»Fackelträger der Nation«: Elitebildung in den NS-Ordensburgen 9783412212902, 9783412205546

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»Fackelträger der Nation«: Elitebildung in den NS-Ordensburgen
 9783412212902, 9783412205546

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»Fackelträger der Nation« Elitebildung in den NS-Ordensburgen

Internationale Vogelsang-Tage 2009 Dokumentation. Eine Veröffentlichung der vogelsang ip gemeinnützige GmbH

»Fackelträger der Nation« Elitebildung in den NS-Ordensburgen

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Das Bild zeigt Teilnehmer des zweiten Lehrgangs (1937/38), sogenannte »Junker«, auf dem Appellplatz in Vogelsang anlässlich ihrer »Abmusterung« im Juni 1938 (Archiv vogelsang ip, Schleiden)

© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20554-6

Inhalt

117 Vorwort des Herausgebers 119 Die Erschließung von Vogelsang. Wissenschaftlicher Stand, sprachlicher Umgang und historischer Rahmen von Jost Dülffer 120 »Des Führers treueste Soldaten und seiner Idee glühendste Prediger«. Das System der NS-Ordensburgen von Franz Albert Heinen 147 Kontinuitäten und Traditionsbrüche. Die Inkorporation des Weimarer Erziehungswesens in den NS-Staat von Wolfgang Keim 181 Der »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt. Anspruch und Wirklichkeit in den Eliteeinrichtungen des NS-Bildungssystems von Hans-Ulrich Thamer 195 Nackte Helden. Die »Ordensburg Vogelsang« und das Gedächtnis der Bilder von Christina Threuter 120 Geahnte Götterdämmerung. Die »Ordensburg Vogelsang« und ihre Herkunft aus Baukunstgeschichte und Film von Dieter Bartetzko 136 Vogelsang in der Region. Die NS-Ordensburg im Fokus der regionalgeschichtlichen Forschung von Thomas Roth und Stefan Wunsch 199 Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine. Zivilverwalter und der Holocaust in Shitomir von Wendy Lower

Inhalt

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228 Karrierewege ehemaliger NS-Eliteschüler in der Bundesrepublik von Christian Schneider 232 Scham – Abwehr – Verdrängung. Täterorte als Störfälle der deutschen Erinnerungskultur von Freerk Huisken 245 Die Autorinnen und Autoren 249 Abbildungsnachweise

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers

»Ihr seid die Fackelträger der Nation…« Ursprünge, Praxis und Folgen der Elitebildung in den NS-»Ordensburgen« Unter diesem Thema standen die ersten Internationalen Vogelsang-Tage vom 1. bis 3. April 2009 in Vogelsang in der Nordeifel. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben damit – erstmals an diesem Ort selbst – eine fachhistorische Auseinandersetzung über die Funktion, Bedeutung und Wirkung der ehemaligen »Ordensburg Vogelsang« im Zusammenhang mit der Elite-Auslese der NSDAP gestartet. Die ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang ist mit ihrer Ursprungsgeschichte und ihrem baulichen Bestand ein zentraler Ort der Erinnerung an die nationalsozialistische Zeit in Deutschland. Denkmalgeschützte Kernbereiche des rund 100 Hektar großen Geländes werden in den kommenden Jahren unter dem Label »vogelsang ip | Internationaler Platz im Nationalpark Eifel« zu einem Ausstellungs- und Bildungszentrum entwickelt, das seit mehreren Jahren im Aufbau befindliche Bildungsangebot wird kontinuierlich erweitert und profiliert. Die vogelsang ip gemeinnützige GmbH als Träger des »Forum Vogelsang« hat mit der Planung und Veranstaltung der Internationalen Vogelsang-Tage 2009 einen wichtigen Impuls gesetzt, um den Ort und seine NS-Vergangenheit in den wissenschaftlichen Fokus zu nehmen. Die vorliegende Publikation stellt zum einen die Referate und Vorträge der Tagung in gedruckter Form vor und eröffnet damit auch über den Teilnehmerkreis der Fachtagung hinaus neue Erkenntnismöglichkeiten zum Thema. Zum anderen enthält der Band einleitende Gedanken zur Erschließung von Vogelsang im Hinblick auf die Planung und Vorbereitung der zukünftigen Dokumentation seiner NS-Geschichte. Der Dank des Herausgebers geht an die Kooperationspartner der Interna­ tionalen Vogelsang-Tage 2009, die Landeszentrale für politische Bildung NRW und die EuRegionale 2008, an die Förderer Kreis Euskirchen und Ministerium für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen sowie ganz herzlich an die Gesellschaft für Interdisziplinäre Praxis e.V. für die Tagungsvorbereitung und -moderation.

Vorwort

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Autorinnen und Autoren sowie Leitung und MitarbeiterInnen des BöhlauVerlags haben in höchst kooperativer Zusammenarbeit mit dem Herausgeber das Entstehen dieses Buches ermöglicht, wofür auch ihnen ein herzlicher Dank an dieser Stelle gesagt sei. Vogelsang, im Mai 2010

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Vorwort

Albert Moritz, Geschäftsführer

Jost Dülffer

Die Erschließung von Vogelsang Wissenschaftlicher Stand, sprachlicher Umgang und historischer Rahmen

Die NS-Ordensburg Vogelsang ist heute das drittgrößte erhaltene Objekt aus jener Zeit – nach dem Reichsparteitagsgelände Nürnberg und Prora auf Rügen –, aber es wird erst jetzt in jeder Hinsicht erschlossen. Es gibt gute Grundlagen dafür, dass man das Gelände bereits heute sichtbar gemacht hat. Das wird man in einem weiteren Schritt nochmals deutlich verbessern können. Ferner wird es nach den jetzigen Planungen auch eine damit verzahnte, aber spezifische Ausstellung im Westflügel des »Adlerhofs« unter dem Thema »Der neue deutsche Mensch. Erziehung und Formierung in der NS-Zeit 1934–1945« geben. Doch insgesamt stehen noch sehr wichtige und zentrale Forschungen aus. Diese Lage kann naturgemäß nur schrittweise verbessert werden. Ein Grund für die späte Erschließung liegt darin, dass die Nutzung durch die belgischen Streitkräfte erst 2005 zu Ende ging, ein anderer, dass es kein grundständiges Archiv über Bau, Erhaltung und Personal gibt. In dieser Lage haben einige Erziehungshistoriker schon vor längerer Zeit Bedeutendes auch für Vogelsang geleistet. Genannt seien hier nur Harald Scholtz und Gisela Miller-Kipp.1 Von Seiten der Denkmalpflege hat Ruth Schmitz-Ehmke, aber auch Monika Herzog sehr gute Gesamtüberblicke vorgelegt. Sehr verdient gemacht haben sich mit unermüdlicher Erschließung von Quellen aus verstreuten Beständen vor allem Franz Albert Heinen, aber auch Hans-Dieter Arntz sowie Michael Schröders. Von Heinen und Arntz gibt es jeweils mehrere Buchveröffentlichungen unterschiedlichen Zuschnittes und Qualität. Gerade die Verbindung von neuen Quellenfunden und heute fruchtbringenden methodischen Überlegungen steht jedoch noch in den Anfängen. Einen ersten bedeutenden Schritt in diese Richtung leistete eine Bonner Tagung im Oktober 2004. Aus ihr entstand ein Sammelband, den Paul Ciupke und Franz-Josef Jelich im Jahr 2006 unter dem Titel herausgaben: »Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang«.2 Hier trafen sich Fachhistoriker, Spezialisten zu Vogelsang und Gedenkstättenpädagogen zu fruchtbarem und innovativem Austausch. An diese Leistungen knüpft der vorliegende Band an und er soll – so ist es von vogelsang ip geplant – der Auftakt für eine Die Erschließung von Vogelsang

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Serie von weiteren Büchern bilden, welche die »Internationalen Vogelsangtage« der nächsten Jahre dokumentieren sollen. Die diesem Band zugrunde liegende Tagung wurde von Frank Möller und Joachim Weiner im Auftrag von vogelsang ip Anfang April 2009 konzipiert und geleitet. Diese Tagung ließ sich erstmals in Vogelsang selbst abhalten – ein deutliches Zeichen für die fortschreitende Erschließung. Auch diese gut besuchte Konferenz und dieser Band3 bilden einen Markstein der Forschungen zu Vogelsang. Es gibt große Überblicke zu Aspekten der NS-Zeit, insbesondere zum Bildungs- und Erziehungswesen, aber auch neue einordnende Überlegungen zur Architektur- und Baugeschichte. Neue Forschungen zu Detailaspekten, ja gründliche Berichte auf dem Weg zu der dringend erforderlichen Erschließung neuer Quellen schließen sich an. Hierbei geht es sowohl um die letzten noch lebenden Zeitzeugen, um Materialien aus privater Hand ebenso wie um die systematische Suche in vielfältigen regionalen und staatlichen Archiven. Überlegungen zu Grundproblemen der deutschen Erinnerungskultur schließen sich an. Wichtig und so in den bisherigen Forschungen noch zu wenig geleistet sind besonders die Ansätze zur Erforschung der Karrieren von NS-Ordensjunkern im Zweiten Weltkrieg und in der Zeit danach. Das macht es in ganz anderer Weise als bislang möglich, die Auswirkungen von nationalsozialistischer Formierung in Vogelsang zu erkennen, als wenn man nur die Programme und Absichten zur nationalsozialistischen Erziehung liest. Dieser Band bietet keine abschließenden Erkenntnisse, er strebt auch keine Geschlossenheit von insgesamt neu formulierten Sichtweisen oder Thesen an. Wie die voran gegangene Tagung ist er aber ein wichtiger Schritt zu einer umfassenden wissenschaftlichen Erforschung von Vogelsang. Das geschieht aus vielen unterschiedlichen Perspektiven und zeugt von einem wechselseitigen Dialog mehrerer Disziplinen. Dieser Dialog fand in der Tagung statt, aber dieser Band bietet nun an, dass er in den verschiedenen Wissenschaften genutzt wird. Nicht zuletzt der politischen Bildung in und um Vogelsang kann er wichtige neue Anregungen geben, die auch weit darüber hinaus genutzt werden können. Die Forschungen müssen weiter gehen. Es liegt noch vieles an Erkenntnissen zu Vogelsang im Dunklen. Insbesondere die Erforschung der Lebensläufe von NS-Ordensjunkern (und Adolf-Hitler-Schülern) verspricht wichtige Erkenntnisse.

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Zur Terminologie und zum sprachlichen Umgang: Die NS-Ordensburg Vogelsang Die Eifel östlich der belgisch-niederländischen Grenze war in den 1930er Jahren ein strukturschwaches, primär land- und forstwirtschaftlich geprägtes Gebiet. Wasserwirtschaftlich interessant war zu dieser Zeit nur die von 1900 bis 1905 gebaute Urfttalsperre, auf die hin von allen Seiten her ein malerischer Blick aus der umliegenden Landschaft möglich war. Robert Ley, im Oberbergischen verwurzelt, war in den 1920er Jahren Gauführer im Gau RheinlandSüd geworden, der auch den Köln-Aachener Raum umfasste. Nach seinem Aufstieg zum Reichsorganisationsleiter der NSDAP 1932, der Funktion, wenn auch nicht der Realität entsprechend, kümmerte er sich u. a. um die Schulung der Partei und der neuen Deutschen Arbeitsfront. Was er sich zunächst als Schulungslager vorstellte – und Vogelsang war hier seine rheinische Basis, in der er sowohl an die Freizeit der Arbeitsfront wie an die Partei dachte –, nahm immer mehr stationären Charakter an. Dazu wurde der Begriff und der Gedanke »Burg« mit neuem Inhalt gefüllt. 1936 führte Robert Ley bereits im Rückblick auf das schon Geleistete Folgendes aus. Es lohnt sich ein ausführlicher Ausschnitt:4 »Ich wollte keine alten Burgen und Schlösser umbauen. Denn ich bin der Überzeugung, dass man diese neue, gewaltige Weltanschauung Adolf Hitlers nicht in alten, modrigen und verstaubten Gebäuden predigen und lehren kann. Genau so neu wie diese weltumstürzenden Gedanken sind, muss auch die Umgebung sein, in der diese Ideen den Menschen verkündet werden. Ebenso durfte aus kleinlichen Gründen nicht gespart werden. Diese Burgen mussten in ihrer Wirkung und Größe den Gedanken entsprechen, die in ihnen verkündet werden. Und zum vierten durften diese Burgen nicht allein groß und gewaltig, neu und zweckmäßig sein, sondern sie mussten auch die Schönheit verkörpern und die Lebensfreude, die der Nationalsozialismus atmet. Mit einem Wort: diese Burgen mussten denjenigen, die in ihnen zu nationalsozialistischen Führern erzogen werden sollen, jeden Tag von neuem ein Sinnbild der Größe und der Würde der nationalsozialistischen Weltanschauung sein.«

Das hatte also mit einer mittelalterlichen Burg nichts zu tun, es war eine Neuerfindung von »Burg« aus dem Geist des Nationalsozialismus. Jedoch bedienten sich die Nationalsozialisten und so auch Ley hier einer Terminologie und Redeweise, die zumindest vorgab, aus einer anderen Zeit zu stammen. Dieser Synkretismus, diese Art, sich aus einer begrifflichen wie konkret architektonischen Formensprache älterer Zeiten in beliebig kombinierbaren Versatzstücken zu bedienen, ist auch sonst für die Mythologie der NS-Zeit charakteristisch. Die Erschließung von Vogelsang

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Der heutige Sprachgebrauch sollte dem jedoch nicht folgen. Im Mittelalter ritt oder schritt man noch zum Besuch »auf« eine Burg. Wenn man den hier dargelegten Zusammenhang erkennt, dann bietet sich ein anderes räumliches Attribut an: man begibt sich »nach Vogelsang«. Den Begriff der »Burg« sollte man zugleich als einen nationalsozialistischen Anspruch meiden oder zumindest in Anführungszeichen setzen. In den dreißiger Jahren wurde die Benutzung der neuen Anlage »Burg« aber zunehmend mit dem Zusatz »Ordensburg« versehen. Im September 1936 gab Reichsamtsleiter Franz Mehnert im genannten »Schulungsbrief« – er hatte mittlerweile eine Auflage von 1,33 Millionen und kostete 15 Pfennig je Exemplar– einen umfassenden Überblick über »Die Organisation der NSDAP«.5 Darin hieß es, sie sei ein »Orden der nationalsozialistischen Weltanschauung, der das Führertum unseres Volkes umfasst« oder anders: »Die NSDAP als Führerorden des deutschen Volkes beherrscht das gesamte öffentliche Leben«. Aus der von Ley verfolgten Perspektive war dies ein Vorrang »seiner« Organisation, der tatsächlich nie Realität wurde. Aber der Begriff eines »Ordens« der (relativ) Wenigen zum Wohle aller lässt sich als NS-spezifische Prägung für den soziologischen Begriff der Elite auffassen. Beim Orden schwang eine Menge erneut historisch angereicherter Konnotationen mit. »Kampf« und »heilige Pflicht« kamen im genannten Artikel vor und so liegt es in der Tat nahe, auch die Nähe zum Deutschen Ritterorden und seiner Ostkolonisation zu erkennen. Die beiden Reliefs von Willy Meller im Eingangsbereich konfrontieren einen mit Schwert ausgestatteten mittelalterlichen Ordensritter mit einem gleichfalls auf einem Pferd sitzenden nackten Mann. Das war die Anspielung auf die Nachfolge des Deutschen Ritterordens, die hier sinnfällig inszeniert wurde. Orden wurde hier mit dem mittelalterlichen Schwert in eine primär militärisch-kämpfende Perspektive gebracht. Als Orden angesprochen waren durch den »Schulungsbrief«, der ja im Umkreis Leys entstand, alle Teile der NSDAP. Das waren potenziell mehrere Millionen, wenn nicht mehr als 10 Millionen Menschen, die kaum wirklich alle eine Elite bilden konnten. Es sei an dieser Stelle nur darauf hingewiesen, dass die im genannten Artikel der NSDAP formal weiter zugeordnete Schutzstaffel, die SS, nach ihrem eigenen Verständnis ebenfalls einen Orden bildete, dass sie sich als die eigentliche Elite fühlte und damit den »Orden unter dem Totenkopf« bilden wollte.6 Aber es lag auch für Ley und die NSDAP nahe, gerade die Nachwuchsförderung für diesen »Orden« mit der entsprechenden Schulung zu begleiten. So wurde der publizistisch schon zuvor gelegentlich gebrauchte Begriff »Ordensburg« ab 1936 zunehmend für den laufenden Betrieb der drei Einrichtungen benutzt.7 Die 1938 und 1939 erschienenen »Kameradschaftsblät12

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ter« von Vogelsang hießen demgemäß »Der Orden« und ihr Kommandant Richard Manderbach signierte das Vorwort zur ersten Ausgabe, am fünften Tag der Machtübernahme: »Ordensburg Vogelsang, den 30. Januar 1938«. »Auf der Ordensburg Vogelsang« blieb fortan die gängige nationalsozialistische Ortsbezeichnung. Nach dem Gesagten versteht sich, dass von einer herkömmlichen Ordensburg nur in einer nationalsozialistischen Aufladung die Rede sein kann, indem sie sich gezielt in die angebliche Tradition kämpferischer mittelalterlicher Ostexpansion stellt. Dies war auch hier ein Anspruch, das sei nochmals betont, und keine Realität. Als Folgerung an dieser Stelle gilt also: der Begriff des Ordens im Zusammenhang mit den Nationalsozialisten und zumal mit Vogelsang kann nur indirekt verstanden werden und sollte daher entweder in Anführungszeichen gesetzt werden oder besser: er erhält den Zusatz nationalsozialistisch. Dann weiß man oder fragt sich zumindest danach, was eigentlich gemeint war. Insgesamt spricht einiges dafür, Anführungszeichen in der Geschichte und so auch im Umgang mit der NS-Zeit zwar gelegentlich zu setzen, um Missverständnissen über eine Identifizierung vorzubeugen. Aber dies sollte so sparsam wie möglich geschehen. Man kann nicht die ganze Geschichte in Anführungszeichen setzen und insbesondere die Geschichte der nationalsozialistischen Zeit nicht. Es geht in der Praxis von Geschichtsaneignung immer darum, dass ältere Begriffe mit neuen Inhalten, Symbolen und Konnotationen gefüllt werden, welche die alten gleichsam überschreiben, auslöschen sollen. Sie sollen bisweilen aber auch direkt aus diesen älteren Schichten Würde und Anerkennung in eine jeweilige Gegenwart transportieren. In der NS-Zeit ist gerade die letztere Absicht besonders häufig zu erkennen. Aber so wenig man üblicherweise für die Geschichte von 1871 »das deutsche Kaiserreich« in distanzierende Zeichen setzt, die deutlich machen könnten, dass es nicht das mittelalterliche oder frühneuzeitliche Kaisertum war, ebenso wenig sollte man mit dem zeitlichen Abstand von zwei Generationen von der durch Nationalsozialismus geprägten Zeit alles von daher Stammende mit Anführungszeichen benennen. Gewiß, es gibt immer noch Ewiggestrige und neue Rechte, die angeben, genau den nationalsozialistischen Gehalt von Begriffen zu meinen und wieder zu beleben. Aber das kann nicht zu einer durchgängigen Verwendung von Anführungszeichen für eine insgesamt pervertierte Sprache der damaligen Zeit führen, damit man dem Schreiber keine Identifikation mit dem damaligen Sprachgebrauch nachsagt. Es hat einen guten Grund, die im Gelände und in den Gebäuden von Vogelsang eingesetzten Erklärer nicht »Führer« zu nennen, wie es sonst überall in der Welt für die Erklärer für Reisende der Fall ist (im Englischen heißen sie zumeist »guide« und sicher nicht »leader«) – die spottende AnaDie Erschließung von Vogelsang

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logie wäre zu leicht zu gewärtigen gewesen –, so wenig sollte das Vogelsang von heute und morgen eine verkrampfte Orgie an Distanzierung sein. Sie werden also Referenten genannt. Anders jedoch bei den Gebäuden und den in ihnen Auszubildenden. Spricht man von der NS-Ordensburg Vogelsang, so ist in dieser Prägung alle gewünschte, erforderliche und erklärbare Distanz enthalten. Sie bietet zugleich eine Einladung dazu, sich mit der soeben geschilderten Problematik auseinanderzusetzen: es handelt sich um eine rein aus nationalsozialistischem Geist errichtete Anlage, die den Anspruch erhob, für die eigene Partei, den Orden, den Nachwuchs heranzubilden. Dabei stellte sie sich in die konstruierte mittelalterliche Tradition der Ostkolonisation und die einer mittelalterlichen Burg. Weder »Orden« noch »Burg« kann man daher direkt in unsere Zeit übernehmen. Zugespitzt gilt für Vogelsang: die ganze Anlage wollte sein und war tatsächlich ein sehr spezifisches Remake, ja ein Fake, das letztlich eine Neuerfindung darstellte. Was für den Begriff der Architektur und der Bauten gesagt wurde, gilt genauso für die »Nachwuchsführer« oder »Führeranwärter«, wie sie häufig auch genannt wurden: Sie hießen auch Junker, Ordensjunker. Statt diese Wörter in Anführungszeichen zu setzen, kann man auch sprechen von NS-Ordensjunker, die nach Vogelsang, Krössinsee und Sonthofen kamen, um in einer solchen NS-Ordensburg einen weiteren Schliff für die Praxis ihrer künftigen Tätigkeit zu erhalten. Hier wird vorgeschlagen, genau diese Begriffe zu setzen. Sie sollten in dieser Form einheitlich verwendet werden und somit einen Denkanstoß für die künftige Arbeit um und mit Vogelsang abgeben.

Architektur, Formierung und Krieg »Der neue deutsche Mensch«. Unter dieser Überschrift erschien im »Schulungsbrief« der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront (DAF) im September 1934 ein Beitrag von Otto Gohdes.8 Dieses Heft hatte eine Auflage von 750 000 Exemplaren und alle Schulungsbriefe sollten in der Summe eine Art »Handbuch der nationalsozialistischen Weltanschauung« bilden.9 Jeder Brief ließ sich für zunächst monatlich 10 Pfennig von den Mitgliedern der beiden Organisationen im Abonnement erwerben; er war nicht frei verkäuflich. Der Schulungsbrief stellte also ein, wenn nicht das in illustrierter Form gestaltete Massenmedium für die interne Parteischulung und darüber hinaus dar. Er war außerdem reich mit Fotos, Grafiken und Emblemen versehen, fast wie eine Illustrierte. So konnte er eine zentrale und bis heute noch kaum untersuchte Bedeutung entfalten.

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Otto Gohdes war von 1933 bis zu diesem Zeitpunkt Reichsschulungsleiter der NSDAP, fungierte anschließend als »Leiter des Amtes Ausbildung der P[olitischen] O[rganisation]« der Partei. Ab 1936 wurde er dann Kommandant der NS-Ordensburg Crössinsee in Pommern und blieb dies bis gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Man kann sich darüber streiten, ob das von Gohdes in dem genannten Artikel entwickelte Konzept nur eines von vielen war und wie es zu den Ansätzen anderer NS-Führer und deren Grundideen im Kampf um Einfluss innerhalb des NS-Regimes stand. Eines aber war sicher: in den neuen »Ordensburgen« sollten besondere Menschen ausgebildet werden, das Ziel war es, eine sehr spezifische Elite zu formen, die auf lange Sicht etwas ganz Neues sein sollte: »Diese Parteigenossen bilden nach schweren Eignungsprüfungen das Nachwuchskorps der Politischen Leiter, das neue Führertum Deutschlands«10, hieß es in einem Bildbericht des Illustrierten Beobachters im Sommer 1936. »Ein neuer Mensch auf deutschem Boden,« titelte die gleiche NS-Zeitschrift im Januar 1937.11 Hier ging es in einem Bildbericht insgesamt um vielfältig arbeitende Bevölkerung, eingeschlossen die bewaffnete Macht. Das war ein Anspruch, der auf vielen Ebenen in der NS-Gesellschaft explizit und mehr noch implizit eine der Leitlinien für die Weiterentwicklung der »Volksgemeinschaft« bildete. An dieser Stelle ist nicht über die von Anfang an wohl sehr viel weniger imposante soziale Realität zu handeln, wohl aber darüber, dass die geplante und in Gang gesetzte Erziehung und Formierung des Parteinachwuchses mit dem Beginn des Krieges 1939 abbrach und nie wieder in gleicher Form aufgenommen wurde. War in den Konzepten von Robert Ley, des Reichsschulungsleiters der NSDAP, um 1935 vorgesehen, dass die je 500 Funktionäre ein Jahr auf jeder der drei Schulungsstätten zirkulieren sollten, so wurde tatsächlich kein einziger dieser Zyklen vollständig absolviert. Die Formierung des neuen deutschen Menschen der »Ordensburgen« blieb also in den Anfängen stecken. Auch die bis zum Kriegsbeginn 1939 fertig gestellten Gebäudekomplexe waren nur ein Vorgeschmack dessen, was in den nächsten Jahren – Friedensjahren wohlgemerkt – nochmals potenziert gebaut werden sollte und zu diesem Zeitpunkt zum Teil über die Planungen hinaus bereits materielle Spuren hinterließ. Ein monumentales »Haus des Wissens«, ein Stadion und eine gedeckte Halle in Vogelsang sind die schlagendsten Beispiele dafür. Planten die Nationalsozialisten nun einfach schlecht – oder planten sie gar keinen Krieg? Ersteres war der Fall. Gewalt, Krieg, Expansion waren grundlegende Zielvorstellungen nationalsozialistischer Herrschaft und zumal Adolf Hitlers, die er immer wieder in der Öffentlichkeit verdeckt, intern aber zunehmend klarer vertrat. Gerade in der konkreten Aufrüstung der Wehrmacht zeigte Die Erschließung von Vogelsang

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sich dieser Kriegswille, der die Finanzen des Deutschen Reiches ruinierte, den Arbeitsmarkt von der Massenarbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise leer fegte und bis zu 50-Stunden-Wochen in der Rüstungsindustrie führte und damit der Überlastung der Arbeitskräfte. Erste Berichte über Unruhen wurden intern angefertigt. Die bewaffnete Macht, die 1933 im Heer sieben Divisionen umfasste und dabei kaum Reserven bilden konnte, stieg so stark an, die Zahlen explodierten geradezu, dass im September 1939 102 Divisionen mobil gemacht werden konnten. Das war eine Vergrößerung um das 42fache in sechs Jahren! Keine Frage, Krieg bildete materiell und mental das zentrale Ziel nationalsozialistischer Politik seit 1933. Aber ebenso deutlich und unter Beanspruchung aller Rohstoffe und Arbeitskräfte wurde in einer Bauwut sondergleichen das Reich mit nationalsozialistischen Neuerungen bedacht. Ein Admiral, der Mitte 1938 gerade an einer mehrfachen Beschleunigung des Rüstungstempos für die Marine arbeitete, forderte von seinem Oberbefehlshaber, einen Ausweg aus dem Personalmangel gebe es nur, »wenn dem Führer mit aller Deutlichkeit gesagt wird, dass es unmöglich ist, in der Zeit des beschleunigten Aufbaus der Wehrmacht alle anderen großen Vorhaben gleichzeitig zu erledigen (Werk für Volkswagen, U-Bahn München, Umbau Berlin, Nürnberg, Hamburg, K.d.F.-Bauten, Jugendherbergen usw.).«12 Zu den K.d.F.-Bauten im weiteren Sinn lassen sich auch die NS-Ordensburgen rechnen, für deren Bau Robert Ley als Chef der Deutschen Arbeitsfront das Vermögen der 1933 zerschlagenen und gleichgeschalteten Gewerkschaften einsetzte. Adolf Hitler dürfte wohl kaum direkt über die Beschwerde des Admirals unterrichtet worden sein, jedoch war der Kern einer solchen Diagnose sehr wohl bekannt, er wollte schlichtweg beides: Rüstung und Bauten. Großmannssucht? Mit diesem Vorwurf setzte sich Hitler selbst im Februar 1939 vor der mittleren Militärführung in einer seiner vielen sogenannten Geheimreden auseinander,13 er wolle insgesamt dem deutschen Volk mit einem der potenziell größten »Rassekerne« aller Nationen sein Selbstbewusstsein zurück geben, um daraus folgernd entsprechende Ansprüche umzusetzen. Hitler: »Man wird mir sagen: Ja, sie rüsten doch auf. – Meine Herren, das sieht leider das Volk nicht, weil ich darüber ja nicht ganz offen sprechen kann. Das ist das Verborgene. … Daher, meine Herren, nicht aus Großmannssucht …., sondern es geschieht aus der kältesten Überlegung, dass man nur durch solche gewaltigen Werke einem Volk das Selbstbewusstsein geben kann….. dass sie [die deutsche Nation] ebenbürtig ist jedem anderen Volk der Welt, auch Amerika«.

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Dieses Selbstbewusstsein diente gerade zur Führung eines großen Krieges: das sprach Hitler in der gleichen Rede auch noch aus. Und so bissen sich die Ziele in dieser immer hektischeren Ressourcenmobilisierung bis hin zur Überforderung gegenseitig in den Schwanz: Architektur als nationale mentale Kriegsvorbereitung entzog dem Aufbau der bewaffneten Macht Ressourcen. Bauten, die bis zum Jahr 1950 geplant wurden, setzten den Zustand eines dann bereits siegreich gewonnen Krieges größten Ausmaßes voraus, von dessen erhofften Erfolgen sie dann künden sollten. Zugleich sollten die nationalsozialistischen Bauten zunächst einmal ein Herrenmenschentum hervorbringen und ebenso sollten sie später zu dessen symbolischer Bestätigung dienen. Auch in diesem Prozess spielten die NS-Ordensburgen eine zentrale Rolle. Architektur, Städtebau und andere große Massenprojekte wurden so neben dem personellen und materiellen Ausbau der Wehrmacht zu einem zentralen Element der rassenideologisch gesehenen Mobilisierung und Kriegsvorbereitung und zur langfristigen Umgestaltung der gesamten Gesellschaft. Halten wir also fest: unmittelbare und mittelbare Vorbereitung zum Krieg sollten sich gegenseitig beflügeln, sie führten jedoch zur Konkurrenz um knappe Ressourcen an Rohstoffen. Und: was wir aus den »Friedensjahren« der NS-Zeit an personellen und materiellen Planungen und deren Umsetzung rekonstruieren können, sollte nur ein Vorgeschmack dessen sein, was durch Krieg und nach einem siegreichen Krieg verwirklicht werden sollte. Es gab eine sich stetig steigernde Dynamik innerhalb der deutschen Gesellschaft der dreißiger Jahre. Dazu gehörte auch Vogelsang. Hans Mommsen formulierte diesen Befund kürzlich so:14 »Statt zwischen möglichen Optionen zu entscheiden […], wurden jeweils alle verfolgt, was notwendig zur Überspannung der vorhandenen Ressourcen und letzten Endes zur Kriegsniederlage führen musste.« Damit sind wir wieder beim neuen deutschen Menschen angelangt. Eine der markantesten Großplastiken in Vogelsang von Willy Meller aus dem Jahr 1938 richtete den sogenannten Kultraum auf eine riesige Holzstatue aus: »Der deutsche Mensch«. Dieser Mensch war ein Leitbild für all das, was in dem neuen NS-Prachtbau stattfinden sollte und stattfand. Der Gedanke an einen »neuen Menschen« ist uralt, wenn nicht universal. Fast alle Utopien – U-Topie heißt ja eigentlich »Nicht-Ort« – sind davon getragen, dass an diesen neuen Orten auch andere und damit neue Menschen entstehen sollten. Gerade Ideen von Wiedergeburt und Reinkarnation leben vielfach davon, das aus dem Alten etwas ganz Anderes erwachsen solle. Besonders moderne Ideologien, die in Massengesellschaften entstehen, tendieren dazu, populistisch einen völligen Neuanfang für alle und somit auch neue MenDie Erschließung von Vogelsang

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schen nach dem Erfolg der jeweiligen eigenen Revolution zu versprechen. Kommunistische wie sozialistische, aber vor allem völkische und faschistische Vorstellungen und schließlich auch emanzipatorische Ideen zur Dritten Welt von Fidel Castro bis Pol Pot kennen das Ziel eines neuen Menschen. Wenn einige dieser Utopien darauf abzielten, durch Revolution die Verhältnisse so zu ändern, dass sich neue Menschen entfalten konnten, gingen andere davon aus, dass erst neue Menschen entstehen müssten, die dann auch neue Formen menschlichen Zusammenlebens mit sich bringen würden. Diese Einsicht ist in diesem Zusammenhang deshalb so wichtig, weil mit einer solchen umfassenden Vision auch die konkreten Opfer auf dem Weg zur Utopie, zum neuen Menschen, gerechtfertigt werden können, bis hin zu Massenmord, Krieg und Genozid. Halten wir darüber hinaus zum neuen Menschen fest: In der NS-Zeit gab es eine ganz spezifische Utopie, einen Leitgedanken, der alles weitere durchdringen sollte. Das war die Rede von der Rasse und vom unterschiedlichen Rassenwert der Menschen. Für die Nationalsozialisten war Formierung von Menschen zum Krieg das Mittel zur Erringung von Herrschaft, welche der neue deutsche Mensch dann ausüben sollte.

Anmerkungen 1 2 3

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Bibliografische Daten jeweils im Beitrag von ROTH/WUNSCH in diesem Band. Erschienen in der Reihe: Geschichte und Erwachsenenbildung, 20, im Klartext Verlag Essen. Tagungsbericht von SCHRÖDERS, Michael zu »Ihr seid die Fackelträger der Nation«. Ursprünge, Praxis und Folgen der NS-Elitebildung in den NS-Ordensburgen. 01.04.2009–03.04.2009, in: H-Soz-u-Kult, 23.05.2009, http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2620 . LEY, Robert: Wir alle helfen dem Führer, München 1937, S.  121 (Sperrdruck nicht übernommen). Der Schulungsbrief, September 1936, S. 329–368. So früh schon HÖHNE, Heinz: Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1976. HEINEN, Franz Albert: Zur Ideengeschichte der NS-»Ordensburgen«, unveröff. Ms., Schleiden 2009, S. 13. GOHDES, Otto: Der neue deutsche Mensch. In: Der Schulungsbrief, Jg. 1, Folge 7, 1934, S. 7–9. – Ausführlicher dazu der Beitrag von THAMER in diesem Band; vgl. besonders: KÜENZLEN, Gottfried: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 1994. Ebd., Beihefter zur Werbung. Jost Dülffer

10 Illustrierter Beobachter Folge 20, 1936, S. 757 (Artikel »Sozialismus der Tat«). 11 Ebd., Folge 4, 1937, 28. Januar, S. 98–100. 12 Admiral Witzell am 24. Mai 1938, zit. b. DÜLFFER, Jost: Weimar, Hitler und die Marine. Reichspolitik und Flottenbau 1920–1939, Düsseldorf 1973, S. 473. 13 Rede Hitlers vor den Truppenkommandeuren des Heeres, 10. Februar 1939. Erstmals im Wortlaut gedruckt in: DÜLFFER, Jost/THIES, Jochen/HENKE, Josef: Hitlers Städte. Eine Dokumentation, Köln 1978, S. 289–313, hier S. 297. 14 MOMMSEN, Hans: Martin Broszat und die Erforschung der NS-Zeit. In: FREI, Norbert (Hg.): Martin Broszat, der »Staat Hitlers« und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007, S. 19–30, hier S. 22.

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Franz Albert Heinen

»Des Führers treueste Soldaten und seiner Idee glühendste Prediger« Das System der NS-Ordensburgen

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der beginnenden Durchdringung der staatlichen Stellen mit regimetreuen Akteuren entstand insbesondere in den unteren Ebenen der Parteiorganisation der NSDAP ein akuter Personalmangel, da zahllose staatliche Stellen mit Parteimitgliedern besetzt wurden. Am 16. Juni 1933 forderte Hitler im brandenburgischen Bernau die Partei dazu auf, den dringend gesuchten Nachwuchs für die Politische Leitung zu formen. Daran erinnerte der Diktator 1936: »Als ich damals in Bernau die junge Führerschule von uns besuchte, … sprach ich die Hoffnung aus, dass wir aus Eigenem zu Schulen und Erziehungsstätten kommen würden, die geeignet sein sollten, der Bewegung und damit dem deutschen Volk den Führernachwuchs zu sichern«.1 Das Ziel der Schulung hatte der Diktator bereits am 16. Juli 1933 vorgegeben, als er forderte, »die Millionen Menschen, die innerlich noch nicht zu uns gehören, zu erziehen, zu Soldaten dieses Dritten Reiches, zu Soldaten unserer Weltanschauung.«2 Diese Aufgabe fiel Robert Ley zu, der seit 1932 Stabschef der Reichsorganisationsleitung (ROL) war und seit 1934 als Reichsorganisationsleiter fungierte. Somit war er Personalchef der Partei und für die Ausbildung der hauptamtlichen politischen Mitarbeiter verantwortlich.3 Ab Mitte 1933 entwickelte Ley ein eigenständiges System von Schulungseinrichtungen, das ausschließlich dem Zweck dienen sollte, den Hunger der Partei nach ideologisch im Sinne des Nationalsozialismus geschulten Politischen Leitern zu stillen. Zunächst lag der Schwerpunkt bei der Nachschulung der bereits im aktiven Parteidienst stehenden Mitglieder, die in diversen neu eingerichteten Schulungsstätten ideologisch auf einheitliche Linie gebracht werden sollten. Eine Flut von Anweisungen des Hauptschulungsamtes, zunächst unter Leitung von Otto Gohdes, dann unter Dr. Max Frauendorfer, gefolgt von Friedrich Schmidt und schließlich unter Heinrich Bruhn, weist auf die sprunghafte Entwicklung hin, die die Schulung in den ersten Jahren des Regimes unter sehr unterschiedlicher Regie der vier Reichsschulungsleiter erlebte. Nachdem die Nachschulung der aktiven Amtswalter der NSDAP geregelt erschien, widmete sich das Hauptschulungsamt ab 1935 einem ganz 20

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neuen Themenfeld: Der Erziehung künftiger politischer Funktionäre, die angesichts des Altersquerschnitts der Parteiaktivisten schon bald dringend benötigt würden. Ihnen fehlte das Erlebnis der Kampfzeit, aus der nach Sicht der NS-Führung die Führer durch Auslese und Kampf sozusagen automatisch hervorgegangen seien. Die angebliche Auslesefunktion der Kampfjahre sollte künftig zum Zwecke der Nachwuchsführerschulung künstlich erzeugt werden, mit dem Ziel, dauerhaft Parteisoldaten so zu drillen, wie die Kampfzeit sie ›produziert‹ hätte. Die Entwicklung der Nachwuchsführerschulung vollzog sich sehr sprunghaft und keineswegs linear, bis Ende 1935 als vorerst endgültige Lösung die mehrjährige Erziehung an den im Bau begriffenen neuen NS-Ordensburgen beschlossen war. Ley schaltete und waltete auf dem Feld der Ausbildung der Politischen Leiter nahezu eigenständig. Rosenbergs zaghafte Versuche, sich auf dem Gebiet zumindest im Bereich der Schulung Einfluss zu verschaffen, blieben weitgehend ebenso erfolglos wie diesbezügliche Bemühungen des Erziehungsministers Bernhard Rust. Die Zweckbestimmung der mit enormem Aufwand betriebenen Parteiführer-Erziehung war die dauerhafte Herrschaftssicherung des NS-Regimes, wie Harald Scholtz zutreffend feststellte: »1936 trat nun das Interesse an der Herrschaftssicherung … in den Vordergrund. Die Partei sollte nicht mehr nur mobilisierend umerziehen, sondern jetzt auch stabilisierend kontrollieren.«4 Das von Ley vorgegebene Ziel war somit nichts weniger als die flächendeckende Nazifizierung der Volksgemeinschaft: »Um es klar zu sagen, dieser Kampf um Deutschland ist erst dann beendigt, wenn der letzte anständige Deutsche Nationalsozialist geworden ist und die nationalsozialistische Weltanschauung so im Volk verankert ist, dass für Jahrhunderte und Jahrtausende niemand anders den Anspruch auf die geistige Führung Deutschlands erheben kann als die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei.«5 Aufgabe des Reichsorganisationsleiters war es, die Disziplinierung der Nachwuchsführer zu ›politischen Offizieren‹ zu garantieren, letztlich »Apostel und zugleich Vollstrecker eines politisch durchzusetzenden totalen Herrschaftsanspruchs hervorzubringen«.6 Es ging laut Scholtz darum, dass die Erziehung »bei den Multiplikatoren des Führerwillens nicht auf Einsichten abzielte, sondern auf die Festigung der einmal vollzogenen politischen Bekehrung«.7 Leys »Strategie lief im Grunde darauf hinaus, die NSDAP als Predigerin, Erzieherin und Betreuerin des deutschen Volkes zu betrachten. … Die Partei war somit eine gigantische Propagandaschule und Wohlfahrtsorganisation, die den Deutschen die nationalsozialistische Weltanschauung wie eine Heilslehre predigte, ihnen beibrachte, sich als Volksgemeinschaft anzusehen, und sie ›betreute‹, d. h. ihnen die materielle und psychologische Unterstützung gab, die sie dazu Das System der NS-Ordensburgen

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1 Robert Ley bei einer Ansprache an die Bewerber für den ersten vierjährigen Lehrgang an den Ordensburgen in Berlin. Die dortige Musterung fand vom 26. August bis zum 2. September 1937 statt.

brachte, das Regime zu akzeptieren und schließlich die nationalsozialistischen Wertvorstellungen zu verinnerlichen.«8 Wie erfolgreich diese Beeinflussung war, kann man schriftlichen Hinterlassenschaften der Burgmannschaften entnehmen. Folgende Selbstbekenntnis eines Gemeinschaftsführers von Anfang 1941 mag dafür exemplarisch stehen: »Als politische Soldaten dürfen wir unseren eigentlichen Auftrag nie vergessen. …  Wir wollen nicht zuletzt an unseren Auftrag als Stammführer und Ordensjunker denken, mitzuschaffen und mitzuhelfen an dem Aufbau des großen nationalsozialistischen Führerkorps, das einmal berechtigt ist, das Erbe der alten und verdienten Kämpfer unseres Führers anzutreten. Ein Führerkorps … dessen Angehörige den einzigen Ehrgeiz darin sehen, des Führers treueste Soldaten und seiner Idee glühendste Prediger zu sein.«9

Baugeschichte Zur Vorgeschichte des Baus der »Ordensburgen« lieferte Ley bei unterschiedlichen Gelegenheiten differierende Darstellungen. Die plausibelste Variante stammt aus dem Jahr 1939. Zwei Punkte hätten ihn demnach im Jahr 1933 neben dem Aufbau der Deutschen Arbeitsfront (DAF) besonders inte22

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ressiert: Kraft durch Freude (KdF) und die weltanschauliche Erziehung der Politischen Leiter. Bei der KdF habe er sein spezielles Augenmerk dem Amt »Reisen, Reiten, Wandern und Urlaub« gewidmet, mit dem er gemäß Hitlers Auftrag dafür sorgen sollte, dass die »schaffenden Menschen« genügend Urlaub bekämen. Ley: »So dachte ich daran, für den Urlaub transportable Baracken zu errichten, die man an den schönsten Punkten Deutschlands aufbauen könnte. Gleichzeitig bewegte mich auch die weltanschauliche Schulung der NSDAP außerordentlich, und ich machte mir Gedanken, wie die Schulen für diese Aufgaben aussehen müssen. Ich kam dabei auf die Ordensburgen. Da die Mittel der Partei und der Deutschen Arbeitsfront beschränkt waren, wollte ich erst beide Gedankengänge miteinander verbinden, um die Barackenlager sowohl für ›Kraft durch Freude‹ als auch für die weltanschauliche Schulung zu verwenden.« 10 Entsprechend habe Leys Auftrag an den Architekten der NS-Ordensburgen Vogelsang und Krössinsee,11 Clemens Klotz,12 gelautet. Aus dessen Entwürfen könne man noch den »lagermäßigen Charakter der Ordensburg Krössinsee erkennen«.13 Die Wende, so Leys Rückschau auf das Jahr 1934 weiter, habe schließlich Hermann Giesler14 gebracht: »In diesem Augenblick trat der Parteigenosse Giesler in meinen Gesichtskreis. … Auf einer Tagung der Gauschulungsleiter des Reiches trug ich meine Gedanken über die weltanschauliche Schulung der Politischen Leiter und des Nachwuchses – Gedanken, wie sie sich immer mehr in den Ordensburgen und in den Adolf-Hitler-Schulen verdichteten – vor. Auf der nächsten Tagung der Gauschulungsleiter, auf der ich dieses Thema weiter behandelte, trat nun der Parteigenosse Giesler mit dem ersten Entwurf der Ordensburg Sonthofen auf den Plan. Er brachte ein Holzmodell gleich mit. Ich … war erstaunt und hoch erfreut über die Auffassung und Ausführung der Gieslerschen Arbeit. Ich nahm den Entwurf sofort an. … Ich beauftragte Giesler mit den Vorarbeiten und der Ausführung dieses Werkes. Später wurde aus diesem Entwurf die jetzige Ordensburg Sonthofen.«15 Zuvor hatte Ley bereits den ihm persönlich bekannten Kölner Architekten Clemens Klotz mit der Planung von zwei »Schulungslagern« – noch in typischer Holzbauweise – beauftragt. Klotz erwärmte Ley für die Realisierung des Projektes in der Nordeifel in Sichtweite der westlichen Reichsgrenze.16 Heiner Lichtenstein zitierte später den Architekten der NS-Ordensburgen Vogelsang und Krössinsee mit den Worten: »Ich fuhr also in die Eifel und suchte nach einem passenden Gelände. Dabei gefiel mir eine Höhe, die seit langem Vogelsang heißt, besonders gut, aber die Vermessungen ergaben, dass das Gelände zu klein war. Deshalb haben wir uns für den Nachbarberg entschieden, auf dem die Burg dann auch gebaut wurde. Genannt wurde sie aber nach dem zu kleinen Gelände. Als freier Architekt erhielt ich von der DeutDas System der NS-Ordensburgen

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2 Die Baustelle des als »Gemeinschaftshaus« bezeichneten Hauptgebäudes in Vogelsang im Herbst 1934.

schen Arbeitsfront den Auftrag, die Burg zu bauen.« Klotz äußerte weiter im Lichtenstein-Interview: »Und es dauerte gar nicht lange, da war dieses Gelände in der Eifel zur größten Baustelle im Rheinland geworden.«17 Während der Planungsphase änderte sich für den Architekten der Auftrag laufend. War es zunächst um ein besseres Barackenlager gegangen, das nach der Intervention Gieslers zur »Schulungsburg« mutierte, so firmierten die Anlagen schließlich ab 1935 unter dem Begriff »NS-Ordensburgen«. Das bestätigte Ewald Bender 1939: »Es entstanden (schon mit der von den Ordensburgen abgeleiteten Bezeichnung) einerseits die Reichsschulungsburgen der DAF (Erwitte, Lobeda, Saßnitz auf Rügen), andererseits wurde die Umwandlung der Gauschulen in Gauburgen vorbereitet, auf denen wie bisher die im Amt befindlichen Politischen Leiter jährlich zu ›Reserveübungen‹ versammelt werden sollten. Die wichtigste Aufgabe aber, die Heranbildung eines leistungsfähigen, gefestigten, dauernd einsatzbereiten Führernachwuchses, war auf diesem Wege nicht zu lösen. Dafür waren die vier- bis sechswöchigen Kurse zu kurz, der Lehrplan zu begrenzt, das System zu locker.« Bender führte dazu weiter aus: »Aus solcher Erkenntnis wurde der Schulungsbegriff der Ordensburgen geboren, und im gleichen Augenblick nahmen die in Crössinsee und Vogelsang fertig geplanten und schon in Angriff genommenen Bauanlagen ihre entscheidende, vom Architekten vorgeahnte und ersehnte Wendung zum monumentalen Großbau.« Nun ging es nicht mehr um die Bereitstellung 24

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3 Eine Gruppe von Teilnehmern des zweiten Lehrgangs in Vogelsang ließ sich in Höhe der Unterkünfte vor der Kulisse des Hauptgebäudes ablichten.

»lagermäßiger Unterkunfts- und Verpflegungseinrichtungen« für wenige Wochen Lehrgangsleben. Vielmehr sollten in den Anlagen zunächst 500, dann 1.000 junge Männer »für drei entscheidende Jahre ihres Lebens eine Heimstätte finden«.18 Diese Wandlungen sind bis heute an der Architektur Vogelsangs, aber auch an der Anlage am Krössinsee deutlich ablesbar. Gieslers Entwurf für Sonthofen hingegen war von Anfang an als festes Bauwerk mit dem Anspruch einer Herrschaftsarchitektur angelegt worden und ließ sich daher in einem architektonischen Guss realisieren, während die anderen beiden NS-Ordensburgen bis heute die Planungsbrüche deutlich erkennen lassen. Besonders die Unterkunftsbauten in den Klotzschen Projekten muten an wie Stein gewordene Baracken. Der als scheinbarer Wehrbau – in Wahrheit in der sehr praktischen Funktion eines Wasserhochbehälters – an das Schulungs- und Versorgungsgebäude Vogelsangs gesetzte 42 Meter hohe Vierkantturm war offensichtlich eine nachträgliche Reminiszenz an den veränderten Planungsauftrag.19 Um die als NS-Ordensburgen propagandistisch aufgewerteten Internatsschulen des Robert Ley zu komplettieren, wurde zudem eine vergleichsweise üppige Ausstattung mit Sportanlagen realisiert. Da die DAF formal Bauherrin war, deren Führung Ley 1933 ebenfalls zugefallen war, standen deren schier unermessliche finanzielle Mittel für die drei Großbaustellen bereit. Am 15. März 193420 gab es den offiziell »ersten Das System der NS-Ordensburgen

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4 Als aus der Landschaft geradezu »herauswachsende« Architektur plante Clemens Klotz das Projekt in der Nordeifel am Steilhang oberhalb des Urftstausees.

Spatenstich«, am 15. Dezember des gleichen Jahres ging über den Hauptgebäuden der »Ordensburg« Vogelsang der Richtkranz hoch.21 Innerhalb von nur zwei Jahren war der Bau Vogelsangs im Frühsommer 1936 so weit fertiggestellt, dass der erste Lehrgang stattfinden konnte. Mit einiger Verzögerung folgten die Anlagen in Hinterpommern und im Allgäu. Die Internatsschule zum Drill und Einüben der NS-Weltanschauung in der Eifel entstand im Wesentlichen am steil abfallenden Nordhang von einem Hochplateau zu dem rund 130 Höhenmeter tiefer gelegenen Urftstausee, der bereits ab 1905 bestand. 1936 war die Anlage betriebsbereit: An der oberen Hangabbruchkante befand sich das als Gemeinschaftshaus bezeichnete Schulgebäude mit Hörsaal für 500 Personen sowie ebenso großem Speisesaal. In einem als Anbau errichteten Westflügel entstand in der Folgezeit eine große Bibliothek. Den Südflügel bildete eine bis 1937 errichtete Kantine für die NS-Ordensburg. Der Hang unterhalb war vielfach terrassiert. Unterhalb des Gemeinschaftshauses standen zehn Unterkunftsgebäude für je 40 bis 50 Lehrgangsteilnehmer. Noch weiter abwärts entstand eine Freilichtbühne, bevor schließlich ganz unten die Sportanlagen folgten: Sportplatz, Hallenbad und Turnhalle.22 Das anfänglich dominierende Ziel des ROL beim Bau der »Ordensburgen«, die Herrschaftssicherung durch Funktionärsschulung, wurde ab 1936 zunehmend von weiteren Funktionen überlagert, die den Anlagen multifunk26

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5 Ansichtskarte mit dem Motiv der NS-Ordensburg Sonthofen während der Bauphase.

tionalen Charakter verliehen. »Die Burgen hatten der Selbstdarstellung der Partei vor ihr selber zu dienen, erst sekundär Ausbildungszwecken. … Alwin Seifert23 zufolge sollte ein ›Hauch von übermenschlicher Größe‹ von der Burganlage ausgehen und jene zu ›ritterlichem tun‹ inspirieren, die nach Leys Schilderung von den neuen Herrschaftsaufgaben überfordert waren und hier Rückhalt in einer neu auflebenden Kameraderie suchten.«24 Die Parteiburgen waren Mehrzweckbauten, in denen die NSDAP für Tagungen und andere Massenveranstaltungen geeignete Räume und Versorgungseinrichtungen vorfand. Dazu gab es eine üppige Ausstattung an Sporteinrichtungen. Die Anlagen »dienten einer mittleren Führungsschicht zur Selbstdarstellung, ja, wie eine englische Zeitung treffend bemerkte, zur Selbstanbetung; in zweiter Linie einer zentral zu überwachenden Ausbildung des Nachwuchses.«25 Ley formulierte 1937 eine weitere Aufgabe der Burgen:26 »Wir alten nationalsozialistischen Kämpfer denken oft mit Wehmut und einer unstillbaren Sehnsucht zurück an jenes rauchige, biergeschwängerte Sturmlokal. … Dieses … war unsere eigentliche Heimat geworden, … dort wohnte die Treue! … die Kameradschaft des kleinen, rauchigen Sturmlokals wollte uns nicht mehr aus dem Sinn. Deshalb habe ich diese alljährlichen Zusammenkünfte der alten Kämpfer, der Gauamtsleiter und der Kreisleiter, veranstaltet. Auf der Ordensburg wollen wir als Kameraden einmal im Jahr zusammenkommen, … so ganz unter uns sein wie ehedem. Möge die Ordensburg unsere eigentliche Heimat werden, wie es früher das Sturmlokal gewesen war.«27 Der Architekt der NSOrdensburg Sonthofen, Hermann Giesler,28 führte in seinen Memoiren zwei weitere Beweggründe für den Bau der Ordensburgen an:29 Die Schaffung von Arbeitsplätzen und eines neuen kulturell-ideologischen Mittelpunktes für das Das System der NS-Ordensburgen

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Umland, zu dem die Bevölkerung zu Vorträgen, Musikveranstaltungen usw. kommen sollte.30 Giesler wies den NS-Ordensburgen auch die Funktion eines »politischen Leuchtturms« in der Provinz zu.31 Zunächst waren die NS-Ordensburgen angelegt für 500 Lehrgangsteilnehmer, ab 1936 begann der Ausbau für Lehrgänge mit 1.000 Teilnehmern. Klotz und Giesler planten fortan die monumentale Erweiterung der NS-Ordensburgen zu riesigen Anlagen, deren Zweckbestimmung von dem ursprünglichen Projekt gänzlich losgelöst war. Es ging um die Schaffung von Denkmalarchitektur, die allenfalls für gewaltige Parteiaufmärsche und Tagungen nutzbar gewesen wäre. Einen Zwischenstand für die Baustelle Vogelsang lieferte die Parteipresse im Jahr 1938: Demnach war die Zufahrtsstraße analog der erweiterten Funktion auf zwölf Meter Breite ausgebaut worden. Durch die soeben fertiggestellte neue Wache mit den Posten der SS-Ehrenwache rund 600 Meter südlich des ersten Bauabschnitts auf einem Plateau betrat man nun das Gelände, um dann östlich auf die bereits fertig gestellten Bauten eines Autohofes zu stoßen, dessen Untergeschoss Versorgungseinrichtungen wie Wäscherei und Zeugmeisterei sowie Heizzentrale aufnahm. Die weitere Planung konnte man den Zeichnungen entnehmen: Da waren Projekte erkennbar, die geeignet erschienen, »alle bisher erstellten Bauten der Burg Vogelsang in den Schatten zu stellen. Wir müssen uns daran gewöhnen, die heutige Burganlage nicht mehr als den Kernpunkt des Gesamtbaus anzusehen, weil die kommenden Bauten, an deren Durchführung schon zwölfhundert Volksgenossen aus der Eifel und den benachbarten Kreisen Tag für Tag in mehreren Schichten arbeiten, sie weit überragen werden.«32 Geplant war eine neue Straßenbrücke, die in Höhe der Insel Krummenauel den Urftsee überspannen sollte. Die »ungeheure Größe der Planung« werde erst bei einem weiteren Plan ersichtlich: »Wir erkennen, dass der Burgmittelpunkt verlagert wird vom heutigen Adlerhof auf die Höhe bis zu dem kommenden zweiten Glockenturm, der eine Höhe von 70 Metern erhalten soll. Er wird das ›Haus des Wissens‹ krönen und mit einer Freilicht-Orgel versehen werden, die künftig bei feierlichen Anlässen weit über die Eifellande erklingen soll. (vgl. Abb. 30) Während das ›Haus des Wissens‹ den Mittelpunkt der geistigen Arbeit auf der vergrößerten Ordensburg bilden wird, entsteht nicht weit davon die Stätte der körperlichen Ausbildung, das ›Haus des Sports‹.« Das sollte eine Sportschule werden, »wie sie kaum ein zweites Mal bestehen wird«. Die Arbeiter seien bereits damit befasst, »nicht weniger als 140.000 cbm Fels zu sprengen und das gewonnene Material zu den Sportplätzen zu schaffen, die nicht weit vom ›Haus des Sports‹ terrassenförmig« angelegt werden sollen. Das seien Sportplätze für alle Sportarten im Format von 100 x 100 Metern. Für das Frühjahr erwartete der Autor des Berichtes den 28

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Beginn der »Fundamentierungsarbeiten zum ›Haus des Sports‹, bei denen allein 500 Mann beschäftigt werden sollen«. Zusammen mit einer geplanten Kraftfahrschule des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK), einem Flugplatz und neuen Reitplätzen sowie vor allem mit einem völlig neuen Dorf zur Unterbringung der Burgbediensteten und des Stammpersonals, dem »Dorf Vogelsang«, sei die Planung »so riesenhaft, dass sie nicht nur das Landschaftsbild grundlegend verändert, sondern auch in der Ordensburg Vogelsang das bedeutendste nationalsozialistische Zentrum im westlichen Grenzlande« schaffe.33

6 Das Architektenmodell Vogelsangs zeigt den Planungsstand von Ende 1936. Oberhalb der Hangbebauung zeigt das Modell als bedeutendste Erweiterungsplanung den Bereich »Haus des Wissens«.

Bei der Auswahl des Baumaterials verwendete Architekt Klotz typisches Material der Region: Grauwacke zur Verblendung der Außenmauern, Schiefer für die Dächer und Holz. All dies war allerdings reine Propaganda zur Suggestion von Heimat- und Landschaftsverbundenheit. Zudem war die Architektur in die umgebende Landschaft modelliert, deren Topografie dafür teilweise massiv verändert wurde. Der erste Bauabschnitt war dramaturgisch als Schaubühne in der Naturkulisse des Nordhanges zum Urftsee inszeniert. Die weiteren Planungen – anscheinend unter dem wachsenden Einfluss Speers – bekamen zunehmend beherrschenden Charakter, durchaus in einer Reihe zu sehen mit den anderen großen Denkmalarchitekturen der NS-Zeit. Damit entsprachen sie den architektonischen Vorstellungen Hitlers, die er beispielsweise so darstellte: »Niemals wurden in der deutschen Geschichte größere und edlere Bauwerke geplant, begonnen und ausgeführt als in unserer Zeit.« … Deshalb sollen diese Bauwerke nicht gedacht sein für das Jahr 1940, auch Das System der NS-Ordensburgen

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nicht für das Jahr 2000, sondern sie sollen hineinragen gleich den Domen unserer Vergangenheit in die Jahrtausende der Zukunft.«34 Hitlers Kriegsvorbereitungen, insbesondere der aufwändige Bau des in der Propaganda zum angeblich unüberwindlichen »Westwall« aufgeblasenen Befestigungssystems an der Westgrenze, legten jedoch ab 1938 zunehmend

7 Nationalsozialistische Herrschaftsarchitektur in der Nordeifel: Die Lichtbildmeisterin Loni Saurbier fertigte das Foto etwa 1937 aus der Hangansicht an.

auch die Bautätigkeit an den NS-Ordensburgen lahm. Im Sommer 1942 zogen die letzten Baufirmen von der eingemotteten Baustelle ab. Die NSOrdensburgen blieben Fragment und gescheiterte Utopie größenwahnsinnig gewordener Bauplanungen des NS-Regimes.35 Aber sie entsprachen dem nationalsozialistischen Geschmack: »Wehrhaft, ›vorweltlich‹, stimmungsgeladen.« Die »neue, gewaltige Weltanschauung Adolf Hitlers« sollte dort in Stein ihren angemessenen Ausdruck finden.36 Nach Gerdy Troost verstanden sich die Anlagen als zeitgemäße Anknüpfung an die mittelalterlichen Ordensburgen: »Die Ordensburgen … erheben sich zu weithin sichtbaren Landskronen. Das zyklopische Mauerwerk der hochstrebenden Türme, die Macht und Zucht repräsentierenden Gemeinschaftsbauten lösen die Burg von ihrem einstigen Wehrzweck los und machen ihren heutigen Sinn schaubar: Monumente einer starken, stolzen Haltung, ein Ausdruck unserer lebendigen 30

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Gegenwart zu sein. … Zusammen mit den Bauten in München und Nürnberg bilden sie jene Gruppe von monumentaler Gemeinschaftsarchitektur, die im engsten Sinne ›Bauten des Glaubens‹ sind.«37

Ort der Selbstdarstellung In der Zeit der Lehrgänge von 1936 bis 1939 war der Wandel in der Zweckbestimmung der NS-Ordensburgen bereits deutlich ablesbar. Die Parteiführung nutzte die Anlagen für zahllose große Tagungen oder auch, um in Herrenpositur vor dieser Herrschaftskulisse das eigene Ansehen zu heben. Eine kleine Auswahl von Aufmärschen der Partei mag hier beispielhaft stehen: Tagung aller Kreisleiter am Krössinsee (April 1936),38 Gauamtsleiter in Vogelsang (November 1936)39 mit dem Höhepunkt: »Der Führer spricht«, 800 Kreisobmänner der DAF in Vogelsang,40 Kreisleitertagung einschließlich Hitler-Besuch in Vogelsang im April 1937,41 gefolgt von einer Sondertagung der Gauwarte von KdF (August 1937),42 Tagung sämtlicher Kreisleiter und Gauamtsleiter in Sonthofen einschließlich Ansprache Hitlers am 23. November 1937.43 Hitler verlangte bei seiner Ansprache in Vogelsang im April 1937 »harte und sichere« Funktionäre sowie »absolute Sicherheit« in deren Auftreten. Speziell für den Führernachwuchs gelte als Maßstab der Auslese nicht »abstrakte Geistigkeit«, sondern künstlich getesteter Mut. Der kluge Mann sei feige, die gesamte politische Führung müsse »aus tapferen, persönlich mutigen Männern bestehen.« Was Hildegard von Kotze später zu der Feststellung führte: »Einer abenteuerlichen, aggressiven Politik Gefolgschaft zu leisten, war damit zu einer Frage des physischen Mutes reduziert.«44 An seinen radikalen außenpolitischen Zielen ließ Hitler in Vogelsang zu diesem Zeitpunkt keine Zweifel aufkommen. Ziel seiner Aufrüstung sei es, »das stärkste europäische Volk überhaupt« zu bilden. Am Ende sprach er davon, dass die »Opfer unserer Kameraden« im Ersten Weltkrieg nicht umsonst gewesen seien. Das letzte Kapitel der deutschen Geschichte schreibe er, Hitler. Damit kündigte der Diktator 1937 den Kreisleitern in Vogelsang nichts weniger als den Zweiten Weltkrieg an. Weitere Tagungen waren: Arbeitstagung aller Kreis- und Gauamtsschulungsleiter in Sonthofen,45 dort gefolgt von einer Tagung der Schulungsleiter im Januar 1938,46 diese wiederum gefolgt von einer DAF-Tagung im Februar, Kreisobmänner-Tagung der DAF in Vogelsang (August 1938),47 Tagung der Gau- und Kreisschulungsleiter im Oktober 1938 am Krössinsee48 und Tagung der Kreisleiter und Gauamtsleiter im März 1939 in Sonthofen.49 Es gab weitere große Parteiveranstaltungen, etwa von 500 Ärzten auf Einladung des Das System der NS-Ordensburgen

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8 Besuch Hitlers anlässlich einer Parteitagung in Vogelsang. Das Foto entstand am Eingang von der Vorfahrt zum »Adlerhof«. Von links: Burgkommandant Richard Manderbach, Josef (»Sepp«) Dietrich, Hitler, Gauleiter Josef Grohé (Gau Köln-Aachen) und Robert Ley.

Hauptamts für Volksgesundheit in Vogelsang, auf die hier nicht im Detail eingegangen werden kann.50 Darüber hinaus empfing Ley bei Einzelbesuchen etliche in- und ausländische Besuchergruppen, was regelmäßig zum Anlass für große Aufmärsche und nachfolgende Kameradschaftsabende genommen wurde. Bei den ausländischen Besuchern handelte es sich in der Regel um Vertreter verbündeter Mächte. So kam unter anderem der Präsident der italienischen Industriearbeitergewerkschaft, Tullio Cianetti, am 16. Juni 1938 der rumänische Arbeitsminister Mihail Ralea, im Dezember 1938 folgte ihm der italienische Korporationsminister Lantini, wenige Wochen später, im Januar 1939, erschien der japanische Botschafter Hiroshi Oshima. Göring kam mit großem Gefolge am 8. Juni 1938, um nur einige Besucher zu nennen. Auch die Führung des SS-Oberabschnitts West war regelmäßig in Vogelsang präsent, etwa bei Jahresabschlussappellen.51

Die Lehrgänge Die NS-Ordensburg Krössinsee wurde mit einer feierlich inszenierten Übergabe an Hitler am 24. April 1936 offiziell eröffnet, obwohl die meisten Bauten noch nicht fertig waren, in Vogelsang begann wenige Tage später der erste 32

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9 Luftbildansicht der NS-Ordensburg Krössinsee während des ersten Bauabschnitts. Mehrere Unterkunftsbauten fehlen noch. Im Hintergrund der See, von dem sich der Name des Projektes ableitete.

