenmangel unwahrscheinlich. Die Nierenretentionswerte sind mit einer glomerulären Filtrationsrate von 65  ml/min (eGFR) und einem Harnstoffwert von 52 mg/dl altersentsprechend. Die Leberwerte sind normal. Damit besteht für eine schwere Niereninsuffizienz oder eine schwere Lebererkrankung kein Anhalt. Auch der normale Natriumwert schließt eine Hyponatriämie als Ursache der Beschwerden aus. Der Urin ist glukosefrei, der HBA1C-Wert beträgt 7,2  % und ist in dieser Altersgruppe akzeptabel. Eine strengere Einstellung eines Diabetes würde das Risiko für eine Hypoglykämie erhöhen. Ein normaler TSH-Wert schließt eine Hypothyreose aus. Der normale Blutdruck spricht klinisch gegen eine schwere Nebennierenrindeninsuffizienz. Die Serumelektrolytewerte sind normal. ◄

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Kapitel 5 · Ich bin dauernd so erschöpft – Fatigue nach einer SARS-CoV-2-Infektion

Es gibt keinen Labortest, mit dem die Diagnose eines Fatigue-Syndroms gesichert werden kann. Zudem ist kein einzelnes Symptom diagnostisch beweisend. Vielmehr gilt die charakteristische Kombination von Symptomen in Verbindung mit dem klinischen Verlauf als diagnostisch entscheidend. Die Bestimmung von Laborwerten ist jedoch bei Abklärung einer Fatigue wichtig, denn sie dienen dem Ausschluss anderer Erkrankungen als Ursache der Symptomatik. In der hier vorliegenden Situation müssen somatische Erkrankungen wie eine schwere Anämie, eine hämatoonkologische Erkrankung, eine orthostatische Hypotonie, ein entgleister Diabetes mellitus, eine Hypothyreose, eine ­Nebennierenrindeninsuffizienz, eine schwere Elektrolytentgleisung sowie eine Nieren- oder Leberinsuffizienz ausgeschlossen werden. Weiterhin sollte die Schlafanamnese erhoben werden. Diese umfasst die Bettund Aufstehzeit ebenso wie die Gesamtschlafzeit, die Wachzeit in der Nacht sowie Schlaf am Tage. Die Schlafqualität kann mit Hilfe des Pittsburgh Sleep Quality Index (PSQI) erfasst werden. Werte von mehr als 5 Punkten sprechen für eine schlechte Schlafqualität. Zur Erfassung der Schläfrigkeit hilft neben der allgemeinen Frage nach der Wahrscheinlichkeit, am Tage einzuschlafen, die Anwendung eines validen Assessmentinstrumentes. Hier ist die Epworth Sleepiness Scale (ESS) das weltweit am häufigsten verwendete Instrument. Die ESS beschreibt acht alltägliche Situationen, in die sich der Befragte hineinversetzen und angeben soll, wie wahrscheinlich er in der jeweiligen Situation einschlafen würde. Diese Einschlafwahrscheinlichkeit wird für jede Situation mit 0 bis 3 bewertet. Der Summenscore aus den zehn Bewertungen ist ein Maß für Tagesschläfrigkeit und sollte einen Grenzwert von 10 nicht überschreiten. Die ESS wurde auch für ältere, zu Hause lebende Menschen validiert, ist aber bei geriatrischen Patienten oder Heimbewohnern in ihrer Anwendung problematisch, da einige Items bei etwa 30 % der Befragten nicht beantwortet werden und andererseits eine eingeschränkte Hirnleistung die Anwendbarkeit der ESS einschränkt (Frohnhofen et al., 2009). In dieser Situation ist der Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS) als Fremdbeurteilungsinstrument immer anwendbar (Frohnhofen et al., 2013). ► Beispiel

Im Rahmen der Schlafanamnese gibt die Patientin eine Bettzeit von 21:00  Uhr, eine Schlaflatenz von 25 min, eine Gesamtschlafzeit von durchschnittlich fünf Stunden an. Die nächtliche Wachzeit betrage etwa drei 3 h und die Aufstehzeit liege bei 7 Uhr. Schlaf am Tage wird verneint. Die ESS ergibt einen Gesamtscore von 9 Punkten und überschreitet somit noch nicht den Grenzwert von 10 Punkten. Der Beobachtung von inadäquatem Tagesschlaf durch die Betreuungspersonen (Fremdbeurteilung) mittels EFAS ergibt einen Wert von 0 Punkten. Der PSQI hat einen Wert von 11 Punkten (Grenzwert 5) und weist damit auf eine schlechte Schlafqualität hin. ◄

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Damit liegt eine gestörte Schlafqualität ohne schwere Tagesschläfrigkeit vor. Die geringe Schlafqualität ist durch eine zu geringe Gesamtschlafzeit, eine lange Wachzeit in der Nacht und eine geringe Schlafeffizienz bedingt. Der PSQI dient zur Beurteilung der Schlafqualität, er ermöglicht nicht, eine schlafmedizinische Diagnose zu stellen. Bei der Patientin darf aufgrund der klinischen Symptomatik, des zeitlichen Zusammenhangs mit der vorausgegangenen SARS-CoV-19-Infektion und des bisherigen Verlaufes nach dem Ausschluss anderer Erkrankungen ein Post-­COVID-­ Syndrom mit führender Fatigue diagnostiziert werden. z Fatigue und Chronisches Fatigue-Syndrom

Die Fatigue und das Chronische Fatigue-Syndrom (CFS) – auch bekannt unter der Bezeichnung Myalgische Enzephalomyelitis (ME) oder ME/CFS – sind komplexe Störungen, deren Hauptmerkmale extreme Müdigkeit und Leitungsminderung sind. Typisch ist die Zunahme der Beschwerden schon bei leichten körperlichen oder geistigen Aktivitäten. Dieses Phänomen wird auch als Post-Belastungs-­ Unwohlgefühl (post-exertional malaise, PEM) bezeichnet. Weitere häufige Symptome des CFS sind Schlafstörungen, eine orthostatische Hypotonie und eine gestörte Hirnleistung mit Beeinträchtigung von Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeitsleistung und Kurzzeitgedächtnis. Viele Patienten klagen zudem über chronische Schmerzen im muskuloskelettalen Bereich. Die Diagnose wird klinisch gestellt. >>Wichtig ist immer der Ausschluss anderer Erkrankungen, die ähnliche unspezifische Symptome verursachen können. Daher sind eine gründliche Anamneseerhebung und eine körperliche Untersuchung, ergänzt durch Laboruntersuchung und indikationsbezogene Bildgebung, obligat.

Eine Quantifizierung der Symptomatik ist bei einem CFS wichtig, um dessen Schweregrad, den Verlauf und die Veränderung unter einer Therapie erfassen zu können. Hierfür sind verschiedene Assessmentinstrumente verfügbar. Die Chalder Fatigue Scale und die Fatigue Severity Scale sind dabei die am häufigsten verwendeten Instrumente: 55 Chalder Fatigue Scale (CFS): Die CFS umfasst 11 Items, die in ihrer Ausprägung auf einer Likert-Skala von 0 bis 3 bewertet werden. Der Summenscore recht von 0 bis 33 Punkten. Vier und mehr Punkte weisen auf eine signifikante Fatigue hin. 55 Fatigue Severity Scale (FSS): Die FSS umfasst neun Aussagen, deren Ausprägung auf einer sieben Punkte umfassenden Likert-Skala von 1 bis 7 bewertet wird. Die FSS bewertet den Schweregrad eines CFS, wenn dieses bereits diagnostiziert wurde. Der Summenscore umfasst einen Bereich von 9 bis 63 Punkten. Der Grenzwert liegt bei einem Summenwert von mehr als 36 Punkten. 36 oder weniger Punkte sprechen gegen ein CFS.  Die Gütekriterien sind ausgezeichnet und die FSS unterscheidet verlässlich zwischen Personen mit und ohne CFS. Auch die Korrelation mit einer visuellen Analogskala ist gut.

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Kapitel 5 · Ich bin dauernd so erschöpft – Fatigue nach einer SARS-CoV-2-Infektion

► Beispiel

In der Chalder Fatigue Scale erreicht die Patientin 12 Punkte und überschreitet damit den Grenzwert von 4 Punkten deutlich. Bei der Bestimmung des Schweregrades zeigt die FSS 45 Punkte. Aufgrund der durch die Fatigue reduzierten Lebensqualität mit Leidendruck besteht eine Therapieindikation. ◄

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Bisher gibt es keine nachweislich wirksame Pharmakotherapie zur Behandlung eines Chronischen Fatigue-Syndroms. Zudem sind auch keine Therapien verfügbar, die eine Heilung des CFS bewirken könnten. Daher richtet sich der Fokus der Therapie auf die Linderung der belastenden Symptome wie Schmerzen, ­Depression, Angst, Schwindel, Leere im Kopf, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme. Aktivitäten, die zu einer schnellen Erschöpfung führen, sollten bekannt sein und reduziert werden. ► Beispiel

Die Behandlung der Patientin erfolgt wie bei einem CFS ohne Bezug zu einer SARS-­ CoV-­2-Infektion. Im Fokus der Therapie stehen die Symptome Müdigkeit, Erschöpfung und Schlaflosigkeit in der Nacht. ◄

Das Therapiekonzept zur Behandlung eines CFS ist multimodal. Bei den grundlegenden Komponenten der Behandlung können vier Gruppen unterschieden werden. Physikalisch begründete Therapieverfahren sind die transkranielle Magnetstimulation, die transkutane Nervenstimulation oder die hyperbare Oxigenierungstherapie, zu den kognitiven Verhaltenstherapien (KVT) gehören die psychotherapeutische Behandlung, die Verhaltenstherapie oder das operante Lernen, zur physiotherapeutischen Behandlung zählen die sog. Graded Exercise Therapy (GET), Yoga, Tai-Ji-Quan sowie multimodale Ansätze mit Kombinationen dieser Therapien. Eine Pharmakotherapie kommt nur gezielt und symptomorientiert zum Einsatz, beispielsweise bei Schmerzen. Die Wirksamkeit dieser Verfahren bei chronischer Fatigue wurde in einem aktuellen Review untersucht (Fowler-Davis et al., 2021). Hier waren die Verfahren der kognitiven Verhaltenstherapie am effektivsten  – mit Besserungsraten in der Größenordnung von 30 bis 40 %. Weniger effektiv waren operantes Lernen, selbstbestimmte Belastung im Alltag (GET) oder Physiotherapie (Besserungsrate etwa 10 %). Kaum Effekte zeigten physikalische Maßnahmen oder medikamentöse Interventionen mit Mirtazapin oder Doxycyclin (Besserungsrate um 5  %). Pharmakologische Interventionen mit dem Ziel der Modulation einer bei einem CFS wiederholt nachgewiesenen Neuroinflammation sind noch experimentell (Mackay, 2021). Einschränkend muss aber festgehalten werden, dass fast alle diese Studien überwiegend an einem Kollektiv mittelalter Erwachsener durchgeführt wurden. Die volle Erholung von einem CFS ist bei fehlender Therapie selten und liegt in der Größenordnung bei etwa 5  %. Die Besserungsrate wird unter einer multimodalen Therapie mit etwa 35  % angegeben, wobei diese Angaben für Nicht-­ COVID-­Patienten gelten (Cairns & Hotopf, 2005). Die Nachbeobachtungszeit lag bei den einzelnen Studien zwischen 12 und 36 Monaten. Eine Besserung des CFS korrelierte mit einem jüngeren Lebensalter, mit der Dauer der Nachverfolgung und mit der Schwere der Symptomatik zu Krankheitsbeginn.

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Im Rahmen einer SARS-CoV-2-Infektion zeigen in prospektiven Beobachtungsstudien etwa 15–33 % der Patienten eine Fatigue. Diese Fatigue besteht nach einem Monat noch bei 8–29 % und nach zwei Monaten bei 4–35 % der Patienten (Sudre et al., 2021). Bisher sind keine kontinuierlichen prospektiven Studien mit einer Beobachtungsdauer von mehr als zwei Monaten bei Patienten mit SARS-­CoV-­2Infektion und CFS verfügbar. Querschnittstudien umfassen oft einen längeren Krankheitsverlauf und fanden nach im Mittel sieben Monaten nach der Akutphase noch bei 32  % der ­COVID-­Patienten eine Fatigue (Pilotto et al., 2021). Querschnittstudien haben jedoch den Nachteil, dass sie mit höherer Wahrscheinlichkeit symptomatische Patienten rekrutieren und so die Häufigkeit eines Syndroms überschätzen. Ein weiteres Problem in diesen Studien ist auch, dass die Symptomatik der Fatigue in der Methodik der einzelnen Studien oft ungenügend oder unklar beschrieben wurde, sodass begründete Zweifel an der Sicherheit der Diagnose angebracht sind. Nur wenige Studien verwendeten validierte Assessmentinstrumente zur Erfassung von Fatigue. Dennoch geben diese Daten Hinweise auf den Verlauf und erlauben angesichts noch fehlender soliderer Daten eine orientierende Einschätzung der Prognose, auch der von COVID-Patienten. ► Beispiel

Nach dem Ausschluss somatischer Ursachen erhielt die Patientin eine gruppenbasierte Verhaltenstherapie. Gemeinsam mit ähnlich betroffenen Mitbewohnern wurden die Symptome besprochen und Gruppenangebote unter ergotherapeutischer Leitung eingerichtet. Zu diesen Angeboten gehörten auch Entspannungsverfahren und leichte körperliche Übungen in Form von Hockergymnastik. Hierunter verbesserte sich die Fatigue leicht, aber kontinuierlich. Nach weiteren zwei Monaten zeigte die Chalder Fatigue Scale bei der Patientin 7 Punkte und dokumentiert damit eine Besserung der Fatigue. Auch der Schlaf besserte sich ohne Einsatz von Medikamenten. Die nächtliche Wachzeit hatte sich im Verlauf um mehr als eine Stunde verkürzt. ◄

Fazit Ein Post-COVID-Syndrom mit chronischer Fatigue als führendem Symptom zeigen fast 30 % der älteren Personen nach einer akuten SARS-CoV-2-Infektion. Die Diagnose eines dem chronischen Fatigue-Syndroms (CFS) analogen Krankheitsbildes ist eine Ausschlussdiagnose. Immer sind eine ausführliche Anamnese und eine körperliche Untersuchung erforderlich, denn die Symptome sind unspezifisch. Der akute Beginn der Symptomatik spricht in Verbindung mit einer gesicherten SARS-CoV-2-Infektion für einen kausalen Zusammenhang. Der chronische Verlauf eines CFS muss dem Patienten erläutert werden. Diese Information fördert die Resilienz. Die Therapie des CFS ist multimodal und zielt auf die Linderung der belastenden Symptome. Beim Einsatz einer Pharmakotherapie müssen die Zielsymptome klar definiert und das Ansprechen auf die Therapie objektiviert werden.

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Kapitel 5 · Ich bin dauernd so erschöpft – Fatigue nach einer SARS-CoV-2-Infektion

Literatur

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Nach dem Sturz war alles anders – Schmerzen und Schlaf Inhaltsverzeichnis Literatur – 55

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_6

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Kapitel 6 · Nach dem Sturz war alles anders – Schmerzen und Schlaf

Schlafstörungen und andauernde Schmerzen sind eine bei älteren Menschen häufig anzutreffende Kombination. Beide Krankheitsentitäten beeinflussen sich gegenseitig und sollten beide behandelt werden. Die Behandlung von Schlafstörungen ist immer Bestandteil einer umfassenden Schmerztherapie.

nnLernziele Den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Schlaf und Schmerzen kennen Integration dieser Zusammenhänge in ein individualisiertes Behandlungskonzept ► Beispiel

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Die alleine lebende 87-jährige Frau hat sich bei einem häuslichen Sturz eine mediale Schenkelhalsfraktur zugezogen. Sie wird notfallmäßig stationär aufgenommen und umgehend operativ mit einer Duokopfprothese versorgt. Die perioperative Betreuung erfolgt umfassend in einem Alterstraumazentrum (ATZ). Die Anamnese ergibt als weitere Erkrankungen eine depressive Episode sowie eine arterielle Hypertonie. Zudem leidet die Patientin seit vielen Jahren an einer rheumatoiden Arthritis, die mit einem peripheren Analgetikum und einem Biologikum behandelt wird. Bisher ist eine Deformierung der Hände ausgeblieben und die Gebrauchsfähigkeit der Hände blieb erhalten. Belastend seien andauernde Schmerzen in den Gelenken, die auch dazu führen, dass sie abends nicht einschlafen könne. Sie habe dies bei ihren Arztbesuchen immer wieder angesprochen, aber niemand hatte eine Idee, wie die Schmerzen beseitigt werden könnten. Sie schlafe seit Jahren nachts höchstens fünf Stunden und sei morgens wenig erholt. Tagsüber schlafe sie nicht. Die Müdigkeit vergehe im Laufe des Vormittags. Die aktuelle Medikation lautet: ASS 100 1-0-0, Metoprolol 47.5 1-0-0, Candesartan 16 1-0-0. Simvastatin 20 0-0-1, Citalopram 20 1-0-0, L-Thyroxin 50 1-0-0, Adalimumab alle 2 Wochen s.c. ◄

z Anmerkungen zur Medikation

Der Bluthochdruck ist durch eine antihypertensive Zweifachtherapie gut eingestellt. Allerdings gerät der Betablocker als Erstlinientherapie einer arteriellen Hypertonie zunehmend in den Hintergrund. Da diese Therapie aber gut vertragen wird und schon über lange Zeit stabil so verordnet wurde, besteht kein Grund, hier aktuell eine Veränderung vorzunehmen. Aufgrund einer depressiven Episode erhält die Patientin seit drei Jahren einen Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI). Auch dieses Präparat wird gut vertragen. Die wesentlichen unerwünschten Wirkungen sind eine inappropriate ADH-­ Sekretion (SIADH) mit konsekutiver Hyponatriämie sowie die Induktion eines Restless-Legs-Syndroms (RLS). Nach einem RLS sollten daher alle Patienten befragt werden, die Neuroleptika oder Antidepressiva einnehmen. Die rheumatoide Arthritis ist bezüglich der Funktionalität gut eingestellt, die Gelenke sind nicht geschwollen und die Beweglichkeit ist erhalten – ohne Morgensteifigkeit, sodass klinisch von einer Remission auszugehen ist.

53 Nach dem Sturz war alles anders – Schmerzen und Schlaf

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Aufgrund ihres Alters und der rheumatoiden Arthritis hat die Patientin ein hohes Risiko für die Entwicklung einer Osteoporose mit erhöhtem Frakturrisiko. Das 10-Jahres-Frakturrisiko ist indikationsleitend für die Therapie einer Osteoporose. Dieses Risiko kann zum Beispiel mit Hilfe des Frax-Tools abgeschätzt werden (7 https://www.­sheffield.­ac.­uk/FRAX/tool.­aspx?lang=de; Zugriff 18.09.2022).  

► Beispiel

Im konkreten Fall errechnet sich ein 10-Jahresrisiko für eine osteoporostische Fraktur (major osteoporotic fracture, MOF) von 32 % und für eine hüftnahe Fraktur (hip) von 19 %. Damit besteht eine klare Indikation für eine Therapie, die bisher nicht erfolgte. Eine Therapie der Osteoporose reduziert das Frakturrisiko im Verlauf um etwa 50 %. Die Schlafanamnese liefert folgende Daten: Bettzeit 22  Uhr, Schlaflatenz zwei bis drei Stunden (als Grund dafür werden Schmerzen in den Gelenken angegeben), Aufwachzeit sei sechs Uhr, Gesamtschlafzeit betrage etwa fünf Stunden, keine längeren Wachzeiten in der Nacht nach dem Einschlafen. Schnarchen wird verneint. Kein Schlafmittelkonsum. Auf die konkrete Nachfrage berichtet die Patientin über unruhige Beine. Sie berichtet über Missempfindungen und Bewegungsdrang in den Beinen, der nachmittags beginne und abends sehr stark werde. Dies hindere sie daran einschlafen. Wenn sie aufstehe, würden sich die Beschwerden bessern. Sie reibe ihre Beine regelmäßig mit Franzbranntwein ein. Die Kühle sei angenehm, aber die Missempfindungen würden sich kaum bessern. Zur weiteren Abklärung der RLS wir nun der Eisenstoffwechsel bestimmt. Hier ergibt sich kein relevanter Eisenmangel. Vor einer symptomatischen Behandlung eines RLS muss immer ein – auch latenter – Eisenmangel ausgeschlossen werden. SSRIs können ein RLS verursachen. Daher muss auch geprüft werden, ob die Verordnung eines SSRIs fortgeführt werden soll. Nach Rücksprache mit dem behandelnden Nervenarzt spricht dieser sich gegen eine Unterbrechung der antidepressiven Therapie aus. Daher erfolgt eine symptomatische Verabreichung von L-Dopa. Am Folgetag berichtet die Patientin, erstmalig seit Jahren keine RLS-Beschwerden mehr zu haben. Dieses Ansprechen der Symptome auf eine dopaminerge Therapie stützt die Richtigkeit der klinisch gestellten Diagnose. Die in der Nacht durchgeführte Aktometrie zeigt einen normalen, ausreichend langen Nachtschlaf. Zudem berichtet die Patientin auch, dass ihre Schmerzen sich deutlich gebessert hätten. ◄

Gelenkschmerzen sind bei älteren Menschen mit mehr als 65 % die am häufigsten genannte Art von Schmerzen, gefolgt von Kopfschmerzen (Fernández et  al., 2010). Die Beziehung zwischen Schlaf und Schmerz ist wechselseitig. Starke Schmerzen können den Nachtschlaf stören. Ein solcher Zusammenhang wird auch von Patienten oft gesehen (Hawker et al., 2008) und ist verbunden mit der Annahme, dass eine Linderung der Schmerzen ihr Schlafvermögen verbessern würde (Morin et al., 1998). Andererseits verändert gestörter Schlaf den Prozess der Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung sowie die Aktivität des absteigenden schmerzmodulierenden Systems, und zwar dergestalt, dass die Schmerzschwelle sinkt und die ­Wahrnehmung von Schmerzen deutlich steigt (Simpson et al., 2018). Eine Re-

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Kapitel 6 · Nach dem Sturz war alles anders – Schmerzen und Schlaf

duktion der nächtlichen Schlafmenge auf etwa vier Stunden führte bei gesunden Freiwilligen in einer experimentellen Untersuchung schon nach zwei Tagen zu einer gesteigerten Schmerzwahrnehmung. Eine Ausdehnung des Schlafmangels verstärkte den Effekt auf die Schmerzwahrnehmung (Haack et al., 2019; Haack & Mullington, 2005). In einer kleinen Studie führte ein partieller Schlafentzug, der die Realität von chronischen Schmerzpatienten besser abbildet als kompletter Schlafentzug, zu einer Hyperalgesie, verursacht durch eine Modifikation des absteigenden schmerzhemmenden Systems (Roehrs et al., 2012). Zahlreiche Daten stützen die Annahme, dass gestörter Schlaf ein kausaler Faktor oder ein perpetuierender Faktor für chronische Schmerzen sein kann (Smith et al., 2007). So konnte zum Beispiel für Patienten mit rheumatoider Arthritis gezeigt werden, dass die von ihnen angegebene Schlafeffizienz mit der endogenen Endorphinwirkung im absteigenden schmerzhemmenden System assoziiert ist (Lee et  al., 2009). Unkontrollierter Schmerz verändert die Tagesaktivität. Schmerzpatienten sind körperlich weniger aktiv, um Schmerzexazerbationen zu vermeiden. Lange Ruhephasen, Schlaf am Tage und geringe körperliche Aktivität reduzieren den Schlafdruck und beeinflussen den zirkadianen Rhythmus. Dadurch können Schlafstörungen induziert werden, in deren Folge sich dann in einem Teufelskreis die Schmerzwahrnehmung verstärkt (Smith et al., 2007). ► Beispiel

Im vorgestellten Fall besteht ein langjähriges Restless-Legs-Syndrom, welches negative Auswirkungen auf den Schlaf der Patientin hatte. Das Einschlafen war angesichts einer mit im Mittel mehr als zwei Stunden dauernden Schlaflatenz bei adäquater Bettzeit erheblich verlängert. Phänotypisch bestand eine Einschlafstörung, die aufgrund ihrer Dauer von mehr als drei Monaten und der gestörten Tagesbefindlichkeit die Kriterien einer chronischen Insomnie erfüllte. Die Schlafeffizienz war angesichts einer mit neun Stunden ausreichend langen Bettzeit, aber einer Gesamtschlafzeit von etwa fünf Stunden mit 56 % deutlich zu niedrig. Die RLS-Symptome sprachen auf die verordnete L-Dopa-Therapie sofort an. Dies bestätigt die Richtigkeit der Diagnose. Die gleichzeitig durchgeführte Aktometrie unter der L-Dopa-Gabe ergab einen Normalbefund mit einer Schlafeffizienz von fast 90 %. Gleichzeitig gab die Patientin an, dass ihre Schmerzen praktisch nicht mehr vorhanden seien. Diese Aussagen passen zu Angaben in der Literatur. Als Mechanismus kann eine Modifikation des absteigenden schmerzhemmenden Systems durch die effektive Behandlung des Restless-Legs Syndroms mit konsekutiver Verbesserung des Schlafes angenommen werden. Eine Eskalation der Schmerztherapie wäre hier die falsche Option gewesen. Bei einer Nachuntersuchung nach drei Monaten berichtete die Patientin weiterhin von einer guten Kontrolle der RLS-Beschwerden und sehr geringen Schmerzen seitens der rheumatoiden Arthritis. ◄

55 Literatur

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Die L-Dopa-Gabe bei Fortführen der SSRI-Therapie stellt einen pragmatischen Kompromiss dar, wie er in der täglichen Praxis immer wieder zu beobachten ist. Hätte die Symptomatik des RLS nicht auf die L-Dopa-Therapie angesprochen, wäre eine Modifikation der antidepressiven Therapie zu diskutieren. Der behandelnde Nervenarzt hielt eine Fortführung für geboten. Da SSRIs ein RLS auslösen können, wäre Bupropion als therapiezische Alternative zu erwägen gewesen, da dieses Antidepressivum nicht mit einem RLS assoziiert ist. Wichtig ist aber, die Patientin über das Phänomen der Augmentation der Symptome des RLS unter einer dopaminergen Behandlung aufzuklären und diesbezüglich regelmäßig klinisch zu begleiten. Fazit Gestörter Schlaf modifiziert die Schmerzverarbeitung und induziert eine Hyperalgesie. Chronisch leichter Schlafentzug senkt die Schmerzschwelle und prädisponiert zu chronischen Schmerzen. Schmerzpatienten sollten aktiv nach Schlafproblemen gefragt werden. Restless Legs sind mit etwa 10 % relativ häufig bei älteren Menschen. Da diese Beschwerden nicht immer spontan berichtet werden, muss aktiv danach gefragt werden. Die Behandlung des RLS ist symptomatisch. Auslöser eines sekundären RLS sind unter anderem Medikamente oder ein Eisenmangel. Diese Ursachen müssen differenzialdiagnostisch immer ausgeschlossen werden.

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Ich habe Angst, nach der Operation durchzudrehen – Delirprävention Inhaltsverzeichnis Literatur – 62

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_7

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Kapitel 7 · Ich habe Angst, nach der Operation durchzudrehen – Delirprävention

Das Risiko für die Entwicklung eines postoperativen Delirs lässt sich anhand von validierten Skalen abschätzen. Die präoperative Berücksichtigung der Risikofaktoren und das darauf abgestimmte postoperative Management sind die Basis der Delirprävention.

nnLernziele Abschätzen des Delirrisikos Schlafmedizinische Beratung zur Delirprävention Umgang mit anticholinergen Effekten einer Medikation ► Beispiel

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Bei einer 82-jährigen, rüstigen Patientin steht ein operativer Ersatz des Hüftgelenkes an. Die Hüftgelenksarthrose sei mittlerweile so schlimm, dass sie kaum noch schmerzfrei gehen könne. Viele ihrer Aktivitäten musste sie deshalb aufgeben, worunter sie sehr leide. Aber auch zu dem anstehenden Eingriff konnte sie sich nicht entschließen. Die größte Sorge bereite ihr die Narkose und die Angst davor, nach dem Eingriff verwirrt zu sein. Daher sucht sie Ihren Rat. ◄

Evaluation Die Patientin spricht ein Problem an, das angesichts immer älter werdender Patienten und der Zunahme von erfolgreich durchführten, auch komplexen medizinischen Maßnahmen bei Hochbetagten immer wichtiger wird: die Delirprophylaxe. Zunächst muss die Frage nach der Indikation eines vorgesehenen Eingriffs beantwortet werden. Die Indikation zu einem operativen Ersatz des Hüftgelenkes ist gegeben, wenn ausgeprägte Beschwerden bestehen, fortgeschrittene degenerative Veränderungen in der Röntgenaufnahme der Hüfte dokumentiert werden können, die Lebensqualität und die Alltagsaktivitäten nachhaltig beeinträchtigt sind und ein konservativer Therapieversuch erfolglos war. Da die Patientin diese Kriterien erfüllt, ist die Indikation zu einem elektiven operativen Hüftgelenksersatz gegeben (Dakin et al., 2020).

► Beispiel

Im nächsten Schritt wollen Sie das Risiko für ein perioperatives Delir bei ihrer Patientin einschätzen. Zu dieser Einschätzung gehören die Bewertung des aktuellen Gesundheitszustandes, die Berücksichtigung von chronischen Erkrankungen und Funktionseinschränkungen sowie ein Medikamentencheck. Die körperliche Untersuchung ergibt einen altersentsprechenden Befund. Die Patientin ist, abgesehen von ihrer durch die Coxarthrose bedingten Behinderung, in einer guten gesundheitlichen Verfassung. Medikamentös erhält sie eine antihypertensive Zweifachtherapie mit Chlortalidon 25 mg und Candesartan 16 mg. Der Blutdruck beträgt 135/75 mmHg liegend und 125/80 mmHg im Stehen. ◄

59 Ich habe Angst, nach der Operation durchzudrehen…

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Die Blutdruckmessung im Stehen ist gerade bei älteren Menschen wichtig, da eine orthostatische Hypotonie (OH) bei etwa 30 % der zu Hause lebenden älteren Menschen zu finden ist (Tran et al., 2021). Eine OH ist zudem mit zahlreichen gesundheitlichen Problemen und einer schlechteren Prognose assoziiert. Auch eine Herzinsuffizienz bei erhaltener linksventrikulärer Funktion (HFpEF) ist häufiger bei älteren Hypertonikern und erhöht das perioperative Risiko. Eine einfache und am Krankenbett durchführbare Untersuchung ist die Blutdruckmessung nach Riva-Rocci, während der Patient ein Valsalva-Manöver ausführt. Ein Blutdruckabfall während des Pressens mit einem kurzen überproportionalen Anstieg des systolischen Blutdrucks nach Beendigung des Pressens schließt eine Herzinsuffizienz weitestgehend aus (Schlitzer et al., 2021). ► Beispiel

Aufgrund der Schmerzen habe die Patientin nicht mehr gut schlafen können. Sie habe ein Schmerzmittel eingenommen, aber dadurch seien die Schmerzen nicht viel besser geworden. Daher habe sie sich entschlossen, ein frei verkäufliches Schlafmittel einzunehmen. Dadurch habe sie ein wenig besser geschlafen, aber das sei ja auch keine Lösung. ◄

Das Präparat, welches die Patientin zur Verbesserung ihres Schlafes eingenommen hat, heißt Doxylamin. Dieses Präparat ist ein frei verkäufliches Antihistaminikum mit ausgeprägten anticholinergen Effekten, welches zur kurzzeitigen Behandlung von Schlafstörungen verwendet wird. Seine schlaffördernde Wirksamkeit ist kaum in randomisierten Studien untersucht worden und eher gering (Culpepper & Wingertzahn, 2015). Allerdings kann bei der Beendigung der Einnahme zeitlich befristet eine Zunahme der insomnischen Beschwerden (sog. Rebound-­Insomnie) auftreten (Culpepper & Wingertzahn, 2015). Um das Risiko für perioperatives Delir abzuschätzen, wird zunächst nach Faktoren gesucht, die mit einer erhöhten Delirinzidenz assoziiert sind. Dabei ist es wichtig, die Faktoren zu identifizieren, die modifizierbar sind. Risikofaktoren für ein perioperatives Delir zeigt . Tab. 7.1. Von diesen Faktoren sind Gebrechlichkeit, ADL- und IADL-Probleme, eine Niereninsuffizienz, die Medikation und ein Diabetes mellitus modifizierbar. Dies geschieht zum Beispiel im Rahmen einer Prähabilitation, deren günstiger Effekt hinsichtlich perioperativem Outcome für elektive chirurgische Eingriffe mittlerweile belegt ist (Moyer et al., 2017). Weitere bekannte Risikofaktoren für ein postoperatives Delir sind unkontrollierte Schmerzen und Schwerhörigkeit. Bezüglich der Auswirkungen von Schlafstörungen auf das Delirrisiko ist die Datenlage weniger eindeutig (Janssen et al., 2019). Studien finden Assoziationen für eine erhöhte Delirinzidenz, Schlafstörungen allgemein (Cho et  al., 2020), einer obstruktiven Schlafapnoe (Rong et  al., 2021) oder der regelmäßigen Einnahme von Hypnotika (Westermeyer & Carr, 2020). Diese Risikofaktoren sind potenziell modifizierbar. Zur Abschätzung des Delirrisikos und zum Vorliegen von Schlafstörungen verwenden Sie validierte Assessmentinstrumente. Diese Instrumente müssen grund 

60

Kapitel 7 · Ich habe Angst, nach der Operation durchzudrehen – Delirprävention

..      Tab. 7.1  Ergebnis einer Metaanalyse zu Faktoren, die mit einer signifikant erhöhten perioperativen Delirinzidenz einhergehen. (Watt et al., 2018)

7

Delir in der Vorgeschichte

6,4 (2,2–17,9)

Gebrechlichkeit (Frailty)

4,1 (1,4–11,7)

Hirnleistungsstörung

2,7 (1,9–3,8)

Niereninsuffizienz

2,3 (1,1–4,8)

Psychotrope Medikamente

2,3 (1,4–3,6)

Hohes Lebensalter

2,2 (1,6–3,2)

ADL-Probleme

2,1 (1,6–2,6)

IADL-Probleme

1,9 (1,3–2,8)

Zerebrovaskuläre Erkrankung

1,8 (1,2–2,7)

Raucher

1,8 (1,3–2,4)

Geringer Bildungsgrad

1,5 (1,1–2,0)

Diabetes mellitus

1,4 (1,0–2,0)

Neurologische Erkrankung

1,4 (1,0–1,9)

.       Tab. 7.2  Komponenten und Bewertung des DRAS-Tools. (Vreeswijk et al., 2020) Alter 75+

2

Schwerhörigkeit

2

Demenz

3

Neuroleptika

1

sätzlich einfach und schnell anwendbar sein und sollten über zufriedenstellende Gütekriterien verfügen. Diese Erfordernisse erfüllt das Instrument Delirium Risk Assessment Score (DRAS) (Vreeswijk et al., 2020). Dieses Instrument eignet sich sehr gut zur Abschätzung der perioperativen Delirrisikos. Das Instrument umfasst vier einfach zu erhebende Faktoren, die jeweils mit Punkten gewichtet werden (. Tab. 7.2). Aus den jeweiligen Punkten wird ein Summenscore gebildet. Bei drei und mehr Punkten ist das postoperative Delirrisiko signifikant erhöht. Präoperativ prüfen Sie bei Ihrer Patientin die Hirnleistung mit dem Six-Item-­ Screener (SIS), das als valides Screeninginstrument gilt. Dabei wird das aktuelle Datum erfragt und die Patientin wird gebeten, drei zuvor genannte Begriffe zu wiederholen. Jede korrekte Antwort wird mit einem Punkt bewertet. Eine kognitiv gesunde Person sollte mehr als 4 Punkte erreichen (Tavares-Júnior et al., 2019).  

61 Ich habe Angst, nach der Operation durchzudrehen…

7

► Beispiel

Die verbale Kommunikation ist mit Ihrer Patientin problemlos möglich. Sie trägt keine Hörgeräte. Im SIS erreicht ihre Patientin 5 von 6 möglichen Punkten und ist damit im Screening nicht kognitiv auffällig. Für das Assessment des Schlafes setzen Sie den PSQI als globalen Test ein. Dieser ist mit 8 Punkten (Schlaflatenz, Schlafdauer und Hypnotikaeinnahme) erhöht. Tagesmüdigkeit wird jedoch verneint. Die STOP-BANG-­Skala zur Einschätzung des Risikos für eine obstruktive Schlafapnoe ergibt 2 Punkte (Alter, Bluthochdruck) und macht das Vorliegen einer obstruktiven Schlafapnoe wenig wahrscheinlich. Das DRAS-Tool ergibt damit zwei Punkte (Alter). Das Risiko für ein postoperatives Delir ist nicht über das alterstypische Maß hinaus erhöht. Zusammenfassend sehen Sie eine normgewichtige, rüstige, kognitiv nicht eingeschränkte 82-jährige Patientin mit einem durch eine Zweifachtherapie gut eingestellten Bluthochdruck, die aufgrund einer fortgeschrittenen Coxarthrose in ihrer Alltagsaktivität und Lebensqualität stark eingeschränkt ist. Die durch die Coxarthrose verursachten Schmerzen stören den Schlaf, weshalb die Patientin ein Schlafmittel einnimmt. Die Schlafqualität ist gestört, eine obstruktive Schlafapnoe liegt wahrscheinlich nicht vor. Kritisch zu sehen ist die Einnahme von Doxylamin, welches einen ausgeprägten anticholinergen Effekt hat. Sie erklären der Patientin das relativ geringe Delirrisiko. In der Summe würde sie von einem operativen Hüftgelenksersatz sehr profitieren. Allerdings sollten vorab die Schlafqualität verbessert und die Hypnotikamedikation ausgeschlichen werden. Da der Schmerz eine wesentliche Komponente für die Schlafstörung zu sein scheint, verordnen Sie eine multimodale Schmerztherapie mit Physiotherapie, physikalischer Therapie und Schmerzmitteln. Dabei kombinieren Sie ein peripheres Schmerzmittel (z. B. Paracetamol) mit Tilidin/Naloxon und steigern die Dosis des Tilidins bis auf zweimal 200 mg. Die Dosis des Hypnotikums wird für drei Tage halbiert und dann beendet. Auf die Regeln der Schlafhygiene weisen sie hin. Die Patientin befolgt die von Ihnen getroffenen und erklärten Maßnahmen. Durch die multimodale Schmerztherapie werden die Schmerzen erträglicher, ohne sich jedoch so sehr zu bessern, dass die Operationsindikation hinterfragt werden müsste. Auch der Schlaf verbessert sich durch die Aufklärung und die Schmerztherapie. Die ausschleichende Beendigungen der Doxylamninmedikation gelingt ohne Rebound. Den anschließend durchgeführten elektiven operativen Eingriff übersteht die Patientin komplikationslos. ◄

Fazit Die Abschätzung des perioperativen Delirrisikos ist eine zunehmend wichtiger werdende ärztliche Aufgabe. Hier stehen valide Screeninginstrumente zur Verfügung. Zusätzlich sollte immer nach Schlafstörungen gefragt und entsprechend präventiv gehandelt werden.

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Kapitel 7 · Ich habe Angst, nach der Operation durchzudrehen – Delirprävention

Literatur

7

Cho, M.-R., Song, S.-K., & Ryu, C.-H. (2020). Sleep disturbance strongly related to the development of postoperative delirium in proximal femoral fracture patients aged 60 or older. Hip & Pelvis, 32(2), 93–98. https://doi.org/10.5371/hp.2020.32.2.93 Culpepper, L., & Wingertzahn, M. A. (2015). Over-the-counter agents for the treatment of occasional disturbed sleep or transient insomnia: A systematic review of efficacy and safety. The Primary Care Companion for CNS Disorders, 17(6), 26162. https://doi.org/10.4088/PCC.15r01798 Dakin, H. A., Eibich, P., Gray, A., Smith, J., Barker, K. L., Beard, D., & Price, A. J. (2020). Who gets referred for knee or hip replacement? A theoretical model of the potential impact of evidence-­ based referral thresholds using data from a retrospective review of clinic records from an English musculoskeletal referral hub. BMJ Open, 10(7), e028915. https://doi.org/10.1136/bmjopen-­ 2019-­028915 Janssen, T. L., Alberts, A. R., Hooft, L., Mattace-Raso, F., Mosk, C. A., & van der Laan, L. (2019). Prevention of postoperative delirium in elderly patients planned for elective surgery: Systematic review and meta-analysis. Clinical Interventions in Aging, 14, 1095–1117. https://doi.org/10.2147/ CIA.S201323 Moyer, R., Ikert, K., Long, K., & Marsh, J. (2017). The value of preoperative exercise and education for patients undergoing total hip and knee arthroplasty: A systematic review and meta-analysis. JBJS Reviews, 5(12), e2. https://doi.org/10.2106/JBJS.RVW.17.00015 Rong, X., Ding, Z.-C., Yu, H.-d., Yao, S.-Y., & Zhou, Z.-K. (2021). Risk factors of postoperative delirium in the knee and hip replacement patients: A systematic review and meta-analysis. Journal of Orthopaedic Surgery and Research, 16(1), 76. https://doi.org/10.1186/s13018-­020-­02127-­1 Schlitzer, J., Heppner, H. J., & Frohnhofen, H. (2021). Zuverlässigkeit der Blutdruckreaktion während der Durchführung eines bettseitigen Valsalva-Manövers und Assoziation mit NT-pBNPWerten. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 54(4), 371–376. https://doi.org/10.1007/ s00391-­021-­01849-­z Tavares-Júnior, J. W. L., de Souza, A. C. C., Alves, G. S., Bonfadini, J. d. C., Siqueira-Neto, J. I., & Braga-Neto, P. (2019). Cognitive assessment tools for screening older adults with low levels of education: A critical review. Frontiers in Psychiatry, 10, 878. https://doi.org/10.3389/ fpsyt.2019.00878 Tran, J., Hillebrand, S. L., Meskers, C. G. M., Iseli, R. K., & Maier, A. B. (2021). Prevalence of initial orthostatic hypotension in older adults: A systematic review and meta-analysis. Age and Ageing, 50(5), 1520–1528. https://doi.org/10.1093/ageing/afab090 Vreeswijk, R., Kalisvaart, I., Maier, A. B., & Kalisvaart, K. J. (2020). Development and validation of the delirium risk assessment score (DRAS). European Geriatric Medicine, 11(2), 307–314. https:// doi.org/10.1007/s41999-­019-­00287-­w Watt, J., Tricco, A. C., Talbot-Hamon, C., Pham, B.'., Rios, P., Grudniewicz, A., et al. (2018). Identifying older adults at risk of delirium following elective surgery: A systematic review and meta-­ analysis. Journal of General Internal Medicine, 33(4), 500–509. https://doi.org/10.1007/s11606-­ 017-­4204-­x Westermeyer, J., & Carr, T. M. (2020). Zolpidem-associated consequences: An updated literature review with case reports. The Journal of Nervous and Mental Disease, 208(1), 28–32. https://doi. org/10.1097/NMD.0000000000001074

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Ich bin doch nicht verrückt – Delirprävention vor einem elektiven operativen Eingriff Inhaltsverzeichnis Literatur – 67

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_8

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Kapitel 8 · Ich bin doch nicht verrückt – Delirprävention vor einem elektiven operativen…

Die Anzahl Hochbetagter, die sich komplexen operativen Eingriffen unterziehen, steigt. Ein postoperatives Delir ist eine gefürchtete Komplikation. Eine präoperative Risikoeinschätzung ist möglich und die gezielte präoperative Vorbereitung reduziert wahrscheinlich das postoperative Delirrisiko. Das präoperative Assessment von Schlafstörungen sollte regelmäßig erfolgen.

nnLernziele Abschätzen des Delirrisikos vor einem operativen Eingriff Schlafmedizinische Beratung zur Delirprävention Umgang mit anticholinergen Effekten einer Medikation ► Beispiel

8

Bei einem 84-jährigen Patienten steht ein operativer Kniegelenksersatz an. Sie sehen den Patienten präoperativ in Ihrer Praxis und sollen ihn im Rahmen eines Kooperationskonzeptes gemeinsam mit dem operativen Zentrum am Ort auf den Eingriff vorbereiten. Die Indikation zur Operation ist gegeben, der Patient wurde umfassend aufgeklärt und hat in den Eingriff eingewilligt. Sie kennen den Patienten seit Jahren. Er leidet an einer mit einer Dreifachtherapie stabil eingestellten arteriellen Hypertonie. Vor fünf Jahren unterzog er sich einer kardiovaskulären Revaskularisationsoperation. Nach diesem Eingriff durchlebte er ein etwa drei Tage lang andauerndes Delir. Damals wurde auch eine obstruktive Schlafapnoe diagnostiziert und eine nächtliche Maskenbeatmung (nCPAP-Therapie) eingeleitet. Bei guter Compliance wird diese Therapie auch weiterhin konsequent angewendet. Die Kontrolle der Dauer der nächtlichen Geräteanwendung erfolgt telemedizinisch mit regelmäßiger Rückmeldung der ausgelesenen Daten an den Patienten und den Hausarzt. Vor einem Jahr haben Sie bei dem Patienten einen Diabetes mellitus festgestellt, der sich diätetisch gut einstellen lässt. Der letzte HBA1C-Wert lag bei 7,1 %. Als Folge des Diabetes und der arteriellen Hypertonie bestehen eine Nephropathie mit einer glomerulären Filtrationsrate von 56 ml/min und einer moderaten Proteinurie (Stadium IIIa A2 nach KDOQI) und eine periphere Neuropathie, die aber keine Missempfindungen verursacht. Sein reduziertes Hörvermögen bei Presbyacusis kompensiert der Patient erfolgreich mit einem Hörgerät. Der Patient befindet sich seit seiner Herzoperation in regelmäßiger kardiologischer Kontrolle. Die letzte kardiale Untersuchung liegt drei Monate zurück und ergab ein zufriedenstellendes stabiles Ergebnis. Der Patient ist kardial beschwerdefrei und kann sich im Alltag so belasten, wie es sein Knie erlaubt. Vor sechs Monaten erfolgte eine telemedizinische Kontrolle der CPAP-Gerätenutzung, die eine nächtliche Nutzungszeit von durchschnittlich fünf Stunden ergab. Der aktuelle Medikationsplan lautet: ASS 100 1-0-0, Metoprolol 95 1-0-1, Candesartan 16 1-0-0, Hydrochlorothiazid 12,5 1-0-0, Atorvastatin 20 1-0-0, Ibuprofen 400 1-11-1 (Selbstmedikation), Pantoprazol 40 1-0-1, Tamsolusin 0,4 1-0-0. Ihr Patient hat aufgrund seiner kardialen Vorgeschichte ein etwas erhöhtes Operationsrisiko, welches jedoch angesichts der stabilen klinischen Situation bei guter ­Belastbarkeit akzeptabel ist (ASA III). ◄

65 Ich bin doch nicht verrückt – Delirprävention vor einem…

8

Der Patient befindet sich in einer stabilen klinischen Situation, ist im Alltag ausreichend belastbar und zeigt keine klinischen Zeichen einer Herzinsuffizienz. Aufgrund der Einnahme von sieben gleichzeitig verordneten Medikamenten erfüllt er die Kriterien der Polypharmazie. Bei der kritischen Durchsicht dieser Medikation ergeben sich einige wichtige Aspekte. Bezüglich der HCT-Medikation besteht bei fehlender Flüssigkeitsretention keine Indikation, zumal HCT mit dem Risiko einer Exsikkose, Hyponatriämie und Destabilisierung des Diabetes assoziiert ist („Morbus diureticus“) (Wehling, 2013). HCT wird jedoch in der Behandlung der arteriellen Hypertonie verordnet, dann allerdings in niedriger Dosierung. Wenn die Indikation für die Verordnung eines Diuretikums im Rahmen der Behandlung einer arteriellen Hypertonie gesehen wird, ist Chlortalidon zu bevorzugen, da es keine Auswirkungen auf die Haut hat und im Vergleich zu HCT auch vasodilatierend wird. Aufgrund seiner langen Halbwertszeit reicht in der Regel eine zweitägliche Gabe aus. Ibuprofen erwarb der Patient selbst als freiverkäufliches Analgetikum bei Gonarthrose. Dies macht bei über 70-Jährigen eine Begleitmedikation mit einem Protonenpumpenhemmer erforderlich, da das Risiko für gastrointestinale Komplikationen durch nichtsteroidale Entzündungshemmer (NSAIDs) in dieser Altersgruppe deutlich erhöht ist. Zudem kann Ibuprofen den Effekt von ASS bei zeitgleicher Einnahme kompromittieren und zu erhöhtem Blutdruck und einer Herzinsuffizienz führen (Domper Arnal et  al., 2021). Eine perioperative Exsikkose durch Flüssigkeitskarenz bei gleichzeitiger Diuretikagabe und Verordnung von ACE- oder AT1-Blockern hat in Verbindung mit einem NSAID einen potenzierenden nephrotoxischen Effekt („triple Whammy“). Die Verordnung von Tamsolusin erfolgte aufgrund einer Harnblasenentleerungsstörung. Unter einer Tamsolusinmedikation muss auf eine orthostatische Hypotonie (OH) als unerwünschte Wirkung geachtet werden. Diese kann sich insbesondere perioperativ bei der Mobilisation eines Patienten manifestieren. Zudem muss bedacht werden, dass der Diabetes mellitus durch die autonome Neuropathie zusätzlich die Harnblasenentleerung beeinträchtigen kann. Bei der Verordnung aller Medikamente muss daher auf deren anticholinerge Wirkung geachtet werden, damit kein Harnverhalt auftritt. Die Reduktion der anticholinergen Last reduziert das Risiko für einen perioperativen Harnverhalt. Ein solcher Harnverhalt kann sich bei einem noch nicht voll orientierten Patienten als Unruhe oder Delir äußern und zu falschen therapeutischen Entscheidungen verleiten (Gonzales et al., 2018). Die präoperative Risikoeinschätzung für ein Delir muss all diese Aspekte berücksichtigen. Aufgrund seines Alters (75 +) und der Presbyacusis ist der DRAS-­ Score zur Abschätzung des perioperativen Delirriskos mit 4 Punkten erhöht (Vreeswijk et al., 2020). Da der Patient schon einmal ein perioperatives Delir erlitten hat, gilt er in Verbindung mit einem erhöhten DRAS-Score als Delir gefährdet.

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Kapitel 8 · Ich bin doch nicht verrückt – Delirprävention vor einem elektiven operativen…

Definition Der DRAS-Score ist ein einfacher und valider Score zur Abschätzung des perioperativen Delirrisikos mit ausgezeichneten Gütekriterien. Er besteht aus den vier Komponenten Alter über 75 Jahre (2 Punkte), Schwerhörigkeit (2 Punkte), bestehende Demenz (3 Punkte) und regelmäßige Neuroleptikamedikation (1 Punkt). Ein Wert von drei und mehr Punkten spricht für ein erhöhtes Delirrisiko, wobei dieses Risiko mit jedem weiteren Punkt deutlich steigt (Vreeswijk et al., 2020).

Die durch eine Medikation bedingte anticholinerge Last kann aus Tabellen abgeschätzt werden, in denen Medikamente mit deutlichen anticholinergen Eigenschaften aufgeführt sind. Je nach Stärke der anticholinergen Wirkung werden diese Medikamente mit einem, zwei oder drei Punkten bewertet. Die anticholinerge Last ergibt sich aus der Summe der Einzeleffekte (Egberts et al., 2021). Die auf eine Medikation zurückzuführende anticholinerge Last kann mit Hilfe von Tabellen oder mit Hilfe eines im Internet frei verfügbaren Rechners ermittelt werden (7 www.­ ACBcalcu.­com). Der anzustrebende Score sollte einen Wert von 2 nicht überschreiten. Pharmakologisch sollten alle Medikamente mit anticholinergen Effekten gemieden werden. Daher tauschen Sie die Metoprololmedikation (anticholinerg, ein Punkt) gegen Bisoprolol aus (nicht anticholinerg). Auf die zeitnahe Bereitstellung des Hörgerätes und des nCPAP-Gerätes muss unbedingt geachtet werden (King et al., 2020). Das Diuretikum sollte abgesetzt werden, ebenso die Ibuprofenmedikation. Bei Schmerzen kann ein peripheres Analgetikum – zum Beispiel Novamisulfon – in Verbindung mit einem schwachen Opiat verordnet werden. Durch die Beendigung der Ibuprofenmedikation könnte sich der Bluthochdruck mit einer Zweifachtherapie ausreichend kontrollieren lassen. Sollte der Bluthochdruck jedoch eine weitere Therapie erfordern, wäre ein Kalziumantagonist indiziert. Die Kreislaufeffekte einer antihypertensiven Medikation stellen sich erst im Laufe mehrerer Tage ein, sodass bei einer Umstellung der Therapie auch Geduld erforderlich ist.  

8

Fazit Bei dem betagten, rüstigen Patient mit beabsichtigtem operativen Kniegelenksersatz bestehen zahlreiche Begleiterkrankungen, die im Vorfeld alle überprüft und optimiert werden sollten, damit das Operationsergebnis nicht gefährdet wird. Neben internistischen Aspekten und einem schon einmal durchgemachten perioperativen Delir sind auch schlafmedizinische Aspekte zur Delirprävention mit Sicherstellung der durchgehenden nCPAP-Versorgung durch entsprechende Informationen von Patient, Ehefrau und Klinik erforderlich. Die präoperative Optimierung medizinischer Probleme und der Informationstransfer über bestehende Risiken und deren Management kann helfen, bei Delir gefährdeten Patienten das Risiko für ein perioperatives Delir zu reduzieren. Gerade auf die Bedeutung der schlafmedizinischen Aspekte muss im Vorfeld proaktiv geachtet werden.

67 Literatur

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Literatur Domper Arnal, M.-J., Hijos-Mallada, G., & Lanas, A. (2021). Gastrointestinal and cardiovascular adverse events associated with NSAIDs. Expert Opinion on Drug Safety, 1–12. https://doi.org/10 .1080/14740338.2021.1965988 Egberts, A., Moreno-Gonzalez, R., Alan, H., Ziere, G., & Mattace-Raso, F. U. S. (2021). Anticholinergic drug burden and delirium: A systematic review. Journal of the American Medical Directors Association, 22(1), 65–73.e4. https://doi.org/10.1016/j.jamda.2020.04.019 Gonzales, J., Lovald, S. T., Lau, E. C., & Ong, K. L. (2018). Risk of opioid-related adverse events after primary and revision total knee arthroplasty. Journal of Surgical Orthopaedic Advances, 27(2), 148–154. King, C. R., Fritz, B. A., Escallier, K., Ju, Y.-E. S., Lin, N., McKinnon, S., et al. (2020). Association between preoperative obstructive sleep apnea and preoperative positive airway pressure with postoperative intensive care unit delirium. JAMA Network Open, 3(4), e203125. https://doi. org/10.1001/jamanetworkopen.2020.3125 Vreeswijk, R., Kalisvaart, I., Maier, A. B., & Kalisvaart, K. J. (2020). Development and validation of the delirium risk assessment score (DRAS). European Geriatric Medicine, 11(2), 307–314. https:// doi.org/10.1007/s41999-­019-­00287-­w Wehling, M. (2013). Morbus diureticus in the elderly: Epidemic overuse of a widely applied group of drugs. Journal of the American Medical Directors Association, 14(6), 437–442. https://doi. org/10.1016/j.jamda.2013.02.002

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Ich ziehe in ein Pflegeheim – Psychische Belastung bei einem Umzug ins Pflegeheim Inhaltsverzeichnis Literatur – 72

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_9

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Kapitel 9 · Ich ziehe in ein Pflegeheim – Psychische Belastung bei einem Umzug…

Der Umzug in ein Pflegeheim ist für einen älteren Menschen eine erhebliche Weichenstellung im Leben, die mit zum Teil erheblichen Ängsten behaftet ist. Dies zu erkennen und die in der Regel passageren Folgen zu lindern ist eine wichtige ärztliche Aufgabe.

nnLernziele Auswirkung des Wohnungswechsels bei älteren Menschen kennen Zusammenhang zwischen Wohnungswechsel und psychischer Belastung kennen ► Beispiel

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Für Ihre 83-jährige Patientin steht eine entscheidende Weichenstellung an. Sie wird in ein Pflegeheim ziehen. Nach dem Tod ihres Ehemannes lebte sie über 15 Jahre alleine in ihrem Haus und hat ihr Leben vollkommen selbstständig bewältigt. Im letzten Jahr ist sie jedoch häufiger gestürzt und konnte sich aus eigener Kraft nicht mehr erheben. Sie habe nach einem Sturz mehrere Stunden auf dem Boden gelegen, bis Angehörige sie gefunden hätten. Daher habe sie ein Hausnotrufsystem bekommen. Dieses habe sie in den letzten Monaten häufiger aufgrund von Stürzen aktivieren müssen. Gott sei Dank habe sie sich nichts gebrochen. Schon vor längerer Zeit wurde ihr von den Mitgliedern der Familie angeraten, in ein Pflegeheim zu ziehen. Dazu konnte sie sich bisher nicht entschließen, jetzt akzeptiert sie aber diese Notwendigkeit. Aber der Gedanke daran, ihr Haus für immer verlassen zu müssen und in ein Heim zu ziehen, belastet sie sehr. Sie denkt über ihr Leben nach, grübelt viel und findet nicht mehr in den Schlaf. Dabei war sie immer eine gute Schläferin und hatte nie Schlafprobleme. Sie wünscht sich eine Medikation, um wieder besser schlafen zu können. Sie kennen die Patientin seit Jahren. Als wesentliche Erkrankungen bestehen eine mit einer Zweifachtherapie behandelte arterielle Hypertonie, ein milder Diabetes mellitus, der sich diätetisch gut einstellen lässt, sowie eine Osteoporose, die seit acht Jahren mit Vitamin D und einem Bisphosphonat behandelt wird. Die verordneten Medikamente wurden über Jahre hinweg gut vertragen und scheiden als Verursacher der akuten Schlafstörung praktisch aus. Die Schlafanamnese ergibt folgende Daten: Bettzeit 21:30  Uhr, Aufwachen gegen 6 Uhr morgens, Schlaflatenz wechselnd, aber stets länger als zwei Stunden, Wachzeit in der Nacht etwa eine Stunden, Gesamtschlafzeit vier bis fünf Stunden. Morgens fühle sie sich unausgeschlafen und müde. Die Beschwerden treten fast jede Nacht auf. Unruhige Beine habe sie nicht. Medikamente zur Verbesserung des Schlafes habe sie bisher nicht eingenommen, da sie eigentlich immer eine gute Schläferin war. Die jetzt bestehenden Beschwerden seien mit der vor vier Wochen getroffenen Entscheidung zum Umzug in ein Heim aufgetreten. ◄

71 Ich ziehe in ein Pflegeheim – Psychische Belastung bei einem…

9

Evaluation Die Patientin berichtet Beschwerden, die typisch sind für eine akute Insomnie (Riemann et  al., 2017a). Die Schlafbeschwerden bestehen seit weniger als drei Monaten, treten an mehr als drei Tagen in der Woche auf und haben Auswirkungen auf die Tagesbefindlichkeit. Auch eine Auslösemechanismus lässt sich eruieren. Der Leidendruck ist deutlich erhöht, sodass die Indikation zu einer Behandlung besteht.