Lehrgang mit zunächst 550 Teilnehmern. Sonthofen folgte mit längerer Verzögerung am 15. November 1937, allerdings nicht mit den eigentlich vorgesehenen Ordensburg-Lehrgängen, sondern als provisorischer Ausweichsitz für die im April 1937 neu gebildeten Vorschulen der NS-Ordensburgen, den Adolf-Hitler-Schulen.52 Der erste Regellehrgang am Krössinsee begann im Herbst 1937. Zu der Zeit bestand ein noch unvollständiger Führungsapparat an den drei NS-Ordensburgen. An der Spitze stand je ein Kommandant,53 ihm unterstanden drei Bereitschaftsführer, die wiederum den Hundertschafts-, Kameradschafts- und Gemeinschaftsführern vorgesetzt waren, die in der Hierarchie absteigend folgten. Als Lehrpersonal standen fest angestellte Sportlehrer zur Verfügung, meistens mit dem Dienstrang eines Kameradschaftsführers. Für die Fachvorträge sollten vorwiegend Universitätsdozenten herangezogen werden, die ideologisch auf Linie waren, während die politische Schulung durch Parteiführer besorgt werden sollte.54 »Herrschaftspraxis einüben« war letztlich das Ziel von Leys Bemühungen an den NS-Ordensburgen, keinesfalls ging es um das bei Hitler verpönte »Einpumpen bloßen Wissens«. Da Hitler auf dem Standpunkt stand, dass ein Mann frühestens im Alter von 30 Jahren Aufgaben in der politischen Führung übernehmen sollte, orientierte sich Ley bei der Festlegung des Einstiegsalters an dieser Richtschnur.55 Die Erziehung sollte in einem rotierenden Das System der NS-Ordensburgen

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System zunächst jeweils ein Jahr an jeder der drei Ordensburgen stattfinden, beginnend am Krössinsee, dann weiterführend über ein Jahr Vogelsang nach Sonthofen.56 Weitere von Ley festgelegte formale Anforderungen waren der Beleg angeblicher arischer Abstammung, kraftstrotzender Gesundheit sowie der Ableistung von Arbeits- und Wehrdienst. Zudem sollten die Teilnehmer sich in der Parteiarbeit »bewährt« und eine erste Berufsausbildung absolviert haben. Anfangs forderte Ley noch, dass die Lehrgangsteilnehmer verheiratet sein sollten, später ging er von dieser Vorgabe ab, da sie sich als unrealistisch erwiesen hatte. In einer Rede in Sonthofen begründete der Reichsorganisationsleiter am 24. November 1937 seinen Meinungsumschwung und lieferte gleichzeitig vertraulich im Kameradenkreis die Begründung, warum er KdFHotels an allen »Ordensburg« – Standorten bauen wollte.57 Der Grund läge vor allem in der beabsichtigten Beseitigung der »sexuellen Not« der Junker. Ley sagte nach den Aufzeichnungen eines Teilnehmers: »Ich habe dem Führer bei Besprechung der Ordensburgen die Verbindung mit KdF-Hotels vorgeschlagen. Der Führer hat dies zunächst humoristisch aufgefasst, dann aber die tiefe Bedeutung dieser Verbindung anerkannt und diesem Plane in vollem Umfange zugestimmt. Die Junker sollen gerade häufig die Möglichkeit haben, mit Frauen der verschiedensten Kreise zusammenzukommen in fröhlicher Geselligkeit, beim Tanz und abendlicher Unterhaltung. Die Gefahr der Vereinsamung der Junker in sexueller Beziehung soll unter allen Umständen vermieden werden.«58 Dann ging Ley auf die Frage ein, ob die Lehrgangsteilnehmer verheiratet sein sollten: »Ursprünglich stand Dr. Ley auf dem Standpunkt, dass jeder Junker mit 25 Jahren verheiratet sein müsse. Von diesem Prinzip ist man aus praktischen Erwägungen abgegangen. In den drei Jahren, die der Erziehung in der Ordensburg vorausgehen, in dem praktischen Beruf als Lehrling oder Student wird es vielen unmöglich sein, zu heiraten. Den Frauen der verheirateten Junker aber wird Gelegenheit gegeben, häufig mit ihren Männern zusammen zu sein, und zwar wiederum in den geplanten KdFHotels, in denen diese Frauen dann wohnen können. Sollte, so erwähnte Dr. Ley, aus dem Zusammensein zwischen Junkern und KdF-Gästen eine Reihe von ›unehelichen Ordensbürgern‹ entstehen, so sei das auch nicht weiter schlimm.«59 Die »Ordensburgen« sollten also nicht nur als »Burgen der Weltanschauung«, nicht nur als Ersatz für Leys altes »Sturmlokal«, nicht nur als Staatsarchitektur, sondern auch als Orte der erwünschten Reproduktion der Nachwuchsführer gelten. (vgl. Abb. 31) Der Bedarf an möglichst schnell einsetzbaren hauptamtlichen Mitarbeitern in den Gauen war 1936 und 1937 allerdings so drängend geworden, dass Ley die ersten beiden Lehrgänge in Vogelsang als Kurzlehrgänge von nur etwa neunmonatiger Dauer für zunächst je rund 550 Teilnehmer veranstaltete. Die 34

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Männer gingen anschließend beispielsweise als Kreisorganisationsleiter oder als Kreispropagandaleiter in ihre Heimatgaue. Andere übernahmen Funktionen bei den Gliederungen der Partei oder anderen parteinahen Organisationen. Wie oben erwähnt, lief schließlich 1937 am Krössinsee der erste vierjährige Regellehrgang an, dessen Teilnehmer nach einem Jahr in Hinterpommern für das zweite Jahr nach Vogelsang kamen. Parallel begann am Krössinsee der zweite Regellehrgang, der 1939 nach dem Reichsparteitag im September nach Vogelsang wechseln sollte, während der vorherige Lehrgang in der Eifel bereits die Marschpapiere nach Sonthofen in der Tasche hatte. Mit dem Beginn des Krieges endeten diese Kurse jedoch, die Männer gingen zunächst nahezu geschlossen an die Front. In Sonthofen gab es folglich nie einen Lehrgang im Sinne der NS-Ordensburg-Erziehung. Einberufen wurden zunächst überwiegend junge Männer, die bereits vor 1933 Mitglied der NSDAP gewesen waren. Sie brachten die weit verbreiteten nationalistischen Grundüberzeugungen aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ebenso mit wie völkische und rassistische Vorstellungen, die auf einer Linie mit der NS-Führung lagen. Eine demokratiefeindliche Grundhaltung und die strikte Ablehnung des »Bolschewismus« waren selbstverständlich. Eindeutig war es das Ziel, in den NS-Ordensburgen kerngesunde, möglichst athletische Nachwuchsführer heranzuziehen, gemäß einer Forderung Hitlers bei seiner »Geheimrede« in Sonthofen am 23. November 1937 zum Thema der ›politischen Führung‹: »In der früheren Zeit, da musste der Mut von vorneherein schon die Voraussetzung sein, um den Weg zur Partei zu finden … Heute müssen wir nun künstliche Hindernisse einbauen, künstliche Sprunggräben, über die einer nun drüber muss. Da muss er nun zeigen, ob er tapfer ist. Denn wenn er nicht tapfer ist, taugt er für uns nicht.«60 An den NSOrdensburgen standen folglich Sportarten im Vordergrund, die dazu dienen sollten, persönlichen Mut und Entschlusskraft zu stärken, letztlich auch das Selbstbewusstsein der künftigen Parteiführer zu fördern. Zu diesem Zweck entstanden in Vogelsang die erwähnten großzügigen Sportstätten: Schwimmbad, Sportplatz und Sporthalle, dazu ein Flugplatz sowie unter anderem eine zunächst noch externe Reitanlage. Ein geplantes riesiges Stadion wurde nicht mehr realisiert, ebenso wie der Bau eines Burggestüts und weiterer Anlagen. Auch der Tagesablauf spiegelte diese Zielsetzung wider: Alle Nachmittage waren an den »Ordensburgen« dem Sport vorbehalten, der eine permanente Konkurrenzsituation schuf, die wiederum der andauernden Auslese im System der Erziehung der Nachwuchsführer diente. Dauer-Auslese war in Leys System vorgesehen und entsprach der sozialdarwinistischen Einstellung der Parteiführung. Rund zehn Prozent der Lehrgangsteilnehmer schieden jeweils innerhalb Jahresfrist aus. Das System der NS-Ordensburgen

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10 Herrensport: Das Reiten gehörte ebenso zur Vorbereitung des künftigen Parteipersonals wie andere als elitär geltende Sportarten, Fechten oder Fliegen beispielsweise.

Neben der Ertüchtigung des Körpers sah Leys Konzept die Beeinflussung der Lehrgangsteilnehmer durch Vorträge vor, in denen die Inhalte der NSWeltanschauung vertieft werden sollten. Das dominierende Dauerthema bildete neben Geschichte, Kultur oder Philosophie vor allem die NS-Rassenlehre, und es war sicherlich kein Zufall, dass 1939 ein Mann Kommandant der NS-Ordensburg Vogelsang wurde, der 1935 für das Hauptschulungsamt ein Lehrbuch zur NS-Rassenlehre mit verfasst hatte und der als Hauptlehrer für eben dieses Thema in Vogelsang beauftragt war: Hans Dietel.61 Erhaltene Mitschriften der Dietel-Vorträge in Vogelsang sowie ein O-Ton seiner Rassenkunde-Tiraden belegen, dass Dietel sich dabei eng an seinen Text von 1935 hielt. Im Kern vermittelten die Vorträge demokratiefeindliches, völkisches, nationalistisches und rassistisches Gedankengut. Es ging an den NS-Ordensburgen keineswegs darum, wissenschaftlich untermauertes Fachwissen zu vermitteln, sondern darum, die Überzeugung der Lehrgangsteilnehmer in der NS-Weltanschauung so zu stärken, dass sie später zu blindlings funktionierenden Werkzeugen des Regimes würden. Ley zielte letztlich auf die Herzen der Männer statt auf ihre Köpfe.62 Die an den NS-Ordensburgen vermittelte Fiktion von Blut und Rasse fokussierte sich in Vogelsang in einer Ehrenhalle im Turm, die formal der im Nationalsozialismus häufig anzutreffenden Verehrung der 16 beim Putsch in München von der Polizei erschossenen Mit36

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verschwörer Hitlers gewidmet war. Im Mittelpunkt, feierlich wie ein Altar inszeniert, stand eine übermannsgroße Holzplastik, die einen unbekleideten Athleten darstellte. Der Bildhauer Willy Meller gab der Plastik die Bezeichnung »Der deutsche Mensch«. (vgl. Abb. 12, 22) Der hölzerne Koloss stand für das mittelfristig angestrebte rassistische Ziel des Nationalsozialismus, und das war nichts weniger als die Erschaffung eines biologisch völlig neuen deutschen Menschen: »rassisch nordisch«, »arisch« und athletisch. Dies sollte durch rassische Auslese bewirkt werden: Durch die Förderung des Teils der »Volksgemeinschaft«, der als »germanisch« eingestuft wurde einerseits, und andererseits durch das scharfe Ausscheiden der restlichen Einwohner im deutschen Herrschaftsbereich, die nicht den Kriterien der »völkischen Utopie« entsprachen. Neben rassenideologisch bestimmten Vorträgen befassten sich weitere Reden beispielsweise mit Geschichte, aber auch mit Außenpolitik, Wirtschaft und vielen anderen Aspekten. Doch auch diese Themen wurden durch die NS-Rassenlehre überlagert. So war Geschichte nun im Kern germanische Geschichte und wurde bei Bedarf zurechtgebogen. Die Außenpolitik war auf militärisch gestützte gewaltsame Expansion ausgelegt, letztlich mit dem Ziel, den deutschen Herrschaftsbereich ins östliche Europa auszuweiten. Oder anders ausgedrückt: »Die Welt als Aufgabe und Beute.«63 Entwürfe für Lehrpläne und Leys Forderungen blieben allerdings eher die theoretische Seite der tatsächlich geübten Praxis an den NS-Ordensburgen. Die Lehrgänge wurden vielfach unterbrochen, beispielsweise für Informations- und Propagandafahrten, aber auch für teils monatelange aktive politische Einsätze in den Heimatgauen. Letzteres sollte dazu dienen, die Verbindung zwischen den scheinbar elitär erzogenen Ordensjunkern und der Volksgemeinschaft lebendig zu halten. Gleichzeitig wurde so teilweise der weiterhin bestehende Personalbedarf im NSDAP-Apparat gedeckt. Kritik an Leys System der Erziehung politischer Nachwuchsführer wurde vielfach selbst intern geäußert. Bereits vor Beginn des ersten Vogelsanger Lehrgangs kritisierte der Gauleiter von Köln-Aachen, Josef Grohé, die vorgesehenen Aufnahmekriterien an den NS-Ordensburgen scharf.64 Bei der Bewertung der »rassischen Eigenschaften« sollte man sich nach Grohés Ansicht nicht ausschließlich auf körperliche Merkmale verlassen. Wenn man sich unter den führenden Parteigenossen umsehe, habe man die Bestätigung dafür, dass »heroische Haltung« und »nordische Gesinnung« nicht mit »dem Centimetermaß« [sic!] ermessen werden könne. Die Befähigung zum Ausbilden der Menschen habe nicht zur Voraussetzung, dass jemand keine Brille benötige oder dass er mit dem Fallschirm abgesprungen sei. Und im Hinblick auf die maßlos übertriebenen körperlichen Anforderungen meinte Das System der NS-Ordensburgen

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Grohé, dass die NS-Ordensburgen nicht »Konkurrenzunternehmen zu den Formationen der Wehrmacht« werden sollten. An den NS-Ordensburgen müsse vielmehr das Schwergewicht auf der »weltanschaulichen Schulung« liegen. 1939 griff auch der Kölner Gauschulungsleiter Julius Kölker die Kritik nach einem Besuch in Vogelsang auf.65 Er kritisierte die vorgefundene »Dünkelhaftigkeit« der Burgmannschaften und den »Höhenfimmel«, der den Männern anerzogen worden sei. Der praktischen Arbeit müsse an den NSOrdensburgen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Einsamkeit der NS-Ordensburgen beinhalte die Gefahr, dass »das Erziehungssystem dort zur Theorie werde und die Menschen selbst, Erzieher wie Junker, zu Theoretikern verkrusten« würden. Bei den Praxiseinsätzen in den Gauen hätten die Ordensjunker »das furchtbare Wort geprägt«, dass »diese Abstellung wahrscheinlich zur Überbrückung einer Leere im Erziehungsplan der Ordensburgen« erfolge.

Einsatz der NS-Ordensburg-Mannschaften 1939 bis 1941 Gleichwohl war die ideologische Formierung der Mannschaften in den NSOrdensburgen durchaus wirksam. Das belegt eine Vielzahl von inzwischen vorliegenden Einzelbiografien der Männer. Mit dem Kriegsbeginn gingen sie als überwiegend fanatische Kämpfer an die Front und zahlten einen hohen Blutzoll. Rund zwei Drittel der insgesamt etwa 2.000 Ordensjunker sowie der mehreren Hundert Stammführer der NS-Ordensburgen überlebten das Kriegsende 1945 nicht. Unterbrochen wurde der militärische Einsatz zahlreicher NS-Ordensjunker mehrfach für die Abkommandierung zu politischen Einsätzen mit einem deutlichen Schwerpunkt im besetzten Osteuropa. Sie wirkten ebenso mit bei der menschenverachtenden Besatzungsherrschaft in Polen66 wie ab August 1941 bei Rosenbergs Zivilverwaltung im besetzten Teil der Sowjetunion.67 Im besetzten Polen wirkten NS-Ordensjunker auch in erheblichem Umfang mit bei der Umsiedlung Hunderttausender Deutschstämmiger aus Osteuropa in den erweiterten deutschen Herrschaftsbereich. Der Krössinseer Burgkommandant Otto Gohdes lobte im Nachgang seine Männer:68 »Die nicht einberufenen Kameraden hatten in dem inzwischen neu gegründeten Warthegau bzw. im Generalgouvernement sehr wichtige politische Aufgaben zu lösen. Die Baltenaktion, die WolhyniendeutschenRückführung, Einrichtung der Verwaltung usw. wurden durch diese Kameraden ganz hervorragend durchgeführt.« Über ihre Aufgaben berichteten die Männer in den Burgzeitschriften. Demnach waren sie beispielsweise an 38

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der »Arisierung ehemals jüdischen Vermögens« ebenso beteiligt wie an der Einrichtung von Ghettos. Für den Einsatz in der Besatzungsverwaltung in der Sowjetunion waren sämtliche Lehrgangsteilnehmer und die Stammführer vorgesehen: »Das Hauptpersonalamt hatte grundsätzlich alle Ordensjunker und Stammführer zum Einsatz in den neuen Ostgebieten vorgesehen.« Lediglich einige seien aufgrund ihrer Funktionen »in Sonderformationen« unabkömmlich gewesen, andere habe man nicht erreichen können, da ihre Adresse nicht bekannt war. Weiter hieß es in dem Rundbrief: »Mitten aus diesem größten aller bisherigen Feldzüge wurde auf Befehl des Führers der größte Teil aller Ordensjunker, Stammführer und Nachwuchsführer herausgezogen, um in den neu gewonnenen Gebieten im Osten verantwortlich eingesetzt zu werden. … Die Arbeit in diesen Gebieten ist zur Zeit keine friedliche und erfordert ein hohes Maß an Verantwortung und Einsatzfreude. Aus diesem Grunde ist es für die Angehörigen der Ordensburgen eine besondere Ehre, vom Führer an entscheidende Stellen im Aufbau des deutschen Ostens gestellt zu werden.« 69 Im Januar 1942 ermahnte die ROL die Burgmannschaften erneut nachdrücklich an ihren Auftrag: »Der Reichsorganisationsleiter erwartet von Ihnen, dass Sie während Ihres zukünftigen Einsatzes sich jederzeit bewusst sind, dass Sie als ehemaliger Ordensjunker und jetziger Nachwuchsführer der Partei besondere Verpflichtungen haben und durch entsprechende Leistungen und einwandfreie charakterliche Haltung Ihre besondere Förderung durch die Partei rechtfertigen.« Die Parteikarriere sei davon abhängig, ob sie ihren Auftrag gemäß der NS-Weltanschauung ausführten: »Ihre weitere Betreuung durch das Hauptpersonalamt wird von Ihrer praktischen Bewährung im Osteinsatz abhängen. Bei Ihrer Einberufung in die Ordensburgen haben Sie sich voll und ganz der Partei verschrieben.« 70 Eingesetzt wurden die Burgmannschaften überwiegend in der Verwaltungsebene der Gebietskommissariate. Das war die untere Ebene in Rosenbergs Ostverwaltung, genau die Stelle, an der die von der NS-Führung befohlene Besatzungsherrschaft in der Fläche in die Praxis umgesetzt werden sollte. Die Männer gehorchten den Aufträgen und verstrickten sich dabei in erheblichem Umfang in die Gewaltverbrechen im Osten. Sie waren als Gebietskommissare und somit Behördenleiter sowie als deren Stellvertreter und »Judenreferenten« unmittelbar an der Entrechtung und Ausplünderung sowie der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung beteiligt.71 Einige der wenigen überlebenden Männer mussten sich dafür in der Nachkriegszeit vor Gericht verantworten, nur wenige wurden wegen ihrer Beteiligung an Morden verurteilt.

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Die NS-Ordensburgen im Krieg Vogelsang verlor mit dem Kriegsbeginn wesentlich an Bedeutung. 1942 wurden die letzten Bauarbeiten eingestellt, das Bauwerk blieb wie die Schwesteranlagen Fragment. Nach kurzer militärischer Belegung mit dem Stab der 28. Infanteriedivision und der Nutzung des dortigen Flugplatzes durch die Luftwaffe im Zusammenhang mit dem Angriff gegen die westlichen Nachbarländer im Frühjahr 1940 blieb die Anlage zunächst ungenutzt. Nach den Osterferien 1942 wurden drei Adolf-Hitler-Schulen aus der völlig überfüllten NS-Ordensburg Sonthofen nach Vogelsang ausgelagert, wo zwei Schulen bis zu den Sommerferien 1944 blieben. Ab 1942 war das ehemalige Burgrevier Außenstelle des Kreiskrankenhauses Schleiden. Die Anlage wurde zudem für die Unterbringung von evakuierten Frauen und Kindern aus Köln genutzt. Im Dezember 1944 wurde Vogelsang von der alliierten Luftwaffe bombardiert, einige Gebäude wurden dabei zerstört. Bereits Ende Oktober war die Dienststelle Vogelsang offiziell aufgelöst worden. Anfang Februar 1945 fiel die NS-Ordensburg kampflos an die US-Truppen. Sonthofen hatte bis zum Kriegsende in erster Linie Bedeutung als zentraler Standort der Adolf-Hitler-Schulen, deren Neubauten in den Gauen kriegsbedingt nie fertiggestellt wurden.72 Darüber hinaus fanden dort Tagungen statt und Versehrten-Lehrgänge für politische Führer. Zeitweilig befanden sich dort Lager im Rahmen der Kinderlandverschickung sowie ein Zwangsarbeiterlager. Die Bauwerke überstanden das Kriegsende nahezu unversehrt. Krössinsee diente als Ort für diverse Schulungen (Versehrten-Lehrgänge, Umsiedler-Lehrgänge, Lehrgänge für NS-Führungsoffiziere und schließlich Volkssturm, Standort von Adolf-Hitler-Schulen), Tagungen der NSDAP und ihrer Gliederungen sowie insbesondere ab Juli 1941 als Standort eines Sonderstabes im Zusammenhang mit Rosenbergs Ostverwaltung.73 Die unter Führung des Krössinseer Kommandanten stehende Dienststelle Gohdes hatte die Aufgabe, das für den Verwaltungseinsatz in den Reichskommissariaten vorgesehene Personal auszurüsten, durch Schulung vorzubereiten, und die Einsatzstäbe für die einzelnen Verwaltungsbereiche zusammenzustellen. Von Krössinsee aus fuhren die Gebietskommissare mit einem Sonderzug in ihre Einsatzgebiete. Gohdes blieb weiterhin für die Erstellung von Informationsschriften für die Ostverwalter zuständig. Am Morgen des 4. März 1945 verließen die letzten Burgangehörigen Krössinsee, um sich nach Westen durchzuschlagen. Etliche fanden bei dieser Flucht bei Labenz den Tod, darunter auch Gohdes.

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Nachkriegszeit Vogelsang wurde ab April 1945 nach dem Abzug der amerikanischen Truppen als herrenloses Bauwerk von der Bevölkerung der umliegenden, schwer kriegszerstörten Orte als Steinbruch genutzt.74 Als im Herbst britische Truppen einrückten, fanden sie die Bauten weitgehend im Rohbauzustand wieder. Ab September 1946 bis Ende März 1950 bildete die ehemalige NS-Ordensburg das Zentrum eines britischen Truppenübungsplatzes, dessen Verwaltung danach bis Ende des Jahres 2005 die belgische Armee übernahm. Seither bemüht sich die Nordrhein-Westfälische Landesregierung gemeinsam mit den politischen Gremien der Region um den Aufbau eines Bildungsstandortes mit Akademie und Ausstellungen. Vogelsang soll zudem zum Mittelpunkt des Nationalparks Eifel werden. Sonthofen wurde am 30. April 1945 von französischen Truppen besetzt und nach Einrichtung der amerikanischen Besatzungszone als Schule für Hilfsmilitärpolizisten genutzt. Die ehemalige NS-Ordensburg wurde auch für 14-tägige Kurse der US-Besatzungstruppen verwendet. Die Anlage wurde am 15. Januar 1956 zu einer der ersten Kasernen der neu aufgestellten Bundeswehr. Seither trug sie den Namen »Generaloberst-Beck-Kaserne« als Zeichen deutlicher Distanzierung zur Wehrmacht – Beck hatte dem militärischen Widerstand angehört. Bis 2009 beherbergte Sonthofen dann eine ganze Reihe von Truppenteilen. Seither wird die Kaserne durch die Bundeswehr umfangreich baulich saniert, um danach für neue militärische Aufgaben verwendet zu werden. Auch Krössinsee war nach 1945 überwiegend militärisch genutzt. Zunächst befand sich dort eine sowjetische Kaserne, danach war sie kurze Zeit Trainingsstätte für Olympiateilnehmer, bevor 1948 die polnische Armee die Anlage übernahm und bis heute als Kaserne nutzt. Die Bauwerke sind im Wesentlichen erhalten. Die Burgschänke war bereits vor dem Kriegsende abgebrannt, durch Brandstiftung verschwanden Reitställe und Turnhalle sowie Feierhalle und Ehrenhalle in den 1960er Jahren.

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Ansprache Hitlers zur Eröffnung der Ordensburg Krössinsee am 24. April 1936. – Archiv Sonthofen, Ordner 1 OB Sonthofen (Kopie). DOMARUS, Max (Hg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem Zeitgenossen, Wiesbaden 19732, Bd. 1, S. 290. 1932 wurde Ley per Verfügung Hitlers zum Stabsleiter der Politischen Organisation berufen: »1. Ich übernehme bis auf weiteres vom heutigen Tage an die Leitung der politischen Organisation selbst. 2. Ich ernenne zu meinem Stabsleiter für die politische Organisation den bisherigen Reichsinspekteur II Robert Ley.« Verfügung vom 9. Dezember 1932 bei DOMARUS, Bd. 1, S. 165f. SCHOLTZ, Harald: Die NS-Ordensburgen. In: Vierteljahreshefte für Zeit­ geschichte 15 (1967), S. 269–298, hier S. 277. LEY, Robert: Wir alle helfen dem Führer, Berlin 1939, S. 117f. SCHOLTZ, NS-Ordensburgen, S. 279. Ebd., S. 279. SMELSER, Ronald: Robert Ley. Hitlers Mann an der »Arbeitsfront«. Eine Biographie, Paderborn 1989, S. 103f. Burggemeinschaft, Folge 1 aus 1941, S. 24f. Die Kunst im Dritten Reich, Beilage, in: Die Baukunst, 2/1939. Zunächst in der Schreibweise Crössinsee üblich, später als »Die Falkenburg am Krössinsee« bezeichnet. Der See lag nahe der damals deutschen Stadt Falkenburg in Hinterpommern. Seit der Westverschiebung Polens als Folge des Zweiten Weltkrieges gehören der See und die heute als polnische Kaserne genutzte ehemalige NS-Ordensburg zu der Stadt Zlocieniec im polnischen Westpommern. Zu Klotz vgl.: LESER, Petra: Der Kölner Architekt Clemens Klotz (1986– 1969), 41. Veröffentlichung der Abteilung Architekturgeschichte des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln, hg. von Günther Binding, Köln 1991. Auch am Beispiel Vogelsang kann man das noch ablesen. Einiges spricht dafür, dass auch dort ursprünglich ein Barackenlager geplant war, wie etwa die an Barackenlager erinnernde Anordnung der Unterkunftsbauten zeigt. Damals Gauschulungsleiter in Schwaben und Architekt. Die Kunst im Dritten Reich, Beilage, in: Die Baukunst, 2/1939. LICHTENSTEIN, Heiner: Schulung unterm Hakenkreuz. Die Ordensburg Vogelsang. In: FÖRST, Walter (Hg.): Menschen, Landschaft und Geschichte. Ein rheinisch-westfälisches Lesebuch, Köln/Berlin 1965, S. 129–140, hier S. 131f. LICHTENSTEIN, Schulung unterm Hakenkreuz, S. 131. BENDER, Ewald: Die Ordensburgen Vogelsang und Crössinsee, in: Die Bauwelt, 1939, Heft 35, S. 1–20. Auch abgedruckt in: TEUT, Anna: Architektur im Dritten Reich 1933–1945, Berlin 1967, S. 210–213. Dafür spricht auch, dass in sehr frühen Planungsskizzen dieser Turm noch als Rundturm angelegt war. LICHTENSTEIN, Schulung unterm Hakenkreuz, S. 132.

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21 Die Bauarbeiten begannen im Februar 1934 am Krössinsee und im Mai 1935 am Kalvarienberg bei Sonthofen. LEY, Wir alle helfen dem Führer, S. 166, 173. 22 Zur Architektur Vogelsangs nach wie vor grundlegend: SCHMITZ-EHMKE, Ruth: Die Ordensburg Vogelsang. Architektur. Bauplastik. Ausstattung. (=Arbeitsheft der Rheinischen Denkmalpflege 41), Köln 2003 [1. Aufl. Köln 1988], sowie HERZOG, Monika: Architekturführer Vogelsang. Ein Rundgang durch die historische Anlage im Nationalpark Eifel, Köln 2007 . 23 Unter anderem Landschaftsarchitekt für die NS-Ordensburg Sonthofen. 24 SCHOLTZ, NS-Ordensburgen, S. 274. 25 Ebd., S. 279. 26 Geleitwort Leys für ein Buch über die Ordensburg Sonthofen anlässlich einer Arbeitstagung aller Gauamts- und Kreisleiter vom 16. bis 23. November 1937. Zit. n. FRÜCHTEL, Michael: Der Architekt Hermann Giesler. Leben und Werk. Studien aus dem Institut für Baugeschichte, Kunstgeschichte, Restaurierung mit Architekturmuseum. Technische Universität München, Fakultät für Architektur, München 2007, S. 47f. 27 Bei dem theoretischen Verweis auf »rauchige, biergeschwängerte Sturmlokale« ist es nicht geblieben. Zumindest in der NS-Ordensburg Sonthofen kam es in regelmäßigen Abständen zu Gelagen. Vgl. dazu auch: FRÜCHTEL, Hermann Giesler, S. 48. 28 Hermann Giesler, Bruder des späteren Münchener Gauleiters Albert Giesler, war unter anderem der Planer der NS-Ordensburg Sonthofen und der Hohen Schule der NSDAP am Chiemsee. 29 GIESLER, Hermann: Ein anderer Hitler. Bericht seines Architekten Hermann Giesler. Erlebnisse, Gespräche, Reflexionen, Leoni am Starnberger See 1978, S. 117. 30 FRÜCHTEL, Hermann Giesler, S. 48. 31 SPEER, Albert (Hg.): Neue deutsche Baukunst. Herausgegeben vom Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt Albert Speer. Dargestellt von Rudolf Wolters, Berlin 1941, S. 9. Zit. n. FRÜCHTEL, Hermann Giesler, S. 48. 32 Westdeutscher Beobachter (WB), exaktes Datum unklar. – Archiv Vogelsang (Kopie). 33 FRÜCHTEL, Hermann Giesler, S. 48. 34 Rede vom 7. September 1937, bei DOMARUS, Bd. 2, S. 719. 35 1941 stimmte Hitler Speer zu, alle – auch eigene – nicht kriegswichtigen Bauvorhaben stilllegen zu lassen. Worauf Speer die Gau- und Reichsleiter informierte, jetzt verlange die militärische Lage »die Einstellung aller überflüssigen Bauten in den Gauen.« SPEER, Albert: Erinnerungen. Frankfurt a. M./Berlin 1969, hier zit. n. Lizenzausgabe, Augsburg 1993, S. 230. 36 KOTZE, Hildegard von/KRAUSNICK, Helmut (Hg.): »Es spricht der Führer«. 7 exemplarische Hitler-Reden, Gütersloh 1966, S. 112. Weiter heißt es bei von KOTZE/KRAUSNICK: »Alles in allem die heroische Kulisse für das Spiel vom unerschrockenen Jüngling, tollkühnen Reiter, mutigen Schwimmer, Springer oder Läufer, der den Stein schleudert, den Hammer wirft, die Schlange im Genick Das System der NS-Ordensburgen

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packt und das Böse ausrottet – das vom ›Führer‹ gesetzte Leitbild kämpferischen ›Mannestums‹ galt hier unbeschränkt. Man stählte vor allem den Bizeps. Auf diese Weise suchte Herr Ley seinem Führer eine ›Elite‹ heranzuexerzieren, aus der jeglicher Bedarf an ›Hoheitsträgern‹ der Partei gedeckt werden konnte.« TROOST, Gerdy: Das Bauen im neuen Reich, Band 1, Bayreuth 1938. Zit. n. FRÜCHTEL, Hermann Giesler, S. 47. Mit Ansprachen unter anderem von Ley, von Blomberg, Darré, Rosenberg, Lutze, Schirach, Frank, Buch, Goebbels, Himmler, Göring und Schwarz etc. – Bundesarchiv (BA) NS 25/1642. BA NS 25/1642 sowie Bericht in: Bayerische Ostmark vom 13. November 1936 sowie unter anderem Angriff vom 21. November 1936. – BA R 187/257. Frankfurter Zeitung vom 24. August 1937. – BA R 187/257. Bayerische Ostmark Bayreuth vom 22. April 1937. – BA R 187/257. Bayerische Ostmark Bayreuth vom 26. August 1937. – BA R 187/257. Völkischer Beobachter vom 15. November 1937. – BA R 187/257 sowie BA NS 25/1642. von KOTZE/KRAUSNICK, S. 122f. Völkischer Beobachter vom 5. April 1937. – BA R 187/257. Angriff vom 11. Januar 1938. – BA R 187/257. Angriff, Datum unklar. – BA R 187/257. Rundschreiben Hauptschulungsamt vom 7. Oktober 1938. – Archiv Vogelsang (Kopie) sowie Angriff vom 19. Oktober 1938. – BA R 187/257. Bayerische Ostmark vom 22. März 1939. – BA R 187/257. Bergwerkszeitung vom 6. Oktober 1937. – BA R 187/257. SS-Obergruppenführer Weitzel: Zum Jahresabschlussappell des SS-Oberabschnitts West am 10. und 11. Dez. 1938, in: Der Orden, Folge 1, 1939, S 6. Dargestellt etwa in: Völkischer Beobachter vom 15. November 1937. – BA R 187/257. Richard Manderbach in Vogelsang, Otto Gohdes am Krössinsee und Robert Bauer in Sonthofen. Zur weltanschaulichen Erziehung in den NS-Ordensburgen vgl. den Sammelband CIUPKE, Paul/JELICH, Franz-Josef (Hg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang. (=Geschichte und Erwachsenenbildung, 20), Essen 2006. – Zu den Lehrgängen und der Baugeschichte umfangreicher erschien eine erste umfassende Publikation im Jahr 1986: ARNTZ, Hans-Dieter: Ordensburg Vogelsang 1934–1945. Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich, Euskirchen 1986. Hitler: »Ich bin der Überzeugung, dass der Mann sich im allgemeinen, Fälle ganz besonderer Begabung ausgenommen, nicht vor seinem 30. Jahre, in der Politik öffentlich betätigen soll. Erst nach dem Gewinnen einer solchen Weltanschauung und der dadurch erreichten Stetigkeit der eigenen Betrachtungsweise gegenüber den einzelnen Fragen des Tages soll oder darf der nun wenigstens innerlich aus-

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gereifte Mensch sich an der politischen Führung des Gemeinwesens beteiligen.« Mein Kampf, S. 71f., hier zit. n. DOMARUS, Bd. 1, S. 23. Spätere Planungen sahen ein weiteres Jahr an einer zusätzlich geplanten vierten NS-Ordensburg an der historischen Marienburg vor. Diese Anlage kam jedoch über erste Vorplanungen nicht hinaus. Slg. Brammer: Informa­tionsbericht Nr. 170. Notizen zu der Tagung in Sonthofen. Berlin, 25. November 1937, gez. Dr. Kausch. – Archiv Sonthofen, Ordner 1 OB Sonthofen (Kopie). Informationsbericht Kausch, ebd. Informationsbericht Kausch, ebd. DOMARUS, Bd. 2, S. 763. Domarus weist mit Recht auf diese seltsame Patentlösung für den Führernachwuchs hin: Blinder Gehorsam und Tapferkeit, bewiesen durch Grabensprünge! Die Kreisleiter und Gauamtsleiter, vor denen er in Sonthofen sprach, waren sicher froh, dass Hitler bei ihnen den Parteibeitritt vor 1933 als »Mutprobe« anerkannte. Rassenpolitische Schulung im Lehrplan der NSDAP, hg. vom Reichsschulungsamt. Gemeinsam mit dem Rassenpolitischen Amt bearb. von Johannes Dietel, Lehrer an der Reichsschule Bernau, o.O.u.J. (1935). – BA NS D9/68. Dem steht keineswegs entgegen, dass Rosenberg, aber auch das Reichsschulungsamt sich durchaus um Lehrpläne und weitere Unterrichtsvorgaben bemühten. Angesichts der Auswahl der Lehrgangsteilnehmer und deren Vorbildung dürften diesbezügliche Versuche kaum Erfolgschancen gezeigt haben. Auch die vielfältigen Unterbrechungen des Lehrgangsbetriebs durch Reisen der NS-Ordensjunker, durch Wehrübungen und Parteiveranstaltungen an den NS-Ordensburgen ließen einen geregelten Schulungsbetrieb gar nicht zu. Anders sieht das: SCHRÖDERS, Michael: Der Kölner Philosoph Hermann R. Bäcker, Alfred Rosenberg und die politische Schulung der NSDAP. Zu einem Bestand des Historischen Archivs der Stadt Köln. In: Geschichte in Köln 56 (2009), S. 267–298. Vortrag des Gauschulungsleiters in Pommern, Eckhardt, vor hohen NSDAPFunktionären des Gaues Pommern bei einer Tagung am 5. und 6. Juni 1942 in der NS-Ordensburg Krössinsee. Nach: Die Burg im Kriege, in: Burggemeinschaft, Folge 7/9, 1942, S. 3. Stimmungs- und Lagebericht des Gauleiters Grohé, Gau Köln-Aachen, vom 13. Mai 1936. Plan Ziffer 12: Schulung in der Partei. – BA NS 22/716. Julius Kölker: Vogelsang. Bericht über die Schulungstätigkeit, 1939. – BA NS 8/231. In Polen übernahmen rund 260 Ordensjunker und Stammführer zeitweilig teils hohe Verwaltungsfunktionen. Einige bekamen die Funktion von Kreishauptleuten. Vgl. dazu auch: ROTH, Markus: Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen. Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, Göttingen 2009. HEINEN, Franz Albert: Gottlos, schamlos, gewissenlos. Zum Osteinsatz der Ordensburg-Mannschaften, Düsseldorf 2007, insbesondere S. 43 bis 101 sowie die Einzelfalldarstellungen im Anhang. Das System der NS-Ordensburgen

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68 Burgbrief, Folge 10–11, 1942, S. 5. 69 Hauptschulungsamt, München, Dezember 1941, an Burgmannschaften, S. 10. – Archiv Vogelsang (Kopie). 70 Reichsorganisationsleiter, Hauptpersonalamt, Jennes an Nachwuchsführer vom 15. Januar 1942. – Archiv Sonthofen, Ordner 1 OB Sonthofen (Kopie). 71 Für das Beispiel Weißrussland: GERLACH, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944, Hamburg 1999; LOWER, Wendy: Nazi Empire-Building and the Holocaust in Ukraine, Chapel Hill 2005; BRANDON, Ray/LOWER, Wendy (Hg.): The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memoralization, Bloomington 2008; HEINEN, Gottlos. 72 Zu Sonthofen siehe den Bildband von HAPPEL, Hartmut: Die Allgäuer Ordensburg in Sonthofen, Immenstadt 1996. 73 Zu Krössinsee: SAWINSKI, Rolf: Die Ordensburg Krössinsee in Pommern. Von der NS-Ordensburg zur polnischen Kaserne, Aachen 2004. Erweiterte Ausgabe in polnischer Sprache: SAWINSKI, Rolf/LESZCZELOWSKI, Jaroslav: Od Nazistowskiej Twierdzy do Polskich Koszar, Warschau 2008. 74 Zur Nachkriegsgeschichte Vogelsangs: HEINEN, Franz Albert: Vogelsang. Von der NS-Ordensburg zum Truppenübungsplatz in der Eifel, Aachen 2002.

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Kontinuitäten und Traditionsbrüche Die Inkorporation des Weimarer Erziehungswesens in den NS-Staat

Die Kontinuitätsfrage als Forschungsproblem Die Frage nach Kontinuitäten und Traditionsbrüchen im NS-Erziehungswesen hat die Erziehungswissenschaft in den letzten zwei Jahrzehnten mehr beschäftigt, als dies angesichts des langen Beschweigens der eigenen Vergangenheit zu erwarten gewesen wäre. Dabei geht es um nichts Geringeres als um die Rolle von erziehungswissenschaftlicher Disziplin und pädagogischer Profession bei der nazistischen Machteroberung und Machtdurchsetzung in Schule, Hochschule und außerschulischer Bildung; um Legitimierung, Unterstützung und Mitträgerschaft des NS-Regimes, also um eine Form von Kollaboration. Auf dem Prüfstand standen in erster Linie die dominierende Geisteswissenschaftliche Pädagogik und die z. T. bis heute für vorbildlich gehaltene Reformpädagogik. Der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik zuzurechnen sind vor allem Eduard Spranger, Herman Nohl und Theodor Litt aus der älteren Generation sowie die etwas jüngeren Wilhelm Flitner und Erich Weniger. Die Reformpädagogik umfasste im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts ein Konglomerat vielfältiger und gegensätzlicher Richtungen pädagogischer Reform­ praxis, etwa die von Hermann Lietz begründeten Land­erziehungsheime, die mit dem Namen von Peter Petersen verbundenen Jena-Plan-Schulen oder die auf Rudolf Steiner zurückgehende Waldorfpädagogik. Mit der Kontinuitätsproblematik verbinden sich letztlich drei eigenständige – freilich miteinander korrespondierende – Komplexe, nämlich erstens die Frage nach NS-affinen Elementen in der Pädagogik vor 1933 und deren Bedeutung für die erstaunlich problemlos und rasch gelungene Nazifizierung von Erziehung und Bildung nach dem 30. Januar 1933; zweitens die Frage nach der Rolle von Disziplin- und Professionsvertretern bei der Überführung des Weimarer Erziehungswesens in den nazistischen Staat wie auch nach Legitimierung und aktiver Unterstützung des NS-Regimes in der Vorkriegs- und Kriegszeit, schließlich drittens – wenigstens am Rande – die Frage nach Kontinuität und Bruch in den Erziehungsvorstellungen und –praxen nach 1945. Eine intensive Erforschung aller drei Komplexe hat eigentlich erst Mitte der 80er Jahre, also 40 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft begonnen Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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und kann längst noch nicht als abgeschlossen gelten. Das jahrzehntelange Beschweigen hat Auswirkungen bis in die Gegenwart, zum Beispiel in der Tendenz zur Marginalisierung und Verharmlosung erziehungswissenschaftlichen NS-Engagements. Die Fokussierung des erziehungshistorischen Interesses nach 1990 auf die DDR, eine in jüngster Zeit zunehmende Enthistorisierung von Erziehungs- und Bildungsphänomenen, verbunden mit einem Verständnis von Erziehungswissenschaft als vorwiegend empirischer Disziplin mit schwerpunktmäßig didaktischen, schul- und medienpädagogischen Fragestellungen haben diese Tendenz zweifellos verstärkt. Gleichwohl kann auf der Grundlage von inzwischen zahlreichen Einzeluntersuchungen wie auch umfassenden Gesamtdarstellungen1 als gesichert gelten, dass die Schnittmengen zwischen weiten Teilen der Pädagogik vor und nach 1933 groß gewesen sind, es hier also deutliche Kontinuitäten gegeben hat, wobei die sog. völkischen Richtungen Weimarer Pädagogik im engeren Sinne nur einen Sonderfall darstellen.2 Ebenso lässt sich kaum bestreiten, dass ein Großteil Weimarer Repräsentanten des Erziehungswesens zwischen 1933 und 1945 regimeloyal weiterarbeiten wollte und konnte und dass selbst gelegentliche Konflikte mit den Machthabern daran nur wenig geändert haben, wie sich z. B. am Umfang ihrer über den gesamten Zeitraum von 1933 bis 1945 gleichmäßig verteilten Publikationen ablesen lässt,3 ja dass Erziehungswissenschaft und Pädagogik wie andere gesellschaftliche Bereiche wichtige Dienste zur Legitimierung, Stützung und zum Funktionieren des NS-Systems erbracht haben. Die im Untertitel des Beitrags gewählte Bezeichnung »Inkorporation« kennzeichnet deshalb den Charakter der Eingliederung weiter Teile des Weimarer Erziehungswesens in den NS-Staat wie auch die Rolle des erziehungswissenschaftlichen Mainstreams darin besser als die mit Vorstellungen von Zwang und Gewalt verbundenen Begriffe »Gleichschaltung« oder »Zugriff«.4 Kontinuität ist nicht mit Identität zu verwechseln: Als Intellektuelle haben es alle zur Diskussion stehenden Disziplin- und Professionsvertreter sehr wohl verstanden, ihre Theorien und Konzepte dem jeweils veränderten Zeitgeist entsprechend zu modifizieren. Für die Zeit zwischen 1933 und 1945 bedeutete dies, dass sie sich innerhalb des Diskursfeldes der NS-Pädagogik positionierten, ohne dabei den NS-Jargon eines Hitler oder Krieck übernehmen zu müssen; nur dadurch blieben sie anschlussfähig, etwa für nationalkonservative oder gemäßigt völkische Gruppen als wichtigen Trägern des NS-Staates. Dieser war nämlich keineswegs – wie lange Zeit angenommen – monolithisch, sondern funktionierte eher im Sinne eines »totalitären Pluralismus«.5 Keine Kontinuität gab es dagegen für die an demokratischen Vorstellungen liberaler oder sozialistischer Provenienz orientierte Pädagogik der Weimarer 48

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Zeit, in der zahlreiche – ohnehin von rassistischer Verfolgung betroffene – jüdische Vertreter/innen tätig waren. Sie wurde bereits vor 1933 von Teilen des Bürgertums bekämpft und 1933 gewaltsam zerschlagen. Dazu gehörten – als »sozialistisch« oder auch nur »liberal« geltende – Reformschulen wie Fritz Karsens Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln, die in verschiedenen Großstädten, im Ruhrgebiet und in Sachsen vertretenen sog. weltlichen Schulen ohne Religionsunterricht, zahlreiche Erwachsenenbildungs- und sozialpädagogische Einrichtungen, aber auch reformorientierte Pädagogenvereinigungen wie der von Paul Oestreich inspirierte Bund Entschiedener Schulreformer. Für ihre Repräsentant/innen blieben vielfach nur Flucht, Gestapohaft oder aber Untertauchen in Deutschland und Überleben mit nichtpädagogischen Tätigkeiten. Viele bekanntere und unbekannte Vertreter/innen dieser »anderen« Pädagogik – unter ihnen Minna Specht, Paul Geheeb, Anna und August Siemsen – haben während der Nazizeit, z. T. im Jüdischen Bildungswesen in Deutschland oder in Exilschulen, versucht, ihre reformpädagogischen Erfahrungen für verfolgte Kinder, Jugendliche und Erwachsene fruchtbar zu machen. Ihre Rehabilitierung steht teilweise bis heute aus.6 Dass die Zugehörigkeit zur Gruppe eher konservativer Geisteswissenschaftlicher Pädagogik nicht zwangsläufig Kooperation mit dem Naziregime bedeuten musste, lässt sich anhand des Leipziger Erziehungswissenschaftlers Theodor Litt verdeutlichen, der sich schon 1933 dem nazistischen Machtanspruch widersetzte und sich 1937 auf eigenen Antrag hin emeritieren ließ.7 Wenigstens erwähnt werden soll auch das Beispiel des Reformpädagogen Adolf Reichwein, der in den 30er Jahren zunächst Kompromisse mit dem Naziregime eingegangen war, um seine bekannte Reformschule in Tiefensee nicht zu gefährden, sich dann aber für den aktiven Widerstand entschied und sein Leben ließ.8 Ganz offensichtlich lag eine solche Entscheidung außerhalb des Horizontes nahezu der gesamten Disziplin und Profession, soweit ihre Vertreter nicht Zwang und Gewalt am eigenen Leib erfuhren. Der kurze Überblick mag die Komplexität der bisherigen Kontinuitätsforschung in der Erziehungswissenschaft verdeutlichen, zugleich aber auch helfen, die im Folgenden vorzutragenden Aspekte in einen größeren Kontext einzuordnen. Dabei soll • ein exemplarischer Nachweis problematischer Traditionsbestände in der Weimarer Pädagogik erbracht, • die Struktur des Inkorporationsprozesses von Teilen Weimarer Pädagogik in den NS-Staat wie auch Kooperation und Kollaboration mit dem NSRegime von Seiten der Erziehungswissenschaft beispielhaft verdeutlicht, • nach dem Verhältnis von Kontinuität und Traditionsbruch in den nazistischen Eliteeinrichtungen gefragt und abschließend Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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• mit wenigen Hinweisen der Übergang von Disziplin und Profession vom NS-Staat in die frühe Bundesrepublik beleuchtet werden.

Problematische Traditionsbestände Weimarer Pädagogik und Erziehungswissenschaft Will man die problematischen Traditionsbestände in der deutschen Pädagogik vor 1933 in ihrer Genese verstehen, muss man bis ins Wilhelminische Kaiserreich zurückgehen. Der Modernisierungsprozess als Folge der Industrialisierung wurde in weiten Teilen des Bürgertums als existenzielle Bedrohung des eigenen gesellschaftlichen Status, aber auch als geistige Krise erlebt. Die Reformpädagogik als Teil sog. Lebensreform war der Versuch einer Antwort darauf im pädagogischen Bereich. Ihre Träger kamen sowohl aus liberal-konservativen akademischen Kreisen als auch aus der liberalen, gelegentlich sogar der tendenziell sozialistischen Volksschullehrerschaft, wobei die etwa 1890 beginnenden reformpädagogischen Diskurse früh schon durch die sozialistische Arbeiterbewegung rezipiert worden sind.9 Die sich etwas später etablierende Geisteswissenschaftliche Pädagogik hat sich vor allem durch Herman Nohl (1879–1960) und Wilhelm Flitner (1889–1990) an der theoretischen Durchdringung der Reformpädagogik beteiligt, wenn man so will Reformpädagogik als Theoriegebäude erst konstruiert.10 Die Reformpädagogik zerfiel vor allem nach dem Ersten Weltkrieg in unterschiedlichste pädagogische wie politische Richtungen. Sie trug von Anfang an ein Janusgesicht, steckte voller Widersprüche und Ambivalenzen, die sie später zumindest in Teilen anschlussfähig für die NS-Ideologie machten. Dies soll im Folgenden exemplarisch anhand dreier zentraler Bereiche erläutert werden: den gesellschaftlichen Optionen, dem Menschenbild und den pädagogischen Zielvorstellungen. a. Gesellschaftliche Optionen

Ausgangspunkt der Reformpädagogik waren bekanntlich die Forderungen nach Kindorientierung, das heißt nach Berücksichtigung kindlicher Bedürfnisse und Möglichkeiten, nach Selbsttätigkeit und Individualisierung als Kriterien pädagogischer Arbeit, damit eng verbunden die Gestaltung der Schule als rein pädagogischer Erfahrungsraum. Herman Nohl hat diese Forderungen in seiner berühmten Autonomieformel zusammengefasst: »Grundlage der Erziehung« sei »das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, daß er zu seinem Leben und zu seiner Form komme.«11 50

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Dieser wichtige und richtige Grundgedanke setzt allerdings eine Gesellschaft voraus, die solche Prinzipien zulässt, eine Konsequenz, die zumindest vom Mainstream bürgerlicher Reformpädagogik nicht durchdacht worden ist. Das lag nicht an der oft behaupteten unpolitischen Haltung der Reformpädagogen, sondern gerade an deren gesellschaftspolitischen Optionen. Der durch seine »Hauslehrerschule« in Berlin-Lichterfelde bekannt gewordene Reformpädagoge Berthold Otto (1859–1933) bezog in seinem Buch »Der Zukunftsstaat als sozialistische Monarchie« (1910)12 dazu ausführlich Stellung, ebenso wie der als früher Kritiker der »alten Schule« hervorgetretene Bremer Gymnasiallehrer Ludwig Gurlitt (1855–1931) mit seinen »politischpädagogischen Betrachtungen«: »Der Deutsche und sein Vaterland«.13 Andere haben ihre politischen Optionen eher indirekt in erziehungswissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Ausdruck gebracht wie der Begründer des Jenaplans, Peter Petersen (1884–1952), in seiner »Allgemeinen Erziehungswissenschaft« (1924)14 oder der Jenenser und Göttinger Erziehungswissenschaftler Herman Nohl (1879–1960) in seinem lange Zeit als Standardwerk zur Reformpädagogik geltenden Handbuchbeitrag »Die pädagogische Bewegung in Deutschland« (1933)15. Alle Genannten stimmten in der Ablehnung einer liberalen Demokratie überein und plädierten stattdessen für vordemokratisch aristokratische, ständische oder völkische Gesellschaftsmodelle, vor 1918 zumeist auf monarchistischer Grundlage, nach 1918 in diffusen Gemeinschafts- und Führer-Gefolgschaftsstrukturen. Berthold Otto beispielsweise sah im »Staat« »das Volk als bewusst gewordenen Gesamtorganismus«16, aufsteigend von der Familie, über das Dorf, die Stadt bis hin zum Staat, in dem jeder einzelne seinen festen Platz durch Stand und Beruf hat, mit jedem anderen durch die Dialektik von Dienen und Herrschen verbunden ist und dessen Zusammenhalt das dynastische Prinzip einer von Interessen und Interessengegensätzen unabhängigen Monarchie gewährleistet. Demokratie und Liberalismus mussten ihm folglich als Symptome einer »mechanistischen Staatsauffassung«17 erscheinen, »Vertreter einer Partei« als »Gegenteil« wirklicher Volksvertreter.18 Noch 1925 sah er in der Republik von Weimar ein dem deutschen Volk von den Siegermächten aufgezwungenes System19 und erklärte, dass »die psychologisch geradezu blödsinnige Meinung, daß sich in einem großen Volke der Volkswille durch Abstimmung feststellen ließe, bei den meisten Kulturvölkern zu der schweren Erkrankung geführt (habe), die man Parteiwesen nennt und deren Fiebererscheinungen wir jetzt in allen Kulturvölkern gleich stark beobachten können«.20 Ludwig Gurlitt – als weiterer Vertreter der Vorkriegs-Reformpädagogen – stimmte in seinen politischen Vorstellungen weithin mit Otto überein. Zwar Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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betonte er das Anrecht jedes Menschen, »selbst etwas zu sein und bei seinen Mitmenschen für etwas zu gelten«, reduzierte dies jedoch letztendlich darauf, »sich willig … in den großen einheitlichen Gedanken« einzuordnen, zu »dienen« sowie »nützlich und dem Ganzen unentbehrlich zu sein.«21 Martin Doerry führt in seiner Studie zur Mentalität der Wilhelminer die durch Autoritätsfixierung und Harmoniestreben charakterisierte Haltung Ottos, Gurlitts und vieler anderer auf deren »Wunschbild nationaler Einheit« zurück, das »keine Abweichungen« geduldet und »alles, was dieses Bild auch nur im Ansatz irritieren konnte, … in ein starres Gegen- und Feindbild gepresst« habe,22 womit er u. a. die Bekämpfung der Sozialdemokratie im Kaiserreich erklärt. Dass eine solche autoritäre politische Haltung im Widerspruch zu Ottos und Gurlitts pädagogischen Maximen von Individualisierung, Kindorientierung und freiheitlicher Pädagogik stand, ist vor 1918 offensichtlich nur Wenigen in den Sinn gekommen – zu selbstverständlich war ihnen als Angehörigen des akademisch gebildeten Bürgertums die eigene autoritäre und hierarchisch verfasste Gesellschaft. Dass sich auch nach 1918/19 bei den meisten reformpädagogischen Repräsentanten mit entsprechendem gesellschaftspolitischem Hintergrund trotz Weimarer Demokratie relativ wenig geändert hat, zeigen die Beispiele der wesentlich jüngeren, allerdings ebenfalls im Kaiserreich sozialisierten Peter Petersen und Herman Nohl. Petersens in der »Allgemeinen Erziehungswis­ senschaft« von 1924 wie auch anderswo vertretenen – organologischen – Gesellschaftsvorstellungen23 haben verblüffende Ähnlichkeit mit denen Ottos, freilich nun mit charismatischen Führern statt dynastischer Monarchen. Ein autonomes Individuum hatte in diesem System keinen Platz! Für unseren Zusammenhang besonders interessant ist das 1933 von Herman Nohl in der »Pädagogischen Bewegung« entworfene Gesellschaftsbild, zum einen, weil es zu Beginn der 30er Jahre, also an der Schwelle zur Nazizeit, entstanden ist, zum anderen weil hier der Einfluss von »Stichwortgebern« aus der Bismarckära, nämlich der beiden unter dem Etikett »Kulturkritik« firmierenden Paul de Lagarde (1827–1891) und Julius Langbehn (1851–1907) sichtbar wird.24 Ausgangspunkt Nohls ist die bereits von Lagarde und Langbehn in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts beklagte »neue soziale, sittliche und geistige Not unseres Volkes«25; als ihre Symptome nennt er Industrialisierung / Großstadt / Aufklärung / Spezialisierung / Entseelung / Subjektverlust / Masse und Bindungslosigkeit, hinzu kommen die Erfahrung des Krieges und der Revolution mit ihren Gegensätzen. Zwar macht Nohl keine direkten Aussagen zum politischen System von Weimar, zu Fragen von Parlamentarismus und Demokratie, doch lässt sich zwischen den Zeilen, u. a. in den Passagen zur Staatsbürgerlichen Erziehung, entnehmen, dass der Weima52

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rer Parteienstaat nicht die von Nohl favorisierte Lösung ist. Zu stark ist seine Klage über den »Zerfall der Familie, der Lebensgemeinschaft des Meisters mit seinen Lehrlingen, … der kirchlichen Sitte, die dem Geistlichen immer mehr den Einfluß nahm«26, zu stark die Fixierung von Frauen, die in Weimar zum ersten Mal das Wahlrecht erhalten hatten, auf »Mütterlichkeit«27, vor allem aber die Ablehnung »einer besonderen Bürgerkunde« im Rahmen staatsbürgerlicher Erziehung, die er als Vermittlung «eines abstrakten Wissens um vorhandene Institutionen und ihr Funktionieren« abtut.28 Stattdessen plädiert er – deutlich rückwärtsgewandt – für einen Geschichtsunterricht, der »die Erfahrung der lebendigen inhaltlichen Mächte unserer geschichtlichen Existenz, den ganzen Reichtum der nationalen Ideale und Persönlichkeiten unseres Volks (gibt), in denen sich sein in Formeln nie völlig aussprechender Wille und seine Wesensart offenbaren. Nur so (werde) diese wirre Gegenwart (also die Krise der Weimarer Demokratie im Zeichen der Präsidialkabinette! W.K.) eingeschmolzen in den großen Zusammenhang der nationalen Existenz«29. Kaum verwunderlich, dass sich Nohl nur zwei Jahre später an die Seite »unsres neuen (des nazistischen, W.K.) Staates« stellt, der »mit gutem Grund sein erstes und entscheidendes Mittel in einer diktatorischen Massenführung hat, die auch den Letzten noch national erweckt und bewusst macht und unserm Volk die Einheit seines Gefüges wiedergibt.«30 Im Gegensatz zum Gros bürgerlicher Reformpädagogen versuchten schon im Kaiserreich z. B. Hamburger und Bremer Volksschullehrer wie Heinrich Wolgast (1860–1920) und Fritz Gansberg (1871–1950) Konsequenzen aus ihren pädagogischen Einsichten zu ziehen, indem sie sich gegen Gängelung und Fremdbestimmung durch die Schulbürokratie zur Wehr setzten – bekannt geworden ist die Auseinandersetzung der Bremer Lehrer mit ihrem extrem autoritären Schulinspektor Köppe.31 Sie traten für demokratische Formen der Lehrervertretung ein und verbündeten sich vereinzelt sogar, verdeckt oder offen, trotz drohenden Berufsverbots mit der Partei, die vor dem Kriege am konsequentesten emanzipatorische Interessen wahrnahm: der SPD. Während der Weimarer Republik engagierte sich dann eine wesentlich größere Zahl von Volksschullehrern, vor allem der Reformschulen in Hamburg, Bremen und Sachsen, in sozialistischen Parteien, um sich an der Demokratisierung von Schule und Gesellschaft zu beteiligen, ebenso eine kleine Zahl von Lehrern höherer Schulen aus dem Umfeld des Bundes Entschiedener Schulreformer. Ihre Forderungen nach gesamtgesellschaftlicher Demokratisierung gingen z. T. weit über das in der Weimarer Republik bis dahin Erreichte hinaus.32 Diese Konzepte pädagogischer Autonomie und demokratischer Gesellschaftsstrukturen waren selbstverständlich mit der Naziideologie inkompatibel und wurden nach 1933 gewaltsam abgebrochen. Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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b. Menschenbild

Die Realisierung der von der Reformpädagogik postulierten Prinzipien setzte neben einer liberalen und demokratischen Gesellschaft ein universales Menschenrecht voraus, d. h. die Anerkennung des Anspruchs auf gleiche Zuwendung und Erziehung für jedes Kind – so wie es bereits die französische Nationalversammlung 1791 gesetzlich fixiert hatte.33 Davon waren weite Teile der Reformpädagogik weit entfernt. Ihr eher biologistisches und nativistisches Menschenbild trug im Gegenteil z. T. ausgesprochen rassistische Züge und nahm schon früh sogar eugenische Elemente auf. Bereits im Kaiserreich hatte eine intensive und in verschiedene Richtungen geführte Diskussion über Entwicklung, Vererbung, Degeneration, Entartung, aber auch Verbesserung der menschlichen Natur wie ganzer Bevölkerungspopulationen durch künstlich gesteuerte Fortpflanzungsprozesse eingesetzt, für welche die von Francis Galton in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts begründete Eugenik eine wichtige Rolle spielte.34 Diese vertrat die Ansicht, mit Maßnahmen zur Steuerung des Vererbungsprozesses Krankheiten, Behinderungen, aber auch soziales Elend und Kriminalität beseitigen, und so nicht nur zur Gesundheit von Einzelmenschen, sondern der gesamten Gesellschaft beitragen zu können – brave new world! – eine Vorstellung, die in der gesamten Lebensreformbewegung um die Jahrhundertwende Resonanz fand. Für die Pädagogik besonders fatal war, dass über den eugenischen Aspekt aus Unterschieden Wertigkeit von Menschen wurde, bis hin zu der Konsequenz, bestimmten Gruppen ein Existenzrecht absprechen, zumindest aber ihre Fortpflanzung verhindern zu müssen, woraus sich nicht nur in Deutschland, sondern weltweit Debatten über freiwillige und zwangsweise Sterilisation, Zwangsverwahrung und sogar Euthanasie ergaben. Zur Förderung des eugenischen Anliegens wurden eigene Gesellschaften wie die »Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene« (1910) oder der »Deutsche Bund für Volksaufartung und Erbkunde«, und Publikationsorgane wie das »Archiv für Rassen- und Gesellschafts-Biologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene« gegründet. Ihre Träger waren überwiegend Repräsentanten der Universitätsmedizin, der Gesundheits- und Sozialverwaltung, die meisten mit einem akademischen Hintergrund. Dass auch Erziehungswissenschaft und Pädagogik schon früh eugenisches Denken rezipiert haben, ist erst seit etwa zwanzig Jahren langsam ins Bewusstsein von Disziplin und Profession gedrungen. Als eine der ersten stellte 1992 Christa Berg mit Erschrecken fest, dass das von der »sozialistischen Frauenund Kinderrechtlerin, späteren sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten« Adele Schreiber herausgegebene, zur reformpädagogischen Ratgeberliteratur zählende »Buch vom Kinde« (1907) als »Einleitendes Kapitel« 54

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einen Beitrag Wilhelm Schallmeyers enthielt, der bis dahin durch eugenische Publikationen wie »Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker« hervorgetreten war und einen schlimmen Rassismus vertrat, »dem der Begriff ›Ausmerzung‹ des ›Minderwertigen‹ und ›Entarteten‹ durchaus geläufig und nicht anstößig war.«35 Die Tatsache, dass offensichtlich keiner der prominenten Autoren des Buches, zu denen u. a. Georg Kerschensteiner, Heinrich Wolgast oder Fritz Gansberg gehörten, an dem Einleitungsbeitrag Anstoß nahm, zeigt, wie breit die Akzeptanz des eugenischen Paradigmas bereits im Kaiserreich gewesen sein muss. Ähnliches gilt für Ellen Keys 1902 erstmals in deutscher Sprache erschienenes Buch »Das Jahrhundert des Kindes«, eines der im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts meist gelesenen Bücher in Deutschland, das z. T. heute noch mit Reformpädagogik schlechthin identifiziert wird. Dass dieses Buch ein ausdrückliches Plädoyer für die Tötung »des psychisch und physisch unheilbar kranken und mißgestalteten Kindes« wie auch eine »neue Ethik« verkündet, der zufolge »kein anderes Zusammenleben zwischen Mann und Weib unsittlich (zu) nennen (ist) als das, welches Anlaß zu einer schlechten Nachkommenschaft gibt«, wurde ebenfalls erst seit den 90er Jahren wahrgenommen und entsprechend diskutiert.36 Die heutigen Sozialpädagogen hat der Nachweis alarmiert, wie weit eugenisches Gedankengut seit Ende des 19. Jahrhunderts, besonders – angesichts knapper Kassen in der Krise Weimars – in der Fürsorgeerziehung und Wohlfahrtspflege verbreitet war.37 So lässt sich, anders als vielleicht allgemein vermutet, gerade auf dem Gebiet der Eugenik, auch als Rassenhygiene bezeichnet, Kontinuität gut nachweisen. Das im Juli 1933 – noch gemeinsam mit dem deutsch-nationalen Koalitionspartner – beschlossene »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« z. B. ging auf entsprechende Entwürfe aus der Endphase der Weimarer Republik zurück.38 In dieses Bild passt, dass der bereits im Kontext problematischer gesellschaftlicher Optionen erwähnte, als Begründer der Sozialpädagogik geltende Herman Nohl im Wintersemester 1933/34, also kaum neun Monate nach Machtantritt der Nazis, eine Vorlesung über »Die Grundlagen der nationalen Erziehung« gehalten hat, in der das gesamte eugenische Programm in nazistischer Zuspitzung enthalten ist: von der Klage darüber, dass »das Volk als Ganzes …. im Zusammenhang seiner Generationen, in dem, was die Biologie eben seinen Erbstrom nennt, … so gut wie nicht in Erscheinung« getreten sei, »vor allem keinen Boden im Gewissen des Volks wie der einzelnen« gehabt habe, über die Feststellung, dass »die Kulturvölker …. sich nicht so wie die weniger kultivierten (vermehren)«, bis hin zur Bejahung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, also von Zwangssterilisation, die von Nohl verharmlost wird, sowie der Forderung nach »grundsätzlicher UmwenKontinuitäten und Traditionsbrüche

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dung der Fürsorgemethoden« zugunsten »erbgesunder Familien«.39 Versuche zur Relativierung des Nohlschen Rassismus wie zur Entschärfung der Kritik daran durch Angehörige der Nohl-Schule können kaum überzeugen,40 stattdessen ist mit Hans Mommsen zu konstatieren, dass die Nohlsche Vorlesung »nicht Ausfluss einer Affinität zum NS, sondern der wirkliche Nationalsozialismus« war (Sperrung W.K.).41 Im Sinne der Kontinuitätsthese steht zu vermuten, dass Nohl dabei – zweifellos in zugespitzter Form – Positionen auf den Punkt zu bringen und zu artikulieren versucht hat, die ihn schon vor 1933 umgetrieben haben, spätestens in der Krise Weimars, die zugleich eine Krise der Sozialpädagogik gewesen ist.42 Das eugenische Paradigma ließ sich leicht mit ethnischem Rassismus und rassistischem Antisemitismus verbinden, wie sie in der deutschen Erziehungswissenschaft und Pädagogik lange vor 1933 latent und manifest ebenfalls anzutreffen waren. Jüdische Kinder und Jugendliche waren z. B. von den meisten Bünden der deutschen Jugendbewegung, aber auch von den Heimen der Hermann-Lietz-Schulen ausgeschlossen. Während Hermann Lietz bekennender Antisemit war, äußerte sich der Antisemitismus bei anderen sehr viel subtiler, bei Eduard Spranger etwa in privaten Korrespondenzen oder der Weigerung, auch nur Lehraufträge an jüdische Kollegen wie Siegfried Bernfeld zu vergeben.43 Dass man auch ganz anders denken konnte, zeigt die Ablehnung eugenischen Denkens durch Karl Jaspers, der dieses in seiner 1931 erschienenen Abhandlung »Die geistige Situation der Zeit« als »naturalistische Degradierung des Menschen« bezeichnet hat: »Die anthropologische Auffassung … ist beherrscht von dem Maßstab vitaler Dauer, … ihre willkürliche Voraussetzung ist, man könnte pflegen, züchten, herstellen, eingreifen …. Ein anderer Impuls ist, sich kennen zu lernen im Reichtum des Mög­lichen. Man sieht sich neu und ist unersättlich im Blick auf Menschen. Berufe, Parteien, Völker werden durchbrochen, um Mensch mit Mensch aus größter Ferne in nächste Beziehung zu bringen.«44

Das nativistische Menschenbild vor und nach dem Ersten Weltkrieg prägte wesentlich auch die Diskussionen um die sog. Einheitsschulfrage, d. h. die Forderung nach einem gemeinsamen Unterricht aller Kinder. Von konservativer Seite wurde mit dem Argument der natürlichen Veranlagung selbst die vierjährige Grundschule bekämpft, weil sie die begabten Kinder in ihrer Entwicklung künstlich hemme, und stattdessen eine bessere Begabtenauslese verlangt. Für Wilhelm Hartnacke, in den 20er Jahren Stadtschulrat in Dresden, zwischen 1933 und 1935 Volksbildungsminister in Sachsen, konnte das 56

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nur eine Begabtenauslese nach »volksbiologischen« Gesichtspunkten sein. Titel seiner Publikationen wie »Naturgrenzen geistiger Bildung. Inflation der Bildung – Schwindendes Führertum – Herrschaft der Urteilslosen« (1930), »Bildungswahn – Volkstod« (1932) oder »Die Ungeborenen. Ein Blick in die geistige Zukunft unseres Volkes« (1936) zeigen Richtung wie Intention seiner Thesen.45 Hartnacke behauptete eine positive Korrelation von natürlicher Veranlagung und sozialer Schicht, hielt deshalb, nicht zuletzt aus volkswirtschaftlichen Gründen, eine Bildungspolitik der »Gleichmacherei« wie jede Förderung »jenseits natürlicher Grenzen geistiger Bildung«, einschließlich »Hochschulüberflutung«, für verfehlt und plädierte stattdessen für Unterstützung der geistigen und sozialen Elite. Diese sollte zu zeitiger Familiengründung und höherer Kinderzahl angehalten werden, um den geistigen »Volkstod« zu verhindern, den Hartnacke ansonsten aufgrund der weit höheren Geburtenquote in den unteren Sozialschichten und deren schwachem intellektuellen Potential in absehbarer Zeit für unvermeidlich hielt. »Volksbiologische« und »volksökonomische« Gesichtspunkte gehen dabei Hand in Hand, was Hartnackes Akzeptanz gerade auch in der Wirtschaft bis in die frühe Bundesrepublik erklärt.46 Angesichts der Dominanz derartiger Tendenzen ist es fast erstaunlich, dass es vor Machtantritt der Nazis noch eine »andere« Pädagogik gegeben hat, die in zahlreichen Reformschulen der Weimarer Zeit versuchte, die Maximen der Reformpädagogik wirklich umzusetzen. Ihr Anliegen war es, jedes Kind mit seinen individuellen Möglichkeiten anzunehmen und diese überhaupt erst zu entwickeln, ebenso Formen eines Gemeinschaftslebens zu fördern, in dem Kinder mit unterschiedlichen Fähigkeiten einander zu helfen und zu ergänzen lernten. Erinnert sei an den Bund Entschiedener Schulreformer und dessen Konzept einer »Einheits-, Lebens- und Produktionsschule«. Wegen der Mehrheitsverhältnisse in der Weimarer Republik gelang jedoch lediglich die Einrichtung weniger Versuchsschulen wie etwa Fritz Karsens Karl-MarxSchule in Berlin-Neukölln.47 c. Pädagogische Zielvorstellungen

»Aufklärung« und »Bildung« gehören seit dem ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert zu den zentralen Kategorien pädagogischen Denkens. Mit dem Begriff Aufklärung verbindet sich Kants Definition: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« wie seine Forderung, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«,48 mit Bildung die von Wilhelm von Humboldt geprägte Vorstellung der Entwicklung von Individualität im Sinne individueller Bewusstheit. Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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Aufklärung wie Bildung zielen grundsätzlich nicht auf Qualifikation, etwa zu beruflichen Zwecken, sondern auf eigenständiges Denken und Handeln, auf Autonomie, Mündigkeit und Subjektwerdung; sie setzen über Erziehung hinaus Selbsttätigkeit voraus. Der als Vertreter Kritischer Erziehungswissenschaft bekannte Heinz-Joachim Heydorn spricht von Menschwerdung im Sinne einer »neuen, geistigen Geburt«, mit der »sich der Mensch noch einmal über sein Bewußtsein einholen« muss.49 Mit einem derartigen Verständnis von Pädagogik hat der Nationalsozialismus radikal gebrochen: durch Umdefinition des Menschen von einem Geist- in ein Naturwesen, so dass die »Heranzüchtung kerngesunder Körper« wie die »Förderung der Willens- und Entschlusskraft« Vorrang vor der intellektuellen Erziehung erhielten; ebenso durch Negierung der Individualität zugunsten des Kollektivs nach der Devise: »Du bist nichts, dein Volk ist alles!« Aus Aufklärung und Bildung wurde so Ertüchtigung. Allerdings hatte sich dieser Paradigmenwechsel ebenfalls bereits lange vor 1933 angebahnt, was es den Nazis später zumindest erleichtert hat, ihre pädagogischen Zielvorstellungen durchzusetzen.50 Die emanzipatorischen Elemente der Kantischen Aufklärungsmaxime wie der Humboldtschen Vorstellung von Bildung lagen einerseits in deren »Parteinahme für das Individuum gegen dessen gesellschaftliche Vereinnahmung«51, andererseits in ihrer universellen Ausdehnung auf alle Menschen. Beide Elemente, die Humboldt – ähnlich wie Jean-Marie de Condorcet in Frankreich – im Rahmen eines stufenförmig angelegten Einheitsschulsystems realisieren wollte, sind bekanntlich weder in der tatsächlichen deutschen Schulentwicklung mit ihren starren, undurchlässigen Bildungsgängen verwirklicht, noch im Bewusstsein der Pädagogenschaft wenigstens als konkrete Utopie des Nochnicht aufgehoben worden. Dies hängt sowohl mit den aus der Industrialisierung erwachsenen naturwissenschaftlichen und technischen Anforderungen der Qualifizierung zusammen, in deren Folge sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entsprechende neue Schulformen entwickelten, als auch mit der zunehmenden Abschottung des Bildungsbürgertums gegenüber technischer Intelligenz, vor allem aber der Arbeiter- und Angestelltenschaft: Aus der zu »klassischer Bildung« vergegenständlichten, ihren eigentlichen Intentionen entfremdeten Humboldtschen Bildungsvorstellung wurde »die Verfallsform der ›Bildung‹ als Besitz«, aus dem Anspruch »allgemeiner Bildung« – wie z. B. bei Lagarde – die »›Bildung‹ Weniger«.52 Kulturkritik, Lebensreform und weite Teile der Reformpädagogik brachen mit der Aufklärung, weil sie in ihr die Wurzel aller Übel der heraufziehenden Moderne sahen, verteufelten dementsprechend Intellektualismus, Individualismus und Liberalismus und setzten an deren Stelle Irrationalismus, mysti58

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sche Religiosität, Gemeinschaft und Gefolgschaft als Orientierungsmarken. Mündigkeit und Bildung im Sinne individuellen Bewusstwerdens verloren damit ihren Sinn, sie wurden abgelöst durch vielfältige Formen von Ertüchtigung: der Gemeinschaftstüchtigkeit für Volk und Staat, der Wehrtüchtigkeit zunächst für Kaiser und Vaterland, nach 1918 zur Revision von Versailles, der Erbtüchtigkeit für einen »gesunden Volkskörper« und eine Art antiintellektuelle Lebenstüchtigkeit, wie sie etwa in den Vorstellungen von »Natur« und »Wesen« des Kindes anklingen – hier bereits begann die »Zerstörung der Vernunft« (Lukács) in der Pädagogik.53 Die Ablösung des Paradigmas »Bildung« durch das der Ertüchtigung verdeutlicht Peter Petersens 1924 veröffentlichte »Allgemeine Erziehungswissenschaft«. Anders als für Kant und Humboldt ist für Petersen Bildung kein geistiger Vorgang individueller Bewusstwerdung – eine Betonung des Individuums wie des Bildungsvorgangs wird im Gegenteil geradezu als Merkmal »einer sich auflösenden Kulturgesellschaft« interpretiert.54 Stattdessen sieht er im »Bilden« einen »natürlichen Lebensvorgang« wie »im Kristall, der nach seinem Gesetz zusammenschießt, wie im Baum, der in Stamm, Blatt und Krone seine Wesensform herausbildet, wie in Tier und Mensch«.55 An die Stelle des für Kant und Humboldt bedeutsamen Moments der Freiheit, die allein dem Menschen erlaubt, kritische Distanz zu den ihn umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu entwickeln, treten bei Petersen qua Natur vorgegebene Zwecke, auf die hin jeder Mensch angelegt ist – Petersen spricht deshalb auch vom »Naturvorgang des Sich-Bildens«,56 der nicht einmal im Individuum selbst, sondern in dessen Dienstleistung für die ihn umgebende »Gemeinschaft« sein letztes Ziel hat. Konsequent ersetzt Petersen den Bildungs- durch den Erziehungsbegriff, um den funktionalen Charakter dieses Prozesses zu unterstreichen, den er auch als »allgemeinen Vorgang der Anpassung, des Hineinlebens, richtiger fast des Hineingelebtwerdens in die Gemeinschaft« – also passivisch – umschreibt.57Am Ende steht nicht die Autonomie des Educandus, sondern seine Ertüchtigung im Sinne von Zurichtung für die »Zwecke der Gemeinschaft«, die er – naturhaft vorgegeben – zu erfüllen hat. Zur »Persönlichkeit« wird er dann, wenn er »sich mit allen Kräften (seines) Leibes und der Seele in den Dienst dieser Zwecke stellt.«58 Das von Petersen besonders deutlich artikulierte Muster lässt sich in Varianten bei Nohl, Flitner und anderen Reformpädagogen wiederfinden, nicht zufällig ganz prononciert in der Weimarer Erwachsenenbildung. Deren »Neue Richtung« propagierte »Volksbildung als Volkbildung« und orientierte sich vor allem in der »Thüringer Richtung« an Formen der deutschen Jugendbewegung. Auch hier sah Nohl – ganz im Sinne Petersens – einen »gegenüber dem bloßen individuellen Bildungsdasein des alten Humanismus« »neuen Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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Begriff von Bildung« wirksam werden, der auf Gemeinschaft im Sinne von Volk-Bildung und Volkskultur zielte.59 Die theoretische Grundlage dafür lieferte Anfang der 20er Jahre Wilhelm Flitner mit seiner mehrfach aufgelegten Schrift »Laienbildung«.60 Darunter verstand er eine in der »volkhaften« Gemeinschaft verankerte, von Generation zu Generation gleichsam absichtslos tradierte Bildung, der er die »mühsame, auf Studien angewiesene Art der Überlieferung« gegenüberstellte, die er als »priesterschaftliche Bildung« bezeichnete und deren zunehmende Dominanz er für den Zerfall tradierter »Volkskultur« verantwortlich machte.61 Zwar hielt Flitner die bloße Konservierung laienhafter Bildungstradition für wenig aussichtsreich, hoffte aber auf eine neue Form von Laiengut und Laienbildung, bei der »die priesterlich geschulte und halbgeschulte Schicht ihre eigene Struktur irgendwie auflöst, … die Gebildeten selbst einen ganz anderen Sinn und Weg ihrer Bildung sich auftun« (Hervorh. W.K.)62 – auch dies eine Form der Abwertung analytischen Denkens der Wissenschaft zugunsten »konkreten Lebensdenkens«, »Laiendenkens«, »Volksdenkens«, Wissenschaft sozusagen als »Kunde«. Damit verband sich wiederum die Forderung nach »neuer« Gemeinschaft, gleichsam einem »gemeinschaftlichen Grunderlebnis«, aus dem heraus sich die neue Laiengeistigkeit entwickeln sollte. Dementsprechend sah die pädagogische Arbeit der Thüringer Erwachsenenbildung »ihr Hauptmittel nicht in der Wissensvermittlung … , sondern in der Lebensgemeinschaft der Volkshochschule, in der Art, wie hier ein Kreis von Menschen um einen Leiter gemeinsam arbeitet, ißt und trinkt, spielt und feiert. … Die Feste und Feiern erwiesen sich hier wie in der Jugendbewegung als die große Form für die Herbeiführung des Erlebnisses der Gemeinschaft, dessen Folgen dann tief auch in die gemeinsame Arbeit hineinwirkten«. (Hervorh.W.K.)63 Dies ist zwar kein Nazismus, aber die Affinitäten zu gemeinschaftsstiftenden Formen von Erziehung nach 1933 sind greifbar.