Therapeutisch sind stützende Gespräche die erste Wahl. Oft reichen solche Gespräche jedoch nicht aus, da ihr Effekt sich im Einzelfall erst nach längerer Zeit einstellt. Daher scheint die Verordnung eines Hypnotikums zur akuten Entlastung sinnvoll. Hypnotika sind in Deutschland nur für den kurzen Zeitraum von vier Wochen zugelassen, nicht jedoch für eine dauerhafte Behandlung (Riemann et al., 2017b). Daher muss einem Patienten vor der Verordnung eines Hypnotikums klar kommuniziert werden, dass ein Hypnotikum alleine als Therapie nicht ausreicht und dass die Einnahme eines Hypnotikums nur zeitlich befristet erfolgen darf. Es ist zudem wichtig, von vornherein auf die Möglichkeit der intermittierenden Gabe bei der Verordnung eines Hypnotikums hinzuweisen. Da Anspannung und Angst in der hier beschriebenen Konstellation eine große Rolle spielen können, ist die Wahl eines pflanzlichen Präparates mit beruhigenden Eigenschaften zunächst zu bevorzugen. Pflanzliche Präparate sind milde wirksam und relevante Nebenwirkungen fehlen. Zudem können sie über einen längeren Zeitraum verordnet werden. ► Beispiel

Sie erklären der Patientin Ihr Therapiekonzept und verordnen ein pflanzliches Präparat (Nx4, Neurexan®). Die Einnahme wird über den Tag verteilt und umfasst 3 × 2 Tabletten. Die Patientin berichtet nach wenigen Tagen, dass sie tagsüber weniger angespannt sei und nachts besser und erholsamer schlafe. Nach drei Wochen erfolgt der Umzug in ein Heim. Hier gewöhnt sie sich schnell ein, findet Freunde und engagiert sich bei den zahlreichen Angeboten im Heim. Sie ist entspannter, fühlt sich wohl und schläft wieder deutlich besser. Die Nx4-Medikation kann beendet werden, ohne dass die Anspannung und die Schlafstörung wieder auftreten. ◄

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Kapitel 9 · Ich ziehe in ein Pflegeheim – Psychische Belastung bei einem Umzug…

Fazit Die Patientin reagierte auf den anstehenden Umzug in ein Pflegeheim mit Anspannung, Sorgen und Schlaflosigkeit. Klinisch bietet sie das Vollbild einer akuten Insomnie mit einem eindeutig identifizierbaren Auslöser. Therapeutisch waren eine Kombination aus entlastenden Gesprächen und eine milde Pharmakotherapie mit einem Phytotherapeutikum wirksam. Phytotherapeutika erwiesen sich in kontrollierten Studien gerade bei zusätzlich bestehender Anspannung und Ängstlichkeit als wirksam. Der Effekt ist jedoch eher milde (Dimpfel et  al., 2012). Daher müssen Patienten bezüglich der Wirksamkeit eines Phytotherapeutikums befragt werden. Der Vorteil dieser Präparate ist die gute Verträglichkeit bei fehlenden Nebenwirkungen. Mit Abklingen der akuten Belastungssituation besserte sich die psychische Verfassung der Patientin und die Therapie konnte beendet werden. Auch dies ist wichtig und gilt für jedes Therapiekonzept. Immer muss die Indikation einer Maßnahme überprüft werden. Besteht keine Indikation mehr, sollte eine Therapie auch beendet werden.

Literatur

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Dimpfel, W., Roeska, K., & Seilheimer, B. (2012). Effect of Neurexan on the pattern of EEG frequencies in rats. BMC Complementary and Alternative Medicine, 12, 126. https://doi.org/10.1186/1472-­ 6882-­12-­126 Riemann, D., Baum, E., Cohrs, S., Croenlein, T., Hajak, G., Hertenstein, E., et  al. (2017a). S3-­ Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Kapitel „Insomnie bei Erwachsenen“ (AWMFRegisternummer 063-003), Update 2016. Somnologie, 21, 2–44. Riemann, D., Baglioni, C., Bassetti, C., Bjorvatn, B., Dolenc Groselj, L., Ellis, J. G., et al. (2017b). European guideline for the diagnosis and treatment of insomnia. Journal of Sleep Research, 26(6), 675–700. https://doi.org/10.1111/jsr.12594

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Erst schläft er nicht, dann schläft er zu viel Inhaltsverzeichnis Literatur – 78

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_10

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Kapitel 10 · Erst schläft er nicht, dann schläft er zu viel

Trailer Hypnotika wirken symptomatisch, dämpfen die Hirnaktivität, können aber den physiologischen Schlaf nicht nachahmen. Die Präparategruppe mit der größten Nähe zum physiologischen Schlaf sind die dualen Orexin-Antagonisten. Grundsätzlich sollten Hypnotika immer eine klare Indikation haben, Kontraindikationen müssen beachtet werden und immer sollte eine Kombination mit nichtpharmakologischen Maßnahmen erfolgen.

nnLernziele Erkennen von neuen auftretenden Schlafstörungen im Verlauf einer Behandlung Probleme bei der Verordnung von Hypnotika kennen Beurteilen können, welche Hypnotika sich für ältere Menschen eher eignen Besonderheiten bei der Verordnung von Hypnotika und deren Differenzialindikationen kennen ► Beispiel

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Herr G. ist ein 78-jährger Patient, der seit dem Tod seiner Ehefrau vor fünf Jahren in einem Seniorenheim lebt. Er leidet an einer Koronarerkrankung, die vor sieben Jahren durch die Implantation von drei Koronarstents behandelt wurde. Seither ist er diesbezüglich beschwerdefrei. Allerdings erlaubt ihm eine schmerzhafte Hüftarthrose keine wesentlichen körperlichen Belastungen mehr. Ein operativer Hüftgelenksersatz wurde aufgrund seiner Herzerkrankung als zu risikoreich beurteilt. Weiterhin hat er seit vielen Jahren einen erhöhten Blutdruck, der durch zwei Medikamente gut eingestellt ist. Vor zwei Jahren wurde ihm ein Herzschrittmacher implantiert, da er immer wieder kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Seither besteht dieses Problem nicht mehr. Seit seinem Einzug in das Seniorenheim schläft er schlecht. Er hat insbesondere Einschlafprobleme und liegt fast jede Nacht eine bis zwei Stunden wach, bis er dann einschlafen kann. Wenn er einmal schläft, dann schläft er auch durch. Zur Behandlung seiner Einschlafprobleme wurde Mirtazapin in einer Dosis von 15 mg verordnet. Hierunter hat sich das Einschlafvermögen deutlich verbessert. Er sei mit seinem Schlafvermögen nun zufrieden. Die aktuelle Medikation lautet ASS 100 1-0-0, Bisoprolol 2, 5 mg 1-0-0, Candesartan 12 mg 1-0-0, HCT 12,5 mg 1-0-0, Atorvastatin 20 mg 1-0-0, Mirtazapin 15 0-0-1. Allerdings hat er erheblich zugenommen, Sein Appetit ist sehr gut. Als er in das Seniorenheim einzog, wog er 73 kg bei einer Körpergröße von 173 cm. Nun beträgt sein Körpergewicht 91 kg. Die Pflegenden berichten zudem, dass Herr G. weniger aktiv ist und tagsüber häufig einschlafe. Dies passiere beim Fernsehen, aber neuerdings auch während der Gruppenaktivitäten. Ihn selbst scheine dies aber nicht zu stören. ◄

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Evaluation Der 78-jährige Heimbewohner erfüllt aufgrund von mehr als zwei gleichzeitig vorliegenden und chronisch behandlungsbedürftigen Erkrankungen die Kriterien der Multimorbidität. Die kardiovaskuläre Medikation erfolgt leitliniengerecht. Die Medikation mit Mirtazapin sollte jedoch aus mehreren Gründen überdacht werden. Einmal ist der schlaffördernde Effekt von Mirtazapin eher fraglich bis gering (de Crescenzo et al., 2022). Zudem schätzen gerade Menschen mit Schlaflosigkeit ihre wirkliche Schlafzeit als zu gering ein (Trimmel et al., 2021). Daher ist es auch wichtig, immer nach der Tagesbefindlichkeit zu fragen. Eine ausgeprägte Beeinträchtigung der Tagesbefindlichkeit macht aus insomnischen Beschwerden eine Insomnie (Riemann et al., 2017). Nun wurde im vorliegenden Fall von den Mitarbeitern der Senioreneinrichtung eine zunehmende Tagesschläfrigkeit des Bewohners beobachtet. Daher muss geprüft werden, ob dieses Symptom nicht als Tagessymptom einer Insomnie zu deuten ist. Gegen diese Annahme spricht, dass die Tagesschläfrigkeit sich erst im Laufe der letzten Monate so entwickelt hat, also eine lange Zeit nach dem Bestehen der Einschlafstörung. Auffällig ist jedoch die erhebliche Gewichtszunahme, die häufig unter einer antidepressiven Medikation beobachtet wird. Der Body-Mass-Index hat sich von 24,4  kg/m2 auf 30,4  kg/m2 erhöht. Damit steigt das Risiko für eine obstruktive Schlafapnoe. Aktuell erreicht der Bewohner wenigstens vier von acht Punkten auf der STOP-BANG-Skala (→) und sollte daher unter dem Aspekt einer obstruktiven Schlafapnoe mittels Polygraphie abgeklärt werden.

Mirtazapin wirkt milde anticholinerg und induziert in etwa 30  % der Fälle ein Restless-­Legs-Syndrom (→) (Natter et  al., 2021). Zudem sind fast alle Antidepressiva mit einer Erhöhung des kardiovaskulären Risikos assoziiert (Bansal et al., 2022). Auch eine Gewichtszunahme wird unter einer antidepressiven Medikation häufig beobachtet. Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass sich durch die medikamenteninduzierte Appetitsteigerung und Gewichtszunahme eine obstruktive Schlafapnoe (→) entwickelt hat. Die weitere Abklärung sollte gemäß den Leitlinien erfolgen. Vor der Anwendung eines Hypnotikums muss immer die Ursache einer Schlafstörung herausgearbeitet werden, da Hypnotika nur symptomatisch wirken (Riemann et al., 2017). Aber welches Hypnotikum hätte denn eingesetzt werden können? Hypnotika können aufgrund ihres Wirkmechanismus in drei Gruppen eingeteilt werden: 1. Eine Gruppe dämpft über die Aktivierung des GABA-Rezeptors allgemein die Hirnaktivität. Zu den so wirkenden Präparaten gehören die Benzodiazepine und die sog. Z-Substanzen.

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Kapitel 10 · Erst schläft er nicht, dann schläft er zu viel

2. Ein weiterer Wirkmechanismus ist die Antagonisierung der vigilanzsteigernden Histaminwirkung im Gehirn durch Antihistaminika. Über diesen Wirkmechanismus verfügen viele Antidepressiva. 3. Die neue Gruppe der dualen Orexin-Antagonisten (DORAs) antagonisiert die vigilanzsteigernde Funktion von Orexin/Hypokretin. Bei der Auswahl eines Hypnotikums müssen immer das Lebensalter und die Komorbiditäten eines Patienten berücksichtigt werden. Die Behandlung mit einem Hypnotikum sollte so kurz wie möglich und intermittierend sein. Abhängig vom Phänotyp einer Schlafstörung werden bei Einschlafstörungen kurz wirkende und bei Durchschlafstörungen lange wirkende Präparate verwendet. Immer muss bei der Verwendung von Hypnotika auf eine Hang-over-Symptomatik geachtet werden. ► Beispiel

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Unter einer Medikation von Mirtazapin, die zur Behandlung einer Insomnie verordnet wurde, zeigte der Bewohner eine erhebliche Gewichtszunahme. Diese Gewichtszunahme führte wahrscheinlich zur Entwicklung einer obstruktiven Schlafapnoe, die entsprechend abgeklärt und behandelt werden sollte. Das Langzeitkonzept besteht im vorliegenden Fall in einer Reduktion des Körpergewichtes, einer wahrscheinlich nur passager erforderlichen Behandlung der Schlafapnoe und einer verhaltenstherapeutischen Intervention bei Insomnie. ◄

z Zusatzinformation

Bei der Auswahl eines Hypnotikums kann eine eskalierende Stufentherapie helfen. Je nach dem Schweregrad einer Schlafstörung und dem damit verbundenen Leidensdruck kann so eine geeignete Auswahl getroffen werden. Pflanzliche Präparate wirken eher milde und sind bei leichten Schlafstörungen und innerer Unruhe indiziert. Sie haben den Vorteil geringer bis fehlender Nebenwirkungen. Dabei ist eine über den Placeboeffekt hinausgehende Wirkung belegt (Doering et al., 2016). Eine Wirkung ist nach einer Anwendungszeit von etwa zwei Wochen zu erwarten. Antihistaminika sind frei verkäuflich. Sie wirken durch eine reversible Blockade von zentralen Histamin-H1-Rezeptoren. Problematisch ist ihr ausgeprägter anticholinerger Effekt. Zudem können sie über die Nacht hinaus auch am Folgetag noch wirken. Schnell erfolgt eine Adaptation mit klinischem Wirkungsverlust. Dies kann auch erklären, warum für diese Präparate die Aussagen zur Wirksamkeit nicht einheitlich sind (de Crescenzo et al., 2022). Für ältere Menschen sind sie aufgrund ihrer anticholinergen Effekte eher nicht geeignet. Benzodiazepine verstärken die inhibitorische Wirkung des Neurotransmitters GABA.  Sie greifen an verschiedenen Untereinheiten des GABA-Rezeptors an, wirken so nicht nur schlafanstoßend, sondern auch antikonvulsiv, anxiolytisch und muskelrelaxierend. Gerade bei älteren Patienten besteht das Risiko der Akkumulation. Hang-over-Phänomene werden immer wieder berichtet. Benzodiazepine sind zudem mit einem erhöhten Sturzrisiko assoziiert und erhöhen bei einer Langzeit-

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anwendung das Demenzrisiko (Puustinen et al., 2007). Die Beendigung einer über eine lange Zeit erfolgte Einnahme von Benzodiazepinen ist nicht ungefährlich und muss sehr langsam erfolgen, da durch die chronische Einnahme Modulationen am GABA-Rezeptor und im Bereich der Post-Rezeptor-Kaskaden entstanden sind, deren Normalisierung viel Zeit in Anspruch nimmt (Soni et al., 2022). Daher kann es im Einzelfall unter Abwägen von Nutzen und Risiko einfacher sein, eine Langzeitgabe von Benzodiazepinen in niedriger Dosis zu belassen. Zolpidem und Zopiclon binden als sog. Z-Substanzen vorwiegend an die α1Untereinheit des GABA-Rezeptors. Sie wirken daher überwiegend schlaffördernd. Die Wirkzeiten sind kürzer als bei vielen Benzodiazepinen. Auch Z-Substanzen sind mit einem erhöhten Sturz- und Abhängigkeitsrisiko assoziiert. Ebenso steigt das Risiko für eine demenzielle Entwicklung bei Langzeiteinnahme (Puustinen et al., 2007). Zahlreiche Antidepressiva haben über ihre antihistaminerge Wirkung einen schlaffördernden Effekt. Dieser Effekt kann gerade bei Vorliegen einer depressiven Episode in Verbindung mit einer Schlafstörung genutzt werden. Liegt keine depressive Episode vor, sind antidepressive Mittel zur Behandlung einer Insomnie in Deutschland nicht zugelassen. Doxepin wirkt in sehr niedriger Dosierung schlaffördernd, ohne anticholinerge Effekte zu zeigen (Yeung et al., 2015). Daher ist Doxepin in einer niedrigen Dosis von 3–5 mg in den USA als Hypnotikum zugelassen. Für das in dieser Indikation häufiger bei älteren Menschen verwendete Mirtazapin ist der Nachweis der Wirksamkeit auf den Schlaf eher gering bis kaum vorhanden (de Crescenzo et al., 2022). Die niedrigpotenten Antipsychotika Pipamperon und Melperon werden in geringer Dosierung häufiger bei älteren Menschen mit Unruhe und Schlafstörungen verordnet. Beide Präparate wirken  – wenn auch milde  – anticholinerg. Die Verordnung muss einen klaren Bezug zu der vorliegenden Störung haben und die Wirksamkeit muss immer überprüft werden. Stets sollte die Notwendigkeit einer Weiterverordnung geprüft werden, da alle sedierenden Neuroleptika mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert sind (Kripke et al., 2012). Retardiertes Melatonin kann bei Menschen, die älter als 55 Jahre sind und die an einer primären Insomnie leiden, verordnet werden. Melatonin ist kein Schlafmittel, sondern eine körpereigene Substanz, die allen Körperzellen das Signal Dunkelheit vermittelt. Dieses Signal verändert dann die Stoffwechselabläufe und fördert so mittelbar den Schlaf. Die Wirkung von Melatonin ist an eine ausreichende Sehkraft gebunden, da nur dann das erforderliche Signal von der Netzhaut an den Hirnstamm übermittelt werden kann. Zudem wirkt Melatonin über drei Melatoninrezeptoren, die ubiquitär im Körper verteilt sind. Melatonin hat eine stabilisierende Funktion auf den Tag-Nacht-Rhythmus und kann bei Störungen dieses Rhythmus versucht werden. Der Effekt von retardiertem Melatonin tritt nach etwa zwei Wochen ein. Melatonin hat fast keine unerwünschten Wirkungen. Für die frei verkäuflichen, nichtretardierten Melatoninzubereitungen fehlt der evidenzbasierte Wirksamkeitsnachweis. Bei Menschen mit Demenz ist der Effekt kaum belegt, auch weil im Rahmen der Neurodegeneration die Zahl der für die Wirkung erforderlichen Melatoninrezeptoren abnimmt (Low et al., 2019).

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Kapitel 10 · Erst schläft er nicht, dann schläft er zu viel

Die neuen dualen Orexin-Antagonisten (DORAs) erweitern das therapeutische Spektrum. Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen wirken sie schlaffördernd ohne wesentlichen Hang-over-Effekt. Zudem ist das unter einer DORA-Einnahme gemessene Schlafprofil fast physiologisch. Auch die Verträglichkeit ist günstig (Fietze et  al., 2022). Zudem gibt es erste Hinweise darauf, dass unter der Behandlung einer Insomnie mit Orexin-Antagonisten das Demenzrisiko günstig beeinflusst wird (Jacobson et al., 2022). Chloralhydrat sollte als Hypnotikum aufgrund des ungünstigen Nutzen-Risiko-­ Verhältnisses nicht eingesetzt werden. Unter Chloradurat entwickelt sich sehr schnell eine Toleranz (de Crescenzo et al., 2022). Fazit Hypnotika wirken symptomatisch, dämpfen die Hirnaktivität, können aber den physiologischen Schlaf nicht nachahmen. Die Präparategruppe mit der größten Nähe zum physiologischen Schlaf sind die neuen dualen Orexin-Antagonisten. Grundsätzlich sollten Hypnotika immer eine klare Indikation haben, Kontraindikationen wie eine obstruktive Schlafapnoe müssen beachtet werden und immer sollte eine Kombination mit nichtpharmakologischen Maßnahmen erfolgen. Die Dosis von Hypnotika sollte so niedrig wie möglich sein und für einen möglichst kurzen Zeitraum erfolgen. Zudem sollte eine Medikation nicht abrupt abgesetzt werden, um Entzugserscheinungen zu vermeiden (Riemann et al., 2017).

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Puustinen, J., Nurminen, J., Kukola, M., Vahlberg, T., Laine, K., & Kivelä, S.-L. (2007). Associations between use of benzodiazepines or related drugs and health, physical abilities and cognitive function: A non-randomised clinical study in the elderly. Drugs & Aging, 24(12), 1045–1059. https:// doi.org/10.2165/00002512-­200724120-­00007 Riemann, D., Baum, E., Cohrs, S., Crönlein, T., Hajak, G., Hertenstein, E., Klose, P., et al. (2017). S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Insomnie bei Erwachsenen. Somnologie, 21, 2–44. Soni, A., Thiyagarajan, A., & Reeve, J. (2022). Feasibility and effectiveness of deprescribing benzodiazepines and Z-drugs: Systematic review and meta-analysis. Addiction (Abingdon, England). https://doi.org/10.1111/add.15997 Trimmel, K., Eder, H. G., Böck, M., Stefanic-Kejik, A., Klösch, G., & Seidel, S. (2021). The (mis)perception of sleep: Factors influencing the discrepancy between self-reported and objective sleep parameters. Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Official Publication of the American Academy of Sleep Medicine, 17(5), 917–924. https://doi.org/10.5664/jcsm.9086 Yeung, W.-F., Chung, K.-F., Yung, K.-P., & Ng, T. H.-Y. (2015). Doxepin for insomnia. A systematic review of randomized placebo-controlled trials. Sleep Medicine Reviews, 19, 75–83. https://doi. org/10.1016/j.smrv.2014.06.001

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Hilfe, meine Beine spielen verrückt! – Restless Legs und Eisenmangel Inhaltsverzeichnis Literatur – 86

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_11

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Kapitel 11 · Hilfe, meine Beine spielen verrückt! – Restless Legs und Eisenmangel

Das Restless-Legs-Syndrom ist eine belastende Erkrankung, die den Schlaf stört und die Lebensqualität reduziert. Patienten müssen aber oft nach der Symptomatik befragt werden, da sie nicht spontan von diesen Symptomen berichten. Die Abklärungs- und Behandlungsschemata finden sich in Leitlinien.

nnLernziele Das Krankheitsbild Restless-Legs-Syndrom (RLS) kennen Die Abklärung und Differenzialdiagnose eines RLS kennen Die Grundprinzipien der Behandlung eines RLS kennen ► Beispiel

Eine 74-jährige Patientin berichtet über Missempfindungen in den Beinen, die im Tagesverlauf zunehmen und sich beim Umhergehen bessern. Sie mache deshalb nachts kein Auge mehr zu und sei am Tage so müde, dass sie ihren Haushalt nicht mehr schaffe. Immer wieder müsse sie sich ausruhen, um wieder Kraft zu schöpfen. Aber dann fangen die Beine wieder an, verrückt zu spielen, besonders am Nachmittag. Abends sei es ganz schlimm. Zudem rase ihr Herz schon bei leichter Hausarbeit so sehr, dass sie Angst habe, ihr Herz könne stehen bleiben. ◄

Evaluation

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Diese Anamnese lässt an ein Restless-Legs-Syndrom denken. Die Beschwerden werden typisch geschildert. Unruhe und Missempfindungen in den Beinen gehen mit Bewegungsdrang einher, nehmen bei Ruhe zu, es zeigt sich eine zirkadiane Rhythmik mit vermehrten Beschwerden am Abend; bei Bewegung bessern sich die Beschwerden. Die weitere Anamnese sollte nun nach der Dauer der Beschwerden erfragt, der aktuelle Schweregrad des klinisch diagnostizierten RLS ermittelt und nach einer möglichen Ursache gesucht werden.

Das Restless-Legs-Syndrom ist charakterisiert durch die Kombination von Missempfindungen in den Beinen in Verbindung mit unfreiwilligen rhythmischen Muskelkontraktionen der Beine und einem ausgeprägten Drang, die Beine zu bewegen (AASM, 2014). Die Beschwerden treten typischerweise in Ruhe auf, bessern sich bei Bewegung und zeigen einen zirkadianen Rhythmus mit einer erheblichen Beschwerdezunahme am Abend und in der Nacht. Die Diagnose eines RLS wird aufgrund der typischen Symptome klinisch gestellt. Diagnostisch hilfreich kann der L-Dopa-Test sein. Nach der Applikation von L-Dopa sollten sich die Beschwerden umgehend deutlich bessern oder zurückbilden. Kriterien für die klinische Diagnose eines Restless-Legs-Syndroms (Allen et al., 2014): 1. Starker Bewegungsdrang und Missempfindungen in den Beinen 2. Besserung der Symptomatik bei Bewegung 3. Zunahme der Beschwerden in Ruhephasen 4. Zirkadiane Rhythmik mit Zunahme der Beschwerden am Abend

83 Hilfe, meine Beine spielen verrückt! – Restless Legs…

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► Beispiel

Die Patientin berichtet, dass diese Beschwerden seit etwa sechs Monaten bestehen. So etwas habe sie vorher noch nie gehabt. Zunächst habe sie gehofft, dass die Beschwerden spontan wieder verschwinden, zumal es Tage gab, an denen die Beschwerden weniger stark waren. Aber in den letzten Wochen treten die Beschwerden dreimal pro Woche auf und stören sehr. Zur Ermittlung des aktuellen Schweregrades des RLS verwenden Sie die IRLS-­ Skala. Dabei findet sich ein Gesamtscore von 22 Punkten. Das RLS Ihrer Patientin ist damit als schwer zu klassifizieren. Dieser Score dient auch als Ausgangswert, um ein Ansprechen auf die Behandlung zu dokumentieren. ◄

Die Häufigkeit und das Ausmaß der Symptome eines RLS zeigen eine erhebliche Variabilität. Mit Hilfe der International Restless-Legs Severity Scale (IRLS; 7 https://kinup.­de/wp-­content/uploads/2012/04/IRLS1.­pdf) wird der Schweregrad eines RLS bestimmt. Die IRLS-Skala umfasst zehn Items, die auf einer Likert-­Skala jeweils mit 0 bis 4 Punkten bewertet werden. Die Skala fragt nach der Häufigkeit der Beschwerden und deren klinische Folgen. Der Gesamtscore der IRLS hat eine Spanne von 0 bis 40 Punkten. Ein IRLS-Score von 0 bedeutet kein RLS.  Die Wertebereiche für ein mildes, moderates, schweres oder sehr schweres RLS lauten 1 bis 10, 11 bis 20, 21 bis 30 und 31 bis 40 Punkte.  

>>Die Diagnose eines RLS erfolgt klinisch anhand der charakteristischen Symptome. Der Schweregrad eines diagnostizierten RLS erfolgt anhand der IRLS-­ Skala. ► Beispiel

Der nächste Schritt bei der Abklärung eines RLS ist die Suche nach einer auslösenden Ursache. Hierzu gehören obligat die Untersuchung des Eisenstoffwechsels, die Überprüfung der Nierenfunktion und eine umfassende Medikamentenanamnese. Bei der Durchsicht der Medikation zeigt sich, dass die Patientin drei Präparate einnimmt. ASS 100 nehme sie täglich, da ihr Mann eine Koronarerkrankung habe: Da wolle sie für sich vorbeugen. Aus diesem Grund nehme sie auch Simvastatin 20  mg abends. Gegen ihren Bluthochdruck nehme sie Candesartan 16 mg morgens. Damit sei ihr Blutdruck, den sie täglich selbst messe, gut eingestellt. Die Medikation ist für eine 74-jährige Patientin mit drei gleichzeitig verordneten Präparaten nicht sehr umfangreich. Für alle drei Präparate ist ein direkter Zusammenhang mit einem Restless-Legs-Syndrom nicht bekannt. Daher scheidet eine direkte medikamentöse Ursache für das Restless-Legs-Syndrom praktisch aus. Zu den Medikamenten, die ein RLS auslösen können, gehören insbesondere Antidepressiva – mit Ausnahme von Bupropion –, Neuroleptika, Antihistaminika und Antiemetika (Elrassas et al., 2022). ASS 100 hat eine klare Indikation in der Sekundärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen und ist weltweit eines der am häufigsten verordneten Medikamente. Klinisch zeigte die Patientin keine typischen Symptome für eine Koronarerkrankung und auch der einzige Risikofaktor Bluthochdruck ist durch eine Monotherapie gut kontrolliert. Daher ist die ASS-Einnahme eine Primärprävention. Die von der Patientin ge-

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Kapitel 11 · Hilfe, meine Beine spielen verrückt! – Restless Legs und Eisenmangel

lieferte Begründung für die ASS-Einnahme ist nicht evidenzbasiert (Goltz et al., 2014). Das Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis lässt sich durch validierte Risikoscores abschätzen. Im vorliegenden Fall liegt das 10-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis bei etwa 2 % (Bigolin et al., 2022) und ist damit gering. Die Einnahme von ASS 100 ist aber nicht ohne Risiko. Blutungsereignisse – insbesondere im Gastrointestinaltrakt – sind bei ASS einnehmenden Personen signifikant häufiger, wobei auch das Lebensalter ein prädisponierender Faktor ist. Der geringe präventive Effekt von ASS in der Primärprävention wird durch ein signifikant erhöhtes Blutungsrisiko wieder aufgehoben. Weiterhin ist das von der Patientin berichtete Herzrasen schon bei leichter körperlicher Belastung nicht typisch für ein RLS.  Hier sollte eine kardiale Abklärung auch unter dem Aspekt einer intermittierenden absoluten Arrhythmie erfolgen. Nachdem Sie die Diagnose eines RLS klinisch gestellt haben, suchen Sie nach weiteren auslösenden Ursachen. Daher veranlassen Sie eine Blutuntersuchung. Diese ergibt normale Nierenretentionswerte, jedoch ist der Hämoglobinwert mit 9,5 mg/dl deutlich erniedrigt. Die Erythrozyten sind morphologisch mikrozytär und hypochrom. Dies deutet auf einen Eisenmangel hin. Zur weiteren Abklärung bestimmen Sie die Parameter des Eisenstoffwechsels. Der Ferritinspiegel liegt bei 7 mg/dl und die Transferrinsättigung beträgt 13 %. Damit liegt ein schwerer Eisenmangel mit Ausbildung einer Eisenmangelanämie vor. Sie besprechen die Befunde mit Ihrer Patientin und raten ihr zu einer gastroenterologischen Abklärung mit Durchführung einer Sonographie des Abdomens, einer Gastroskopie und einer Koloskopie sowie einer gynäkologischen Untersuchung. Diese Untersuchungen lässt die Patientin durchführen. Die Befunde lauten eine milde Gastritis sowie eine moderate Kolondivertikulose ohne Blutungsstigmata sowie ein altersentsprechender Befund bei der Abdomensonographie und der gynäkologischen Untersuchung. ◄ >>Zur Beurteilung des Eisenstoffwechsels ist die Bestimmung des Serumeisens nicht aussagekräftig genug. Der entscheidende Parameter ist die Transferrinsättigung, da Ferritin als Akutphaseprotein auch im Rahmen von entzündlichen Erkrankungen ansteigen kann. Kostenintensiver ist die zusätzliche Bestimmung des löslichen Transferrinrezeptors und die Errechnung des Thomas-Quotienten (Pasricha et al., 2021). Bei einem schweren Eisenmangel muss immer nach einer Blutungsquelle gefahndet werden. ► Beispiel

Sie erklären Ihrer Patientin den Zusammenhang zwischen ihrem RLS, dem festgestellten Eisenmangel sowie der Einnahme von ASS als möglichem Auslöser des Eisenmangels. Zur Eisensubstitution verordnen Sie ein orales Präparat in einer Dosierung von 100 mg, welche die Patientin jeden zweiten Tag abends einnehmen soll. Die Patientin berichtet schon nach zwei Tagen unter der Einnahme von L-Dopa eine deutliche Beschwerdelinderung. Die ASS-Therapie wird aufgrund fehlender weiterer kardiovaskulärer Risikofaktoren bei fehlender Indikation nicht fortgeführt.

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Nach zwei Monaten stellt sich die Patientin erneut vor. Die Parameter des Eisenstoffwechsels haben sich deutlich gebessert. Der Hämoglobinwert beträgt nun 12,2 mg/ dl. Sie beenden die L-Dopa-Gabe, da Sie den schweren Eisenmangel als Ursache für das RLS verantwortlich machen. Telefonisch berichtet die Patientin auch nach Beendigung der L-Dopa-Behandlung über keine weiteren RLS-Beschwerden mehr. ◄

Besteht die Indikation zu einer Eisengabe, sollte diese abends erfolgen, da die zerebrale Eisenaufnahme in der Nacht höher ist (Hyacinthe et al., 2015). Im Verlauf sollte unter einer oralen Eisentherapie eine Bestimmung des Ferritinspiegels erstmals nach etwa drei bis vier Monaten und in der Folge alle sechs Monate erfolgen, bis ein Ferritinspiegel von wenigstens 100  μg/L erreicht wurde. Haben die Symptome auf die Eisengabe angesprochen, kann sie bei Erreichen dieses Ferritinspiegels beendet werden. Bestehen die Symptome weiter oder treten sie nach dem Beenden der Eisengabe erneut auf, sollte die Obergrenze des Ferritinspiegels von 300 μg/L angestrebt werden (Allen et al., 2018). Wird eine Eisentherapie in oraler Form nicht vertragen, kann eine intravenöse Applikation durch die neueren Eisenzubereitungen erfolgen. Als effektiv haben sich Dosen von 1000 mg als Einmalgabe oder als zwei Dosen à 500 mg innerhalb von einer Woche erwiesen. Der klinische Effekt ist aber erst nach frühestens vier bis sechs Wochen zu erwarten. Die Ansprechrate eines RLS auf die Eisengabe wird mit 37 % bis 59 % angegeben. Allerdings kann es unter der intravenösen Applikation von Eisenmaltose zu einer Hypophosphatämie kommen, deren klinische Bedeutung aber noch unklar ist. Eine Wiederholung der intervenösen Eisengabe kann nach 12 Wochen erfolgen, solange der Serumferritinspiegel 300 μg/L und die Transferrinsättigung 45 % nicht überschreiten (Allen et al., 2018). Fazit Die 74-jährige Patientin ohne wesentlich erhöhtes kardiovaskuläres Risiko nahm unnötigerweise ASS ein. Bei ihr war diese Therapie aufgrund des geringen Nutzens in der Primärprävention nicht indiziert. Bei bestehender Kolondivertikulose hat ASS das Risiko für Mikroblutungen wahrscheinlich erhöht. Die Folge war eine sich langsam entwickelnde Eisenmangelanämie, die klinisch als geringe Belastbarkeit und Herzrasen imponierte. Die seitens der Patientin vorgebrachten Beschwerden waren typisch für eine RLS, welches wiederum durch einen schweren Eisenmangel verursacht wurde. Die Eisensubstitution erfolgte zunächst oral. Diese Therapie wurde aufgrund von Nebenwirkungen nicht akzeptiert. Daher erfolgte eine intravenöse Eisensubstitution, die gut vertragen wurde. Die L-Dopa-Gabe war nur zeitlich befristet, zur Symptomkontrolle erforderlich und konnte nach der Normalisierung des Eisenstoffwechsels beendet werden, ohne dass die Symptome eines RLS erneut auftraten. Eine Kontrolle des Eisenstoffwechsels in halbjährlichen Abständen ist indiziert, um frühzeitig ein Wiederauftreten eines Eisenmangels nicht zu übersehen.

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Kapitel 11 · Hilfe, meine Beine spielen verrückt! – Restless Legs und Eisenmangel

Literatur AASM (American Academy of Sleep Medicine). (2014). ICSD-s-International Classification of Sleep Disorders: Diagonstic and coding manual (3. Aufl., S. 2014). AASM. Allen, R. P., Chen, C., Garcia-Borreguero, D., Polo, O., DuBrava, S., Miceli, J., et al. (2014). Comparison of pregabalin with pramipexole for restless legs syndrome. The New England Journal of Medicine, 370(7), 621–631. https://doi.org/10.1056/NEJMoa1303646 Allen, R. P., Picchietti, D. L., Auerbach, M., Cho, Y. W., Connor, J. R., Earley, C. J., et al. (2018). Evidence-based and consensus clinical practice guidelines for the iron treatment of restless legs syndrome/Willis-Ekbom disease in adults and children: An IRLSSG task force report. Sleep Medicine, 41, 27–44. https://doi.org/10.1016/j.sleep.2017.11.1126 Bigolin, P., Zalunardo, B., Mazzolai, L., Belch, J., & Visonà, A. (2022). Vascular risk assessment and management. VASA.  Zeitschrift fur Gefasskrankheiten. https://doi.org/10.1024/0301-­1526/ a001026 Elrassas, H. H., Elsayed, Y. A. R., Abdeen, M. S. E. D., Shady, M. M., Shalash, A., & Morsy, M. (2022). Restless Legs Syndrome among patients receiving antipsychotic and antidepressant drugs. Human Psychopharmacology, 37(2), e2817. https://doi.org/10.1002/hup.2817 Goltz, L., Bodechtel, U., & Siepmann, T. (2014). Medikamentöse Primärprävention kardiovaskulärer und zerebrovaskulärer Erkrankungen. Deutsche Medizinische Wochenschrift (1946), 139(6), 283– 286. https://doi.org/10.1055/s-­0033-­1359905 Hyacinthe, C., de Deurwaerdere, P., Thiollier, T., Li, Q., Bezard, E., & Ghorayeb, I. (2015). Blood withdrawal affects iron store dynamics in primates with consequences on monoaminergic system function. Neuroscience, 290, 621–635. https://doi.org/10.1016/j.neuroscience.2015.01.057 Pasricha, S.-R., Tye-Din, J., Muckenthaler, M. U., & Swinkels, D. W. (2021). Iron deficiency. Lancet (London, England), 397(10270), 233–248. https://doi.org/10.1016/S0140-­6736(20)32594-­0

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Meine Beine bewegen sich wieder, die Therapie hilft nicht mehr – Augmentation und Restless Legs Inhaltsverzeichnis Literatur – 90

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_12

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Kapitel 12 · Meine Beine bewegen sich wieder, die Therapie hilft nicht mehr…

Das Restless-Legs-Syndrom ist eine lästige und die Lebensqualität reduzierende Erkrankung. Die Behandlung mit Dopaminagonisten ist wirksam, kann aber im Laufe der Zeit zu einem erneuten und verstärkten Auftreten der Symptome führen. Dieses als Augmentation bekannte Phänomen muss erkannt und behandelt werden. Hier sind Algorithmen zur Behandlung einer Augmentation verfügbar.

nnLernziele Erkennen einer Augmentation unter einer dopaminergen Therapie eines RLS Behandlungsalternativen eines RLS kennen ► Beispiel

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Ein 73-jähriger Patient berichtet, seit vielen Jahren unter einem Restless-Legs-­Syndrom zu leiden. Die Diagnose wurde vor mehr als zehn Jahren in einem Schlaflabor gestellt, wo auch eine medikamentöse Behandlung mit Pramipexol eingeleitet wurde. Diese Medikation wurde gut vertragen und habe zu einer schnellen Reduktion der Beschwerden geführt. Seit nunmehr sechs Monaten nehmen die RLS-Beschwerden aber wieder zu. Er habe das Gefühl, dass die Medikation nicht mehr richtig wirken würde. Dennoch nehme er die Medikation weiter, da er Angst vor einer weiteren Zunahme der Beschwerden habe, wenn er seine Medikamente nicht mehr einnehme. Der IRLS-Score beträgt aktuell 21 Punkte und entspricht einem moderaten bis schweren RLS. Als weitere Erkrankung besteht Bluthochdruck, vor Jahren erfolgte eine operative Behandlung einer Carotisarterienstenose. Eine obstruktive Schlafapnoe wurde vor Jahren diagnostiziert und mit einem Beatmungsgerät (CPAP) behandelt. Zudem diagnostizierten die Ärzte damals ein RLS.  Dem Patienten waren die damaligen Beschwerden überhaupt nicht klar. Die CPAP-Therapie wende er konsequent an, da sich seine damalige Müdigkeit darunter deutlich gebessert habe. Die aktuelle Medikation lautet: ASS 100 1-0-0, Valsartan 160 1-0-0, Amlodipin 5 1-0-0, Ezetimib 10 0-0-1, Pramipexol 0.25 0-0-1, Keltican Forte 1-0-0, Restaxil Komplex 1-0-0. Für keines dieser Medikamente ist ein Zusammenhang mit der Auslösung eines RLS belegt. Der Eisenstoffwechsel sei vor vier Wochen noch untersucht worden und die Werte seien normal gewesen. Die Laborwerte ergeben einen Ferritinspiegel von 76 mg/dl und eine Transferrinsättigung von 34 %. Der Hämoglobinwert beträgt 13,4 mg/dl. Die Erythrozyten sind normochrom und normozytär. ◄

Differenzialdiagnostisch muss aufgrund der langen Einnahme des Dopaminagonisten Pramipexol an eine Augmentation gedacht werden. Allerdings gibt der Patient an, dass die Beschwerden nicht schlimmer seien als zum Zeitpunkt der Diagnosestellung. Auch treten die Beschwerden im Tagesverlauf nicht früher auf und haben sich auch nicht auf andere Körperregionen ausgedehnt. Diese Angaben sprechen gegen eine Augmentation, wie sie nach einer Behandlungsdauer von 10 Jahren bei etwa einem Drittel der mit einem Dopaminagonisten behandelten Patienten beobachtet wird (Winkelman & Johnston, 2004).

89 Meine Beine bewegen sich wieder, die Therapie hilft nicht…

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Kriterien für eine Augmentation (García-Borreguero et al., 2007): 1. Die Symptome des RLS treten zeitlich früher auf als zum Zeitpunkt der Diagnosestellung. 2. Die Medikation muss erhöht oder früher eingenommen werden, um die Symptome zu kontrollieren. 3. Die Symptomatik hat an Intensität im Vergleich zu früher zugenommen. 4. Auch andere Körperregionen wie Arme oder der Rumpf sind nun von der Symptomatik betroffen. Ein Rebound der Symptomatik kann u. a. durch eine veränderte Kinetik der bisher wirksamen Therapie bedingt sein und tritt eher bei L-Dopa-Präparaten als unter einem Dopaminagonisten auf. Ein solcher Rebound der Symptomatik kann mit einer Anpassung der Medikamentendosis unter Beibehaltung der Präparateklasse behandelt werden. Daher kann es sinnvoll sein, nach dem Ausschluss anderer Ursachen für das Wiederauftreten der Symptome wie einem Eisenmangel oder einer RLS-induzierenden Medikation das gleiche Wirkprinzip mit einer geänderten Dosis und Kinetik zu versuchen. Der Wechsel von der oralen Pramipexolgabe auf die transkutane Applikation von Rotigotin stellt eine solche Rotation dar. Sie starten mit einer Dosis von 0,5 mg als Pflaster, welches etwa zwei Stunden vor dem Auftreten der Symptome aufgebracht werden soll. Es ist wichtig zu beachten, dass die Dosis von Rotigotin etwa dem Vierfachen der Dosis von Pramipexol entspricht. Ein Wechsel ist auch deshalb zu diskutieren, da sich die einzelnen dopaminergen Substanzen in ihrer Wirksamkeit unterscheiden (Zhou et al., 2021). ► Beispiel

Die Patientin berichtet, dass diese Beschwerden seit etwa sechs Monaten bestehen. So etwas habe sie vorher noch nie gehabt. Zunächst habe sie gehofft, dass die Beschwerden spontan wieder verschwinden, zumal es Tage gab, an denen die Beschwerden weniger stark waren. Aber in den letzten Wochen treten die Beschwerden mindestens dreimal pro Woche auf und stören sehr. Zur Ermittlung des aktuellen Schweregrades des RLS verwenden Sie die IRLS-­ Skala. Dabei findet sich ein Gesamtscore von 22 Punkten. Das RLS Ihrer Patientin ist damit als schwer zu klassifizieren. Dieser Score dient auch als Ausgangswert, um ein Ansprechen auf die Behandlung zu dokumentieren. ◄

Die Patientin berichtet unter dieser Therapie eine Linderung der Beschwerden, jedoch bestehen diese weiter fort. Der IRLS-Score beträgt unter dieser Dosis 18 Punkte und entspricht im Schweregrad einem moderaten RLS.  Sie steigern die Dosis langsam alle drei Tage. Unter einer Therapie von insgesamt 1,5  mg mit 0-1-2-Pflastern à 0,5 mg haben sich die Beschwerden zurückgebildet. >>Im Rahmen einer geplanten Verlaufskontrolle bezüglich seiner CPAP-Therapie erfolgt eine Untersuchung im Schlaflabor. Die Polysomnographie ergibt eine Schlafeffizienz von 89 %, eine Schlaflatenz von 5 min, einen REM-Schlafanteil von 28 %, einen Tiefschlafanteil von 12 % und einen PLM-Index von 0.

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Kapitel 12 · Meine Beine bewegen sich wieder, die Therapie hilft nicht mehr…

Fazit Im vorliegenden Fall kann aufgrund der Art der vorliegenden Symptome von einem Wiederauftreten der Symptomatik (sog. Rebound) unter einer zunächst erfolgreichen Therapie gesprochen werden. Die für eine Augmentation geforderten Kriterien – an die bei einer dopaminergen Therapie immer gedacht werden muss – lagen nicht vor. Diese Rotation in der Therapie war klinisch erfolgreich. Der Fall zeigt auch, dass ein solcher Rotationsversuch erfolgreich sein kann. Ursächlich ist am ehesten von einer Problematik der Pharmakokinetik auszugehen. Hätte der Rotationsversuch keinen Erfolg gebracht, wäre der Wechsel auf ein anderes Wirkprinzip erforderlich gewesen.

Literatur García-Borreguero, D., Allen, R. P., Benes, H., Earley, C., Happe, S., Högl, B., et al. (2007). Augmentation as a treatment complication of restless legs syndrome. Concept and management. Movement Disorders: Official Journal of the Movement Disorder Society, 22(Suppl 18), S476–S484. https://doi.org/10.1002/mds.21610 Winkelman, J. W., & Johnston, L. (2004). Augmentation and tolerance with long-term pramipexole treatment of restless legs syndrome (RLS). Sleep Medicine, 5(1), 9–14. Zhou, X., Du, J., Liang, Y., Dai, C., Zhao, L., Liu, X., et al. (2021). The efficacy and safety of pharmacological treatments for restless legs syndrome: Systemic review and network meta-analysis. Frontiers in Neuroscience, 15, 751643. https://doi.org/10.3389/fnins.2021.751643

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Ich schlafe doch schon so viel und bin trotzdem immer müde – obstruktive Schlafapnoe Inhaltsverzeichnis Literatur – 96

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Kapitel 13 · Ich schlafe doch schon so viel und bin trotzdem immer müde…

Viele ältere Menschen akzeptieren die CPAP-Therapie bei guter Compliance und profitieren davon. Wichtige Aspekte sind der durch die Symptome der Schlafapnoe verursachte Leidensdruck und die nachhaltige symptomatische Besserung unter einer Therapie. Neben einer Besserung einer arteriellen Hypertonie steigen bei einer effektiven Behandlung auch Lebensqualität und Leistungsfähigkeit. Hohes Lebensalter ist keine Kontraindikation für die Behandlung einen Schlafapnoe.

nnLernziele Das Krankheitsbild der obstruktiven Schlafapnoe kennen Das diagnostische Vorgehen bei obstruktiver Schlafapnoe kennen Die Grundprinzipien der Behandlung der obstruktiven Schlafapnoe kennen ► Beispiel

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Ein sehr rüstiger 81-jähriger Patient hat außer einer arteriellen Hypertonie keine weiteren Erkrankungen. Er bewirtschaftet seinen eigenen Garten und wandert viel. Seit längerer Zeit klagt er jedoch über Müdigkeit und macht daher seit etwa einem Jahr einen Mittagsschlaf. Der Mittagsschlaf dauere manchmal bis zu zwei Stunden. Zudem berichtet er, dass seine Frau das gemeinsame Schlafzimmer verlassen habe, da er sehr seit etwa einem Jahr auch laut schnarche. Manchmal sei er tagsüber so müde, dass er nicht einmal mit seinen beiden Enkeln spielen wolle. Dann gehe er spazieren. Danach fühle er sich etwas besser und die Müdigkeit sei nicht mehr so schlimm. Auf Befragen berichtet der Patient, dass er schon gegen 20 Uhr zu Bett gehe. Nachts müsse er dreimal aufstehen zum Wasserlassen. Danach schlafe er aber gleich wieder ein. Morgens wache er gegen 8  Uhr auf, sei aber dann immer noch müde und nicht ausgeschlafen, obwohl er mehr als zehn Stunden geschlafen habe. Bei der körperlichen Untersuchung zeigt sich ein schlanker, rüstiger Patient mit einem Körpergewicht von 68 kg bei einer Körpergröße von 174 cm in gutem Allgemeinzustand. Der Blutdruck beträgt 135/75 mmHg. Als Medikation nimmt er seit Jahren die Präparate ASS 100, Candersartan/HCT und Amlodipin. Diese habe er immer gut vertragen und der Blutdruck sei damit gut eingestellt gewesen. Die Einnahme von Schlafmitteln wird verneint. Aufgrund der Anamnese mit Tagesmüdigkeit bei sehr langem Nachtschlaf sowie der fremdanamnestischen Angabe von lautem nächtlichem Schnarchen vermuten Sie bei Ihrem Patienten ein obstruktives Schlafapnoesyndrom (OSAS). Diagnostisch verwenden Sie nun spezifische Fragebögen. Mit Hilfe der Stop-Bang-­ Skala kann die Wahrscheinlichkeit für die Verdachtsdiagnose OSAS erhärtet werden. Die Epworth Sleepiness Scale (ESS) dient der Abschätzung des Schweregrades der Tagesschläfrigkeit und kann für die Verlaufskontrolle verwendet werden. Bei der STOP-BANG-Skala sind von den acht Items die fünf Items Alter, Geschlecht, Schläfrigkeit, Schnarchen und Bluthochdruck erfüllt. Der Halsumfang und der Body-­Mass-­Index sind nicht auffällig, Atempausen in der Nacht werden nicht berichtet. Der Summenscore der STOP-BANG-Skala umfasst einen Bereich von 0 bis 8 Punkten. Das Risiko für das Vorliegen einer obstruktiven Schlafapnoe steigt mit der Höhe des Summenscores von gering (Score 0–2) auf moderat (Score 3–4) und hoch (Score > 5).

93 Ich schlafe doch schon so viel und bin trotzdem immer…

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Die ESS ergibt einen Wert von 17 Punkten und überschreitet den Grenzwert von 10/11 Punkten deutlich. Damit erhärtet dich die Verdachtsdiagnose einer symptomatischen obstruktiven Schlafapnoe. ◄

Der Begriff „obstruktive Schlafapnoe“ wurde im Jahre 1965 geprägt (Jung & Kuhlo, 1965). Pathophysiologisch kommt es zu einer Behinderung des Atemgasflusses im Hypopharynx während des Schlafes. Diese Behinderung kann sehr unterschiedliche Ursachen haben. Eine funktionelle Ursache ist ein übermäßiger Tonusverlust der Hypopharynxmuskulatur mit Eintritt des Schlafes. Alkohol oder Hypnotika können diesen Tonusverlust bei prädisponierten Patienten auslösen oder verstärken. Daher sind diese Medikamente mit Ausnahme von Daridorexant bei bekannter obstruktiver Schlafapnoe kontraindiziert. Zu den anatomischen Ursachen einer obstruktiven Schlafapnoe gehören Raumforderungen im Hypopharynx wie zum Beispiel sehr große Tonsillen, ein zu großer weicher Gaumen, eine erhebliche Vermehrung des retropharyngealen Fettgewebes oder knöcherne Fehlstellungen, wie zum Beispiel eine Retrognathie (Dempsey et al., 2010). Alle diese Veränderungen führen für sich alleine oder in Kombination zu einer Behinderung des Atemgasflusses. Die Folgen sind eine vermehrte Atemanstrengung durch die erhöhte Belastung der Atempumpe. Um den Atemgasfluss zu sichern, ist eine größere Inspirationskraft erforderlich. Dies führt wiederum zu negativeren intrathorakalen Drucken. Negative intrathorakale Drücke erhöhen den transmuralen Druckgradienten zwischen dem Cavum des linken Ventrikels und dem intrathorakalen Druck. Dies entspricht pathophysiologisch einer Erhöhung der Nachlast des linken Ventrikels auch bei normalen arteriellen Blutdruckwerten. Dieser Mechanismus belastet nachhaltig den linken Ventrikel und induziert eine Muskelhypertrophie (Dempsey et al., 2010). Atemereignisse im Rahmen der obstruktiven Schlafapnoe führen oft zu einem kurzzeitigen Abfall der Sauerstoffsättigung. Diese als zyklische Hypoxämien bezeichneten Sauerstoffsättigungsabfälle beeinflussen unter anderem die Neurotransmittersynthese im zentralen Nervensystem und induzieren einen chronisch entzündlichen Status. Diese chronische Entzündung wirkt sich langfristig negativ auf viele Körpergewebe aus. Atempausen bei erhaltener Atemanstrengung triggern, vermittelt über thorakale Mechanorezeptoren, ein Aufwachereignis, ein sog. Arousal. Dieses kurze Aufwachen führt zu einer Tonisierung der Hypopharynxmuskulatur, der Atemgasfluss kann sich für kurze Zeit normalisieren und die Sauerstoffsättigung normalisiert sich. Diese Apnoe-assoziierten Aufwachphasen dauern jedoch nur wenige Sekunden und können morgens nicht erinnert werden. Der Patient schläft gleich wieder sein. Manchmal berichten Patienten jedoch über nächtliches Aufwachen mit Luftnot. Diese Phase der Luftnot nach einer Apnoe dauert aber in der Regel nur wenige Sekunden und unterscheidet sich von der Dyspnoe infolge einer Herzinsuffizienz, die viel länger anhält. Die Apnoezyklen wiederholen sich vielfach in der Nacht. Der Nachtschlaf wird trotz seiner ausreichend langen Dauer als nicht erholsam erlebt, die Betroffenen sind morgens müde, unausgeschlafen, nicht erholt und nicht „entmüdet“ (Dempsey et al., 2010).

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Kapitel 13 · Ich schlafe doch schon so viel und bin trotzdem immer müde…

Wichtige pathophysiologische Mechanismen bei der OSAS: 55 Behinderter Atemgasfluss im Hypopharynx bei erhaltender Atemanstrengung 55 Kurze Aufwachereignisse (Arousals) 55 Zyklische Hypoxämie mit Induktion einer chronischen Entzündung 55 Nachlasterhöhung des linken Ventrikels Die Ursache der obstruktiven Schlafapnoe ist multifaktoriell. Oft wirken mehrere Mechanismen zusammen. Dabei kann zwischen modifizierbaren und nichtmodifizierbaren Faktoren unterschieden werden. Bei den modifizierbaren Faktoren muss wiederum zwischen sofort modifizierbaren und auf Modifikation verzögert ansprechende Faktoren unterschieden werden (Dempsey et al., 2010). Anatomische Malformationen sind verzögert modifizierbar, da in der Regel operative Eingriffe erforderlich sind, die aber bei klarer Indikation gute Ergebnisse liefern. Auch verzögert modifizierbar und nachhaltig wirksam ist eine Reduktion des Körpergewichtes bei Übergewicht. Sofort modifizierbar sind die ungünstigen Effekte von Medikamenten und Genussmitteln, die den Muskeltonus im Hypopharynx senken. Hierzu gehören Hypnotika wie zum Beispiel Benzodiazepine oder Z-Substanzen, die bei einer OSAS kontraindiziert sind, aber auch Alkohol. Medikamente, die eine OSAS direkt oder indirekt verstärken: 55 Benzodiazepine (Tonusreduktion im Hypopharynx) 55 Z-Substanzen (Tonusreduktion im Hypopharynx) 55 Muskelrelaxanzien (Tonusreduktion im Hypopharynx) 55 Opioide (zentrale Dämpfung des Atemantriebs) 55 Antidepressiva (Gewichtszunahme) 55 Antihistaminika (Gewichtszunahme) 55 Alkoholkonsum

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► Beispiel

Eine weitere Abklärung ist indiziert, da aufgrund der bisherigen Untersuchungsergebnisse ein ausgeprägter Befund zu erwarten ist und der Patient unter seiner Tagesschläfrigkeit leidet. Der nächste diagnostische Schritt ist die Durchführung einer ambulanten Polygraphie. Dazu überweisen Sie den Patienten zu einem Facharzt mit schlafmedizinischer Expertise, der auch eine ambulante apparative Diagnostik anbietet. Bei der ambulanten Polygraphie werden Atemgasfluss, Schnarchgeräusche, Atembewegung, Körperlage, Sauerstoffsättigung und Pulsfrequenz registriert (. Tab. 13.1). Sie besprechen die Befunde mit Ihrem Patienten. Aufgrund des hohen Apnoe-­ Hypopnoe-­Index (AHI) von mehr als 30 pro Stunde liegt definitionsgemäß eine schwere obstruktive Schlafapnoe mit ausgeprägter zyklischer Hypoxämie vor. Bei diesem klaren Befund ist eine Einstellung auf eine positive Überdrucktherapie (PAP) mittels Nasenmaske ohne weitere Diagnostik indiziert und möglich (Stuck et al., 2020). Sie erklären dieses Vorgehen Ihrem Patienten, der sich damit einverstanden erklärt. Sie melden den Patienten in einem Schlaflabor an und bitten aufgrund der Schwere des Befundes um einen baldigen Termin.  