Der Prozess der Inkorporation im Spannungsfeld von Kontinuität und Traditionsbruch Der sich über mehrere Monate erstreckende Prozess der Inkorporation als Aufnahme, Einfügung und Integration des Weimarer Erziehungswesens in den NS-Staat im Anschluss an die auf legalem Wege erfolgte Ernennung Hitlers zum Reichskanzler einer nationalsozialistisch-/deutschnationalen Koalitionsregierung war ein vielschichtiger Prozess mit Elementen von Zwang und Gewalt, von rechtlicher oder pseudorechtlicher Handhabe, aber auch von

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Freiwilligkeit, Bereitschaft und Kooperation, doch nur selten von Protest und Widerstand.64 Das NS-Regime hat den eigenen Machtanspruch vom Anfang bis zum Ende seiner Herrschaft mittels Gesetzen, Erlassen und Richtlinien, von denen auch das Erziehungswesen vielfältig betroffen war, juristisch abzusichern und zu legitimieren versucht. So vor allem durch das von der Hitler-Papen-Regierung im April 1933 verabschiedete »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, das die rechtliche Handhabe zur Entlassung und Zwangsversetzung zahlreicher politisch »linker« wie jüdischer Pädagog/innen bot, wobei jüdischen Pädagogen, sofern sie im Ersten Weltkrieg ihr Leben für Deutschland riskiert hatten, noch eine »Galgenfrist« von zwei Jahren eingeräumt wurde; ebenso durch das bereits erwähnte »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom Juli 1933, das Zwangssterilisation ermöglichte und somit das Recht auf körperliche Unversehrtheit für die Gruppe der eugenisch Unerwünschten, darunter vor allem für Kinder, außer Kraft setzte. Erlasse betrafen bereits in den ersten Monaten der NS-Herrschaft die Verpflichtung zur Durchführung von Schulfeiern am »Tag von Potsdam« oder zu Hitlers Geburtstag, die »Aufhebung von Schulstrafen wegen Handlungen aus nationalen Beweggründen« aus der Weimarer Zeit, die »Erlaubnis zum Tragen von Abzeichen« der nationalen Vereine und Verbände in der Schule oder die «Einführung des Hitlergrußes«. Richtlinien passten das Curriculum der NSIdeologie an wie z. B. Geschichtsunterricht und Geschichtslehrbücher im Juli 1933.65 Zweifellos stellte die Nazifizierung des Bildungs- und Erziehungswesens auf dem Gesetzes- und Erlassweg insgesamt einen Traditionsbruch gegenüber der Weimarer Zeit dar, da die weitreichenden Gesetze, Erlasse und Richtlinien im eigentlichen Sinne aufoktroyiert, in diesem Ausmaß erst durch Ausschaltung des Parlaments und der Parteien möglich geworden waren. Gleichwohl enthielten sie nur wenig, was nicht – wie im vorigen Kapitel gesehen – lange vor 1933 in weiten Teilen der Pädagogenschaft und selbstverständlich der Bevölkerung insgesamt diskutiert, gefordert, vielleicht sogar mehrheitsfähig gewesen ist: von der Ersetzung des Parteienstaates und der liberalen Demokratie durch Formen einer an völkischer Gemeinschaft und FührerGefolgschaftsprinzipien orientierten autoritären Gesellschaft, einschließlich der Vermittlung eines entsprechenden nationalen Geschichtsbildes, über rassistische Positionen eugenischer, ethnischer bzw. antisemitischer Provenienz bis hin zur Abwertung sog. formaler Bildung zugunsten von Ertüchtigung in dem oben skizzierten Sinne. Die NS-Verantwortlichen haben lediglich vieles gebündelt, teilweise radikalisiert, mit einer spezifischen NS-Terminologie ver-

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sehen, vor allem aber eine konsequente Umsetzung betrieben, was angesichts der Parteienvielfalt vor 1933 undenkbar gewesen wäre. So kann es nicht verwundern, dass der Übergang von Weimar zum NSStaat im Schulwesen selbst,66 ungeachtet der Auswechslung einzelner Schulleitungen und der Entlassung und Versetzung von Lehrkräften, erstaunlich reibungslos verlief, selbst an Reformschulen.67 Mitschriften von Lehrerkonferenzen wie der am Gymnasium Laurentianum im westfälischen Arnsberg spiegeln einen normalen Schulalltag: Sie »waren im Wesentlichen unpolitisch …. Es wurden schulische Belange behandelt wie Disziplinarfälle, Versetzungen und die Weiterbildung der Lehrer. Die Tagesordnungspunkte entsprachen vielfach denen heutiger Konferenzen.«68 Entlassungen oder Zwangsversetzungen von Kollegen waren kein Thema. Gelegentlich erfolgten diese sogar aufgrund von Denunziationen von der Basis her, von »nationalistisch eingestellten Lehrern, Bürgermeistern oder anderen politischen Würdenträgern bzw. Organisationen wie dem NS-Lehrerverband, der HJ bzw. Kreis- und Gauleitungen der NSDAP«.69 Juristisch legitimieren ließen sie sich jeweils leicht mit den entsprechenden Artikeln des Berufsbeamtengesetzes. So wenig Solidarität »verschwundene« Kollegen fanden, so wenig Beachtung schenkte man dem »Wegbleiben« jüdischer Schüler/innen. Die damals zur Schule gehenden »normalen« Deutschen, darunter viele Prominente wie Altkanzler Helmut Schmidt, erinnern sich an eine im großen und ganzen glückliche Schulzeit, über das Fehlen jüdischer Mitschüler/innen hatten sie sich kaum Gedanken gemacht. Dass diese schon früh – freiwillig oder angeordnet – ihre Schule verließen, ist als Faktum überhaupt erst seit etwa den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, also mehr als 35 Jahre nach Kriegsende, ganz allmählich ins Bewusstsein der Pädagogenschaft wie einer breiteren Öffentlichkeit gedrungen. Für die überwiegende Mehrheit der als integrierbar geltenden Pädagogen und Erziehungswissenschaftler veränderte sich nach 1933 nur relativ wenig. Die Mitherausgeber der als zentrales Organ Geisteswissenschaftlicher Pädagogik geltenden Zeitschrift »Die Erziehung«, Eduard Spranger und Wilhelm Flitner, nahmen das am 21. März 1933 in der Garnisonskirche in Potsdam spektakulär inszenierte Bündnis zwischen Hitler und Hindenburg zum Anlass eigener Stellungnahmen, in denen sie die Wiederherstellung eines starken nationalen Staates, die erfolgreiche Bekämpfung des Bolschewismus, damit zugleich die Überwindung des Weimarer »Systems« begrüßten und, ungeachtet einzelner Vorbehalte, große Erwartungen in das NS-Regime setzten.70 Dass Kollegen, die ihre Veranstaltungen für das Sommersemester 1933 noch 62

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ankündigen konnten, zum Zeitpunkt des Semesterbeginns aber Deutschland längst hatten verlassen müssen, wie der vor Verfolgung in die Schweiz geflüchtete Fritz Karsen, der neben seiner Schulleitertätigkeit einen Lehrauftrag an der Berliner Friedrich-Wilhelms- , der heutigen Humboldt-Universität wahrnahm, stellte für sie keinen Grund zum Protest dar – die Betroffenen waren einfach nicht mehr da, ihre Veranstaltungen mussten ausfallen. In dem in meinem Besitz befindlichen Vorlesungsverzeichnis der Universität Berlin vom Sommersemester 1933, das vermutlich einmal einem Studenten neuerer Philologien gehörte, sind die von Karsen angekündigten beiden Seminare: »Schule und Großstadt. Ein Kapitel vergleichender Pädagogik« und »Amerikanische und russische Erziehungsphilosophie«, mit Bleistift mehrfach durchgestrichen; über dem Namen Karsens steht, ebenfalls mit Bleistift, »ab«.71 Für die Frage nach Kontinuität und Traditionsbruch sind vor allem jene Schriften führender zeitgenössischer Pädagogen interessant, die bereits in der Weimarer Zeit erschienen waren und nach 1933 neu aufgelegt wurden, denn diese Neuauflagen zwangen die Autoren zu einer Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Umbruch nach dem 30. Januar 1933; sie mussten die Aktualität ihrer noch zu »Systemzeiten« entstandenen Schriften quasi unter Beweis stellen: Herman Nohl begnügte sich 1935 bei der Neuauflage seiner – erstmals 1933 im »Handbuch der Pädagogik« erschienenen – »Pädagogische(n) Bewegung in Deutschland« damit, dem nahezu unveränderten Text ein Vorund ein Nachwort hinzuzufügen, in dem er durch Verweis auf die gemeinsame Zielsetzung die reformpädagogische Tradition dem neuen Staat gleichsam anzudienen versuchte. Zwar sei die »leidenschaftliche Anstrengung unserer Nation, … das Problem ihres neuen Volkwerdens auf dem pädagogischen Wege zu lösen, nicht geglückt«, damit aber »der große Sinn dieser Bewegung und ihr echter Wille … nicht vergebens gewesen«; »die wahren Einsichten der pädagogischen Bewegung« – so die conclusio Nohls – müssten »in irgendeiner Gestalt doch in die … Arbeit« »unseres neuen Staates« eingehen (Hervorh. W.K.),72 wobei das semantisch verräterische »irgendeiner« und »doch« zeigt, wie unsicher Nohl sich über das konkrete »Wie« und »Ob überhaupt« gewesen sein muss. Peter Petersen ging bei der 1937 erfolgten Neuauflage seiner erstmals 1932 erschienenen »Pädagogik« – nun unter dem Titel »Pädagogik der Gegenwart« – schon mit der Titelwahl einen Schritt weiter. Er ergänzte seinen in Teilen unveränderten, passagenweise umgeschriebenen Text durch kürzere oder längere Zusätze, die einen Entwicklungsprozess mit Elementen von Kontinuität und Neuansätzen behaupten. Letzteres z. B. hinsichtlich der Ablösung bündischer Organisationen durch die HJ, aus der Petersen eine Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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durch die nationalsozialistische Weltanschauung getragene, das gesamte NSErziehungswesen, einschließlich Parteigliederungen, SA, SS, Arbeitsdienst und sogar das Heer umfassende neue Pädagogik erwachsen sah, die »nach demselben Ziele: der Volksgemeinschaft« ausgerichtet gewesen sei.73 Schließlich suggerierte der während der NS-Zeit im sächsischen Kultusministerium tätige Karl Friedrich Sturm in den seit 1933 erschienenen vier (!) Neuauflagen seiner erstmals 1930 publizierten »Pädagogischen Reformbewegung« – jetzt mit dem aktualisierten Titel »Deutsche Erziehung im Werden« – eine Art Verschmelzung von Pädagogik vor und nach 1933. »Was fünf Jahrzehnte hindurch gesucht und versucht worden ist, beginnt sich nunmehr zu gestalten. Noch immer glänzen – wie schon 1890 – die Ideen der Persönlichkeit und der Gemeinschaft, aber nicht mehr als voneinander unabhängige Werte gleichen Ranges und nicht mehr als nur abstrakte und formale Begriffe; sie sind durch ihre Eingliederung in die Weltanschauung des Nationalsozialismus inhaltlich erfüllt, geläutert und unlösbar aufeinander bezogen.«74

Der Nationalsozialismus also die große Synthese der lange vor 1933 verbreiteten Ideen von Persönlichkeit und Gemeinschaft. Sieht man einmal davon ab, dass die zitierten Publikationen Nohls, Petersens und Sturms »Anpassungsleistungen« an den Zeitgeist sind, zeigen sie gleichzeitig, dass ihre Autoren tatsächlich vielerlei Kontinuitäten gesehen, die nationalsozialistische Pädagogik – ungeachtet ihrer inhumanen Prämissen und Zielvorstellungen – als Weiterentwicklung Weimarer Reformpädagogik wahrnehmen konnten. Am Beispiel Peter Petersen lässt sich exemplarisch aufzeigen, dass Unterstützung des NS-Regimes von Seiten angepasster Erziehungswissenschaftler sich nicht auf Schriften allein beschränkte, sie vielmehr auch Wege suchten und fanden, die eigene Arbeit in den NS-Staat einzubringen. Petersen scheute sich nicht, seinen erstmals 1927 auf der »Internationalen Konferenz des Arbeitskreises für Erneuerung der Erziehung« in Locarno vorgestellten Jenaplan nach 1933 dem NS-Staat als Grundlage nazistischer Schulreform anzudienen, also jenem Staat, der die in der Weimarer Zeit aufgebauten internationalen Beziehungen in der Pädagogik wie auch die Grundlagen »Neueuropäischer Erziehungsbewegung« zerstört hatte. Allerdings war es für ihn aufgrund der im »Jenaplan« von Anfang an deutlich antiliberalen und antidemokratischen Tendenzen ein Leichtes, durch kleinere Zusätze im Text sein Reformkonzept als ns-spezifisch erscheinen zu lassen.75 Aufsätze wie »Die erziehungswissenschaftlichen Grundlagen des Jenaplans im Lichte des Nationalsozialismus«76 flankierten seine Bemühungen geschickt. Als diese sich 64

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zerschlugen, versuchte er während des Krieges die Prinzipien seines Jenaplans im Berufsschulwesen kriegsrelevanter Industriezweige zu verankern – Robert Döpp spricht von »bewusster Funktionalisierung des eigenen Reformanspruches im Dienste der NS-Kriegspolitik.«77 Darüber hinaus gelang es ihm, als Vortragender und Seminarleiter in unterschiedlichen Kontexten von NSAusbildungseinrichtungen tätig zu werden, regelmäßig an der »Akademie für Jugendführung« in Braunschweig, je einmal an der »Akademie der HJ (Mädel)« in Luxemburg und im KZ Buchenwald vor dort inhaftierten (kahlgeschorenen) norwegischen Studenten, die gegen die NS-Besatzungsmacht in Norwegen protestiert hatten und zum Eintritt in die Waffen-SS motiviert werden sollten. Thema von Petersens Vortrag hier: »Wissenschaft im Dienst des Lebens / Erziehungswissenschaft der Gegenwart«.78 Nicht gering zu veranschlagen ist schließlich Petersens Rolle als Repräsentant des NS-Regimes während seiner verschiedenen Auslandsaufenthalte, z. B. auf einer Reise in die Südafrikanische Union von Juli bis Oktober 1937 mit insgesamt 63 Vorträgen an 27 Orten, »über die ein Zwischenbericht des Deutschen Konsulates in Kapstadt an das Auswärtige Amt vom 26.8. hervorhob, er habe es in geschickter Weise verstanden, Verschiedenes über das neue Große des Dritten Reiches in seinen größtenteils vorzüglich besuchten Versammlungen mitzuteilen.79 Petersens Selbsteinschätzung in einem Schreiben an seinen Schüler Döpp-Vorwald vom April 1944, er sei »nicht am Rande ein Zuschauer, sondern doch irgendwie mittendrin«, ist eine treffende Interpretation.80 Dass es andere nicht geschafft haben, bis zum Ende des NS-Regimes machtförmig zu bleiben, hing nicht selten damit zusammen, dass sie sich in den polykratischen Machtstrukturen nicht behaupten konnten. Bei der Zwangsemeritierung Herman Nohls nach dem Sommersemester 1937 z. B. könnten Interventionen Baeumlers eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben.81 Während sich der Inkorporationsprozess für die Mehrheit der Betroffenen, wie gesehen, relativ kontinuierlich gestaltete, erfolgte ein radikaler – gewaltsamer – Abbruch der demokratischen und sozialistischen Traditionen des Weimarer Bildungswesens und seiner Reformmodelle. Auch hier gab es Kontinuitätslinien, vor allem antisemitischer Hetze gegen jüdische, pazifistische und/oder politisch »linke« Lehrer/innen und Hochschullehrer/innen durch Angehörige des deutsch-nationalen Bürgertums – Schüler, Studenten wie Kollegen und Eltern, die für die Betroffenen lange vor 1933 zu Entlassung oder Zwangsversetzung führen konnten.82 Solche Kontinuität verdeutlicht die bereits zu Beginn der 30er Jahre einsetzende Verunglimpfung von Fritz Karsens demokratisch-sozialistischer Karl-Marx-Schule durch den Berliner Neuphilologen Kurt Schwedtke, die mit der Entlassung Karsens im Februar 1933 und der anschließenden Umorganisierung seiner Schule im nazistischen Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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Geiste ihr Ziel erreichte. »Nie wieder Karl-Marx-Schule! Eine Abrechnung mit der marxistischen Erziehung und Schulverwaltung. Gewidmet den deutschen Junglehrern!« lautete der Titel einer im März 1933 bei Georg Westermann in Braunschweig erschienenen Schmähschrift Schwedtkes – »Die Hochburg der marxistischen Unkultur gesäubert!« lautet die Überschrift des »Völkischen Beobachters« am Morgen nach der Entlassung Karsens.83 Gleichwohl stellen die Gewaltakte nach dem 30. Januar 1933 eine neue Qualität der Entrechtung dar, wie die Vielzahl von Berichten über den Umgang des NS-Regimes, von SA und Gestapo mit Systemgegnern belegen. Man täte der Weimarer Republik Unrecht, wenn man nicht betonte, dass solche Exzesse derart widerspruchslos in diesen Formen und in diesem Ausmaß vor 1933 kaum denkbar gewesen wären. Dass die gewaltsame Ausschaltung demokratisch-sozialistischer Reformpädagogik wie jeder Art kritischer Erziehungswissenschaft einen wirklichen Traditionsbruch bedeutet hat, zeigt die Tatsache, dass deren Repräsentant/ innen bis zum heutigen Tag weithin ausgeschlossen geblieben sind. Sie wollten oder konnten nach 1945 nicht wieder zurückkehren, erhielten nur in den seltensten Fällen noch einmal die Möglichkeit, sich in Deutschland reformerisch zu engagieren, wurden vor allem aber mit der Zerschlagung ihrer Reformmodelle und/oder ihrer Vertreibung zugleich aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht.84 Dies, obwohl ihre Konzepte selbst 75 Jahre nach ihrer Vertreibung vielfach aktueller erscheinen als die der meisten Kollaborateure. Man denke etwa an Fritz Karsens Karl-Marx-Schule, deren Konzept einer Einheits- und sozialen Arbeitsschule bereits in den 20er und frühen 30er Jahren den Herausforderungen einer modernen und demokratischen Zivilgesellschaft wesentlich besser entsprochen hat als beispielsweise Peter Petersens vormoderne Gemeinschaftspädagogik des Jena-Plans.85

Die NS-Ausleseschulen – »mit vielen Fäden der Vergangenheit verbunden« Nirgendwo sonst im nazistischen Erziehungswesen scheint der Traditionsbruch auf den ersten Blick so klar erkennbar, wie in den NS-Ausleseschulen, also den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napolas) und den AdolfHitler-Schulen (AHS), die bereits aufgrund ihrer Herauslösung aus der allgemeinen Schulverwaltung sowie der Internatsform eine Sonderstellung inne hatten.86 Ganz offensichtlich sollten hier nazistische Erziehungsvorstellungen, die sich im öffentlichen Schulwesen nur bedingt realisieren ließen, wenigstens im Rahmen von Modellen kompromisslos erprobt werden. 66

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Einen Bruch mit Weimarer Traditionen stellen schon die Auslesekriterien und Zielvorstellungen dar. Zwar hatte auch dem Weimarer Begabungsdiskurs ein tendenziell rassistischer Naturbegriff zugrundegelegen, der zielte jedoch auf die intellektuelle Natur, während die NS-Ausleseschulen dem in »Mein Kampf« propagierten »kerngesunden Körper«, der »Willens- und Entschlusskraft« sowie der »Verantwortungsfreudigkeit« (zukünftiger Führer) eindeutig Vorrang einräumten. Als »Vorbedingung für die Aufnahme« galten: »arische Abstammung, einwandfreie Charaktereigenschaften, volle körperliche und geistige Leistungsfähigkeit (keine Brillenträger!)«.87 Gefragt war nicht mehr das geistig begabte Kind, sondern der »tüchtige Kerl«, der später einmal zum Einsatz seines Lebens bereit war, der »kleine Rädelsführer«, dessen Führernatur sich schon im Kind kräftig bemerkbar macht«.88 Dementsprechend lag der Hauptakzent bei der Auslese – anders als bei der propagierten Begabtenauslese der Weimarer Zeit – auf körperlicher, charakterlicher und erst zuletzt intellektueller Eignung. Den skizzierten Auslesekriterien korrespondierten Schulziele wie das der »Herausbildung deutscher Jungen zu Nationalsozialisten«, der Formung »politischer Soldaten« oder der »Typenprägung« im nazistischen Sinne, Formeln, die auf bloße Indoktrination junger Menschen zielten, aber insgesamt noch kein Erziehungskonzept ergaben. Scholtz spricht im Hinblick auf die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten vom »Mangel an dezidierten Zielvorstellungen«, von einer »pädagogisch anspruchslosen Ordnungsstruktur in den Internaten« und einer »Verschulung der Freizeit unter dem Vorzeichen von ›Wehrsport‹«.89 Dagegen stehen die zahlreichen Berichte von Ehemaligen, die noch heute glauben, in diesen Schulen eine »einmalig schöne Zeit« erlebt und eine »hervorragende Ausbildung« genossen zu haben.90 Rekonstruiert man anhand solcher Berichte den Alltag vieler Schulen, lässt er sich tatsächlich als eine Art »Pädagogischer Provinz« nachzeichnen, wie dies die beiden österreichischen Historiker Barbara und Wolfgang Feller für die Adolf-Hitler-Schulen – freilich weithin unkritisch – getan haben.91 Was Ehemalige als positiv an ihrer Schule hervorheben, sind Elemente der Reformpädagogik der 20er Jahre: Projektunterricht, eine an individuellen Kriterien orientierte Notengebung, die Betonung der Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit im Erziehungsprozess, der Anspruch ganzheitlicher Bildung von Herz, Kopf und Hand, die Betonung musischer Elemente, die praktische Ausbildung in Werkstätten, nicht zuletzt die Verlegung der Schule in eine landschaftlich schöne Umgebung – wie bereits bei Hermann Lietz. Die starke Gewichtung derartiger traditionaler reformpädagogischer Methoden in den NS-Ausleseschulen haben vermutlich deren auf Indoktrination hin angelegten Charakter für die Schüler Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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überdeckt, ihn damit freilich umso gefährlicher – als heimlichen Lehrplan – zur Wirkung gebracht. Hier zeigt sich die Problematik eines Reformpädagogik-Verständnisses, das die Methoden von den Intentionen und Inhalten ablöst, wie dies auch Feller und Feller in ihrer Untersuchung tun, die von »Ambivalenz der AHS-Pädagogik« sprechen, oder einer ihrer Interviewpartner, der »zwei Gesichter« der Schulen konstruiert, das eine, das »eigentlich fast überhaupt nicht in den Nationalsozialismus hinein(passt), weil es eine Erziehung zur Individualität war (sic! W.K.), zur Herausforderung der äußersten Möglichkeiten eines jeden Individuums«, das andere, »was die ganze Geschichte dann versaut, … die Überstülpung einer hervorragenden Pädagogik (sic! W.K.) durch eine bewusste Ideologisierung auf verrückte Ziele dieser Ideologie«.92 Eine solche Trennung der Aspekte führt zu einer Verharmlosung oder gar Verklärung der NS-Ausleseschulen, in denen ein perfides Ziel mit pädagogisch perfekten Methoden erreicht werden sollte. Herwig Blankertz hat bereits zu Beginn der 80er Jahre konstatiert, dass »die Versatzstücke des Überlieferten … eklektisch zusammengestoppelt, immer wieder neu organisiert und uminterpretiert« waren. Er erklärt das Fehlen eines stringenten Erziehungskonzeptes in den NS- Ausleseschulen damit, dass »die Irrationalität des Führerbefehls … gerade keine rationale Planung und Durchstrukturierung erlaubte«.93 »Versatzstücke des Überlieferten« gelangten in die NS-Ausleseschulen durch die Vorerfahrungen der sie konzipierenden, vor allem aber durch die dort tätigen Pädagogen, die vielfach aus der Jugendbewegung oder von Reformschulen der Weimarer Zeit kamen und Grundzüge ihres oben erläuterten Traditionsverständnisses in die NS-Einrichtungen mitbrachten. Dies gilt sogar für den als Inspekteur der Napolas fungierenden SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS August Heißmeyer, der sich noch 1968 mit seiner jugendbewegten Vergangenheit in den »Akademischen Freischaren« sowie »enger Verbindung« zu »dem Professor Nohl« gebrüstet hat.94 Wie sehr tatsächlich Lehrer reformpädagogische Einflüsse in die NS-Ausleseschulen brachten, mag folgende Episode verdeutlichen, auf die ich in einem Nachlass gestoßen bin. Bei der Suche nach Rezensenten für das 1973 von Harald Scholtz publizierte Buch »Nationalsozialistische Ausleseschulen«, um die sich vor allem Scholtz’ Berliner Kollege Rudolf Lennert bemühte, wurde auch ein ehemaliger Lehrer an der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Ballenstedt angesprochen, den Lennert von gemeinsamen Zeiten in der Jugendbewegung her kannte. Die Frage dieses potenziellen Rezensenten, ob er seine eigenen (positiven) Erfahrungen in Ballenstedt berücksichtigen dürfe, beantwortete Lennert mit einem Zitat aus einer eigenen Rezension zu einem anderen Buch: 68

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»Aber in seinen Eliteschulen hatte das Dritte Reich angefangen, sich Erziehungsformen zu schaffen, die an einigen Stellen eine luziferische pädagogische Lebendigkeit besaßen, die Spartanisches, Preußisches und Englisches nicht ohne jugendpsychologisches Geschick zu etwas Neuem verschmolzen, über das man sich bis heute nur aus den mündlichen Erzählungen der Beteiligten unterrichten kann.« 95

Die Charakterisierung nazistischer Eliteschulen mit dem Begriff des Luziferischen bzw. von »luziferischer pädagogischer Lebendigkeit«, zu deren Einflüssen neben den genannten auf jeden Fall noch Jugendbewegung und Reformpädagogik hinzugefügt werden müssten, zeigt m.E. sehr gut die Melange von Kontinuitäten und Traditionsbrüchen in den NS-Ausleseeinrichtungen. Als besagter Rezensent in seiner Besprechung des Scholtzschen Buches für eine GEW-Zeitschrift aus eigener Erfahrung darauf hinwies, dass in den Napolas zuweilen ein »gepflegter musischer und ein gediegener wissenschaftlicher Unterricht« anzutreffen gewesen seien, löste dies empörte Reaktionen auf Leserseite aus, die zeigen, dass damals reformpädagogische Elemente und NS-Ausleseschulen noch als völlig inkompatibel wahrgenommen wurden. Der Nachweis von Kontinuitäten dieser Art nimmt den Schulen freilich nichts von ihrem perfiden Charakter als Instrumente zur Zurichtung von Jugend­ lichen für die menschenverachtenden Ziele des NS-Staates.

Kontinuität über das Jahr 1945 hinaus? Das Jahr 1933 hat – wie gezeigt – für das Erziehungswesen viel weniger Traditionsbruch gebracht, als es die bis in die 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verbreitete Behauptung vom »Ende« der »pädagogischen Reformbewegung« und deren Ablösung durch »den Willen eines Einzelnen« signalisierte.96 Zentrale Denkkategorien, Menschenbilder und Zielvorstellungen der NS-Pädagogik waren in Grundzügen bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit angedacht und verbreitet, sie mussten nur noch gebündelt, zugespitzt und mit entsprechender NS-Terminologie verbunden werden, um Durchschlagskraft zu gewinnen. Das im Akt von Potsdam symbolisch vollzogene Bündnis zwischen Nationalkonservativen und Nazis bildete auch für die Mehrheit der Pädagogenschaft eine Brücke in den nazistischen Staat, den sie nicht nur mit ihren Schriften legitimierten, sondern auch im Rahmen vielfältiger anderer Aktivitäten unterstützten bis hin zu zahlreichen Kriegsdiensten. Gewaltsamer Ausschluss betraf nur eine Minderheit, freiwilligen Verzicht auf Amt und Würden oder gar Widerstand leisteten nur wenige.

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Nach 1945 sorgten die Alliierten im Zuge der Entnazifizierung zwar für die Säuberung des Erziehungswesens von allen sichtbaren Bestandteilen des NS, einschließlich Lehrplänen und Schulbüchern, versuchten auch, wie vor allem die Amerikaner in ihrer Zone, das Erziehungswesen mit einem neuen demokratischen Geist zu durchdringen, doch stießen sie dabei bekanntlich im Westen auf den massiven Widerstand der Machtgruppen, die zuvor mit den Nazis kollaboriert hatten: Universitäten, Lehrerverbände, Wirtschaftsvertreter, Kirchen usf. Nur in der sowjetisch besetzten Zone gelang es, mit dem »Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule« ein Zeichen zu setzen; allerdings verhinderte hier die mit dem Kalten Krieg zunehmende Stalinisierung von Gesellschaft und Erziehungswesen ebenfalls eine Fortsetzung dieses Prozesses. Wie 1933 gab es im westdeutschen Erziehungswesen auch nach 1945 eine fast vollständige personale Kontinuität;97 lediglich dezidierte Nazipädagogen wie Alfred Baeumler und Ernst Krieck verloren ihre Positionen, wobei Krieck bereits 1947 verstarb. Für die meisten Erziehungswissenschaftler bedurfte es nicht einmal des Artikels 131 GG, um in die Hochschule zurückkehren zu können, sie konnten sich, wenn schon nicht als Gegner, so doch als Benachteiligte des NS-Regimes darstellen. Zwar waren etwa Herman Nohl durch seine Zwangsemeritierung oder Eduard Spranger durch kurzfristige Haft nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 tatsächlich Nachteile durch das NS-Regime erwachsen, dies ändert jedoch insgesamt nichts an ihrer Rolle als – zumindest zeitweisen – Repräsentanten des NS-Staates. Gleichwohl konnten sie in der jungen Bundesrepublik nicht nur wiederum zentrale erziehungswissenschaftliche Lehrstühle besetzten und Schulen bilden, sondern auch die aufgrund ihrer Demokratieferne für eine wirkliche Erneuerung des Erziehungswesens wenig geeignete Geisteswissenschaftliche Pädagogik als Leitdisziplin etablieren. Dass sie sich ebenfalls entsprechender gesellschaftlicher Anerkennung erfreuten, zeigt ihre Mitgliedschaft in verschiedensten bundesdeutschen Reformkommissionen wie auch beispielsweise die Tatsache, dass Eduard Spranger 1951 zum zweiten Jahrestag der Bundesrepublik die Rede halten durfte. Dagegen wurden die von den Nazis abgebrochenen demokratisch-sozialistischen Traditionen Weimars nicht wieder aufgenommen; deren Repräsentant/innen und ihre Schulmodelle blieben vergessen. Ihre Rezeption hätte allerdings eine kritische Analyse der problematischen Denktraditionen der deutschen Pädagogik vorausgesetzt, an der im damaligen restaurativen gesamtgesellschaftlichen Klima der Adenauer-Ära freilich kaum jemand interessiert war. Erst »1968« hat sich ganz allmählich ein neues Denken auch in der Pädagogik etabliert, vor allem durch die Rezeption von Kritischer Theorie und Methoden einer kritischen Sozialwissenschaft. Dass es 70

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danach immer noch Jahre gedauert hat, bis ein Diskurs über problematische Kontinuitäten in der deutschen Erziehungswissenschaft überhaupt in Gang kommen konnte, zeigt, wie tief verankert die skizzierten Traditionen in der deutschen Pädagogik gewesen sind. Die verdrängten demokratisch-sozialistischen Pädagog/innen werden zwar inzwischen zur Kenntnis genommen, den Geruch des Fremden und Nichtdazugehörigen haben sie freilich bis heute nicht verloren.

Auswahlbibliographie Ciupke, Paul u. a. (Hg.): «Die Erziehung zum deutschen Menschen«. Völkische und national-konservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007. Ders. / Jelich, Franz-Josef (Hg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Natio­nalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang, Essen 2006. Döpp, Robert: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit, Münster u. a. 2003. Gran, Michael: Das Verhältnis der Pädagogik Herman Nohls zum Nationalsozialismus. Eine Rekonstruktion ihrer politischen Gehalte, Hamburg 2005. Keim, Wolfgang (Hg.): Erziehungswissenschaft und Nationalsozialismus – Eine kritische Positionsbestimmung, Marburg 1990. Ders.: Erziehung unter der Nazi-Diktatur, 2 Bde., Darmstadt 1995/97. Ders.: »Nicht das Wegsehen, sondern das Hinblicken macht die Seele frei« – die Verdrängung des Faschismus durch die bundesdeutsche Pädagogenschaft in der Adenauer-Ära, in: Eierdanz, Jürgen/Kremer, Armin, Weder erwartet noch gewollt. Kritische Erziehungswissenschaft und Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges, Hohengehren 2000, S. 19–46. Ders.: Bildung versus Ertüchtigung. Gab es einen Paradigmenwechsel im Erziehungsdenken unter der Nazi-Diktatur? In: Lehmann, Hartmann/Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004, S. 223–258. Ortmeyer, Benjamin: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den führenden Erziehungswissenschaftlern in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim/Basel 2009. Radde, Gerd u. a. (Hg.): Schulreform – Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln, 2 Bde. Opladen 1993. Reyer, Jürgen: Eugenik und Pädagogik. Erziehungswissenschaft in einer eugenischen Gesellschaft, Weinheim/München 2003. Zimmer, Hasko: Von der Volksbildung zur Rassenhygiene: Herman Nohl, in: Rülcker, Tobias/Oelkers, Jürgen (Hg.): Politische Reformpädagogik, Bern u. a. 1998, S. 515–540. Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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Vgl. als Gesamtdarstellung KEIM, Wolfgang: Erziehung unter der Nazi-Diktatur, 2 Bde., Darmstadt 1995/97; zur Rolle der Erziehungswissenschaft: KEIM, Wolfgang: Bildung versus Ertüchtigung. Gab es einen Paradigmenwechsel im Erziehungsdenken unter der Nazi-Diktatur? In: LEHMANN, Hartmut/OEXLE, Otto Gerhard (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Leitbegriffe, Deutungsmuster, Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, Göttingen 2004, S. 223–258; ORTMEYER, Benjamin: Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim/Basel 2009. Vgl. CIUPKE, Paul/JELICH, Franz-Josef (Hg.): »Die Erziehung zum deutschen Menschen«. Völkische und nationalkonservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007. Vgl. Benjamin Ortmeyers verdienstvolle Edition sämtlicher Schriften und Artikel Peter Petersens, Herman Nohls, Eduard Sprangers und Erich Wenigers aus der NS-Zeit, mit der die wissenschaftliche Auseinandersetzung über diese Pädagogen eine neue Quellengrundlage erhalten hat: ORTMEYER, Benjamin (Hg.): Peter Petersens Veröffentlichungen in der NS-Zeit. Dokumente 1933–1945, Frankfurt a. M. 2008; ORTMEYER, Benjamin (Hg.): Herman Nohls Schriften und Artikel in der NS-Zeit. Dokumente 1933–1945, Frankfurt a. M. 2008; ORTMEYER, Benjamin (Hg.): Eduard Sprangers Schriften und Artikel in der NS-Zeit. Dokumente 1933–1945, Frankfurt a. M. 2008; ORTMEYER, Benjamin (Hg.): Erich Wenigers Schriften und Artikel in der NS-Zeit. Dokumente 1933–1945, Frankfurt a. M. 2008. Allein der Band mit Schriften Sprangers umfasst mehr als 1000 Seiten, der mit Schriften Petersens annähernd 700 Seiten. Die Bände sind in der Deutschen Bibliothek Frankfurt a. M. sowie in ca. 30 weiteren Universitätsbibliotheken greifbar (Auskunft B.O.); vgl. dazu ORTMEYER, Mythos und Pathos. Der engl. Begriff incorporation entspricht u. a. den Bedeutungen a) Aufnahme, Einfügung, Integration und b) Verbindung, Vereinigung, vgl. PONS/COLLINS: Großwörterbuch für Experten und Universität, Stuttgart u. a. 1997, S. 1240. Vgl. DÖPP, Robert: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus. Ein Beitrag zum Ende der Eindeutigkeit, Münster u. a. 2003, S. 382ff., spez. S. 384, der eine solche Sichtweise des NS auf die Rolle Peter Petersens in der NS-Zeit anwendet. Vgl. zu diesem Komplex zusammenfassend KEIM, Erziehung unter der NaziDiktatur, Bd. 1, S. 91ff., 138ff., 148ff.; Bd. 2, S. 220ff., 263ff. (mit weiterführender Lit.). Vgl. ebd., Bd.  2, S. 336ff. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 327ff., weiterhin die interessante Kontroverse zur ReichweinMonographie: HOMANN, Christine: Dienstbares Begleiten und später Widerstand. Der nationale Sozialist Adolf Reichwein im Nationalsozialismus, Bad Heilbrunn 2007; LINGELBACH, Christoph: Wem diente und wem dient Adolf Reichweins Schulpädagogik? In: reichwein forum Nr.11/12 Dezember 2007/ Wolfgang Keim

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April 2008, S. 14–30; HIMMELSTEIN, Klaus: Eine unbequeme Erinnerung, in: informationen. Wiss. Zs. d. Studienkreises Deutscher Widerstand 1933–1945, Nr. 68, Nov. 2008, S. 39f. Vgl. UHLIG, Christa: Reformpädagogik. Rezeption und Kritik in der Arbeiterbewegung. Quellenauswahl aus den Zeitschriften »Die Neue Zeit« (1883–1918) und »Sozialistische Monatshefte« (1895/97), Frankfurt a. M. 2006, insbesondere den Einleitungsteil von Christa Uhlig, spez. S. 116–159. Vgl. NOHL, Herman: Die pädagogische Bewegung in Deutschland, in: NOHL, Herman/PALLAT, Ludwig (Hg.): Handbuch der Pädagogik, Bd. 1, Langensalza 1933 (Reprint 1981), S. 302–374; zusammen mit Nohls Handbuchbeitrag »Die Theorie der Bildung« (ebenfalls Bd. 1, S. 3–80) wieder aufgelegt als eigene Monographie unter dem Titel: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, Frankfurt a. M. 1935², 1949³, zuletzt 200211; FLITNER, Wilhelm: Die pädagogische Bewegung. Beiträge, Berichte, Rückblicke. Gesammelte Schriften, Bd. 4, Paderborn 1987. NOHL, Theorie der Bildung, S. 22. OTTO, Berthold: Der Zukunftsstaat als sozialistische Monarchie, Berlin 1910; zum Gesellschaftsbild: WEISS, Edgar: Friedrich Paulsen und seine volksmonarchistisch-organizistische Pädagogik im zeitgenössischen Kontext. Studien zu einer kritischen Wirkungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1999, S. 242–252 (dort weitere Lit.). GURLITT, Ludwig: Der Deutsche und sein Vaterland, Berlin 1902; vgl. KONTZE, Arne: Der Reformpädagoge Prof. Dr. Ludwig Gurlitt (1855–1931); bedeutender Schulreformer oder »Erziehungsanarchist«? Ein Lebensbild als Beitrag zur Historiographie der Reformpädagogik, Göttingen 2001. PETERSEN, Peter: Allgemeine Erziehungswissenschaft, Berlin/Leipzig 1924. Vgl. Anm. 10. OTTO, Zukunftsstaat, S. 439. Ebd., S. 378. OTTO, Berthold: Wilhelm II. und wir! Die Kaiserartikel des »Deutschen Volksgeistes« aus den Jahren 1919–1925, Berlin-Lichterfelde 1925, S. 163. Vgl. ebd., S. 165. Ebd., S. 184. GURLITT, Der Deutsche und sein Vaterland, S. 133f. DOERRY, Martin: Übergangsmenschen. Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, Weinheim/München 1986, S. 164f. Vgl. etwa PETERSEN, Allgemeine Erziehungswissenschaft, S. 172ff. u.ö. Vgl. STERN, Fritz: Kulturpessimismus als politische Gefahr, München 1986 [1. Aufl. 1963]; BOLLENBECK, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik von Rousseau bis Günther Anders, München 2007, S. 206–215. NOHL, Pädagogische Bewegung, Handbuchartikel 1933, S.  302; vgl. GRAN, Michael: Das Verhältnis der Pädagogik Herman Nohls zum Nationalsozialismus. Eine Rekonstruktion ihrer politischen Gehalte, Hamburg 2005, S. 173–188. Ebd. S. 312. Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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Ebd. S. 304. Ebd. S. 340. Ebd. S. 340. NOHL, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1935²), unpag. Vorwort. Vgl. zu den Hamburger Reformern: MILBERG, Hildegard: Schulpolitik in der pluralistischen Gesellschaft. Die politischen und sozialen Aspekte der Schulreform in Hamburg 1890–1935, Hamburg 1970, S. 58ff.; WILKENDING, Gisela: Volksbildung und »Pädagogik vom Kinde aus«, Weinheim/Basel 1980; zur Bremer Reform: HAGENER, Dirk: Radikale Schulreform zwischen Programmatik und Realität. Die schulpolitischen Kämpfe in Bremen vor dem Ersten Weltkrieg und in der Entstehungsphase der Weimarer Republik, Bremen 1973; zum Schulinspektor Köppe: ebd., S. 40ff. u.ö. Vgl. NEUNER, Ingrid: Der Bund Entschiedener Schulreformer 1919–1933, Bad Heilbrunn 1980; BERNHARD, Armin: Demokratische Reformpädagogik und die Vision von der neuen Erziehung. Sozialgeschichtliche und bildungstheoretische Analysen zur Entschiedenen Schulreform, Frankfurt a. M. 1999. In der »Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers der Französischen Verfassung« vom 3. September 1991 ist von »natürlichen und unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechten« die Rede, Art.1 proklamiert: »Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.« Die »Verfassung der Französischen Republik« vom 24. Juni 1993 betont sogar ausdrücklich, dass »Unterricht…Bedürfnis aller« sei und verbindet dies mit der Forderung, dass »die Gesellschaft…mit ihrer ganzen Macht die Fortschritte der öffentlichen Bildung fördern« solle, wobei als Unterscheidungskriterium nur das »Leistungsvermögen« gelten gelassen wird (zit. n. HARTUNG, Fritz: Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, Berlin/Frankfurt a. M. 19724, S. 45f. u. S. 55). Vgl. die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« von 1948 sowie das »Übereinkommen über die Rechte des Kindes« (sog. UNKinderkonvention) von 1989 mit sehr viel weitergehenden Ausführungen zu Kinderrechten und Recht auf Bildung, abgedruckt als Anhang bei RICHTER, Ingo: Fürsorge und Bildung als universelles Menschenrecht. In: Jahrbuch für Pädagogik 1999: Das Jahrhundert des Kindes?, Frankfurt a. M. 2000, S. 267–279, Anhang S. 275–279; vgl. auch die Beiträge Rehbein, Kauffmann, Borsche im selben Jahrbuch. – Dass die Realisierung des Gleichheitsgrundsatzes in vielen Fällen die Gewährung besonderer Zuwendungen, Hilfen und Unterstützung erfordert, war vor allem eine Erkenntnis der Bildungsreformphase der ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahre. Vgl. als knappen Überblick REYER, Jürgen: Eugenik und Pädagogik. Erziehungs­ wissenschaft in einer eugenischen Gesellschaft, Weinheim/München 2003, S. 41–162; zu den Schlussfolgerungen kritisch: TENORTH, Heinz-Elmar: Rez. in Erz.wiss. Revue 3, Nr. 4 ( Juli/August 2004), http:// www.klinkhardt.de/ ewr/77991713.html (besucht am 26.3.2009).

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35 BERG, Christa: Reformpädagogik im Zwielicht. Aus den Abgründen der Ratgeberliteratur. In: Neue Sammlung 32 (1992), S. 459–472, Zitate S. 459 u. 469; vgl. zu Eugenik und Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung: MOCEK, Reinhard: Biologie und soziale Befreiung. Zur Geschichte des Biologismus und der Rassenhygiene in der Arbeiterbewegung, Frankfurt a. M. 2002. 36 KEY, Ellen: Das Jahrhundert des Kindes, hg. von Herrmann, Ulrich, Weinheim/ Basel 1992, Zitate S. 30 u.18; vgl. RÜLCKER, Tobias: Die deutsche Pädagogik und die widersprüchliche Realität von Kindheit im 20. Jahrhundert: In: Jahrbuch für Pädagogik 1999: Das Jahrhundert des Kindes?, Frankfurt a. M. 2000, S. 17–32. 37 Vgl. REYER, Jürgen: Alte Eugenik und Wohlfahrtspflege. Entwertung und Funktionalisierung der Fürsorge vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Freiburg 1991. 38 Vgl. zur Entstehung des Gesetzes wie auch zu den Positionen dazu auf Seiten unterschiedlicher Interessengruppen: KAISER, Jochen-Christoph u. a.: Eugenik, Sterilisation, »Euthanasie«. Politische Biologie in Deutschland 1895–1945. Eine Dokumentation, Berlin 1992, S. XVIIff.; das Gesetz selbst ebd., S. 126–134. 39 Die Vorlesung wurde erst in den 90er Jahren von dem Münsteraner Erziehungswissenschaftler Hasko Zimmer im Archiv der Niedersächs. Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen entdeckt und als Schlüsseldokument für das Verhältnis Nohls zum NS interpretiert (s.u.): NOHL, Herman: Die Grundlagen der nationalen Erziehung; eine Vorlesung im Wintersemester 1933/34, Masch. Ms., im Faksimile wie in einer Abschrift jetzt abgedruckt bei ORTMEYER, Herman Nohls Schriften und Artikel in der NS-Zeit, S. 144–275 (Faksimile), S. 277–365 (Abschrift), Zitate Faks. S. 10, 15, 18, 19; vgl. den Kommentar von ORTMEYER, ebd., S.  31–52; zur Kontextualisierung: ZIMMER, Hasko: Die Hypothek der Nationalpädagogik. Herman Nohl, der Nationalsozialismus und die Pädagogik nach Auschwitz. In: Jahrbuch für Pädagogik 1995: Auschwitz und die Pädagogik, Frankfurt a. M. 1995, S. 87–114; ZIMMER, Hasko: Von der Volksbildung zur Rassenhygiene. Herman Nohl. In: RÜLCKER, Tobias/OELKER, Jürgen (Hg.): Politische Reformpädagogik, Bern u. a. 1998, S. 515–540. 40 Vgl. KLAFKI, Wolfgang/BROCKMANN, Johanna-Luise: Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus. Herman Nohl und seine »Göttinger Schule« 1932–1937, Weinheim/Basel 2002; dazu kritisch: WEISS, Edgar: Rezension in: Jahrbuch für Pädagogik 2003: Erinnern, Bildung, Identität, Frankfurt a. M. 2003, S. 364–367. 41 Das Zitat Mommsens bezieht sich auf die Ostforschung der Geschichtswissenschaft in der NS-Zeit: MOMMSEN, Hans: Der faustische Pakt der Ostforschung mit dem NS-Regime. Anmerkungen zur Historikerdebatte. In: SCHULZE, Winfried/OEXLE, Otto Gerhard (Hg.): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 271. 42 Vgl. zur Kontinuität der Nohlschen Position die beiden Aufsätze von Hasko Zimmer.

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43 Vgl. zum Antisemitismus in der deutschen Jugendbewegung z. B. die bei KINDT, Werner: Die Wandervogelzeit. Quellenschriften zur deutschen Jugendbewegung 1896–1919, Düsseldorf/Köln 1968 abgedruckten Texte aus zeitgenöss. Perodika vor 1918: S. 253–255, 296, 993–996 u.ö.; zum Antisemitismus der HermannLietz-Schulen: MARWEDEL, Rainer: Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie, Darmstadt/Neuwied 1987, S. 71–74; WOLLENBERG, Jörg: Schönheit durch Bildung. Theodor Lessing als Bildungsreformer und Volkshochschulgründer. In: LESSING, Theodor: Bildung ist Schönheit. Autobiographische Zeugnisse und Schriften zur Bildungsreform, hg. von Wollenberg, Jörg, Bremen 1995, S.  16ff.; zum rassistischen Antisemitismus Lietz’: »Daß die Reinhaltung der Rasse für die Entwicklung eines Volkes von höchster Wichtigkeit ist, daß sich die Völker durch Nichtbeachtung dieses Grundsatzes schwer geschädigt haben, so zugrunde gegangen sind, lehrt die Geschichte. … Daß das Judentum zu verwandten, unter Umständen günstig einwirkenden Rassen nicht gehört, kann nicht bezweifelt werden … Leider hat die Verunsicherung bereits einen so großen Umfang erreicht, daß diese Entwicklung ohne schlimmste Härten und Ungerechtigkeiten nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. …« (LIETZ, Hermann: Des Vaterlandes Not und Hoffnung. Gedanken und Vorschläge zur Sozialpolitik und Volkserziehung, Veckenstadt 1919, S. 111, vgl. 111ff. u.ö.). Derartige Eindeutigkeiten haben der Wertschätzung Lietz’ als Reformpädagoge bis heute kaum etwas anhaben können; die Tendenz in der – vielfach durch Zuschüsse der Landerziehungsheime unterstützten – Literatur zur Marginalisierung, Verharmlosung oder gar Exkulpierung seines Antisemitismus ist kaum zu übersehen. – Zum Antisemitismus Sprangers vgl. die Nachweise in: KEIM, Bildung versus Ertüchtigung, S. 245f., Anm. 68; zum verweigerten Lehrauftrag für Siegfried Bernfeld: TENORTH, Heinz-Elmar: »Unnötig« und »unerwünscht«. Siegfried Bernfeld und die Universitätswissenschaft. In: HÖRSTER, Reinhard/MÜLLER, Burkhard (Hg.): Jugend, Erziehung und Psychoanalyse. Zur Sozialpädagogik Siegfried Bernfelds, Neuwied u. a. 1992, S. 23–40. 44 Zit. n. KAISER, Eugenik, Sterilisation, »Euthanasie«, S. 66. 45 Vgl. HARTNACKE, Wilhelm: Naturgrenzen geistiger Bildung, Leipzig 1930; HARTNACKE, Wilhelm: Bildungswahn – Volkstod, München 1932; HARTNACKE, Wilhelm: Die Ungeborenen, München 1936; vgl. KEIM, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd. 1, S. 51f.; REYER, Eugenik und Pädagogik, S. 125ff. 46 »Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wurde Hartnacke nicht nur in verschiedenen pädagogischen Fachzeitschriften und Philologenblättern mit Zustimmung zitiert, sondern er konnte auch auf dem Internationalen Pädagogenkongreß in Mainz auftreten und unter Beifall sein elitäres Schulkonzept vertreten. Von 1933 bis 1960 beherrschte eine engagierte Wissenschaft das schulpolitische Feld, von der kein Reformanstoß ausgehen konnte, weil sie von psychologischen und soziologischen Naturgesetzlichkeiten und Wesensformen ausging, die irgendwelchen Veränderungen a priori entzogen schienen.« (KUHLMANN, Caspar: Schulreform und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland 1946–1966. In: ROBINSON, Saul B. u. a.: Schulreform im gesellschaftlichen Prozeß. Ein in-

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terkultureller Vergleich, Bd. 1, Stuttgart 1969, S. 1–206, hier S. 121 und 126. Am Beispiel von Hartnacke wird die Kontinuität nativistischer und biologistischer Menschenbilder von Weimar über die NS-Zeit bis in die frühe Bundesrepublik besonders deutlich greifbar. Vgl. Anm. 32; zu Fritz Karsens Reformschule in Berlin-Neukölln: RADDE, Gerd: Fritz Karsen. Ein Schulreformer der Weimarer Zeit. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1999. KANT, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, erstmals publiziert in der Berlinischen Monatsschrift im Dezember 1783, hier zit. n. NORBERT, Norbert (Hg.): Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, Dezember 1990(4), S. 452–453, hier S. 452. HEYDORN, Heinz-Joachim: Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Werke, Bd. 3, hg. von Heydorn, Irmgard u. a., Vaduz 1995, S. 5; vgl. VIERHAUS, Rudolf: Bildung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 508–551, insbes. S. 508–521. – Träger einer solchen Vorstellung von Bildung war das aufgeklärte Bürgertum des ausgehenden 18. und frühen 19.Jhs; im Bildungswesen dieser Zeit fand sie ihren Ausdruck etwa in den damals zahlreichen Gründungen von literarischen Vereinen, Museums- und Harmoniegesellschaften; vgl. BALSER, Frolinde: Die Anfänge der Erwachsenbildung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1959, S. 11ff. u. 49ff. Ausführlicher habe ich diesen Prozess skizziert in meinem Aufsatz: KEIM, Bildung versus Ertüchtigung, insbes. S. 226–232. BLANKERTZ, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar 1982, S. 101. BOLLENBECK, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1996, S. 226, vgl. S. 244. Vgl. Anm. 50. PETERSEN, Allgemeine Erziehungswissenschaft, S. 101. Ebd., S. 96f. Ebd., S. 100. Ebd., S. 104. Ebd., S. 106f. NOHL, Pädagogische Bewegung, Handbuchartikel 1933, S. 317. FLITNER, Wilhelm: Laienbildung, Jena 1921, wieder abgedruckt in: FLITNER, Wilhelm: Erwachsenenbildung. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Paderborn 1982, S. 29–80. FLITNER, Laienbildung, zit. n. Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 30. Ebd., S. 33. NOHL, Pädagogische Bewegung, Handbuchartikel 1933, S. 317. Vgl. ausführlich KEIM, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd. 1, S. 73ff. Vgl. ebd., S. 74–86. Vgl. ebd., S. 86–91.

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67 Dies gilt in besonders ausgeprägter Form für viele Landerziehungsheime, darunter die Hermann-Lietz-Schulen, die schon früh eine eigene HJ organisierten, unter Beteiligung regionaler Nazi-Prominenz Hitler-Jugend-Treffen mit Feld­ gottesdienst und wehrpolitischen Übungen durchführten und sogar in den für die Heime typischen gemeinsamen Meditationen, sog. Kapellen, Texte von NaziAutoren zu Grunde legten. Angesichts des autoritären, nationalistischen, militaristischen und rassistischen Weltbildes von Herman Lietz und seinem Nachfolger Alfred Andreesen verwundert dies allerdings kaum. Vgl. Nachweise bei KEIM, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd. 1, S. 117–123. – Eine von Seiten der Vereinigung deutscher Landerziehungsheime seit Jahrzehnten angekündigte Untersuchung zu den Landerziehungsheimen in der Zeit des Nationalsozialismus ist bis heute nicht erschienen. 68 So die Auswertung der Protokolle im Rahmen eines interessanten Projektes zur Erforschung des Schulalltags der höheren Schulen Arnsbergs zwischen 1933 und 1945: Städt. Gymnasium Laurentianum (Hg.): Die höheren Schulen Arnsbergs im Dritten Reich, Arnsberg 2001, S. 29. Zu Recht weisen die Autor/innen freilich darauf hin, dass die Auswertung dieser Quelle allein noch wenig her gibt zur Frage der damaligen Überzeugung der Lehrerschaft. – Ebd., S. 30. 69 Nachweise bei KEIM, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd. 1, S.  117–123, S. 168. 70 Vgl. ausführlicher mit Nachweisen ebd., S. 169ff. 71 Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1933, Berlin o.J. (1933), S. 56. 72 NOHL, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1935²), unpag. Vorwort. 73 PETERSEN, Peter: Pädagogik der Gegenwart, Reprint der 2. Aufl. 1937. Mit einem Nachwort von Professor Wilhelm Kosse, Weinheim/Basel 1973, S. 45. Das Faktum dieses Reprints mit einem erstaunlich affirmativen Nachwort, in dem Petersen »innere Emigration«, für die »letzten Jahre« der NS-Zeit sogar »eine ausgesprochene Antiposition« attestiert wird (ebd., S. 200), stellt einen von vielen Belegen für die ungebrochene Kontinuität des Umgangs mit der NS-Zeit durch die Erziehungswissenschaft weit über das Jahr 1945 hinaus dar. Die erste Auflage der »Pädagogik der Gegenwart« erschien als: PETERSEN, Peter: Pädagogik, Berlin 1932. 74 Vgl. biographisch zu Sturm: HEHLMANN, Wilhelm: Pädagogisches Wörterbuch, Stuttgart 1942³, S.  418; STURM, Karl Friedrich: Allgemeine Erziehungswissenschaft. Eine Einführung, Osterwieck am Harz 1927; das Zitat nach STURM, Karl Friedrich: Deutsche Erziehung im Werden, Osterwieck am Harz/ Berlin 19384, S. 146. 75 Vgl. die Textvarianten des Jenaplans in: ORTMEYER, Peter Petersens Veröffentlichungen in der NS-Zeit, S. 641ff. 76 In: Die Schule im nationalsozialistischen Staat 11 (1935), Nr.6, S. 1–5; vgl. Faksimile und Abschrift in: ebd., S. 202–215. 77 DÖPP, Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus, S. 596.

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78 Zum Vortrag im KZ-Buchenwald: ORTMEYER, Peter Petersens Veröffentlichungen in der NS-Zeit, S. 7. Zur Vortragstätigkeit Petersens: Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus, S. 561–577. 79 DÖPP, Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus, S. 369; vgl. den Bericht über die Vortragsreise d. o. Prof. Dr. Dr.h.c. Peter Petersen, Jena, durch die Südafrikanische Union Juli–Okt. 1937. – Universitätsarchiv Jena, Best. M, Nr.631, abgedruckt in: ORTMEYER, Peter Petersens Veröffentlichungen in der NS-Zeit, S. 684–691, hier S. 685f. 80 Zit. n. DÖPP, Jenaplan-Pädagogik im Nationalsozialismus, S. 576. 81 Die Gründe für Nohls Zwangsemeritierung sind freilich bis heute nicht eindeutig geklärt. Vgl. KLAFKI/BROCKMANN, Geisteswissenschaftliche Pädagogik und Nationalsozialismus, S.  208ff.; GRAN, Das Verhältnis der Pädagogik Herman Nohls zum Nationalsozialismus, S. 94f., Anm. 228. 82 Bekannte Beispiele sind die durch große Teile der »rechten« Studenten- wie der Hochschullehrerschaft unterstützten Aktionen gegen den aus einer assimilierten jüdischen Familie stammenden Philosophen Theodor Lessing, der sich im Vorfeld der Reichspräsidentenwahl für die Nachfolge des 1925 verstorbenen Friedrich Ebert in einer Glosse kritisch zum national-konservativen Kandidaten Hindenburg geäußert hatte, was ihm schließlich den Ausschluss aus der Hochschule einbrachte (vgl. ausführlich MARWEDEL, Theodor Lessing, S. 253–308), sowie gegen den Heidelberger Mathematik- und Statistikprofessor Emil Julius Gumbel, Sohn eines jüdischen Bankiers, der als scharfer Kritiker rechtsextremistischer Tendenzen und als überzeugter Pazifist auf Druck der nationalsozialistischen Studentenschaft 1932 seine venia legendi verlor (vgl. JANSEN, Christian: Emil Julius Gumbel. Porträt eines Zivilisten, Heidelberg 1991, S. 30ff.). Vgl. als Beispiele aus dem Bereich des höheren Schulwesens MEIER, Ekkehard: Geschlossene Gesellschaft. Zur Mentalität deutsch-nationaler Gymnasiallehrer. In: RADDE, Gerd u. a. (Hg.): Schulreform: Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld BerlinNeukölln, Bd. 1: 1912 bis 1945, Opladen 1993, S. 102–115; zum Antisemitismus in der Weimarer Republik: WALTER, Dirk: Antisemitische Kriminalität und Gewalt. Judenfeindschaft in der Weimarer Republik, Bonn 1999. 83 SCHWEDTKE, Kurt: Nie wieder Karl-Marx-Schule! Braunschweig o.J. (1933); Völkischer Beobachter vom 22.2.1933, S.  1 (Norddeutsche Ausgabe/Ausgabe A, 54. Ausg., 46. Jg.); vgl. zum Kontext ausführlich RADDE, Fritz Karsen, S. 195ff. 84 Vgl. zur Remigration ausführlich KEIM, Erziehung unter der Nazi-Diktatur, Bd.  2, S. 305–313; zum Prozess der Verdrängung nach 1945 exemplarisch: RADDE, Gerd: Verfolgt, verdrängt und (fast) vergessen. Der Reformpädagoge Fritz Karsen. In: RADDE, Fritz Karsen, Neuausgabe, S. 359–388. – Das Vergessen der 1933 Vertriebenen belegen die einschlägigen Pädagogikgeschichten wie Darstellungen zur Reformpädagogik. 85 Vgl. KEIM, Wolfgang: Gesamtschule mit reformpädagogischem Profil. Zur Aktualität von Fritz Karsens Konzept der Einheits- und sozialen Arbeitsschule. In: Die Deutsche Schule 94 (2002), S. 355–368.

Kontinuitäten und Traditionsbrüche

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86 Vgl. immer noch grundlegend: SCHOLTZ, Harald: Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973. 87 So die »Aufnahmebedingungen der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Bensberg bei Köln a. Rh.«, zit. n. UEBERHORST, Horst (Hg.): Elite für die Diktatur. Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten 1933–1945. Ein Dokumentarbericht, Königstein/Ts. 1980, S. 83. 88 FRÖHLICH, Elke: Die drei Typen der nationalsozialistischen Ausleseschulen. In: LEEB, Johannes (Hg.): »Wir waren Hitlers Eliteschüler«. Ehemalige Zöglinge des NS-Ausleseschulen brechen ihr Schweigen, Hamburg 1998, S. 206, Zitat Ley; vgl. SCHOLTZ, Ausleseschulen, S. 181f., 243. 89 SCHOLTZ, Ausleseschulen, S. 76. 90 Vgl. LEEB, Hitlers Eliteschüler, Zitate S. 42 u. 22. 91 Vgl. FELLER, Barbara/FELLER, Wolfgang: Die Adolf-Hitler-Schulen. Pädagogische Provinz versus ideologische Zuchtanstalt, Weinheim/München 2001; vgl. dazu meine Rez. in: Zeitschrift für Pädagogik 48 (2002), S. 804–808. 92 Zitate FELLER/FELLER, Adolf-Hitler-Schulen, S. 202. 93 BLANKERTZ, Herwig: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Wetzlar 1982, S. 277. 94 Vgl. UEBERHORST, Elite für die Diktatur, S. 426. Das Interview Ueberhorsts mit Heißmeyer aus dem Jahre 1968 wirkt auf den heutigen Leser ausgesprochen befremdlich, weil es die Rolle des dem Täterkreis des NS zuzurechnenden Heißmeyer zu verwischen tendiert. 95 Lennert, Brief an Friedrich Merker vom 10.3.1973, im Besitz des Verf.; die Rezension ist erschienen in der Neuen Sammlung 1961, S. 433f. 96 So BLÄTTNER, Fritz: Geschichte der Pädagogik, Heidelberg 1951, S. 218. 97 Vgl. ausführlicher KEIM, Wolfgang: »Nicht das Wegsehen, sondern das Hinblicken macht die Seele frei«. Die Verdrängung des Faschismus durch die bundesdeutsche Pädagogenschaft in der Adenauer-Ära. In: EIERDANZ, Jürgen/ KREMER, Armin (Hg.): »Weder erwartet noch gewollt«. Kritische Erziehungswissenschaft und Pädagogik in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit des Kalten Krieges, Hohengehren 2000, S. 19–46.

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Wolfgang Keim

Hans-Ulrich Thamer

Der »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt Anspruch und Wirklichkeit in den Eliteeinrichtungen des NS-Bildungssystems

Die Suche des Menschen nach einem Anders- und Neusein seiner selbst, nach Neu- und Wiedergeburt ist uralt. Doch in der Moderne treten die Hoffnungen auf einen Neuen Menschen mit eigenem Inhalt und Anspruch auf. Der »Neue Mensch« war und ist ein zentrales Hoffnungsziel, welches zu den wichtigen Bestandteilen einer säkularisierten Heils- und Glaubensgeschichte vor allem der utopischen sozialen Bewegungen der Moderne gehörte. Über einen Katalog der Wegbereiter für diese Such- und Glaubensbewegungen wird man sich verständigen können – neben Rousseau und Condorcet gehören sicherlich auch Marx, Darwin und Nietzsche dazu; neben einer Ideengeschichte des Neuen Menschen gibt es auch eine Realgeschichte des Neuen Menschen in Gestalt unterschiedlicher sozialer Bewegungen, zu denen neben einzelnen Gruppierungen und Programmen der Französischen Revolution sicherlich die Jugendbewegung, aber auch die Studentenbewegung von 1968 gehören. In diesem Zusammenhang aber auch den Nationalsozialismus zu nennen, stößt aus vielerlei Gründen auf Bedenken oder schroffe Ablehnung. Einmal, weil die normative Kraft und Fortschrittsvision, die hinter den genannten Erscheinungen steht, im Nationalsozialismus nur schwer zu erkennen oder einzugestehen ist. Eine »positive« zukunftsgerichtete Utopie kann Hitler und seiner radikalnationalistischen Bewegung nicht unterstellt werden, sondern, falls dies überhaupt als Anspruch erkennbar ist, dann wird von kritischen Zeitgenossen wie von zurückblickenden Historikern auf jeden Fall der eklektisch, intellektuell dürftige und vor allem der zerstörerische, zutiefst inhumane Charakter nationalsozialistischer Ideologeme und Weltanschauungsziele hervorgehoben. Hinzu kommt die Beliebigkeit der nationalsozialistischen Zielvorstellungen, die eher die Funktion einer massenmobilisierenden Propaganda und Rhetorik besaßen, der man heterogene ideologische Versatzstücke inkorporieren konnte, die aber kein konsistentes Programm aufwiesen.

Der »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt

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Dennoch finden sich in Propaganda und Rhetorik, aber auch in der spezifischen Mentalität der Nationalsozialisten Versatzstücke von innerweltlichen-messianischen Vorstellungen verbunden mit einem eschatologischrevolutionären Zerstörungsmotiv, das vom »Zertrümmern der alten und Errichten einer neuen Welt«1 handelte. Erwartungen und Verheißungen dieser Art finden sich in den Visionen frühbolschewistischer Intellektueller, die im Neuen Menschen den »Erlöser der Erde, den Beherrscher titanischer Kräfte«, der der Welt » eine neue Sonne bringt« sahen. Nutzte das bolschewistische Regime, das diese Erwartungen in rituellen Handlungen aus Anlass von Staatsfeiertagen unaufhörlich propagierte, zur Rechtfertigung massenhafte revolutionäre Gewalt und Vernichtung, so zeigte sich die friedfertige und gewaltfreie Variante der Bilder vom neuen Menschen in der deutschen Jugendbewegung, die als kulturorientierte Bewegung eine innere Erneuerung propagierte und für die Jugend zur Metapher für Erneuerung und Dynamik wurde. Jugend und Natur, die Entdeckung des Körpers und die Suche nach Gemeinschaft wurden zu einer Heilskategorie, zum Ort, wo das wahre Wesen des Menschen zu finden ist.2 Für die Nationalsozialisten war der Neue Mensch, bei aller mentalen Nähe, die sich aus den Krisen- und Endzeiterwartungen ergab, vor allem der rassen­ ideologisch definierte Mensch und das bedeutete im Unterschied etwa zu den Vorstellungen der Jugendbewegung vor allem Inklusion und Exklusion, d. h. auch Züchtung und Gewalt. Wichtiger als alle Fragen nach einer vermeintlichen oder tatsächlichen Zielgerichtetheit und Konsistenz programmatischer Entwürfe der Nationalsozialisten ist darum der Blick auf ihre politische Praxis und die legitimatorische Funktion ihrer Propaganda. Das Hoffungsziel und die Rhetorik vom Neuen Menschen, gleich wie schlüssig die entsprechenden Entwürfe auch sind, haben unterschiedliche historische Konjunkturen und sagen in ihrem Bemühen um Orientierung und Sicherheit, was die Soziologen Kontingenzbewältigung nennen, sehr viel über die mentale Situation einer Epoche aus; auch die nationalsozialistische Rede vom Neuen Menschen besitzt ihre Wirkungskraft durch den Kontext und Hintergrund einer umfassenden Orientierungskrise und spiegelt das verbreitete Bedürfnis nach säkularen Heilserwartungen. Das macht im weiteren kulturgeschichtlichen Sinne die Relevanz unseres Themas aus. Diese Erwartungen mussten, unabhängig von ihrer intellektuellen Originalität, politisch bedient werden und die Art und Weise, wie sie befriedigt wurden, sagt wiederum einiges über die politisch-kulturelle Repräsentation des Nationalsozialismus und über die sozialen Bilder aus, die er entwickelte. Überdies teilten eine Reihe von NS-Führern diese Sehnsüchte, so diffus sie auch immer ausfielen. 82

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Das begründet die Annahme, dass die NS-Bewegung und die NS-Diktatur einen Teil ihrer mobilisierenden Wirkung von solchen Zukunftsvisionen erhielt und dass für deren Wirkungskraft nicht intellektuelle und theoretische Originalität und Stringenz zählten, sondern säkularisierte Glaubensbedürfnisse. Die waren nicht nur in der Zwischenkriegszeit und im Zeitalter der Extreme insgesamt in vielen Gesellschaften, besonders in der deutschen, vorhanden, sondern sie verdichteten sich auch in Formen einer «politischen Religion« bzw. einer »Säkularreligion«, die soziale Bewegungen vor allem in ihrer totalitären Ausprägung entwickelten und für ihre Zwecke einsetzten.3 Wenn wir nach diesen Vorbemerkungen und Einschränkungen auch im Nationalsozialismus die Existenz und die ideologische Ausformung einer vagen Sehnsucht nach dem »Neuen Menschen« als eine Zukunftsvision annehmen, so führt dies zu einer weiteren Klarstellung und Einschränkung. Sie bezieht sich auf die Einsicht in die Heterogenität nationalsozialistischer Ideologeme und auch Erziehungsziele; diese waren aus den unterschiedlichsten kulturellen Milieus und Denkrichtungen entnommen, sie verbanden in einer vielschichtigen Mischung traditionelle bürgerlich-nationale Mentalitäten und Erziehungsvorstellungen mit Leitbildern der Jugendbewegung und der rassenbiologistischen, eugenischen Doktrin. Im Kern handelte sich dabei um ein rassenideologisches Konzept, das alle anderen ideologischen Quellenströme bündelte. Der Neue Mensch war für den Nationalsozialismus, vor allem für Hitler, der rassenideologisch definierte Mensch. In einer Rede auf dem Reichsparteitag 1937 verkündete Hitler dementsprechend: » Die Folgen dieser deutschen Rassenpolitik werden entscheidender sein für die Zukunft unseres Volkes als die Auswirkung anderer Gesetze. Denn sie schaffen den Neuen Menschen«.4 Zuvor hatte schon das ideologische Hausblatt der SS, das Schwarze Korps, festgestellt, dass die nationalsozialistische Weltanschauung vor allem die »innere Gestaltung des deutschen Menschen« erfordere und dass in diesem Kampf um die deutsche Seele es nur die Anerkennung durch die Gegner geben könne oder deren Vernichtung.5 Damit sind die beiden wichtigsten Exponenten der NS-Weltanschauung als einer Rassenideologie genannt: Hitler und die SS. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie weit dieser ideologische Kernbestand auch für die anderen Führungsgruppen eine besondere Präferenz besitzt, etwa auch für Robert Ley und die Deutsche Arbeitsfront (DAF), oder ob diese mehr eine opportunistische Anpassung leitete und eine verschwommene Rhetorik und Propaganda charakteristisch war. Meine folgenden Ausführungen werden sich darum mehr an dem ideologischen Kern um Hitler und die SS konzentrieren und von der Annahme ausgehen, dass diese Vorstellungen auch für die anderen Gruppen eine gewisse Verbindlichkeit besaßen. Die beiden Zitate verdeutDer »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt

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lichen überdies die enge Verquickung von sozialer Inklusion und Exklusion als Grundprinzip aller nationalsozialistischen Vergemeinschaftungsideen, vor allem der Volksgemeinschaftsideologie, die mit der Rassendoktrin eng verbunden war und zur Rechtfertigung von Ausschluss und Ausmerzung diente.6 Der NS Neue Mensch war vor allem ein Rassenprojekt.

Die Vision vom Neuen Menschen Die Suche nach dem Neuen Menschen richtete sich im 20. Jahrhundert immer wieder auf den Körper, der seit dem 19. Jahrhundert zum Hauptobjekt der Wissenschaft geworden war. Mit den Körperuntersuchungen und -messungen verbunden waren die Ambitionen der ständigen Verbesserung und Optimierung menschlicher Leistungen und damit wiederum verbunden die Idee der Neugestaltung der sozialen Wirklichkeit nach berechenbaren Gesetzen, die vom Menschen gemacht waren. Der Gedanke der Körperleistung, die unter dem Gebot der Steigerung und Optimierung stand, führte zu unterschiedlichen Zielen einer Grenzüberschreitung und Machbarkeitsvorstellung; dazu gehörte auch die Vision eines von Kontingenz befreiten Körpers. Das zielte auf ein Bild von einem Menschen, der zur vollständigen Umgestaltung der Lebensverhältnisse fähig sei und durch seine Formierung zugleich eine neue Sozialordnung herbeiführen könne. Unabhängig von der inhaltlichen, politisch progressiven oder reaktionären Ausrichtung dieses utopischen Denkens erfüllte es in der krisenhaften Nach- und Zwischenkriegszeit das Bedürfnis nach einem Neubeginn und nach Orientierung. Der Neue Mensch war ein Mensch, der » von der Last seiner Unsicherheitslagen, in die ihn sein Handeln immer wieder hineinführt, entlastet und von dem Geschick seiner prinzipiellen Daseinsohnmächtigkeit befreit ist«.7 Eine Vorstellung vom Neuen Menschen konstruierte ein Ideal, das die verlorenen Eigenschaften des Menschen zurückgewinnen sollte, die andere koppelte das Bild vom Neuen Menschen an die technisch-wissenschaftlichen Fortschritte. Die grundsätzliche Ambivalenz des Nationalsozialismus fand ihren Ausdruck auch in der Doppelgesichtigkeit der nationalsozialistischen Körpervorstellungen vom Neuen Menschen: er sollte antimodern und modern zugleich sein. Es verbanden sich Wünsche nach Disziplinierung und Leistungssteigerung, wie es der industriellen Moderne entsprach, mit Wünschen nach Vollkommenheit als einem natürlichen Zustand, wie es die Lebensreform und die sozialromantisch orientierte Jugendbewegung propagiert hatten. Der existierende Mensch war darum nur ein Potenzial von dem, was er sein kann.8 Das ließ sich unterschiedlich auslegen und eignete sich 84

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darum auch sehr gut als Fixpunkt für die heterogenen nationalsozialistischen Gesellschafts- und Menschenbilder. Ein zentrales Element dieser Bilder war der »Arier« bzw. seine Hervorbringung als politisch-gesellschaftliche Aufgabe und Zielsetzung. Zu erreichen war dies nur durch permanente Auslese, mit der im sozialdarwinistischen Sinne der Gefahr der Degenerierung begegnet werden sollte. Nach den Begriffen von Degeneration und Auslese9 sollten auch die Menschen für diesen Prozess der Heilung klassifiziert werden. Degeneration und Krankheitsmerkmale, die auf den Menschen bezogen waren, wurden auf die Gesellschaft übertragen, die nach denselben Mustern agieren und gelenkt werden sollte. Die Bekämpfung der Degeneration fand nach eugenischem Denken zwar im Körper statt, bezog sich aber auf die gesamte Lebenswelt und Umgebung des Menschen. Bald verband sich diese Vorstellung mit der Idee, dass die erstrebten Lebensformen nur als Reaktion gegen die modernen, städtisch-industriellen Lebensformen zu sichern seien. Die Großstadt wurde als Ort der Degeneration identifiziert und stellte die Verbindung von Eugenik und Lebensreformbewegung her, oder genauer gesagt: diese Verbindung war dadurch ideologisch möglich, aber nicht notwendig. Die Lebensreform und die Jugendbewegung waren die utopischen Bewegungen, die mit großem Einfluss alternative Lebenskonzepte mit einem neuen Körperideal entwickelten und verbanden.10 Alles, was als natürlich galt, vom Wandern bis zum Sonnen- und Nacktkult, konnte zurück zur Gemeinschaft und zum natürlichen Körper führen. Der Neue Mensch der Lebensreformbewegung wurde zum programmatischen Ziel für Individuum und Gesellschaft; die Heilung sollte aus der Selbsterziehung und Vervollkommnung des Individuums kommen und auf die Gemeinschaft wirken. Lebensreform war in erster Linie Selbstreform. Körper und Seele sollten in der Natur wieder miteinander versöhnt werden und der Entfaltung und Wiederfindung des Individuums dienen. Die Visionen vom neuen Menschen waren in der Jugendbewegung, die sich den lebensreformerischen Ideen anschloss und diese wirkungsmächtig propagierte, vor allem auf die Gemeinschaftserfahrung bzw. das Erlebnis von Natur und Gemeinschaft in der kleinen selbstbezogenen Gruppe ausgerichtet; und nicht auf kollektive und autoritäre Massenorganisationen, wie sie der Nationalsozialismus dachte und realisierte. Jugendbewegung und Lebensreformbewegung mit ihren Höhepunkten in den ersten zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts prägten die Bilder und Vorstellungen des sozial Imaginären für eine ganze Generation und reichten auch in den Nationalsozialismus hinein. Die NS-Ideologie stützte sich auf diese Bilder und verband sie im Unterschied zur Jugendbewegung noch stärker mit Der »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt

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11 Fidus: Lichtgebet, 1922.

nationalistisch-völkischen und rassistischen Körperbildern, die die Exklusionstendenzen verstärkten. Der Aspekt der Selbstreform wurde im Nationalsozialismus von rassentheoretischen und -politischen Ansätzen überlagert oder trat hinter diesen zurück. Daraus erwuchs das Konzept der Veredelung, das bedeutet die Erzeugung und Optimierung schon vorhandener Eigenschaften einer Rasse durch politische Maßnahmen. Diese Eigenschaften sollten durch staatliche Intervention erhalten, selektiert, gesichert und vor Vergiftungen geschützt und verstärkt werden Die Optimierung des Volkskörpers sollte Aufgabe der Politik insgesamt, auch der Erziehung sein. Ihren bildlich-symbolischen Ausdruck fand die Vision vom Neuen Menschen in den bildenden Künsten, vor allem in der Malerei und Bildhauerei. Hatten die Lebensreform und Jugendbewegung mit den Bildern und Visionen von Fidus, vor allem mit seinem »Lichtgebet«, ihr wichtigstes Bild entdeckt, das Einzug in das nationale Bildgedächtnis und das sozial Imaginäre vom Neuen Menschen fand, so übernahm der Nationalsozialismus zwar wichtige Merkmale dieser Ikonographie – den nackten Körper, das Licht und die Sonne – und inkorporierten sie in das Bild des Ariers.11 Aber andere Ele86

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12 Willy Meller: »Neuer Mensch«, 1936. Holzskulptur im Kultraum des Turmes der »Ordensburg Vogelsang«.

mente traten hinzu: das Heldische als wichtigster Ausdruck von Männlichkeitskonstruktion und Kriegserfahrungen, die zur Grundlage des Ausleseverfahrens einer Herrenrasse wurden. Der nationalsozialistische Heroenkult war, ähnlich wie das Bild vom »Neuen Menschen«, ein Amalgam einer langen Traditionskette von Heldenbildern mit den Kriegserfahrungen und Heldenbildern des Ersten Weltkriegs. Was die Helden des Kriegs zu Helden machte, war ihre Opfer- und Hingabebereitschaft für die Sache eines Kollektivs, das diesen nachträglich attestierte, diese Erwartungen in besonderer Weise erfüllt zu haben. Zugleich verband sich das Bild vom Kriegshelden in der NS-Rhetorik mit dem Helden der NS-Bewegung, der für die Sache des Nationalsozialismus eintrat.12 Der »Deutsche Mensch« von Willy Meller im ehemaligen Kultraum von Vogelsang, eben dort angebracht, wo in der christlichen Kirche das Kreuz hing13, stellte diese Verbindung der älteren Bildtraditionen und auch das Prinzip des nackten Körpers als Sinnbild des Neuen Menschen mit dem nationalsozialistischen Märtyrerkult exemplarisch her, indem er ausdrücklich an die »Märtyrer der Bewegung«, die Gefallenen des Hitler-Putsches vom Der »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt

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13 »Rassenköpfe aus Deutschland«, in: Schmeil und Eichler: Grundriß der Menschenkunde, Leipzig 1937.

14 Kriminalphysiognomische Porträts von jüdischen Gefangenen, in: Das schwarze Korps, 24. November 1938.

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9. November 1923, anknüpfte, deren Namen in ehernen Lettern an der Stirnwand festgeschrieben waren. Selbst die im Ritual, das jährlich am 9. November auf dem Königsplatz in München inszeniert wurde, fest etablierten »Hier«-Rufe von Hitler-Jungen, die im Namen der Gefallenen der Bewegung auf deren Namensaufruf in Form eines letzten Appells antworteten, wurden in Mellers Plastik aufgegriffen und ebenfalls in großen Buchstaben an der Wand des Kultraumes angebracht. Vermutlich war das Vertrauen in die Lesbarkeit der Bildsprache zu gering, um auf die Bildunterschriften zu verzichten. (Abb. 12, 22) Die Popularisierung der Bilder vom arischen Menschen wurde längst vor dem »Dritten Reich« bereits von Rassetheoretikern wie Hans F. K. Günther, aber auch von Paul Schultze-Naumburg betrieben, der die Mittel der Fotografie einsetzte, um Bilder vom »freien arischen Rassemenschen«, der anderswo durch Schädelmessungen festgeschrieben wurde, nun noch in eine Phänotypen-Klassifikation zu bringen und damit zum Handbuch einer politischen Rassenlehre zu machen, die am utopischen Ziel des »vollkommen Neuen Menschen« orientiert war, aber Maßstäbe für die Zugehörigkeit und die entsprechende Bewusstseinsbildung liefern sollte.14

Die mörderische Seite dieser pseudowissenschaftlichen Technik der Auslese und Züchtung war die Kriminalbiologie, die ebenfalls zur Züchtung des Neuen Menschen und zur Herstellung der Volksgemeinschaft durch Prävention dienen sollte, indem die Gegenbilder und Schreckbilder zum Ideal des Ariers fotografisch reproduziert wurden, etwa in kriminalphysiognomischen Porträts von jüdischen Gefangenen, die das »Schwarze Korps« publizierte.15 Die rassische Überlegenheit, die der Nationalsozialismus für seine Eliten anstrebte, sollte in 15 SS-Porträts aus Wolf Willrichs Mappe, der SS antizipiert und vorge- abgebildet in: Das schwarze Korps, 16. Dezemformt werden. Das Bild von der ber 1937. »arischen Auslese« wurde durch die unterschiedlichsten symbolischen Akte auf die SS projiziert, durch eine Helden- und Todessymbolik, wie sie in performativen Akten der Berührung mit der Blutfahne oder der Uniformierung eingeübt und verbreitet wurden, aber auch durch Bilder, wie sie etwa der NS-Künstler Wolf Willrich im Auftrag von Heinrich Himmler produzierte. Ähnliche symbolische Funktionen kamen der Bauplastik und Architektur zu, von der die Plastiken in Vogelsang eine Ahnung vermitteln. Diese symbolischen Handlungen und Bildzeugnisse waren vermutlich für die Verbreitung und Rezeption der Visionen vom Neuen Menschen wichtiger als lange Abhandlungen und müssen herangezogen werden, wenn wir über die entsprechenden nationalsozialistischen Menschenbilder reden.

Der Neue Mensch als NS-Erziehungsprogramm – die Bedeutung der Ausleseschulen Die Ordensburgen waren, das muss hier nicht eigens wiederholt werden, zusammen mit den anderen NS-Ausleseschulen, Ort der politischen Führungsauslese wie – ansatzweise – der Bereitstellung einer jugendlichen Reservearmee für die generelle Ausbildung des Parteinachwuchses der NSDAP. Der »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt

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Dabei spielte auch die Monumentalarchitektur eine symbolpolitisch wichtige Rolle; sie visualisierte mit ihrem Bau- und Bildprogramm wichtige Erziehungsideale, die die Botschaft anderer Erziehungsformen und -medien vermutlich verstärkt haben; aber darüber wissen wir wenig. Immerhin versinnbildlichte die Architektur den utopischen Anspruch auf dauerhafte Gültigkeit des Nationalsozialismus und seiner Weltanschauung und sollte darum vermutlich jene Orientierung oder Kontingenzüberwindung zum Ausdruck bringen, von der bereits die Rede war. Vielleicht war es gerade der Überwältigungs- und Machtanspruch, der von der Architektur der Ordensburgen (und anderer NS-Repräsentationsbauten) ausging und der mehr Zugehörigkeit und Verhaltenssicherheit signalisierte als jede verbale und kognitive Indok­ trination. Wenn wir jedoch versuchen, jenseits dieser symbolisch-ästhetischen In­doktrination weitere NS-Leitbilder und Erziehungsprogramme speziell für die Ordensburgen zu identifizieren, stoßen wir bekanntlich auf große Schwierigkeiten bei der Quellenlage und können allenfalls zu vorläufigen Ergebnissen kommen. Denn einmal handelt es sich bei allen Erziehungsprojekten um ein Gemisch der unterschiedlichsten ideologischen Versatzstücke mit unterschiedlicher Provenienz, zum anderen auch um eine Ausdrucksform rivalisierender Parteigruppierungen, die sich in den Ausleseschulen repräsentieren und politisch verwirklichen wollten.16 Überdies gibt es ernsthafte Zweifel, ob der Anspruch einer Bestenauslese mit einem Auswahl- und Ausbildungsverfahren in Übereinstimmung zu bringen war, das sich allein auf Kriterien wie Willensbildung und Korpsgeist konzentrierte und beschränkte. Die Dürftigkeit dieser Programme der »Menschenführung« wurde allenfalls durch den Monumental- und Symbolanspruch der Architektur verdeckt oder, so möchte ich behaupten, dadurch wurde erst dem Programm eine symbolische Ausdrucksform gegeben. Jeder Versuch einer nachträglichen Systematisierung der NS- Erziehungsvorstellungen gerät darum sehr leicht in die Gefahr der Überrationalisierung. Dem kann man entgehen, wenn man die Rekonstruktion der Grundmuster der NS- Weltanschauungs- und Erziehungspolitik mit der Praxis, den Ritualen und der Wirklichkeit der Schulungsarbeit konfrontiert und den Widersprüchen zwischen dem Anspruch auf Elitebildung einerseits und der pädagogischen Einseitigkeit ihrer praktischen Umsetzung andererseits nachgeht. Gehen wir von der NS-Selbstdarstellung aus, dann waren die Ordensburgen in ihrer architektonischen und symbolischen Repräsentation Beweis für den Willen zur gesellschaftlichen Neuordnung und zur Veränderung des Menschen. Die kommende NS-Aristokratie sollte hier herangebildet werden und das Ideal des Neuen Menschen gelehrt bzw. praktiziert werden. Die 90

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Ordensburgen sollten, wie Hitler verschiedentlich zitiert wurde, den Willen zur »neuen Menschenschöpfung« verkörpern. Tatsächlich hielt sich Hitler wohl mit der Förderung von Leys Ordensburgen deutlich zurück; dies geschah vermutlich aus machtpolitischen Motiven, um im permanenten Wettbewerb der NS-Gliederungen und Unterführer keinen der Rivalen zu bevorzugen, aber auch um sich nicht festzulegen. Nach den Erkenntnissen und Interpretationen von Harald Scholtz, dem nach wie vor zu folgen ist, existierte auf den Ordensburgen trotz der wiederholten Ankündigung keine feste Ausbildungsordnung und kein festes Programm. Wie so oft im NS-Regime gab die Bedürfnis- und innerparteiliche Konkurrenzsituation den Ausschlag für die jeweilige Ausrichtung und Funktion der Schulung. Auch rechtfertigte die angestrebte Ausbildung von ihrem vorläufigen Programm her nicht die Dauer einer solchen Schulung, die auf drei Jahre festgelegt wurde. Sie war also mehr auf eine mentale Formung und emotionale Sozialisation ausgerichtet als auf eine kognitive Ausbildung. Interne Kritik, die freilich wiederum von interessierter Seite einer rivalisierenden Instanz, in diesem Falle des Amtes Rosenberg, kam, spricht diese Widersprüche deutlich an. Der Gauschulungsleiter des Gaues Köln-Aachen, Julius Kölker, verweist auf den inhaltlich dürftigen Tagesplan, der offenbar viel Leerlauf in Bezug auf ein anspruchsvolles intellektuelles Curriculum schließen lässt; überdies sei die Mehrzahl der Junker gar nicht in der Lage, einem »von Geist und Wissen getragenen Vortrag zu folgen« bzw. diesen zu verarbeiten. Zusätzlich eingerichtete Arbeitsgemeinschaften sollten dem abhelfen, doch auch deren Erfolge seien offenbar gering. Denn auch den Kameradschaftsführern, die für diese Unterweisung zuständig waren, fehle das nötige Wissen.17 Wichtiger im Programm waren offenbar sportliche Betätigung und körperliche Ertüchtigungsprogramme, was durchaus auf der Linie der programmatischen Grundsätze des Ideals vom Neuen Menschen lag. Der war mehr Muskelmann und heldenhafter bzw. opferbereiter Kämpfer als Geistesmensch.18 Hinzu kam die Attraktivität und Verführung durch moderne technische Sportangebote, die den meisten Volksgenossen unerschwinglich waren. Segeln, Segelflug, Reiten, Schifahren – das gehörte bisher zum bürgerlichelitären Sport- und Freizeitprogramm und ließ sich, wie auf den anderen Ausleseschulen auch, wirkungsvoll adaptieren und trefflich als Beweis für die egalitären Chancen der Volksgemeinschaft verkaufen. Die dritte Erziehungskomponente, auf die Ley Wert legte, war das sichere gesellschaftliche Auftreten und die Einübung eines »untadeligen Benehmens«. Das entsprach vermutlich tatsächlich dem Aufstiegswillen der Ordensjunker und den elitären Verheißungen der Ausleseschulen. Denn ihr Der »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt

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propagiertes Ziel einer neuen Elitebildung und die Auswahlkriterien, die bei der Aufnahme in eine Ordensburg entscheidend waren, dass diese nämlich zuerst und vor allem »ganze Kerle« sein sollten, rückte ganz im Sinne der Volksgemeinschaftsideologie bewusst von den klassischen und stark klassenbezogenen Auswahl- und Bildungskriterien ab und sollte für die Absolventen mehr Verhaltenssicherheit vermitteln, als sie das vermutlich mitbrachten.19 Für eine tatsächliche Ausbildung als Führer-Nachwuchs der NSDAP war das Ausbildungsprogramm vermutlich ungeeignet, wenn man Wert auf die Fähigkeit zu Verwaltung und rationaler Entscheidungsfähigkeit bzw. auf die Vermittlung von Kenntnissen im Bereich von Rechtswesen und Bürokratie legte. Auch hier gilt, dass den NS-Ideologen die Fähigkeit zur »Menschenführung« wichtiger erschien als die Ausbildung zu rationaler Verwaltung.20 Militärischer Drill und Schliff, in Verbindung mit der Vermittlung von Gemeinschaftserlebnissen, waren darum wichtiger als politisch-administrativer Unterricht, der überdies auf eine weltanschauliche Schulung ausgerichtet war. Diese Zielsetzung galt für die Ausleseschulen wie für das Schulungsprogramm der SS, das vom Rasse- und Siedlungshauptamt der SS erledigt wurde und in Konkurrenz zu den Adolf-Hitler-Schulen wie zu den Ordensburgen stand, die die »Offiziere der Bewegung«21 formen wollten. Doch nicht nur die Tatsache, dass die begonnene Ausbildung auf den Ordensburgen mit Kriegsbeginn abgebrochen wurde, macht daraus ein allenfalls »abgebrochenes Experiment mit Reformanspruch«22, das weder baulich noch inhaltlich je vollendet wurde; auch die inneren Widersprüche zwischen Anspruch und erkennbaren Erziehungsprogrammen bzw. Curricula lassen vermuten, dass der Krieg das Ausbildungsprogramm für die NS-Parteielite vor dem Eingeständnis des Scheiterns bewahrt hat. Die Tatsache, dass sich Absolventen von Vogelsang im mörderischen Einsatz in NS-Parteiverwaltungen und Einsatzgruppen im Vernichtungskrieg wiederfanden, deutet jedoch die eigentliche Ausrichtung dieser Ausbildung im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung an, die im Kern auf Ausmerzung und Vernichtung angelegt war, einer Herrschaftspraxis, für die eine administrative Schulung nur bedingt erforderlich war, die aber im nationalsozialistischen Bild vom Neuen Menschen vorgedacht war.

Anmerkungen 1

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Vgl. KÜENZLEN, Gottfried: Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 1994, S. 141f.

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THAMER, Hans-Ulrich: Autonomie und Gemeinschaft. Wertmuster und Lebensformen der deutschen Jugendbewegung vom Wandervogel bis zur Bündischen Jugend. In: Recherches germaniques (2009), S. 71–82. Zu der kontroversen Debatte um die Erklärungskraft des Konzepts von der »politischen Religion« mit Bezug auf den Nationalsozialismus jetzt abschließend HOCKERTS, Hans Günter: War der Nationalsozialismus eine politische Religion? Über Chancen und Grenzen eines Erklärungsmodells. In: HILDEBRAND, Klaus (Hg.): Zwischen Politik und Religion. Studien zur Entstehung, Existenz und Wirkung des Totalitarismus. (Schriften des Historischen Kollegs, 59), München 2003, S. 45–71; dort auch weitere einschlägige Literatur. DOMARUS, Max (Hg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem Zeitgenossen, Wiesbaden 19732, Bd. 2, S. 717. Dazu DIEHL, Paula: Macht-Mythos-Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer. (Politische Ideen, 17), Berlin 2005, S. 24f. Dazu THAMER, Hans-Ulrich: Volksgemeinschaft. Mensch und Masse. In: DÜLMEN, Richard von (Hg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien/Köln/Weimar 1998, S. 367–388; jetzt BAJOHR, Frank/WILDT, Michael (Hg.): Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009. KÜENZLEN, Neuer Mensch, S. 25. DIEHL, Macht-Mythos-Utopie, S. 47–49. Ebd., S. 43f. BUCHHOLZ, Kai/LATOCHA, Rita/PECKMANN, Hilke/WOLBERT, Klaus (Hg.): Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001; ferner SCHNURBEIN, Stefanie von/ ULBRICHT, Justus H. (Hg.): Völkische Religion und Krisen der Moderne. Entwürfe »arteigener« Glaubenssysteme seit der Jahrhundertwende, Würzburg 2001, S. 367–385. FRECOT, Janos/GEIST, Johann/KERBS, Diethart: Fidus 1868–1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen, Hamburg 19972 (mit einem Vorwort von Gert Mattenklott). Zum nationalsozialistischen Heldenkult vor allem BEHRENBECK, Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole, Vierow 1996. Vgl. dazu die Ausführungen und Abbildungen bei SCHMITZ-EHMKE, Ruth: Die ehemalige Ordensburg Vogelsang. Architektur, Bauplastik, Ausstattung, Umnutzung, mit Ergänzungen von Monika Herzog (=Arbeitsheft der rheinischen Denkmalpflege 41), Köln 20083, S. 55f., 102 u. 104. Vgl. dazu DIEHL, Macht-Mythos-Utopie, S. 105–111. Das Schwarze Korps, 24.11.1938, zit. bzw. abgebildet bei DIEHL, Macht-Mythos-Utopie, S. 121. Zu der NS-Erziehungspolitik am Beispiel der Ausleseschulen der Klassiker: SCHOLTZ, Harald: Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973; ferner MILLER-KIPP, Der »Neue Mensch« als nationalsozialistisches Erziehungsprojekt

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Gisela: »Deutsche Jungs, die dem Führer helfen, das Reich zu tragen«. Elite-Bildung und Elite-Bewusstsein in der Adolf-Hitler-Schule nebst Erinnerungsspuren zur »Ordensburg« Vogelsang. In: CIUPKE, Paul/JELICH, Franz-Josef (Hg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang. (=Geschichte und Erwachsenenbildung, 20), Essen 2006, S. 53–64. Bericht des Kölner Gauschulungsleiter Julius Kölker an das Amt Lehrplanung beim »Beauftragten des Führers für die gesamte weltanschauliche Schulung und Erziehung der NSDAP«. – Bundesarchiv (BA) NS 8/231, Bl. 28–37, hier Bl. 30, zit. n. SCHRÖDERS, Michael: Die Bibliothek der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang 1944–1947. Fragen zu einem verloren geglaubten Bestand, in: CIUPKE/JELICH, Weltanschauliche Erziehung, S. 127. Gegen diese Vermutung spricht auch nicht die Tatsache, dass für Vogelsang eine repräsentative Bibliothek geplant war bzw. sich im Aufbau befand, denn auch diese könnte mehr der Repräsentation und der Selbstvergewisserung als der tatsächlichen Bildung durch Lektüre gedient haben. Diese Grundsätze finden sich in der Disziplinarordnung, die Ley für die Ordensburgen zu seinem 48. Geburtstag herausgab. – BA NS 22/463, zit. n. SCHOLTZ, Harald: Die »NS-Ordensburgen«. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), S. 269–298, hier S. 287. Vgl. dazu REBENTISCH, Dieter/TEPPE, Karl (Hg.): Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986. Rede Hitlers auf dem Nürnberger Reichsparteitag am 10.9.1934, zit. in SCHOLTZ, NS-Ordensburgen, S. 277. Zit. n. MILLER-KIPP, Deutsche Jungs, S. 57.

Hans-Ulrich Thamer

Christina Threuter

Nackte Helden Die »Ordensburg Vogelsang« und das Gedächtnis der Bilder

»vom Kieselstein bis zum Leichnam scheint im Abendland ein Ort immer durch einen reglosen Körper definiert zu werden und die Gestalt eines Grabes anzunehmen«1 (Michel de Certeau)

Die »Ordensburg Vogelsang« wurde im Nationalsozialismus (NS) als Schulungseinrichtung für den politischen Führernachwuchs der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) errichtet. Neben den »Ordensburgen« Krössinsee und Sonthofen war Vogelsang eine von drei realisierten Einrichtungen der Deutschen Arbeitsfront (DAF) für die zukünftige Parteielite. Die Indoktrination und Formierung der Lehrgangsteilnehmer im Dienst des NS-Führungskaders wurde mit der Vermittlung eines rassistischen Körperkonzepts verknüpft, das den jungen Männern als essentiell gemeinschaftsbildendes und nationales Ordnungsverfahren im Begriff der »Volksgemeinschaft« dargeboten wurde. Die »Züchtung des neuen Menschen«, deren Erfolg Adolf Hitler bereits 1937 in seiner Rede auf dem Nürnberger Parteitag propagandistisch verkündete, kann letztlich als ein grundlegendes Ziel der Schulungseinrichtung Vogelsang angesehen werden: »Wie schön sind unsere Mädchen und unsere Knaben, wie leuchtend ist ihr Blick, wie gesund und frisch ihre Haltung, wie herrlich sind die Körper der Hunderttausende und Millionen, die durch unsere Organisation geschult und gepflegt werden. Wo gibt es heute bessere Männer, als sie hier zu sehen sind? Es ist wirklich die Wiedergeburt einer Nation eingetreten durch die bewußte Züchtung eines neuen Menschen.«2 Dem Konzept von einem »neuen Menschen« lag die biologistisch-rassistische Konstruktion und Produktion von Körperbildern und Körperpraktiken zugrunde, die in der NS-Ideologie ein zentraler Baustein der propagandistischen politischen Praxis waren.3 Adolf Hitlers Vision der »Züchtung eines neuen Menschen« stützte sich dabei vor allem auf die nationalsozialistische Politik der sogenannten Volks- und Rassenhygiene, die mit dem Mittel der Exklusion des »Gemeinschaftsfremden« arbeitete. Nackte Helden

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Die Körperpraxis in Vogelsang spiegelte sich vornehmlich in der rassischeugenischen »Auslese« der Schulungsteilnehmer, der sogenannten »Junker«, in ihrer Formierung als zukünftige Elite der NSDAP, in ihrer (Selbst) Mobilisierung als Gemeinschaft durch ritualisierte Masseninszenierungen, in einer Militarisierung ihres Schulalltags und Habitus sowie in der Organisation und Struktur des architektonischen Raumes wieder. Seinen ästhetischen Ausdruck, sein Bild, fand das Körperkonzept des Nationalsozialismus in Vogelsang unter anderem in der Bau- und Freiplastik, aber auch in der Architektur selbst. Ausgangspunkt der nun folgenden Ausführungen ist, dass die »Ordensburg Vogelsang« als homogener, in sich geschlossener Ort im Nationalsozialismus konzipiert wurde. Mit der hier gewählten Bezeichnung des »Ortes« beziehe ich mich auf den Kulturwissenschaftler Michel de Certeau, der mit diesem Begriff ein Instrumentarium liefert, das das ästhetisch-räumliche Konzept der Architektur und Plastik sowie die ideologische Absicht der Inszenierung, Formierung und Etablierung eines »neuen Menschen« durch Schulung bzw. Erziehung als visuell-räumliches Programm lesbar werden lässt. Auf die spezifische Bildhaftigkeit des NS-Systems hat der Sozialpsychologe Harald Welzer hingewiesen. Er macht damit auf die im Nationalsozialismus »tragende Idee der vollständigen Gestaltbarkeit der Welt« aufmerksam, die im Vorgriff auf künftige Erinnerungen als »Inszenierungen der Macht« eine in den visuellen Medien abbildbare Realität schufen: »Der NS etablierte ein System, das den technischen, sozialen und medialen Gestaltungsimperativen nicht nur Raum gab, sondern gleichzeitig den Beweis lieferte, daß die Welt tatsächlich gestaltbar war.«4 Der These der spezifischen Bildhaftigkeit folgt der vorliegende Beitrag und analysiert vor allem die figürliche Plastik im Rahmen der architektonischen Anlage der »Ordensburg Vogelsang« als in sich geschlossenes Bildprogramm des rassisch determinierten »neuen deutschen Menschen«. Aus der Perspektive des fiktionalen Bildes der gestalteten Gesellschaft, das im Dienst einer »Erinnerungstotalität«5 steht und damit historische Notwendigkeit, Folgerichtigkeit, Alternativlosigkeit sowie die Überlegenheit des totalen Staates suggeriert, ist es möglich, dem plastischen und architektonischen Zeichensystem des Nationalsozialismus als einer Fortschreibung tradierter Ordnungen beizukommen.6 Dabei wird zum einen der ideologisch bestimmten visuellen Rhetorik des nationalsozialistischen Systems und ihrer – in der NS-Forschung vielfach konstatierten – Wirkungsmacht Rechnung getragen. Zum anderen aber soll diese Macht der Bilder, die sich als politisches Herrschaftsund Machtinstrument des Nationalsozialismus immer wieder zu bestätigen 96

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scheint, im Folgenden gebrochen werden, indem ihre diskursiven Bezugssysteme aufgezeigt werden: So folgten die Konventionen und Bildhaushalte des Nationalsozialismus etablierten Mustern, die innerhalb des kollektiven Bildgedächtnisses abrufbar waren und daher auf fruchtbaren Boden fielen. Die ästhetischen Codes des Nationalsozialismus sind – wie Welzer hervorhebt – darüber hinaus auch heute noch in unserer Wahrnehmung verankert und haben nichts von ihrer Wirkmacht eingebüßt. 7 Hier stellt sich die Frage, ob die Ursache für die andauernde Macht dieser Bilder, auf die zum Teil ungebrochene Fortschreibung tradierter Muster und Ordnungen, wie bspw. den Konstruktionen männlichen Heldentums, zurückzuführen ist: Denn gerade die Fortschreibung scheint das – in diesem Sinne gelungene Herrschafts- und Machtsystem des Nationalsozialismus bis in unsere Gegenwart hinein – zu bestätigen. Eine weitere Ursache einer affirmativen Rezeption liegt sicherlich darin, dass die nationalsozialistische Bild-Rhetorik noch häufig als Dokument bzw. Zeugnis nationalsozialistischer Realität und nicht als deren Fiktion wahrgenommen wird.

Ritter, Soldaten, Helden Zwei Reiterreliefs, die Darstellungen eines »Ordensritters« und eines »Junkers«, befinden sich an den beiden Flankentürmen des Eingangsbereichs der »Ordensburg« Vogelsang. Sie stammen aus den Jahren 1938/39 von dem Kölner Bildhauer Willy Meller, der den Großteil der Bau- und Freiplastiken für die »Ordensburg« fertigte und bei zahlreichen Bauprojekten eng mit dem Vogelsang-Architekten Clemens Klotz zusammen arbeitete.8 Die Reliefdarstellungen zitieren die Figur des Ritters und verweisen damit auf die Vorstellung von militärisch männlicher Tugend, wie sie seit dem Mittelalter bis heute geläufig ist. In der deutschen Romantik verschob sich die Betrachtungsweise von dem christlichen Soldaten als tugendhaftem Kämpfer, dem miles christianus, der für seine christlichen Ideale in den Tod reitet, hin zum deutschen Ritter, einer Repräsentationsfigur nationalen Kämpfertums. Bezeichnenderweise erhielt daher Albrecht Dürers bekannter Stich aus dem Jahr 1513 erst um 1800 seinen Titel »Ritter, Tod und Teufel« und nach der Reichsgründung wurde er u. a. zum Sinnbild einsamer kämpferischer Heroik.9 So galt der Tod im Kampf seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht als Niederlage, sondern als letzte Demonstration und Sieg des Helden.10 Die Figur des Ritters eröffnet im Grunde die Vermittlung jeder Form kriegerischer Gewalt im Bild der Tugendhaftigkeit und stellt auf diese Weise, so Kathrin Nackte Helden

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16 Willy Meller: »Ordensritter«, Muschelkalkrelief am Westturm des Eingangshofs der »Ordensburg Vogelsang«, 1938/39.

17 Willy Meller: »Junker«, Muschelkalkrelief am Ostturm des Eingangshofs der »Ordensburg Vogelsang«, 1938/39.

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Hoffmann-Curtius, »eine immer von neuem taugliche Rolle für die Verbreitung hegemonialer, unbesiegbarer, maskuliner Macht zur Verfügung.«11 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg im Deutschen Kaiserreich galt das Bild des Kämpfers in Ritterrüstung in der Öffentlichkeit als ein weit verbreitetes Symbol für nationale Kriegsbereitschaft und diente der militärischen Aufrüstung. Seinen Niederschlag und seine Verbreitung fand es unter anderem in der Kunst: in Gemälden, Grafiken, auf Denkmälern und auch im Reliefschmuck öffentlicher Gebäude.12 Der Krieg galt »als die eigentliche Bewährungsprobe des Helden, der hier seinen Mut und seine Tapferkeit, seine Entschlossenheit und seine Kameradschaftlichkeit« ausleben konnte. Er stellte die höchste Vollendung dieses Heldengedankens dar, da er für das selbstlose Eintreten für das Vaterland bzw. die Nation einstand.13 Dieser Vorstellung folgten bspw. die nach 1918 von ehemaligen Frontoffizieren gegründeten Elitegemeinschaften, die sich in ihrer Struktur auf das Ordenswesen – mit ihren Protagonisten König und Ritter – bezogen.14 In der Weimarer Republik wurde die tugendhafte Figur des Ritters vor allem auf Kriegerdenkmälern populär und insbesondere rechtskonservative Führungseliten rüsteten mit dieser Ikonographie gegen die – den nationalen Gedanken und seine Wehrhaftigkeit demütigenden – Folgen der Kriegsniederlage des Ersten Weltkriegs. Bereits im 19. Jahrhundert war gewissermaßen eine »›Demokratisierung‹ des Heldentums« in Gang gekommen: Sie erlaubte es, nicht nur Generälen und Feldherren ein Denkmal zu setzen, sondern jedem einzelnen im Krieg für das Vaterland umgekommenen Soldaten, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, diesen Heldenstatus zuzuerkennen. Hier »spiegelten sich die neuen Erfahrungen des von der allgemeinen Wehrpflicht ermöglichten Volks- oder Nationalkriegs, in dem der männliche Bürger sein Leben für das Überleben der Nation gab.«15 Überdies setzte im Verlauf des Ersten Weltkriegs ein in Deutschland bis dato nicht bekannter Gefallenenkult durch die Einrichtung von Soldatenfriedhöfen ein. Besonders die Schriften Ernst Jüngers aus der Zwischenkriegszeit zeugen von einem militärischen Heldenbild, das den modernen Krieg als eine essentielle Lebensform hervorhob und mit einem rassenantisemitischen Bild des Typus von dem »neuen Menschen« ontologisch verknüpfte: »Es war eine ganz neue Rasse, verkörperte Energie, mit höchster Wucht geladen. Geschmeidige, hagere, sehnige Körper, markante Gesichter, Augen in tausend Schrecken unterm Helm versteinert. Sie waren Überwinder, Stahlnaturen, eingestellt auf den Kampf in seiner gräßlichsten Form. Ihr Anlauf über zersplitterte Landschaft bedeutete letzten Triumph phantastischen Grausens. […] Im Augenblick der Begegnung (mit dem Feind, C.T.) waren sie der Inbegriff des Kampfhaftesten, was die Welt tragen konnte, schärfste Versammlung Nackte Helden

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des Körpers, der Intelligenz, des Willens und der Sinne. (…) Es sind Stahlgestalten, deren Adlerblick geradeaus über schwirrende Propeller die Wolken durchforscht, die in das Motorengewirr der Tanks gezwängt, die Höllenfahrt durch brüllende Trichterfelder wagen (…). Sie sind die besten des modernen Schlachtfeldes, von rücksichtslosem Kämpfertum durchflutet, deren starkes Wollen sich in geballtem, zielbewußtem Energiestoß entlädt. Wenn ich beobachte, wie sie geräuschlos Gassen in das Drahtverhau schneiden, Sturmstufen graben, Leuchtuhren vergleichen, nach den Gestirnen die Nordrichtung bestimmen, erstrahlt mir die Erkenntnis: Das ist der neue Mensch. Die Sturmpioniere, die Auslese Mitteleuropas. Eine ganz neue Rasse, klug, stark und des Willens voll. Was hier im Kampfe als Erscheinung sich offenbart, wird morgen die Achse sein, um die das Leben schneller und schneller schwirrt. Über ihren großen Städten wird tausendfach brausende Tat sich wölben, wenn sie über die Asphalte schreiten, geschmeidige Raubtiere, von Kräften überspannt. Baumeister werden sie sein auf den zertrümmerten Fundamenten der Welt.«16 Im Nationalsozialismus erhielt dieses ontologische Modell, das Krieg als die Voraussetzung männlichen Heldentums sieht, es mit antisemitischer Rassenideologie im Bild des »neuen Menschen« verknüpfte und schließlich darauf den Aufbau einer starken hegemonialen Nation begründete, seine Gültigkeit. Der vertraute Heldenkult konnte sich nun auf die gesamte rassistisch bestimmte »Volksgemeinschaft« beziehen17 und zur Legitimierung des brutalen Übergriffs auf Osteuropa herangezogen werden. Hitler konstatierte auf diese Weise 1943: »Einst zogen deutsche Ritter in weite Fernen, um für das Ideal ihres Glaubens zu streiten, heute kämpfen unsere Soldaten in der Unendlichkeit des Ostens, um Europa vor der Vernichtung zu bewahren. Jedes einzelne Menschenleben, das in diesem Kampf fällt, wird Generationen der Zukunft das Leben sichern.«18 ( vgl. Abb. 24) Dass zahlreiche »Junker« der »Ordensburgen« gerade in Osteuropa in den leitenden Positionen der Zivilverwaltungen, die dort den hegemonialen Zugriff sowie den rassistischen Völkermord mit hemmungsloser Brutalität organisierten und durchführten19, eingesetzt waren, mag an dieser Stelle als ein (grausiger) Erfolg der NS- Ordensburg-Schulung angesehen werden. Ideologisch ist dieses Denken jedoch längst in dem Bild des soldatischen Helden angelegt gewesen. Bei dem erhabenen Reiter auf seinem Ross, der in dieser Position, gewissermaßen auf seinem »mobilen Thron« die politischen »Zügel fest in der Hand hält«, handelt es sich um eine tradierte Bildkonvention und Repräsentationspolitik der Sicherung von Macht im Bild des Helden, das seit der Antike vor allem mythischen Figuren und Herrschern vorbehalten war. In diesem Verständnis dient der Held als Ordnungsstifter, der 100

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18 Georg Sluyterman von Langeweyde: Ordensritter und Ordensjunker vor der »Ordensburg Vogelsang«, (Gedenkblatt/ Holzschnitt) 1939

in sozialer sowie räumlicher Hinsicht Orientierungsfunktion hat: An seine Leitfigur werden die zeitspezifischen gesellschaftlich vorbildlichen Werte und Normen gebunden.20

Die Gemeinschaft der lebenden und toten Helden Das Kaminrelief Willy Mellers im Gästeraum der Burgschänke Vogelsangs stützt diese Konnotation des militärischen Helden, wie sie die Reiterreliefs der Eingangssituation des Geländes – gewissermaßen als Prolog des gesamten Bildprogramms – eröffnen. Dargestellt ist die »Wilde Jagd« bzw. das »Wilde Heer«, bei dem es sich um einen zentralen Topos der deutsch-völkischen Germanen-Ideologie handelt: Die höchste germanische Gottheit Odin respektive Wotan führt ein Heer toter Soldaten, das Totenheer an. Dass die Lebenden mit den Toten eine verpflichtende elitäre Gemeinschaft bilden und diese durch ein ekstatisches Initiationsritual hervorgebracht wird, wurde auf das Germanentum zurückgeführt. Insbesondere der Altertumswissenschaftler Otto Höfler arbeitete dieser NS-ideologischen Vorstellung durch Nackte Helden

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19 Willy Meller: »Das Wilde Heer«, Kaminrelief im Gastzimmer der Burgschänke der »Ordensburg Vogelsang«, 1936

die Behauptung einer »germanischen Kontinuität« zu. Höfler ermöglichte durch diese Deutung eine Übertragung auf das nationalsozialistische Konzept der »Volksgemeinschaft« in der auf diese Weise nicht nur Gefolgschaft und Treue als immanente Werte, sondern auch Heroik und Ekstase – im Sinne einer »kultischen Daseinssteigerung« – im Soldatischen zusammenfanden. Die bindende Gemeinschaft von Lebenden und Verstorbenen, den dadurch unsterblich gewordenen Helden, bot eine »Quelle unermeßlicher sozial-staatlicher Energien«, die sich – wie u. a. Klaus von See herausstellt – als spezifische Männerbund-Ideologie verstand. In diesem Sinne resümierte auch Höfler: »Die eigenste Begabung der nordischen Rasse, ihre staatenbildende Kraft, fand in den Männerbünden ihre Stätte.«21 Das Thema des Kaminreliefs für den repräsentativen Gästeraum Vogelsangs rekurriert demnach auf eine politisch verstandene »Theorie der germanischen Männerbünde«, deren Kern der Mythos des »Wilden Heeres« ist. Dieser Männerbund-Gedanke wurde vor allem durch die Rezeption des Ersten Weltkriegs gestärkt, und auch hier lässt sich Ernst Jünger mit seinen Wendungen von »Gefolgschaft«, vom »Geist der männlichen Gemeinschaft« und schließlich mit seiner Vorstellung von der durch den Krieg geformten Nation zitieren, die er als »große gemeinsame Kampffront, deren Form auch die Form des neuen Staates sein wird« bezeichnete.22 Dieses militärisch-heldische Modell fand Eingang in die Männerbund-Ideologie der 1930er Jahre: 102

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»in den Freikorps der Nachkriegszeit und damit in den paramilitärischen Kampfverbänden der politischen Parteien während der Weimarer Zeit – in Reichsbanner, Rotfrontkämpferbund, Stahlhelm und SA – lebte dieser Geist weiter.«23 Für das nationalsozialistische Verständnis von der Gemeinschaft des Männerbundes ist es ein zentraler Aspekt, dass insbesondere die zeitgenössische pädagogische Definition auf die emotional kodierten und sich im Ritual äußernden Bedingtheiten dieses Zusammenschlusses verweist. Klaus von See zeigt auf, dass 1922 der »Nazipädagoge«24 Ernst Krieck Erziehung als lebenslange »Zucht« zur Gemeinschaft deutete. So seien aus »Männerbünden« (»nicht aus Familienverbänden«) »alle größeren politischen Gebilde hervorgegangen.« »Triebmäßige Kräfte der Gemeinschaftsbildung«, wie es »primitive Kulturen« veranschaulichen würden, hätten dies bewirkt, und »ein überlegener »Führerwille« habe die Aufgabe, diese von Trieben bestimmten Kräfte zu »formen und [zu] lenken«. Kulthandlungen und Riten, religiös ekstatisches Erleben, werden hier zum essentiellen Wesensmerkmal der Gemeinschaftsbildung unter Männern erklärt.25 Für die Gemeinschaft der Lehrgangsteilnehmer in Vogelsang eröffnete sich somit im Bild des soldatischen »Wilden Heeres« eine quasi biologisch, von Natur aus begründete Urform des heldischen Bundes. Der gemeinsame Rhythmus des Morgenappells, die ritualisierte Aufstellung der Ordensburg-Gemeinschaft auf dem Appellplatz, oder auch die gemeinsamen Feiern in den »Feierstätten der Gemeinschaft«, bspw. auf dem Thingplatz, konnten in diesem Sinne als bereits weiter entwickelte Formen dieses kultisch-ritualisierten Erlebens, in dem das ursprüngliche Gefühlserlebnis bereits »gelenkt und geformt« worden war, erfahren werden. Die männlich-heldische Gemeinschaft pflegte in dem durch »Zucht« militärisch geformten Gruppenritual eine körperliche Praxis, die auf das Moment des gemeinschaftlichen Gefühlserlebnisses rekurrierte: »Indem die Menschen wieder lernen, sich in gebundener Form zu bewegen oder auch nur stillzustehen, beginnt eine unsichtbare Hand an ihnen zu kneten, zu bilden. Ein neues Körpergefühl erwacht, sei es auch nur beim alltäglichen Erheben der Hand zum Gruß, am höchsten erlebt in der zwingenden Gestalt gemeinschaftlicher Haltung bei Aufmarsch und Feier.«26 Für die jungen Männer der Ordensburgen, die auf keine Kriegserfahrungen zurückgreifen konnten, da sie den Ersten Weltkrieg nicht als Soldaten miterlebt hatten, und deren Gemeinschaftsgefühl sich im männlichen Verbund der Vogelsang »Junker« zu entwickeln hatte, wurde ein tradiertes Repertoire des Heldischen als Identifikationsmöglichkeit bereitgestellt. Die Reiterreliefs im Eingangsbereich Vogelsangs verweisen auf den soldatischen Heldenkult und das Relief des »Wilden Heeres« in der Burgschänke lenkt diesen in RichNackte Helden

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tung eines männerbündischen Gefallenenkults: Dieser ist »Endergebnis und höchster Ausdruck des kämpferischen Männerbundes«, denn »er setzt die Schützengrabenkameradschaft sozusagen noch im Tode fort«. Auch das Horst-Wessel-Lied, das Kampflied der SA, rekurriert auf diesen Kult, wenn es heißt: »Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschiern im Geist in unsern Reihen mit.«27 Die im heldischen Totenkult begründeten (ekstatisch-religiösen) Triebkräfte der männerbündischen Gemeinschaft wurden im Nationalsozialismus nicht durchgängig akzeptiert, gleichwohl aber, so von See, »entsprach der ekstatische, kultgebundene Germane dem Selbstverständnis der NS»Bewegung« und ihrem quasi-religiösen Irrationalismus (…) Denn die Machthaber des Dritten Reichs (…) wußten (…) genau, daß als Keimzelle politischer Großformen nur die willentlich-spontanen, auf Führung und Gefolgschaft basierenden Einigungen taugen, – daher die vielen »männerbündischen« Organisationen wie SA, SS und Hitlerjugend …«28 Für die »Ordensburg Vogelsang« als Elite-Schulungseinrichtung junger Männer kann dieser Bezugsrahmen – den folgenden Ausführungen vorweggreifend – im gesamten figürlichen Bildprogramm geltend gemacht werden. Doch ist es in diesem Zusammenhang nicht nur das Modell des deutschvölkischen Männerbundes, das den tradierten Bildkonventionen des Ritters bzw. des Soldaten und des Heldenkults zu eigen ist und sich in einer kultischritualisierten militärischen Körperpraxis Ausdruck verschafft, sondern es wird darüber hinaus in dem ästhetischen Zugriff auf den Körper deutlich. So konstituieren die tradierten Vorstellungen des kulturellen Repertoires zum Ritter-, Soldaten- und Heldentum mit den daran geknüpften Konventionen und Praktiken in den Worten Hayden Whites ein »effektives System der diskursiven Sinnproduktion«. Dieses System speist die nationale Narration, die die strategische Funktion hat, soziale Ordnung herzustellen, und mit deren »Hilfe dem Individuum nahegelegt wird, eine spezifisch imaginäre Beziehung zu seinen realen Daseinsbedingungen einzugehen, d. h. eine nicht reale, aber sinnvolle Beziehung zu den sozialen Formationen, innerhalb derer es sein Leben zu leben und sein Schicksal als soziales Subjekt zu erkennen verpflichtet ist.«29 Zu diesem die soziale Ordnung stabilisierenden Diskurs im Nationalsozialismus zählt auch die Konstruktion eines »deutschen« Körperbildes. Der Nationalsozialismus bediente sich in seinem Zugriff auf die Massen verkörpernder Praktiken: Um sie auf einen einheitlichen Zweck auszurichten, stand »die Formierung leistungsfähiger Einzelkörper zu einem Volkskörper und dessen Unterordnung unter die Befehlskraft eines Führers« im Vordergrund. Die Körper- und Volkskörperpolitik im NS bezog sich dabei vor allem auf die 104

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»Steuerung der imaginären Potentiale der Nacktheit.«30 Das Reiterrelief des Junkers zeigt dementsprechend – gegenüber seinem mittelalterlich konnotierten Ordensritter mit dem er die ritterlichen Tugenden teilt – einen nackten Helden zu Pferd. Und auch bei den weiteren Großplastiken Mellers, dem »Fackelträger« des Sonnwendplatzes, der verschollenen Holzskulptur des »neuen Menschen« im sogenannten Kultraum und dem »Sportlerrelief« unterhalb des Thingplatzes handelt es sich um Aktdarstellungen.

Nackte Helden Vor allem der Skulptur kam im Nationalsozialismus die herausragende Aufgabe zu, das »rassische« Körperbild zu veranschaulichen. Anlässlich der »Großen Deutschen Kunstausstellung« 1937 formulierte Hitler in diesem Sinne: »Ungeheure Anstrengungen werden auf unzähligen Gebieten des Lebens vollbracht, um das Volk zu heben, um unsere Männer und Frauen gesünder und damit kraftvoller und schöner zu gestalten. Und aus dieser Kraft und aus dieser Schönheit strömen ein neues Lebensgefühl, eine neue Lebensfreude!«31 Die nationalsozialistische Körperpolitik rekurrierte dabei auf einen Körper, der auf seine angebliche Natürlichkeit zurückgeführt wurde. Nicht in seiner Individualität und Differenziertheit wurde dieser geschätzt, sondern vielmehr wurde er als gemeinschaftlicher Körper, als Volkskörper konstruiert. Dem Staat oblag die Reorganisation und Gestaltung dieses Volkskörpers im Sinne eines homogenen Organismus. Durch die eugenische Körperpolitik sollte eine »reine Rasse«, der »neue Mensch« hervorgebracht werden. Voraussetzung für diese Politik war die Klassifizierung des Körpers als Zeichen seiner »rassischen« Zugehörigkeit, indem »Rasse« mit physischen und psychischen Merkmalen ausgestattet wurde und als ontologische und normative Referenz diente.32 Wie letztlich die Darstellung der »Rassereinheit« des »neuen Menschen« ästhetisch formuliert werden sollte, wurde »im »Dritten Reich« an keiner Stelle positiv formuliert, darauf verweist Birgit Bressa in ihrer Dissertation zu Arno Brekers bildhauerischem Werk im Nationalsozialismus: »Die Äußerungen zur künstlerischen Anwendung blieben vage und so heißt es beispielsweise, dass Kunst »in ihrem Geschehen keine ästhetische (…), sondern eine biologische« Angelegenheit sei. An anderer Stelle wurde geraten, Kunst solle mit »Hilfe von Biologie und Rassenpsychologie« zur »Rasse vorstoßen«. Die nationalsozialistischen Akte, darüber bestand damals wie auch in der neueren Forschung kein Dissens, sollten in ihrer perfekten anatomischen PhysiognoNackte Helden

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mie das rassische Ideal illustrieren und zugleich vorbildhaft auf den Betrachter wirken.«33 Lediglich die mit den Skulpturen des Reichssportfelds seit 1936 verordnete Orientierung an dem Körperbild der griechisch-klassischen Skulptur, da sie der nordischen Rasse am nächsten käme, gab eine Richtung, ein normatives Raster vor. Die ästhetische Adaption des klassischen Körpers und seiner Rezeption als nacktes Ideal zeitloser Würde galt als ein Garant für die Umsetzung des »rassisch« Gesunden, das als das »Natürliche« definiert wurde.34 So versuchte Robert Scholz, ehemals Kunstpublizist und Hauptstellenleiter für Bildende Kunst beim »Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP« noch 1977 die Kunst im Nationalsozialismus in diesem Sinne zu rehabilitieren: Das »Klassische« dient ihm dabei als Werte- und Würdeformel, denn »nur in der anschaulichen Erfassung der in den Formen der Natur immanenten Wahrheit und Schönheit [ist] der Weg einer Weiterentwicklung der Kunst im idealistisch-humanen Sinne zu finden«.35 Unmittelbar aber schließt das nationalsozialistische Körperkonzept des »neuen deutschen Menschen« an die verschiedenen Diskurse zum »neuen Menschen« um die Jahrhundertwende an, wo der Körper als »Ort sozialer Ordnung« akzentuiert wurde und »zum Hoffnungsträger einer neuen Gesellschaft« avancierte.36 Vor allem in den Körper- und Nacktkulturbewegungen, die wesentlicher Teil der allgemeinen Lebens- und Kulturreformbewegungen waren, formierte sich mit dem Begriff der Körperkultur ein Kult um den Körper. Die »Körperkultur« wurde in diesem Rahmen von sehr unterschiedlichen ideologischen und sozialen Gruppen getragen. Gemeinsam war ihnen das Ziel, einen Ausweg aus den gesellschaftlichen Folgen der fortschreitenden Industrialisierung und Urbanisierung durch eine Hinwendung zu natürlich-gesunden Lebensverhältnissen zu finden; zu diesen unterschiedlichen Interessengruppen zählten bspw. weite Teile der Jugendbewegungen, die Hygienebewegung, Teile der Arbeiterbewegung, Tanz-Reformer, Naturmystiker oder auch Vertreter der Heil- und Freiluftgymnastik. Begriffe wie »Schönheit«, »Natürlichkeit«, »Nacktheit«, »Gesundheit« wurden mit den Vorstellungen von einer elementar naturgemäßen Lebensweise und dem Ziel einer reformierten neuen Gesellschaft verknüpft. Eine Facette des Kults um den »nackten Körper« war eng mit rassistischen und völkisch-nationalen Kategorien und Interessen verbunden: Hier sollte das Bild des Körpers in seiner Nacktheit für das antisemitische Menschenbild einstehen. Im Ideal des nackten arischen Körpers sollte sich die Einheit von »schönem« Leib und »schöner« Seele wiederspiegeln. Insbesondere die sogenannten Nacktkörperkultur-Bewegungen waren gekennzeichnet von Diskursen um Sittlichkeit, ideales rass(ist)isch geprägtes Körperideal und 106

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Gesundheit, die sich bspw. im Begriff der Rassenhygiene des Volkskörpers wiederspiegeln. Richard Ungewitter war einer der frühesten rassistischen und antisemitischen Propagandisten der Nacktkultur, der 1907 eine planmäßige »Züchtung« »schöner, rassereiner, gesunder Menschen« vertrat.37 In seiner Publikation »Nacktheit und Kultur« von 1913 forderte er von der Kunst, dass »noch viel mehr als bisher (…) durch öffentliche Kunstwerke die Nacktheit zur Schau gestellt werden [müsse], damit auch der prüdeste Mensch sich von deren sittlicher Reinheit überzeugen und in vernünftigere Anschauungen hineinleben kann.«38 An der Neugestaltung des Körpers unter dem Zeichen der Natürlichkeit waren auch die sich zu Beginn des Jahrhunderts formierenden Jugendbewegungen, die mit den allgemeinen Lebensreformbewegungen einhergingen, interessiert. Dass letztlich die gesellschaftliche Reform der kulturellen Erneuerung lediglich von der Jugend getragen werden könne, wurde von Reformpädagogen aufgegriffen, und diese Gleichsetzung von Lebensreform und Jugend auf der Basis von »Schönheit« und »Gesundheit« trug zum Mythos von Jugendlichkeit bei.39 Dieser »Jugendkult« beschränkte sich aber nicht nur auf ein starkes vitales Körperbild im Dienst einer kulturellen Erneuerung, sondern kulminierte bei einigen Vertretern in einer pseudoreligiösen Stilisierung der Jugend zu einem Heilsbringer. Der völkisch orientierte Künstler Hugo Höppener, alias Fidus, setzte diese mystifizierende Vorstellung einer Natur- und Lichtreligion, die von der Jugend getragen wird, ikonisch in seinem Gemälde »Lichtgebet« um 1900 um. (vgl. Abb. 11) Auch wenn sich die Nackt- bzw. Freikörperkultur im Nationalsozialismus nicht durchsetzen konnte und ihre Ausübung bereits 1933 untersagt wurde, vollständig unterdrückt werden konnte sie dennoch nicht. Darüber hinaus aber trugen die auf den »natürlichen« Körper konzentrierten Kultur- und Lebensreformbewegungen dazu bei, dass der Körper ins Zentrum der Reformdiskurse rückte und verstärkt als Ort sozialer und kultureller Ordnung wahrgenommen wurde. Die Übersetzung dieses symbolischen Ordnungsverfahrens in ein körperliches Verfahren, insbesondere das der militärischen Praxis, fand Eingang in die nationalsozialistische Ideologie. Hier wurden diese Körperbilder und Körperpraktiken in eine staatlich gelenkte rassenantisemitische Körperpolitik überführt, wie bspw. auch ein gesellschaftspolitisch legitimiertes Körperbildungsprogramm Teil der rassespezifischen Gesundheitspraxis wurde.40 Die ›Nacktheit‹ der soldatischen Helden des Skulpturenprogramms auf dem Gelände Vogelsangs muss in diesen Zusammenhang der nationalsozialistischen Körperpolitik gestellt werden. So zählte die Aufstellung monumentaler Aktskulpturen zur repräsentativen Ausstattung nationalsozialistischer Großbauten. Die Aktdarstellung spielte bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Nackte Helden

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eine bedeutende Rolle in der modernen deutschen Plastik. Doch noch bis 1914 stieß die Aufstellung von Aktskulpturen – ohne eindeutig allegorische Funktion – im öffentlichen Raum oftmals auf große Proteste in der Bevölkerung. Diese mündeten häufig in der Forderung nach Beseitigung dieser figurativen Plastiken, die sich nicht auf mythologische Darstellungen bezogen, sondern den Ausdruck des scheinbar »wahren Bildes« vom Menschen in der Darstellung einer idealisierten Nacktheit suchten. In der Weimarer Republik zierten männliche Aktskulpturen »mythischer Heldengestalten, die bis auf den Stahlhelm nichts an den Weltkrieg erinnerndes vorwiesen«, zahlreiche Kriegerdenkmäler. Ihre Nacktheit und ihr häufig heroischer Gestus verliehen dem Kriegstod eine nachdrückliche Sinnstiftung durch die ästhetische Rhetorik einer elementaren, gewissermaßen ewig gültigen männlichen Wesensart und ihrer heldischen Bestimmung, wie es Alfred Rosenberg in seinem programmatischen Buch »Mythus des 20. Jahrhunderts« formulierte: »Die Gesichter, die unterm Stahlhelm auf den Kriegerdenkmälern hervorschauen, sie haben fast überall eine mystisch zu nennende Ähnlichkeit. Eine steile durchfurchte Stirn, eine starke Nase mit kantigem Gerüst, ein festgeschlossener schmaler Mund mit der tiefen Spalte eines angespannten Willens. Die weitgeöffneten Augen blicken geradeaus vor sich hin. Bewußt in die Ferne, in die Ewigkeit.«41

Die Ordnung des nackten Körpers Im Nationalsozialismus werden die monumentalen Aktskulpturen als Personifikationen mentaler Wesensmerkmale, als Symbole einer »schöpferischen Staatspolitik«42 oder staatlicher Formationen, wie bspw. »Staat«, »Sieg«, »Bereitschaft«, »Wille«, »Kameradschaft«, »Der Künder«, »Der Kämpfer« oder auch »Denker«, zum bestimmenden Bildprogramm von Staatsarchitekturen und repräsentativen Großprojekten. Der Aktskulptur wurde die Fähigkeit zugesprochen, das propagierte Wesen des Nationalsozialismus, vor allem Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit, im idealisierten Typus zu symbolisieren: »Der beherrschende Zug in der zeitgenössischen deutschen Bildhauerkunst ist die Steigerung des Realen in die Welt der Idee, die Erhöhung des Einzelgeschehens zum allgemeingültigen Symbol. (…) Diese Grundhaltung, die inhaltlich und stilistisch dem idealistischen Lebensgefühl unserer Zeit entspricht und damit die Verkörperung der neuen Anschauung der Welt und der neuen Lebenshaltung anstrebt, hat in den letzten Jahren immer mehr dazu geführt, daß in der figürlichen Plastik der Gegenwart der Akt als Thema erscheint und hat damit allein schon diese Abwendung vom

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Realistischen, diese Steigerung ins überzeitlich Typische, ins Symbolische eingeleitet.«43 Arno Brekers Aktplastik avancierte ab 1936 zur exponierten NS-Plastik schlechthin.44 So handelt es sich bei Arno Brekers Skulpturenpaar »Die Wehrmacht« und »Die Partei«, die 1939 im Ehrenhof der Neuen Reichskanzlei in Berlin aufgestellt wurden, um Aktdarstellungen. Werner Rittich deutete dieses Skulpturenpaar als »Kräfte, die das neue Reich schufen und erhalten«45 und Breker selbst benannte es später als »Säulen«, auf denen der Staat ruhe; den Schwertträger der »Wehrmacht« charakterisierte er als »Verteidiger des Reichs« und den Fackelträger der »Partei« bezeichnete er als den »Mann des Geistes – durch die Fackel dargestellt«.46 Der »Fackelträger«, die etwa 5 m hohe, überlebensgroße Skulptur, die Willy Meller 1938 für Vogelsang fertigte, entspricht dieser Körperpolitik im Bild der Aktdarstellung. Es handelt sich um ein Muschelkalkrelief auf dem Feuermal des Sonnwendplatzes, einem gemauerten Block, auf dem eine große Feuerschale montiert war. Der nackte, in athletischer Gestalt Dargestellte hält in der rechten Hand eine brennende Fackel, während seine Linke zur Faust geballt ist. Die Inschrift neben ihm lautet: »IHR SEID DIE / FACKELTRÄGER / DER NATION / IHR TRAGT DAS / LICHT DES GEISTES / VORAN IM KAMPFE / FÜR ADOLF HITLER.«

20 Willy Meller: »Fackelträger«, Muschelkalkrelief des Feuermals auf dem Sonnwendplatz der »Ordensburg Vogelsang«, 1938. Nackte Helden

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Als nackter Lichtbringer appelliert der »Fackelträger« Vogelsangs an die »Ordensjunker«, den Führernachwuchs der NSDAP, ihre Aufgabe als »politische Soldaten« für den Diktator kämpferisch – veranschaulicht durch die Pose der Faust – wahrzunehmen.47 Die Metaphorik der Fackel oder des Lichts ist vielfältig und unterliegt unterschiedlichen Konnotationen: Sie kann als Symbol des Geistes, der Hoffnung, aber auch des Unheils und des Todes im Zeichen des einmal verlöschenden Lichts auftreten. Bereits in den 1920er Jahren hatten sich Exponenten der Nacktkörperkul21 Hans Surén: Kraftgymnastik, Publikaturbewegungen, die sich mystisch mit tion von 1935. dem Elementaren, der natürlichen Schöpfung, verbunden glaubten, als »Fackelträger« und »Lichtbringer« bezeichnet. Wie beispielsweise der Nationalsozialist Hans Surèn, der Nacktkultur mit Gymnastik verband und eine »Surèn-Körper- und Charakterschulung« propagierte. Er zählte sich zu den Vorkämpfern der »arischen Sonnenkämpfer«, die im Nationalsozialismus und seinem Symbol des rechtwinkligen Sonnenrades, dem Hakenkreuz, ihre Ziele bestätigt sahen: »Unvergängliche rassische Gesetze brechen durch. Wegweisend und hellstrahlend scheint wieder die Sonne der Arier – und in ihr das heilige Symbol unserer Rasse: das Sonnenrad.«48 Die Aktdarstellung des »Fackelträgers« in Vogelsang macht den nackten Körper als Austragungsort sozialer, kultureller und politischer Ordnung deutlich. Durch seine Nacktheit überführt dieses rassische Körperbild die NS-Ideologie in eine quasi natürliche Hülle: In ein Körperkleid, das durch den Rekurs auf Nacktheit als reine und heroische Natürlichkeit, die ideologische Künstlichkeit bzw. Konstruiertheit zu verbergen sucht. Als Kunstprodukt, d. h. im zweifachen Wortsinn, wird dieses Körperbild verständlich im Kontext des Konzepts der NS-Volksgemeinschaft und der Modernisierungsprozesse. Ihr typisiertes Äußeres, das redundant im rassischen Stereotyp und des muskulösen (Sportler)Körpers in der bildenden Kunst des Nationalsozialismus zitiert wird, bestätigt gewissermaßen den gesellschaftlich-kollektiven Willen der (von der Staatsmacht verordneten) »Volksgemeinschaft« als eine souveräne innere Kraft und Willensstärke. Überdies verweist das monumen110

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tale und das serielle Auftreten dieses Körperbildes in der Bildhauerei sowohl auf die technische und die mediale Modernität des NS-Staates als auch auf die Suggestion von Allgemeingültigkeit, Zeitlosigkeit und Unvergänglichkeit.49 Symbolische und metaphorische Versuche, Körperlichkeit und Gemeinschaft miteinander zu verbinden, d. h. die Antropomorphisierung und Biologisierung kultureller, sozialer und politischer Begriffe und Prozesse gehören bereits seit der Antike zum gesellschaftskonstituierenden Repertoire der westlichen Welt. Die Konzeption von Gemeinschaften als imaginäre Körper, wie bspw. die christliche Gemeinschaft im Bild des »Leib Christi«, hat also eine lange Tradition.50 In dieser Weise visualisiert das Körperbild der NS-Plastik den kollektiven Körper der »Volksgemeinschaft« und deren Ideale. Politische und soziale Ordnungsverfahren werden hier in symbolische Körperbilder und Körperpraktiken übersetzt, oder anders ausgedrückt treten sie als die Verkörperung der NS-Ideologie auf.