95 Ich schlafe doch schon so viel und bin trotzdem immer…

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Nach einer dreiwöchigen Wartezeit wird der Patient in einem Schlaflabor erfolgreich auf eine nächtliche kontinuierliche Überdruckbeatmung (nCPAP) eingestellt. Der erforderliche Maskendruck beträgt 8 mbar. Der Patient berichtet schon nach der ersten Nacht unter der CPAP-Therapie von einer deutlichen Erholung. Er habe sich seit Jahren nicht mehr so gut gefühlt, obwohl er nur sechs Stunden geschlafen habe. Er habe auch kein Bedürfnis mehr, mittags zu schlafen. Nach vier Wochen ergibt die erneut mittels ESS gemessene Tagesschläfrigkeit vier Punkte und unterschreitet den Grenzwert von 10/11 Punkten deutlich. Der Blutdruck ist nun sehr niedrig, sodass auch die bisherige Blutruckmedikation reduziert werden kann. ◄

Fazit Hohes Alter ist kein Grund, eine vermutete Schlafapnoe nicht weiter abzuklären. Viele ältere Menschen akzeptieren die CPAP-Therapie bei guter Compliance und profitieren davon (Parish et al., 2000). Ein wichtiger Aspekt sind dabei der durch die Symptome der Schlafapnoe verursachte Leidensdruck und die nachhaltige symptomatische Besserung unter einer Therapie. Gerade ältere Menschen mit Schlafapnoe sind oft nicht sehr übergewichtig. Normales Körpergewicht schließt eine schwere obstruktive Schlafapnoe im höheren Lebensalter nicht aus. Wie auch in diesem Fall berichten viele Patienten von einem erholsamen Schlaf und einer deutlich kürzeren Schlafzeit in der Nacht unter einer CPAP-Therapie. Die positiven Effekte der CPAP-Therapie auf den Bluthochdruck sind nicht ungewöhnlich. Sie zeigen sich daran, dass die bisherige antihypertensive Dreifachtherapie aufgrund deutlich niedriger Blutdruckwerte reduziert werden konnte. Die Blutdruckwerte und die antihypertensive Medikation sollten daher nach einer erfolgreich eingeleiteten Therapie einer obstruktiven Schlafapnoe regelmäßig überprüft bzw. angepasst werden.

.       Tab. 13.1  Ergebnis der ambulanten Messung bei Ihrem Patienten Registrierzeit

8 h

Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI)

31/h

Schnarchindex

deutlich erhöht

Sauerstoff-Entsättigungsindex (ODI)

29/h

Durchschnittliche Sauerstoffsättigung

92 %

Kumulative Hypoxämiezeit unter 90 %

10 % der Registrierzeit

Minimale Sauerstoffsättigung

74 %

Durchschnittliche Pulsfrequenz

74/min

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Kapitel 13 · Ich schlafe doch schon so viel und bin trotzdem immer müde…

Literatur Dempsey, J. A., Veasey, S. C., Morgan, B. J., & O’Donnell, C. P. (2010). Pathophysiology of sleep apnea. Physiological Reviews, 90(1), 47–112. https://doi.org/10.1152/physrev.00043.2008 Jung, R., & Kuhlo, W. (1965). Neurophysiological studies of abnormal night sleep and the pickwickian syndrome. Progress in Brain Research, 18, 140–159. https://doi.org/10.1016/s0079-­ 6123(08)63590-­6 Parish, J. M., Lyng, P. J., & Wisbey, J. (2000). Compliance with CPAP in elderly patients with OSA. Sleep Medicine, 1(3), 209–214. https://doi.org/10.1016/s1389-­9457(00)00011-­3 Stuck, B., Arzt, M., Fietze, I., Galetke, W., Hein, H., Heiser, C., et  al. (2020). Teil-Aktualisierung S3-Leitlinie Schlafbezogene Atmungsstörungen bei Erwachsenen. AWMF-Registernummer 063-­001 – Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM). Somnologie, 24, 176–208.

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Ich verstehe das nicht, sie schläft so wechselhaft – Demenz und irregulärer Schlaf Inhaltsverzeichnis Literatur – 103

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_14

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Kapitel 14 · Ich verstehe das nicht, sie schläft so wechselhaft – Demenz und irregulärer…

Das irreguläre Schlafmuster stellt eine eigene Schlafstörung dar. Häufig wird diese Schlafstörung bei Menschen beobachtet, die an einer fortgeschrittenen Demenz leiden. Klinisch wird die Diagnose durch die Fremdanamnese gestellt. Die Behandlung ist multimodal und basiert auf verhaltenstherapeutischen und pharmakologischen Komponenten.

nnLernziele Erkennen von Störungen des zirkadianen Rhythmus Differenzialdiagnose von zirkadianen Rhythmusstörungen bei Demenzerkrankungen Therapie zirkadianer Rhythmusstörungen ► Beispiel

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Eine 87-jährige Frau lebt seit mehr als sechs Jahren in einem Seniorenheim. Der Einzug erfolgte aufgrund einer damals festgestellten Demenz, die einen Verbleib in ihrer Wohnung nicht mehr erlaubte. Im Seniorenheim hat sich die neue Bewohnerin schnell eingelebt und fühlte sich wohl. Sie war mobil und nahm an vielen Angeboten des Heimes teil. In den letzten beiden Jahren verschlechterte sich dann ihr Gesundheitszustand. Sie zog sich mehr und mehr zurück, schlief tagsüber immer wieder ein, verschlief manchmal ihre Mahlzeiten und schlief nachts nicht mehr durch. Zweimal stürzte sie tagsüber, weil sie so müde war. Glücklicherweise zog sie sich bei den Stürzen keine knöchernen Verletzungen zu. Diese Veränderungen bereiten den Pflegenden große Sorge, da sie die Bewohnerin so nicht kennen. Daher wurden Sie als behandelnder Arzt auf diese Problematik angesprochen. Zunächst untersuchen Sie die Bewohnerin. Sie ist normgewichtig und auf Zimmerebene mit einem Rollator mobil. Der Blutdruck beträgt 120/65 mmHg in liegender und 110/60 mmHg in stehender Position. Es bestehen keine kardiopulmonalen Insuffizienzzeichen. Eine Exsikkose liegt klinisch nicht vor. Kognitiv ist die Bewohnerin örtlich und zeitlich nicht orientiert. Ihre Grundhaltung ist freundlich zugewandt. Auf Nachfrage berichtet sie, sich wohlzufühlen. Sie sieht keinerlei gesundheitliche Probleme. Die aktuelle, schon über Jahre unverändert eingenommene Medikation lautet: ASS 100 1-0-0, Candesartan 12 1-0-0, Amlodipin 5 1-0-0, Simvastatin 20 1-0-0, Lavendelextrakt 0-0-1. ◄

99 Ich verstehe das nicht, sie schläft so wechselhaft…

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Evaluation Der Fall zeigt mehrere Probleme. Einmal wird von Betreuungspersonen eine gesundheitliche Veränderung beschrieben, die von der Bewohnerin nicht wahrgenommen wird. Auch die Erhebung der Anamnese ist aufgrund der kognitiven Einschränkungen nicht valide durchführbar. Daher ist eine Fremdanamnese diagnostisch wichtig. Die hier verordnete Medikation ist so häufig bei älteren Menschen anzutreffen und ist auf eine Arteriosklerose und deren Folgeerkrankungen sowie auf eine arterielle Hypertonie ausgerichtet. Die Hypertonie ist aufgrund der gemessenen Werte gut eingestellt. Eine orthostatische Hypotonie ist angesichts der im Stehen gemessenen Blutdruckwerte nicht wahrscheinlich. Der Blutdruck sollte bei älteren Menschen immer auch einmal im Stehen gemessen werden, um eine orthostatische Hypotonie nicht zu übersehen. Hinweise auf nichtkognitive Störung im Rahmen der Demenzerkrankung wie Apathie, Halluzinationen, Wahninhalte, Überaktivität oder Dysthymie werden nicht beobachtet und von den Betreuungspersonen nicht berichtet. Lavendelextrakt ist Bestandteil freiverkäuflicher Phytotherapeutika, welches bei Unruhe und Angst angewendet wird. Die Wirkung ist eher milde. Tagesmüdigkeit ist als unerwünschte Wirkung nicht bekannt. Simvastatin kann, wenn das Präparat abends eingenommen wird, eine Insomnie auslösen.

► Beispiel

Aufgrund der berichteten Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus sehen Sie gemeinsam mit den Pflegepersonen trotz des bei der Bewohnerin fehlenden Leidensdruckes einen Handlungsbedarf. Da diese Störung schon längere Zeit besteht und die Bewohnerin nicht unter der zirkadianen Rhythmusstörung zu leiden scheint, muss nicht sofort gehandelt werden. Daher bitten Sie die Betreuungspersonen, den Schlaf-Wach-Rhythmus der Bewohnerin über zwei Wochen auf einem Bogen zu dokumentieren. Bei diesem Bogen entspricht eine Zeile einem Tag mit seinen 24  h. In jeder Zeile werden dann die Schlafphasen durch einen Strich markiert, wobei die Länge des Striches die Dauer der beobachteten Schlafphasen wiedergibt. Sie erkennen aus dieser Dokumentation, dass kein eindeutiger Rhythmus von Schlafphasen und Wachphasen zu erkennen ist. Die gesamte Schlafzeit über 24  h liegt zwischen sieben und neun Stunden und entspricht einer in dieser Altersgruppe normalen Schlafmenge. Jedoch ist die Verteilung des Schlafes über die 24-h-Periode unregelmäßig. Sie stellen aufgrund dieser Dokumentation die Verdachtsdiagnose einer irregulären Schlaf-Wach-Störung. ◄

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Kapitel 14 · Ich verstehe das nicht, sie schläft so wechselhaft – Demenz und irregulärer…

Die Beurteilung des Schlafmusters erfolgt typischerweise im Rahmen der Erhebung der Schlafanamnese. Die Schlafanamnese wird durch die Verwendung validierter Fragebögen ergänzt. Dieses etablierte diagnostische Vorgehen bildet die Wahrnehmung eines Patienten ab, liefert wertvolle Daten zur Differenzialdiagnose von Schlafstörungen und ist die Grundlage für Folgeuntersuchungen zur Prüfung der Wirksamkeit einer Behandlung. Die Anamneseerhebung und die Verwendung von Fragebögen sind an eine ausreichende Introspektionsfähigkeit und Gedächtnisleistung eines Patienten gebunden, da retrospektiv Informationen über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen abgefragt werden. Dies bedeutet auch, dass bei Menschen mit Gedächtnisproblemen – wie sie bei einer Demenzerkrankung vorliegen – die Anamneseerhebung oder die Verwendung von Fragebögen problematisch ist. Zudem erfassen Fragebögen aufgrund der retrospektiven kumulativen Betrachtung eines vorgegebenen Zeitraumes keine Schwankungen im Schlafverhalten von Tag zu Tag. Die fehlende Synchronisation zwischen dem individuellen Schlaf-Wach-­ Rhythmus und dem natürlichen Wechsel von Tag und Nacht wird als zirkadiane Rhythmusstörung bezeichnet. Unter diesem Begriff werden mehrere Schlafstörungen zusammengefasst. Eine Form der zirkadianen Rhythmusstörung ist das sog. irreguläre Schlafmuster. Ein irreguläres Schlafmuster ist gekennzeichnet durch das Auftreten von Schlaflosigkeit in der Nacht und ausgeprägter Schläfrigkeit mit Einschlafneigung am Tage (Auger et al., 2015). Das letzte Symptom unterscheidet den irregulären Schlaf-Wach-Rhythmus unter anderem von einer Insomnie. Bei einer Insomnie klagen die Patienten auch über Schlaflosigkeit in der Nacht, schlafen aber in der Regel nicht am Tag, selbst wenn sie angeben, sehr müde zu sein. >>Schlaf am Tage muss auch bei Menschen mit Insomnie differenzialdiagnostisch immer an weitere – komorbide – Schlafstörungen denken lassen.

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Ein irreguläres Schlafmuster ist durch das Fehlen jeglicher Periodizität im SchlafWach-Rhythmus und einem stetigen Wechsel von Schlaf- und Wachphasen gekennzeichnet. Zur Erfassung eines irregulären Schlafmusters wurde mit dem Sleep Regulatory Index (SRI) ein Parameter vorgeschlagen, der auf der Basis aktometrisch gewonnener Profile das Ausmaß der Irregularität des Schlaf-Wach-Rhythmus abbildet (Witting et al., 1990). Der IRS kann jedoch nur mittels einer Aktometrie bestimmt werden. Eine Aktometrie ist nicht belastend und wird auch von Menschen mit einer Demenzerkrankung gut toleriert.

101 Ich verstehe das nicht, sie schläft so wechselhaft…

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Definition Der Sleep Regulatory Index (SRI) beschreibt die Wahrscheinlichkeit, mit der an zwei beliebig gewählten Zeitpunkten, die 24  h auseinanderliegen, das gleiche Schlafmuster anzutreffen ist. Je geringer diese Wahrscheinlichkeit ist, umso irregulärer ist das Schlaf-­Wach-­Muster (Phillips et al., 2017).

Bei einem irregulären Schlafmuster kommt es zu einer Desynchronisation zwischen dem individuellen Schlaf-Wach-Rhythmus und den Erfordernissen von Körper und Umgebung. Die klinischen Folgen sind depressive Episoden, reduzierte Alltagsaktivitäten, ein erhöhtes Sturzrisiko und Einbußen in der Gedächtnisleistung. Ein irreguläres Schlafmuster sollte erkannt werden, da es gut behandelt werden kann. Im Vordergrund stehen verhaltenstherapeutische Interventionen mit Umsetzung der Prinzipien der Schlafhygiene und der kognitiven Verhaltenstherapie bei Insomnie (KVT-I), um die Folgen der Schlafstörung zu reduzieren. Das irreguläre Schlafmuster wird von der American Academy of Sleep Medicine (AASM) als das Fehlen eines stabilen 24-Stunden-Schlaf-Wach-Rhythmus definiert. Es fehlt ein fester Schlafrhythmus. Diese Störung ist eher selten und wird häufiger bei Menschen mit Störungen der Hirnfunktion gefunden. Im Gegensatz zu Patienten mit Insomnie ist die Gesamtschlafzeit (Total Sleep Time, TST) über 24 h in der Regel normal. Die Verteilung von Schlaf und Wachheit zeigt aber kein regelmäßiges Muster mehr. Für die Diagnose werden wenigstens drei Schlafphasen von etwa einer bis vier Stunden Dauer verteilt über 24 h ohne festen Rhythmus gefordert (Wagner, 1996). Schlaf- und Wachphasen sind eher zufällig verteilt, mit erheblicher Varianz von Tag zu Tag. Symptome des irregulären Schlafmusters: 55 Schwierigkeiten, abends einzuschlafen 55 Häufiges Erwachen in der Nacht 55 Unerholsamer Nachtschlaf 55 Ausgeprägte Tagesschläfrigkeit 55 Wenigstens drei Schlafphasen von zwei bis vier Stunden Dauer innerhalb von 24 h Die Ursachen eines irregulären Schlafmusters sind multifaktoriell. Wahrscheinlich sind aber die für die Regulation von Schlaf und Wachheit erforderlichen neuronalen Netzwerke involviert. Dies erklärt auch, warum diese Schlafstörung häufiger bei Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen beobachtet wird. Das Risiko für eine solche Schlafstörung ist daher bei Menschen mit Demenz, Parkinson-Erkrankung oder Schädel-Hirn-Trauma häufiger.

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Die Diagnose kann durch die Dokumentation des Schlafverhaltens in einem Schlaftagebuch oder apparativ durch eine Aktometrie erfolgen. Dabei soll die Aufzeichnung jeweils wenigstens zwei Wochen umfassen. Diagnostisch wichtig ist es, nach einem erkennbaren Rhythmus von Schlaf und Wachheit zu suchen. Dieser fehlt bei einer irregulären Schlafstörung. Differenzialdiagnostisch müssen andere Störungen des zirkadianan Rhythmus diskutiert werden. Die Syndrome der vorverlagerten und der nachverlagerten Schlafphase zeigen ein individuell stabiles und physiologisches Muster von Schlaf und Wachheit, jedoch ist dieses Muster in Bezug auf den Tag-Nacht-Wechsel um mehrere Stunden verschoben. Differenzialdiagnostisch ist es wichtig zu beachten, dass der Schlaf bei einer verlagerten Schlafphase erholsam ist. Klinische Probleme resultieren bei den betroffenen Menschen aus der Diskrepanz zwischen dem eigenen Schlafbedarf und den Erfordernissen der Umwelt. Der Nicht-24-Rhythmus unterscheidet sich von einem irregulären Schlafmuster durch seine Entkopplung von äußeren Zeitgebern. Der individuelle, genetisch determinierte Schlaf-Wach-Rhythmus, der stets etwas mehr als 24 h umfasst, manifestiert sich klinisch. Die Betroffenen erleben eine komplette Tag-Nacht-Umkehr mit einer Periodizität von etwa vier bis sechs Wochen. Fehlt Tageslicht als der wichtigste Zeitgeber für die Synchronisation zwischen innerer Uhr und Umwelt, kann sich der eigene Rhythmus durchsetzen. Betroffen sind Erblindete oder Menschen ohne ausreichende Lichtexposition. Heimbewohner sind hier besonders gefährdet. Ziel der Behandlung von zirkadianen Rhythmusstörungen ist die Wiederherstellung eines stabilen Tag-Nacht-Rhythmus. Dazu sind verschieden therapeutische Möglichkeiten verfügbar. Die wichtigste Maßnahme ist eine ausreichende Lichtexposition am Vormittag. Durch den starken Zeitgeber Licht wird der Tag-Nacht-Rhythmus stabilisiert. Der Aufenthalt im Freien liefert auch an bewölkten Tagen eine Lichtintensität von wenigstens 5000 Lux. Wenn ein Aufenthalt im Freien nicht möglich ist, können spezielle Leuchtmittel therapeutisch eingesetzt werden (Ancoli-Israel et al., 2003). Die konsequente Anwendung der Schlafhygiene einschließlich ausreichender körperlicher Aktivität am Tage unterstützt die Stabilisierung des zirkadianen Rhythmus (Tan et al., 2019). Die Datenlage zur Wirksamkeit einer medikamentösen Behandlung eines ­irregulären Schlafmusters ist gering und uneinheitlich. Aus pathophysiologischer Sicht würde die Anwendung von Melatonin in retardierter Form sinnvoll erscheinen, jedoch konnte in randomisierten Studien kein Effekt von Melatonin auf das Schlafmuster demenziell Erkrankter nachgewiesen werden (Serfaty et al., 2002; Brzezinski et al., 2005). Für Hypnotika oder Neuroleptika fehlt der Nachweis der Wirksamkeit bei irregulärem Schlaf-Wach-Rhythmus (Yamadera et al., 1996). Der bisher beste therapeutische Ansatz zur Behandlung eines irregulären Schlafmusters ist die kombinierte Anwendung von ausreichenden sozialen Kontakten, körperlicher Aktivität am Tage, Umsetzen der Schlafhygiene, ausreichender Lichtexposition am Vormittag sowie Vermeiden von Lichtexposition abends und in der Nacht (Yamadera et al., 1996). Die Ansprechrate auf diese Behandlung wird mit etwa 50 % angegeben (Yamadera et al., 1996).

103 Literatur

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► Beispiel

Das bei der Bewohnerin erforderliche Behandlungskonzept ist verhaltenstherapeutisch ausgerichtet. Verhaltenstherapeutische Konzepte müssen von allen Mitgliedern des Teams mitgetragen werden. Daher vereinbaren Sie eine gemeinsame Besprechung mit den Betreuungspersonen, die im Rahmen eines regelmäßigen Heimbesuches erfolgt. Sie erläutern die Prinzipien der Schlafhygiene, weisen auf den stabilisierenden Effekt von Tageslicht am Vormittag hin und betonen die Wichtigkeit körperlicher Aktivität. In der Folge wird die Bewohnerin zur Teilnahme an der morgendlichen Aktivitätsgruppe eingeladen und geht am Vormittag gemeinsam mit anderen Bewohnern und einer Seniorenbegleiterin im Freien spazieren. Nach zwei Wochen bessert sich der zirkadiane Rhythmus. Die Schlafphasen in der Nacht nehmen zu, der Tagesschlaf nimmt deutlich ab. Sie bitten die Pflegepersonen, dieses verhaltenstherapeutische Konzept so beizubehalten. ◄

Fazit Ein irregulärer Schlaf-Wach-Rhythmus kann klinisch durch die Beobachtung eines Patienten erkannt werden. Die Diagnose basiert auf einer genauen Dokumentation des Schlaf-Wach-Rhythmus über einen Zeitraum von etwa zwei Wochen. Die Behandlung ist verhaltenstherapeutisch und beinhaltet die Umsetzung von Schlafhygiene, körperlicher Aktivität, ausreichenden Sozialkontakten und Lichtexposition am Vormittag. Belege für eine wirksame Pharmakotherapie bei irregulärem Schlaf-­ Wach-­Rhythmus fehlen bisher.

Literatur Ancoli-Israel, S., Gehrman, P., Martin, J. L., Shochat, T., Marler, M., Corey-Bloom, J., & Levi, L. (2003). Increased light exposure consolidates sleep and strengthens circadian rhythms in severe Alzheimer’s disease patients. Behavioral Sleep Medicine, 1(1), 22–36. https://doi.org/10.1207/ S15402010BSM0101_4 Auger, R. R., Burgess, H. J., Emens, J. S., Deriy, L. V., Thomas, S. M., & Sharkey, K. M. (2015). Clinical practice guideline for the treatment of intrinsic circadian rhythm sleep-wake disorders: Advanced sleep-wake phase disorder (ASWPD), delayed sleep-wake phase disorder (DSWPD), non-24-hour sleep-wake rhythm disorder (N24SWD), and irregular sleep-wake rhythm disorder (ISWRD). An update for 2015: An American Academy of Sleep Medicine Clinical Practice Guideline. Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Official Publication of the American Academy of Sleep Medicine, 11(10), 1199–1236. https://doi.org/10.5664/jcsm.5100 Brzezinski, A., Vangel, M. G., Wurtman, R. J., Norrie, G., Zhdanova, I., Ben-Shushan, A., & Ford, I. (2005). Effects of exogenous melatonin on sleep: A meta-analysis. Sleep Medicine Reviews, 9(1), 41–50. https://doi.org/10.1016/j.smrv.2004.06.004 Phillips, A. J. K., Clerx, W. M., O’Brien, C. S., Sano, A., Barger, L. K., Picard, R. W., et al. (2017). Irregular sleep/wake patterns are associated with poorer academic performance and delayed circadian and sleep/wake timing. Scientific Reports, 7(1), 3216. https://doi.org/10.1038/s41598-­017-­ 03171-­4 Serfaty, M., Kennell-Webb, S., Warner, J., Blizard, R., & Raven, P. (2002). Double blind randomised placebo controlled trial of low dose melatonin for sleep disorders in dementia. International Journal of Geriatric Psychiatry, 17(12), 1120–1127. https://doi.org/10.1002/gps.760

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Tan, X., van Egmond, L., Partinen, M., Lange, T., & Benedict, C. (2019). A narrative review of interventions for improving sleep and reducing circadian disruption in medical inpatients. Sleep Medicine, 59, 42–50. https://doi.org/10.1016/j.sleep.2018.08.007 Wagner, D. R. (1996). Disorders of the circadian sleep-wake cycle. Neurologic Clinics, 14(3), 651–670. https://doi.org/10.1016/s0733-­8619(05)70278-­4 Witting, W., Kwa, I. H., Eikelenboom, P., Mirmiran, M., & Swaab, D. F. (1990). Alterations in the circadian rest-activity rhythm in aging and Alzheimer’s disease. Biological Psychiatry, 27(6), 563– 572. https://doi.org/10.1016/0006-­3223(90)90523-­5 Yamadera, H., Takahashi, K., & Okawa, M. (1996). A multicenter study of sleep-wake rhythm disorders: Therapeutic effects of vitamin B12, bright light therapy, chronotherapy and hypnotics. Psychiatry and Clinical Neurosciences, 50(4), 203–209. https://doi.org/10.1111/j.1440-­1819.1996. tb02743.x

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Ich kann nachts nicht mehr schlafen und schlafe am Tag – Demenz und Schlaf Inhaltsverzeichnis Literatur – 111

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_15

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Fast alle Menschen, die an einer Demenz leiden, zeigen Schlafstörungen. Die häufigsten Schlafstörungen sind Störungen des zirkadianen Rhythmus, Schlaflosigkeit (Insomnie), schlafbezogene Atmungsstörungen, Parasomnien und Restless Legs. Oft liegen mehrere Schlafstörungen gleichzeitig vor. Die Fremdanamnese und die Patientenbeobachtung sind in Verbindung mit einer Verlaufsbeobachtung die wichtigsten diagnostischen Verfahren. Die Behandlung ist immer multimodal und umfasst neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen die Behandlung von Komorbiditäten, einen Medikamentencheck und eine passagere pharmakologische Therapie.

nnLernziele Schlafstörungen als wichtige Symptome einer Demenz erkennen Eine Schlafstörung bei einer Demenzerkrankung abklären können Die Folgen unbehandelter Schlafstörungen bei einer Demenzerkrankung kennen Behandlungsmöglichkeiten von Schlafstörungen bei einer Demenz kennen ► Beispiel

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Ein 84-jähriger Mann bemerkte vor etwa zehn Jahren erstmalig Gedächtnisprobleme. Im häuslichen Alltag vergaß er gelegentlich, warum er einen Raum aufgesucht hatte, wusste nicht, ob er seine Medikamente schon eingenommen hatte oder ob zum Beispiel der Briefträger schon da gewesen war. Zur weiteren Abklärung wurde damals ein Mini-Mental-Status-Test (MMST) (→) durchgeführt, der einen Wert von 25 Punkten ergab. Eine eingeschränkte Gedächtnisleistung war für diesen leicht reduzierten, aber noch nicht pathologischen Gesamtscore verantwortlich. Eine Bildgebung sollte in solchen Fällen immer erfolgen, um andere morphologische Hirnerkrankungen wie Ischämien oder Tumore auszuschließen. Die Computertomographie des Gehirns zeigte eine leichte Hirnatrophie mit milden Zeichen der subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie. In dieser Konstellation wurde die Diagnose einer milden kognitiven Beeinträchtigung (MCI) bei Verdacht auf eine vaskuläre Enzephalopathie gestellt. Therapeutisch stand die Behandlung der kardiovaskulären Risikofaktoren arterielle Hypertonie und Hyperlipoproteinämie im Vordergrund. Als medikamentöse Therapie wurden ASS 100, Candesartan, Chlortalidon und Atorvastatin verordnet. Die Schlafanamnese war unauffällig, der Nachtschlaf erholsam. Tagesschläfrigkeit (ESS-Score 7 Punkte) oder eine Insomnie (ISI 4 Punkte) lagen nicht vor. Das Vorliegen einer obstruktiven Schlafapnoe war angesichts eines Scores von zwei in der STOP-­ BANG-­Skala wenig wahrscheinlich. Bei einer Verlaufsuntersuchung zeigte sich nach drei Jahren eine Abnahme des Gesamtscores im MMST um weitere sieben Punkte auf nun 18 Punkte. Das weitere geriatrische Assessment ergab erhaltene basale Aktivitäten des täglichen Lebens (Barthel-­ Index: 100 Punkte), jedoch waren die instrumentellen Aktivitäten des täglichen Lebens (IADL) in den Bereichen Telefonieren-Können, Selbstständig-einkaufen-Können, Ordnung im Haushalt halten und Erledigen von Geldangelegenheiten beeinträchtigt. Die Stimmung war nicht gedrückt (GDS-15: 4 Punkte). Die Ehefrau des Patienten berichtete von häufigen Schlafphasen am Tage. Das Schlafen am Tage beobachte sie seit etwa einem Jahr. Zunächst habe ihr Mann ­begonnen, einen Mittagschlaf zu halten, der dann immer länger wurde und zuletzt fast drei Stun-

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den umfasste. Seit einigen Wochen schlafe er zudem schon vormittags fast eine Stunde. Dafür schlafe er aber deutlich weniger lange in der Nacht und irre dann in der Wohnung umher. Dadurch sei auch ihr eigener Schlaf gestört und sie leide sehr unter dieser Situation. ◄

Demenzerkrankungen verursachen fortscheitende kognitive und nichtkognitive Störungen. Die nichtkognitiven Störungen sind eine heterogene Gruppe von Verhaltensstörungen, die bei allen Demenzformen singulär oder in Kombination dauerhaft oder passager auftreten können. Nichtkognitive Störungen belasten die Familien mehr als die rein kognitiven Störungen eines Demenzkranken. Zu diesen nichtkognitiven Störungen gehören unter anderem Agitiertheit und Überaktivität, Apathie, Angst, Depression, Wahn und Schlafstörungen (Lyketsos et al., 1999). Dabei treten depressive Symptome schon früh im Verlaufe einer Demenzerkrankung auf, während Agitiertheit, Wahn oder Schlafstörungen häufiger bei mittelscheren Demenzstadien zu beobachten sind. Apathie und Schläfrigkeit können in jedem Stadium einer Demenz auftreten (Lyketsos et al., 1999). Die Genese der nichtkognitiven Störungen ist multifaktoriell, wobei neben den neurodegenerativen Veränderungen im Nervensystem auch Umweltfaktoren und klinische Symptome wie Hunger, Durst oder Schmerzen eine Rolle spielen (Lyketsos et al., 1999). Diagnostisch werden die wesentlichen Symptome und Auffälligkeiten möglichst präzise beschrieben. Dabei muss unbedingt auf Zusammenhänge mit möglichen Triggern der Symptomatik und auf die Veränderung im Tages- und Nachtverlauf geachtet werden. Die Behandlung ist nicht einfach, erfolgt jedoch zunächst in Form einer Verhaltenstherapie, wobei identifizierbare Trigger adressiert werden (Lyketsos et al., 1999). Eine symptomatische pharmakologische Therapie ist bei nichtkognitiven Störungen kaum wirksam und bessert die Symptome nur gering. Andererseits sind unerwünschte Wirkungen gerade von Hypnotika und Neuroleptika bekannt. Sie erhöhen das kardiovaskuläre Risiko und die Mortalität. Daher muss ihr Einsatz immer gezielt bei klarer Indikation erfolgen. Klare Indikationen sind depressive Episoden oder wahnhafte Störungen. Die Wirksamkeit der Pharmakotherapie muss zudem immer geprüft werden. Im Vordergrund der Behandlung von nichtkognitiven Störungen bei Menschen mit Demenz steht die Verhaltenstherapie (Gitlin et al., 2012). Die Idee hinter der Verhaltenstherapie ist die Interpretation von Verhaltensstörungen als Äußerung von Bedarfen. So kann Rufen auf Einsamkeit und Langeweile hinweisen, Stöhnen, Schlagen oder Umherwandern kein ein Zeichen von nicht behandelten Schmerzen sein. z Die Abklärung von Schlafstörungen bei Menschen mit Demenz

Die Abklärung sollte systematisch erfolgen. Die Grundlage dieser Abklärung ist eine ausführliche Erhebung der Anamnese, wobei aufgrund der kognitiven Störungen infolge der Demenz die Befragung naher Angehöriger essenziell ist. Bei der Anamneseerhebung sollte nach Symptomen primärer Schlafstörungen gefragt werden. Hierzu gehören Fragen nach Schnarchen, Atempausen im Schlaf, Tagesschläfrigkeit, Bewegungen im Schlaf, Restless Legs sowie klinische Zeichen

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einer Parasomnie. Zudem muss nach dem Tagesablauf, den üblichen Bett- und Aufstehzeiten, deren Varianz sowie gewollten und unbeabsichtigten Schlafphasen am Tage („Naps“) gefragt werden. >>Wichtig sind Fragen nach Sundowning, Halluzinationen, nächtlichem Umherwandern und Parasomnien. Ein obligater Bestandteil der Anamnese ist die Frage nach der Belastung der Betreuungspersonen durch den gestörten Schlaf eines Demenzkranken.

Dann schließt sich die Suche nach begünstigenden Faktoren für gestörten Schlaf an. Zu den begünstigenden Faktoren gehören 55 eine depressive Episode oder eine Angststörung, 55 Schmerzsyndrome, 55 eine Nykturie, 55 die aktuelle Medikation, einschließlich der Einnahme frei verkäuflicher Präparate, 55 der aktuelle Genussmittelkonsum, 55 die aktuellen Lebensumstände, einschließlich der Schlafumgebung, 55 das alltäglichen Aktivitätsniveau, 55 bestehende Sozialkontakte, 55 der Tagesablauf und 55 die tägliche Licht- und Lärmexposition. ► Beispiel

Im vorliegenden Fall berichtet die Ehefrau von erheblichem Tagesschlaf und Wachphasen in der Nacht mit gesteigerter motorischer Aktivität. Hinweise für eine depressive Episode oder Schmerzen ergeben sich aus den fremdanamnestischen Angaben nicht. Damit ist eine Störung des Tag-Nacht-Rhythmus das aktuell führende Problem. ◄

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Die in der Schlafmedizin etablierten Fragebögen zur Erfassung von Schläfrigkeit (Epworth Sleepiness Scale, ESS) oder Schlafqualität (Pittsburgh Sleep Quality Index, PSQI) können eingesetzt werden, sind aber für Menschen mit Demenz bisher nicht validiert worden. Zudem ist unklar, welche Grenzwerte bei diesen Fragebögen bei Menschen mit Demenz gelten. Werden diese Fragebögen durch Betreuungspersonen ausgefüllt, können sie jedoch zur individuellen Verlaufsbeobachtung dienen. Speziell für Angehörige von Demenzkranken wurde das Sleep Disturbance Inventory (SDI) entwickelt, um das Ausmaß der Belastung der betreuenden Person durch den gestörten Schlaf des Patienten zu bestimmen. Fragebögen sind immer auch subjektiv und damit unsicher. Objektive Daten lassen sich aber nur durch eine apparative Messung gewinnen. Da insbesondere fortgeschritten Demenzkranke umfassende Untersuchungen, zum Beispiel in einem Schlaflabor, nicht tolerieren, sind nicht belastende Diagnosegeräte zu favorisieren. Hierzu gehören unter anderem sog. Aktometer, mit deren Hilfe Aktivitätsprofile erstellt werden können, die wiederum Rückschlüsse auf den ­ Schlaf-Wach-Rhythmus zulassen.

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Bei Verdacht auf eine Schlafapnoe können Polygraphiegeräte oder eine einfache Fingerpulsoximetrie durchgeführt werden, die auch bei Demenzkranken oft verwertbare Ergebnisse liefern (Frohnhofen & Roffe, 2012). Die Indikation zu einer Polysomnographie im Schlaflabor besteht dann, wenn eine definitive Klärung einer Schlafstörung angestrebt wird und das Ergebnis der Untersuchung für den Patienten auch Konsequenzen hat. Wird die Indikation zur Durchführung einer Polysomnographie gestellt, sollte idealerweise eine Betreuungsperson den Patienten im Sinne eines Rooming-in ins Schlaflabor begleiten, um die Auswirkungen der neuen und sehr technischen Umgebung auf den Patienten möglichst gering zu halten. z Behandlung von Schlafstörungen bei Menschen mit Demenz

Die Behandlung einer Schlafstörung bei Menschen mit Demenz erfolgt schrittweise. Zunächst sollte eine primäre Schlafstörung gesucht und entsprechend behandelt werden. Weitere Erkrankungen mit Auswirkungen auf den Schlaf, wie eine depressive Episode, Angststörung oder persistierende Schmerzen, sollten identifiziert und therapiert werden. Medikamente mit ungünstigen Auswirkungen auf den Schlaf oder Begünstigung von Schläfrigkeit sollten kritisch hinterfragt. Sollten die Schlafstörungen fortbestehen, kommt zunächst eine nichtpharmakologische, dann aber auch eine pharmakologische Behandlung in Frage. Idealerweise werden im Verlauf einer Behandlung Fragebögen und eine Aktometrie zur Messung des Ansprechens auf eine Behandlung durchgeführt und regelmäßig wiederholt. Dies ist auch wichtig, da eine Demenzerkrankung progredient verläuft und sich im Krankheitsverlauf Schlafstörungen verändern können. Eine Schlafapnoe kann bei Demenzkranken im frühen Stadium oft durch eine nächtliche Beatmungstherapie mit guter Akzeptanz und gutem klinischen Erfolg angewendet werden (Cooke et al., 2009). Die Diagnose Demenz sollte also nicht dazu führen, dass einem Patienten eine Untersuchung im Schlaflabor vorenthalten wird, zumal diese Therapie den kognitiven Verlust zu verlangsamen scheint (Troussière et al., 2014). Das Erkennen von Restless Legs kann bei fortgeschritten Demenzkranken schwierig sein. Reiben der Beine und Unruhe mit Zunahme am Abend sollte an ein RLS denken lassen. Die Behandlung erfolgt nach den gleichen Prinzipien, wie bei kognitiv gesunden Patienten mit Restless-Legs-Syndrom (RLS). REM-Schlaf-bezogene Verhaltensstörungen können klinisch nur vermutet werden. Ihre sichere Diagnostik erfordert eine Video-Polysomnographie. Therapeutisch sollte die Schlafumgebung so gestaltet werden, dass ein Verletzungsrisiko des Kranken so gering wie möglich ist. Pharmakologisch sind Clonazepam oder Melatonin wirksam (Aurora et al., 2010). Die Verhaltenstherapie ist auch bei Menschen mit Demenz angesichts ihrer Wirksamkeit bei praktisch fehlenden Nebenwirkungen die Basis der Behandlung von Schlafstörungen. Die Umsetzung der Prinzipien der Schlafhygiene erwies sich in kleineren Studien auch bei Demenzkranken als wirksam (McCurry et al., 2012). Körperliche Aktivität, stabile Tagesrhythmen mit Sozialkontakten und der Aufenthalt im Freien wirken sich günstig auf das Schlafvermögen aus und sollten,

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wenn immer möglich, umgesetzt werden (McCurry et al., 1999). Dabei hat sich eine Intensität der Aktivität von wenigstens 30 min täglich als wirksam erwiesen (Tewary et al., 2018). Melatonin wird in der Hirnanhangsdrüse gebildet und signalisiert dem Körper, dass es dunkel ist. Der Melatoninspiegel ist bei vielen Menschen mit Demenz erniedrigt (Uchida et al., 1996). Die Angaben zur Wirksamkeit von Melatonin oder von dem Melatoninrezeptoragonisten Ramelteon sind bei Menschen mit Demenz widersprüchlich, sodass zurzeit noch keine definitive Empfehlung ausgesprochen werden kann (McCleery et al., 2014). Sedierende Antidepressiva werden aufgrund ihres soporistischen Effektes eingesetzt, haben aber unerwünschte Effekte und sind – wie alle Neuroleptika – mit einer Übersterblichkeit assoziiert (Kripke, 2016). Daher sollte die Anwendung nur bei einer klar gegebenen Indikation – zum Beispiel einer depressiven Episode – erfolgen. Bei Benzodiazepinen und Z-Substanzen überwiegen die Nachteile den eher moderaten Benefit. Nachteilig sind Sedierung am Tage, erhöhte Sturzrate, kognitive Einbußen, Verwirrtheit und Abhängigkeit (Zhang et al., 2016). Neue Möglichkeiten eröffnet künftig wahrscheinlich die Anwendung von Orexin-Antagonisten. In ersten Untersuchungen erwiesen sich diese Präparate bei Schlafstörungen bei Menschen mit Demenz als sehr wirksam und hatten keine wesentlichen unerwünschten Effekte (Benedict). Bezüglich der Pharmakotherapie der Apathie bei Demenzkranken mit Methylphenidaten oder Modafinil zeigen kleinere Studien geringe oder keine Effekte (Ondo et al., 2005; Lou et al., 2009). ► Beispiel

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Im vorliegenden Fall bietet sich zunächst die konsequente Umsetzung einer Verhaltenstherapie an. Bei einer erhaltenen Mobilität sollten täglich Spaziergänge von wenigstens 30 min am Vormittag erfolgen. Körperliche Aktivität verbessert die Hirnleistung und reduziert Müdigkeit. Die Lichtexposition ist auch bei bewölktem Himmel so stark, dass eine Stabilisierung des Tag-Nacht-Rhythmus zu erwarten ist. Unterstützt werden diese chronobiologischen Effekte durch ein abendliches warmes Fußbad. Der Abfall der Körperkerntemperatur am Abend ist einer der stärksten physiologischen Schlafreize. Warme Extremitäten signalisieren dem Organismus, dass Wärme abgegeben wird. Dies fördert das Einschlafen. Ein Mittagsschlaf darf erfolgen, sollte aber höchstens 30 min dauern, um den sich für die Nacht tagsüber aufbauenden „Schlafdruck“ nicht vorzeitig zu senken. Sie besprechen dieses Konzept mit dem Patienten und seiner Ehefrau. Beide organisieren ihren Tagesablauf neu und setzen diese Vorschläge um. Bei einem Folgetermin nach vier Wochen berichten beide Eheleute von einer deutlichen Besserung des TagNacht-Rhythmus. Die Schlafphasen am Tage wurden deutlich reduziert und der Nachtschlaf umfasst jetzt fast sechs Stunden, unterbrochen von zwei nächtlichen Toilettengängen. Sie stärken durch ein positives Feedback Ihren Patienten und weisen darauf hin, dass eine regelmäßige Beobachtung des Schlafverhaltens erforderlich ist, da die Demenzerkrankung eine progrediente Erkrankung ist und sich das Schlafmuster künftig noch verändern kann. Daher sollen sich beide Eheleute regelmäßig bei Ihnen vorstellen. ◄

111 Literatur

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Fazit Im vorliegenden Fall führte die Demenzerkrankung zu einer Störung des zirkadianen Rhythmus. Durch die fremdanamnestische Erfassung des Schlaf-Wach-­ Rhythmus und fehlenden Anhaltspunkten für eine andere Schlafstörung wurde therapeutisch eine Verhaltensmodifikation mit Stärkung der physiologisch im Organismus vorhandenen Regulationssysteme für Schlaf und Wachheit umgesetzt. Diese Therapie war erfolgreich. Eine regelmäßige ärztliche Begleitung ist erforderlich, um die Entwicklung weiterer Schlafstörungen im Rahmen der progredienten Demenzerkrankung rechtzeitig zu entdecken. Auch Betreuungspersonen profitieren von der Behandlung von Schlafstörungen Demenzkranker.

Literatur Aurora, R.  N., Zak, R.  S., Maganti, R.  K., Auerbach, S.  H., Casey, K.  R., Chowdhuri, S., et  al. (2010). Best practice guide for the treatment of REM sleep behavior disorder (RBD). Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Official Publication of the American Academy of Sleep Medicine, 6(1), 85–95. Cooke, J. R., Ancoli-Israel, S., Liu, L., Loredo, J. S., Natarajan, L., Palmer, B. S., et al. (2009). Continuous positive airway pressure deepens sleep in patients with Alzheimer’s disease and obstructive sleep apnea. Sleep Medicine, 10(10), 1101–1106. https://doi.org/10.1016/j.sleep.2008.12.016 Frohnhofen, H., & Roffe, C. (2012). Intermittent nocturnal hypoxemia in individuals with dementia: Prevalence and relationship with functional status. Journal of the American Geriatrics Society, 60(10), 1997–1999. https://doi.org/10.1111/j.1532-­5415.2012.04183.x Gitlin, L. N., Kales, H. C., & Lyketsos, C. G. (2012). Nonpharmacologic management of behavioral symptoms in dementia. JAMA, 308(19), 2020–2029. https://doi.org/10.1001/jama.2012.36918 Kripke, D.  F. (2016). Mortality risk of hypnotics: Strengths and limits of evidence. Drug Safety, 39(2), 93–107. https://doi.org/10.1007/s40264-­015-­0362-­0 Lou, J.-S., Dimitrova, D. M., Park, B. S., Johnson, S. C., Eaton, R., Arnold, G., & Nutt, J. G. (2009). Using modafinil to treat fatigue in Parkinson disease: A double-blind, placebo-controlled pilot study. Clinical Neuropharmacology, 32(6), 305–310. https://doi.org/10.1097/WNF.0b013e3181aa916a Lyketsos, C. G., Lindell Veiel, L., Baker, A., & Steele, C. (1999). A randomized, controlled trial of bright light therapy for agitated behaviors in dementia patients residing in long-term care. International Journal of Geriatric Psychiatry, 14(7), 520–525. McCleery, J., Cohen, D. A., & Sharpley, A. L. (2014). Pharmacotherapies for sleep disturbances in Alzheimer’s disease. The Cochrane Database of Systematic Reviews, 3, CD009178. https://doi. org/10.1002/14651858.CD009178.pub2 McCurry, S. M., Logsdon, R. G., Teri, L., Gibbons, L. E., Kukull, W. A., Bowen, J. D., et al. (1999). Characteristics of sleep disturbance in community-dwelling Alzheimer’s disease patients. Journal of Geriatric Psychiatry and Neurology, 12(2), 53–59. McCurry, S. M., LaFazia, D. M., Pike, K. C., Logsdon, R. G., & Teri, L. (2012). Development and evaluation of a sleep education program for older adults with dementia living in adult family homes. The American Journal of Geriatric Psychiatry: Official Journal of the American Association for Geriatric Psychiatry, 20(6), 494–504. https://doi.org/10.1097/JGP.0b013e318248ae79 Ondo, W. G., Fayle, R., Atassi, F., & Jankovic, J. (2005). Modafinil for daytime somnolence in Parkinson’s disease: Double blind, placebo controlled parallel trial. Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry, 76(12), 1636–1639. https://doi.org/10.1136/jnnp.2005.065870 Tewary, S., Cook, N., Pandya, N., & McCurry, S. M. (2018). Pilot test of a six-week group delivery caregiver training program to reduce sleep disturbances among older adults with dementia (Innovative practice). Dementia (London, England), 17(2), 234–243. https://doi.org/10.1177/ 1471301216643191

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Kapitel 15 · Ich kann nachts nicht mehr schlafen und schlafe am Tag – Demenz und Schlaf

Troussière, A.-C., Charley, C. M., Salleron, J., Richard, F., Delbeuck, X., Derambure, P., et al. (2014). Treatment of sleep apnoea syndrome decreases cognitive decline in patients with Alzheimer’s disease. Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry, 85(12), 1405–1408. https://doi. org/10.1136/jnnp-­2013-­307544 Uchida, K., Okamoto, N., Ohara, K., & Morita, Y. (1996). Daily rhythm of serum melatonin in patients with dementia of the degenerate type. Brain Research, 717(1–2), 154–159. https://doi. org/10.1016/0006-­8993(96)00086-­8 Zhang, Y., Zhou, X.-H., Meranus, D. H., Wang, L., & Kukull, W. A. (2016). Benzodiazepine use and cognitive decline in elderly with normal cognition. Alzheimer Disease and Associated Disorders, 30(2), 113–117. https://doi.org/10.1097/WAD.0000000000000099

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Hilft Sauerstoff bei obstruktiver Schlafapnoe? – Rescue-Behandlung bei Intoleranz von CPAP Inhaltsverzeichnis Literatur – 117

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_16

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Kapitel 16 · Hilft Sauerstoff bei obstruktiver Schlafapnoe? – Rescue-Behandlung…

Die obstruktive Schlafapnoe gehört zu den häufigsten Schlafstörungen älterer Menschen. Das Ausmaß der einzelnen Komponenten einer obstruktiven Schlafapnoe kann individuell erheblich schwanken und macht eine individuelle Betrachtung des Einzelfalles erforderlich. Neben der Anzahl der Atemereignisse und der Schlaffragmentation spielt die Apnoeassoziierte Hypoxämie eine erhebliche Rolle. Deren alleiniger Ausgleich durch eine Sauerstoffinsufflation mildert zwar Symptome, gehört aber nicht zu den zugelassenen Behandlungsoptionen der obstruktiven Schlafapnoe.

nnLernziele Komplexe Probleme bei der Behandlung einer obstruktiven Schlafapnoe älterer Menschen kennen Alternative Verfahren zur Linderung der Symptome einer Schlafapnoe im Sinne einer individualisierten Behandlung kennen ► Beispiel

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Die übergewichtige, 68-jährige Patienten stellt sich aufgrund ausgeprägter Schläfrigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisproblemen vor. Diese Symptome bestehen seit vielen Monaten, ohne dass sie dies bisher als Belastung wahrgenommen hatte. Sie habe tagsüber viel geschlafen, zum Teil bis zu acht Stunden. Auch nachts habe sie gut schlafen können, sei aber morgens nicht ausgeschlafen und fit gewesen. Ihrer Tochter sei das nun aufgefallen und sie mache sich große Sorgen. An weiteren Erkrankungen bestehen eine arterielle Hypertonie mit nächtlichen Blutdruckanstiegen (sog. reversed dipping), eine Linksherzhypertrophie, eine Herzinsuffizienz bei erhaltener Ejektionsfraktion (HFpEF), eine Adipositas (BMI 38 kg/m2) sowie ein milder, diätetisch eingestellter Diabetes mellitus. Als Medikation gibt die Patientin Amlodipin, Candesartan und ASS an. Aufgrund der klinischen Angaben vermuten Sie eine schlafbezogene Atmungsstörung. Hinweise für eine Insomnie bestehen nicht und auch Restless Legs werden verneint. Die Epworth-Sleepiness-Scale ergibt einen Wert von 19/24 und die STOP-BANGSkala weist 5/8 Punkte auf. Damit wird die klinische Verdachtsdiagnose einer symptomatischen obstruktiven Schlafapnoe gestützt. Die ambulante Polygraphie zeigt einen Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI) von 31/h und damit eine schwere obstruktive Schlafapnoe. Aufgrund der ausgeprägten Symptomatik und der kardiovaskulären Risikofaktoren arterielle Hypertonie und Diabetes mellitus kann die Schlafapnoe der Baveno-Klasse D zugeordnet werden (Randerath et al., 2021). Damit besteht eine klare Behandlungsindikation. ◄ >>Gerade ältere Menschen, die nicht mehr im Berufsleben stehen und im Alltag keinerlei Verpflichtungen mehr haben, arrangieren sich mit ihrer Schläfrigkeit und akzeptieren diese. Dabei dienen die Schlafphasen am Tage auch dazu, die Monotonie des Alltags zu überwinden. Dieser Aspekt muss insbesondere in der Altersschlafmedizin aktiv angesprochen werden.

115 Hilft Sauerstoff bei obstruktiver Schlafapnoe…

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► Beispiel

In der Polysomnographie wird der polygraphische Befund bestätigt. Die durchschnittliche Sauerstoffsättigung liegt bei 90 %, der Sauerstoffentsättigungsindex (ODI) beträgt 29/h. Die Sauerstoffentsättigungen sind relevant und reichen bis zu einer minimalen Sauerstoffsättigung von 69 %, insbesondere während der REM-Schlaf-Phasen. Die kumulative Hypoxämiezeit mit einer Sauerstoffsättigung von weniger als 90 % (T90) beträgt 136 min (38 %) der Registrierzeit. Die Notwendigkeit einer Behandlung wurde mit der Patientin ausführlich besprochen, auch im Beisein der Tochter. Die Patientin äußerte gleich zu Beginn der Beratung jedoch erhebliche Bedenken gegenüber einer Therapie mit Maskenbeatmung und lehnte nach einer probatorischen Anpassung verschiedener Nasenmasken dieses Therapieverfahren kategorisch ab. ◄

Evaluation Die beabsichtigte Behandlung mit einer PAP-Therapie muss einem Patienten ausführlich erklärt werden. Hilfreich ist es auch, eine Maske tagsüber und auch nachts einmal probeweise zu tragen. Die älteren Patienten, die dies nicht akzeptieren, werden auch eine PAP-Therapie nicht akzeptieren. Die Mehrzahl der Patienten, die die Maske akzeptieren, akzeptieren auch eine spätere PAP-Therapie (Frohnhofen & Mahl, 2007). Als Zweitlinientherapie kann die Verordnung einer Unterkieferprotrusionsschiene diskutiert werden. Eine solche Schiene kann den Schweregrad einer Schlafapnoe zumindest reduzieren, erfordert aber einen ausreichenden Zahnstatus. Da die Patientin eine Ober- und Unterkiefervollprothese trägt, scheidet auch diese Option aus. Die Patientin erhält keine Medikation, die eine Schlafapnoe verstärkt, sodass sich auch hier keine Behandlungsoption ergibt. Pathophysiologisch erscheint es jedoch sinnvoll, therapeutisch zumindest die ausgeprägte nächtliche Hypoxämie infolge der Schlafapnoe auszugleichen. Diese Behandlung verbessert zwar kaum den Apnoe-Hypopnoe-Index oder die Anzahl der nächtlichen Aufwachereignisse (Arousal-Index), gleicht aber die Hypoxämie aus. Eine nächtliche Hypoxämie ist mit zahlreichen – insbesondere kognitiven – Problemen assoziiert (Blackwell et al., 2015).

► Beispiel

Im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit kann eine Sauerstoffbehandlung einer obstruktiven Schlafapnoe nach ausführlicher Aufklärung eingesetzt werden. Jedoch handelt es sich um eine Off-Label-Behandlung, deren Kosten in der Regel nicht von einer Krankenkasse übernommen werden. Auch dies muss dem Patienten erklärt werden. Im Rahmen eines Rescue-Versuchs mit einer Sauerstoffinsufflation auf Basis der Ergebnisse der SOX-Studie (Turnbull et al., 2019) fand sich bei der Patientin eine deutlich bessere Sauerstoffsättigung. Die minimale Sauerstoffsättigung betrug unter der Sauerstoffgabe von 3 Litern pro Minute über eine Nasensonde 87 %, die T90-Zeit sank auf drei Minuten.

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Kapitel 16 · Hilft Sauerstoff bei obstruktiver Schlafapnoe? – Rescue-Behandlung…

In einer nach zwei Wochen Behandlung durchgeführten Langzeitblutdruckmessung konnte unter der nächtlichen Sauerstoffgabe ein nächtliches Dipping ohne relevante nächtliche Blutdruckanstiege gesehen werden. Bei einer ambulanten Verlaufskontrolle nach sechs Monaten berichtet die Tochter der Patientin, dass ihre Mutter insgesamt aufmerksamer und wacher sei. Die Sauerstofftherapie werde gut toleriert. Die Tagesschläfrigkeit bestehe jedoch weiterhin, störe die Mutter aber kaum. ◄

Das charakteristische Merkmal der obstruktiven Schlafapnoe sind wiederholte Atemereignisse während des Schlafes. Diese Atemereignisse manifestieren sich als Reduktion (Hypopnoe) oder Unterbrechung (Apnoe) des Atemgasflusses. Die Ursache der periodischen Behinderung des Atemgasflusses liegt in einer Einengung der oberen Atemwege. Diese Einengung kann einerseits anatomische Ursachen haben. Hierzu zählen Malformationen wie eine ausgeprägte Retrognathie, Fehlbildungen im Kieferbereich oder eine erhebliche Vermehrung des pharyngealen Fettgewebes, zum Beispiel bei massiver Adipositas. Andererseits werden pathophysiologisch wenigstens drei Gruppen von nichtanatomischen Störungen im Bereich der oberen Atemwege und der Atmungsregulation diskutiert. Diese drei Mechanismen sind (Eckert, 2018): 1. Veränderung der Weckschwelle (Arousalschwelle) 2. Zu geringer Tonus der Pharynxmuskulatur im Schlaf 3. Erhöhte Empfindlichkeit der Atemzentren auf eine schon geringfügige Veränderung der Kohlendioxidpartialdrucke im Blut (sog. loop gain)

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Bei Patienten mit einer obstruktiven Schlafapnoe ist davon auszugehen, dass mehrere dieser pathophysiologischen Mechanismen in individuell unterschiedlicher Ausprägung vorliegen. Dies bedeutet auch, dass für eine obstruktive Schlafapnoe, die auf der Basis des Apnoe-Hypopnoe-Index diagnostiziert wurde, pathophysiologisch sehr unterschiedliche Mechanismen verantwortlich sind. Diese Überlegungen waren der Anlass, über eine neue Phänotypisierung der obstruktiven Schlafapnoe nachzudenken (Eckert, 2018). Die jeweilig führenden Pathomechanismen einer obstruktiven Schlafapnoe können im Schlaflabor mit aufwendiger invasiver Untersuchungstechnik präzisiert werden. Noch stellt diese differenzierte Diagnostik keine Routine dar, würde aber den Weg für pathophysiologisch begründete alternative Behandlungsformen der OSA eröffnen. Dieser Weg ist insofern wichtig, da ein erheblicher Teil der älteren Patienten mit obstruktiver Schlafapnoe den bisherigen Gold-Standard einer Überdrucktherapie (PAP) mit seinen Variationen nicht toleriert (Frohnhofen et al., 2009b). Gerade ältere Menschen, Menschen mit einem funktionellen (Frailty) oder kognitiven (Demenz) Handikap und Schlafapnoe würden wahrscheinlich von alternativen Behandlungsverfahren profitieren. Erste – retrospektive – Untersuchungen (Frohnhofen et al., 2009a) und Kasuistiken (Frohnhofen & Roffe, 2012) scheinen dies zu bestätigen. Unter diesem Aspekt werden die Verabreichung von Sauerstoff zum Ausgleich einer Apnoe-assoziierten Hypoxämie (Mehta et al., 2013) und die Gabe von Hypnotika bei obstruktiver Schlafapnoe neu diskutiert (Carter & Eckert, 2021). Noch

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sind diese Therapieverfahren off-label, können aber im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit als Individualentscheidung verordnet werden. Studiendaten zeigen, dass diese Optionen sicher sind, jedoch immer im Schlaflabor und im Verlauf überprüft werden müssen (Carter et al., 2016, 2018, 2020). Fazit Die obstruktive Schlafapnoe sollte behandelt werden, wenn sie Symptome verursacht und/oder mit kardiovaskulären Risikofaktoren assoziiert ist. Der Gold-­ Standard der Behandlung ist nach wie vor die nichtinvasive Überdruckbeatmung mit einem PAP-Verfahren. Eine nicht unerhebliche Anzahl von Patienten kommt aber mit dieser schon von vornherein oder mittelfristig mit dieser Therapie nicht zurecht. Hier gilt es, über alternative Therapieverfahren nachzudenken. Angesichts neuer Entwicklungen mit Phänotypisierung verschiedener Typen der obstruktiven Schlafapnoe ist zu erwarten, dass sich weitere pathophysiologisch begründete Therapieoptionen ergeben werden.