Vitaler Körper und Totengedächtnis Auch die seit dem Ende des Krieges verschollene Skulptur des »neuen Menschen«, die von Meller 1936 für den sogenannten Kultraum Vogelsangs gefertigt wurde, diente der Visualisierung dieser Auffassung. Die überlebensgroße Aktplastik stand an der Ostwand des nahezu quadratisch angelegten Raumes auf einer Konsole, die die Inschrift »HIER« trug. Seitlich dieser Holzplastik

22 Willy Meller: »Neuer Mensch«, Holzskulptur im Kultraum des Turmes der »Ordensburg Vogelsang«, 1936. Nackte Helden

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waren an der Stirnwand in Bronze die 16 Namen der beim Hitler-LudendorffPutsch am 9. November 1923 in München umgekommenen Männer als »Märtyrer« der nationalsozialistischen Bewegung angebracht. Davor ist auch heute noch ein in die Mitte des Raumes eingelassenes Hakenkreuzmotiv zu sehen. Den Raum zeichnet eine sakrale Wirkung aus: Durch einen bühnenartig drapierten Vorhang und eine Rundbogenöffnung konnte er über einen Zwischenbereich vom Schulungsraum des Gemeinschaftshauses, der auch als Festsaal genutzt wurde, aus eingesehen und betreten werden. Zu diesem langgestreckten Raum verhielt sich der hohe Kultraum wie die zentrale Chorapsis zum Kirchenschiff. Seine Belichtung durch zwei sehr schmale und lange Schlitzfenster unterstützte die sakrale Wirkung dieses Raumes. Aufgrund dieser räumlichen Disposition liegt es nahe, die große Holzskulptur mit einer Christusdarstellung in eine gedankliche Verbindung zu bringen: Während aber der geschundene Leib Jesus’ am Kreuz das Symbol des Lebensopfers für die Christengemeinschaft abgibt, steht hier in dem rassischen Bild des »neuen Menschen« der aufrechte vitale, von Stärke und Willenskraft geprägte kollektive Körper der »Volksgemeinschaft« für die toten Helden als Märtyrer der NS-Bewegung ein. Rekurrierte das »Wilde Heer« auf die völkisch-germanische Ideologie, wird hier die christliche Religion mit ihrem Heilsversprechen in den Dienst der verbindlichen, heroisch konnotierten Gemeinschaft der lebenden und toten Helden gestellt. Als Soldat, d. h. als römischer Offizier, erlitt Sebastian in der christlichen Legende ein Martyrium für das Christentum. Seit dem Ersten Weltkrieg wurde das Motiv des Hl. Sebastian häufig gewählt, um den Soldatentod darzustellen. Im Gegensatz zu dem unversehrten Körper des »neuen deutschen Menschen« im sogenannten Kultraum ist in zahlreichen Darstellungen sein an einen Holzpfahl oder Baum gebundener, fast nackter Körper – seinem speziellen Martyrium entsprechend – von Pfeilen durchbohrt. Trotz dieser Verwundungen aber wird sein Körper in der Geschichte der Kunst seit der Neuzeit großenteils als vollkommener, nahezu unverletzter und jugendlicher Körper dargestellt (Der Legende nach starb Sebastian nicht an diesen Verletzungen, sondern überlebte sie und wurde wieder gesund gepflegt). Im Falle der Aktdarstellung Sebastians steht also nicht die Wunde, der geschundene Leib für sein Opfer ein, sondern ein darüber triumphierender, heroischer Körper. Die Skulptur des »neuen deutschen Menschen« mit ihrer an die Betrachter appellierenden Konsolen-Inschrift »HIER«, verbunden mit der vitalen Geste der erhobenen Hand, hält auch diese Assoziation an das christliche Motiv des Hl. Sebastians als heroischer und jugendlicher Märtyrer im Dienst des Gefallenengedächtnisses parat. Die Unversehrtheit des Körpers der Skulptur des »neuen Menschen« im sogenannten Kultraum verweist auf das Konzept des vitalen Körpers 112

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der »Volksgemeinschaft«, die sich im Gedenken an die gefallenen Helden, d. h. im Totenkult konstituiert. In diesem Sinne entspricht dieser Raum in seiner Funktion weniger einem Kult- als vielmehr einem Gedenkraum, da er in seiner spezifischen Bildhaftigkeit die Aufgabe hat, Erinnerung herzustellen. Überdies nimmt der sogenannte Kultraum im architektonischen Gefüge Vogelsangs eine wichtige Position ein. Dieser Raum befindet sich in dem markanten Rechteckturm, der sich an den Ostflügel des Gemeinschaftshauses von Vogelsang anschließt. (vgl. Abb. 7) Dessen »häufig beschriebener Denkmalcharakter« kann, wie Ruth Schmitz-Ehmke betont, »nicht übersehen werden«. Mit dem Gedenkraum an die gefallenen »Helden der Bewegung« lehnt sich der Turm der »Ordensburg Vogelsang« nicht nur ideengeschichtlich, sondern auch formal an eine Reihe von turmartigen Memorialbauten an, die nach 1918 im Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs errichtet wurden. 51 Eine besondere Nähe lässt sich hier vornehmlich zum Bau der Langemarckhalle im Rahmen der Planungen des Architekten Werner March für das Berliner Reichssportfeld anlässlich der Olympischen Spiele 1936 feststellen. Innerhalb der Architekturanlage wurde diese Ehrenhalle, die dem Gedenken der jungen 1914 gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs diente, durch den 77 m hohen, in der Ost-West-Achse der Anlage sich erhebenden Glockenturm hervorgehoben. Darüber hinaus wurde die Sportstätte um den Versammlungs- und Aufmarschplatz des Maifelds ergänzt. Diese Erweiterungen entsprachen dem nationalsozialistischen Ziel, wie Werner March es formulierte, »Geistiges, Erzieherisches, Kämpferisches und Vaterländisches« miteinander zu verbinden.52 Es ist dieses räumliche Gefüge von Kult- bzw. Feierstätte, Ehrenmal, Aufmarschplatz und Sportplatz im Dienst des Totenkults53, das sich in Vogelsang wiederfinden lässt54: So war die Feierstätte des Thingplatzes in Vogelsang bereits zu Anfang der Planungen im Jahr 1934 unmittelbar mit dem Sportplatz verbunden. Der Architekt Clemens Klotz richtete sich hier nach den Empfehlungen der seit Ende 1933 beim »Reichsbund für Freilicht- und Volksschauspiele« eingerichteten Beratungsstelle für die architektonische Ausgestaltung von Thingplätzen.55 Zur Anlage der Thingplätze gehörten neben der Feierstätte die Gefallenenehrung und ein Aufmarschplatz. 56 Schmitz-Ehmke macht aufmerksam darauf, dass Clemens Klotz dieses Architektur-Ensemble in Vogelsang leicht verändert hat, um es an die speziellen Bedürfnisse der Schulungseinrichtung anzupassen: Daher legte er anstelle des Aufmarschplatzes einen Sportplatz an und auch auf die räumlich unmittelbar anschließende Gefallenenehrung wurde hier wegen dem vorhandenen Kultraum verzichtet. Das an Thingplätzen übliche Feuermal für die Sonnwendfeiern findet sich in

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Vogelsang auf dem nahegelegenen Sonnwendplatz mit der Darstellung des Fackelträgers wieder.57 Im Erziehungssystem der Nationalsozialisten hatte der Sport als Körperund Leibeserziehung sowie zur Wehrertüchtigung im Dienst des ideologischen Körperkonzepts und seiner Politik einen überaus hohen Stellenwert, den Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten 1938 mit dem Begriff der »politischen Leibesübungen« auf den Punkt brachte. Sportveranstaltungen im »Dritten Reich« wurden als »Feier und Wettkampf« zugleich durchgeführt. Wie Werner Rittich in seinem Aufsatz »Sport und Plastik« aus dem Jahr 1941 betonte, diente Sport vornehmlich dazu »die Jugend und damit das Volk der Zukunft zu stählen und zu wehrhaften Männern zu erziehen.«58 Und Adolf Hitler referierte hierzu in martialischen Phrasen: »… Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert werden. In meinen Ordensburgen muß eine Jugend heranwachsen, vor der sich die Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. (…) Schmerzen muß sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein. (…) Ich werde sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. Ich will eine athletische Jugend. Das ist das Erste und Wichtigste. So merze ich die Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus. So habe ich das reine, edle Material der Natur vor mir. So kann ich das Neue schaffen. Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir die Jugend (…) Aber Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen. Das ist die Stufe der heroischen Jugend. Aus ihr wächst die Stufe des Freien, des Menschen, der Maß und Mitte der Welt ist, des schaffenden Menschen, des Gottmenschen. In meinen Ordensburgen wird der schöne, sich selbst gebietende Gottmensch als kultisches Bild stehen …«59 Das sogenannte »Sportlerrelief« am Sportplatz in Vogelsang, das 1938 von Meller gefertigt und durch Schießübungen in der Nachkriegszeit stark zerstörte wurde, weist auf diese enorme Bedeutung des Sports und der körperlichen Ertüchtigung im Rahmen der NS-Erziehung und des NS-Körperkonzepts hin. (Abb. 23) Es befindet sich an der Stirnwand der Ehrentribüne, die unmittelbar unterhalb der Feierstätte des Thingplatzes von den Steinbänken der Zuschauerplätze des großen Sportplatzes flankiert wird. Dargestellt sind – von links, jeweils ein Kugelstoßer, Speerwerfer, Diskuswerfer, Fußballtorwart, Stafettenläufer, Boxer sowie ein Athlet mit einer Kugelhantel. Die mittleren Figuren wurden von dem NS-Hoheitszeichen, dem Adler, der in seinen Fängen einen Lorbeerkranz mit einbeschriebenem Hakenkreuzmotiv hielt, überfangen.

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23 Willy Meller: Sportlerrelief, Muschelkalkrelief an der Stirnwand der Ehrentribüne der »Ordensburg Vogelsang«, 1938.

Interessant ist vor allem die Darstellung des Athleten mit der Kugelhantel bzw. Kettlebell, nicht nur weil sie in der Literatur fälschlicherweise als Hammerwerfer bezeichnet wird60, sondern vor allem, weil dieser Athlet mit seinem Sportgerät auf die spezielle Form des Krafttrainings mit Kugelgewichten verweist, der eine wichtige Rolle im Kampf- und Militärsport zukam. Es ist bezeichnend für die Aktskulptur des Nationalsozialismus und das sich darin äußernde Körperkonzept, dass alle hier dargestellten Sportler stereotyp ein einheitliches Körperbild aufweisen: Gerade hier wird deutlich, dass es in der figürlichen Aktplastik des Nationalsozialismus nicht um eine realitätsnahe Darstellung des idealen (Sportler)Körpers ging, denn sonst hätte man je nach Sportart und den jeweils trainierten Muskelgruppen voneinander unterschiedene Körpertypen darstellen müssen. So aber weisen alle hier dargestellten Sportler – unabhängig von ihrer sportlichen Disziplin – den gleichen, stereotyp gestalteten Körper auf. Offensichtlich wird hier der Rekurs auf den nackten als einen wesenhaft-natürlichen Körper, der in seiner Homogenität auf das Konzept der ontologisch konnotierten »Volksgemeinschaft« im Sinne eines kollektiven »Volkskörpers« verweist.61

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Die Fiktion vom Gedächtnisort Das plastische Programm, das – mit den architektonisch definierten Räumen des Ritus, des Feierns, des Erinnerns und des Sports – zugleich ein räumliches Bildprogramm der »Ordensburg Vogelsang« ist, erweist sich in dieser Lesart als ein Gefüge, in dem sich das nationalsozialistische Körperkonzept im Dienst der Konstruktion und Produktion von »Volksgemeinschaft« Ausdruck verschafft. Das vitale Körperbild konstituiert sich dabei über das Gedächtnis an die für die Ideale einer Gemeinschaft im Kampf gefallenen Helden, d. h. durch den Totenkult. Das Gefüge der »Ordensburg Vogelsang« wurde auf diese Weise in den Worten Michel de Certeaus als ein »Ort« konzipiert, in dem sich das »Gesetz« der »Eindeutigkeit« Ausdruck zu verschaffen sucht. De Certeau hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass der »Ort« im Verhältnis zu den realitätsschaffenden Praktiken des Alltags, narrativ als das »Dasein von etwas Totem« beschrieben wird. So ist ein »Ort« vor allem durch seine Statik bzw. Unbeweglichkeit gekennzeichnet, in ihm entfalten sich keine Bewegungen, keine Aktivitäten und keine dynamischen Prozesse finden hier statt. Er ist in seiner Stabilität unveränderbar und daher nicht verzeitlicht.62 In dieser Lesart erfüllt sich demnach die gestaltete »Erinnerungstotalität« im »Gedächtnis der Bilder« des nationalsozialistischen Orts Vogelsang. Dieser »Ort« hat allerdings nichts mit der handlungsorientierten, Konventionen aushandelnden und zeitlich strukturierten Realität von Gemeinschaften – auch der der nationalsozialistischen Gesellschaft – gemein: Die »Ordensburg Vogelsang« als nationalsozialistischer Gedächtnisort ist demnach eine politische Fiktion.

Anmerkungen 1 2 3 4

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DE CERTEAU, Michel: Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 219. Zit. n. DIEHL, Paula: Körperbilder und Körperpraxen im Nationalsozialismus. In: DIEHL, Paula (Hg.): Körper im Nationalsozialismus, München 2006, S. 9. Vgl. hierzu DIEHL, Körperbilder und Körperpraxen, S. 9ff. WELZER, Harald: Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung. In: WELZER, Harald (Hg.): Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus, Tübingen 1995, S. 177. Mit dem Begriff der Erinnerungstotalität, der »Utopie der vollständigen Gestaltbarkeit«, knüpft Welzer an die Studien von Hannah Arendt an, vgl. ebd. S. 176. Vgl. ebd., S. 179: Diese »Erinnerungstotalität« erweist sich, nach Welzer, als ein spezifischer Zug totaler Herrschaft. Vgl. ebd., S. 178. Christina Threuter

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Vgl. zur Zusammenarbeit zwischen Clemens Klotz und Willy Meller u. a. LESER, Petra: Der Kölner Architekt Clemens Klotz (1886–1969), Köln 1991. Vgl. HOFFMANN-CURTIUS, Kathrin: Der irrende Ritter. Künstler-, Kampfund Kriegerromantik zum Ersten Weltkrieg. In: Helden. Mythische Kämpferfiguren im 20. Jahrhundert und in der Gegenwart (=Frauen Kunst Wissenschaft 41), 2006, S. 51–60, hier S. 54. Vgl. FREVERT, Ute: Männer und Heroen. Vom Aufstieg und Niedergang des Heroismus im 19. und 20. Jahrhundert. In: DÜLMEN, Richard von (Hg.): Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000, Wien/ Köln/Weimar 1998, S. 323–365, hier S. 324. HOFFMANN-CURTIUS, Der irrende Ritter, S. 55. Vgl. ebd., S. 54. Vgl. FREVERT, Männer und Heroen, S. 338. Vgl. MOGGE, Winfried: Vom Jugendreich zum Jungenstaat. Männerbündlerische Vorstellungen und Organisationen in der bürgerlichen Jugendbewegung. In: WELCK, Karin von/VÖLGER, Gisela (Hg.): Männerbande, Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich, Köln 1990, Bd. 2, S. 108. – Vgl. von SEE, Klaus: Barbar, Germane, Arier. Die Suche nach der Identität der Deutschen, Heidelberg 1994, S. 336. FREVERT, Männer und Heroen, S. 338. Zit. n. THEWELEIT, Klaus: Männerphantasien, Bd. 2: Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors, München 1995, S. 162f. Vgl. auch FREVERT, Männer und Heroen, S. 342. Zit. n. HINZ, Berthold: Die Malerei im deutschen Faschismus. Kunst und Konterrevolution, München 1984, S. 113. Vgl. hierzu die Beiträge von LOWER und HEINEN in diesem Band. Vgl. HEINZ, Kathrin: Der Drachenkämpfer Wassily Kandinsky. Über Helden und ihre Verbindungen. In: Helden, Mythische Kämpferfiguren im 20. Jahrhundert, S. 35–50, S. 35; vgl. dazu auch: SEUFFERT, Albrecht: Parforceritt durch die Kunstgeschichte des Reitermonuments. In: Roß und Reiter in der Skulptur des XX. Jahrhunderts (=Ausstellungskatalog Gerhard Marcks-Haus), Bremen 1991, S. 8–20. von SEE, Barbar, Germane, Arier, S. 229. Ernst Jünger, zit. n. von SEE, Barbar, Germane, Arier, S. 327. Ebd., S. 328. Vgl. den Beitrag von KEIM in diesem Band. Vgl. von SEE, Barbar, Germane, Arier, S. 229. Werner Hader 1937, zit. n. MERKER, Reinhard: Die bildenden Künste im Nationalsozialismus, Köln 1983, S. 249. Zit. n. von SEE, Barbar, Germane, Arier, S. 330. Ebd., S. 334. WHITE, Hayden: Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1990, S. 8.

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30 Vgl. GAMPER, Michael: Nacktes Leben – lebendige Nacktheit. Formung der Masse durch Körper- und Volkskörperpolitik. In: DIEHL, Körper im Nationalsozialismus, S. 150, 156f. 31 Adolf Hitler, zit. n. SCHUSTER, Peter-Klaus (Hg.): Die »Kunststadt« München 1937. Nationalsozialismus und »Entartete Kunst«, München 1987, S. 250. 32 Vgl. DIEHL, Körperbilder und Körperpraktiken, S. 21ff. 33 BRESSA, Birgit: Nach-Leben der Antike. Klassische Bilder des Körpers in der NS-Skulptur Arno Brekers, (Diss.) Tübingen 2001, www.deposit.ddb.ce/cgi-bin/ dokserv?idn=963185209, S. 291. 34 Ebd., S.  292: Insbesondere weil man mit dem Klassischen die Naturalisierung künstlerischer Gesetzmäßigkeiten verband. 35 Zit. n. WOLBERT, Klaus: Die Nackten und die Toten des »Dritten Reiches«. Folgen einer politischen Geschichte des Körpers in der Plastik des deutschen Faschismus, Gießen 1982, S. 33. 36 Vgl. DIEHL, Körperbilder und Körperpraxen, S. 17. 37 Vgl. LINSE, Ulrich: Das »natürliche« Leben: Die Lebensreform. In: von DÜLMEN, Erfindung des Menschen, S. 435–458, hier S. 441. 38 Zitiert nach LINSE, Ulrich: Zeitbild Jahrhundertwende, in: ANDRITZKY, Michael/RAUTENBERG, Thomas: »Wir sind nackt und nennen uns du.« Von Lichtfreunden und Sonnenkämpfern. Eine Geschichte der Freikörperkultur, Gießen 1989, S. 10–50, S. 173. Gegen die nudistischen Publikationen Richard Ungewitters wurde strafrechtlich vorgegangen im Rahmen des §184 »im Namen der Sittlichkeit gegen die öffentliche Unmoral«. 39 Vgl. u. a. LINSE, Das ›natürliche‹ Leben, S. 436. 40 Vgl. GAMPER, Nacktes Leben – lebendige Nacktheit, S. 163. 41 Zit. n. WOLBERT, Die Nackten und die Toten, S. 201 und vgl. ebd., S. 216. 42 Walter Horn, zit. n. WOLBERT, Die Nackten und die Toten, S. 89. 43 Werner Rittich, zit. n. WOLBERT, Die Nackten und die Toten, S. 80. 44 Vgl. WOLBERT, Die Nackten und die Toten, v.a. S. 116f. 45 Zit. n. BRESSA, Nach-Leben der Antike, S. 310. 46 Vgl. BRESSA, Nach-Leben der Antike, S. 305. 47 Zur Verknüpfung der Fackelträger-Darstellungen mit der Prometheus-Ikonographie in der NS-Plastik vgl. WOLBERT, Die Nackten und die Toten, v.a. S. 212ff. 48 Zit. n. MÖHRING, Maren: Nacktheit und Leibeszucht. Die FKK-Praxis im Nationalsozialismus. In: DIEHL, Körper im Nationalsozialismus, S. 211–228, hier S. 222. 49 Vgl. WOLBERT, Die Nackten und die Toten, S. 76. 50 Vgl. SASSE, Sylvia: Vorwort. In: SASSE, Sylvia/WENNER, Stefanie: Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung, Bielefeld 2002, S. 9. 51 Vgl. SCHMITZ-EHMKE, Ruth: Die Ordensburg Vogelsang. In: DURTH, Werner/NERDINGER, Winfried (Hg.): Architektur und Städtebau der 30er/40er Jahre. (=Schriftenreihe des Deutschen Nationalen Komitees für Denkmalschutz, Bd.  46), Bonn 1993, S.  88. Zu weiteren nahe liegenden Vorbildern bzw. Vergleichsbeispielen vgl. besonders SCHMITZ-EHMKE, Ordensburg Vogelsang,

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S. 88ff. und S. 105f. zur Bedeutung der Denkmalsarchitektur in Hinsicht auf die nicht ausgeführten Entwürfe zum »Haus des Wissens« in Vogelsang. Werner March 1936, zit. n. SCHMITZ-EHMKE, Ordensburg Vogelsang, S. 104. An dieser Stelle kann darauf leider nicht ausführlicher eingegangen werden, vgl. dazu bspw. MITTIG, Hans-Ernst: Kunst und Propaganda im NS-System. In: WAGNER, Monika (Hg.): Moderne Kunst 2. Das Funkkolleg zum Verständnis von Gegenwartskunst, Hamburg 1991, S. 443–466. – In seiner architektonischen Analyse des Reichssportfelds weist er darauf hin, dass die gesamte »Anlage (…) voller sichtbarer Hinweise auf militanten Totenkult (steckt)«. Daneben gibt es einige weitere formale Gemeinsamkeiten zwischen der Anlage Vogelsangs und dem Reichssportfeld, vgl. hierzu SCHMITZ-EHMKE, Ordensburg Vogelsang, S. 104ff. Vgl. SCHMITZ-EHMKE, Ordensburg Vogelsang, S. 103. Zum Thingspiel und Totengedenken vgl. bspw. FISCHER-LICHTE: Tod und Wiedergeburt. Zur Verklärung der Volksgemeinschaft in Thingspielen und nationalsozialistischen Feiern. In: DIEHL, Körper im Nationalsozialismus, S. 191–228. Vgl. SCHMITZ-EHMKE, Ordensburg Vogelsang, S. 103, 104. Zit. n. WOLBERT, Die Nackten und die Toten, S. 190. Zit. n. ebd., S. 70. Ich danke Frau Tessi Biewer für diesen Hinweis in ihrem Referat zur Rolle des Sports im NS im Fach Kunstgeschichte an der Universität Trier! Vgl. zur kontroversen Auseinandersetzung mit den statuarischen, unbewegten Sportlerdarstellungen im NS WOLBERT, Die Nackten und die Toten. DE CERTEAU, Kunst des Handelns, S. 217–220.

Nackte Helden

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Geahnte Götterdämmerung Die »Ordensburg Vogelsang« und ihre Herkunft aus Baukunstgeschichte und Film

Im Januar 2010 meldeten westliche Agenturen, dass die Staatsführung Chinas den weltweit sensationell erfolgreichen 3D-Film »Avatar« aus den Großkinos nehmen werde. Die offizielle Begründung sei die Premiere des chinesischen Monumentalfilms »Konfuzius«, den man im ganzen Land so rasch und umfassend wie möglich verbreiten wolle. Als wirklichen Grund nannten die Meldungen die Furcht der Offiziellen vor der aufrüttelnden Wirkung »Avatars« auf die Bevölkerung. Denn das Gros der chinesischen Zuschauer identifiziere sich mit den »Navi« in James Camerons Film, den von menschlichen Invasoren geknechteten »humanoiden« Bewohnern des Planeten »Pandora«, und sehe in deren fiktivem Schicksal das eigene, von Zwangsumsiedlung und Ausbeutung bestimmte Leben gespiegelt; so seien die endlosen Zuschauerschlangen vor den Kinokassen eine Art stummer Demonstration gegen die rigide Bau- und Arbeitspolitik des Staats. Es gehört zu den Binsenweisheiten des Allgemeinwissens, dass Filme nicht nur das gesellschaftliche Bewusstsein widerspiegeln, sondern es auch beeinflussen. Doch die Beweise hierfür übersteigen meist nicht das Niveau des assoziativen und wankelmütigen sogenannten »gesunden Menschenverstands«. Er begnügt sich mit der Beobachtung, dass gelegentlich (meist jugendliche) weibliche Zuschauer nach Besuch einschlägiger Filme unbewusst den Schmollmund einer Angelina Jolie oder den Augenaufschlag Nicole Kidmans imitieren, männliche einige Zeit so staksen wie Brad Pitt als Alexander der Große oder die Augenbrauen runzeln wie der Graf Stauffenberg des Tom Cruise. Die Vorgänge in China dagegen, zusätzlich bestätigt von patriotischen Protesten in den Vereinigten Staaten, die dem Film vorwerfen, seine Menschenarmee sei eine bösartig verzerrende Kopie der amerikanischen Streitkräfte, belegen, dass Film­ eindrücke ins Bewusstsein und vor allem Unterbewusstsein übergehen und das Denken und Handeln von Menschen beeinflussen können. Damit werden rund achtzig Jahre nach Erscheinen der Analyse »Von Caligari zu Hitler«1 die Thesen Siegfried Kracauers bestätigt, dass ein nicht unmaßgeblicher Teil der Erfolge des NS-Regimes auf Filmen beruhe, die, oft subtil getarnt, der Bevölkerung Tag für Tag die nationalsozialistische Weltanschauung einbläuten. 120

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24 Hubert Lanzinger: »Der Bannerträger« (Farb­offset), um 1938.

»Die Nazis fälschten die Realität wie Potemkin; statt der Pappe benutzten sie jedoch das Leben selbst, um ihre imaginären Dörfer zu errichten.«2 So heißt es bei Kracauer. Eine der wichtigsten Schaltstellen, an denen dergleichen Imaginationen ins Leben übertraten, war die sogenannte »Neue Deutsche Baukunst«. Nicht umsonst nannte Hitler (was der Titel eines der erfolgreichsten Propagandafilme des »Dritten Reichs« wurde) die NS-Bauten »Worte in Stein«.3 Denn die Bauwerke des Regimes, in Stadt und Land in fieberhafter Eile und einem charakteristischen Mischstil aus neoantiken und modernen Elementen errichtet, suggerierten den Deutschen, sie lebten tatsächlich in jenem zugleich überzeitlichen und modernen »Tausendjährigen Reich«, das die nazistische Propaganda beschwor – aus Weltanschauung schien Welt geworden. In einem 1938 entstandenen Hitler-Porträt des Malers Hubert Lanzinger ist diese so absurde wie wirkkräftige ideologische Mischung aus Einst und Jetzt beispielhaft komprimiert: Unter dem Titel »Der Reiter« zeigt das Gemälde Geahnte Götterdämmerung

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den Diktator auf einem Rappen reitend. Nach Art der berühmten Herrscherportraits der italienischen Renaissance ist Hitler in strengem (geschöntem) Profil gezeigt. In der Rechten hält er eine wehende Hakenkreuzfahne, die den gesamten Bildhintergrund flammend rot ausfüllt. Die Linke umspannt die Zügel. Gekleidet ist Hitler in eine spätmittelalterlich anmutende Rüstung, eine Art keilförmige Halskrause kann als heruntergeklappter Helm wahrgenommen werden. Motivisch steht das Porträt unverkennbar in der Reihe der bekannten altmeisterlichen Gemälde des Ritterheiligen Georg sowie des im Weltgericht kämpfenden Erzengels Michael. Die Malweise aber versetzt den »Führer« und das Heilsversprechen der historischen Vorbilder in die Gegenwart der Moderne: Die Umrisse und das Kolorit atmen die Spröde der »Neuen Sachlichkeit«, der Harnisch ist mit rasiermesserscharfen Lineaturen und Spiegelungen ein deutlicher Hinweis auf den Futurismus und dessen Verklärung des metallenen »Maschinenmenschen« samt der Verherrlichung des Kriegs als »Vater aller Dinge«. Dass letztere das realistische abwehrende Wort vom Menschen als Kanonenfutter zur Ehrenformel umkehrte, bewies die Begeisterung, mit der Italiens Futuristen während des Ersten Weltkriegs und in Mussolinis Diktatur die Gefallenen als Pioniere und Märtyrer einer neuen Zeit feierten.4 Die drei Grundelemente in Lanzingers Gemälde – Rückwärtsgewandtheit, Modernekult und Todessucht – prägen auch die Architektur des »Dritten Reichs«, vor allem die der Ordensburgen, die einen obersten Rang in der Werteordnung der »Neuen Deutschen Baukunst« einnahmen. Entstehen und Popularität der Ordensburgen wurzelten in weitverbreiteten, zum Bestandteil des Alltags trivialisierten Mythen und Legenden. Ihre Verbreitung setzte mit der Ritterromantik ein, die, geboren aus dem Patriotismus und den Reichssehnsüchten der deutschen Freiheitskriege, das gesamte 19. Jahr­hundert durchzog und selbst das Ende des wilhelminischen Kaiserreichs überlebte. Dietrich von Bern, Heinrich der Löwe, Barbarossa, Siegfried und Hagen von Tronje waren, samt angeblich unbezwingbarer Eroberungslust sowie unerschütterlichem Todesmut, auch zu Zeiten der Weimarer Republik jedem Schulbuben ein Begriff. Dieser eingefleischten Rückwärtsgewandtheit stand als Gegengewicht blinde Begeisterung für Helden der Moderne gegenüber: So genannte Landserheftchen feierten in Groschenromanen die vorgebliche technische und moralische Überlegenheit der deutschen Streitkräfte während des Ersten Weltkriegs, beweihräucherten Heldentode und verbreiteten die gängigen Dolchstoßlegenden. Selbst vordergründig so harmlose Comicstreifen wie die (bis heute erfolgreiche) Serie »Tim und Struppi« glorifizierten vom Auto bis zum Fließband die neuesten Errungenschaften des technischen Zeitalters, 122

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die sie Helden an die Hand geben, deren Handeln überzeitliche ritterliche Tugenden wie Tollkühnheit, Opferbereitschaft, Selbstlosigkeit und Leidensfähigkeit bestimmten. Größte Popularität während der Weimarer Republik und auch noch während des »Dritten Reichs« erreichte der amerikanische Film- und ComicHeld »Tom Mix«, ein todesmutiger Cowboy, der sich souverän auch in der neuen Maschinenwelt zu bewegen wusste. So beliebt wie Karl Mays Old Shatterhand, nur eben moderner, begeisterte er Intellektuelle und Künstler wie beispielsweise George Grosz ebenso wie Arbeiter und Angestellte. Auch deutsche Filmgesellschaften reagierten auf das kollektive Bedürfnis nach Helden des Technikzeitalters. Ihr diesbezüglich aufschlussreichster Film erlebte am 2. Februar 1933, wenige Tage nach der sogenannten »Machtergreifung«, seine triumphale Uraufführung: »Morgenrot«, ein während des Ersten Weltkriegs spielendes U-Boot-Drama, gipfelnd in der freiwilligen Selbsttötung eines Offiziers und eines Matrosen, die sich in ihrem gesunkenen U-Boot erschießen, um acht Kameraden das Überleben – und das Weiterkämpfen – zu ermöglichen. Dieses Hohe Lied des Heldentods umrahmte der Film mit expressiven Aufnahmen der blitzenden Mechanik von technologisch perfekten Kriegsmaschinen und schnittigen Uniformen auf gestählten Körpern. Ihre Botschaft fasst ein Satz der Hauptfigur zusammen, der sich rückblickend als eine Schlüsselformel der nationalsozialistischen Weltauffassung erweist: »Zu leben verstehen wir Deutschen vielleicht schlecht, aber sterben können wir jedenfalls fabelhaft.«5 Sechs Jahre später, kurz vor Kriegsbeginn, füllte »Wasser für Canitoga« die deutschen Lichtspielhäuser. Darin erkämpft ein Ingenieur als fahrender Ritter der Moderne gegen kapitalistische Intrigen die Fertigstellung einer ultramodernen Wasserleitung für eine kanadische Großstadt. Die Hauptrolle in der suggestiven Melange aus Ritter-, Cowboy- und Technikromantik spielte der ungemein beliebte Hans Albers. Er, der zehn Jahre zuvor in der Uraufführung von Bertolt Brechts »Mann ist Mann« mit dem »Kanonensong« gegen die verlogenen Klischees von Soldatenehre und Heerestugenden angesungen hatte, schmetterte nun »Good bye Johnny«, ein Lied, das ihm von Peter Kreuder auf den Leib – und den Deutschen in die Seele komponiert worden war: »Mein Freund Johnny war ein feiner Knabe, war ein Tramp, und hatte kein Zuhaus./ Bei Rocktown liegt er längst im Grabe, und aus seinem Schädel wachsen Blumen raus./Unsre Fahne haben wir getragen, und mein Johnny trug sie uns voran./Eine Bombe fiel, und sie nahm zum Ziel ganze 25 Mann./Die Bombe machte Bumm, da fiel mein Johnny um./Cheerio! Good bye Johnny, good bye Johnny, schön wars mit uns zwein…«6 Geahnte Götterdämmerung

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Als dieses Lied aus allen Volksempfängern dröhnte, standen schon wesentliche Teile der 1934 begonnenen Ordensburg Vogelsang. Wie ihre beiden Pendants in Sonthofen im Allgäu und Crössinsee in Pommern7, bot sie sich als perfekte suggestive Montage aus Mittelalterzitaten und Versatzstücken neuester Militär- und Industriearchitektur. Zu Ausbildungsstätten für die künftigen Führungskader der NSDAP bestimmt, war es die oberste Pflicht ihrer Erscheinung, den autoritären Prinzipien, den Hierarchien und Forderungen des Regimes allgemein verständliche, bildhafte und zwingende Gestalt zu geben. Auf wenig andere Bauwerke des »Dritten Reichs« trifft das Wort von der »Kaderschmiede« so passgenau zu wie auf die Ordensburgen – und ebenso Siegfried Kracauers Formulierung vom Film, der nach 1933 aus Pappe Leben gemacht habe. Die Ordensburgen sind reale Bauten und perfekt inszenierte (Film-) Kulissen zugleich, sind Stimmungsarchitektur, deren Suggestion man sich auch heute noch kaum entziehen kann. Dies bezeugt schon die Fernwirkung Vogelsangs. Kameragerecht und damit für die massenhafte Verbreitung via Wochenschau und Bildbänden gestaltet, gibt sie sofort ihre Traditionsgebundenheit, aber auch ihre Modernität zu erkennen: Clemens Klotz, der Architekt, hatte im Umriss unverkennbar die Wartburg bei Eisenach, durch den legendären Sängerwettstreit, die Legenden der heiligen Elisabeth und Martin Luthers Zwangsaufenthalt eine der populärsten und »deutschesten« Burgen Deutschlands, zum Vorbild genommen. Wie diese wird auch Vogelsang geprägt durch einen (48 Meter hohen), flach gedeckten Bergfried, an den sich auf steilen geböschten Mauern langgestreckte, nach außen wehrhaft verschlossene Wohnbauten mit Satteldächern anschließen; in Eisenach der Palas und die Kemenaten, in Vogelsang das Gemeinschaftshaus und die Amtsstuben. Als weiteres, gleichfalls weithin bekanntes Vorbild diente die ehemalige Staufische Reichsfeste Trifels, gelegen im pfälzischen Annweiler und damit in der Nähe des vom NS-Regime errichteten »Westwalls«. Ebenfalls charakterisiert durch einen massiven ragenden Bergfried, an den sich, dichter gedrängt als bei der Wartburg, Palas und Wachhäuser anschließen, (deren Kompaktheit der Architekt Hermann Giesler im Entwurf der Ordensburg Sonthofen übernahm), wurde der extrem verfallene Trifels 1938 von dem Architekten Rudolf Esterer restauriert und teilrekonstruiert. Der in Wochenschauen und Dokumentarfilmen gefeierte, aus dem Nichts wiederaufgebaute Palas demonstriert bis heute8, mit welcher Subtilität Architekten im »Dritten Reich« Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen: Sein sogenannter Rittersaal evoziert mit wuchtigen, steinsichtigen und nahezu schmucklosen Bogenfolgen, mit monumentalen Pfeilern, Treppen und Rampen sowohl den Eindruck einer respekteinflößenden spätromanischen Innenarchitektur, wie er als Ehrenhalle 124

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eines der neuen NS-Staatsgebäude und Ministerien in Berlin, München oder Nürnberg wahrgenommen werden kann. Gleiches gilt für Vogelsang, dessen Außenwände kräftiges Bruchsteinmauerwerk aus heimischer Grauwacke präsentieren und so den Eindruck einer seit Jahrhunderten unzerstörten und uneinnehmbaren Festung hervorrufen. Im selben Atemzug aber signalisiert die Ordensburg auch ihre Herkunft aus der Moderne. Denn der Bergfried von Clemens Klotz trägt unübersehbar futuristische Züge: Wie bei Lanzingers »Reiter« der Harnisch mittels Lichtblitzen und Keilformen zur Roboterrüstung, wird der Turm durch seine dynamischen, leicht nach oben sich verjüngenden Konturen, einen rasanten vierkantigen Begleiter in Art eines zusätzlichen Treppenturms sowie einen krönenden, stirnseitig montierten schlanken Fahnenmast zum architektonischen Synonym einer unbesiegbar vorwärtsstürmenden technoiden Ära. Sant’ Elias fiebrig giganteske Elektrizitätswerke oder die von Kriegsmaschinen inspirierten frühen Architekturfantasien Erich Mendelsohns haben hier Pate gestanden; Architekturliebhaber dürften im »Bergfried« Vogelsangs ein Pendant des ragenden Treppenhaus- und Lift-Pylons erkannt haben, den Eduard Jobst-Siedler 1929 seinem schlichten Erweiterungsbau der Reichskanzlei als modernes Hoheitszeichen anfügte. Gemäßigt futuristischer Dynamismus ist in Vogelsang auch das Kennzeichen des an den Turm grenzenden Gemeinschaftshauses, der Ost- und Westflügel sowie der hangseitig angeordneten »Kameradschaftshäuser«. Demonstrativ solide gebaut, mit Bruchsteinen und niedrigen verschieferten Satteldächern historisiert, schmiegen sie sich gleichzeitig so biegsam wie stählerne Ruten dem Steilhang an, scheinen trutzige Wallanlage, wehrhafte Wohnung und technoide Gefechtsstellungen zugleich. Übertroffen wurde dieser raffinierte Dualismus nur von den gleichzeitig entstehenden, dank Beton dynamisierten Bunkern, Gefechtsanlagen und Stellungen des sogenannten »Westwalls«. Was Vogelsangs überwältigende Fernwirkung mit ihren Hanganlagen, Aufmarschgeländen und Terrassierungen von Weitem verhieß, löste seine Binnenwelt ein: Schon der offizielle Eingangsbereich, ein funktional betrachtet sinnloses Riesenensemble, stimmte mit einer weitgespannten Toranlage samt Empfangshof, »Remisen« und zwei expressiven Türmen auf das Erlebnis einer neuen »heldischen Welt« ein. Jedes Einzelelement bietet die beschriebene Synthese aus retrospektiven und modernen Elementen. So sind die Seitenwände des monumentalen Tors deutlich nach innen geneigt, was ihnen einerseits den Anstrich unerschütterlichen, fast altägyptischen Beharrungsvermögens gibt, andrerseits Zeichen einer futuristischen, selbst schwerfälligste Massen bewegenden Dynamik setzt. Geahnte Götterdämmerung

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25 Clemens Klotz: Eingangshof der »Ordensburg Vogelsang«, Schaubild 1939.

26 »Adlerhof« der »Ordensburg Vogelsang«, 1936

27 »Ordensburg Vogelsang«, 1937

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Die Türme der angrenzenden Ost- und Westflügel, kompakte, fortifikatorisch fensterlose Vierkante, fungieren (vergleichbar den Ehrentürmen des 1936 eingeweihten Olympiageländes in Berlin) als Bildträger. Beide präsentieren kolossale steinerne Reiterreliefs des Bildhauers Willy Meller. In heroisierter antikischer Nacktheit der eine, der andere gerüstet, tragen sie die Titel »Ordensjunker« und »Ordensritter«. (vgl. Abb. 16, 17) Die Skulpturen sind Verkörperungen der Vergangenheit und der Zukunft aus der Sicht der NSDAP: Der Ritter mit gerecktem Schwert – ein Verwandter von Lanzingers »Reiter« – erinnert an die Eroberungszüge des Deutschordens, (dessen Hauptsitz, die Marienburg in Ostpreußen, zur Zentrale der Ordensburgen des »Dritten Reichs« ausgebaut werden sollte). Der sichtlich jüngere unbekleidete Junker trägt »die Fackel der Bewegung« in die Zukunft. Beider Bezugspunkt aber ist die Gegenwart, in der laut NS-Propaganda Vergangenes auferstand und Künftiges vorbereitet, wenn nicht gar vorweggenommen wurde. Das zweite Fanal der inneren architektonischen Abfolge stellt der Adlerhof, der Eingangsbereich der eigentlichen Ordensburg, dar. Als Vierflügelanlage und dank eines mittigen Altans eine Würdeform par excellence, signalisierte er mit grimmig blickenden, grob behauenen Reichsadlern staatspolitische Bedeutung. So wie die zahllosen Ehrenhöfe der Reichskanzlei, der Ministerien, Gauforen und des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes, forderte der Adlerhof qua Aura Disziplin, Unterwerfung und Opferbereitschaft. Vordergründig unscheinbare Details wie umlaufende flache Abtreppungen, Pfeilerarkaden und niedrige hartkantige Begrenzungsmauern verstärkten als vage, aber stimmungsvolle Adaptionen des »Temenos«, des heiligen Bezirks griechischer Tempel, so unterschwellig wie nachhaltig das Pathos dieses Empfangssaals unter freiem Himmel. Es gipfelte in einer untersetzten steinernen Brunnenschale, (einem Abkömmling der »heiligen Brunnen« der Antike), in der Mitte des mit großen unregelmäßigen Steinplatten gepflasterten Hofs. Herkunft und Wirkung dieser bannenden architektonischen Inszenierungen fasste der Kunsthistoriker und begeisterte Nationalsozialist Rudolf Wolters 1942 zusammen: »Gestalt und Ausdruck dieser Bauten, ihre Gesamtform (…) ist entwickelt aus der Gestaltung der ersten Kundgebungen, aus Fahnentüchern, Masten, Tribünen.«9 So wie der Adlerhof einerseits mittels der Brunnenschale zentriert ist, gibt er andrerseits mit dem dominanten mittigen Altan Blick- und Wegrichtung vor. Hat man ihn erreicht, breitet sich nach unten die eindringlichste Hauptansicht Vogelsangs aus. Sie wurde von Clemens Klotz als dreidimensionales Schaubild unzerstörbarer Hierarchie, bedingungsloser Unterordnung und Opferbereitschaft arrangiert. Strikt axialsymmetrisch, wird sie zunächst vom mittigen, den »Führerbalkons« der NS-Staatsbauten nachempfundenen Geahnte Götterdämmerung

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Altan akzentuiert, den hangwärts zwei theatralisch steile Treppen flankieren. Vor diesen breitet sich der Aufmarschplatz für die Formationen der auszubildenden NS-»Junker« aus. Von hier leitet eine Mittelachse, die durch die stereometrisch abwärts getreppten Kameradschaftshäuser läuft, zur feierlich sich ausweitenden Feier- oder »Thing«-Stätte, ein Freilichttheater, hinter dem auf einer niedrigeren weitläufigen Terrasse die Sportanlagen der Ordensburg angeordnet sind. Wie die weitaus größeren Anlagen in Heidelberg, Berlin, Annaberg oder Braunschweig besitzt auch das Freilichttheater von Vogelsang amphitheatralisch ansteigende Zuschauerstufen. Die Bühne dagegen, sonst ein waagerecht abschließendes, steinernes Podest mit rückwärtigen blockhaften Bauten, ist in Vogelsang als niedrig ummauerter Halbkreis ausgebildet, der den Blick auf die darunter anschließenden Sportstätten und das grandiose Panorama der umgebenden Landschaft freigibt.

28 »Ordensburg Vogelsang«. Postkarte, die den Blick über den Hang mit den Kameradschaftshäusern auf den Urftstausee zeigt.

Die Bühnenrückseite wiederum ist hangabwärts als axialsymmetrische steinerne Kombination aus einem turmartig aufragenden Halbrund samt einem vorgebauten Podest mit beiderseitigen Freitreppen geformt. Den zeremoniösen Charakter des Gebildes, das an die Rednertribünen des Reichsparteitagsgeländes erinnert, erhöht ein ebenfalls von Willy Meller angefertigtes Relief nackter Athleten in paramilitärischer Formation. (vgl. Abb. 23) 128

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29 Ernst Zoberbier: »Drei Athleten«, Marmorputzmosaik in der Schwimmhalle der »Ordensburg Vogelsang«, hergestellt von den Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei, Berlin-Treptow, 1937.

Unterhalb des Sportplatzes, der seinerseits gestaltet ist wie das schlichte antike Stadion in Olympia, rahmen an der Hangseite die Turn- und die Schwimmhalle eine weitere, mehrfach geschwungene Freitreppe. Beide Hallen sind geschmeidig in den Hang eingetieft und gleichen mit abgerundeten Ecken wechselnd römisch antiken Mausoleen und den (hier allerdings erstaunlich durchlässigen) Fortifikationen und Unterständen des Westwalls. Im Inneren waren beide Sportstätten nach neuestem technischen Standard gebaut und ausgestattet; im Schwimmbad allerdings sorgt ein Mosaik Ernst Zoberbiers mit nackten Jünglingen, die in eine Meeresbrandung stapfen, für überzeitliches Flair. Hinterfangen vom majestätischen Hauptbau der Ordensburg und im buchstäblichen wie übertragenen Sinne gestützt auf die inszenatorisch aufgeladenen Sportstätten, damit lückenlos umhüllt von einer stimulierenden kultischen Aura, sollte die Freilichtbühne als Bezugspunkt all dieser Stimmungselemente dazu dienen, mit expressiven, von NS-Dichtern verfassten Heldendramen die »Volksgenossen« auf die nationalsozialistische Ideologie einzuschwören. Nachdem erste, mit großem propagandistischem Aufwand unterstützte Uraufführungen in den Thingstätten von Berlin und Heidelberg mangels dichterischer Substanz kläglich gescheitert waren, versandete das Thing-Projekt der NSDAP. Seine Bauten aber und ihre Suggestion blieben. So diente die Feierstätte von Vogelsang schwärmerisch sentimentalen Gruppenabenden und Gefolgschaftsfeiern. Bei Sonnenuntergängen profitierten Geahnte Götterdämmerung

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diese zusätzlich von einem weiteren ausgeklügelten Fernblick, der Caspar David Friedrichs Gemälde und die Residenz-Veduten barocker Hofmaler in die Wirklichkeit übertrug. Überblickt man die Gesamtanlage Vogelsang, wird deutlich, dass kaum ein Fleck des Geländes ohne Inszenierung blieb. Seien es die sogenannte Burgschänke, die den allgegenwärtigen futuristischen Schwung mit der von NS-Größen besonders bevorzugten alpenländischen Folklore verbindet, der versteckte Wirtschaftshof, dessen Erscheinung zwischen einem gotischen Handwerkeranwesen und neusachlicher Fabrik changiert, sowie die heimatschützlerisch grundierten und dennoch militärisch-schnittigen Personalunterkünfte oder selbst schmalste Pfade der Andienerzonen: Mit obsessiver Gewissenhaftigkeit sorgte Clemens Klotz dafür, jedes Detail zeichen- und formelhaft zu bearbeiten, bis es zum Signum des Dritten Reichs und seiner Weltvorstellung geworden war. Das Gravitationszentrum aber dieser übergreifenden Inszenierung ist das sogenannte Feuermal, ein monumentaler längsrechteckiger Katafalk, in dem das Vorbild antiker griechischer und römischer Altäre verarbeitet ist. An seiner einwärtigen, mit Travertinplatten verkleideten Breitseite, überragt von einer bronzenen längsrechteckigen Feuerschale, ist ein weiterer überlebensgroßer Fackelträger Willy Mellers fixiert. (vgl. Abb. 20) Diesmal erläutert eine markante eingemeißelte Inschrift seine Botschaft: »Ihr seid die Fackelträger der Nation. Ihr tragt das Licht des Geistes voran im Kampfe für Adolf Hitler.« Nur vordergründig beziehen diese Zeilen sich auf das megalomane (unrealisiert gebliebene) »Haus des Wissens«, einen Festbau, den Clemens Klotz als hybride vage Kopie altägyptischer Tempel und als neuzeitliche NSVariante der legendären Bibliothek von Alexandria über der Burg aufragen lassen wollte.10 Doch nicht das »Licht des Geistes« sollte den Junkern und allen Bewunderern Vogelsang leuchten, sondern das des Todes: die eigentliche Bedeutung des Feuermals offenbart seine Katafalkform. Für den damaligen

30 Clemens Klotz: »Adlerhof« und »Haus des Wissens«, Schaubild 1939 .

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Betrachter auf Anhieb als Paraphrase der nach 1918 überall in Deutschland errichteten Ehrenmale für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs erkennbar, forderte das feierliche Gebilde von den künftigen Führungskadern und ihren Untergebenen denselben todesbereiten Opfermut, den man den toten Soldaten unterstellte. Aus dieser Perspektive erweist sich der Fackelträger als Nachfahre der antiken Ministranten, die Opfertiere in Brand setzten. Zugespitzt formuliert: der steinerne Katafalk, respektive Feueraltar in Vogelsang ist in antiker wie in moderner Sicht an die Stelle der geschmückten Scheiterhaufen getreten, auf denen die Leichname Verstorbener, im vorliegenden Fall (zukünftiger) Gefallener verbrannt wurden. So ist das Feuermal gleichsam eine Filiation der ersten Architektur, die das Dritte Reich errichtete: des granitenen Mahnmals »Für die Gefallenen der Bewegung«, das Hitler sofort nach seinem Amtsantritt zur Erinnerung an die Erschossenen des Münchner Putschversuchs von 1923 auf dem Podest der Feldherrnhalle errichten ließ. Wie das Feuermal im Außenbereich Vogelsangs, wandelte sich bei Bedarf im Inneren der Ordensburg der größte Raum des Gemeinschaftshauses zur magisch aufgeladenen Kultstätte: im Schulungssaal konnte die an den Turm grenzende Stirnseite geöffnet werden, so dass der dahinter gelegene Turmraum eine Art dämmriger, mit einem Rundbogen versehene Apsis bildete. In ihr stand, wie das Kultbild in der Cella antiker Tempel oder der Hauptaltar in christlichen Kirchen, Willy Mellers hölzerne Monumentalplastik »Der Deutsche Mensch«. (vgl. Abb. 12, 22) Das Holzidol stellte einen nackten Athleten dar, der den rechten Arm zum sogenannten »Deutschen Gruß« reckt. Vergleichbar semisakrale Hallen planten Hitlers Architekten für die Gauforen und Versammlungsstätten, die in allen Städten Deutschland entstehen sollten. Für Vogelsang ist überliefert, dass im umgestalteten Schulungsraum Trauungen stattfanden, die unwissentlich die Abstammung der architektonischen Inszenierung aus dem Kirchen-(und auch Theater-)Bau offenbarten. Wie Mellers Fackelträger und Reiter hat auch der »Deutsche Mensch« im Kultraum Vogelsangs seine unverkennbaren Vorbilder und Geistesverwandten in Arno Brekers (1939 enthüllten, aber lange davor schon publizierten) Großbronzen »Die Partei« und »Die Wehrmacht« für Hitlers »Neue Reichskanzlei«. Man hätte den hölzernen Giganten der Ordensburg, entsprechend der Architektur, für die er geschaffen war, auch Siegfried, Hagen oder »Der Nibelung« nennen können. Dies umso mehr, als der Maler Peter Hecker zwei Riesen-Gobelins für das Gemeinschaftshaus entwarf, die sich auf das Nibelungenlied bezogen. Einer von ihnen zeigte »Siegfrieds Tod«, der andere den »Kampf in Etzels Saal«, mithin den Untergang der Nibelungen. Hiermit schließt sich der Kreis zu den eingangs angesprochenen Einflüssen Geahnte Götterdämmerung

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31 »Braune Hochzeit« im Schulungsraum mit Blick in den Kultraum der »Ordensburg Vogelsang«, 1937.

des deutschen Films und seiner Scheinarchitekturen auf das Bauen im »Dritten Reich«. Um es in einem Satz vorweg zu nehmen: Vogelsang und die übrigen Ordensburgen sind kaum denkbar ohne Fritz Langs legendäres zweiteiliges Filmepos »Die Nibelungen«. »Ein geschlagenes Volk dichtet seinen Helden ein Epos in Bildern … Wir brauchen wieder Helden«11, jubelte und forderte die Filmkritik nach den frenetisch beklatschten Uraufführungen im Februar (»Siegfried«) und April (»Kriemhilds Rache«) 1924. Gefeiert wurden nicht nur die Schauspieler und ihre fiktiven Heldentaten, die (mehr oder weniger) unbewusst allgemein als Dementi und Gegenbeweis der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, als Bestätigung der »Dolchstoßlegende« und symbolische Zurückweisung der Demütigungen durch den Versailler Vertrag wahrgenommen wurden. In den höchsten Tönen wurden auch die Filmbauten gelobt, die nach Ideen des gelernten Architekten Fritz Lang von seinen berühmten Filmarchitekten Otto Hunte, Erich Kettelhut und Karl Vollbrecht entworfen worden waren: »In einer Umgebung monumentaler Bauten einfachster Form agieren Menschen, beherrscht von ewigen naturgewollten Trieben … Und trotz des Abstandes erkennen wir, dass wir gleicher Art und gleichen Stammes sind.«12 Noch heute fasziniert schon die Eingangssequenz des Films, die die Burg der Nibelungen kristallin schimmernd aus einem Nebelmeer auftauchen lässt. Betrachtet man das vieltürmige Scheingebilde näher, sind seine Ähnlichkeiten mit den Turmbauten des Reichstagsgeländes von Nürnberg, der Olym132

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piastätten Berlins, aber vor allem Vogelsangs und Sonthofens unübersehbar; hier wie da atmen sie Ewigkeit und Zeitgenossenschaft, signalisieren »ewige naturgewollte Triebe«, vor denen tausend Jahre wie ein Tag sind. Ähnlich verblüffend stimmen die Innenräume der Lang-Filme mit denen in Vogelsang überein: Auf der Kinoleinwand wie in den Raumfolgen der Ordensburg dominieren zwanghaft symmetrisch geordnete Pfeilerstrukturen und Bogenfolgen, Wandnischen und Sitzecken, offene Kamine, mächtige Balkendecken und Podeste für rustikales, doch nobles hölzernes Mobiliar. Selbst im Detail zeigen sich Parallelen. Denn wie an Gunters Hof oder in Etzels Saal zieren auch in Sonthofen germanisierend geschnitzte Drachenköpfe und Flechtbänder das Balkenwerk und die Vertäfelungen. So mögen dem unvoreingenommenen heutigen Blick die Reste der originalen Interieurs in Vogelsang spontan als kuriose Mischung aus Jugendherbergsromantik und Meistersingerpomp erscheinen. Im Lichte des filmischen (1933 auf Anregung Hitlers mit spektakulärem Erfolg wiederaufgeführten) Nibelungenepos entpuppen sie sich als das, was die Zeitgenossen, geschult von Fritz Lang, darin wahrnahmen: eine ewigen Gesetzen und Schicksalen unterworfene Welt, über deren Kunsthandwerk ein Schimmer hypnotischer Todeseleganz lag. Wir haben wieder todesmutige und todesbereite Helden, lautete Vogelsangs Antwort auf die oben zitierte Forderung der Betrachter des Nibelungen-Epos von Lang. Wie in Fritz Langs Film vollendete sich auch in Vogelsang die Magie der Architektur, sobald sie Schauplatz für berauschende Aufmärsche und kultische Spektakel wurde. Erst wenn dem steinernen Massenornament formierte Menschenmassen entsprachen, war die Ordensburg ganz bei sich und im Zenit ihrer Wirkung. Von den Nibelungen Langs heißt es in der Analyse Lotte H. Eisners, sie böten »starre Gestalten, die zu einem Bestandteil der Architektur geronnen scheinen«13 ; und über das Verhältnis von Architektur und Mensch im Dritten Reich schreibt der Kunsthistoriker Hans Joachim Kunst: »NS-Architektur hat die Aufgabe, die Masse in Bann zu schlagen, ja diese selbst zu einem integrierenden Bestandteil der Architektur erstarren zu lassen. Somit wird die Masse gleichsam zu einem Symbol, zu einem Ornament degradiert.«14 »Im Lichtbild, in der filmischen Reproduktion, und nur dort, ist alles fix und fertig, dessen man sich lauthals rühmte«, schreibt Bertold Hinz in seiner Analyse der »Kunst im Dritten Reich«. Zwischen den Zeilen verweist sie auch auf den Film der Weimarer Republik als Vorschule nicht nur für die Rezeption, sondern auch das Entwerfen und Gestalten der NS-Architektur. Und sie unterschlagen ungewollt, dass die vorhandene Architektur die annähernd gleiche Magie entfaltete wie die im Film illusionierte. »Da Deutschland so verwirklichte, was in seinem Film von Anfang an bereits angelegt war, nahmen die Leinwandgestalten tatsächlich Leben an. Geahnte Götterdämmerung

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Als personifizierte Tagträume … füllten diese Figuren die Arena im Deutschland der Nazis … Selbsternannte Caligaris hypnotisierten zahllosen Caesares Mordbefehle ein … Schlachten dröhnten, und ein Sieg jagte den anderen. Alles war so wie im Film. Und die dunklen Vorahnungen von einer Götterdämmerung sollten sich erfüllen«15, schrieb Siegfried Kracauer 1947. Bauten wie Vogelsang bezeugen, dass der NS-Architektur eine Hauptrolle in diesem Höllenspektakel zukam: Aufgeladen mittels der Leinwand-Mystik und obendrein beglaubigt durch die Magie der NS-Massenspektakel, dank derer man am eigenen Leib zu erleben glaubte, was die Kunstfiguren in den Kinopalästen vorgelebt hatten und vorlebten, wurde NS-Architektur, insbesondere die der Ordensburgen, zum Bedeutungs- und Stimmungsträger ersten Rangs. Ihre Suggestivkraft überdauerte das »Dritte Reich« und, wie im Fall Vogelsang, die Teilzerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Ein Kronzeuge hierfür ist Hartmut Happel, Hauptmann an der an die Bundeswehr übergegangenen Ordensburg Sonthofen und Autor einer Publikation über die Geschichte dieser Anlage. Kein Zweifel, dass Hartmut Happel überzeugter Demokrat ist und sich uneingeschränkt zu den Prinzipien des Ludwig Beck bekennt, der energisch Widerstand gegen Hitler leistete, als Mitbeteiligter am Attentat Stauffenbergs hingerichtet wurde und als Namensgeber für die einstige Ordensburg exemplarisch den grundlegenden Unterschied zwischen dem Militarismus des »Dritten Reichs« und dem Selbstverständnis der Bundeswehr kennzeichnet. Doch sobald der Hauptmann die bauliche Gestalt Sonthofens (Architekt: Hermann Giesler) beschreibt, verfällt er ins Schwärmen: Umstandslos die nationalsozialistische Nomenklatur übernehmend und deren aggressiv düsteren Doppelsinn nicht bemerkend16, preist der Verfasser den »Fuchsbau mit seinen herrlichen Gewölben«, schildert die »heute noch zu bewundernden Darstellungen der Landsknechte in den Räumen des Casinos … den imponierenden Turm mit seinen Tonnengewölben … den beeindruckenden großen Speisesaal (mit der) noch immer größten freitragenden Holzkassettendecke Europas … eine wunderschöne Suite (und die generell) gemütliche Atmosphäre.«17 Und so liest sich denn der einzig einschränkende, auf die Diskrepanz zwischen der Bruchsteinverkleidung der Burg und ihrer eigentlich tragenden Stahlbetonskelette bezogene Satz »Außen ist alles schöne Fassade«18 wie ein pflichtschuldiges Lippenbekenntnis. NS-Architekten und ihre Bauwerke unterschieden nicht zwischen Sein und Schein, sondern amalgamierten beides. So täuschten sie der unterworfenen Gesellschaft, aber auch sich selbst vor, in einer Welt zu leben und (vor allem) zu sterben, die dem entsprach, was ihre überreizten machtgierigen Phantasien ausgebrütet hatten. Nur so konnte es geschehen, dass nur wenige erkannten, was Vogelsang eigentlich war: eine Totenburg. 134

Dieter Bartetzko

Anmerkungen 1 2 3

4 5 6 7 8 9 10

11 12 13 14 15 16

17 18

KRACAUER, Siegfried: Von Caligari zu Hitler, Frankfurt a. M. 1979. Ebd., S. 353. Der pseudodokumentarische Film »Das Wort aus Stein« von Kurt Rupli lief ab 1939 als Vorfilm in nahezu allen deutschen Kinos. Raffiniert belichtete Modellaufnahmen und Trickfilmtechniken simulierten viele der geplanten Anlagen als bereits gebaut. Vgl. SCHMIDT-BERGMANN, Hansgeorg: Futurismus, Geschichte, Ästhetik. Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993. KRACAUER, Von Caligari zu Hitler, S. 256. Niederschrift vom Verfasser. Vgl. WEIHSMANN, Helmut: Bauen unterm Hakenkreuz. Architektur des Untergangs, Wien 1998. Fertiggestellt wurden Esterers Rekonstruktionen nach einer kriegsbedingten Pause erst Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. WOLTERS, Rudolf: Neue Deutsche Baukunst, Berlin 1942, S. 15. Albert Speer betonte in seinen Erinnerungen immer wieder die zunehmende Neigung der NS-Architekten (ihn selbst inbegriffen) und Hitlers zu wahnhaftem Übertrumpfen der so genannten Weltwunder der Antike. Zum pseudosakralen Inszenieren der Bauwerke siehe: VONDUNG, Klaus: Magie und Manipulation, Göttingen 1971. Die Filmwoche, 1924, zit. n. BRENNICKE, Ilona: Klassiker des deutschen Stummfilms, München 1983, S. 112. von ORNIK: Rückkehr der Nibelungen. In: UFA (Hg.): Feuilletons für Siegfrieds Tod, Berlin 1933, o.S.  EISNER, Lotte H.: Über den Stil von Fritz Lang. In: BRENNICKE, Ilona: Klassiker des deutschen Stummfilms, München 1983, S. 111. KUNST, Hans-Joachim: Architektur und Macht. In: Mitteilungen, Kommentare (=Berichte der Philipps-Universität Marburg, 3), Marburg 1971, o.S.  KRACAUER, Von Caligari zu Hitler, S. 287. »Fuchsbau« zielt, im selben Sinne wie das berüchtigte Wort von Hitlers »Wolfsschanze«, darauf ab, die militärischen Organisationen, Operationen und auch Bauten als gleichsam naturgewollte, darwinistische, allen Feinden überlegene darzustellen. HAPPEL, Hartmut: Die Allgäuer Ordensburg in Sonthofen, Immenstadt 2005, S. 30ff. Ebd., S. 32.