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Kapitel 16 · Hilft Sauerstoff bei obstruktiver Schlafapnoe? – Rescue-Behandlung…

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Das Beatmungsgerät hilft ja gar nicht, was soll ich machen? – Zentrale Schlafapnoe unter einer APAP-Behandlung Inhaltsverzeichnis Literatur – 124

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_17

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Kapitel 17 · Das Beatmungsgerät hilft ja gar nicht, was soll ich machen…

Im Rahmen der Behandlung einer obstruktiven Schlafapnoe kann eine zentrale Komponente der Schlafapnoe demaskiert werden. Dieses als Treatment-emergent central sleep apnea (TESCA) bezeichnete Krankheitsbild sollte als Ursache residualer Symptome erkannt und differenziert behandelt werden. Therapeutisch ist oft ein Wechsel des bisherigen Beatmungsverfahrens erforderlich.

nnLernziele Die Möglichkeit des Auftretens einer zentralen Schlafapnoe unter einer PAP-­ Therapie (Treatment emergent central sleep apnea, TECSA) kennen Die Symptome einer TECSA kennen Das Management bei Auftreten einer TECSA kennen ► Beispiel

Ein 79-jähriger, bisher selbstständiger Patient stellte sich erstmals vor zwei Jahren aufgrund von Abgeschlagenheit, Konzentrationsstörungen und Vergesslichkeit bei Ihnen vor. Seit Jahren bestehen bei ihm eine chronische Herzinsuffizienz im NYHA Stadium II mit echokardiographisch erhaltener linksventrikulärer Ejektionsfraktion (HFpEF), die zu einer mäßigen Druckerhöhung im kleinen Kreislauf geführt hat. Weiterhin leidet er an einer chronisch obstruktiven Ventilationsstörung (COPD) mit Belastungsdyspnoe bei leichter körperlicher Belastung, aber ohne Exazerbationen (GOLD Stadium II B), an einer koronaren Zweigefäßerkrankung, die durch zwei Stents versorgt wurde, einem permanenten Vorhofflimmern, einer arteriellen Hypertonie und einer chronischen Nierenerkrankung mit reduzierter glomerulärer Filtrationsrate und mäßiger Albuminausscheidung (Stadium IIB n. KDIGO). Die Ehefrau des Patienten berichtet, dass neben der Tagesmüdigkeit vor allem der Konzentrationsverlust erheblich sei. Zudem würde ihr Mann häufiger als früher Dinge vergessen. Eine neurologische Vorstellung sei erfolgt, habe jedoch keine Auffälligkeiten ergeben. Bei der Schlafanamnese wird neben Müdigkeit auch lautes nächtliches Schnarchen angegeben. Atempausen werden jedoch verneint. In Verbindung mit einem normalen Körpergewicht ergeben sich auf der STOP-BANG-Skala vier Punkte (Alter, Müdigkeit, Schnarchen, Geschlecht). Damit ist eine weitere Abklärung durch eine ambulante Polygraphie unter dem Aspekt einer obstruktiven Schlafapnoe gerechtfertigt. Die Polygraphie lieferte den in . Abb. 17.1 dargestellten Befund und somit den Verdacht auf eine obstruktive Schlafapnoe. Dieser konnte durch eine anschließend durchgeführte Polysomnographie im Schlaflabor bestätigt und aufgrund eines AHI von 43/h als schwergradig klassifiziert werden. Bei diesem schweren Befund ist unabhängig von der klinischen Symptomatik die Indikation zu einer Behandlung gegeben. Diese erfolgte in Form einer APAP-Therapie, da dieses Verfahren von Seiten der Patienten häufiger akzeptiert wird. Die Kontrollmessung in der ersten Therapienacht zeigt unter der APAP-Therapie einen AHI von 12/h, wobei die noch vorhandenen Atemereignisse zentrale Apnoen sind. Die klinische Symptomatik hat sich gebessert, sodass entschieden wurde, den Patienten mit einem APAP-Gerät zu versorgen.  

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121 Das Beatmungsgerät hilft ja gar nicht, was soll ich machen…

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Beim vereinbarten Kontrolltermin nach drei Monaten berichtete der Patient über eine Besserung seiner Müdigkeit und Konzentrationsstörungen – er komme mit seinem Gerät gut zurecht. Die Kontroll-Polysomnographie unter Anwendung des APAP-Gerätes zeigte jedoch weiterhin Atempausen durch zentrale Apnoen mit einem zentralen Apnoeindex von 16 pro Stunde. Die Zahl der zentralen Atemereignisse hat, verglichen mit dem Befund vor der Einleitung der APAP-Therapie, unter dieser Behandlung zugenommen. ◄

Die hier diagnostizierte Form der schlafbezogenen Atmungsstörungen wird als komplexe Schlafapnoe (CompSAS) oder als Treatment-emergent central sleep apnea (TECSA) bezeichnet (Zhang et al., 2020). Die TECSA/CompSAS ist durch die Persistenz oder das neue Auftreten einer zentralen Schlafapnoe unter der effektiven Behandlung einer obstruktiven Schlafapnoe charakterisiert (Zhang et  al., 2020). Dabei kann eine TECSA/CompSAS unter einer Behandlung mit nCPAP, einer Protrusionsschiene, aber auch nach einer Tracheotomie auftreten (Randerath et al., 2017). Die Angaben zur Häufigkeit einer TECSA/CompSAS schwanken, jedoch wird sie häufiger bei Männern, bei Bestehen einer Herzinsuffizienz oder bei einer Koronarerkrankung angetroffen (Westhoff et  al., 2011). Allerdings gibt es keine verlässlichen Prädiktoren, die anzeigen, bei welchen Patienten mit einer OSA eine TECSA/CompSAS zu erwarten ist (Mulgrew et al., 2010). Etwa 4 % bis 20 % der Patienten entwickeln unter einer PAP-Therapie eine TECSA/CompSAS (Cassel et al., 2011; Lehman et al., 2007). Da eine TECSA/CompSAS mit einer reduzierten Anwendung einer PAP-­ Therapie assoziiert ist, ist es wichtig, an diese Differenzialdiagnose bei Patienten mit einer geringen Anwendungsrate ihrer Geräte zu denken (Liu et al., 2017). Die Diagnose TECSA/CompSAS wird im Schlaflabor gesichert.

..      Abb. 17.1  Polygraphie mit Artefakten. Dargestellt ist in der oberen Hälfte der Abbildung die Nachtübersicht mit den vier Kanälen Atemgasfluss, Schnarchen, Thoraxbewegung, Pulsfrequenz und Sauerstoffsättigung. Die untere Hälfte zeigt einen Ausschnitt mit einer zeitlichen Auflösung von 30 s. Nicht alle Kanäle sind durchgehend gut abgebildet

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Kapitel 17 · Das Beatmungsgerät hilft ja gar nicht, was soll ich machen…

Die Symptome der TECSA/CompSAS sind persistierende Schläfrigkeit am Tage und unerholsamer Schlaf trotz konsequenter Nutzung der PAP-Therapie. Bei einigen Patienten bildet sich die TECSA/CompSAS unter Fortsetzung der PAP-­ Therapie zurück, daher ist es ratsam, bei einer neu im Rahmen der PAP-Einleitung beobachteten TECSA/CompSAS zunächst mehrere Wochen zuzuwarten und den Befund zu kontrollieren. Bei ausgeprägter klinischer Symptomatik sollten jedoch Therapiealternativen angeboten werden. Zu diesen Alternativen gehören andere Beatmungsverfahren wie eine BIPAP-Therapie im kontrolliertem Modus oder eine adaptive Servoventilation (ASV) (Morgenthaler et al., 2007). Eine zentrale Schlafapnoe wird häufiger nach Schlaganfall oder bei einer Herzinsuffizienz beobachtet. Die Behandlung einer zentralen Schlafapnoe richtet sich nach deren Ursache, dem Kohlendioxidpartialdruck und den bestehenden klinischen Symptomen. Immer ist vor der Einleitung einer Therapie eine Untersuchung im Schlaflabor erforderlich, um die verschiedenen Formen der zentralen Schlafapnoe sicher zu differenzieren. Patienten mit Normokapnie und instabiler Kontrolle der Atmung profitieren von einer assistierten Servoventilation (ASV), bei Vorliegen einer Hyperkapnie als Zeichen einer Hypoventilation ist eine nichtinvasive Beatmung indiziert (Baillieul et al., 2019). Allerdings ist die Langzeitprognose dieser Patienten mit oder ohne Beatmungsverfahren wenig untersucht, sodass auch die aktuell akzeptierten Behandlungsalgorithmen in Abhängigkeit von weiterer Evidenz künftig angepasst werden müssen. Beispielhaft sei die SERV-HF-Studie genannt, bei der Patienten mit zentraler Schlafapnoe und einer reduzierten linksventrikulären Funktion (HFrEF) randomisiert eine ASV erhielten. Trotz guter Kontrolle der Atmungsstörung und Besserung der Symptome zeigte die ASV-behandelte Gruppe eine signifikante Übersterblichkeit, sodass diese Verfahren für Patienten mit zentraler Apnoe und HFrEF nicht geeignet ist (Meurice, 2015). Die Genese der TECSA/CompSAS ist nicht endgültig klar. Möglich ist das Neuauftreten dieser Atmungsstörung unter einer eingeleiteten PAP-Therapie, aber auch das Demaskieren einer zentralen Schlafapnoe nach Beseitigung der überlagernden obstruktiven Schlafapnoe durch die PAP-Therapie (Salloum et  al., 2010). Definition

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Die Kennzeichen einer zentralen Schlafapnoe (CSA) sind Atempausen von wenigstens zehn Sekunden Dauer ohne Atemanstrengung mit einer Häufigkeit von fünf oder mehr Ereignissen pro Stunden. Die Diagnose darf gestellt werden, wenn mindestens 50 % der dokumentierten Apnoen zentral sind.

Die Pathophysiologie der primären zentralen Schlafapnoe ist weiterhin nicht geklärt. Sie ist daher nach wie vor eine Ausschlussdiagnose. Die von einer primären zentralen Schlafapnoe betroffenen Patienten sind in der Regel nicht übergewichtig. Die Symptome resultieren aus der Apnoe-assoziierten Schlaffragmentation mit

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Tagesschläfrigkeit und/oder Schlaflosigkeit in der Nacht. Schnarchen wird im Vergleich zur OSA deutlich seltener angegeben. Zu der Gruppe der zentralen Schlafapnoen gehören die primäre zentrale Schlafapnoe und die Cheyne-Stokes-Atmung (CSR). Bei der CSR werden zwei Gruppen unterschieden: eine Gruppe mit Norm- oder Hypokapnie und eine Gruppe mit Hyperkapnie (Bradley et al., 1986). Die erste Gruppe der CSR findet sich bei idiopathischer CSR oder einer TECSA/CompSAS, die zweite Gruppe der CSR bei Patienten mit Substanzmissbrauch, erheblicher Adipositas, neuromuskulären Erkrankungen oder CSR bei Kleinkindern. ► Beispiel

Aufgrund der nach drei Monaten noch fortbestehenden mittelschweren TECSA/CompSAS bestand in Kombination mit der in milderer Form noch bestehenden klinischen Symptomatik die Indikation zum Wechsel des Therapieverfahrens auf eine Überdrucktherapie im ASV-Modus. Diese wurde unter polysomnographischer Kontrolle im Schlaflabor eingeleitet. Unter dieser Therapie sank der AHI auf einen Wert von 2,3 bei weiterhin guter Akzeptanz des Beatmungsverfahrens. Auch die mittlere Sauerstoffsättigung im Schlaf war mit 94 % ohne relevante Entsättigungen stabil. ◄

Behandlung einer TECSA/CompSAS Die Behandlungsindikation bei TECSA/CompSAS wird kontrovers diskutiert. Da einige Autoren von einer Selbstlimitierung ausgehen, ist ein kontrolliertes Zuwarten mit regelmäßiger klinischer und schlafmedizinischer Kontrolle vertretbar (Stanchina et al., 2015). Daher sollte eine einmal eingeleitete PAP-Therapie zunächst so weit wie möglich angepasst und fortgeführt werden (Muza, 2015). Jedoch kann im Einzelfall nie vorhergesagt werden, bei welchem Patienten sich die CSA unter einer PAP-­Therapie zurückbilden wird. Ob eine reduzierte Compliance bei initial nicht guter Erfahrung mit der PAP-Therapie eine Rolle spielt, bleibt spekulativ (Mulgrew et al., 2010). Besteht die CSA unter einer PAP-Therapie fort und leidet der Patient unter den Symptomen, werden alternative Beatmungsverfahren wie BIPAP-ST oder ASV angewendet. Diese Verfahren kombinieren eine PAP-Therapie mit der Verabreichung kontrollierter Atemhübe bei zentraler Apnoe (Mulgrew et al., 2010). Auch wenn die Datenlage noch gering ist, bessern BIPAP und ASV die komplexe Schlafapnoe (Morgenthaler et al., 2007). Eine medikamentöse Behandlung der komplexen Schlafapnoe basiert auf kasuistischen Mitteilungen und ist nicht fest etabliert. Effekte werden berichtet von Acetazolamid (Glidewell et al., 2009), Trazodon (Eckert et al., 2014) oder Eszopiclon (Eckert et al., 2011). Die additive Sauerstoffgabe zu einer PAP-Behandlung reduziert nicht nur die nächtliche Hypoxämie, sondern vermindert auch die Anzahl der zentralen Apnoen (Javaheri et al., 1999). Größere Studien zu dieser Thematik fehlen allerdings noch.

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Kapitel 17 · Das Beatmungsgerät hilft ja gar nicht, was soll ich machen…

Fazit Bei dem multimorbiden Patienten mit symptomatischer Schlafapnoe bestand aufgrund der Risikofaktoren Herzinsuffizienz und männliches Geschlecht eine Prädisposition für das Auftreten einer komplexen Schlafapnoe (TECSA/CompSAS). Die obstruktive Komponente der Schlafapnoe besserte sich unter der initial eingeleiteten PAP-Therapie, eine zentrale Schlafapnoe wurde demaskiert. Da sich diese zentrale Schlafapnoe auch nach der empfohlenen Wartezeit von mehreren Wochen nicht zurückgebildet hatte und klinische Symptome fortbestanden, ergab sich die Indikation zum Wechsel des Beatmungsverfahrens. Dieser Wechsel war erfolgreich. Regelmäßige schlafmedizinische Kontrolluntersuchungen sind geboten.

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Warum soll ich ein PAP-Gerät anwenden, mir fehlt doch nichts – APAP-Einleitung bei obstruktiver Schlafapnoe Inhaltsverzeichnis Literatur – 132

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_18

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Kapitel 18 · Warum soll ich ein PAP-Gerät anwenden, mir fehlt doch nichts…

Eine obstruktive Schlafapnoe sollte auch bei älteren Menschen behandelt werden, wenn Müdigkeit, Schläfrigkeit, Leidensdruck und kardiovaskuläre Risikofaktoren vorliegen. Gerade im höheren Lebensalter weichen die klinischen Bilder der obstruktiven Schlafapnoe nicht selten von den klassischen Zeichen der OSA bei jüngeren Menschen ab. Auch die mit einer obstruktiven Schlafapnoe assoziierte Symptomatik wird von älteren Menschen oft akzeptiert und erst die Veränderung nach Einleitung einer Therapie zeigt den Betroffenen, wie stark die zuvor bestehende Müdigkeit war.

nnLernziele Schlafbezogene Atmungsstörung als einen Faktor im Kontext einer kardialen Erkrankung sehen Die Indikationsstellung zu einer Einleitung differenzierten Beatmungstherapie kennen Einordnung einer auch milden klinischen Symptomatik als Zeichen einer relevanten schlafbezogenen Atmungsstörung durch synoptische Bewertung aller verfügbaren Symptome Notwendigkeit des Nachjustierens einer Nasenmaske im Rahmen einer PAP-­ Therapie erkennen ► Beispiel

Eine 72-jährige, rüstige, normgewichtige Patientin wurde vor zwei Monaten aufgrund eines erstmals aufgetretenen Vorhofflimmerns stationär behandelt. Die weitere kardiologische Abklärung erfolgte leitliniengerecht mit Durchführung einer Langzeit-­EKG-­ Registrierung, einer transthorakalen und transösophagealen Echokardiographie, einer Langzeitblutdruckmessung sowie einer Röntgenaufnahme der Thoraxorgane. Aufgrund pektanginöser Beschwerden bei zügigem Gehen zu ebener Erde und einem unmittelbaren Ansprechen der Angina pectoris auf die Gabe von Nitrospray wurde die Indikation zur Durchführung einer Koronarangiographie gestellt. Eine stenosierende Koronarerkrankung konnte ausgeschlossen werden. Der seit Jahren bestehende und behandelte Bluthochdruck zeigte in der Langzeitblutdruckmessung bei normalen systolischen und diastolischen Durchschnittswerten im Tagesverlauf jedoch eine fehlende Nachtabsenkung des Blutdrucks. Die aktuelle Medikation lautet wie folgt: Eliquis 2,5 mg 1-0-1, Ramipril 5 mg 1-0-1, Amlodipin 10 mg 1-0-0, Torem 5 mg 1-0-0, Bisoprolol 2,5 mg 1-0-0, Pantoprazol 20 mg bei Bedarf. ◄

> Wichtig

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Bei einer Langzeitblutdruckmessung sollten wenigstens 30 verwertbare Messungen erfolgen, damit eine brauchbare Aussage möglich wird. Die gemessenen Blutdruckwerte werden gemittelt. Die Mittelwerte über 24 h sollten bei maximal 130/80 mmHg, die Tagesmittelwerte bei maximal 135/85 mmHg und die nächtlichen Mittelwerte bei maximal 120/70 mmHg liegen. Der Blutdruck sollte in der Nacht auch bei Nicht-­ Hypertonikern um wenigstens 10 % abfallen (Stergiou et al., 2021). Eine fehlende Nachtabsenkung des arteriellen Blutdrucks (sog. non-dipping) ist ein eigenständiger kardiovaskulärer Risikofaktor (Kario et al., 2022). Weiterhin ist

129 Warum soll ich ein PAP-Gerät anwenden, mir fehlt doch…

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ein non-dipping mit zahlreichen weiteren kardiovaskulären Risikofaktoren assoziiert (Chotruangnapa et  al., 2021). Eine häufige Ursache für eine fehlende Nachtabsenkung des arteriellen Blutdrucks ist eine obstruktive Schlafapnoe (Crinion et al., 2021). ► Beispiel

Bei der Schlafanamnese berichtet die Patientin über nächtliches Schnarchen. Dies sei ihr von Familienmitgliedern öfter berichtet worden. Zudem bestehe eine ausgeprägte Tagesmüdigkeit und eine Einschlafneigung bei Monotonie. So würde sie die abendliche Nachrichtensendung nie ganz bis zum Ende ansehen können, da sie regelmäßig dabei einschlafe. Nachts müsse sie mindestens dreimal die Toilette aufsuchen. Gelegentlich wache sie nachts auf und müsse „nach Luft schnappen“. Morgens fühle sie sich zunächst noch sehr müde und komme nach dem Frühstück erst langsam in die Gänge. Beim Spielen mit ihrem Enkel sei sie zuletzt nachmittags auch zwei Mal eingeschlafen. Als schlafmedizinische Standardmessinstrumente verwenden Sie zur weiteren Abklärung die Epworth Sleepiness Scale und die STOP-BANG-Skala. Auf der Epworth Sleepiness Scale werden 8/24 Punkten dokumentiert. Der Grenzwert von mehr als 10 Punkten als Hinweis auf eine relevante Tagesschläfrigkeit wird nicht überschritten. Der STOP-BANG-Fragebogen ergibt 5/8 Punkte (Alter, Müdigkeit, Schnarchen, Atemaussetzer, arterielle Hypertonie) und weist auf eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine obstruktive Schlafapnoe (OSA) hin. ◄

Die obstruktive Schlafapnoe (OSA) ist nach der Insomnie die häufigste organische Schlafstörung weltweit (Benjafield et al., 2019). Auf Basis von epidemiologischen Studien wird angenommen, dass allein in Deutschland etwa 14 Mio. Menschen betroffen sind (Heinzer et al., 2015). Mit dem Alter steigt die Prävalenz der obstruktiven Schlafapnoe. Epidemiologische Studien schätzen den jährlichen Anstieg des Apnoe-Hypopnoe-Index ab einem mittleren Lebensalter auf fast 0,5/Jahr (Bliwise et al., 2010). Gerade im höheren Lebensalter zeigt die obstruktive Schlafapnoe Besonderheiten, die diese Patienten von jüngeren Patienten mit Schlafapnoe unterscheiden. So berichten ältere Menschen seltener von Schnarchen oder Atempausen im Schlaf (Punjabi et al., 2003). Auch ist ein hohes Körpergewicht bei älteren Personen seltener mit einer OSA assoziiert (Romero-Corral et al., 2010). Weiterhin wird Tagesschläfrigkeit im Alter oft als normal akzeptiert. Gerade ältere Menschen mit funktionellen oder kognitiven Einschränkungen erreichen bei der Befragung mit standardisierten Fragebögen wie der Epworth Sleepiness Scale (ESS) oft geringere Werte (Onen et al., 2013). Daher schließt ein normaler Score bei der ESS nie eine symptomatische Schlafapnoe aus. Verglichen mit mittelalten Patienten mit obstruktiver Schlafapnoe zeigen ältere Patienten seltener Übergewicht und seltener einen großen Halsumfang. Zudem geben ältere Personen seltener nächtliches Schnarchen oder Atempausen an. Auch das Geschlechterverhältnis von Männern zu Frauen, welches bei mittelalten ­Patienten mit obstruktiver Schlafapnoe etwa 2:1 beträgt, verschiebt sich im höheren Alter hin zu einer ausgeglichenen Verteilung. Dies bedeutet, dass mit dem Alter auch mehr Frauen von einer obstruktiven Schlafapnoe betroffen sind. Allerdings

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Kapitel 18 · Warum soll ich ein PAP-Gerät anwenden, mir fehlt doch nichts…

zeigen ältere Patienten mit einer obstruktiven Schlafapnoe häufiger eine Nykturie (Oztura et al., 2006), kognitive Einschränkungen (Johnson et al., 2017) oder eine geringere Muskelmasse (Sarkopenie) (Ensrud et al., 2012). Bei älteren Menschen sollte daher auch dann an eine obstruktive Schlafapnoe gedacht werden, wenn klassische klinische Zeichen wie Schläfrigkeit nicht berichtet werden und Übergewicht fehlt. Denn die Behandlung einer obstruktiven Schlafapnoe hat langfristig günstige Effekte. Epidemiologische Studien finden bei älteren Menschen mit unbehandelter Schlafapnoe zum Beispiel eine Verdopplung der Demenzinzidenz (Yaffe et  al., 2014). Bei Demenzkranken verbessert die Behandlung einer obstruktiven Schlafapnoe im Frühstadium die Hirnleistung (Chong et al., 2006). Auch der Zusammenhang zwischen einer unbehandelten obstruktiven Schlafapnoe, einer arteriellen Hypertonie sowie Vorhofflimmern ist belegt (Højager et al., 2022). ► Beispiel

Aufgrund der Anamnese mit Schnarchen, Vorhofflimmern und einem erhöhten STOPBANG-Score wird eine ambulante Untersuchung mittels einer kardiorespiratorischen Polygraphie terminiert. Die Anlage des Gerätes wird der Patientin ausführlich von den medizinischen Fachkräften erklärt. Am Folgetag berichtet die Patientin bei Abgabe des Gerätes, dass sie mit der Anlage zu Hause gut zurechtgekommen sei, jedoch subjektiv nicht so gut schlafen konnte. In der Auswertung zeigte sich ein erhöhter Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI) von 17/h mit einer mittleren Sauerstoffsättigung von 91  % und einer minimalen Sauerstoffsättigung von 78  %. Somit besteht in der Polygraphie ein Hinweis auf eine schlafbezogene Atmungsstörung. Da die Patientin über wenig Schlaf in der Screening-Nacht berichtete und ein erhöhtes kardiovaskuläres Risikoprofil besteht, erfolgt zur Diagnosebestätigung eine Nachtmessung im Schlaflabor. In der hier durchgeführten Polysomnographie zeigt sich formal eine leichtgradige obstruktive Schlafapnoe mit Verstärkung in Rückenlage. Der AHI in der Diagnostiknacht beträgt 12/h, in Rückenlage wird ein schwerer Befund mit 35 Atemaussetzern/ Stunde beschrieben. Die mittlere Sauerstoffsättigung liegt bei 90 %, Die Sauerstoffentsättigungen erreichten einen minimalen Wert 80 %. Aufgrund dieser Befunde wird die Diagnose einer symptomatischen, lageabhängigen obstruktiven Schlafapnoe gestellt. ◄

Evaluation

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Bei der Patientin liegt eine von der Körperlage abhängige schwere, klinisch oligosymptomatische obstruktive Schlafapnoe vor. Die Indikation zu einer Behandlung einer obstruktiven Schlafapnoe ergibt sich aus der klinischen Symptomatik und den vorliegenden kardiovaskulären Risikofaktoren. Die Patient erfüllt die Kriterien der Gruppe D der Baveno-Klassifikation der obstruktiven Schlafapnoe (Randerath et al., 2021).

131 Warum soll ich ein PAP-Gerät anwenden, mir fehlt doch…

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Eine Expertengruppe hat eine neue Klassifikation der obstruktiven S ­ chlafapnoe vorgeschlagen, die neben der Anzahl der Atemereignisse die klinische Symptomatik und die kardiovaskuläre Morbidität berücksichtigt. Diese als Baveno-­ Klassifikation bezeichnete Einteilung schließt alle Patienten mit einem AHI von 15 und mehr Atemereignissen ein. In Abhängigkeit von der klinischen Symptomatik und dem kardiovaskulären Risikoprofil werden dann vier Patientengruppen unterschieden (McNicholas et al., 2018). Patienten ohne kardiovaskuläre Komorbiditäten und ohne klinische Symptomatik werden der Gruppe A zugeordnet. Patienten der Gruppe B zeigen Tagesschläfrigkeit, haben aber keine kardiovaskulären Komorbiditäten, die Patienten der Gruppe C zeigen keine Tagessymptome, sind aber kardiovaskulär erkrankt und die Patienten der Gruppe D sind symptomatisch bei gleichzeitig bestehender kardiovaskulärer Morbidität. Die Expertengruppe sieht eine klare Behandlungsindikation bei den Patienten der Gruppe D und empfiehlt die Behandlung der Schlafapnoe bei den Patienten der Gruppen B und C.  Bei den Patienten der Gruppe A sollen Allgemeinmaßnahmen umgesetzt und regelmäßige Kontrolluntersuchungen erfolgen (Randerath et al., 2021). ► Beispiel

Die Patientin zeigt klinische Symptome mit nicht erholsamem Nachtschlaf und Einschlafneigung am Tage, auch wenn der Score der ESS noch im Normbereich liegt. Wichtig ist hier die synoptische Berücksichtigung aller verfügbaren Angaben. Da das Ausmaß der Schlafapnoe bei der Patientin stark von der Körperlage abhängt, ist eine Therapie mit einer variablen Maskendruckanpassung indiziert. So kann der jeweils ausreichende Maskendruck an den wechselnden Schweregrad der Schlafapnoe automatisch angepasst werden. Eine Übertherapie mit zu hohen Maskendrucken in Seitenlage unterbleibt. Dieses Vorgehen fördert zudem die Therapieadhärenz (Weaver, 2022). Unter einer adaptiven PAP-Therapie ergab die Polysomnographie eine deutliche Rückbildung der obstruktiven Atemereignisse. Der AHI lag unter der Maskenbeatmung bei durchschnittlich 2,4/h (3,5/h in Rückenlage) und die mittlere Sauerstoffsättigung beträgt jetzt 94 %. Relevante Abfälle der Sauerstoffsättigung unter 90 % zeigten sich nicht mehr. Damit wurde der Grenzwert von fünf Atemereignissen pro Stunde deutlich unterschritten. Die Patientin beschreibt jedoch Undichtigkeiten der Nasenmaske, sodass die Maske an den Maskengurten nachjustiert werden musste. ◄ >>Das Nachjustieren der Maskengurte ist häufig erforderlich. Hier ist es wichtig, diese Nachjustierung bei einem liegenden Patienten vorzunehmen. Dabei sollte die Maske zunächst von Hand so aufgelegt werden, dass sie bei dem minimal möglichen Auflagedruck dicht schließt. In dieser Position werden dann die Maskengurte befestigt, ohne den Anpressdruck der Maske wesentlich zu erhöhen. Anschließend führt der Patient liegend Kopfwendemanöver und einen Lagewechsel durch, um zu prüfen, ob die Maske auch bei einer Veränderung der Kopflage noch dicht sitzt. Werden die Gurte zu fest angezogen, führt dies schon nach kurzer Zeit zu einem unangenehmen Druck im Auflagebereich der Maske und kann Druckgeschwüre verursachen.

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Kapitel 18 · Warum soll ich ein PAP-Gerät anwenden, mir fehlt doch nichts…

► Beispiel

In der ambulanten Verlaufskontrolle nach drei Monaten beschreibt die Patientin eine deutliche Besserung ihrer Tagesmüdigkeit. Sie könne sich beim Spielen mit ihren Enkeln deutlich besser konzentrieren und sei nicht mehr eingeschlafen. An die Maske habe sie sich inzwischen gewöhnt und könne abends gut einschlafen. Die Auslesung des Gerätes zeigt eine durchschnittliche nächtliche Nutzung von sieben Stunden mit einem verbleibenden AHI von 1,1 pro Stunde. Durch die erfolgreiche Therapie der OSA hat sich die Lebensqualität der Patientin deutlich verbessert. Zudem berichtet sie, dass die abendliche Ramiprilgabe inzwischen abgesetzt wurde, da sich ihr Blutdruck deutlich gebessert habe. Die Patientin stellt sich weiterhin einmal im Jahr zur ambulanten Therapiekontrolle beim Schlafmediziner vor. ◄

Fazit Eine obstruktive Schlafapnoe sollte auch bei älteren Menschen behandelt werden, wenn Müdigkeit, Schläfrigkeit, Leidensdruck und kardiovaskuläre Risikofaktoren vorliegen. Gerade im höheren Lebensalter weichen die klinischen Bilder der obstruktiven Schlafapnoe nicht selten von den klassischen Zeichen der OSA bei jüngeren Menschen ab. Auch die mit einer obstruktiven Schlafapnoe assoziierte Symptomatik wird von älteren Menschen oft akzeptiert und erst die Veränderung nach Einleitung einer Therapie zeigt den Betroffenen, wie stark die zuvor bestehende Müdigkeit war.

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Ich kann mit der Maske nicht schlafen, die nehme ich nicht mehr – UKPS-Einleitung bei APAP-Intoleranz Inhaltsverzeichnis Literatur – 140

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_19

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Kapitel 19 · Ich kann mit der Maske nicht schlafen, die nehme ich nicht mehr…

Die Behandlung einer obstruktiven Schlafapnoe kann bei älteren Menschen zu einer Herausforderung werden. Insbesondere bei einer klar indizierten Beatmungstherapie mit einem PAP-Verfahren stellen sich immer wieder Probleme ein, wobei die Handhabung der Geräte und die Akzeptanz der Maske die größten Hindernisse einer suffizienten Dauertherapie sind. In diesen Fällen kann zur Reduktion der Krankheitsschwere die Verordnung einer Unterkieferprotrusionsschiene (UKPS) diskutiert werden. Eine regelmäßige schlafmedizinische Nachsorge ist erforderlich.

nnLernziele Erkennen von Anwenderproblemen bei der nCPAP-Therapie einer Schlafapnoe Alternativen zur CPAP-Therapie bei der Behandlung einer obstruktiven Schlafapnoe kennen Den Weg der Verordnung einer Unterkieferprotrusionsschiene kennen ► Beispiel

Eine 82-jährige, leicht übergewichtige Patientin, die sich erstmalig vor drei Jahren bei Ihnen vorgestellt hat, klagt über Einschlafprobleme und ausgeprägte Müdigkeit am Tage. Ihr Ehemann berichtet, dass sie gemeinsam kaum noch soziale Termine wahrnehmen würden, da seine Frau ständig müde sei und oft einschlafe. Außerdem berichtete die Patientin über eine sehr gedrückte Stimmung. An weitere Erkrankungen bestehen Bronchiektasen der Lungen, eine chronische Sinusitis sowie ein AV-Block II° Typ Mobitz. Aufgrund des AV-Blocks erhielt die Patientin vor zwei Jahren ein Zweikammer-Herzschrittmachersystem. Die aktuelle Medikation lautet: ASS 100 1-0-0, Candesartan 16 1-0-0, HCT 12.5 1-0-0, Amlodipin 5 1-0-0, Simvastatin 20 1-0-0. Die schlafmedizinische Abklärung ergibt einen Score von 17/24 bei der Epworth-­ Sleepiness-­ Scale normal  Seit dem 01.10.2021 können Patienten mit obstruktiver Schlafapnoe mit einer Unterkieferprotrusionsschiene zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung behandelt werden, falls eine Überdruckbeatmung nicht erfolgreich durchgeführt werden kann (7 www.­kbv.­de/html/150_53693.­php; Zugriff 08.11.2022). Voraussetzung für das Anpassen einer Unterkieferprotrusionsschiene ist eine ausreichende Bezahnung, wobei wenigstens zwei fest sitzende Zähne pro Kieferquadrant erforderlich sind.  

► Beispiel

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Nach dem Anpassen der Unterkieferprotrusionsschiene durch den Zahnarzt stellt sich die Patientin erneut bei Ihnen vor. Sie berichtet, dass sie die Schiene jede Nacht trage. Das Tragen bereite ihr keine Probleme. Sie habe sich gut daran gewöhnt. Insgesamt fühle sie sich nun leistungsfähiger und weniger müde am Tage. Sie veranlassen nun eine erneute ambulante Polygraphie, um die klinisch schon berichtete Wirksamkeit der Unterkieferprotrusionsschiene zu objektivieren. In dieser polygraphischen Messung unter Anwendung der Unterkieferprotrusionsschiene wurde ein AHI von 8,2/h dokumentiert. Dieser Wert überschreitet den unteren Grenzwert für die Diagnose einer obstruktiven Schlafapnoe von 5 Atemereignissen pro Stunde. Daher wird nun der Vorschub der Schiene um 1,5 mm vergrößert. Die Patientin berichtet bei einem nach einer Woche vereinbarten Termin, dass sie die Schiene weiterhin gut verträgt.

139 Ich kann mit der Maske nicht schlafen, die nehme ich nicht…

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Zwischenzeitlich habe sie sich aufgrund einer Druckstelle im Bereich der Unterlippe zahnärztlich vorgestellt. Hier sei die Schiene nochmals angepasst worden. Anschließend sei die Druckstelle abgeheilt. In einer erneuten ambulanten Polygraphie beträgt der AHI nun 5,3/h und liegt nur minimal über dem Grenzwert zur Diagnose einer Schlafapnoe. Zusammenfassend konnte unter der Zweitlinientherapie ein für die Patientin zufriedenstellendes Ergebnis erzielt werden. ◄

Das Prinzip einer Unterkieferprotrusionsschiene ist die Erweiterung des Hypopharynx durch eine Vorverlagerung der Mandibula (Gagnadoux et al., 2009). Eine Unterkieferprotrusionsschiene ist bei Patienten mit milder bis moderater obstruktiver Schlafapnoe indiziert, die eine Behandlungsindikation haben und eine nCPAP-Therapie ablehnen oder nicht tolerieren (Epstein et al., 2009). Die Schienen sollten idealerweise von einem Zahnarzt mit schlafmedizinischer Expertise angefertigt und angepasst werden. Dabei ist besonders auf eine ausreichende Beweglichkeit im Kiefergelenk zu achten, um hier Beschwerden zu vermeiden. Durch eine Unterkieferprotrusionsschiene lässt sich bei jedem zweiten Patienten mit einer milden oder moderaten Schlafapnoe die Anzahl der Atemereignisse deutlich senken. Allerdings ist die Unterkieferprotrusionsschiene in ihrer Effizienz der nCPAP-Therapie unterlegen (Ramar et al., 2015). Bei Patienten mit schwerer Schlafapnoe und nCPAP-Intoleranz kann eine Unterkieferprotrusionsschiene die Anzahl der Atemereignisse reduzieren, jedoch die Schlafapnoe nicht vollständig beseitigen. Fazit Die Standardbehandlung der obstruktiven Schlafapnoe ist die nCPAP-­Therapie. Hier ist bei symptomatischer oder schwerer Schlafapnoe immer ein Behandlungsversuch indiziert. Wird diese Therapie nicht toleriert, bestehen Alternativen. Eine häufige Alternative ist die Anwendung einer Unterkieferprotrusionsschiene. Voraussetzung für eine erfolgreiche Anwendung der UKPS ist eine ausreichende Bezahnung des Kiefers und eine allenfalls moderate Schlafapnoe mit einem AHI von weniger als 30/h. Bei schwerer obstruktiver Schlafapnoe (AHI > 30/h) lässt sich das Krankheitsbild durch eine UKPS häufig bessern, aber nie ganz beseitigen. Eine UKPS sollte von einem Zahnarzt mit schlafmedizinischer Expertise angefertigt und angepasst werden. Nach der Erstanpassung einer UKPS sind Kontrollmessungen erforderlich. Basierend auf diesen Befunden kann eine Nachjustierung der Schiene durch den Zahnarzt erforderlich werden. Weitere schlafmedizinische Kontrollen einschließlich einer Polygraphie sollten in jährlichen Abständen erfolgen (Schlieper, 2016).

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Kapitel 19 · Ich kann mit der Maske nicht schlafen, die nehme ich nicht mehr…

Literatur Basner, R. C. (2007). Continuous positive airway pressure for obstructive sleep apnea. The New England Journal of Medicine, 356(17), 1751–1758. https://doi.org/10.1056/NEJMct066953 Catcheside, P. G. (2010). Predictors of continuous positive airway pressure adherence. F1000 ­Medicine Reports, 2. https://doi.org/10.3410/M2-­70 Engleman, H. M., & Wild, M. R. (2003). Improving CPAP use by patients with the sleep apnoea/hypopnoea syndrome (SAHS). Sleep Medicine Reviews, 7(1), 81–99. https://doi.org/10.1053/ smrv.2001.0197 Epstein, L. J., Kristo, D., Strollo, P. J., Friedman, N., Malhotra, A., Patil, S. P., et al. (2009). Clinical guideline for the evaluation, management and long-term care of obstructive sleep apnea in adults. Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Official Publication of the American Academy of Sleep Medicine, 5(3), 263–276. Gagnadoux, F., Fleury, B., Vielle, B., Pételle, B., Meslier, N., N'Guyen, X. L., et al. (2009). Titrated mandibular advancement versus positive airway pressure for sleep apnoea. The European Respiratory Journal, 34(4), 914–920. https://doi.org/10.1183/09031936.00148208 Mayer, G., Fietze, I., Fischer, J., Penzel, T., Riemann, D., Rodenbeck, A., et al. (2011). S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Kurzfassung. Springer, (Springer e-books). Nokes, B., Cooper, J., & Cao, M. (2022). Obstructive sleep apnea: Personalizing CPAP alternative therapies to individual physiology. Expert Review of Respiratory Medicine, 16(8), 917–929. https://doi.org/10.1080/17476348.2022.2112669 Ramar, K., Dort, L. C., Katz, S. G., Lettieri, C. J., Harrod, C. G., Thomas, S. M., & Chervin, R. D. (2015). Clinical practice guideline for the treatment of obstructive sleep apnea and snoring with oral appliance therapy: An update for 2015. Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Official Publication of the American Academy of Sleep Medicine, 11(7), 773–827. https://doi.org/10.5664/ jcsm.4858 Schlieper, J. (2016). Unterkieferprotrusionsschienen – So kontrollieren Sie richtig. Zahnärztliche Mitteilungen, 106, 1–5.

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Ich finde keinen Schlaf, das kann doch keine Schlafapnoe sein – COMISA Inhaltsverzeichnis Literatur – 146

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4_20

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Kapitel 20 · Ich finde keinen Schlaf, das kann doch keine Schlafapnoe sein – COMISA

Bei mehr als der Hälfte der älteren Menschen mit obstruktiver Schlafapnoe besteht eine Insomnie. Eine Insomnie schließt daher der Vorliegen auch einer schweren Schlafapnoe nie aus. Diese Krankheitskombination wird als COMISA bezeichnet. Beide Erkrankungen sollten behandelt werden.

nnLernziele Das zeitgleiche Vorliegen von Schlafapnoe und Schlaflosigkeit kennen Die Interaktion beider Krankheitsbilder kennen Therapiekonzepte zu Behandlung der COMISA kennen ► Beispiel

Bei Ihnen stellt sich eine 73-jährige Patientin mit ausgeprägter Tagesmüdigkeit und erheblichen Schwierigkeiten beim Einschlafen vor. Zudem berichtete sie über mehrfaches nächtliches Erwachen mit anschließenden Einschlafzeiten von bis zu einer Stunde. Der Nachtschlaf sei dadurch so quälend, dass sie schon Angst habe, abends ins Bett zu gehen, obwohl sie so müde sei. Diese Symptomatik gehe nun schon mehrere Monate so. Sie habe verschiedene Hausmittel versucht, aber nichts habe geholfen. Bei der Untersuchung zeigt sich eine rüstige und deutlich jünger wirkende, normalgewichtige Patienten. Vor drei Jahren habe sie einen kleinen Schlafanfall erlitten, der jedoch keinerlei Spuren hinterlassen habe. Seither nehme sie ASS 100 einmal täglich, aber keine weitere regelmäßige Medikation. Lediglich bei Gelenkschmerzen nehme sie gelegentlich ein Schmerzmittel. Die schlafmedizinischen Fragebögen ergeben 14 Punkte bei der Epworth-Sleepiness-­ Scale (Normwert Eine Schlafapnoe sollte gerade bei älteren Menschen aufgrund deren Häufigkeit im Alter immer ausgeschlossen werden, bevor Hyponotika verordnet werden.

Übersicht Nach ersten Studienergebnissen scheint aber der duale Orexin-Antagonist Daridorexant auch bei Patienten mit milder bis mittelschwerer Schlafapnoe sicher anwendbar zu sein (Boof et al., 2021). Die Standardbehandlung der obstruktiven Schlafapnoe ist nach wie vor die nichtinvasive Überdruckbeatmung mittels Nasenmaske (Epstein et al., 2009). Diese Behandlung verhindert den Kollaps des Hypopharynx im Schlaf und beseitigt bei ausreichender Nutzung die klinischen Folgen der Schlafapnoe (Weaver et al., 2007). Allerdings erfordert diese Behandlung eine gute Mitarbeit des Patienten, die nicht immer gegeben ist (Weaver & Grunstein, 2008). Patienten mit COMISA unterscheiden sich auch in der Symptomatik von Patienten mit isolierter OSA. Sie zeigen im Vergleich zu Patienten mit OSA ohne Insomnie signifikant häufiger kognitive und psychische Probleme. Auch ist der Anteil der Patienten mit der Einnahme von Hypnotika oder Psychopharmaka signifikant höher (Krakow et al., 2001). Die Angaben zur Häufigkeit der Koinzidenz von OSA und Insomnie schwanken. So reichen die Angaben zur Prävalenz einer Insomnie bei Patienten mit Schlafapnoe von 39 % bis 58 % und 29 % bis 67 % der Patienten mit Insomnie. Sie erfüllen die Minimalkriterien für eine OSA (Luyster et al., 2010). Es ist auch deshalb wichtig, das gleichzeitige Vorliegen von Insomnie und Schlafapnoe zu erkennen, da Patienten

145 Ich finde keinen Schlaf, das kann doch keine Schlafapnoe sein…

mit COMISA nicht nur häufiger regelmäßig Hypnotika einnehmen, sondern auch seltener ihr CPAP-Gerät anwenden, wenn die komorbide Insomnie nicht behandelt wird (Saaresranta et al., 2016). Die Behandlung einer Insomnie bei COMISA bessert sich unter einer Verhaltenstherapie (KVT-I) (Fung et  al., 2016; Sweetman et  al., 2017; Alessi et al., 2021). OSA und Insomnie zeigen überlappende Symptome. Da Fragebögen wie zum Beispiel der ISI sowohl das Schlafvermögen in der Nacht als auch die Tagesbefindlichkeit abfragen, besteht die Gefahr, dass bei OSA-Patienten aufgrund der gestörten Tagesbefindlichkeit zu hohe Insomnie-Scores generiert werden. Daher wurde vorgeschlagen, beim ISI aus den Angaben zum Schlafvermögen und den Angaben zur Tagesbefindlichkeit eigene Subscores zu bilden (Sweetman et al., 2017; Wallace & Wohlgemuth, 2019). Neuere Untersuchungen zeigen aber auch, dass die nichtanatomischen Veränderungen, die zu einer obstruktiven Schlafapnoe prädisponieren, individuell unterschiedlich häufig sind. Zu diesen nichtanatomischen Veränderungen gehören die Absenkung der Arousalschwelle im Schlaf, eine hohe Empfindlichkeit gegenüber schon leichten Anstiegen des Kohlendioxidpatialdruckes (sog. loop gain) und eine nichtausreichende Tonisierung der Rachenmuskulatur im Schlaf. Diese verschiedenen Mechanismen weisen auf die Notwendigkeit einer Individualisierung der Behandlung einer OSA hin (Eckert, 2018). Vor diesem Hintergrund gewinnen bisher kritisch gesehene Therapieverfahren wie die Verordnung von Hypnotika bei niedriger Arousalschwelle trotz OSA oder die Verabreichung von Sauerstoff bei hohem loop gain an Aktualität (Eckert, 2018). Diese therapeutischen Optionen gelten noch als kontraindiziert bei obstruktiver Schlafapnoe, sind aber Gegenstand aktueller Forschung.

Fazit Schlafapnoe und Insomnie treten häufig gemeinsam auf. Beide Schafstörungen müssen erkannt und leitliniengerecht behandelt werden. Da sich die Insomnie oft nicht mit dem Beginn einer PAP-Therapie der Schlafapnoe bessert, sollten beide Schlafstörungen parallel behandelt werden. Zusammenfassend muss aufgrund der Häufigkeit bei Patienten mit obstruktiver Schlafapnoe an eine komorbide Insomnie gedacht werden. Die Abklärung erfolgt durch eine schlafmedizinische Anamnese mit Führen eines Schlaftagebuches. In unklaren Fällen kann eine weitere apparative schlafmedizinische Abklärung mittels Aktographie und Polysomnographie erforderlich sein. Hier kommen insbesondere die Patienten in Frage, die bei diagnostizierter behandelter oder noch nicht behandelter Schlafapnoe zusätzlich über insomnische Beschwerden klagen. In diesen Fällen muss auch die Insomnie zeitgleich behandelt werden, wobei die kognitive Verhaltenstherapie die Behandlung der Wahl ist. Der Einsatz von Hypnotika ist nach dem aktuellen Wissenstand kontraindiziert. Diese Haltung kann sich jedoch in Zukunft ändern und bei Subtypisierung der Schlafapnoe Phänotypen identifizieren, bei denen eine Verordnung von Hypnotika trotz Schlafapnoe möglich wird. Für den Orexinantagonisten Daridorexant konnte in einer randomisierten Studie nachgewiesen werden, dass eine milde bis mittelschwere obstruktive Schlafapnoe durch dieses Präparat nicht negativ beeinflusst wird (Boof et al., 2021).

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Kapitel 20 · Ich finde keinen Schlaf, das kann doch keine Schlafapnoe sein – COMISA

Literatur Alessi, C. A., Fung, C. H., Dzierzewski, J. M., Fiorentino, L., Stepnowsky, C., Tapia, R., Juan, C., et al. (2021). Randomized controlled trial of an integrated approach to treating insomnia and improving the use of positive airway pressure therapy in veterans with comorbid insomnia disorder and obstructive sleep apnea. Sleep, 44(4). https://doi.org/10.1093/sleep/zsaa235 Boof, M.-L., Dingemanse, J., Lederer, K., Fietze, I., & Ufer, M. (2021). Effect of the new dual orexin receptor antagonist daridorexant on nighttime respiratory function and sleep in patients with mild and moderate obstructive sleep apnea. Sleep, 44(6). https://doi.org/10.1093/sleep/zsaa275 Dempsey, J. A., Veasey, S. C., Morgan, B. J., & O’Donnell, C. P. (2010). Pathophysiology of sleep apnea. Physiological Reviews, 90(1), 47–112. https://doi.org/10.1152/physrev.00043.2008 Eckert, D. J. (2018). Phenotypic approaches to obstructive sleep apnoea – New pathways for targeted therapy. Sleep Medicine Reviews, 37, 45–59. https://doi.org/10.1016/j.smrv.2016.12.003 Epstein, L. J., Kristo, D., Strollo, P. J., Friedman, N., Malhotra, A., Patil, S. P., et al. (2009). Clinical guideline for the evaluation, management and long-term care of obstructive sleep apnea in adults. Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Official Publication of the American Academy of Sleep Medicine, 5(3), 263–276. Fung, C.  H., Martin, J.  L., Josephson, K., Fiorentino, L., Dzierzewski, J.  M., Jouldjian, S., et  al. (2016). Efficacy of cognitive behavioral therapy for insomnia in older adults with occult sleep-­ disordered breathing. Psychosomatic Medicine, 78(5), 629–639. https://doi.org/10.1097/ PSY.0000000000000314 Guilleminault, C., Eldridge, F. L., & Dement, W. C. (1973). Insomnia with sleep apnea: A new syndrome. Science (New York, N.Y.), 181(4102), 856–858. https://doi.org/10.1126/science.181.4102.856 Krakow, B., Melendrez, D., Ferreira, E., Clark, J., Warner, T. D., Sisley, B., & Sklar, D. (2001). Prevalence of insomnia symptoms in patients with sleep-disordered breathing. Chest, 120(6), 1923– 1929. https://doi.org/10.1378/chest.120.6.1923 Lichstein, K. L., Riedel, B. W., Lester, K. W., & Aguillard, R. N. (1999). Occult sleep apnea in a recruited sample of older adults with insomnia. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 67(3), 405–410. https://doi.org/10.1037//0022-­006x.67.3.405 Luyster, F. S., Buysse, D. J., & Strollo, P. J. (2010). Comorbid insomnia and obstructive sleep apnea: Challenges for clinical practice and research. Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Official Publication of the American Academy of Sleep Medicine, 6(2), 196–204. Mayer, G., Fietze, I., Fischer, J., Penzel, T., Riemann, D., Rodenbeck, A., et al. (2011). S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen. Kurzfassung. Springer Berlin Heidelberg; Springer e-books. Riemann, D., Baglioni, C., Bassetti, C., Bjorvatn, B., Dolenc Groselj, L., Ellis, J. G., et al. (2017). European guideline for the diagnosis and treatment of insomnia. Journal of Sleep Research, 26(6), 675–700. https://doi.org/10.1111/jsr.12594 ROTE LISTE® 2015 Buchausgabe – Einzelausgabe. (2015). Arzneimittelverzeichnis für Deutschland (einschließlich EU-Zulassungen und bestimmter Medizinprodukte) (1. Aufl. Aufl.). Rote Liste Service GmbH. Saaresranta, T., Hedner, J., Bonsignore, M.  R., Riha, R.  L., McNicholas, W.  T., Penzel, T., et  al. (2016). Clinical phenotypes and comorbidity in European sleep apnoea patients. PLoS One, 11(10), e0163439. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0163439 Sweetman, A., Lack, L., Lambert, S., Gradisar, M., & Harris, J. (2017). Does comorbid obstructive sleep apnea impair the effectiveness of cognitive and behavioral therapy for insomnia? Sleep Medicine, 39, 38–46. Sweetman, A., Lack, L., & Bastien, C. (2019). Co-morbid insomnia and sleep apnea (COMISA): Prevalence, consequences, methodological considerations, and recent randomized controlled trials. Brain Sciences, 9(12). https://doi.org/10.3390/brainsci9120371 Wallace, D. M., & Wohlgemuth, W. K. (2019). Predictors of insomnia severity index profiles in United States veterans with obstructive sleep apnea. Journal of Clinical Sleep Medicine: JCSM: Of-

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Serviceteil Stichwortverzeichnis – 151

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 H. Frohnhofen, Fallbeispiele Schlafstörungen im Alter, https://doi.org/10.1007/978-3-662-60290-4

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A–K

Stichwortverzeichnis A Aktometer 18 Aktometrie  8, 100 Anamnese  12, 33, 44, 100 Antidepressivum 77 Antihistaminikum  26, 76 Antipsychotikum 77 APAP-Therapie  120, 143 Apnoe 116 Apnoe-Hypopnoe-Index (AHI)  94 Arterielle Hypertonie  44 Atemereignis  116, 137 Augmentation 89

B Basisdiagnostik 13 Baveno-Klassifikation 131 Benzodiazepin  76, 110 Bettzeit 6 Blutdruckmessung 59 Bluthochdruck 52

C Chalder Fatigue Scale (CFS)  47 Cheyne-Stokes-Atmung (CSR)  123 Chloralhydrat 78 Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS)  43, 47 Clinical Frailty Scale (CFS)  45 COMISA 144 CompSAS 121

D Delirinzidenz 59 Delirium Risk Assessment Score (DRAS)  60 Delirprävention  58, 64 Delirrisiko  59, 65 Demenz  98, 107 Diagnostik 11 DRAS-Score 65 Durchschlafstörung 22

E Eisenmangel 84 Eisenstoffwechsel 84

Eisentherapie 85 Epworth Sleepiness Scale (ESS)  15, 46, 92 Essener Fragebogen Alter und Schläfrigkeit (EFAS) 17

F Fatigue 5 Fatigue Severity Scale (FSS)  47 Fatigue-Syndrom 43 Fragebogen  14, 33, 100, 108

G Gelenkschmerzen 53 Gesamtschlafzeit 6

H Histamin 26 Homöostatischer Prozess  8 Hypersomnie 5 Hypersomnolenz 5 Hypnotikum  34, 71, 75, 116 Hyponotikum 145 Hypopnoe 116 Hypoxämie 115

I Insomnia Severity Index (ISI)  17, 33 Insomnie 143. Siehe Schlaflosigkeit International Classification of Diseases (ICD) 4 International Restless Legs Study Group Rating Scale (IRLSGRS)  17 International Restless-Legs Severity Scale (IRLS) 83 Irreguläres Schlafmuster  100

K Kognitive Verhaltenstherapie bei Insomnie (KVT-I) 36 Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)  48 Komplexe Schlafapnoe  121 Körperliche Aktivität  37 Krankheitskombination 44

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Stichwortverzeichnis

L

S

Langzeitblutdruckmessung 128 L-Dopa 82 loop gain  145

SARS-CoV-2-Infektion 42 Sauerstoff  145 Sauerstoffbehandlung 115 Schlafapnoe  109, 114 Schlafbezogene Atmungsstörung  128 Schlafeffizienz 6 Schlafhygiene 28 Schlaflatenz 5 Schlaflosigkeit 143 Schlafmuster 100 Schläfrigkeit 4 Schlafstadium 7 Schlafstörung 3 Schlaftagebuch  14, 22, 27 Schlafverhalten 22 Schlaf-Wach-Rhythmus 101 Schmerz  32, 33 SCOPER 18 Selbstmedikation 26 Sleep Disturbance Inventory (SDI)  108 Sleep Regulatory Index (SRI)  100 Stanford Sleepiness Scale (SSS)  16 STOP-BANG 16 STOP-BANG-Skala  16, 23

M Medikation 52 Melatonin  77, 110 Mini-Mental-Status-Test (MMSE)  45 Mirtazapin 75 Müdigkeit 4

N Nächtliche Wachzeit  6, 10 Nasenmaske 131 nCPAP-Therapie 137 Non-REM-Schlaf  8 Normwert 10 Number Needed to Harm (NNH)  35 Number Needed to Treat (NNT)  35

O Obstruktive Schlafapnoe (OSA)  93, 114, 129, 136, 143 Obstruktives Schlafapnoesyndrom (OSAS)  92 Orexin-Antagonist (DORA)  76, 78, 110 Orthostatische Hypotonie  44 Osteoporose 44

T Tagesschläfrigkeit 15 TECSA 121

U P Pallästhesie 44 PAP-Therapie 115 Pflegeheim 70 Physiotherapeutische Behandlung  48 Phytotherapie  71, 76 Pittsburgh Sleep Quality Index (PSQI)  15, 33, 46 Polygraphie  7, 18, 121, 136 Polysomnographie (PSG)  7, 19 Polyurie 44 Post-COVID-Syndrom 43 Prozess C  8 Prozess S  8

R REM-Schlaf   7, 8 Restless-Legs-Syndrom (RLS)  17, 54, 82

Unterkieferprotrusionsschiene (UKPS)  115, 138

V Verhaltenstherapie 109

W Wachzeit  6, 10 WHO-5-Well-Being-Skala 45 Wohnungswechsel 70

Z Zentrale Schlafapnoe (CSA)  122 Zirkadianer Prozess  8 Zolpidem 77 Zopiclon 77