Geahnte Götterdämmerung

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Thomas Roth / Stefan Wunsch

Vogelsang in der Region Die NS-Ordensburg im Fokus der regionalgeschichtlichen Forschung*

Zu den künftigen Aufgaben bei der Erforschung der früheren NS-Ordensburg Vogelsang wird nicht nur die Untersuchung von Gebäudeensemble, Personal, Erziehungskonzepten und weltanschaulichen Inhalten in ideologie-, bildungs- und architekturgeschichtlicher, herrschaftssoziologischer oder psychohistorischer Perspektive gehören. Auch die Beziehungen des Ordens-

32 Die NS-Ordensburg im Eifel-Kalender für das Jahr 1940. Das Foto stammt von einem Fotografen der Gauleitung KölnAachen.

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burg-Komplexes zur Umgebungsgesellschaft und die strukturpolitische, wirtschaftliche und soziale Bedeutung der NS-Ordensburg Vogelsang in der Region verdienen verstärktes Augenmerk. Zwar ist die Erforschung des Themas – nicht zuletzt aufgrund der problematischen Quellenlage – schwierig und noch nicht weit genug gediehen, um eine abschließende Stellungnahme zu erlauben. Gleichwohl ist bereits jetzt erkennbar, dass eine von der Region und der Umgebungsgesellschaft aus entwickelte Perspektive erforderlich ist, um ein vollständiges Bild von der historischen Bedeutung des OrdensburgProjektes zu erhalten. Bei den folgenden Ausführungen soll es zunächst einmal darum gehen, verschiedene Aspekte und Ebenen einer auf Vogelsang ausgerichteten lokalund regionalgeschichtlichen Betrachtung zu bestimmen, Ansatzpunkte für weitere Recherchen zu benennen und Fragen für die zukünftige Forschung zu formulieren. In einem zweiten Abschnitt werden dann die Befunde bisheriger »Vogelsang-Geschichtsschreibung« benannt und neuere Ergebnisse aus einer laufenden regionalhistorischen Untersuchung zum Thema vorgestellt. Beide Abschnitte verstehen sich als Teile eines Werkstattberichts, der das Forschungsterrain sondiert, anstatt abschließende Befunde und Bewertungen zu bieten, und Anregungen und Impulse liefern möchte für die noch zu leistende regionalgeschichtliche Erschließung des Erinnerungsortes Vogelsang.

I. Vogelsang und die Fragen der NS-Regionalgeschichte Will man die ab 1934 in der Eifel errichtete NS-Ordensburg regionalgeschichtlich fokussieren, so liefert die seit den 1980er Jahren betriebene – in den größeren Arbeiten von Hans-Dieter Arntz, Ruth-Schmitz-Ehmke und zuletzt F. A. Heinen, aber auch in Studien von Monika Herzog oder Michael Schröders zum Ausdruck kommende – Vogelsang-Forschung wesentliche Anregungen und wichtige Anknüpfungspunkte. Sie hat das Thema zwar nicht systematisch untersucht, aber bereits zentrale Aspekte behandelt und Quellen erschlossen. Erinnerungs- und Presseberichte, Unterlagen der Kirchengemeinden und des Gemünder Stadtarchivs, Foto- und Filmmaterial sowie einzelne Akten der staatlichen Aufsichtsbehörden (Landratsamt, Regierungspräsidium) haben aufschlussreiche Erkenntnisse zu der Entstehungs- und Baugeschichte Vogelsangs und der »Burg« als »Bühne« der NS-Bewegung,1 zu den kommunalpolitischen Plänen der Vogelsanger Kommandantur,2 zur »antikirchlichen« Ausstrahlung der »Ordensburg«3 oder zu der kriegsbedingten Nutzung des Areals und seinen Funktionen für die lokale Kriegsgesellschaft4 geliefert. Vogelsang in der Region

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Bei der weiteren Erforschung der Beziehungen zwischen NS-Ordensburg und Region wird es nicht nur darauf ankommen, die vorliegenden Informationen zusammenzuführen und durch Heranziehung bisher ungenutzter Quellen zu ergänzen. Es wird auch darum gehen, die Quellenfunde stärker als bisher auf die jüngeren Forschungen und Diskussionen zur gesellschaftsgeschichtlichen Kontextualisierung von NS-Orten und zur regionalen Geschichte des NS-Regimes zu beziehen. Herrschaftsorte und Regionen in der jüngeren NS-Forschung

Nachdem die Stätten der NS-Verbrechen und des NS-Terrors lange Zeit weitgehend isoliert, ohne Bezüge zu ihrer direkten Umgebung und abgelöst von ihrem unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld, betrachtet worden sind, hat sich die jüngere NS-Forschung verstärkt für die räumliche Situation und die lokalen Beziehungsgeflechte interessiert, in denen die Orte der Repression und Verfolgung, die Konzentrationslager und Haftanstalten, standen. Damit verbunden war eine Vielzahl von neuen und produktiven Fragen, sei es nach der Wahl des Standortes und den dahinter stehenden strukturpolitischen Erwägungen, sei es nach regionalen Unterstützern, den Profiteuren in der lokalen Wirtschaft und dem örtlichen Machtapparat oder nach den Reaktionen und Wahrnehmungen der Bevölkerung.5 Das wachsende Interesse für die sozialräumliche Lokalisierung von NS-Stätten und ihre Beziehungen zur Umgebungsgesellschaft hat sich indes nicht nur auf die Untersuchung von Lagern und Haftstätten ausgewirkt. Es hatte auch Folgen für die Betrachtung anderer Herrschaftsorte, die nicht so direkt mit konkreten Verbrechen identifiziert werden können, für Programmatik und Praxis des NS-Regimes aber kaum minder charakteristisch waren. Bei der Untersuchung und Darstellung des Nürnberger Reichsparteitagsgeländes sind die stadtplanerischen Initiativen der Nürnberger Kommune, die Auswirkungen der propagandistischen Spektakel auf Verkehr und örtliche Wirtschaft, die städtische Selbstdarstellung und Vermarktung, die Erfahrungen und Beifallsbekundungen der »Volksgenossen« vor Ort, aber auch die aufgrund der Reichsparteitage entstandenen sozialen Konflikte integraler Bestandteil.6 Und auch bei der Dokumentation Obersalzberg bilden der konkrete Ort, sein touristisches Potenzial und die rasante Entwicklung zum Schauplatz nationalsozialistischer Wallfahrten, die propagandistische und architektonische Überformung der Landschaft sowie die Ausrichtung lokaler Wirtschafts- und Sozialbeziehungen auf die »FührerResidenz« inzwischen eine wichtige Facette der historischen Betrachtung.7 Neben jüngeren Studien zu den Herrschaftsorten des NS-Regimes vermittelt ein anderer Zweig der NS-Forschung Anregungen für die geschichtliche 138

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Einordnung Vogelsangs: die mittlerweile fest etablierte »NS-Regionalforschung«8. Ihre Ursprünge liegen in den 1970er Jahren, als die lange Zeit vorherrschende, von der Totalitarismus-Theorie geprägte Vorstellung einer monolithischen und streng zentralistischen NS-Herrschaft9 an Plausibilität verlor und sich das historische Interesse zunehmend auf die unterschiedlichen lokalen Ausprägungen und Auswirkungen des Nationalsozialismus richtete.10 Ertragreich war die in den letzten Jahrzehnten beständig angewachsene und ausdifferenzierte Forschung zum »Nationalsozialismus in der Region« nicht so sehr, wenn sie lediglich »nach dem Schicksal bestimmter Orte und Landschaften im Dritten Reich«11 fragte oder sich an der (Re-)Konstruktion typischer Regionen versuchte.12 Folgt man jüngeren Bestandsaufnahmen des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, dann erwies sich der regionalgeschichtliche Ansatz vor allem dann als produktiv und wissenschaftlich weiterführend, wenn er – mit einem flexiblen, auf Erkenntnisinteresse und Quellensituation abgestimmten und auf zeitgenössische Wahrnehmungen eingehenden Begriff der Region arbeitete;13 – wenn er die Region als politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle »Handlungsebene«14 untersuchte und die Bedeutung regionaler Akteure für die Etablierung des NS-Regimes analysierte; – und wenn er vor diesem Hintergrund die Dynamisierung und Begrenzung der NS-Herr­schaft durch »regionale Komponenten und Eigenständigkeiten«, »Traditionen und (Teil-)autonomien«15 diskutierte. Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich hierbei zwei Schwerpunkte der NS-Regionalforschung entwickelt, die auch für die Kontextualisierung des Vogelsang-Komplexes anregend sein dürften. Der erste betrifft die Untersuchung des lokalen oder regionalen »settings«16, der politisch-kulturellen Traditionen und sozial-moralischen Milieus, in denen und gegen die sich die NS-Herrschaft entfaltete.17 Im rheinischen Kontext haben hierbei vor allem die Beziehungen zwischen katholischem Milieu und Nationalsozialismus, die Reaktionen des Katholizismus auf Bündnisangebote und »Kirchenkampf« und die vermeintliche »Resistenz« der Katholiken gegenüber nationalsozialistischer Indoktrination und Gleichschaltung Aufmerksamkeit – und kontroverse Deutung – erfahren.18 Neben dem regionalen oder lokalen Resonanzboden der NS-Herrschaft sind in den letzten Jahren regionale Ausprägungen nationalsozialistischer Politik ins Blickfeld gerückt. Dabei ist deutlich geworden, dass die Vertreter des NS-Herrschaftsapparates trotz einer allgemeinen Tendenz zur Zentralisierung, Uniformierung und Nivellierung weiterhin mit dem »Filter«19 des Regionalen oder Lokalen arbeiteten. Nicht nur, dass die nationalsozialistiVogelsang in der Region

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33 Vogelsang als »Landmarke« auf zeitgenössischen Karten vom Gau Köln-Aachen (1940er Jahre).

sche Politik der Verfolgung, Repression und institutionellen Gleichschaltung auf Erwartungen und Verhalten von lokalen Eliten und Bevölkerungsgruppen abgestimmt wurde. Die NS-Instanzen versuchten sich auch wirtschaftsund strukturpolitisch zu profilieren, indem sie auf regionale Problemlagen eingingen; und kulturpolitisch agierte die NS-Herrschaft insofern »regionalistisch«, als sie Traditionen und Positionen von Heimatbewegung und Vereinswesen, lokale Geschichtsinitiativen und Bräuche aufgriff, um sie propagandistisch zu verwerten und zur Entfaltung der nationalsozialistischen Weltanschauung einzusetzen.20 Dass auf die Region bezogene Politikansätze auch noch in den späteren Jahren des NS-Regimes erkennbar waren, hatte auch damit zu tun, dass das NS-Regime die Machtansprüche regionaler Herrschaftsinstanzen keines140

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wegs völlig suspendierte, sondern neue Einrichtungen und Befugnisse auf der Ebene der staatlichen und parteilichen Mittelinstanzen schuf. Besonders profitiert haben davon die Führungsstäbe der NSDAP in den Gauen. Während die Partei sich mit gewissem Erfolg um neue Kompetenzen im Bereich der Kultur-, Wirtschafts- und Sozialpolitik bemühte, entwickelten viele Gauleiter das Selbstverständnis von Gebietsfürsten, die nicht nur für die Umsetzung von Anweisungen der obersten NS-Führung einstanden, sondern auf die Ausbildung einer spezifischen regionalen Herrschaft hinarbeiteten.21 Folgerungen für die Betrachtung Vogelsangs

Was heißt dies nun für die regionalhistorische Betrachtung der NS-Ordensburg Vogelsang? Es heißt zunächst einmal, dass man methodisch mit einem elastischen Begriff der »Region« arbeiten sollte: Während uns sozialhistorisch zunächst einmal die Nordeifel als Region interessiert, muss man wirtschafts- und strukturgeschichtlich sicher auch den Aachener Regierungsbezirk in den Blick nehmen müssen. Und die politische Einordnung des Ordensburg-Projektes wäre unvollständig, wenn sie nicht den gesamten Gau als regionalen Handlungsraum begreifen würde. Nimmt man die inhaltlichen Anregungen der jüngeren Zeitgeschichte auf, so gilt es zunächst, die Beziehungen zwischen der NS-Ordensburg und den umliegenden Ortschaften genauer zu untersuchen. Denn entgegen der weitverbreiteten Rhetorik vom nationalsozialistischen Orden sollte die »Burg« kein völlig und dauerhaft abgeschotteter Bezirk sein.22 Vogelsang war als sozialer, politischer und wirtschaftlicher Faktor präsent, wurde der Bevölkerung durch Medien und Veranstaltungen nahegebracht, gelegentlich und gezielt für Besucher geöffnet und ließ im Umland Kontakte zwischen der »Burgmannschaft«, »Ordensjunkern« oder »Adolf-Hitler-Schülern« und der Bevölkerung entstehen. Welche geschäftlichen Beziehungen mit der Errichtung und dem Betrieb der »Burg« entstanden, welche Kontakte zu dem Stammpersonal und den Absolventen der NS-Einrichtung sich im Alltag, bei Festen, Hochzeiten und Ausflügen ergaben, wie die von der »Ordensburg« aus gestarteten Propagandaaktionen in Gemünd, Schleiden oder Mechernich aufgenommen wurden oder wie der Formen- und Funktionswandel der »Burg« sich auf die Umgebungsgesellschaft auswirkte – das alles lässt sich sicher nicht mehr umfassend rekonstruieren. Die angesprochene Thematik wenigstens punktuell zu erhellen, ist jedoch dringliches Desiderat der Forschung. Wie intensiv war die Interaktion zwischen den Einwohnern der umliegenden Orte und den »zugezogenen« Partei-Aktivisten? Wie wurde das »elitäre« Auftreten von »Ordensjunkern« und »Adolf-Hitler-Schülern« bewertet? Wurde die Vogelsang in der Region

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NS-Ordensburg vor allem als Störung für das tradierte Sozialgefüge, für überlieferte Normen und Lebensweisen wahrgenommen?23 Galt sie vor Ort als »Fremdkörper« oder vielmehr als Attraktion oder war der Umgang der Eifeler mit der Institution »Ordensburg« weitgehend von pragmatischen Erwägungen geprägt? Verschwand das Ensemble nach dem Abzug der »Junker« aus dem Blickfeld der Bevölkerung oder blieb es auch im Krieg gegenwärtig? Die detaillierte Rekonstruktion der Beziehungen zwischen »Burg« und Umgebungs­gesellschaft würde unvollständig bleiben, wenn nicht auch der weitere regionalgeschichtliche Rahmen Berücksichtigung fände.24 Um die Wirkungen der NS-Ordensburg abschätzen zu können, muss das soziale und wirtschaftliche, politische und kulturelle Terrain betrachtet werden, auf dem die Anlage platziert wurde. Gleichzeitig ist die Perspektive der regionalen Herrschaftsinstanzen zu beleuchten und zu prüfen, welche Rolle die NSOrdensburg für die nationalsozialistische Aneignung und Prägung der Eifel wie des westlichen Rheinlandes spielte. Dabei verdienen besonders drei Punkte Beachtung. 1. Zunächst ist hier die katholische Prägung der Region zu nennen. Zumal in den linksrheinischen und ländlichen Gebieten der Rheinprovinz war der Katholizismus vor 1933 eine dominierende Kraft. Während der Großteil der Bevölkerung dem katholischen Glauben angehörte, war dies in einigen Eifelkreisen sogar bei 95 Prozent der Einwohner der Fall, so dass sich die evangelische Konfession nur in wenigen Enklaven wie in SchleidenGemünd behaupten konnte.25 Mit der Zugehörigkeit zum katholischen Glauben gingen nicht selten enge Milieubindungen einher, eine kirchlich-religiös bestimmte Lebensführung,26 die Einbindung in ein Netz von katholischen Vereinen und Verbänden sowie parteipolitisch eine besondere Nähe zur Zentrums-Partei. Das Zentrum lag – trotz deutlicher Positionsverluste in den Weimarer Jahren – noch während der März-Wahlen 1933 in den Wahlkreisen Köln-Aachen und Koblenz-Trier vor der NSDAP und erreichte in den Eifelkreisen zwischen 45 und 65 Prozent der Stimmen.27 2. Entscheidend für das Bild, das sich Zeitgenossen von der Eifel und den westlichen Rheinlanden machten, war neben dem Katholizismus die Einschätzung als wirtschaftliches »Notstandsgebiet«.28 Die seit vielen Jahrzehnten beklagte ökonomische Rückständigkeit der Region war auch durch die seit Ende des 19. Jahrhunderts von der rheinischen Provinzialverwaltung, dem preußischen Staat und dem Deutschen Reich per »Eifelfonds«, »Westfonds« oder »Westhilfe« gewährten Subventionen und damit geförderten Infrastrukturmaßnahmen nicht beseitigt worden.29 Vielmehr hatten Modernisierungsblockaden in der Landwirtschaft und der Niedergang lokaler Industrien während der Weimarer Republik zu 142

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einer Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Lage geführt. So war auch noch zu Beginn der 1930er Jahre in Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit vom »Eifelproblem«30 die Rede. 3. Eng verknüpft war die Klage über das »Notstandsgebiet Eifel« und die westlichen Bezirke der Rheinprovinz mit der viel beschworenen »Grenzlage«. Die Nähe zur Grenze wurde in den Jahren der Weimarer Republik als entscheidender Faktor für das wirtschaftliche »Versacken«31, die Austrocknung und Verarmung der Gebiete gesehen. Die »Grenzlandnot« war bald eine gebräuchliche Formulierung. Deutschlands Westen habe, so die von regionalen Politikern und engagierten Publizisten vertretene Auffassung, aufgrund des Versailler Vertrages wichtige Wirtschaftsgebiete und Märkte wie Eupen-Malmedy und das Saarland verloren,32 er sei durch die veränderte Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg sowie neue außenund wirtschaftspolitische Barrieren33 von den Warenströmen und Handelsbeziehungen des westeuropäischen Auslandes abgekoppelt worden; er habe durch Besatzungsschäden und -abgaben gelitten und werde wegen der Entmilitarisierung der Rheinlande wirtschaftlich, verkehrs- und infra-

34 Die »zurückweichende« Westgrenze in einer Publikation des Regierungspräsidenten von Aachen, Mitte der 1930er Jahre. Vogelsang in der Region

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strukturpolitisch vernachlässigt.34 Doch widmeten sich Politik, Publizistik und Wissenschaft der 1920er und 1930er Jahre dem westlichen »Grenzraum« nicht allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Er galt auch in staats- und »volkstumspolitischer« Hinsicht als ebenso bedeutsames wie bedrohtes Gebiet. Das »Zurückweichen« der Grenze nach dem Ersten Weltkrieg offenbarte aus Sicht völkisch-nationalistischer Kommentatoren nicht nur die dem Deutschen Reich vom Ausland drohenden Gefahren; es war zugleich Aufforderung, von der »Grenzmark« aus die politische und kulturelle Wiederaneignung des angeblich seit Jahrhunderten deutsch geprägten westeuropäischen Raumes zu betreiben. Die Forderung nach Grenzrevisionen und außenpolitischer Expansion war dem Grenzlanddiskurs eingeschrieben.35 Blickt man auf die politische Wahrnehmung und publizistische Präsentation der Eifel und der westlichen Rheinprovinz nach 1933, so wird deutlich, dass die Vertreter des NS-Staates und der NS-Partei in vielerlei Hinsicht an die vor der Machtübernahme entwickelten Bilder und Problemwahrnehmungen anknüpften. Auch, was die wirtschafts- und strukturpolitischen Lösungsstrategien betraf, griff man zum Teil auf bewährte Rezepte zurück – wenngleich sich die ideologischen Vorzeichen deutlich veränderten.36 Auch wenn sich dies im Lichte jüngerer Forschungen zur Geschichte des Rheinlandes als »Fehlperzeption« darstellt37 – aus der Sicht der NS-In­ stanzen – der Aachener Gestapo, der rheinischen Provinzialverwaltung, der Regierungspräsidenten, des Schleidener Landrates, der Gauleitung oder der dominierenden NS-Blätter – galten die grenznahen Bezirke und nicht zuletzt die Eifel als schwer zu erschließende konservativ-katholische Hochburg, als »schwarze Bastion«,38 deren Gleichschaltung und Ausrichtung auf die nationalsozialistische Weltanschauung besonderer Anstrengungen bedürfe. So strichen die Leiter der Aachener Gestapostelle in ihren Lageberichten aus den Jahren 1934 bis 1936 immer wieder heraus, dass die örtliche Bevölkerung für das neue Regime nur dann zu gewinnen und die auch nach der Machtübernahme festzustellende Unzufriedenheit nur dann zu verringern sei, wenn man umfangreiche kultur- und wirtschaftspolitische Maßnahmen einleite. Während der Chef der Aachener Gestapo eine Eindämmung antikirchlicher Attacken und Zurückhaltung gegenüber dem Alltagskatholizismus empfahl, um unnötige Abwehr- und Abschottungsreaktionen des Klerus und des katholischen Milieus zu vermeiden, forderte er gleichzeitig eine Intensivierung der weltanschaulichen Schulungsarbeit. Um die Stimmung seines Bezirks »so zu gestalten, wie sie das Dritte Reich benötigt«, war für die Aachener Gestapo außerdem eine gezielte Förderung der regionalen Wirtschaft, eine Zurückdrängung der Arbeitslosigkeit und eine Hebung des Lebensstandards 144

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35 Propagandaschriften der Gaue »Saarpfalz« und Köln-Aachen, 1937/38.

un­erlässlich – vor allem angesichts des »gefährdeten Grenzlandes« und der »sich immer mehr verflüchtenden deutschen Westgrenze«.39 Auch die Regierungspräsidenten von Aachen und Köln widmeten sich nach 1933 wiederholt der Frage, wie man den »politisch nicht leicht gelagerten Grenzbezirk« stabilisieren und »grenzpolitische Schwächen« ausgleichen könne.40 Sie plädierten für eine »planvolle« Behebung der »Grenzlandnot« und eine wirtschaftliche »Stärkung […] der […] Grenzmark«, wobei sie neben Infrastrukturprojekten eine intensive Siedlungspolitik, die wehr- und rüstungswirtschaftliche Aufwertung der Region (spätestens nach der Remilitarisierung des Rheinlandes), die Förderung des Fremdenverkehrs und eine Vermehrung von Schulungsbauten und Erholungsheimen anregten.41 Auch in zeitgenössischen Propaganda- und Festschriften der Partei wurde die Wirtschafts- und Strukturpolitik als entscheidender Hebel im »Ringen um die rheinischen Herzen« präsentiert.42 Zu den Vorhaben, die sich auf die rheinische Grenzregion richteten, zählten neben Planungen für eine großangelegte Neuordnung des westlichen Agrar- und Siedlungsraumes43 auch jene Initiativen, die Thomas Müller unter dem Begriff einer »westpolitischen Mobilisierung« des Grenzraumes« zusammengefasst hat.44 Müller konnte aufzeigen, welche vielfältigen Anstrengungen ab 1933 von der rheinischen Provinzialverwaltung, dem Vogelsang in der Region

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Aachener Regierungspräsidium, der Köln-Aachener Gauleitung, regionalen Stellen des Sicherheitsdienstes, des Propagandaministeriums oder der universitären »Westforschung« aus unternommen wurden, um eine wirkungsvolle Grenzlandpolitik zu entwickeln. Ihr Ziel war es, die Auffassung zu verbreiten, wonach die angrenzenden belgischen, niederländischen, luxemburgischen und französischen Gebiete als deutscher Ergänzungsraum anzusehen seien,45 Kulturleben, Universitäten und Schulen auf den »Grenzkampf« einzustellen, Bündnispartner des NS-Staates in den westeuropäischen Nachbarländern zu rekrutieren und so das Ausgreifen des Deutschen Reiches in den »Westraum« vorzubereiten. Das rheinische Grenzgebiet sollte in diesem Szenario kultur- und strukturpolitisch gefestigt, zum »Bollwerk« deutscher und »völkischer Gesinnung«46 ausgebaut und zur politischen und kulturellen Plattform für die Annexion Westeuropas werden. Auch in diesem Zusammenhang gab es Planungen für die verstärkte Ansiedlung von nationalsozialistischen Schulungs- und Gemeinschaftshäusern, »Parteiheimen und Jugendherbergen«.47 Fragen für die Erforschung Vogelsangs

Blickt man auf die bisher vorgelegten Untersuchungen zu Vogelsang, so wird erkennbar, dass die NS-Ordensburg nicht nur zur weltanschaulichen Schulung und nationalsozialistischen »Führer-Auslese« beitrug, sondern ebenso eingebunden war in die »West-« und »Grenzlandpolitik« – sei es durch Impulse für die Wirtschaft und Infrastruktur der Nordeifel, sei es durch die kulturpolitische Aufwertung des Standortes, die Etablierung eines Prestigeprojektes der »Bewegung« in der »Provinz« oder die propagandistische Bearbeitung der umgebenden Bevölkerung.48 Welche konkrete Bedeutung regionale Faktoren für die Realisierung des »Ordensburg«-Projektes hatten, welchen Stellenwert Vogelsang im Verhältnis zu anderen wirtschafts-, struktur- und kulturpolitischen Maßnahmen in der Region hatte und welche Wirkungen die NS-Ordensburg vor Ort hinterließ, ist allerdings noch genauer zu klären. Welche Relevanz hatte das Bild von der »schwarzen Eifel« und vom rheinischen »Grenzgau«49 für die Wahl des Standortes und die Inszenierung des Vogelsanger Ensembles? Hatte der Bau der »Schulungsburg« tiefergehende Effekte auf Wirtschaftslage und Arbeitsmarkt im Schleidener Kreis50 und welches Gewicht erlangte er gegenüber anderen Infrastrukturmaßnahmen?51 Inwiefern diente die »Ordensburg« als »politisches Symbol«,52 um das Bild einer vom Nationalsozialismus in Besitz genommenen Eifel zu verbreiten? Förderten Infrastrukturmaßnahmen und Propagandaaktionen die örtliche 146

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Akzeptanz des NS-Regimes oder war die stimmungspolitische »Eroberung« des Eifelraumes eher eine propagandistische Suggestion der örtlichen Parteiführer? Inwieweit entwickelte sich die NS-Ordensburg – gemäß einem Wort Adolf Hitlers – zu einem »weltanschauliche[n] und geistige[n] Mittelpunkt[]« des Gaus?53 Welche Rolle spielte Vogelsang für die Mobilisierung der regionalen NS-Bewegung, die Selbstdarstellung des Gaus und der rheinischen »Führer der Provinz«?54 Und durch welche regionalen Instanzen, Beziehungsgeflechte und parteiinternen Cliquen55 wurde das »Ordensburg-Projekt« gestützt? Wenn es gelingt, wenigstens einen Teil dieser Fragen zu beantworten, dann kann dies nicht nur zur Geschichte der NS-Zeit in der Nordeifel und der Region Köln-Aachen beitragen, sondern helfen, die sekundären Funktionen und Wirkungen,56 »Neben-Effekte« und alternativen Nutzungen der NSOrdensburg genauer einzuschätzen.

II. Vogelsang in der Region: Befunde und Ansätze der Forschung57 Vor dem Hintergrund der im ersten Teil entworfenen regionalgeschichtlichen Agenda geht es in diesem Teil unseres Werkstattberichts darum, Ergebnisse der bisherigen Vogelsang-Forschung zu konkretisieren, derzeit bearbeitete Themenfelder zu umreißen und Ansatzpunkte einer systematischen Ausarbeitung zu skizzieren. Dies geschieht in fünf Schritten, die sich, dem Forschungsstand geschuldet, in unterschiedlicher Tiefe beschäftigen 1. mit den Funktionen Vogelsangs als nationalsozialistischer Propagandaplattform, 2. mit der Rolle der Eifeler »Ordensburg« als nationalsozialistisches Infrastrukturprojekt, 3. mit der (partei)politischen Dimension dieses Prestigeprojekts, 4. mit der Stellung Vogelsangs zu anderen nationalsozialistisch überformten Orten in der Region und schließlich 5. mit dem sozialen Beziehungsgeflecht zwischen NS-Ordensburg und Umgebungsgesellschaft. Prestigeobjekt im westlichen Grenzland – propagandistische Aufwertungen der »Ordensburg«

Als im März 1934 der erste Spatenstich in Vogelsang erfolgte, war dies ein propagandistisch sorgfältig inszeniertes Großereignis. Allerdings waren erste spärliche Informationen über das große Bauvorhaben bereits 1933 durch einen Bericht des Euskirchener »Volksblattes« verbreitet worden, einer bedeutenden zentrumsnahen, konservativ bis liberal ausgerichteten Zeitung Vogelsang in der Region

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36 Sorgfältig inszeniert – der erste Spatenstich in Vogelsang im März 1934; auf der Tafel links im Bild eine Bauskizze.

der Region – eine Panne, die die Nationalsozialisten gewurmt haben muss. Offiziell informierte der »Westdeutsche Beobachter« seine Leser am 8. März 1934 erstmals ausführlich darüber, dass oberhalb von Gemünd »ein großes Partei-Schulungslager der NSDAP« entstehen solle.58 Dieser Standort, so wurde behauptet, habe in einem Wettstreit mit den »herrlichsten Landschaften, mit Schwarzwald, Harz und den schlesischen Gebirgen« obsiegt. Neben vagen Informationen über die geplanten weltanschaulichen Schulungen, die in diesem Band an anderer Stelle behandelt werden,59 bemühte sich das NSBlatt, die besondere Eignung der Eifel zu begründen und herauszustellen. So hieß es etwa: »Nicht trefflicher konnte die Wahl des Ortes sein. Man muß Natur und Landschaft am Urftsee kennen und erlebt haben, um zu verstehen, warum gerade hier das Schulungslager errichtet wird. Wohl kaum eine Landschaft kann so wie die Eifel in ihrer herben Schönheit und weltfernen Einsamkeit und Wahrhaftigkeit Vermittlerin zu den Ewigkeitswerten deutscher Erde und Landschaft und unseres Volkstums sein. Und hier am Urftsee sind alle Schönheiten und Ursprünglichkeiten der Eifel zusammengefaßt: die weiten, schweigenden Wälder, wo noch der königliche Hirsch und der wehrhafte Keiler ihre Fährte ziehen, die Hänge, die im Sommer im Eifelgold des Ginsters leuchten, das kristallklare Wasser des Urft­ sees, das sein ewiges Lied rauscht, der Winter, der sich hier noch in seiner 148

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37 Die nationalsozialistische Propaganda betonte gerne, dass Vogelsang in einer »gewaltigen Symphonie von Wald, Bergen und Seen« aus dem Fels wuchs.

Urgewalt und grandiosen Schönheit offenbart. Hier rauschen Wald und Berg und See zu einer gewaltigen Sinfonie empor. Hier zwingt alles den Menschen zu innerer Einkehr, zur Beschaulichkeit und Weihe.«60 Bemerkenswert an dieser – heute gewiss befremdlich erscheinenden –propagandistischen Schilderung scheint nicht nur das künftigen Zöglingen in Aussicht gestellte quasi romantische Naturerlebnis oder das geradezu weihevolle Porträt der Landschaft. Vielmehr manifestierten sich hier mit Bezug auf die Nordeifel und das gänzlich politische Bauwerk der »Ordensburg« die nationalsozialistische »Blut-und-Boden«-Ideologie61 sowie die erstrebte Verwurzelung der »Burg« im heimischen Boden, ein Anspruch, der schließlich in der im Heimatschutzstil errichteten Anlage gleichsam in Stein umgesetzt wurde. Neben den hier nicht zu vertiefenden Fragen der Architektur, der Landschaftsästhetik oder der Heimatschutzbewegung62 ist jedoch auf die in der zitierten Passage und in anderen propagandistischen Äußerungen wiederholt hergestellten Verbindungen zwischen Vogelsang und der umliegenden Landschaft – einer »Symphonie von Wald, Bergen und Seen« hieß es etwa 1934 und 1937 – aufmerksam zu machen, Bezüge, die auch in der Folge immer wieder anklangen.63 Die historische Forschung hat sich in den letzten Jahren vermehrt und intensiv mit dem »Mythos Wald« in der NSZeit, mit den Themen »Ewiger Wald« und »Ewiges Volk«, dem »Wald als Lebensraum« und als Symbol des deutschen Volkes, mit Naturschutz, LandVogelsang in der Region

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schaftsplanung und den Zusammenhängen zur »Blut-und-Boden«-Ideologie befasst.64 Diese Aspekte sollten auch beim Blick auf Vogelsang und die Region Berücksichtigung finden, zumal die Nordeifeler Seenplatte im Oktober 1937 unter Landschaftsschutz gestellt wurde. Dabei bleibt jedoch nicht nur die propagandistische Inszenierung der Wald- und Seen-Landschaft zu analysieren, sondern es ist auch Hinweisen nachzugehen, dass die nationalsozialistischen Großbauprojekte der Region – Vogelsang eingeschlossen – auch als Landschaftsveränderungen und -zerstörungen wahrgenommen wurden.65 Der bereits zitierte Artikel des »Westdeutschen Beobachters« vom März 1934 beschwor jedoch nicht nur eine »deutsche Landschaft«, er strich den Standort Eifel noch in anderer Hinsicht heraus: »Noch eins spricht für die glückliche Wahl des Ortes: die Lage hart an der Westgrenze. Von Norden, Osten und Süden kommen die deutschen Männer hierher; ihr Weg führt sie über den Rhein, den deutschen Schicksalstrom, der allen deutschen Menschen zum Erlebnis werden muß. Sie kommen in die Grenzmark, wo fremde Kulturen und geistige Strömungen hart zusammentreffen. Sie lernen die Tragik und seelische Not des Grenzlandes kennen. Hier erleben sie deutsches Schicksal und Geschichte.«66 Hier zeigt sich, dass Vogelsang von Anfang an im Kontext des skizzierten Grenzlanddiskurses stand; die Grenzlandideologie stellte ein vergleichsweise kontinuierliches Element der propagandistischen Platzierung der »Ordensburg« dar. In den ersten Jahren, das heißt in der Phase der Errichtung der »Schulungsburg«, spielte der Hinweis auf die »Grenzlage« der »Westmark«, in der Vogelsang eine Art ideologischen Vorposten bilden sollte, in Veröffentlichungen und Reden stets eine wichtige Rolle. Robert Ley, der im gleichen Jahr bei einer Veranstaltung in Aachen davon sprach, dass »das Herz eines Volkes an seinen Grenzen liegt«,67 formulierte bei der Grundsteinlegung am 22.  September 1934 bezogen auf die entstehende Anlage und ihre Lage: »Am deutschen Grenzland Bollwerk deutschen Wesens«.68 Die Urkunde des Grundsteins vom gleichen Tag vermerkte darüber hinaus: »[…] Die Errichtung der Burg Vogelsang gibt hunderten Arbeitern nach Jahren entsetzlichster Arbeitslosigkeit und dadurch bedingter fürchterlicher körperlicher und seelischer Not auf lange Zeit Betätigungsmöglichkeit, Brot und Lebensfreude. Die gesamte Bevölkerung, besonders die Landwirtschaft der näheren und weiteren Umgebung, erhält für die Zukunft Absatzmöglichkeiten und allgemeine Förderung.«69 Bereits im März 1934 hatte man ähnliche Formulierungen vernehmen können, als die Errichtung des Ensembles als »Großtat für den Kreis Schleiden« präsentiert wurde: »Der Bau des Schulungslagers bringt mehr als eine 150

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Million Reichsmark ins Land. Eifeler Arbeiter und Handwerker werden aus Eifeler Material, wie Holz und Bruchstein, den Bau errichten. Für tausend Menschen Lebensmittel, das heißt für monatlich 2.000 Reichsmark, werden aus dem Kreis angeliefert. Diese tausend Menschen werden überdies noch manche Mark für die Bedürfnisse des täglichen Lebens allmonatlich zurücklassen.«70 Der Fremdenverkehr nähme zu, »die Schönheit der Eifel« würde »in immer breitere Volkskreise hineingetragen« und das Wirtschaftspersonal der Schulungsstätte aus den Dörfern der Region eingestellt. Unverkennbar ist hier, dass Vogelsang nicht nur über die »Grenzkampf«Rhetorik aufgewertet, sondern auch beworben werden sollte, indem man das Vorhaben als Baustein zur Behebung der »Grenzlandnot« präsentierte. Hinter diesem Werben ist unschwer die Vorstellung von der »schwarzen« Eifel auszumachen, bei deren im katholischen Milieu verwurzelten Einwohnern die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme verstärkte »Überzeugungsarbeit« leisten mussten.71 Dies führte Gauleiter Josef Grohé beim ersten Spatenstich am 15. März 1934 vergleichsweise offen aus: »Der Kreis Schleiden war nicht die Wiege des Nationalsozialismus. Seine Bevölkerung war vielmehr sehr lange Zeit hindurch befangen von zentrümlichem und sonstigem Irrwahn. Der Kreis Schleiden hat aber eine Bevölkerung in seinen Grenzen, die für unser gesamtes deutsches Volkstum von großem Wert und großer Bedeutung ist. Und von der Bedeutung dieser Grenzbevölkerung ausgehend, hat sich der Nationalsozialismus dieses Kreises ganz besonders angenommen.«72 Grohé betonte die vielfältigen Aktivitäten der NSDAP im Kreis Schleiden und konstatierte, »daß der Nationalsozialismus nicht haltmacht, wo er einmal eingedrungen ist, ehe er die Gesamtheit der Bevölkerung erfaßt hat.« Schließlich sprach er die Einwohner der Region direkt an: »Du, Grenzbevölkerung, [sollst] vertrauensvoll zu dem Führer aufschauen in dem Bewußtsein, in ihm einen Mann an der Spitze des Reiches zu haben, der nichts will als das Wohlergehen des Volkes.«73 Kreisleiter Franz Binz hatte dem Werben um die Eifeler beim gleichen Anlass einen nahezu religiösen Tonfall gegeben, als er sagte, in Vogelsang sollten »die Waffen des Geistes geschmiedet werden«, um »ein Reich der Kraft und Herrlichkeit«74 zu schaffen. Es bleibt festzuhalten, dass Vogelsang vor allem in der ersten Bauphase als ein Faktor der Wirtschaftsförderung und Arbeitsbeschaffung, als Schlüssel für die Lösung der Notstandsproblematik und als Impulsgeber für den Tourismus präsentiert wurde. In den Bemühungen, die »Ordensburg« als herausragendes Instrument zur Behebung der »Grenzlandnot« im Westen zu legitimieren, zeichnet sich zugleich der Versuch der regionalen Parteiführer und der NS-Presse ab, die vermeintliche Distanz der Eifelbevölkerung zum NationalVogelsang in der Region

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sozialismus abzubauen und Vertrauen in das neue Regime zu schaffen, kurz: Herrschaftssicherung zu betreiben.75 Im Laufe der 1930er Jahre traten diese Bezüge allerdings zunehmend in den Hintergrund. Betrachtet man die zu Vogelsang bekannten Presseveröffentlichungen, so gewannen die Themen der »weltanschaulichen Schulung« und der »Führerauslese«, aber auch die Architektur, nun an Gewicht.76 Es scheint, als ob sich die Propaganda mit der Etablierung des Nationalsozialismus in der Region und den wirtschaftlichen »Erfolgen« – Stichwort Vollbeschäftigung – 38 Vogelsang als ideologischer Vor­ zudem Themen wie der Kulturpolitik posten im »Grenzland« der »Westzuwandte. Der Bezug auf die besonderen mark« – Abzeichen des NSDAP-Kreisparteitages des Kreises Schleiden Herausforderungen und Aufgaben der 1937. »Grenzmark« blieb dabei aber erhalten. So hieß es beispielsweise im »Montjoi’r Volksblatt« vom 8. Mai 1936 im Hinblick auf ausländische Behauptungen, Vogelsang sei eine waffenstarrende Anlage, dass es sich um »eine Festung des nationalsozialistischen Kulturwillens und ein geistiges Bauwerk in der äußeren Ecke des westdeutschen Grenzlandes« handele.77 Dieses Motiv bediente auch eine 1937 veröffentlichte offizielle Propagandaschrift über den Kreis Schleiden, in der Vogelsang als Aufhänger diente: »Das Land der Berge, Wälder und Seen rings um die Ordensburg Vogelsang«.78 Betrachtet man die Funktion Vogelsangs als Propagandaobjekt und als politische Bühne, so ist vor dem Hintergrund der hier skizzierten ersten Befunde eine umfassende Analyse der nationalsozialistischen Einwirkung mittels der »Ordensburg« nicht nur auf die Eifeler Region selbst, sondern auch auf den gesamten Gau Köln-Aachen (und darüber hinaus) geboten. Über die Untersuchung der via Vogelsang transportierten ideologischen, politischen und kulturellen Bezüge hinaus wäre es auch angezeigt, den Vergleich mit anderen regionalen Prestigeobjekten – zum Beispiel Schwammen­ auel – zu suchen.

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»Eifel-Investment« – Vogelsang als nationalsozialistisches Infrastrukturprojekt und Wirtschaftsfaktor

Die Eifelkreise Euskirchen und Schleiden wurden in den 1920er Jahren sowie zu Beginn der 1930er Jahre als »sterbende Ecke« des Deutschen Reiches betrachtet.79 Am Ende der Weimarer Republik boten sie, verkürzt gesagt, ein trostloses Bild des Niedergangs und der Arbeitslosigkeit und wiesen eine in Teilen verarmte Bevölkerung auf.80 Fragt man vor diesem Hintergrund danach, wie sich der Bau von Vogelsang auf die regionale Wirtschaft ausgewirkt hat, so ist es bislang schwierig, eine befriedigende Antwort zu geben, zumal die wirtschaftlichen Effekte, gerade auf dem Arbeitsmarkt, differenziert zu analysieren und im Kontext von anderen Bauprojekten oder Maßnahmen des Regimes zu bewerten sind.

39 Ein Stück »Eifel-Investment« im offiziösen Blick – Bauarbeitermassen im Hang der arbeitsintensiven Baustelle Vogelsang.

Ohne Zweifel brachte die Großbaustelle über dem Urftsee vielen Menschen Beschäftigung, vor allem Arbeitern und Handwerkern.81 Die für Vogelsang genannten Zahlen der Beschäftigten variieren jedoch, und sie beruhen vor allem auf zeitgenössischen Presseberichten, die auf Grund der mit ihnen verbundenen propagandistischen Absichten zurückhaltend zu betrachten sind.82 Ruth Schmitz-Ehmke geht von immerhin durchschnittlich 700 bis Vogelsang in der Region

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800 Arbeitern aus, die in den Jahren 1934 bis 1938 auf der Baustelle Vogelsang Beschäftigung fanden. Rund 300 von ihnen wurden von auswärtigen Firmen gestellt und wohnten in Barackenlagern. Vor dem Hintergrund üblicher saisonbedingter Schwankungen ist für die Wintermonate mit etwa 250 Arbeitern zu rechnen, von denen gut die Hälfte im Innenausbau eingesetzt wurde. Schmitz-Ehmke verweist jedoch darauf, dass die Anzahl der Beschäftigten im Zuge der Fundamentierungsarbeiten für das »Haus des Wissens« sowie das »Haus des Sports« im Herbst 1937 und im Frühjahr 1938 rapide auf zeitweise bis zu 1.500 Beschäftigte anstieg.83 Die nationalsozialistische Propaganda wurde nicht müde, diese Maßnahmen als erfolgreiche Instrumente der Partei zur Krisenbewältigung in der Eifel hervorzuheben. Dies gilt auch für Teilbereiche, in denen nur kleinere Resultate vorzuweisen waren. So hieß es etwa 1936 im »Westdeutschen Beobachter«, dass die Arbeit in den Steinbrüchen des Monschauer Landes, in denen Bruchsteine für Vogelsang gewonnen wurden, 25 Arbeitern seit anderthalb Jahren ihr Auskommen sichere.84 Doch woher stammten die in Vogelsang eingesetzten Arbeiter und Handwerker? Sie kamen jedenfalls nicht ausschließlich aus dem Landkreis Schleiden, sondern auch aus den angrenzenden Kreisen und der weiteren Region: Die mit dem Bau der »Ordensburg« beauftragten Konzerne beschäftigen zwar Arbeitskräfte, die lokal rekrutiert wurden, sie entsandten jedoch auch ihre eigenen, sozusagen »auswärtigen« Arbeiter auf die Großbaustelle in der Eifel, und dies war ein durchaus übliches Verfahren, wie ein Blick auf die Landkreise Aachen, Düren und Jülich verdeutlicht.85 Die größeren Betriebe banden als Generalunternehmer auch kleinere Subunternehmer und Handwerker der Umgebung ein. Die Aufträge an Handwerksbetriebe und andere Firmen gingen jedoch, wie weiter unten ausgeführt wird, in starkem Maße nach Aachen oder Köln. Die eingesetzten Personen wurden offenbar montags an Sammelstellen in der Stadt von einem Bus abgeholt und zur Baustelle Vogelsang befördert, um samstags dann auf gleichem Wege die Rückreise anzutreten.86 Es wird zwar häufig vermutet, dass auch einige Unternehmen der direkten Umgebung vom Bau Vogelsangs profitieren konnten, doch bleibt dies im Einzelfall – etwa für die »Eifeler Holzwerke Stamm & Co.« aus Schleiden, deren Belegschaft im »Dritten Reich« deutlich stieg, aber auch für weitere Sägewerke im Schleidener Tal wie Dartenne oder Faust – genau zu überprüfen.87 Während die Grauwacke aus dem Monschauer Land bezogen wurde, kam der für die Arbeiten benötigte Sand aus Kall, Ziegelsteine lieferte ein Ringofenwerk im Kreis Schleiden.88 Die Verbrauchsgüter kaufte die »Ordensburg« 154

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später bei regionalen Großhandelsstellen, zum Beispiel bei einer Molkerei in Kall. Diese Beispiele lassen die Annahme zu, dass es zwar positive Auswirkungen auf dem regionalen Arbeitsmarkt gab, die in der weiteren Forschung jedoch zu quantifizieren bleiben. Der Neubau der direkten Zufahrtsstraßen sowie der vor allem durch Vogelsang bedingte Ausbau der Straßen im Umfeld der Anlage und in Gemünd selbst bleibt dabei ebenfalls zu betrachten.89 Lässt sich somit festhalten, dass Vogelsang als eine wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Maßnahme, mithin als ein Stück »Eifel-Investment«, verstanden werden kann, so ist zugleich nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass es sich keineswegs um eine isolierte Initiative handelte, wie es populäre Annahmen manchmal nahelegen. Vielmehr wurden im gleichen Zeitraum zahlreiche andere wirtschafts- und strukturpolitische Maßnahmen durchgeführt, die die Bedeutung Vogelsangs als Wirtschaftsfaktor relativieren können. Aus regionalgeschichtlicher Perspektive kann der Bau von Vogelsang nur vor diesem Hintergrund angemessen bewertet werden. Zu nennen sind hier zunächst die Notstandsarbeiten, die bereits in der krisengeschüttelten Endphase der Weimarer Republik forciert worden waren90 und von den Nationalsozialisten unter neuen Vorzeichen aufgegriffen und ausgebaut wurden. Diese von einem erheblichen propagandistischen Aufwand begleitete »Arbeitsschlacht« bestand im Landkreis Schleiden, ähnlich wie in den Nachbarkreisen,91 insbesondere in Wegebauarbeiten, Durchforstungen und Waldkultivierungen, Drainagearbeiten oder Rodungen. Hinzu kamen Infrastrukturmaßnahmen wie die Instandsetzung von Straßen, der Straßenbau (200 Kilometer)92 und nicht zuletzt der Bau von Wasserleitungen (300 Kilometer)93. Im Bezirk des Arbeitsamtes Euskirchen waren Ende Mai 1934 immerhin 1.452 Notstandsarbeiter in derartigen Maßnahmen eingesetzt.94 Förderprogramme wurden auch für die Landwirtschaft oder den Siedlungsbau aufgelegt. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Talsperrenbau in der Eifel. Insbesondere die Errichtung der nahegelegenen Rurtalsperre Schwammenauel oberhalb von Heimbach ist hier hervorzuheben, handelte es sich faktisch doch um eine größere Baustelle als die der »Ordensburg« – und dies quasi in direkter Nachbarschaft. Wie viele andere Großvorhaben wurde das Rurtalsperrenprojekt bereits in den 1920er Jahren geplant, allerdings erst in der nationalsozialistischen Zeit verwirklicht und sofort propagandistisch als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme verwertet; zeitweise waren dort 2.000 Notstandsarbeiter aus dem Regierungsbezirk Aachen beschäftigt, durchschnittlich arbeiteten 1.600 Menschen auf dieser Großbaustelle. Den Grundstein der Rurtalsperre legte Robert Ley am 2. Mai 1934, genau ein Jahr nach der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung und der anschließenden Gründung der Deutschen Vogelsang in der Region

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40 Die Notstandsarbeiten der nationalsozialistischen »Arbeitsschlacht« – hier die Olefbrücke an der Straße Hellenthal-Schöneseiffen – wurden mit erheblichem propagandistischem Aufwand inszeniert.

Arbeitsfront. Auch für Schwammenauel mussten Straßen gebaut werden, wie im Fall Vogelsangs gab es eine lebhafte Propaganda, die suggerierte, dass die Nationalsozialisten Arbeit schufen, die »Grenzlandnot« im Westen des Reiches bekämpften und die seinerzeit angeblich modernste Talsperre der Welt errichten ließen. Auch die feierliche Einweihung Schwammenauels durch Richard Walter Darré, »Reichsbauernführer«, Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft und »Blut-und-Boden«-Ideologe der Partei, war ein sorgfältig inszeniertes Großereignis, bei dem die NS-Prominenz des Gaus Köln-Aachen erschien. De facto handelte es sich keineswegs um eine problemlose Baustelle: Manche der Notstandsarbeiter waren nicht freiwillig in der Eifel und offenbar eher bereit, gekürzte Fürsorgeleistungen zu akzeptieren, als dort unter schwierigsten Bedingungen zu schuften. Die Versorgung, die Unterbringung in Baracken und die Bezahlung waren offenbar so schlecht, dass es 1934 und 1935 zu Unruhe, Protest und Arbeitsniederlegungen kam.95 Vergleichbares wird aus Vogelsang (bislang zumindest) nicht berichtet, doch sollten diese Vorgänge in Schwammenauel den Blick dafür schärfen, nicht in der Retrospektive der euphorischen Berichterstattung der NS-Presse aufzusitzen. 156

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Neben dem weiteren Ausbau des Talsperrensystems, der Regulierung der Rur, der Errichtung der Staubecken Obermaubach96 (März 1933–Mai 1934) und Heimbach (1934/35)97, der Kalltalsperre (1934/36)98 und der Steinbachtalsperre (ab 1934)99 südlich von Euskirchen sowie dem ebenfalls propagandistisch intensiv begleiteten Bau der »Reichsautobahn« Köln-Aachen ab August 1935 liefert der Ausbau des Westwalls ab Mitte 1938 einen wichtigen Vergleichsmaßstab für das Vogelsanger Infrastrukturprojekt. Hierbei handelte es sich ebenfalls um Baumaßnahmen von enormem Ausmaß, die den Dorfalltag der Eifel wirtschaftlich und sozial, mit Maschinen und Fremden, stark veränderten. Da die Errichtung der Westwallanlagen in die Ausbau- und Erweiterungsphase der »Ordensburg« fällt, bleibt zu fragen, ob und wie sich die Baumaßnahmen am Westwall in Vogelsang auswirkten, etwa im Hinblick auf den häufig erwähnten Arbeitskräftemangel.100 Betrachtet man den Bau der »Ordensburg« als Teil einer Expansionsstrategie der Deutschen Arbeitsfront (DAF), so öffnet sich der Blick für eine Vielzahl ihrer Aktivitäten in der weiteren Region: Typische Siedlungsprojekte, sogenannte Robert-Ley-Siedlungen, entstanden etwa im Raum des Aachener Kohlereviers.101 Ein anderes Beispiel bildet der Siedlungsbau im Kreis Euskirchen, wo die DAF über ihr Gauheimstättenamt Einfluss auf viele Wohnungsbauprojekte nahm.102 Schließlich bleibt als Wirtschaftsfaktor der Tourismus zu betrachten, zumal die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« (KdF) als Freizeit- und Tourismusorganisation der DAF ebenfalls in der Region aktiv wurde.103 Die KdF bemühte sich intensiv darum, die Eifel verstärkt dem Fremdenverkehr zu erschließen. 1934 standen kurz vor Beginn des Sommers im Kreis Schleiden zahlreiche Urlaubsunterkünfte zur Verfügung, von denen man sich dort erhebliche Mehreinnahmen versprach. Wanderwege wurden angelegt, Ruhebänke errichtet, Schwimmbäder geplant.104 Die kleine, nördlich des Kermeters gelegene Stadt Heimbach profitierte ebenfalls von den Bemühungen der KdF und vom Bau der Rurtalsperre. In Hollerath, bis heute als Wintersport­ ort bekannt, eröffnete man 1934 die »Adolf-Hitler-Schanze«, eine noch zu Weimarer Zeiten begonnene Anlage, die der »Westdeutsche Beobachter« »als modernste Sprungschanze« Westdeutschlands feierte. Im Zuge der touristischen Aufwertung der Eifel wurde die »Ordensburg« selbst zur Attraktion und zum Ausflugsziel etwa von »Betriebsgemeinschaften«, und die Anlage konnte nach Anmeldung beim Burgkommandanten auch besichtigt werden.105 Der Aachener Regierungspräsident Franz Vogelsang hielt 1938 in diesem Zusammenhang fest: »Es muß aus grenzpolitischen Gesichtspunkten der Strom der Erholungssuchenden über den Rhein hinaus auch in die notleidenden westlichen Randgebiete des Reiches gelenkt werden. Vogelsang in der Region

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41 Werbung für den Fremdenverkehr – zahlreiche Anzeigen bedienten sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre der »Ordensburg«, um Gäste in die Region zu locken.

Stützpunkt und Schrittmacher ist die Reichsordensburg Vogelsang.«106 Das von Robert Ley bei Vogelsang geplante KdF-Hotel mit seinen angedachten 2.000 Betten mag vielleicht in der Rückschau zunächst wahnwitzig erscheinen, zumal wenn man, wie etwa der ehemalige »Adolf-Hitler-Schüler« Harald Scholtz, die Gegend als unwirtlich erinnerte.107 Betrachtet man diese 158

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Planung jedoch im Kontext der von der Arbeitsfront betriebenen Politik, so erscheint das megalomane Hotel in der direkten Nähe Vogelsangs als konsequenter Ausdruck einer auch in anderen Räumen spürbaren Expansionsstrategie. Leys Planungen sahen im Übrigen auch für Krössinsee und Sonthofen oder seine Heimat Waldbröl KdF-Hotels vor.108 So ist zu resümieren, dass die staatlich finanzierten, publikumswirksam inszenierten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und der insgesamt zwar rasche, in der Grenzregion jedoch spürbar verzögerte Rückgang der Arbeitslosigkeit wohl bei vielen Zeitgenossen Spuren hinterließen – zumal der Kreis Schleiden ab 1936/37 als frei von Arbeitslosen galt und die Industrie einen Aufschwung verzeichnete.109 Vor diesem Hintergrund lässt sich Vogelsang als eine bedeutende Maßnahme zur wirtschafts- und infrastrukturpolitischen Stärkung des »Grenzlandes« betrachten – gleichwohl als eine Maßnahme von vielen. Die Straßenbauprojekte, die Flussregulierung und vor allem der Talsperrenbau, schließlich die Folgen der Remilitarisierung des Rheinlandes 1936 und der Bau des Westwalls ab 1938, all diese Projekte haben sich wohl stärker auf den Arbeitsmarkt und die lokale Wirtschaft ausgewirkt als der Bau der »Ordensburg«. Um die Bedeutung Vogelsangs für die regionale Wirtschaft und den Arbeitsmarkt abzuschätzen, sollen zumindest noch zwei weitere Faktoren beachtet werden. Erstens ist die scheinbar widersprüchliche Reaktion der Bevölkerung zu betrachten. Nach allem, was man bislang weiß, waren viele zunächst skeptisch, zurückhaltend und wohl eher abwartend eingestellt.110 Sicherlich waren die Menschen zugleich neugierig auf das, was da über dem Urftsee entstand, und gewiss hoffte man auch, davon zu profitieren.111 Zeitzeugen aus Wollseifen berichten, dass dies durch Vermietungen, kleinere Verkäufe und die Abtretung des Baulandes der Fall war.112 Allerdings scheint es so, dass das für die »Burg« benötigte Acker- und Waldland nicht in allen Fällen kritiklos oder bereitwillig abgegeben wurde,113 und dass die Landwirtschaft im Raum Dreiborn sogar Schaden nahm.114 Dies ist ein Hinweis auf mögliche Defizite und regionale Konflikte im Zusammenhang mit dem Bau von Vogelsang, denen es weiter nachzugehen gilt. Zweitens ergibt sich aus der Praxis der Auftragsvergabe eine weitere Relativierung der wirtschaftlichen Auswirkungen in der näheren Region. Nach einer Aufstellung in den »Rheinischen Blättern« für 1939 standen 13 am Bau der »Ordensburg« Vogelsang beteiligten Kölner Firmen sieben Betriebe aus Aachen und drei aus dem Kreis Euskirchen gegenüber, das heißt, keiner aus dem alten Kreis Schleiden.115

Vogelsang in der Region

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Regro, Heizungs- und Installations-Gesellschaft Muth & Simon Reinh. Münks, Malermeister Werkstätten für Malerei und Anstrich Adolf Zorn sen. Steinmetz- und Marmorbetrieb Ritter & Drieling, Malerwerk- Dec. Malerei, Anstrich, Lackierung statt Deutsche Werkstätten Köln Möbel, Polstermöbel, Stoffe, Innenausbau H. J. von Wittgenstein Dekorationen, Teppiche, Tapeten, Linoleum Bernhard Graff & Co. Ausführung der Blitzschutz-Anlage P. Schroeder Nachf., Inh. Josef Elektr. Licht- und Kraftanlagen, Zimmermann, Ingenieur und Fernsprech-, Fernmelde-, GroßElektromeister Rundfunk- und Licht-Signalanlagen, Transformatorenstationen u. Schaltanlagen Gesellschaft für Tiefbauausführungen, Dr. Kiesgen und Co. Wilhelm Holz, Bau-, Möbel- und Innenausbau Schreiner-Werkstätten Karl Fasbender, GartengestalSpezialgeschäft für moderne Sportantung lagen und Anpflanzungen aller Art August Erbe, Spezialität: Innenausbau Bau- und Möbelschreinerei Westdeutsche Asphaltwerke AG H. J. Wilbert, Kunsttischlerei Spezialwerkstätte für Sonderanfertigungen, Stilmöbel Jos. & Pet. Beaujean, EisenSpezialität: Stahlblechtüren, Schutzbaustätte und Großschlosserei raumtüren u. Blenden Josef Weber, Malermeister, Westflügel Burg Vogelsang, InnenarWerkstätte für Dekorationsma- beiten: Anwesen Mauel lerei und Anstrich Matth. Leuchter, SchlosserKunstschmiede, Feinkonstruktion meister Matthias van Kann Bau- und Stuckgeschäft Fliesen Faensen Gebr. Kutsch, Fachgeschäft in Werkzeugen für Eisenwaren-Großhandlung sämtl. Gewerbe, Baubeschläge Paul Bungarten Hoch- u. Tief-, Beton- u. Eisenbetonbau H. J. Bünder GmbH Holzgroßhandel, Baustoffgroßhandel, Dachmaterialien, Wand- und Fußplatten, Brennstoffe Heinr. Blass Söhne, Ingenieur- Wasserversorgung, Entwässerung, büro und Bauunternehmung Hoch-, Tief- und Eisenbetonbau

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Köln-Bayenthal Köln-Nippes Köln Köln Köln Köln Köln Köln-Ehrenfeld

Köln-Sülz Köln-Braunsfeld Köln-Merheim Köln Köln-Deutz Aachen Aachen Aachen

Aachen Aachen Aachen Aachen Euskirchen Euskirchen/ Lechenich Euskirchen

Ferner ist auf Unternehmen zu verweisen, die die Baustelle belieferten, ihren Sitz jedoch nicht in der Region hatten, zum Beispiel Telefunken oder Hautau Baubeschläge.116 Neben den in der keineswegs vollständigen Übersicht angeführten Handwerksbetrieben und Firmen ist die Auftragsvergabe an größere Baukonzerne und Unternehmen zu beachten. Der Bauauftrag für das »Gemeinschaftshaus« im Auftragswert von 1,23 Millionen Reichsmark ging am 24. Mai 1934 an die Philipp Holzmann AG, Köln.117 Mit der Bauausführung im Hochbau wurde mit der Aachener Baufirma Derichs u. Konertz118 ein weiteres großes Unternehmen beauftragt, andere Bereiche gingen an das spätestens seit 1937 für Vogelsang tätige Kölner Garten- und Tiefbauunternehmen Theodor Elsche,119 bestimmte Zimmerarbeiten erledigte nachweislich die Kölner Firma Heiderich.120 Der Einbau der Heizungsanlage des ersten Bauabschnitts erfolgte durch die erwähnte Kölner Firma Regro, deren Mitinhaber als Schulfreund von Architekt Clemens Klotz und »Kampfgefährte« Robert Leys gilt.121 Vor diesem Hintergrund ist auch die Vergabe der Aufträge an den mit Ley bestens bekannten Klotz,122 den Bauleiter Karl-Friedrich Liebermann aus Köln123 oder an den Kölner Bildhauer Willy Meller – einen Jugendfreund von Klotz – nochmals zu bedenken und zu bewerten.124 Es zeichnet sich jedoch ab, dass aus verschiedenen Gründen, seien es die Kapazitäten, die Leistungsfähigkeit und das Know-how eines Unternehmens, seien es Parteikontakte und/oder Klüngeleien, viele »Vogelsanger« Groß­

42 Arbeitsbuch von Hubert Breuer, beschäftigt zunächst bei der Kölner Firma Theodor Elsche (Garten-und Tiefbau), dann bei der Verwaltung der »Ordensburg«. Vogelsang in der Region

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aufträge an Kölner und Aachener Firmen erteilt wurden. In die nähere Region gingen vor allem Aufträge im Bereich der Zulieferung und der Baumaterialien sowie der Baunebenberufe bzw. des Handwerks.125 Landrat Josef Schramm zog denn auch 1940 ein deutliches Fazit: »Das ländliche Handwerk in der Gemeinde Dreiborn hat zweifellos bei der Errichtung der Burg Vogelsang und des Flugplatzes eine zusätzliche Beschäftigung gefunden. Dies trifft jedoch in vollem Maße nur auf die Baunebenberufe zu, da hauptsächlich nur kleinere Arbeiten vergeben wurden. Der Bedarf an handwerklichen Arbeiten war bereits bei Errichtung der Burg so groß, dass von vorneherein fast ausschließlich auswärtige Firmen herangezogen wurden. Es war unverkennbar, dass sowohl die Burgleitung als auch die Flugplatzkommandantur das Bestreben hatten, sich vom kleinen örtlichen Handwerker unabhängig zu machen.«126 Schramms Urteil nach erfüllten sich die »Hoffnungen der Bevölkerung« der unmittelbaren Umgebung auf den »Großverbraucher« Vogelsang nicht: »Vielmehr decken Burgverwaltung wie Militärbehörde ihren Bedarf an den Zentralstellen der Marktversorgung, z. B. ihren Konsum an Milch und Butter in der Molkerei in Kall, an anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen bei den Großhändlern in Gemünd, Euskirchen und Köln und an anderen Gütern lediglich außerhalb des Kreises. Der zusätzliche Verdienst durch Fuhrleistungen war bei der geringen Anzahl an Gespannen nur unwesentlich.«127 Festzuhalten bleibt somit, dass sich das »Ordensburg«-Projekt in regionalgeschichtlicher Perspektive als eine ambivalente Maßnahme des »EifelInvestments« darstellt: Der Wirtschaftsförderung, den Impulsen für Arbeitsmarkt und Infrastruktur stehen die durch das Prestigeprojekt verursachten Störungen und die weltanschaulichen und politischen Implikationen von Arbeitskräfteeinsatz und Auftragsvergabe gegenüber.128 Vogelsang und die »Gauclique« – die Perspektive der Parteigeschichte

Eine regionalgeschichtliche Einordnung des Vogelsanger Projekts bliebe ohne den Blick auf entscheidende politische Akteure unvollständig. Wie bereits angedeutet, trifft man im Zusammenhang mit Vogelsang immer wieder auf bestimmte NS-Aktivisten aus der Region – Grund genug, sich auch mit regionalen politischen Beziehungsgeflechten, parteiinternen Seilschaften oder Cliquen zu befassen. Über die Standortwahl findet sich in der vorliegenden Literatur die Information, dass der Kölner Architekt Clemens Klotz, der Ende 1933 zunächst von Ley den Auftrag erhalten hatte, zwei Urlaubs- und Schulungslager zu errichten,129 auf den späteren Bauplatz gekommen sei, nachdem er zunächst den zu kleinen Bauplatz »Vogelsang« bei Gemünd-Malsbenden 162

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im Blick gehabt habe.130 Dies ist, bezogen auf die konkrete Gemarkung, wohl glaubwürdig; jedoch bleibt genauer zu untersuchen, welche Rolle die KölnAachener »Gauclique«131 – oder auch »Waldbröler Clique«132 – bei der politischen Entscheidung über die Auswahl der Bauregion und des Standortes von Vogelsang spielte. Auch bei der folgenden Nutzung des Ortes, vor allem zur Selbstdarstellung der Partei, sind personale Beziehungen und Ambitionen zu berücksichtigen.133 Zudem ist nachzufragen, ob und wie sich der »Weg zur Ordensburg«, das heißt insbesondere der Wandel der Zweckbestimmung während der Bauphase vom Schulungsbau der DAF hin zur »Ordensburg« 1935 – und damit die bauliche Vergrößerung – regional auswirkten.134 Nicht nur die historische Forschung, auch zeitgenössische Publikationen und Festschriften zur Parteigeschichte präsentieren Robert Ley, den Initiator der NS-»Ordensburgen«, immer wieder im Kreis seiner »rheinischen Kampfgefährten«.135 Besonders enge Bezüge schien er zu dem KölnAachener Gauleiter Josef Grohé136 gehabt zu haben. Beide waren seit der »Kampfzeit« der 1920er Jahre miteinander verbunden, hatten an führender Stelle den Ausbau der NSDAP im Rheinland betrieben und ähnelten sich in ihrem politischen Habitus, einer provozierenden, betont kämpferischen Haltung, verbunden mit einem rabiaten Antisemitismus. Auch nachdem Ley als Reichsorganisationsleiter und Führer der DAF seinen Tätigkeitsschwerpunkt in die Parteizentrale und an den Regierungssitz verlegt hatte, trat er häufig an der Seite Grohés in seinem rheinischen »Heimatgau« auf. Aus dem Kreis der dortigen Vertrauten Leys seien neben den Brüdern Otto und Fritz Marrenbach die Brüder Rudolf und Eduard Schmeer137 sowie Peter und Franz Binz erwähnt.138 Franz Binz, der das Amt des NSDAP-Bezirks- bzw. Kreisleiters im Kreis Schleiden vom Oktober 1930 bis zum Juni 1939 innehatte, war während der Bauphase der »Burg« von 1934 bis Juli 1935 der erste Kommandant, genauer: »Lagerkommandant«, von Vogelsang. Dass die Berufung des »Burgkommandanten« anfangs entscheidend von regionalen Beziehungsgeflechten innerhalb der Partei beeinflusst war, legt auch die Einsetzung des Nachfolgers von Franz Binz nahe. Richard Ohling, ein enger Vertrauter Josef Grohés, war im Jahre 1935 wegen parteiinterner Veruntreuungen einem Straf- und Parteigerichtsverfahren ausgesetzt gewesen. Dass er im Juli 1935 Kommandant der Baustelle Vogelsang wurde, ging offenbar auf eine Vereinbarung zwischen Gauleiter Grohé und Ley zurück und sollte vermutlich helfen, den in Misskredit Geratenen aus der Schusslinie zu bringen bzw. angemessen zu versorgen. Im Juni 1936 wurde Ohling bereits wieder abberufen, um anschließend in der DAF-Reichsleitung sowie als Gaupropagandaleiter Köln-Aachen Karriere zu machen.139

Vogelsang in der Region

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Interessant ist in unserem Zusammenhang schließlich das Wirken des oben bereits erwähnten Landrats Josef Schramm (1901–1991). Nach der »Machtergreifung« trat der als sehr ehrgeizig charakterisierte Schramm zum 1. Mai 1933 der NSDAP bei und arbeitete gezielt auf seine Berufung zum Landrat hin; im Einvernehmen mit Grohé wurde er zum 1. Februar 1934 endgültig mit dem Amt bestallt.140 Schramm war in zahlreichen Aufsichtsräten und anderen wichtigen Gremien vertreten, etwa im Eifelverein, dessen erster Vorsitzender er von 1938 bis 1948, und dann wieder ab 1954 war.141 Mit Landrat Josef Schramm und Kreisleiter Franz Binz liegt, so der Zeitzeuge Werner Rosen, ein »Musterbeispiel für die Möglichkeit der Zusammenarbeit eines starken Politikers mit einem starken Verwaltungschef« vor.142 Viele öffentliche Baumaßnahmen im Altkreis Schleiden sind ab 1933/34 auf ihre enge Kooperation zurückzuführen – vermutlich spielten beide auch bei der Standortfrage des Schulungslagers bzw. der späteren »Ordensburg« Vogelsang eine gewichtige Rolle. Immerhin gelang es ihnen, rund ein Siebtel aller Notstandsmaßnahmen der Rheinprovinz in den Kreis Schleiden zu ziehen.143 »Kulturaufgaben der Westmark« – ein Blick von Vogelsang auf Heimbach und Kronenburg

Dass die NS-Ordensburg als politisch-ideologischer Vorposten in der »Westmark« auch in einem Beziehungsgeflecht mit anderen, vom Nationalsozialismus genutzten oder überformten Orten in der Region zu betrachten ist, sei im Folgenden anhand zweier prominenter Beispiele nur kurz angedeutet. Als sich der Schleidener Landrat Josef Schramm Ende der 1930er Jahre Gedanken über die »kulturpolitische Sendung« der »heroischen Eifellandschaft« und die nationalsozialistische Kulturpolitik im viel beschworenen westlichen »Grenzland« machte, hatte er in seinem Kreisgebiet bezeichnenderweise drei Objekte sozusagen als ›Leuchttürme‹ im Blick: die »Ordensburg« Vogelsang, die »Hermann-Göring-Meisterschule« in Kronenburg und schließlich Burg und Stadt Heimbach.144 Schramm, der dem kleinen Städtchen Heimbach eng verbunden war – wie auch wichtige Mitglieder der Gauclique –, strebte nicht nur ein Museum, eine »Burg der Erinnerung«, auf der alten Höhenburg Hengebach an. Sein Ziel bestand vor allem in der konsequenten Umgestaltung und dem Ausbau Heimbachs zur nationalsozialistischen Musterstadt.145 Schon 1938 hatte es bei der Regierung Aachen in diesem Zusammenhang geheißen, dass »im Ausstrahlungsgebiet der Ordensburg Vogelsang […] vorausschauende Planungen vordringlich« seien. Es ging darum, nach Plänen des Aachener Architekten Benno Schachner (1902–1987) die Hauptverkehrsader zu verlegen, NS-typi164

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43 »Junker« aus Vogelsang zu Besuch in der »Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei« zu Kronenburg.

sche Versammlungsplätze zu schaffen, ein repräsentatives Verwaltungsgebäude der NSDAP, das typische »braune Haus«, zu bauen, ein monumentales NSToten-Ehrenmal zu errichten und ein großes Kunstzentrum zu schaffen, das als Kernstück mit einem riesigen Ausstellungsgebäude versehen sowie Kunstwerkstätten und Ateliers umgeben sein sollte; mit Arno Breker stand man wohl in Kontakt. Das Künstlerdorf hätte »die aus völkischen Wurzeln überlieferten bodenständigen NS-Kunstformen« (Norbert Saupp) dargeboten und die nationalsozialistische »Blut-und-Boden«-Ideologie repräsentiert. Mitinitiator dieser Idee war Werner Peiner (1897–1984), von 1937 bis 1944 Leiter der Meisterschule in Kronenburg. Daher sei der Blick noch kurz auf Kronenburg gerichtet. Mit Kronenburg wurde wie mit Heimbach ein mittelalterlich anmutendes Eifelstädtchen als Schauplatz nationalsozialistischer »Kulturpolitik« im Westen gewählt. Der landschaftlich herausragend gelegene Ort wies bereits eine gewisse Tradition als Stätte für Maler und Künstler auf, und auch für Kronenburg stand eine nationalsozialistisch bestimmte Umgestaltung der Bausubstanz und des Ortsbildes an. Hier entstand ab 1936 eine der wichtigen Malerschulen des »Dritten Reiches«, die elitäre, unter Schirmherrschaft des Reichsluftfahrtministers stehende »Hermann-Göring-Meisterschule«. Kronenburg diente als Erziehungsstätte künftiger »Staatsmaler« des Nationalsozialismus, oder, wie Werner Peiner es formulierte, von »Offizieren der Kunst«. Die repräsenVogelsang in der Region

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tative Anlage, ein Komplex von Wohn- und Atelierhäusern, der in den Neubau ein historisches Schulgebäude integrierte, entstand nach Entwürfen des Architekten Emil Fahrenkamp (1885–1966).146 Unter Peiners Ägide entstanden nicht nur naturalistische Gemälde, die zeittypische Geschichtsmythen transportierten, für die Berliner Reichskanzlei oder Himmlers Wewelsburg. Auch zwischen Vogelsang und Kronenburg bestanden Verbindungen, die regionalgeschichtlich noch näher zu erforschen bleiben. Der spätere Burgkommandant von Vogelsang Hans Dietel besuchte die Malerschule am 28. April 1938, die »Junker« erschienen dort beispielsweise am 3. Dezember 1938 und am 29. Juli 1939. In Kronenburg wurden Gobelins und Gemälde mit Heldendarstellungen speziell für die nahegelegene »Ordensburg« angefertigt; bildliche Darstellungen der Innenausstattung Vogelsangs gaben Eifeldörfer und Kronenburg selbst wieder.147 Diese vielfältigen Bezüge zeigen, dass eine genaue Verortung der NS-Ordensburg als politisch-ideologischer Vorposten in der »Westmark« im Beziehungsgeflecht mit anderen regionalen NS-Stätten von erheblicher Relevanz ist. Nicht viel damit zu tun gehabt?148 – Zur Interaktion von »Ordensburg« und Region

Zum Abschluss sei noch kurz auf die im ersten Teil aufgeworfene Problematik der Interaktion von »Ordensburg« und Region eingegangen, ein Thema, welches viele bislang allenfalls zum Teil geklärte Fragen aufwirft: Wie wirkte die »Ordensburg« als Ort der Selbstinszenierung der NSDAP und des nationalsozialistischen Regimes in die Eifel hinein? Wie stellten sich die Beziehungen von »Ordensburg« und lokalen bzw. regionalen Politischen Leitern dar? Wie reagierte die Eifel-Bevölkerung auf die Großveranstaltungen, bei denen »die gesamte NS-Prominenz des Rheinlandes«149 unter den Gästen weilte, auf die Besuche »bekannter« Nationalsozialisten oder das sogenannte »Burgfest« 1939, das ja auch Busfahrten durch die Region bot?150 Was wurde über die zunehmende Monumentalisierung des Bauwerks bekannt? Die Bevölkerung der Umgebung hatte zwar in der Regel nur Zutritt zu der Anlage, wenn sie dort arbeitete, oder etwa im Rahmen der zum Teil volksfestartigen Maifeier des Jahres 1938.151 Gleichwohl deuten die bislang bekannten Quellen und Zeitzeugenberichte auf ein näher zu analysierendes alltägliches Beziehungsgeflecht hin. Über die in der Propaganda breit herausgestellten Besuche der NS-Prominenz, vor allem Hitlers und der Führungsriege des NS-Staates am 20. November 1936 anlässlich der zehntätigen Tagung der Gauamtsleiter in Vogelsang und wenig später am 29. April 1937 im Rahmen der Kreisleitertagung, hat 166

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die Vogelsang-Forschung bereits viele Informationen zusammengetragen.152 In der NS-Presse wurden diese Massenveranstaltungen in bekannter Weise zu ergreifenden, unvergesslichen Erlebnissen stilisiert, als Triumphfahrt des Führers durch das »Grenzland«, gar als höchster Festtag gefeiert.153 Nach allen bislang vorliegenden Berichten, auch von Zeitzeugen, stießen sie auf eine enorme Resonanz in der Region. Vor allem die Besuche Hitlers riefen offensichtlich große Begeisterung hervor und brachten Tausende auf die Beine, an die Bahnstrecken des Sonderzuges und an die Zufahrtsstraßen. Angesichts der minutiösen Vorbereitung und Überwachung dieser Besuche bleibt zu diskutieren, ob es sich um populäre Begeisterung oder um eine gezielte Inszenierung des Publikumsinteresses handelte, die vor allem der Selbstvergewisserung der Partei diente.154 Wenn man vor dem Hintergrund der jüngeren NS-Forschung nach dem Interaktions- und Beziehungsgefüge zwischen der näheren und weiteren Region und der »Ordensburg« – bzw. dem dort arbeitenden Personal und den »Junkern« – fragt, sind auch die Wohnorte, Hinweise auf Einkäufe, die Touren, Wettkämpfe, Werbe- und Propagandafahrten der »Burg-Mannschaften«, kurz: die sozialen Kontakte stärker zu beachten. So wissen wir ja, dass

44 Im Zuge der Reisen des zweiten Lehrgangs der NS-Ordensburg Vogelsang, die auch der Stärkung des Gruppenzusammenhaltes dienten, wurde nicht nur die Region besichtigt: 1937 führte man u. a. eine Fahrt zu Schauplätzen des Ersten Weltkriegs in Flandern durch. Das Bild zeigt die in Zivil gekleideten »Junker« in Formation, um Kränze auf einem deutschen Soldatenfriedhof niederzulegen. Aufgesucht wurden auch Stätten, an denen der Gefreite Hitler während des Ersten Weltkriegs eingesetzt worden war. Vogelsang in der Region

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die »Junker« mit der »Ordensburg«-eigenen Busflotte nicht nur zu Orten in der Region bzw. im Gau Köln-Aachen gefahren wurden, sondern etwa auch nach Flandern,155 dass für ihre Reitstunden 1937 ein »Burggestüt«156 im Schleidener Ortsteil Wiesgen eingerichtet wurde, dass herausragende Sportler aus Vogelsang an Sportwettbewerben in Aachen, Bonn, Düren und Köln teilnahmen usw.157 Auch die drei Adolf-Hitler-Schulen (AHS),158 die von Mai 1942 bis Oktober 1944 in Vogelsang untergebracht waren, gilt es stärker als bisher zu berücksichtigen, zumal gerade hier Zeitzeugen noch viele Informationen geben und Eindrücke schildern können.159 Zeitgenössisch hielt ein Schüler fest: »Einen Nachteil haben die Ordensburgen, und der wäre, daß sie in der Einsamkeit liegen. Man muß erst lange mit dem Zug fahren, bis man in eine Stadt kommt, die alle Arten von Zivilisation und Kultur aufweisen kann.« Nach einer Klage über die verkehrsungünstige Lage von Sonthofen heißt es schließlich weiter: »Als wir dann nach Vogelsang kamen, änderte sich diese Sachlage schlagartig. Die Großstädte des Rheintales, Köln und Bonn waren auf 70 bzw. 65 km nahe gerückt […]«.160 Im Tagebuch der AHS »Hesselberg« bzw. »Franken« ( Jahrgang 1940), die Anfang Mai 1942 samt allen »unterrichtlichen Geräten« nach Vogelsang umsiedelte, sind Wanderungen, Exkursionen und Fahrten dokumentiert, etwa nach Monschau, dort als »Rothenburg der Eifel« bezeichnet, und ins Monschauer Land, ins Ahrtal, zum Nürburgring, nach Trier, nach Malmedy, offenbar nicht ganz konfliktfreie »Aussendiensteinsätze« bei der HJ in der Umgebung, Theaterbesuche in Köln und Bonn, Fußballspiele und Sportwettkämpfe oder Flugstunden in Schwerfen.161 Auch hier bleibt zu fragen, wie solche Ausflüge zeitgenössisch wahrgenommen wurden und einzuschätzen sind: Dienten sie einerseits der Werbung für das Regime, so zeichnet sich andererseits ab, dass sie auch Konflikte erzeugen konnten. Wurden die »Junker« und die »Adolf-HitlerSchüler« eher als ›Botschafter des Nationalsozialismus‹ wahrgenommen oder bewirkten sie eine Distanzierung der Bevölkerung? Wichtig für die weitere Analyse des Beziehungsgefüges Vogelsang – Region sind eine Reihe von Faktoren und Themenkomplexen, die wenigstens stichwortartig erwähnt seien. So wohnte das »Stammpersonal« der »Ordensburg« samt Familien in den Orten der näheren Umgebung, aus denen meist auch Handwerker und Service-Personal kamen.162 Mit der Errichtung des ersten Bauabschnittes des »Dorfes Vogelsang«163 wurde 1939 begonnen; hier war eine nationalsozialistische Mustersiedlung geplant, in der die Familien der Stammführer und das Verwaltungspersonal wohnen sollten.164 Ab 1940 bemühte sich Burgkommandant Dietel beim Regierungspräsidenten in Aachen intensiv darum, Vogelsang aus der Bürgermeisterei Dreiborn zu 168

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45 Küchenpersonal der NS-Ordensburg Vogelsang – die Masse der Beschäftigten stammte aus der Region.

lösen und den »Ordensburg-Komplex«, der nach dem Krieg »mindestens 4.500 Menschen« umfassen sollte (Sommer 1940: 560 Einwohner), als neue »Burggemeinde Vogelsang« im Kreis Schleiden mit kommunalen Rechten auszustatten, was bekanntlich nur in Ansätzen (Standesamt, gewisse Polizeibefugnisse) gelang.165 Um das wechselseitige Verhältnis zwischen Vogelsang und der regionalen Umgebung zu bestimmen, sind schließlich »profane« Einrichtungen wie die 1937 betriebene Baulehrwerkstätte166 zu betrachten, aber auch die Filialen der Kreissparkasse Schleiden (1938), der Post oder das Geschäft in Vogelsang.167 Die Welle der Kirchenaustritte aus der evangelischen Kirche in Gemünd ist in diesem Kontext zu beachten und die Frage nach der Rolle der Konfessionen aufzuwerfen.168 Es bleibt näherhin noch genauer zu analysieren, wie Berichte und Informationen über die »Eheweihen«, die sogenannten »braunen Hochzeiten«, in der Umgebungsgesellschaft der NS-Ordensburg aufgenommen wurden, zumal nicht nur »Burgangehörige« im Angesicht des im Kultraum aufgestellten »Deutschen Menschen« getraut wurden, wie die »Eheweihe« des Mechernicher Bürgermeister Johannes (Hans) Zander, Vogelsang in der Region

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46 AHS-Schüler beim Appell in der NS-Ordensburg Vogelsang.

eines exponierten Nationalsozialisten, im Jahre 1937 zeigt.169 Gänzlich andere Aspekte wie die belastenden Auswirkungen der Großbaustelle, der Lkw-Verkehr und das »Verkehrschaos« der Bauphase sind noch nicht systematisch untersucht worden.170 Über die Funktion als Standtort der drei bzw. zwei AHS hinaus sind die gesamten Nutzungen des Ortes während des Zweiten Weltkrieges gerade auch in regionalgeschichtlicher Perspektive von großem Interesse.171 Dabei ist nicht nur nach der Rolle des Vogelsanger Krankenhauses172 und seiner Nutzung durch die Bevölkerung zu fragen, sondern nach dem Einsatz von »Fremdarbeitern« auf der Anlage173 oder den 1944 in Vogelsang stationierten Bautrupps, die zur Rearmierung des Westwalls eingesetzt wurden.174 Zu untersuchen bleiben Themen wie das Wehrertüchtigungslager der HJ beim Walberhof (Herbst 1944) im Kontext einer Reihe derartiger Einrichtungen in der direkten Region,175 aber auch die Flakhelfer- und GesundheitsdienstSchulungen der HJ oder die Rolle Vogelsangs im regionalen Kriegsgeschehen 1944/45. Das unfertige »Dorf Vogelsang«, in dem Flüchtlinge und Evakuierte aus dem Monschauer Land im Winter 1944/45 Zuflucht suchten, schlägt dabei beispielsweise eine thematische Brücke zu den Ereignissen im Hürtgenwald.176

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III. Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassend stellt sich Vogelsang als bedeutender Faktor für die nationalsozialistische Durchdringung der Nordeifel dar. Die NS-Ordensburg war ein Stück »Eifel-Investment«, ein wichtiger Baustein nationalsozialistischer Infrastrukturmaßnahmen und Wirtschaftsförderung. Darüber hinaus diente sie als breite Plattform für politische und kulturelle Propaganda in die Region hinein. Die NS-Ordensburg sollte als Vorposten der Partei und Bühne für die Akteure der NS-Bewegung fungieren und wurde nicht nur in der »Eifeler« Öffentlichkeit, sondern im gesamten Gaugebiet – durch Fahrten, Veranstaltungen und Presseartikel – als nationalsozialistisches »Leuchtturmprojekt« bekannt gemacht. Hinzu kamen soziale Verflechtungen und alltägliche Kontakte im unmittelbaren Umfeld der »Ordensburg«. Die empirischen Befunde lassen bereits jetzt eine breit aufgefächerte Beziehungsgeschichte erkennen. Um diese Geschichte genauer zu erschließen, sind weitere, intensive Quellenrecherchen erforderlich; zudem wird nur eine Kombination politik-, wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlicher Perspektiven alle Facetten der Beziehungen zwischen »Burg und Region« erfassen können. Wie bei anderen Themen der »Ordensburg-Geschichte«,177 ist außerdem dem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit besondere Aufmerksamkeit zu schenken. So wird man beim Blick auf die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die für die Konsolidierung der NS-Herrschaft auch im westlichen »Grenzland« eine bedeutende Rolle spielte, klar zwischen Propaganda und faktischen Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt zu unterscheiden haben. Die »Investition Vogelsang« sollte nicht überschätzt und in ein realistisches Verhältnis zu anderen Instrumenten nationalsozialistischer Struktur- und Stimmungspolitik in der Eifel gesetzt werden. Auch die Bedeutung Vogelsangs für die politische Durchdringung des »schwarzen Rheinlands« oder die Entwicklung einer offensiven »Grenzlandpolitik« ist differenziert zu betrachten. Beide Aspekte spielten eine wichtige Rolle für die Begründung und Legitimierung des Vogelsanger Vorhabens; die Eifeler »Ordensburg« war jedoch nur ein Element in einem Gemenge von politischen Initiativen und Einrichtungen. Zudem ist zeitlich abzustufen: Während sich die von Vogelsang aus in die Region entwickelte Propaganda auf die 1930er Jahre konzentrierte, blieben unmittelbare Beziehungen und pragmatische Arrangements zwischen »Burg« und Umgebungsgesellschaft auch in den 1940er Jahren bestehen. Unverzichtbar für die weitere regionalgeschichtliche Betrachtung Vogelsangs ist schließlich ein vergleichender Ansatz. Zunächst wären die NS-Ordensburgen in Sonthofen und Krössinsee einzubeziehen, um neben den zahlreichen Übereinstimmungen zwischen den drei Standorten spezifiVogelsang in der Region

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sche regionale Voraussetzungen und Wirkungen herauszuarbeiten. Darüber hinaus dürfte der Blick auf andere nationalsozialistische »Grenzgaue« produktiv sein. Denn er ermöglicht, die mit Vogelsang verbundene Infrastruktur- und Kulturpolitik, die dabei entwickelte Rhetorik und Ikonografie des »Arbeits-« und »Grenzkampfes« in einen größeren Kontext einzubetten. Diese regionalgeschichtliche Einbettung bietet auch Chancen für die Erschließung des Erinnerungsortes Vogelsang. Von der NS-Ordensburg, dem »Bollwerk deutschen Wesens« »hart an der Westgrenze«, aus lässt sich ein instruktiver Blick auf die Konstruktion des »Grenzlandes« und die nationalsozialistische Expansionspolitik im Westen des Deutschen Reiches werfen.

Anmerkungen *

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Der folgende Beitrag beruht auf gemeinsamen Überlegungen und Diskussionen der Autoren. Teil I wurde maßgeblich von Thomas ROTH, Teil II maßgeblich von Stefan WUNSCH erarbeitet. Der zugrunde liegende Vortrag bei den Internationalen Vogelsang-Tagen 2009 stand unter dem Titel: »›Eifel-Investment‹. Vogelsang als nationalsozialistisches Infrastrukturprojekt und Wirtschaftsfaktor in der regionalgeschichtlichen Forschung«. Vgl. die zahlreichen Hinweise bei ARNTZ, Hans-Dieter: Ordensburg Vogelsang (1934–1945). Erziehung zur politischen Führung im Dritten Reich, Weilerswist 20065 [1. Aufl. Euskirchen 1986]; HERZOG, Monika: Architekturführer Vogelsang. Ein Rundgang durch die historische Anlage im Nationalpark Eifel, Köln 2007; LESER, Petra: Der Kölner Architekt Clemens Klotz (1886–1969), Köln 1991, S. 166ff.; SCHMITZ-EHMKE, Ruth: Die Ordensburg Vogelsang. Architektur, Bauplastik, Ausstattung. Mit Ergänzungen von Monika Herzog, Worms 20083 [1. Aufl. Köln 1988] und HEINEN, Franz Albert: Vogelsang. Von der NS-Ordensburg zum Truppenübungsplatz. Eine Dokumentation, Aachen 20064 [1. Aufl. Aachen 2002] sowie dessen verdienstvolle Dokumentation: HEINEN, Franz Albert: Vogelsang in der NS-Presse [kommentierte Zusammenstellung], unveröff. Ms., Schleiden 2008. Aufschlussreich auch HEINEN, Franz Albert: Die Eifel im Fokus der Gestapo. Sicherungsmaßnahmen bei Besuchen der NSFührung in Vogelsang [kommentierte Dokumentation], unveröff. Ms., Schleiden 2008; HORCHEM, Hans Josef: Kinder im Krieg. Kindheit und Jugend im Dritten Reich, Hamburg u. a. 2000, S. 78ff.; ESCH, Ute: Wollseifen. Wenn ein Dorf geräumt wird. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 54 (2009), S. 151–170. Die unter anderem von F. A. Heinen betriebene, zahlreiche Dokumentationen des Autors zugänglich machende Internetpräsenz »Lernort Vogelsang«, URL: http://www.lernort-vogelsang.de, wurde leider im Januar 2010 eingestellt. – Vergleichbare Hinweise liegen auch für die anderen beiden NS-Ordensburgen vor; vgl. HAPPEL, Hartmut: Die Allgäuer Ordensburg in Sonthofen, Immenstadt 1996; KLEIN, Gerhard: Die NS-Ordensburg Sonthofen Thomas Roth/Stefan Wunsch

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1934–1945. In: CIUPKE, Paul/JELICH, Franz-Josef (Hg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang, Essen 2006, S. 65–84; SAWINSKI, Rolf: Die Ordensburg Krössinsee in Pommern. Von der NS-Ordensburg zur polnischen Kaserne, Aachen 20042 [1. Aufl. Euskirchen 1997]. Vgl. SCHMITZ-EHMKE, Ordensburg, S.  12; HEINEN, Franz Albert: Chronik Vogelsang [kommentierte Dokumentation], unveröff. Ms., Schleiden 2008, S. 40ff. Vgl. ARNTZ, Ordensburg, S.  104, 110ff.; HEINEN, Franz Albert: Gottlos, schamlos, gewissenlos. Zum Osteinsatz der Ordensburg-Mannschaften, Düsseldorf 2007, S. 23, 28; HEINEN, NS-Ordensburg, S. 27, 31f.; HEINEN, Chronik, etwa S. 9, 36; HEINEN, Franz Albert: Muttertag und Führers Geburtstag. Feiern und Feiergestaltung an den NS-Ordensburgen, unveröff. Ms., Schleiden 2007, S. 8ff. sowie NEHLICH, Olaf: Die Gemeinde Gemünd im Schatten der Ordensburg Vogelsang. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 56 (2007), S. 332–340 und die Darlegungen bei WEITZ, Reinhold: Die katholische Kirche in den beiden Altkreisen, ein Überblick. In: Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen, hg. vom Geschichtsverein des Kreises Euskirchen, Bd. 1, Euskirchen 20072, S. 331–363, hier S. 342, 348f., 354, 359, 363; WEITZ, Reinhold: Die evangelische Kirche im Schleidener Raum und in Euskirchen. In: ebd., S. 475–503, hier S. 493, 503 sowie HANF, Walter: Westwallbau und Dorf­ alltag. In: ebd., Bd. 2, Euskirchen 20072, S. 801–843, hier S. 834. Vgl. ARNTZ, Ordensburg, S.  216f., 221; HEINEN, NS-Ordensburg, S.  34f., 37ff.; HEINEN, Chronik, S. 19, 42ff.; SCHMITZ-EHMKE, Ordensburg, S. 12f. Speziell zum Einsatz von Zwangsarbeitern für die NS-Ordensburg: ARNTZ, Ordensburg, S.  215; HEINEN, Chronologie, S.  60, 62; KOX, Peter: Kriegsgefangene und »Fremdarbeiter«. In: Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen, Bd. 2, S.  845–900, hier S.  860, 896; zur Evakuierung der Vogelsang-Bibliothek SCHRÖDERS, Michael: Die Bibliothek der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang 1944–1947. Fragen zu einem verloren geglaubten Bestand. In: CIUPKE/ JELICH, Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen, S. 127–140; SCHRÖDERS, Michael: »Teile einer wertvollen wissenschaftlichen Bibliothek«. Die Universitätsbibliotheken Köln und Bonn und die Bibliothek der ehemaligen NSOrdensburg Vogelsang. In: Geschichte in Köln 54 (2007), S. 219–240. Vgl. etwa BENZ, Wolfgang/DISTEL, Barbara (Hg.): Reihe Geschichte der Konzentrationslager 1933–1945, Berlin 2001ff. [derzeit 9 Bde.]; DISTEL, Barbara (Hg.): Konzentrationslager – Lebenswelt und Umfeld, Dachau 1996 (=Dachauer Hefte, Bd. 12); DISTEL, Barbara (Hg.): Öffentlichkeit und KZ – Was wusste die Bevölkerung?, Dachau 2001 (=Dachauer Hefte, Bd. 17); FINGS, Karola: Krieg, Gesellschaft und KZ. Himmlers SS-Baubrigaden, Paderborn u.  a. 2005, insbes. S. 138ff.; SCHLEY, Jens: Nachbar Buchenwald. Die Stadt Weimar und ihr Konzentrationslager, 1937–1945, Köln u. a. 1999; SCHULTE, Jan Erik (Hg.): Konzentrationslager im Rheinland und in Westfalen 1933–1945. Zentrale Steuerung und regionale Initiative, Paderborn u. a. 2005; STEINBACHER, Sybille: Dachau Vogelsang in der Region

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– die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft, Frankfurt a. M. 1993; WAGNER, Jens-Christian: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2001, S.  119ff., 534ff.; WAGNER, Jens-Christian: Konzentrationslager und Region. Die Lager und ihr gesellschaftliches Umfeld am Beispiel des KZ Mittelbau-Dora. In: SCHULTE, Jan Erik (Hg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn u. a. 2009, S. 317–336. Vgl. Faszination und Gewalt. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg, hg. v. d. Museen der Stadt Nürnberg, Nürnberg 2006; DIETZFELBINGER, Eckart/LIEDTKE, Gerhard: Nürnberg – Ort der Massen. Das Reichsparteitagsgelände. Vorgeschichte und schwieriges Erbe, Berlin 2004; SCHMIDT, Alexander: Geländebegehung. Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, Nürnberg 20054; URBAN, Markus: Die Konsensfabrik. Funktion und Wahrnehmung der NS-Reichsparteitage, 1933–1941, Göttingen 2007; ZELNHEFER, Siegfried: Die Reichsparteitage der NSDAP in Nürnberg, Nürnberg 2002. Vgl. DAHM, Volker: Der Obersalzberg bei Berchtesgaden. In: ASMUSS, Burkhard/HINZ, Hans-Martin (Hg.): Historische Stätten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Orte des Erinnerns, des Gedenkens und der kulturellen Weiterbildung? Zum Umgang mit Gedenkorten von nationaler Bedeutung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. u. a. 1999, S. 68–79; DAHM, Volker u. a. (Hg.): Die tödliche Utopie. Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich, München 20085 [mit gegenüber der 1. Auflage von 1999 deutlich verstärktem Fokus auf der lokalen Geschichte des Obersalzbergs]; populärwissenschaftlich: CHAUSSY, Ulrich: Nachbar Hitler. Führerkult und Heimatzerstörung am Obersalzberg, Berlin 20076. – Zur historischen Einordnung der Wewelsburg vgl. BREBECK, Wulff E.: Die Wewelsburg. Geschichte und Bauwerk im Überblick, Berlin/München 20092 sowie einzelne Beiträge in SCHULTE, SS, Himmler und die Wewelsburg. – Auch in Bezug auf den Westwall scheint sich die Auffassung durchzusetzen, dass das Denkmal stärker als bisher einer »historische[n] Kontextualisierung« bedarf; so die nachdrückliche Forderung in dem Band von FINGS, Karola/MÖLLER, Frank (Hg.): Zukunftsprojekt Westwall. Wege zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den Überresten der NS-Anlage, Weilerswist 2008, Zitat nach der Einleitung der Hg., ebd., S. 13–19, hier S. 16; vgl. auch WUNSCH, Stefan: Der Westwall – vom »Bunkertourismus« zum Lernort? Anmerkungen aus Anlass einer bemerkenswerten Tagung, in: Geschichte in Köln 54 (2007), S. 271–284 sowie THREUTER, Christina: Westwall. Bild und Mythos, Petersberg 2009. SCHMIECHEN-ACKERMANN, Detlef: Das Potenzial der Komparatistik für die NS-Regionalforschung. Vorüberlegungen zu einer Typologie von NS-Gauen und ihren Gauleitern anhand der Fallbeispiele Süd-Hannover-Braunschweig, Osthannover und Weser-Ems. In: JOHN, Jürgen/MÖLLER, Horst/SCHAARSCHMIDT, Thomas (Hg.): Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen »Führerstaat«, München 2007, S. 234–253. Formulierung in Anlehnung an DÜWELL, Kurt: Die regionale Geschichte des NS-Staates zwischen Mikro- und Makroanalyse. Forschungsaufgaben zur »Praxis im kleinen Bereich«. In: DÜWELL, Kurt: Landes- und Zeitgeschichte im Thomas Roth/Stefan Wunsch

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Westen Deutschlands. Ausgewählte Beiträge, zu seinem 65. Geburtstag hg. von Hein-Kremer, Maritta/Hoebink, Hein/Wiesemann, Falk, Essen 2004, S. 189–204, hier S. 189. Vgl. einführend DÜWELL, Regionale Geschichte; DÜWELL, Kurt: Regionalismus und Nationalsozialismus am Beispiel des Rheinlandes, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 59 (1995), S.  194–210; JOHN/MÖLLER/SCHAARSCHMIDT, NS-Gaue; MÖLLER, Horst/WIRSCHING, Andreas/ZIEGLER, Walter (Hg.): Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996; RUMSCHÖTTEL, Hermann/ZIEGLER, Walter (Hg.): Staat und Gaue in der NS-Zeit. Bayern 1933–1945, München 2004; RUCK, Michael/POHL, Karl Heinrich (Hg.): Regionen im Nationalsozialismus, Bielefeld 2003; SCHMIECHEN-ACKERMANN, Detlef: Regionalbewusstsein und Regionalkulturen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: KUNZE, Rolf-Ulrich (Hg.): Distanz zum Unrecht 1933–1945. Methoden und Probleme der deutschen Widerstandsforschung, Konstanz 2006, S.  175–194 sowie das Themenheft der Zeitschrift Comparativ 13,1 (2003): Regionalismus und Regionalisierungen in Diktaturen und Demokratien des 20. Jahrhunderts; als Forschungsberichte: HEHL, Ulrich von: Nationalsozialismus und Region. Bedeutung und Probleme einer regionalen und lokalen Erforschung des Dritten Reiches. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 56 (1993), S. 111–129; SCHNEIDER, Michael: Nationalsozialismus und Region. In: Archiv für Sozialgeschichte 40 (2000), S.  423–439; SZEJNMANN, Claus-Christian W.: Verwässerung oder Systemstabilisierung? Der Nationalsozialismus in Regionen des Deutschen Reichs, in: Neue politische Literatur 48 (2003), S. 208–250; SZEJNMANN, Claus-Christian W.: Die Bedeutung der Regionalgeschichte für die Erforschung des Nationalsozialismus und des Holocausts. In: HARTUNG, Olaf/KÖHR, Katja (Hg.): Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 85–103; (gruppen-)biografisch: KISSENER, Michael/SCHOLTYSECK, Joachim (Hg.): Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, Konstanz 1997; RAUH-KÜHNE, Cornelia/RUCK, Michael (Hg.): Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930–1952, München 1993. Vorwort der Hg. In: MÖLLER/WIRSCHING/ZIEGLER, Nationalsozialismus in der Region, S. 7f., hier S. 7. Vgl. BLESSING, Werner K.: Diskussionsbeitrag: Nationalsozialismus unter ›regionalem Blick‹. In: MÖLLER/WIRSCHING/ZIEGLER, Nationalsozialismus in der Region, S. 47–56, hier S. 55; SCHWARTZ, Michael: Regionalgeschichte und NS-Forschung. Über Resistenz und darüber hinaus. In: DILLMANN, Edwin (Hg.): Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen Regionalgeschichte (19./20. Jahrhundert), St. Ingbert 1996, S. 197–218, hier S. 198. Vgl. BLESSING, Nationalsozialismus unter ›regionalem Blick‹; BRUNN, Gerhard/REULECKE, Jürgen: Diskussionsbeitrag. In: MÖLLER/WIRSCHING/ ZIEGLER, Nationalsozialismus in der Region. S.  57–61; von HEHL, NatioVogelsang in der Region

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nalsozialismus und Region, S.  126; REULECKE, Jürgen: Von der Landesgeschichte zur Regionalgeschichte. In: Geschichte im Westen 6 (1991), S. 202–208; SCHMIECHEN-ACKERMANN, Regionalbewusstsein, S. 176ff. SCHAARSCHMIDT, Thomas: Regionalität im Nationalsozialismus. Kategorien, Begriffe, Forschungsstand. In: JOHN/MÖLLER/SCHAARSCHMIDT, Die NS-Gaue, S. 13–21, hier S. 15 (»Region als politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Handlungsebene«). WIRSCHING, Andreas: Nationalsozialismus in der Region. Tendenzen der Forschung und methodische Probleme. In: MÖLLER/WIRSCHUNG/ZIEGLER, Nationalsozialismus in der Region, S. 25–46, hier S. 25. Begriff nach ebd., S. 27. Zu der stark angewachsenen Forschung über das Verhältnis von sozialmoralischen Milieus und Nationalsozialismus vgl. einführend WIRSCHING, Nationalsozialismus in der Region, S.  38ff. und KUNZE, Distanz zum Unrecht; PAUL, Gerhard/MALLMANN, Klaus-Michael: Milieus und Widerstand. Eine Verhaltensgeschichte der Gesellschaft im Nationalsozialismus, Bonn 1995; SCHMIECHEN-ACKERMANN, Detlef (Hg.): Anpassung, Verweigerung, Widerstand. Soziale Milieus, Politische Kultur und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland im regionalen Vergleich, Berlin 1997; SZEJNMANN, Claus-Christian W.: Theoretisch-methodische Chancen und Probleme regionalgeschichtlicher Forschungen zur NS-Zeit. In: RUCK/POHL, Regionen im Nationalsozialismus, S. 47ff. Auf ausführliche Nachweise zu der weit ausgreifenden, v. a. von Katholizismusforschern und kritischen Sozialhistorikern geführten Debatte um das Verhalten der Katholiken im Nationalsozialismus kann hier verzichtet werden; vgl. nur einführend RAUH-KÜHNE, Cornelia: Katholisches Sozialmilieu, Region und Nationalsozialismus. In: MÖLLER/WIRSCHING/ZIEGLER, Nationalsozialismus in der Region, S. 213–235; RAUH-KÜHNE, Cornelia: Anpassung und Widerstand? Kritische Bemerkungen zur Erforschung des katholischen Milieus. In: SCHMIECHEN-ACKERMANN, Anpassung, Verweigerung, Widerstand, S. 145–163. Begriff nach BRUNN/REULECKE, Diskussionsbeitrag, S.  60; die vorhergehende Formulierung in Anlehnung an WIRSCHING, Nationalsozialismus in der Region, S. 43. Vgl. hierzu DAHM, Volker: Kulturpolitischer Zentralismus und landschaftlichlokale Kulturpflege im Dritten Reich. In: MÖLLER/WIRSCHING/ZIEGLER, Nationalsozialismus in der Region, S. 123–138; KISSENER, Michael/SCHOLTYSECK, Joachim: Nationalsozialismus in der Provinz. Zur Einführung. In: KISSENER/SCHOLTYSECK, Die Führer der Provinz, S. 11–29, hier S. 19ff.; SCHMIECHEN-ACKERMANN, Regionalbewusstsein; STEBER, Martina: Fragiles Gleichgewicht. Die Kulturarbeit der Gaue zwischen Regionalismus und Zentralismus. In: JOHN/MÖLLER/SCHAARSCHMIDT, Die NS-Gaue, S. 141–158; ZIEGLER, Walter: Gaue und Gauleiter im Dritten Reich. In: MÖLLER/WIRSCHING/ZIEGLER, Nationalsozialismus in der Region, S. 139–159 Thomas Roth/Stefan Wunsch

sowie die weiteren Hinweise bei APPLEGATE, Celia: A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley u. a. 1990, S. 197ff.; DITT, Karl: Regionalismus in Demokratie und Diktatur. Die Politisierung der kulturellen Identitätsstiftung im Deutschen Reich 1919–1945. In: Westfälische Forschungen 49 (1999), S.  421–436; SCHAARSCHMIDT, Thomas: Regionalkultur und Diktatur. Sächsische Heimatbewegung und Heimat-Propaganda im Dritten Reich und in der SBZ/DDR, Köln u. a. 2004; SCHMIDT, Christoph: Nationalsozialistische Kulturpolitik im Gau Westfalen-Nord. Regionale Strukturen und lokale Milieus (1933–1945), Paderborn u. a. 2006. Für das Rheinland: Auf der Suche nach regionaler Identität. Geschichtskultur im Rheinland zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Bergisch Gladbach 1997; DÜWELL, Regionalismus; LAUX, Stephan: Zwischen Traditionalismus und »Konjunkturwissenschaft«. Der Düsseldorfer Geschichtsverein und die rheinischen Geschichtsvereine im Nationalsozialismus. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 141/142 (2006), S.  107–157; ROMEYK, Horst: Heinrich Haake (1892–1945). In: Rheinische Lebensbilder, Bd. 17, Köln 1997, S. 187–222, hier S. 211ff. 21 Vgl. hierzu die Beiträge in JOHN/MÖLLER/SCHAARSCHMIDT, NS-Gaue, sowie DÜWELL, Regionalismus; DÜWELL, Kurt: Gauleiter und Kreisleiter als regionale Gewalten des NS-Staates. In: MÖLLER/WIRSCHING/ZIEGLER, Nationalsozialismus in der Region, S. 161–174; NOAKES, Jeremy: »Viceroys of the Reich«? Gauleiters 1925–45. In: MCELLIGOTT, Anthony (Hg.): Working towards the Führer? Essays in Honour of Sir Ian Kershaw, Manchester/New York 2003, S. 118–152; ZIEGLER, Walter, Gaue und Gauleiter; ZIEGLER, Walter: Das Selbstverständnis der bayerischen Gauleiter. In: RUMSCHÖTTEL/ZIEGLER, Staat und Gaue, S. 77–125; auf die Vielzahl der Studien zu einzelnen Gauleitern sei hier nur summarisch verwiesen. 22 Dafür, dass an eine völlige Abschottung der »Burgen« nicht gedacht war, sprechen nicht nur entsprechende Redepassagen Robert Leys, sondern auch seine Pläne, »Kraft durch Freude«-Hotels in der Nähe der Ordensburg(en) einzurichten, damit die »Volksgenossen« während des Urlaubs in unmittelbaren Kontakt zum »Führernachwuchs« treten könnten. Vgl. HERZOG, Monika: Die Baugeschichte und die Architektur der Ordensburg Vogelsang. In: CIUPKE/JELICH, Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen, S. 101–109, hier S. 103f.; PATEL, Kiran Klaus: ›Sinnbild der nationalsozialistischen Weltanschauung‹? Die Gestaltung von Lagern und Ordensburgen im Nationalsozialismus. In: ebd., S. 33–51, hier S. 44; PÜTZ, Frank: Die ehemalige NS-Ordensburg Vogelsang. In: Burgen und Schlösser 44 (2003), S. 24–35, hier S. 27; SCHOLTZ, Harald: Die »NS-Ordensburgen«. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), S. 269–298, hier S. 278. 23 Vgl. hierzu auch die Befunde der Regionalforschung zu den Auswirkungen des Westwallbaus, etwa HANF, Westwallbau, insbes. S. 811ff., 833ff.; RENN, Heinz: Die Eifel. Wanderung durch 2000 Jahre Geschichte, Wirtschaft und Kultur, Düren 19952, S.  213ff.; SIEMONS, Hans: Kriegsalltag in Aachen. Not, Tod und Überleben in der alten Kaiserstadt zwischen 1939 und 1944, Aachen 1998, S. 11f.; WEITZ, Katholische Kirche, S. 348ff. Zur örtlichen Wahrnehmung der Vogelsang in der Region

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1944 in die Eifel verlegten Stäbe vgl. auch PABST, Klaus: »Jetzt sind wir wieder Demokraten«. Erfahrungen aus der Eifel. In: DÜLFFER, Jost (Hg.): »Wir haben schwere Zeiten hinter uns«. Die Kölner Region zwischen Krieg und Nachkriegszeit, Vierow 1996, S. 44–70, hier S. 45ff. Vgl. hierzu auch die Forderungen Frank Möllers zu den zukünftigen Aufgaben der Westwall-Geschichtsschreibung; MÖLLER, Frank: Die Enthistorisierung des Westwalls. Vom mythisch überhöhten Schutzwall zum bewunderten Zeugnis deutscher Ingenieurskunst, in: FINGS/MÖLLER, Zukunftsprojekt Westwall, S. 23–36, insbes. S. 23ff., 34f. Vgl. BROGIATO, Heinz Peter/GRASEDIEK, Werner/NEU, Peter: Geschichte der Eifel und des Eifelvereins von 1888 bis 1988. In: Die Eifel 1888–1988. Zum 100jährigen Jubiläum des Eifelvereins, Düren 1988, S.  141–542, hier S.  338; FETTWEIS, Klaus: Zwischen Herr und Herrlichkeit. Zur Mentalitätsfrage im Dritten Reich an Beispielen aus der Rheinprovinz, Aachen 1989, S. 22; LADEMACHER, Horst: Die nördlichen Rheinlande von der Rheinprovinz bis zur Bildung des Landschaftsverbandes Rheinland (1815–1953), in: PETRI, Franz/ DROEGE, Georg (Hg.): Rheinische Geschichte. Bd. 2: Neuzeit, Düsseldorf 1976, S. 475–866, hier S. 717, 732; WALLRAFF, Horst: Nationalsozialismus in den Kreisen Düren und Jülich. Tradition und »Tausendjähriges Reich« in einer rheinländischen Region 1933 bis 1945, Düren 2000, S. 38; WEITZ, Reinhold: Die Zeit vor dem Nationalsozialismus. Vorgänge und Verhältnisse in der Region. In: Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen, Bd. 1, S. 1–92, hier S. 54f. Vgl. hierzu auch – mit weiterer historischer Perspektive – DOERING-MANTEUFFEL, Sabine: Die Eifel. Geschichte einer Landschaft, Frankfurt a. M./New York 1995. Für den Aachener Raum: KÖSTERS, Christoph: Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Aachen. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 101 (1997/98), S.  87–124; JAUD, Ralph J.: Der Landkreis Aachen in der NS-Zeit. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in einem katholischen Grenzgebiet 1929–1944, Frankfurt a. M. 1997, S. 181ff.; für Köln: HEHL, Ulrich von: Katholische Kirche und Nationalsozialismus im Erzbistum Köln 1933–1945, Mainz 1977; SCHANK, Christoph: »Kölsch-katholisch«. Das katholische Milieu in Köln (1871–1933), Köln u. a. 2004. Zu den Wahlergebnissen in Eifel und Voreifel in den 1920er und 1930er Jahren vgl. die Hinweise bei BROGIATO/GRASEDIEK/NEU, Geschichte der Eifel, S. 339ff., 409; RENN, Eifel, S. 195, 202, 206f.; RÜNGER, Gabriele: Wer wählte die NSDAP? Eine lokale Fallstudie im Kreis Euskirchen an Hand der Ergebnisse der politischen Wahlen 1920 bis 1933, (Diss.) Bonn 1984; WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S. 69ff.; WEITZ, Reinhold: Anfänge und Aufstieg der NSDAP. In: Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen, Bd. 1, S.  93–163, hier S. 108ff. Weitere Hinweise auf die Wahlergebnisse im Raum Köln-Aachen etwa bei GASTEN, Elmar: Aachen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft 1933–1944, Frankfurt a.  M. u.  a. 1993, S.  335ff.; JAUD, Landkreis Aachen, S.  276ff., 744ff.; MATZERATH, Horst: Die Kölner und der Nationalsozialismus. Eine kölsche Geschichte. In: Geschichte in Köln 52 (2005), S.  235–269, Thomas Roth/Stefan Wunsch

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hier S. 240ff.; PEHLE, Walter H.: Die nationalsozialistische Machtergreifung im Regierungsbezirk Aachen unter besonderer Berücksichtigung der staatlichen und kommunalen Verwaltung 1922–1933, (Diss.) Düsseldorf 1976, insbes. S.  56ff.; WALLRAFF, Nationalsozialismus, S.  65ff.; allgemein zum Wahlverhalten von Katholiken RAUH-KÜHNE, Katholisches Sozialmilieu, S. 218ff.; zum Verhältnis von Konfession und Wahlverhalten FALTER, Jürgen: Hitlers Wähler, München 1991, S. 169ff. Vgl. FEHN, Klaus: Konzeptionelle Wandlungen bei den Fördermaßnahmen für die Eifel zwischen 1933 und 1945. In: FELDENKIRCHEN, Wilfried/SCHÖNERT-RÖHLK, Frauke/SCHULZ, Günther (Hg.): Wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1995, S. 58–71, insbes. S. 58ff.; FEHN, Klaus: »Ballungsräume« und »Notstandsgebiete«: Kernräume und Peripherien in der nationalsozialistischen Raumordnung. In: Siedlungsforschung 22 (2004), S. 119–143, hier S. 140ff.; GRAAFEN, Rainer: Die Auswirkungen der Notstandsmaßnahmen des Deutschen Reiches vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf das Siedlungs- und Kulturlandschaftsbild der Eifel. In: Siedlungsforschung 10 (1992), S. 105–120; WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S. 8ff.; MARX-JASKULSKI, Katrin: Armut und Fürsorge auf dem Land. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933, Göttingen 2008, S.  53ff. (für die Südeifel); zeitgenössisch z.  B.: KUNZ, Hans: Die wirtschaftliche Lage der Eifel, dargestellt auf Grund der Bevölkerungsverhältnisse und der Pflanzenproduktion, Trier 1935; KREWEL, Josef: Kulturmaßnahmen für die Eifel, ihre einheitliche Zusammenfassung. Ein Beitrag zum Eifelproblem, Bonn 1932. Vgl. BLAICH, Fritz: Grenzlandpolitik im Westen 1926–1936. Die »Westhilfe« zwischen Reichspolitik und Länderinteressen, Stuttgart 1978; FEHN, Konzeptionelle Wandlungen, S. 61f.; GRAAFEN, Auswirkungen, S. 106ff.; RENN, Eifel, S. 201ff.; WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S. 13ff., 19ff. FEHN, Konzeptionelle Wandlungen, S. 63 bzw. KREWEL, Kulturmaßnahmen. Zum Begriff vgl. PLUM, Günter: Gesellschaftsstruktur und politisches Bewusstsein in einer katholischen Region 1928–1933. Untersuchung am Beispiel des Regierungsbezirks Aachen, Stuttgart 1972, S. 55f.; WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S.  20. Die Rede vom wirtschaftlichen »Versacken« der westlichen Rheinprovinz war in der Weimarer Republik gang und gäbe und wurde auch nach 1933 aufgegriffen. Vgl. nur Lagebericht des Regierungspräsidenten (RP) Köln vom 4.  November 1934. – Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland, Hauptstaatsarchiv Düsseldorf (HStAD), Regierung (Reg.) Aachen, Präsidialbüro, Nr. 1025. Die Abtretung von Elsass-Lothringen war wirtschaftlich v.  a. für die südlichen Rheinlande von Belang und wird in Äußerungen zur Rheinprovinz seltener erwähnt. In diesem Zusammenhang werden v. a. neue Zollgrenzen zu den abgetretenen belgischen Gebieten und zu Luxemburg betont.

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34 Vgl. aus regionalgeschichtlicher Sicht BONUS, Hermann: Die Wirtschaft der Südwesteifel im Wandel der Zeiten. In: Eifel-Jahrbuch 1987, S.  101–107, hier S.  101ff.; BROGIATO/GRASEDIEK/NEU, Geschichte der Eifel, S.  325f., 332ff.; GRAAFEN, Auswirkungen, S.  105f.; JAUD, Landkreis, S.  97ff., 107f.; van HAM, Hermann: Die Wirtschaftsnöte des Westens durch Kriegsausgang und Grenzziehung unter besonderer Berücksichtigung der Rheinprovinz, Berlin 1928; MAILLARD, Maria: Aachen als Grenzstadt, (Diss.) Köln 1933; PEHLE, Machtergreifung, S. 13ff.; PLUM, Gesellschaftsstruktur, S. 52ff.; RENN, Eifel, S. 193ff., 199f.; WEISS, Peter Josef: Der Eifeler und sein Verein. 1888–1973: 85 Jahre Eifelverein, Düren 1973, S.  55; WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S.  18ff. Vgl. auch die verstreuten Hinweise bei BLAICH, Grenzlandpolitik, S. 10f., 46; KELLENBENZ, Hermann: Wirtschafts- und Sozialentwicklung der nördlichen Rheinlande seit 1815. In: PETRI, Franz/DROEGE, Georg (Hg.): Rheinische Geschichte. Bd. 3: Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1979, S. 1–192 und ECKERT, Rainer: Arbeiter in der preußischen Provinz. Rheinprovinz, Schlesien und Pommern 1933 bis 1939 im Vergleich, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 217; PETZINA, Dietmar: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik während des Nationalsozialismus. In: FAUST, Anselm (Hg.): 100 Jahre Arbeitsmarktpolitik in Rheinland-Westfalen. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Essen 1997, S. 57–69, hier S. 65. 35 Vgl. JAUD, Landkreis, S.  102ff.; LAUX, Zwischen Traditionalismus und »Konjunkturwissenschaft«, S.  108ff.; MÜLLER, Thomas: Die transformierte Westgrenze. Der »deutsche Westraum« als grenzlandpolitisches Konzept. In: CEPL-KAUFMANN, Gertrude/GROSS, Dominik/MÖLICH, Georg (Hg.): Wissenschaftsgeschichte im Rheinland unter besonderer Berücksichtigung von Raumkonzepten, Kassel 2008, S. 65–74. Grundlegend zum »Grenzlanddiskurs« der 1920er und 1930er Jahre DIETZ, Burkhard/GABEL, Helmut/TIEDAU, Ulrich (Hg.): Griff nach dem Westen. Die »Westforschung« der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960), 2 Bde., Münster u.  a. 2003; der Begriff nach MÜLLER, Thomas: Die Formierung des »Grenzraumes«. Die »Abteilung G« des Reichsinspekteurs und Landeshauptmannes Haake. In: ebd., S. 763–790, hier etwa S. 775. 36 Paradigmatisch die Propagandaschrift HERMANNS, Will/ZECK, Hans F.: Grenzraum Aachen/Eifel, Berlin 1934. 37 Der Begriff »Fehlperzeption« nach RAUH-KÜHNE, Katholisches Sozialmilieu, S. 232. Zur regionalhistorischen Relativierung der lange Zeit populären Vorstellung vom »schwarzen« und liberalen, gegen die nationalsozialistische Weltanschauung weitgehend immunisierten Rheinland vgl. MATZERATH, Kölner; PEHLE, Machtergreifung; PLUM, Gesellschaftsstruktur; WALLRAFF, Nationalsozialismus, etwa S. 602ff.; WALLRAFF, Horst: Vom preußischen Verwaltungsbeamten zum Manager des Kreises. Landräte und Landratsamt in den Kreisen Düren und Jülich von 1816 bis zur Gegenwart, Düren 2004, S. 230ff. Eine weitergehende Resistenz des katholischen Milieus gegen den Nationalsozialismus hat v. a. die kirchennahe zeitgeschichtliche Katholizismusforschung behauptet; zu

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den einschlägigen Debatten vgl. nur HUMMEL, Karl-Joseph/KISSENER, Michael (Hg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn u.  a. 2009; KÖSTERS, Christoph: Katholische Kirche im nationalsozialistischen Deutschland – Aktuelle Forschungsergebnisse, Kontroversen und Fragen. In: BENDEL, Rainer (Hg.): Die katholische Schuld? Katholizismus im Dritten Reich zwischen Arrangement und Widerstand, Hamburg/London 2002, S. 21–42. WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S. 68; vgl. auch ders., Anfänge und Aufstieg, S. 113ff. Vgl. Lageberichte der Gestapo Aachen vom 6. Oktober 1934, 5. Dezember 1934, 6. Februar 1935, 5. April 1935 [Zitate »Grenzland« und »Westgrenze«], 7. Juni 1935, 5. Juli 1935, 7. August 1935 [Zitat »Drittes Reich«], 5. September 1935, 7. Oktober 1935, 7. November 1935 und 5. März 1936. – HStAD, Reg. Aachen, Präsidialbüro, Nr. 1024–1033 und 1037; daran offenbar anschließend GASTEN, Aachen, S. 322. Die Publikation von VOLLMER, Bernhard: Volksopposition im Polizeistaat. Gestapo- und Regierungsberichte 1934–1936, Stuttgart 1957 gibt zwar einige Hinweise auf die wirtschaftspolitischen Erwägungen der Aachener Gestapo, bildet die diesbezügliche Berichterstattung aber nur auszugsweise ab. Sie wird bei ECKERT, Arbeiter, teilweise referiert. – Zur Einschätzung der Köln-Aachener Gauleitung vgl. die Hinweise in Bundesarchiv (BA), NS 22/583 und NS 22/716. Formulierungen nach Schreiben des RP Aachen an den Reichsfinanzminister, 16. Dezember 1934. – HStAD, Reg. Aachen, Präsidialbüro, Nr. 1025. Dieser Katalog nach VOGELSANG, [Franz]: Der Planungsbezirk Aachen. In: Der Planungsraum Rheinland, seine Struktur und Entwicklungsrichtung. Referate der Regierungspräsidenten in Düsseldorf, Köln, Aachen, Koblenz und Trier, erstattet auf der 1. Sitzung des Beirats des Landesplanungsgemeinschaft Rheinland, am 23.  Febr. 1938 in Düsseldorf, Düsseldorf [1938], S.  29–35 (Begrifflichkeit nach S. 29, 32, 35) sowie Lagebericht des RP Köln vom 4. November 1934 und RP Aachen an RP Köln, 8. November 1934. – HStAD, Reg. Aachen, Präsidialbüro, Nr. 1025. Vgl. auch HStAD, Reg. Aachen, Nr. 20116. Aufschlussreich ebenso die kultur- und wirtschafts- sowie grenzlandpolitisch ausgerichteten Darstellungen zu den Gauen Köln-Aachen und Koblenz-Trier in der Propagandaschrift von DIETRICH, Otto (Hg.): Das Buch der deutschen Gaue. Fünf Jahre nationalsozialistische Aufbauleistung, Bayreuth 1938, S. 212ff., 225ff. sowie die rassenpolitisch ausgerichtete zeitgenössische Dissertation von RÜBEL, Heinrich: Die Bevölkerung von Monschau. Geschichte, Zustand und Entwicklungstendenz der Bevölkerung von Monschau, Würzburg 1938, S. 108ff. – Zur Thematisierung der »Grenzlandnot« nach 1933 vgl. auch HERMANNS/ZECK, Grenzraum Aachen/Eifel, sowie BLAICH, Grenzlandpolitik, S. 110f.; JAUD, Landkreis, S. 102, 416f.; PAX, Alexandra: Kulturlandschaftswandel während des Dritten Reiches im Rheinland, Idstein 1998, S. 37; zur Verknüpfung von Grenzlandideologie und Wirtschaftspolitik vgl. auch PETER, Roland: NS-Wirtschaft in einer Grenzregion. Die badische Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg. In: RAUH-KÜHNE/RUCK, Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie, S. 171–194. – Zu WirtschaftsVogelsang in der Region

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politik und Wirtschaftsentwicklung in der westlichen Rheinprovinz vgl. auch die weiteren Hinweise in Teil II. DIETRICH, Buch der deutschen Gaue, S.  212ff. sowie die »Erfolgsbilanzen« bei SCHMIDT, Peter: Zwanzig Jahre Soldat Hitlers, zehn Jahre Gauleiter. Ein Buch von Kampf und Treue, Köln 1941, S. 117ff., 120ff. und HAVERTZ, Heinz/ HOFFMANN, Heinrich: Deutsches Bollwerk im Westen des Reiches, Köln u. a. 1938. Vgl. DIX, Andreas: Der Westwall im Rahmen von Raumplanung und Strukturpolitik in der NS-Zeit. In: FINGS/MÖLLER, Zukunftsprojekt Westwall, S. 59–66, hier S. 61f.; FEHN, »Ballungsräume«, S. 140ff.; FEHN, Konzeptionelle Wandlungen; PYTA, Wolfram: »Menschenökonomie«. Das Ineinandergreifen von ländlicher Sozialraumgestaltung und rassenbiologischer Bevölkerungspolitik im NS-Staat. In: Historische Zeitschrift 273 (2001), S. 31–94, insbes. S. 56f., 61f., 91f. (allerdings weitgehend auf die Südeifel bezogen). Zum Hintergrund vgl. auch MAI, Uwe: Ländlicher Wiederaufbau in der »Westmark« im Zweiten Weltkrieg, Kaiserslautern 1993; MAI, Uwe: Rasse und Raum. Agrarpolitik, Sozial- und Raumplanung im NS-Staat, Paderborn u. a. 2002, insbes. S. 58ff., 204ff. Vgl. hierzu und zum Folgenden MÜLLER, Thomas: Die westpolitische Mobilisierung des »Aachener Grenzraumes«. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 109 (2007), S.  151–214 sowie MÜLLER, Thomas: »Ausgangsstellung zum Angriff«. Die »Westforschung« der Technischen Hochschule Aachen. In: DIETZ/GABEL/TIEDAU, Griff nach dem Westen, S.  819–850; MÜLLER, Formierung des »Grenzraumes«; MÜLLER, Thomas: Der Gau Köln-Aachen und Grenzlandpolitik im Nordwesten des Deutschen Reiches. In: JOHN/MÖLLER/SCHAARSCHMIDT, NS-Gaue, S.  318–333; MÜLLER, Westgrenze; FREUND, Wolfgang/MÜLLER, Thomas: Westforschung. In: HAAR, Ingo/ FAHLBUSCH, Michael (Hg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, S. 751–760. Zu west- bzw. grenzlandpolitischen Ambitionen vgl. auch die Hinweise bei ENGELS, Marc: Die »Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes«. Bruno Kuske und die wirtschaftswissenschaftliche Westforschung zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik, Aachen 2007; HAUPTS, Leo: Lebensraum im Westen. Der Beitrag der Universität zu Köln speziell in der »Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung«. In: CEPL-KAUFMANN/GROSS/MÖLICH, Wissenschaftsgeschichte im Rheinland, S.  75–106; MATZERATH, Horst: »Das Tor zum Westen«. Die Rolle Kölns in der Expansionspolitik des Dritten Reiches. In: GEUENICH, Dieter (Hg.): Köln und die Niederrheinlande in ihren historischen Raumbeziehungen (15.–20. Jahrhundert), Pulheim 2000, S. 415–440; zum Hintergrund DIETZ/GABEL/TIEDAU, Griff nach dem Westen. Zur damals diskutierten Verbindung von »Grenzpolitik« und Siedlungsentwicklung vgl. auch FEHN, Konzeptionelle Wandlungen, S. 63f. Zu diesem Geschichtsbild vgl. auch die populärwissenschaftlichen Schriften von DIVO, Hanns: Westdeutsches Grenzvolk im Kampf ums Reich, Berlin 1943; GUTHMANN, Johannes: Um die Westmark, München/Berlin 1935; KIRN, Thomas Roth/Stefan Wunsch

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Paul: Politische Geschichte der deutschen Grenzen, Leipzig 1934, 1938 (2., verb. Aufl.); SANGIORGIO, Camillo (Hg.): Unbezwinglicher Westwall. Ein Volksbuch vom Ringen um Deutschlands Westmark, Wiesbaden 1940; ZEPP, Peter: Land und Volk der deutschen Westmark. Eine rheinische Heimatkunde, Düsseldorf 1935. Formulierung in Anlehnung an Aussagen des grenzlandpolitisch ebenfalls engagierten Gauleiters von Koblenz-Trier, Gustav Simon; hier nach KRIER, Emil: Gustav Simon (1900–1945). In: Rheinische Lebensbilder, Bd. 16, Köln 1997, S. 255–285, hier S. 266. Ähnliche Formulierungen finden sich aber in dem auf Aachen und Eifel gemünzten Werk HERMANNS/ZECK, Grenzraum Aachen/ Eifel, sowie bei HAVERTZ/HOFFMANN, Deutsches Bollwerk im Westen, und MEYER, Hubert: Die Eifel im Aufbruch unserer Zeit. In: Eifel-Kalender für das Jahr 1940 (1939), S. 17–20, hier S. 19. Zum »Bollwerk«-Topos vgl. auch MÜLLER, Westpolitische Mobilisierung, S.  157, 186; zur bevölkerungspolitischen, »völkischen« Festigung der Westgrenze RÜBEL, Bevölkerung von Monschau, etwa S. 106ff. – Wie bei ARNTZ, Ordensburg, S. 27ff., 56ff.; HEINEN, NS-Presse, S.  9ff. deutlich und weiter unten noch ausgeführt wird, wurde der »Bollwerk«-Topos auch auf die NS-Ordensburg Vogelsang angewandt. So zumindest im »Grenzstützplan«, der von der rheinischen Provinzialverwaltung forciert wurde; MÜLLER, Westpolitische Mobilisierung, S. 157f. Zu Anspielungen der »Ordensburg«-Berichterstattung auf die Grenzlandideologie vgl. die instruktiven Ausführungen bei ARNTZ, Ordensburg, S. 20ff. und die Erläuterungen weiter unten. Nach MÜLLER, Gau Köln-Aachen, S. 320. Dass sich auch andere Gaue – z. T. noch deutlicher als der Köln-Aachener – als »Grenzgaue« positionierten, zeigen die Beiträge in JOHN/MÖLLER/SCHAARSCHMIDT, NS-Gaue; als zeitgenössische, auch in ikonografischer Hinsicht aufschlussreiche Beispiele vgl. die 1936–1939 erschienene Zeitschrift »Der Grenzgau« des Gaues KoblenzTrier; MUSHAKE, Ernst: Deutschlands Grenzgau. Saarpfalz und Umgebung, Frankfurt a. M. 1939 sowie WÄCHTLER, Fritz (Hg.): Bayerische Ostmark. Nationalsozialistische Aufbauarbeit in einem deutschen Grenzgau, Bayreuth 1937. Insofern ist eine vergleichende Betrachtung der rheinischen »Grenzlandpolitik« geboten. So – auch in Anknüpfung an die nationalsozialistische Selbstdarstellung – ARNTZ, Hans-Dieter: Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet. Kreisgebiet Schleiden, Euskirchen, Monschau, Aachen und Eupen/ Malmedy, Euskirchen 1990, S.  65; HEINEN, Vogelsang, S.  13f.; PAX, Kulturlandschaftswandel, S. 448; PÜTZ, NS-Ordensburg, S. 26; SAUPP, Norbert: NSArchitektur in Heimbach/Eifel. Exemplarische Umgestaltung einer Kleinstadt und Planung einer NS-Künstlerkolonie im Westwall-Grenzland. In: Geschichte in Köln 30 (1991), S. 41–49, hier S. 44. Zur Inventarisierung der in der Nordeifel durchgeführten Bau- und Infrastrukturmaßnahmen vgl. auch PAX, Kulturlandschaftswandel.

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52 Zum »Westwall« als »politischem Symbol« vgl. RASS, Christoph: Die Bedeutung des Westwalls für die nationalsozialistische Politik und Kriegsführung. In: FINGS/MÖLLER, Zukunftsprojekt Westwall, S. 49–57, etwa S. 56. 53 So eine Formulierung Hitlers bei der Feier zur Einweihung der Ordensburgen am 24.  April 1936 in der Ordensburg Krössinsee; hier zit. n. SCHOLTZ, Harald: NS-Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973, S. 163. Fast gleichlautend LEY, Robert: Wir alle helfen dem Führer. Deutschland braucht jeden Deutschen, München 19405, S. 138. 54 Zum Begriff KISSENER/SCHOLTYSECK, Führer der Provinz. 55 Zum Phänomen der sogenannten »Gaucliquen«, informell verbundener Führungsgruppen der Partei, die sich um den Gauleiter herum bilden und »die wichtigsten Fäden der regionalen Politik in der Hand hielt[en]«, vgl. HÜTTENBERGER, Peter: Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 56ff. (Zitat S. 56) sowie DÜWELL, Gauleiter und Kreisleiter, S.  162; KISSENER, Michael: Kommentar. In: JOHN/MÖLLER/SCHAARSCHMIDT, NS-Gaue, S. 361ff., hier S. 362; ZIEGLER, Selbstverständnis; kritisch: NOLZEN, Armin: Die Gaue als Verwaltungseinheiten der NSDAP. Entwicklungen und Tendenzen in der NS-Zeit. In: ebd., S. 199–217. – Die Literatur zur Geschichte der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände im Gau Köln-Aachen ist – wohl auch aufgrund der problematischen Überlieferung – überschaubar. Eine systematische wissenschaftliche Untersuchung der Stäbe, personalen Netzwerke und Tätigkeitsfelder der Partei in der Region steht noch aus. Erste biografische Hinweise zum NS-Personal im Gau Köln-Aachen bei KLEFISCH, Peter (Bearb.): Die Kreisleiter der NSDAP in den Gauen Köln-Aachen, Düsseldorf und Essen, Düsseldorf 2000; KLEIN, Adolf: Köln im Dritten Reich. Stadtgeschichte der Jahre 1933–1945, Köln 1983, etwa S. 23ff.; LILLA, Joachim (Bearb.): Statisten in Uniform. Die Mitglieder des Reichstags 1933–1945. Ein biographisches Handbuch, Düsseldorf 2004; LILLA, Joachim (Bearb.): Die Stellvertretenden Gauleiter und die Vertretung der Gauleiter der NSDAP im »Dritten Reich«, Koblenz 2003; ROMEYK, Horst: Die leitenden staatlichen und kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz 1816–1945, Düsseldorf 1994. Zu den für Vogelsang wichtigen Protagonisten Josef Grohé und Robert Ley vgl. auch die Titel in Anm. 42, die Hinweise bei HÜTTENBERGER, Gauleiter; ORLOW, Dietrich: The Nazi Party 1919–1945. A complete History, [Neuausg.], New York 2008; ZIEGLER, Gaue und Gauleiter, sowie BOBERACH, Heinz: Robert Ley (1890–1945). In: Rheinische Lebensbilder, Bd. 14, Köln 1994, S. 273–292; BRANDENBURGER, Heinz-Wilhelm: Ley-Land. Dr. Robert Ley und der Nationalsozialismus im Oberbergischen, Köln 1988; FÖRST, Walter: Die rheinischen Gauleiter. In: FÖRST, Walter (Hg.): Städte nach zwei Weltkriegen, Köln 1984, S. 119–139; HACHTMANN, Rüdiger (Hg.): Ein Koloss auf tönernen Füßen. Das Gutachten des Wirtschaftsprüfers Karl Eicke über die Deutsche Arbeitsfront vom 31. Juli 1936, München 2006; KLARZYK, Birte: Vom NSDAP-Gauleiter zum bundesdeutschen Biedermann: Der Fall Josef Grohé. (Unveröff. Magisterarbeit) Köln 2007; KLARZYK, Birte: Vom NSDAP-Gaulei-

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ter zum bundesdeutschen Biedermann: der Fall Josef Grohé [erscheint 2010 in einem von Jost Dülffer und Margit Szöllösi-Janze herausgegebenen Sammelband in den »Veröffentlichungen des Kölnischen Geschichtsvereins«]; PEHLE, Machtergreifung, insbes. S. 66ff.; SCHRÖDER, Karl: Aufstieg und Fall des Robert Ley, Siegburg 2008; SMELSER, Ronald: Robert Ley. Hitlers Mann an der »Arbeitsfront«. Eine Biographie, Paderborn 1989; WALD, Renate: Mein Vater Robert Ley. Meine Erinnerungen und Vaters Geschichte, Nümbrecht 2004; WOLFF, Eva: Nationalsozialismus in Leverkusen, Leverkusen 1988, S.  31ff.; ZERLETT, Rolf: Josef Grohé (1902–1987). In: Rheinische Lebensbilder, Bd. 17, Köln 1997, S. 247–276. – Eine moderne und umfassende Biografie Robert Leys bleibt auch nach den jüngeren Bemühungen ein wichtiges Forschungsdesiderat. Formulierung in Anlehnung an RASS, Bedeutung des Westwalls, S. 52 (»Sekundäreffekte«). Die folgenden Ausführungen stehen u. a. im Kontext einer Studie, die derzeit im Auftrag des Geschichtsvereins des Kreises Euskirchen e. V. durchgeführt wird und in dem geplanten dritten Band des Geschichtsvereins über den »Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen« erscheinen soll; dem Geschichtsverein sei an dieser Stelle herzlich für die Unterstützung gedankt. Westdeutscher Beobachter (Schleiden), 8. März 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 20, 41f.; HEINEN, Vogelsang, S. 11f. Vgl. hierzu u. a. CIUPKE/JELICH, Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen; HEINEN, Franz Albert: Zur Ideengeschichte der NS-Ordensburgen, unveröff. Ms., Schleiden 2009, sowie dessen Beitrag in diesem Band; SCHRÖDERS, Michael: Der Kölner Philosoph Hermann R. Bäcker, Alfred Rosenberg und die politische Schulung der NSDAP. Zu einem Bestand des Historischen Archivs der Stadt Köln. In: Geschichte in Köln 56 (2009), S. 267–298. Westdeutscher Beobachter (Schleiden), 8.  März 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 20. In der Presseberichterstattung zum ersten Spatenstich am 15. März 1934 heißt es: »Wie in die Landschaft gezaubert liegt der Festplatz vor uns. Im weiten Halbrund an hohen Masten zahllose Hakenkreuzfahnen, aufleuchtend in Rot und Weiß, kraftvoll und sieghaft knatternd und wogend im Wind. Darunter ein zweiter Saum der Kampffahnen und der Menschen, die in unübersehbarer Menge von nah und fern herbeiströmten, um Zeuge des hochbedeutsamen Geschehens zu werden. SA, SS, Politische Leiter, HJ, BDM, Arbeiter und Bauern, Kinder an den Händen der Mütter, Schulklassen – das ganze Volk! Sie alle wollten Anteil nehmen und standen im Bann dieser Weihestunde. Und über das festliche Bild schweift der Blick ins Tal und wird gebannt von der überwältigenden Schönheit der Landschaft. Tief unten im Rahmen der Waldberge liegt der Urftsee. Silbrig glänzt die Fläche auf, wenn die Sonne sich im Wasser spiegelt. Wolkenschatten wandern über den See und ziehen die Hänge hinauf, um wunderliche Silhouetten in die Wälder zu schneiden. […] Das ist der Standplatz des Schulungslagers, welches aus dem Fels erwachsen soll. Verbunden sind Stoff und Form mit der Erde und der Landschaft, eingestimmt in ein Ziel: den Menschen hier den Geist zu vermitteln, der aus NaVogelsang in der Region

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tur und Landschaft unvermittelt und erhaben spricht. Hier muß die Schöpfung in ihrer wilden und herben Schönheit zum tiefen Erlebnis werden. Hier werden deutsche Menschen das ewige Geheimnis der deutschen Erde spüren und es hinaustragen als Künder und Prediger unsrer Weltanschauung von Blut und Boden.« Westdeutscher Beobachter, 17. März 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 28f. 62 Vgl. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S.  38ff.; HERZOG, Architekturführer Vogelsang, passim. Vgl. auch W.  R.: Ordensburgen des neuen Deutschland. In: Westermanns Monatshefte, 81. Jahrgang, Bd. 161, Heft 964 (Dezember 1936), S. 329–331. 63 Diese Thematik wird an anderer Stelle weiterverfolgt. Vgl. aus der Fülle weiterer Belege etwa die 1937 publizierte offiziöse Propagandaschrift, in der es heißt: »Inmitten einer heroischen Landschaft, einer Symphonie von Wald, Bergen und Seen, wird der Nachwuchs […]«; Grenzkreis Schleiden im Gau Köln-Aachen. Das Land der Berge, Wälder und Seen rings um die Ordensburg Vogelsang, o.O. 1937; HEINEN, Chronik, S. 8. – Ähnlich ein Jahr später, 1938, in einem Pressebericht in der Zeitschrift »Die Sirene« des Reichsluftschutzbundes (RLB), in dem über Luftschutz-Lehrbemühungen in Vogelsang berichtet wird: »Inmitten des Eifelgrenzlandes, wo der harte Wind über einsame, kahle Hügel mit mageren Äckern und dürftigem Gestrüpp streicht, wo auf kargem, steinigem Boden nur spärliche Siedlungen vom zähen Bauernfleiß zeugen, wo von der Höhe der Blick über den Urftsee auf die dunklen Wälder des Kermeter schweift, da ist Burg Vogelsang gewachsen. An den Hängen zum Urftsee, dieser gewaltigsten Talsperre der Eifel, strebt sie hinauf zur Höhe, stufenweise den Raum nutzend, sich selber steigernd zur wuchtigen Größe, zum gewaltigen Bergfried, der trutzig und stark in die Lande schaut. […] Sie ist mit dem Boden verwachsen, auf dem sie steht. Wie der heimische Bruchstein das Baumaterial lieferte, Grauschiefer aus der Eifel die Satteldächer deckt, Holz aus den weiten Wäldern des Grenzlandes die Balken gab, die alte deutsche Zimmermannskunst zu Decken und Stützen handwerkgerecht formte, so ist auch der Geist, der in der Ordensburg waltet, heimatverbunden und bodenständig. Wer durch die straffe Zucht dieser Burg gegangen ist, der ist nicht nur ein treuer Soldat des Führers geworden, der hat den Geist der Heimattreue in sich aufgenommen, die Liebe zur Heimatscholle, die der Eifeler von Geschlecht zu Geschlecht vererbt und immer wieder in Notzeiten bewies.« HEINEN, Chronik, S. 13. – Vgl. auch Der Orden Nr. 2 (1938), Sonderausgabe zum 48. Geburtstag Robert Leys oder Der Angriff, 20. August 1937. – BA R 187/257. 64 Vgl. u. a. BRÜGGEMEIER, Franz-Josef/CIOC, Mark/ZELLER, Thomas (Hg.): How Green Were the Nazis? Nature, Environment, and Nation in the Third Reich, Athens/Ohio 2006; RADKAU, Joachim/UEKÖTTER, Frank (Hg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2003; LEKAN, Thomas: Imagining the Nation in Nature: Landscape Preservation and German Identity, 1885–1945, Cambridge 2003; UEKÖTTER, Frank: Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007; LEHMANN, Albrecht/SCHRIEWER, Klaus (Hg.): Der Wald – ein deutscher Mythos, Berlin 2000, darin u. a. RUSINEK, Bernd-A.: »Wald und Baum in der arisch-germanischen Geistes- und Kul-

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turgeschichte« – ein Forschungsprojekt des »Ahnenerbes« der SS von 1937 bis 1945, S.  267–363; ferner BLACKBOURN, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 22. Vgl. auch NELLESSEN, Karl-Wilhelm: Umweltschutz als kommunale Aufgabe. Naturschutz und Landschaftspflege im Kreise Aachen 1816–2004, Köln/Weimar/Wien 2007; SCHWICKERATH, Mathias (Hg.): 50 Jahre Naturschutz im Regierungsbezirk Aachen, Aachen 1959; ferner HARZHEIM, Gabriele: Wahrnehmungen und Umgang mit der Kulturlandschaft Eifel. In: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 38 (2009/2010), i. E. Westdeutscher Beobachter (Schleiden), 8.  März 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 20. Lagebericht der Gestapo Aachen vom 5. Dezember 1934. – HStAD, Reg. Aachen, Präsidialbüro, Nr. 1025 [Zitat Bl. 125]. Westdeutscher Beobachter (Euskirchen), 24. September 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 59. Westdeutscher Beobachter (Euskirchen), 24. September 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 62. Dürener Zeitung, 8. März 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 23f. Vgl. Anm. 42. Westdeutscher Beobachter, 17. März 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 30; HEINEN, Vogelsang, S. 14. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch Grohés Ausführungen über das mögliche Verhältnis zwischen den künftigen »Besuchern« Vogelsangs und der Eifel bzw. den Einwohnern: »Die Volksgenossen, die aus allen Gegenden in den Kreis mit seinen Schönheiten kommen, werden feststellen müssen, daß die Eifel ein wunderbares deutsches Land ist, und daß es sich schon verlohnt, dieses Land einmal kennenzulernen. Die Volksgenossen, die einmal aus allen Gauen des Reiches hierherkommen, werden dann auch in euch, ihr Eifeler, einen Teil des deutschen Volkes kennenlernen, mit dem umzugehen und mit dem zu verstehen möglich und wertvoll ist. So wird die ideelle Bedeutung, die dieses Schulungslager in sich birgt, das Wesentliche sein. Daneben wird der Bau dieses Lagers in Kürze vielen hundert Volksgenossen in diesem Gebiet Arbeit und Brot vermitteln. […]« Westdeutscher Beobachter, 17. März 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 30; HEINEN, Vogelsang, S. 14. »Wenn wir uns darüber klar sind, daß wir hier im Grenzland nicht Festungen bauen dürfen, so wissen wir aber, daß es möglich sein wird, die Menschen so zu formen, daß sie den Festungen und Geschützen einer militärischen Macht widerstehen können dadurch, daß sie selbst zu Festungen des Glaubens an Deutschland erzogen werden. In diesem Sinne soll die Schulung hier in der gewaltigen Symphonie von Bergen, Wäldern und Seen vor sich gehen. Hier sollen die Waffen des Geistes geschmiedet werden, damit das Reich entstehe, wofür wir gekämpft haben und was wir uns zu errichten suchen: ein Reich der Kraft und Herrlichkeit.« Westdeutscher Beobachter, 17.  März 1934; ARNTZ, Vogelsang, S.  30. – Binz kam beim Kreisparteitag der NSDAP im Juni 1939 mit Blick auf die Kriegsgefahr Vogelsang in der Region

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im Jahr zuvor auf die Haltung der Eifeler Bevölkerung zurück: »Als im September 1938 die politische Hochspannung auf dem Höhepunkt stand, überwogen im Grenzkreise Schleiden die Einzahlungen auf sämtliche Stellen der Kreissparkasse die Auszahlungen ganz erheblich. So stark war das Vertrauen der Bevölkerung zu der Kraft unserer Waffen und zur Politik des Führers.« Festschrift zum IV. Kreistag der NSDAP des Grenzkreises Schleiden. – Archiv Vogelsang (Kopie); HEINEN, Chronik, S. 37. Die Propaganda anlässlich des feierlichen Richtfestes in Vogelsang und im Kurhaus von Gemünd am 15. Dezember 1934 stellte zudem das »Hohe Lied der Arbeit«, die »Gemeinschaft aller Schaffenden« und die »Kameradschaft« sowie nicht zuletzt Robert Ley als »Arbeiterführer«, der gemeinsam mit den Arbeitern im Lastwagen zur Baustelle fuhr, in den Vordergrund. Volksblatt (Euskirchen), 17. Dezember 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 73f. – Verwiesen sei schließlich auch auf die nationalsozialistischen Propagandafilme »Festung des Geistes« (Atelier Schmeck, Aachen, 1934) oder »Die Bauten Adolf Hitlers« (1935/36). Vgl. beispielhaft Kölnische Illustrierte Zeitung, 1. April 1938, sowie die Ausgabe vom 30. Juni 1938. Montjoi’r Volksblatt, 8. Mai 1936; HEINEN, NS-Presse, S. 7. Grenzkreis Schleiden im Gau Köln-Aachen. Das Land der Berge, Wälder und Seen rings um die Ordensburg Vogelsang, o.O. 1937. In den beiden ländlich strukturierten Kreisen bezogen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre etwa 80 Prozent der Einwohner ihren Lebensunterhalt als Hauptund Nebenerwerbslandwirte. Hatte die Eifel auch in den 1920er Jahren insgesamt als Notstandsgebiet gegolten, so gilt dies besonders für die Kreise Schleiden und Euskirchen mit ihren lediglich »inselhafte«‹ Industriestandorten (Mechernich, Kall, Euskirchen). Vgl. WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S. 8, 19f.; OBERMÜLLER, Benjamin: Zur Lage von Landwirtschaft und Gewerbe in der NSZeit. In: Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen, Bd. 2, S. 755–799. Vgl. auch LIMBURGER, Iris: Die Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg. Leben unter alliierter Besatzungsherrschaft in Köln und der Eifel, 1918–1926. In: Geschichte in Köln 57 (2010), i. E.; LIMBURGER, Iris: Krisen der Eifel nach dem Ersten Weltkrieg, in: Eifel-Jahrbuch 2010, S. 67–75; LIMBURGER, Iris: Fehlentwicklungen und Krisen nach dem Ersten Weltkrieg in der Eifel. Besatzungszeit und Versailler Vertrag 1918–1920. (Unveröff. Magisterarbeit) Bonn 2008. Ferner die Hinweise bei van de GEY, Josef: Euskirchen als politische Gemeinde. Vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis zur Mitte der zwanziger Jahre. In: Stadt Euskirchen (Hg.): Euskirchen im 20. Jahrhundert. 700 Jahre Stadt Euskirchen 1302–2002, Euskirchen 2002, S. 89–133 sowie WEITZ, Reinhold: Euskirchen als französische Garnisonsstadt 1919–1929. In: ebd., S.  135–162. Vgl. ferner MATHAR, Ludwig: Von der preußischen Besitznahme bis zum Jahre 1933. In: Geschichtsverein des Kreises Monschau (Hg.): Das Monschauer Land. Historisch und geographisch gesehen, Monschau 1955, S.  127–227. Siehe insgesamt auch die Hinweise bei BLAICH, Grenzlandpolitik, S. 110ff., 117ff.; ECKERT, Arbeiter; GASTEN, Aachen, S. 246ff.; JAUD, Landkreis, S. 387ff., 405ff.; SOÉNIUS, Thomas Roth/Stefan Wunsch

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Ulrich S.: Die Zeit des Nationalsozialismus. In: Die Geschichte der unternehmerischen Selbstverwaltung in Köln 1914–1997, Köln 1997, S.  119–225, hier S. 127ff.; WALLRAFF, Nationalsozialismus, S. 409ff., 420ff., 429f., 432ff. WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S. 23: »In den Unternehmen des Schleidener Tals, die 1922 über 3.700 Arbeitskräfte beschäftigt hatten, waren 1925 keine 2.000 Personen tätig. Die Sparte Metallindustrie war dabei von 2.100 Arbeitern auf 520 geschrumpft. Ab 1930 wurden im Kreisgebiet 12 Firmen stillgelegt, 50 konnten nur die Hälfte ihrer Belegschaft beschäftigen. Der Hauptarbeitgeber, die Mechernicher Bleibergwerke, konnte nur mit staatlichen Kreditmitteln statt der bisherigen 1.500 Arbeiter knapp 1.000 halten. Die Bleihütte Call GmbH arbeitete mit nur 100 Beschäftigten, gegenüber 860 vor dem Weltkrieg.« Ging es kleineren mittelständischen Betrieben der Holzverarbeitung und der Papierindustrie relativ gesehen weniger schlecht, so lag das Handwerk im Kreis Schleiden darnieder. Im Kreis Euskirchen, dessen wirtschaftliche Lage Mitte der 1920er Jahre im Vergleich günstiger war als diejenige des Kreises Schleiden, sah es Ende der 1920er Jahre nicht besser aus. Auch hier schrumpften Industrie, Handwerk und Baugewerbe massiv. – Im Bereich des für beide Kreise zuständigen Arbeitsamtes Euskirchen mussten alleine 1932 in der Stadt Euskirchen mehr als zehn Prozent der Einwohner – 16 Prozent der Wahlberechtigten – unterstützt werden. Vgl. WEITZ, Zeit des Nationalsozialismus, S. 23ff. sowie JAUD, Landkreis, S. 97ff., 123ff.; PLUM, Gesellschaftsstruktur, S.  15ff., passim, und BRUCKNER, Clemens/KELLENBENZ, Hermann: Zur Wirtschaftsgeschichte des Regierungsbezirks Aachen, Köln 1967. Für Sonthofen hat Gerhard Klein ausgeführt, dass der Bau der »Ordensburg« einen erheblichen Aufschwung des Ortes zur Folge hatte, vgl. KLEIN, Sonthofen. So werden im September 1934 650 Arbeiter genannt, 700 im Dezember 1934. Westdeutscher Beobachter (Euskirchen), 24. September 1934; Westdeutscher Beobachter (Euskirchen), 19. Dezember 1934; ARNTZ, Vogelsang, S. 39, 56. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 31. – Zeitzeugen sprechen mit Blick auf Vogelsang immer wieder von Hunderten Männern, die nach den Notjahren im Gefolge der Wirtschaftskrise wieder in Arbeit kamen. Die Dörfer der Region sowie Schleiden, Gemünd, Heimbach, Monschau usw. hätten deutlich profitiert. Vgl. ESCH, Wollseifen, S. 155f.; ARNTZ, Vogelsang, S. 23. – Bisweilen werden Zahlen von bis zu 1.500 Arbeitern genannt, vgl. etwa HENN, Hans/GREIN, Albert/ DIEGELER, Joachim: Wollersheim. Ein Eifeldorf zwischen Krieg und Frieden, Düren 2008, S. 23. Westdeutscher Beobachter, 19. März 1936; HEINEN, Chronik, S. 6; HEINEN, Vogelsang, S. 21f.; HÖGER, Julia: Die sozialökonomischen Effekte des Baus der »Ordensburg« Vogelsang unter besonderer Berücksichtigung des regionalen Arbeitsmarktes. (unveröff. Examensarbeit) Aachen (RWTH) 2009, S. 21. Vgl. JAUD, Landkreis; WALLRAFF, Nationalsozialismus, v. a. S. 401ff. Zeitzeugengespräche 2009 im Rahmen eines Zeitzeugenprojektes für die geplante NS-Dokumentation Vogelsang, auf den Einzelnachweis wird hier verzichtet. – Es

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gibt vage Berichte von Zeitzeugen über Arbeitskräfte, die angeblich aus der belgischen Eifel kamen, diesen Hinweisen bleibt nachzugehen. Vgl. Festschrift Stamm & Co., Sammlung F. A. Heinen, Schleiden; Festschrift zum IV. Kreistag der NSDAP des Grenzkreises Schleiden. – Archiv Vogelsang. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 30. Beim Bau Vogelsangs schlossen sich fünf Zimmermannsbetriebe zusammen, um so ihren Teilauftrag erledigen zu können. Landrat Josef Schramm an Regierung Aachen, November 1940. – Stadtarchiv (StA) Schleiden, Altakten Gemünd, Ordensburg Vogelsang 1940, Nr. 1–2. Siehe auch HEINEN, Chronik, S. 41. – Manche Berichte über regionale Unternehmen im Zusammenhang mit Vogelsang haben jedoch quasi anekdotischen Charakter und müssen als ein »on dit« gelten: Geschichten wie die vom kleinen Fuhrunternehmer aus der Zülpicher Gegend, der zunächst mit einem Lkw für Vogelsang gearbeitet habe und schließlich einen ganzen Fuhrpark auf dem Hof stehen hatte, sind nicht selten. Sie sind auch nicht gänzlich unglaubwürdig. Den meisten dieser Beispiele ist jedoch gemein, dass es schwierig ist, sie durch andere Quellen zu verifizieren, oder zu exakten Daten und Zahlen zu kommen. Angemerkt sei auch, dass man (neben einer schwierigen Quellenlage) leider auch auf das Problem stößt, dass auf bestimmte Familien und/oder Unternehmen Rücksicht genommen wird und bestimmte Aussagen daher nicht zitierfähig sind. Vgl. hierzu u. a. BLAICH, Grenzlandpolitik; PLUM, Gesellschaftsstruktur. Vgl. etwa JAUD, Landkreis, S. 387ff.; WALLRAFF, Nationalsozialismus, S. 409ff.; SIEBENEICK, Hans: 150 Jahre Landwirtschaft im Kreis Düren, Düren o.  J. [1968]. Vgl. HEINEN, Chronik, S. 5, für 1936. Ebd., für den Großraum Schleiden im Jahre 1936. Vgl. auch das Sammelheft für die Neubauten im Regierungsbezirk Aachen, vorgelegt mit Schreiben des RP Aachen vom 29. November 193. – HStAD, Reg. Aachen, Nr. 20116. HÖGER, Effekte, S.  40; Westdeutscher Beobachter, 9.  November 1934. Demnach betrug die Zahl der Notstandsarbeiter im gesamten Rheinland Ende Juni 1934 31.031. Vgl. hierzu PAUL, Johann: Grenzen der Belastbarkeit. Die Flüsse Rur (Roer) und Inde im Industriezeitalter, Jülich 1994, S. 126–133; JAUD, Landkreis, S. 394ff.; SAUPP, Norbert: Heimbach. Blens, Düttling, Hausen, Hasenfeld, Hergarten, Vlatten. Geschichte einer Stadt, Heimbach 1993, S. 125ff.; HStAD, Reg. Aachen, Nr. 16881; SCHNEIDER, Michael: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 715; Jahresbericht 1935 zum Haushaltsplan des Kreises Schleiden, zit. n. HÖGER, Effekte, S. 41. HEINEN, Chronik, S.  5, beziffert die Anzahl der Notstandsarbeiter beim Bau der Staubecken Heimbach und Obermaubach mit 500 Personen. Vgl. auch SIEBENEICK, 150 Jahre, S. 25. PAUL, Grenzen der Belastbarkeit, S. 129f. Die Kalltalsperre als mit Abstand größtes Arbeitsbeschaffungsprojekt des Landkreises Aachen wurde im März 1934 begonnen und im August 1936 durch Gauleiter Grohé eingeweiht. Auch hier verlief die propagandistische Inszenierung – Thomas Roth/Stefan Wunsch

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die »Arbeitsschlacht im Kalltal« – vergleichbar, und die Pläne hatten ebenfalls 1933 bereits in der Schublade gelegen. Vgl. JAUD, Landkreis, S. 388ff. Hierzu bereitet Gabriele Rünger eine Studie vor. Vgl. hierzu u.  a. GROSS, Manfred: Der Westwall zwischen Niederrhein und Schnee-Eifel, Köln 1989; GROSS, Manfred/ROHDE, Horst/ROLF, Rudi/ WEGENER, Wolfgang: Der Westwall. Vom Denkmalwert des Unerfreulichen, 2 Bde., Köln 1997; GROSS, Manfred: Bunkerstellungen der Luftverteidigungszone West im Rheinland und Hitlers Hauptquartier in Bad Münstereifel-Rodert, Offenhausen 2001; FINGS, Karola: Im Westen nichts Neues? Ein kritischer Seitenblick auf Literatur zum Westwall. In: Geschichte in Köln 54 (2007), S. 262–270; FINGS/MÖLLER, Zukunftsprojekt Westwall; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 12, 21, 31; HANF, Westwallbau; ferner exemplarisch die Hinweise bei SCHAD, Hans-Josef/SCHAD, Gisela: Manderfeld und Auw. In: JENNIGES, Wolfgang (Hg.): Gestalten und Entwicklungen. Historische Streifzüge zwischen Rhein und Maas. Hubert Jenniges zum 70. Geburtstag als Festgabe gewidmet, Löwen/St. Vith 2004, S. 271–291, hier S. 284f.; HEINEN, Chronik, S. 29. – Vogelsang wurde durch die Bauten der sogenannten »Vorstellung Vogelsang« eingebunden und durch die vorgeschobene, ab dem 1. März 1939 errichtete »Flak-Batteriestellung Vogelsang« auch in die »Luftverteidigungszone West« einbezogen. Vgl. hierzu JAUD, Landkreis, S.  491ff. sowie SCHNEIDER, Unterm Hakenkreuz, S. 206. Hinweise bei DICK, Hans-Gerd: Hundert Jahre gut und sicher wohnen. Geschichte der Euskirchener Gemeinnützigen Baugesellschaft mbH 1907–2007, Weilerswist 2007, S. 105–155; SOMMERSBERG, Annika: Der Hitler-Mythos im Westdeutschen Beobachter: Euskirchen im Dritten Reich, Tönning 2005, S. 274f. Zum Düren-Jülicher-Land vgl. WALLRAFF, Nationalsozialismus, S. 423ff. Vgl. allgemein HACHTMANN, Rüdiger: Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007; WEISS, Hermann: Ideologie der Freizeit im Dritten Reich. Die NS-Gemeinschaft »Kraft durch Freude«. In: Archiv für Sozialgeschichte 33 (1993), S. 289–303. Vgl. auch HÖGER, Effekte, S. 58ff. sowie die Presseberichte über die Sondertagung der KdF im August 1937 in Vogelsang. – BA R 187/257. Westdeutscher Beobachter, 4. Juni 1934. Vgl. OBERMÜLLER, Landwirtschaft, S. 791. Vgl. beispielsweise GLÄSER, Klaus E.: Der Fremdenverkehr in der Nordwesteifel und seine kulturgeographischen Auswirkungen, Wiesbaden 1970, S.  23f.; Zeitzeugengespräch mit Helmut O., Juni 2009. VOGELSANG, Planungsbezirk Aachen, S. 35. SCHOLTZ, NS-Ordensburgen, S. 278. SCHOLTZ, Ausleseschulen, S.  163f.; LESER, Klotz, S.  170. Vgl. auch LICHTENSTEIN, Heiner: Schulung unterm Hakenkreuz: Die Ordensburg Vogelsang. In: FÖRST, Walter (Hg.): Menschen, Landschaft und Geschichte: Ein rheinischwestfälisches Lesebuch, Köln/Berlin 1965, S. 129–140; ROSENDAHL-KRAAS, Birgit: Die Stadt der Volkstraktorenwerke. Eine Stadtutopie im »Dritten Reich«. Die Planungen und Großbauten der Deutschen Arbeitsfront für die Stadt WaldVogelsang in der Region

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bröl, Wiehl 1999, sowie insgesamt zum Kontext LIEBSCHER, Daniela: Freude und Arbeit. Zur internationalen Freizeit- und Sozialpolitik des faschistischen Italien und des NS-Regimes, Köln 2009. Vgl. HÖGER, Effekte, S. 42ff. Arbeitslose in den Kreisen Euskirchen/Schleiden, Januar 1934: 4.429; April 1935: 3.932; Juli 1935: 3.426; Dezember 1936: 3.229; Januar 1937: 3.323; März 1937: 2.126; April 1937: 1.706; Mai 1937: 1.390; August 1937: 943. Für den Kreis Düren: Januar 1934: 7.408; August 1937: 2.136. – Ab Juli 1934 erhielt der Kreis Euskirchen angesichts des Aufschwungs keine Reichshilfen mehr. Vgl. die Hinweise bei ARNTZ, Vogelsang, S.  24; HEINEN, NS-Presse, S.  6; HERZOG, Monika: Die Ordensburg Vogelsang. Nationalsozialistisches »Erbe« im Nationalpark Eifel. In: Rheinische Heimatpflege, NF 41 (2004), S. 81–93, hier S. 82; HÖGER, Effekte, S. 84f. Das teils als Ackerland genutzte, teils mit Wald bestandene Gelände von 110 Hektar hatte sich in der Hand von Einwohnern der Orte Dreiborn, Morsbach und Wollseifen befunden. Sein Wert wurde mit rund 145.000 Reichsmark beziffert, der Erwerb ging schließlich offenbar zügig voran. ARNTZ, Vogelsang, S.  24; ESCH, Wollseifen, S. 155. Vgl. ebd., S. 155f. sowie die Filmdokumentation von SCHUBERT, Dietrich: Erinnerungen an Wollseifen, 2006. Vgl. Lagebericht der Gestapo Aachen vom 4. September 1934. – HStAD, Reg. Aachen, Präsidialbüro, Nr. 1024, unter Hinweis auf die »arbeitspolitischen Maßnahmen, wie Staubecken Heimbach, Rurtalsperre Schwammenauel, Reichsschulungslager Vogelsang«. Landrat Josef Schramm an Regierung Aachen, November 1940. – StA Schleiden, Altakten Gemünd, Ordensburg Vogelsang 1940, Nr. 1–2. Vgl. Rheinische Blätter 16 (1939), S. 643–646. – Diese Übersicht ist keineswegs vollständig, sondern bietet vorerst nur einen punktuellen Einblick. Vgl. ebd., S. 645 (Telefunken) sowie Hautau – Schauburg-Lippische BaubeschlägeFabrik, Katalog o.  O. 1940, mit entsprechenden Referenzen für Vogelsang und Krössinsee (Fenster). Durch die DAF bzw. das Reichsschulungsamt Berlin; vgl. HEINEN, Chronik, S.  8; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S.  30. Vgl. allgemein POHL, Manfred: Philipp Holzmann. Geschichte eines Bauunternehmens 1849–1999, München 1999. Vgl. Unser Kampf um die goldene Fahne. Gau Köln-Aachen, Köln 1941, S. 178f. Zeitzeugeninterview F. A. Heinen mit Hubert B., 10. September 2009, sowie weitere Unterlagen, jeweils Sammlung F. A. Heinen, Schleiden; Rechnungen Elsche im Archiv Vogelsang. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 30. Hugo Simon, Mitinhaber der Regro Heizungs- und Installationsgemeinschaft Muth & Co. in Köln. Vgl. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 26, 30. Sein Sohn Heinrich Simon wurde Stabsleiter von Ley in der Reichsorganisationsleitung der NSDAP. Thomas Roth/Stefan Wunsch

122 Vgl. u. a. LESER, Klotz; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 26ff. sowie die Hinweise bei HAGSPIEL, Wolfram: Die nationalsozialistische Stadtplanung in und für Köln. In: Geschichte in Köln 9 (1981), S.  89–107; HAGSPIEL, Wolfram: Reflexe – Die nationalsozialistische Stadtplanung von Köln und ihre Widerspiegelung im heutigen Stadtbild. In: MATZERATH, Horst/BUHLAN, Harald/ BECKER-JÁKLI, Barbara (Hg.): Versteckte Vergangenheit. Über den Umgang mit der NS-Zeit in Köln, Köln 1994, S. 73–84. 123 Der Architekt Liebermann ( Jahrgang 1893) stammte ebenfalls aus Köln, er war Bauleiter von Vogelsang vom 15. Mai 1934 bis zum 31. Oktober 1937. Sein Nachfolger war ab 1.  Januar 1938 Friedrich Hähnlein (bis 1941); vgl. SCHMITZEHMKE, Vogelsang, S. 29; HEINEN, Chronik, S. 4, 15. 124 Letztlich auch an den Architekturfotografen Hugo Schmölz und den Modellbauer Boffin, vgl. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 27, 62. Zu Meller, der sich 1942 um ein Atelier in Vogelsang bemühte (Heinrich Bruhn an Meller, 9. November 1942, BA NS 22/166), vgl. u. a. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 29f.; sowie v. a. ECKSTEIN, Beate: Das Werk des Bildhauers Willy Meller bis 1945. (unveröff. Magisterarbeit) Köln 1998; HESSE, Hans/PURPUS, Elke: »Bei uns wurde weiter vom Bau gesprochen und nicht von Politik. Wieso sollten wir hellsichtiger sein als viele kluge Männer im In- und Ausland«. Anmerkungen zu dem Künstler Wilhelm (Willy) Meller (1887–1974). In: Jahrbuch des Frechener Geschichtsvereins 5 (2009), S. 187–206. 125 Vgl. die Hinweise bei SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 30f. 126 Landrat Josef Schramm an Regierung Aachen, November 1940. – StA Schleiden, Altakten Gemünd, Ordensburg Vogelsang 1940, Nr. 1–2. 127 Ebd. 128 Insgesamt ist hier nicht nur ein Vergleich mit Projekten in der Region anzustreben, sondern auch mit weiteren Einrichtungen in anderen Regionen sowie natürlich mit Krössinsee und Sonthofen. 129 Leys ursprüngliche Idee, multifunktionale Barackenlager für KDF-Urlauber und die Schulung der Politischen Leiter der NSDAP zu errichten, lässt sich sowohl an der Anlage in Vogelsang als auch an der in Krössinsee ablesen. Vgl. das Zitat von Ley aus dem Jahre 1939 bei HEINEN, Ideengeschichte, S. 8f. Vgl. auch FRÜCHTEL, Michael: Der Architekt Hermann Giesler. Leben und Werk (1898–1987), München 2008, S. 71; LESER, Klotz, S. 166ff. 130 Dort sollte ursprünglich ein Sommerurlaubslager der DAF entstehen, vgl. LICHTENSTEIN, Schulung, S. 131f.; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 18 sowie den Hinweis bei LIEBSCHER, Freude und Arbeit, S. 313f. – Ob Ley zunächst wirklich Nonnenwerth als Standort gewählt habe, dann von Klotz jedoch davon abgebracht worden sei, bleibt zu prüfen. 131 Hinweise bietet die in Anm. 55 genannte Literatur. – Vgl. zudem SAUPP, Heimbach, S.  129, und POMYKAI, Gerhard/DICK, Volker: Oberbergische Geschichte. Bd. 3: Von der Weimarer Republik bis zur Jahrtausendwende, Wiehl 2001, S. 67ff. Hinweise, die unsere These zum Einfluss der »Gauclique« stützen, finden sich auch bei MATZERATH, Horst: Köln in der Zeit des NationalsozialisVogelsang in der Region

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mus 1933–1945, Köln 2009, u. a. S. 110f. Aus der zeitgenössischen Literatur seien u. a. erwähnt: KIEHL, Walter: Mann an der Fahne. Kameraden erzählen von Dr. Ley, München 1938; SCHMIDT, Zwanzig Jahre Soldat Adolf Hitlers, sowie LEY, Robert: Wir alle helfen dem Führer. HACHTMANN, Koloss, S. 23. Zumal Ley den Bau ja zunächst alleine verantwortete, vgl. etwa SCHOLTZ, Ausleseschulen, S. 163; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 25. Ebd., S. 11, dort auch zu den unterschiedlichen Versionen, die Ley, Rosenberg und Hermann Giesler zur Entstehungsgeschichte der Schulungseinrichtungen verbreiteten. Vgl. auch HEINEN, Ideengeschichte. Vgl. v. a. SCHMIDT, Zwanzig Jahre Soldat Adolf Hitlers, sowie KIEHL, Mann an der Fahne. Zu Grohé vgl. v. a. KLARZYK, NSDAP-Gauleiter. Rudolf Schmeer war 1931/32 stellvertretender Gauleiter Köln-Aachen, 1932 Stabsleiter von Robert Ley, 1933 sein Nachfolger als Reichsinspekteur der NSDAP und Stellvertreter Leys als DAF-Führer. Zu den »alten Kämpfern« im Gau Köln-Aachen zählte auch sein älterer Bruder Eduard, u.  a. NSDAP-Kreisleiter Aachen-Stadt. Zu Peter Binz, u. a. NSDAP-Kreisleiter Düren, vgl. WALLRAFF, Nationalsozialismus, S. A5. Franz Binz, u. a. bekannt als Redner und Schriftleiter des Westdeutschen Beobachter (1930–1933), war zudem von 1935 bis 1938 Gaubeauftragter und stellvertretender Gauobmann der DAF im Gau Köln-Aachen. Vgl. u. a. WALLRAFF, Nationalsozialismus, S.  A4; HEINEN, Gottlos, S.  130; LILLA, Statisten, S. 40f. – Sein Nachfolger als Kreisleiter des Kreises Schleiden war Felix Frangenberg (1897–1965). Vgl. HEINEN, Gottlos, S. 131 und den diesbezüglichen Schriftwechsel in BA NS 22/176. Schramm war promovierter Jurist und langjähriges Zentrumsmitglied, stammte aus Hambach und begann seine Karriere in der preußischen Verwaltung 1925. Nach Posten in Prüm und Aachen hatte er bereits 1932 Aussichten, Landrat in Schleiden zu werden. Er wurde »im Einvernehmen mit Gauleiter Grohé« im Juli 1933 vertretungsweise mit der Wahrnehmung der Landratsstelle betraut, im Dezember 1933 war er kommissarischer Landrat und zum 1. Februar 1934 wurde er schließlich endgültig berufen. Neben Schramm ist im Kontext einer regionalgeschichtlichen Betrachtung auch Landeshauptmann Heinrich Haake von Interesse, vgl. zu ihm u. a. ROMEYK, Haake. Zuvor war Schramm von 1934 bis 1938 zweiter Vorsitzender des Eifelvereins. Werner Rosen, Jahrgang 1923, ehemaliger Gemeindedirektor Hellenthals, im Gespräch mit Reinhold Weitz, vgl. WEITZ, Reinhold: Machtergreifung und Gleichschaltung. In: Nationalsozialismus im Kreis Euskirchen, Bd. 1, S. 165–252, hier v. a. S. 212f. Schramm profilierte sich in der NS-Zeit als energischer, quasi unpolitischer Macher – und wird von vielen bis heute in dieser Rolle geschätzt. Gleichwohl kam Reinhold Weitz 2007 zu einer kritischen Einschätzung des bis 1945 linientreuen Schramm, der sich vorwerfen lassen müsse, »sich mehr als nötig Thomas Roth/Stefan Wunsch

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dem Regime angedient zu haben« (ebd.). Eine Einschätzung, die etwa Klaus Pabst – in Bezug auf Schramm Zeitzeuge wie Historiker – teilt. WEITZ, Machtergreifung, S. 212f. SCHRAMM, [ Josef ]: Kulturaufgaben der Westmark im Blickfeld der Eifel. In: Rheinische Blätter 16 (1939), S.  255–256. – Die Idee von der »Ordensburg« Vogelsang als Kulturzentrum im Westen findet sich auch in Der Orden Nr. 3 (1938). SAUPP, NS-Architektur; SAUPP, Heimbach; NEU, Peter: »Im Ausstrahlungsgebiet der Ordensburg Vogelsang sind städtebauliche Maßnahmen vordringlich.« Die Umgestaltung Heimbachs zur NS-Musterstadt. (unveröff. Vortragsmanuskript) Köln 2005, Archiv des Geschichtsvereins Stadt Heimbach e. V. Peter Neu zitiert auch das Schreiben der Regierung Aachen von 1938, wonach »im Ausstrahlungsgebiet der Ordensburg Vogelsang sowie in den Randgebieten des Urftsees und der Rurtalsperre […] vorausschauende Planungen vordringlich« seien. HESSE, Anja: Malerei des Nationalsozialismus. Der Maler Werner Peiner (1897–1984), Hildesheim 1995; DOLL, Nikola: Mäzenatentum und Kunstförderung im Nationalsozialismus. Werner Peiner und Hermann Göring, Weimar 2009. Zu diesem Komplex sind weitere Erkenntnisse von den Forschungen Ilka Dischereits im Rahmen des erwähnten Forschungs- und Publikationsprojektes des Geschichtsvereins des Kreises Euskirchen zu erwarten. HERZOG, Architekturführer Vogelsang, S.  25. – Die Einweihung der »Hermann-Göring-Meisterschule« am 6.  Juni 1938 durch Hermann Göring wurde zum regionalen Großereignis. Der Ort Kronenburg selbst nahm übrigens mit der Malerschule – und mit dem Bau des Westwalls – einen beträchtlichen Aufschwung. Vgl. DOLL, Mäzenatentum, S. 270, Anm. 949, passim. Zeitzeugin D. aus Wollseifen, zitiert nach ESCH, Wollseifen, S. 155. HEINEN, Chronik, S. 39. Programm des Burgfestes, 19.–20. August 1939. – Archiv Vogelsang; Der Angriff, 24. August 1939, Kopie ebd. Die Fahrten am Sonntag für die »Junker« mit ihren Gattinnen sowie die »Beamten« sahen laut Programm folgende Routen und touristische Highlights vor: 1.: Monschau – Simmerath – Strauch – Nideggen – Heimbach – Gemünd – Monschau. 2.: Schleiden – Blankenheim – Losheim – Losheimer Graben – Kronenburg – Schleiden. 3.: Gemünd – Kall – Mechernich – Eiserfey – Kakushöhle – Münstereifel – Kommern – Kall – Gemünd. Auch die andere Perspektive, das heißt die Frage, wie die Eifel denn von den »Junkern« und den »Adolf-Hitler-Schülern« wahrgenommen wurde, sollte im Blick behalten werden, soweit die Quellen dies zulassen. Zeitzeugeninterviews können hier gewisse Aufschlüsse bieten. Vgl. Der Orden Nr. 5 (1938). Nachzugehen bleibt Hinweisen wie etwa der sich auf das Jahr 1939 beziehenden Behauptung Schramms: »Der im Sommer vorigen Jahres ständig überlaufene Gaststättenbetrieb auf der Burg muss sich jetzt auf die Bewirtung der Burgangestellten und Arbeiter beschränken.« Landrat Josef Schramm an Regierung Aachen, November 1940. – Stadtarchiv (StA) Schleiden, Altakten Gemünd, Ordensburg Vogelsang 1940, Nr. 1–2. Vogelsang in der Region

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152 Vgl. HEINEN, Eifel im Fokus sowie HEINEN, Chronik, S. 7, 9 und den diesbezüglichen Schriftwechsel samt Tagungsprogramm und Presseecho in BA NS 25/1642; BA R 187/257. 153 Volksblatt (Euskirchen), 21. November 1936; Westdeutscher Beobachter, 21. November 1936; ARNTZ, Vogelsang, S. 138ff. Vgl. auch HENN/GREIN/DIEGELER, Wollersheim, S. 23f. 154 ROTH, Thomas: Forschungsbericht und -perspektiven zur Geschichte der NSOrdensburg Vogelsang, (unveröff. Ms.) [Bonn] 2009, S. C–2. – Auf den durch die vielen weiteren Tagungen und Schulungslager verursachten Rummel kann nur verwiesen werden, vgl. etwa HEINEN, Chronik, S. 10, 11, 28, 34; HEINEN, Vogelsang, S. 31; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 14f. Es handelte sich u. a. um: 15.–21. August 1937: Tagung von 800 Kreisobmännern der DAF; August 1937: Tagung der Gauwarte der KdF; August 1937: Tagung der Gauabteilungsleiter; September 1937: Schulungslager für 800 Medizinstudenten; Oktober 1937: Lehrgang von 500 Ärzten (Hauptamt für Volksgesundheit); August 1938: Arbeitstagung der Gauobmänner, Gauhandwerkswalter und Kreishandwerkswalter der DAF; März/April 1939: Arbeitstagung der Agrarpolitiker; April 1939: Tagung von 1.100 Gau- und Kreispropagandaleitern der NSDAP und 800 Waltern der DAF usw. Zu fragen wäre auch, ob und wie die Jahresabschlussappelle des SS-Oberabschnittes West wahrgenommen wurden. – Vgl. dazu Der Orden Nr. 10 (1939); SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 14. 155 Sie unternahmen auch Eifeltouren, gingen in Köln und Aachen in die Oper und ins Theater; vgl. ARNTZ, Vogelsang, S.  104f. In Bonn besuchten »Junker« 1936/37 das neu eröffnete Rheinische Landesmuseum; vgl. BOURESH, Bettina: Die Neuordnung des Rheinischen Landesmuseums Bonn 1930–1939. Zur nationalsozialistischen Kulturpolitik der Rheinprovinz, Köln 1996, S. 178. Auch Düsseldorf und das Bergische Land oder der Nürburgring wurden von ihnen aufgesucht; im Januar 1938 führte eine Exkursion nach Flandern zu Schauplätzen des Ersten Weltkriegs; vgl. Der Orden Nr. 1 (1938). 156 SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 16; HEINEN, Chronik, S. 11. 157 SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 15f.; HEINEN, Chronik S. 26, 28. Auch aus der Perspektive der NSDAP im Kreis Schleiden spielte Vogelsang eine bedeutende Rolle. Dies zeigt beispielsweise nicht nur der Raum, der der Darstellung der »Ordensburg« im Rahmen des Kreistages der »NSDAP des Grenzkreises Schleiden« im Juni 1939 in Mechernich eingeräumt wurde, sondern auch die Teilnahme von Sportlern aus Vogelsang an diesem volksfestartigen Kreisparteitag. – Festschrift zum IV. Kreistag der NSDAP des Grenzkreises Schleiden. – Archiv Vogelsang. 158 AHS 4, Koblenz-Trier bzw. Moselland; AHS 7, Franken bzw. Hesselberg und AHS 10, Saarpfalz bzw. Westmark. Vgl. v. a. SCHOLTZ, Ausleseschulen, passim. Ferner HEINEN, Chronik, S. 44f. – Eine umfassende Geschichte der drei AHS in Vogelsang ist derzeit noch ein Forschungsdesiderat. Neue Ergebnisse sind im Zuge des derzeit laufenden, auf Vogelsang bezogenen Zeitzeugenprojektes zu erwarten. Die bislang im Rahmen dieses Projekts geführten Interviews sowie die in

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der Sammlung von F. A. Heinen dokumentierten Interviews enthalten wichtige Anhaltspunkte für die weitere Forschung. So etwa Zeitzeugeninterviews mit Friedrich T. (2009) oder Richard G. (2009). Tagebuch AHS »Franken« ( Jg. 1940). – Archiv Vogelsang, o.P. Ebd. HEINEN, Chronik, S. 35. Ebd., S. 7, 32, 40ff. StA Schleiden, Altakten Gemünd, Ordensburg Vogelsang 1940, Nr. 1–2. Siehe auch HEINEN, Chronik, S. 40ff. SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S.  12, 21; StA Schleiden, Altakten Gemünd, Ordensburg Vogelsang 1940, Nr. 1–2; HEINEN, Chronik, S. 40ff. ARNTZ, Vogelsang, S. 167; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 31; HEINEN, Chronik, S. 10. HEINEN, Chronik, S. 34f. – Keineswegs als Randaspekt sind ferner die Einquartierungen von Einheiten des Reichsarbeitsdienstes, die v. a. 1938 zum erwähnten Bau des Westwalls in Vogelsang untergebracht wurden, einzubeziehen; vgl. dazu SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 12; HEINEN, Chronik, S. 10, 28. ARNTZ, Vogelsang, S.  111f.; HEINEN, Chronik, S.  5f., 8; NEHLICH, Gemeinde Gemünd, sowie BIRMANNS, Martin: Die Aachener Justiz im Nationalsozialismus. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 101 (1997/98), S. 209–265, hier die Hinweise u. a. S. 228ff. – Dietel stellte es 1940 als »untragbar« für Vogelsang dar, dass Pfarrer beider christlicher Konfessionen die Forderung der seelsorgerischen Betreuung von »Junkern« und Stammpersonal erheben konnten. Vgl. auch StA Schleiden, Altakten Gemünd, Ordensburg Vogelsang 1940, Nr. 1–2; HEINEN, Chronik, S. 40ff. Zum Beispiel im Westdeutschen Beobachter (Monschau) am 23. März 1937; HEINEN, Chronik, S. 9, 36; HEINEN, Vogelsang, S. 32, sowie zum Kontext WEITZ, Katholische Kirche, S. 342, 354; WEITZ, Evangelische Kirche, S. 493f. Zu Hans Zander WEITZ, Anfänge, S. 144; WEITZ, Nationalsozialismus, S. 261, passim. Zanders »Eheweihe« in Vogelsang ist auf einem Film dokumentiert (Sammlung F. A. Heinen). – Zu den »Eheweihen« bereitet Hans-Gerd LAUSCHER einen Aufsatz mit Edition einer Ansprache für das »Monschauer Land« (2011) vor. Siehe etwa HEINEN, Vogelsang, S. 16ff. – Welche Bedeutung hatte das Ordensburg-Personal für Verfolgungsaktionen, auch in der Region? Bei Arntz finden sich vage Hinweise darauf, dass Ordensburg-Männer beim Judenpogrom 1938 in den Orten der Umgebung aktiv gewesen sein sollen. Vgl. etwa ARNTZ, Judenverfolgung, S. 364; ARNTZ, Hans-Dieter: Reichskristallnacht. Der Novemberpogrom 1938 auf dem Lande. Gerichtsakten und Zeugenaussagen am Beispiel der Eifel und Voreifel, Aachen 2008, S. 155. Vgl. HEINEN, Chronik, S. 42f. – Zu fragen wäre auch, ob im Kontext des Kriegsbeginns 1939 Reaktionen auf die Entlassung der weiblichen Angestellten zu verzeichnen sind; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 12. HEINEN, Chronik, S.  19–24; HEINEN, Franz Albert: Das Krankenhaus Vogelsang. Unveröff. Ms., Schleiden 2004; SCHMITZ-EHMKE, Vogelsang, S. 12f. Vogelsang in der Region

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Hierzu sind weitere Informationen im Rahmen des laufenden Zeitzeugenprojektes zu erwarten; eine Arbeit zum Wirken von Dr. Stefan Wunsch, u. a. »Burgarzt« in Vogelsang, ist von Stefan WUNSCH in Vorbereitung. HEINEN, Chronik, S. 44, nennt mit Bezug auf eine Zeitzeugin für 1943 »rund 20 ukrainische Zwangsarbeiterinnen«, die beispielsweise »zum Koksschaufeln für die Heizung eingesetzt« wurden. 1942 wurden »Fremdarbeiter« für den Küchendienst und die Gebäudewartung eingesetzt: ebd., S. 44f.; ARNTZ, Vogelsang, S. 215. Zeitzeugen wie der ehemalige AHS Richard G. oder der ehemalige Angestellte Hubert B. haben dies unabhängig voneinander 2009 mit leicht variierenden Zahlenangaben (10–15) bestätigt. HEINEN, Chronik, S. 46. Ebd., S. 47; Sammlung F. A. Heinen; weitere Informationen sind im Rahmen des Zeitzeugenprojektes zu erwarten. Auch hier bieten Interviews im Rahmen des Zeitzeugenprojekts sowie die Sammlung von F.  A. Heinen wichtige Anhaltspunkte für die weitere Forschung und Dokumentation. Zum Hürtgenwald mit Forschungsperspektiven und dem neuesten Forschungsstand vgl. RASS, Christoph/LOHMEIER, Jens/ROHRKAMP, René: Wenn ein Ort zum Schlachtfeld wird – Zur Geschichte des Hürtgenwaldes als Schauplatz massenhaften Tötens und Sterbens seit 1944. In: Geschichte in Köln 56 (2009), S. 299–332. Vgl. die Beiträge von HEINEN, LOWER oder THAMER in diesem Band.

Thomas Roth/Stefan Wunsch

Wendy Lower

Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine Zivilverwalter und der Holocaust in Shitomir*

Die Nationalsozialisten entwarfen finstere, utopische Pläne, um die natürlichen Ressourcen der Ukraine und die Arbeitskraft der ukrainischen Bevölkerung auszubeuten; Pläne, die nach ihrer Überzeugung absolut notwendig waren, um die Zukunft des Reichs zu sichern. Demnach war die kontinuierliche Versorgung der deutschen Armee sowie der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln an die Lieferung von Getreide, Vieh und anderen landwirtschaftlichen Produkten aus der Ukraine gebunden. Das Überleben der ›Arischen Rasse‹ hing für die Nationalsozialisten von der totalen Niederlage ihres Erzfeindes ab: ›des‹ Juden, vor allem des ›bolschewistischen‹ Juden. Da der größte Teil der sowjetischen Juden in der Ukraine, der ›Kornkammer Europas‹, lebte, war nach nationalsozialistischer Vorstellung viel zu tun; gleichzeitig galt es, bei der Eroberung und Ausbeutung der Ukraine keine Zeit zu verschwenden. Im Taumel der Siegeseuphorie und der Phantasien, die um die Errichtung eines nationalsozialistischen Imperiums kreisten, sprach Hitler Mitte Juli 1941 vor einem kleinen Kreis von Entscheidungsträgern aus Staat, Partei und Militär über seine Pläne, in den neu eroberten östlichen Gebieten einen »Garten Eden« zu schaffen und die Krim in das Reichsgebiet einzubeziehen.1 Einen Monat später, als die deutsch-sowjetische Front vor Kiew verlief, befahl Hitler, dass die am weitesten westlich gelegenen Gebiete der Ukraine – außer Galizien, welches bereits dem Generalgouvernement zugeordnet worden war – zum 1. September 1941 aus der Militärverwaltung der Wehrmacht an die neu geschaffene zivile Besatzungsverwaltung zu übertragen waren.2 Rasch folgte eine Fülle von Führererlassen, mit denen die zivile Besatzungsverwaltung in der westlichen Ukraine aufgebaut werden sollte. Zunächst wurde die Stelle des Wehrmachtbefehlshabers Ukraine (WBU) als höchste militärische Befehlsgewalt innerhalb der unter ziviler Verwaltung stehenden Besatzungszone geschaffen. Hermann Göring, der designierte Nachfolger Hitlers, wurde als »Beauftragter für den Vierjahresplan« auch für die wirtschaftlichen Angelegenheiten der Ostgebiete zuständig. Dann setzte Hitler mit dem sogenannten Ostministerium formal eine zentrale Behörde als allgemeine Zivilverwaltung der besetzten sowjetischen Territorien ein und ernannte den »Chefideologen« der NSDAP, Alfred Rosenberg, zum Reichsminister für Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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die besetzten Ostgebiete (RMfdbO). Mit der Wahrnehmung der Polizei- und Sicherheitsaufgaben in den Ostgebieten wurde der »Reichsführer-SS« und »Chef der deutschen Polizei«, Heinrich Himmler, beauftragt.3 Die Erlasse, die die nationalsozialistische Herrschaft in der Ukraine etablierten, bestimmten allerdings nicht genau, wer letztlich die Verantwortung trug. Im Sommer 1941 waren nur die höchstrangigen Posten bestallt worden, und dies veranlasste Hitlers Beauftragte, eiligst nach geeignetem Personal für ihre Vorposten im Osten zu suchen. Die Lakaien Hitlers mussten jedoch auch entscheiden, wie ihre jeweiligen Behörden funktionieren sollten, und wie sie die Vorhaben ausführen würden, die sich am Ende schließlich als die radikalsten Kolonialisierungsmaßnahmen erwiesen, die die Geschichte der europäischen Eroberungen und der imperialen Bestrebungen kennt. Die nationalsozialistische Herrschaft in der Ukraine entwickelte sich stufenweise und ad hoc, und häufig wurde sie eher von persönlicher Bevorzugung, bereits erwiesener Gefolgschaft und bürokratischer Rivalität bestimmt als von individueller Kompetenz und Berufserfahrung. Innerhalb dieses organisierten Chaos existierte lediglich eine administrative Priorität, die derartige Unstimmigkeiten in der Verwaltung und die Diversität des Personals überwand: der nationalsozialistische Massenmord an den Juden. Am Vorabend des Überfalls auf die Sowjetunion hatten Rosenberg, Himmler und Göring damit begonnen, die strukturellen Rahmenbedingungen der deutschen Herrschaft in der Ukraine zu schaffen. Rosenberg bediente sich des Wissens zahlreicher deutscher und ukrainischer Emigranten, die Karten, demografische Berichte und andere wertvolle Informationen über die sowjetisierten Ostgebiete lieferten.4 Er plante eine ausgedehnte, sich aus Verwaltungskommissaren, Statistikern und Slawistik-Spezialisten zusammensetzende Bürokratie. Himmler und Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), stützten sich auf ihre Erfahrungen in Polen: Sie begannen mit einem kleineren, hierarchisch aufgebauten Stab von Höheren SS- und Polizeiführern sowie den Einsatzgruppen, woraus sich später ein umfassendes Netzwerk aus SS, mobilen Bataillonen der Ordnungspolizei und ländlichen Gendarmerie-Posten entwickelte, welches von Tausenden ukrainischen, kosakischen, litauischen und lettischen »Hilfswilligen« unterstützt wurde. Görings Plan, die gesamte Wirtschaftsverwaltung in den besetzten Ostgebieten mit Hilfe von technischen Wirtschaftsinspektoren, Geschäftsleuten und Landwirtschaftsführern zu kontrollieren, lief darauf hinaus, eine Wirtschaftsbehörde zu schaffen, die schließlich nur eine von mehreren hart untereinander konkurrierenden Organisationen darstellte, die die wirtschaftlichen Ressourcen der Ukraine brutal ausplünderten. Zu den Rivalen der Wirtschaftsbehörden Görings zählten das Reichsministerium für Ernährung 200

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und Landwirtschaft, die verschiedenen Wirtschaftsstellen der Wehrmacht, die für Nachschub, Proviant und Munition zuständig waren, sowie die SS-Wirtschaftsbetriebe aus Industrie und Bauwesen und Rosenbergs Zivilverwalter. Alle diese Dienststellen bestanden unabhängig voneinander, und ihre Vertreter vor Ort agierten im Kontext sich stetig weiterentwickelnder Verwaltungsorgane und inmitten einer völlig rückständigen Infrastruktur. Da die nationalsozialistischen Führer und ihre Befehlsempfänger an eine permanente deutsche Präsenz im Osten glaubten, wenn nicht gar an ein tausendjähriges Reich, das diese Gebiete beherrschen würde, war die alltägliche Herrschaft über das eroberte Land und seine Völker keineswegs, wie Hitler behauptete, nur eine Frage der Organisation. Die Belastungen der Kriegswirtschaft in Kombination mit unfähigem Personal und einer irrationalen, destruktiven Politik hatten einen extrem unbeständigen Herrschaftsapparat zur Folge, der in vielerlei Hinsicht selbstzerstörerisch war. Auch die höchsten nationalsozialistischen Amtsträger konnten sich ihrer Macht niemals sicher sein – nicht nur, weil Hitler in seinen Entscheidungen unberechenbar war, sondern auch aufgrund der Übergriffe von Himmlers SS-Imperium, der wechselnden politischen Prioritäten und des anhaltenden Abzugs von Personal zur Wehrmacht. Zwar klagten sie immer wieder über personelle und materielle Engpässe, doch gleichzeitig setzten die NS-Funktionäre den mörderischen politischen Terror in die Tat um, der ihnen die Mehrheit der ukrainischen Bauern zum Feind machte und die jüdische Intelligenz sowie die jüdische Handwerkerschaft vernichtete. Diese verheerende, verbrecherische Politik war zwar weitgehend von oben diktiert, ausgeführt wurde sie jedoch von den Gebietskommissaren, Hitlers Kolonisatoren vor Ort: Es handelte sich um einen bunten Haufen von Bürokraten der mittleren Verwaltungsebene, Parteisoldaten und marginalisierten SA-Führern, denen die – oftmals ungehemmte – Machtausübung über Millionen von Einwohnern und riesige Gebiete übertragen wurde. Auch wenn sie unterschiedliche Motive verfolgten, missbrauchten – wie im Folgenden noch aufgezeigt werden wird – die meisten von ihnen ihre Machtposition in furchtbarer Weise. Die folgenden Ausführungen stellen die Gebietskommissare in den Mittelpunkt und fragen vor allem danach, inwieweit sie eigenmächtig agierten und wie sie mit ihren Vorgesetzten auf der regionalen Verwaltungsebene interagierten. Insgesamt gab es mindestens 114 Gebietskommissare im Reichskommissariat Ukraine (RKU), die sechs Generalkommissaren auf der regionalen Ebene unterstanden. Die Generalkommissare wiederum unterstanden direkt dem Reichskommissar für die Ukraine, der seinerseits, zumindest theoretisch, dem Ministerium Rosenbergs unterstellt war. Die Kommissare waren für die Behandlung der jüdischen Bevölkerung zuständig und somit Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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47 Zeitgenössische Karte des Reichskommissariats Ukraine; eingezeichnet sind u. a. Orte, in denen Gebietskommissare aus den »Ordensburgen« eingesetzt wurden.

auch für den Kurs der antijüdischen Politik in diesen peripheren Gebieten des NS-Reiches. Gemäß den Vorstellungen Hitlers vom Aufbau der Verwaltung im Osten, habe »[die] Entscheidung der laufenden Angelegenheiten […] an Ort und Stelle durch den zuständigen Gebietskommissar zu geschehen.«5 Rosenberg wiederholte diesen Wunsch Hitlers in seinen Richtlinien für die Herrschaftsausübung in den Ostgebieten, wenn er festhielt, dass der Gebietskommissar die lokale Verwaltungsebene darstelle und demzufolge »bei ihm das Schwergewicht der gesamten Verwaltung« liege.6 202

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Die Gebietskommissare konnten zwar keine Gesetze erlassen, jedoch Anordnungen und Befehle, die aufgrund der Machtbefugnisse ihres Amtes tatsächlich den Charakter lokaler Rechtsvorschriften erhielten. Der Konzeption Hitlers und Rosenbergs entsprechend, sollten die Anweisungen aus Berlin so weit gefasst sein, dass die unteren Verwaltungsebenen eigene Methoden entwickeln konnten, um die Erwartungen und Forderungen ihrer Vorgesetzten zu erfüllen. Aus diesem Grund hatten die Gebietskommissare auch die Möglichkeit, sich für die Kooperation oder die Konkurrenz mit anderen deutschen Behörden in ihren Kommissariaten zu entscheiden. Zudem bestand für die Behördenleiter der unteren Verwaltungsebenen ein erheblicher Freiraum, eigene Interessen und Wünsche zu verfolgen, vor allem wenn diese mit den umfassenderen Zielen der NS-Führung übereinstimmten. Das Generalkommissariat Shitomir, welches im Folgenden im Mittelpunkt steht, zählte zu den sechs regionalen Regierungsinstanzen, die im Reichskommissariat Ukraine eingerichtet wurden.7 Es lag in der westlichen Ukraine, ungefähr 130 Kilometer westlich von Kiew. Zwar handelte es sich flächenmäßig nicht um das größte Generalkommissariat, jedoch war es im Vergleich mit den anderen üppig mit Personal ausgestattet. Zudem bestand es länger als die Kommissariate im Osten und Süden, und vor allem haben seine amtlichen Dokumente den Krieg überdauert. Im Sommer 1942 umfasste die Verwaltung der 25 Gebietskommissariate (später waren es 26), der zwei Stadtkommissariate und die in der Stadt Shitomir angesiedelte Zentrale des Generalkommissariats etwa 870 Reichsdeutsche. Die Bevölkerungszahl des Generalkommissariats Shitomir betrug rund 2,5 Millionen Menschen, die auf einer Fläche von ungefähr 64.800 Quadratkilometern lebten – zum Vergleich: Bayern zählt heute 70.551 Quadratkilometer.8 Im Durchschnitt war im Reichskommissariat Ukraine jeder Gebietskommissar für eine Fläche von ungefähr 3.000 Quadratkilometern zuständig, wobei die Bevölkerungszahl zwischen 50.000 und 300.000 Einwohnern variierte. Im Generalkommissariat Shitomir verwalteten ein Gebietskommissar und seine Mitarbeiter hingegen etwa 2.300 Quadratkilometer mit durchschnittlich 108.000 Einwohnern. Die Gebietskommissare waren zunächst dem Generalkommissar Kurt Klemm unterstellt, ab Oktober 1942 übte dann der SS-Brigadeführer und Reichstagsabgeordnete Ernst Leyser dieses Amt aus. Nach der Stadt Shitomir, die rund 42.000 Einwohner zählte, waren Winniza beziehungsweise Berditschew die zweit- und drittgrößten Städte des Generalkommissariats Shitomir.9 Ein eigener Referent für die »Judenfrage« war in der Zentralverwaltung des Generalkommissariats angesiedelt, nicht jedoch in den Verwaltungen der Gebietskommissariate; hier fiel dieser Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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Aufgabenbereich der Abteilung Politik und Propaganda zu, die vom stellvertretenden Gebietskommissar geleitet wurde, der zugleich die Funktion des örtlichen »Judenreferenten« bekleidete. Die Gebietskommissare bauten ihre ländlichen Verwaltungssitze mit jeweils etwa zehn deutschen Untergebenen und Dutzenden von einheimischen Helfern auf, die in insgesamt sechs Referaten arbeiteten: 1.) Politik und Propaganda, 2.) Verwaltung, 3.) Finanzen, 4.) Gesundheitswesen, 5.) Landwirtschaft und 6.) Arbeitseinsatz. Die Abteilung Politik und Propaganda stellte das bedeutendste dieser Referate dar, ihr Leiter war in der Regel stellvertretender Gebietskommissar. Die Leiter der Referate Gesundheitswesen und Landwirtschaft verwalteten die agrarischen und industriellen Kollektivbetriebe, wobei sie über ein Netzwerk ländlicher Feld- und Ortskommandanturen verfügten. Auch der Leiter des Referats Arbeitseinsatz stützte sich auf einige ländliche Stationen, in denen oftmals ein lokaler deutscher Arbeitskommissar amtierte. In der einheimischen Bevölkerung war der Leiter des Referats Arbeitseinsatz wegen der brutalen Methoden berüchtigt, mit denen er Ukrainer ergreifen und als Zwangsarbeiter für die Fabriken und Bauernhöfe im Reich deportieren ließ. Neben einigen Agrar- und Forstspezialisten verfügte ein Gebietskommissar über zumindest eine weibliche Schreibkraft sowie einige volksdeutsche Übersetzer.10 Wie die meisten europäischen Kolonialverwaltungen, so stützte sich auch die NS-Herrschaft in der Ukraine in großem Ausmaß auf einheimische Funktionäre und Kollaborateure. Nur selten wagte sich ein Gebietskommissar aus seinem Hauptquartier in die entfernteren Dörfer. Im ersten Jahr der Besatzung war dies nicht notwendig, anschließend wurde es in Anbetracht der zunehmenden Aktionen von Partisanen gegen die deutsche Herrschaft auch zu gefährlich. Die Gebietskommissare überwachten die verstreut lebende ländliche Bevölkerung mit Hilfe einheimischer Kollaborateure, die als Rayonführer und als Dorfälteste (starosta) bezeichnet wurden. Ukrainische Verwaltungskräfte wurden von den Kommissaren in größtmöglicher Zahl eingesetzt, die zudem in starkem Maße Volksdeutsche begünstigten, von denen jedoch viele nicht über die notwendigen Qualifikationen verfügten. Ein starosta wurde in jedem Dorf ernannt. Er unterstand einem ukrainischen oder volksdeutschen Vertreter auf der ihm übergeordneten Verwaltungsebene der Rayons; die Rayonführer wiederum unterstanden direkt den Gebietskommissaren. Zudem beriefen die Gebietskommissare beratende Gremien ein, die mit Einheimischen besetzt wurden und sich mit Verwaltungsfragen sowie kulturellen und wirtschaftlichen Belangen befassten. Die Rekrutierung der Kommissare für das Generalkommissariat Shitomir begann Anfang September 1941, als Rosenbergs Stellvertreter im Ostministe204

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rium, Alfred Meyer, zuvor unter anderem Gauleiter des Gaus Westfalen-Nord und Oberpräsident der Provinz Westfalen, Kontakt mit dem Regierungspräsidenten in Münster, Kurt Klemm, aufnahm: Meyer bat ihn, das Amt des Generalkommissars von Shitomir zu übernehmen. Der 47-jährige Klemm, übrigens der einzige Verwaltungsbeamte unter den sechs Generalkommissaren des Reichskommissariats Ukraine, bezog ein provisorisches Büro in Berlin und machte sich daran, potenzielle Abteilungsleiter für seinen Verwaltungsapparat sowie Kandidaten für die Posten der Gebietskommissare in Shitomir zu kontaktieren. Klemm musste bei der Erstellung seiner Listen der künftigen Gebietskommissare die Auflage berücksichtigen, dass sein Personal zu 60 Prozent aus Parteimitgliedern der NSDAP bestehen sollte. Die von ihm ausgewählten Kandidaten wiesen eine Reihe von bezeichnenden gemeinsamen Merkmalen auf: Im Durchschnitt waren sie 36 Jahre alt und meist während des Ersten Weltkriegs aufgewachsen, sodass sie zwar zu jung gewesen waren, um die Gefechte zu erleben, aber alt genug, um die Not an der ›Heimatfront‹ und die Demütigungen durch die deutsche Niederlage 1918 zu erfahren. Es handelte sich folglich um Männer, die in den Jahren der Weimarer Republik ins Erwachsenenalter traten, als die Straßenkämpfe zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten ausgefochten wurden. Etwas mehr als ein Drittel der Kandidaten für die Posten der Gebietskommissare war bereits vor der »Machtergreifung« im Januar 1933 der NSDAP beigetreten. In den 1930er Jahren übten sie Funktionen wie die eines NSDAP-Kreisleiters aus, waren als Kameradschaftsführer etwa im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund tätig oder agierten als Gaustellenleiter der NSDAP. Somit handelte es sich um Parteiangehörige und Parteiführer der mittleren Funktionärsschicht. Die von Klemm vorgeschlagenen Kandidaten, die nicht über eine Mitgliedschaft in der NSDAP verfügten, waren durchweg jünger und im Durchschnitt etwa 30 Jahre alt. Ihr Erfahrungshintergrund beschränkte sich auf das nationalsozialistische Deutschland der 1930er Jahre und seine Verwaltung; zumeist handelte es sich um Vertreter der mittleren Verwaltungsschicht im Range eines Assessors. Mit Dr. Hans Schmidt zählte lediglich eine Person zu einer der Organisationen Himmlers: Schmidt, der Gebietskommissar von Nowograd-Wolynski wurde, hatte den Rang eines SS-Hauptscharführers im Sicherheitsdienst (SD) inne. Der Bildungsweg der von Klemm ausgewählten Kandidaten offenbart den wachsenden Einfluss der NS-Ordensburgen Vogelsang in der Eifel und Krössin­see in Pommern. Wenige der Kandidaten verfügten über einen Hochschulabschluss, viele hingegen waren in Vogelsang indoktriniert worden, der ersten »Ordensburg«, die Hitlers Forderung nach der stetigen Ausbildung von Parteifunktionären und ›Führernachwuchs‹ nachkam. In Übereinstimmung Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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mit dem alten Plan der NSDAP, dass »der Staat für einen gründlichen Ausbau unseres gesamten Volksbildungswesens Sorge zu tragen« habe und dass die »Lehrpläne aller Bildungsanstalten […] den Erfordernissen des praktischen Lebens anzupassen« seien, hatte Robert Ley, Chef der Deutschen Arbeitsfront sowie Reichsorganisationsleiter der NSDAP und somit parteiintern für Schulungen zuständig, die »Ordensburg« errichten lassen, wie er auch persönlich die jungen Parteimitglieder auswählte, die dort gedrillt werden sollten. Der Lehrplan und die Erziehung in den »Ordensburgen« verknüpften historische Vorstellungen vom Deutschen Orden mit jener dem Nationalsozialismus eigenen Betonung der Rassenhygiene, des Sports und der ideologischen Themen, wie sie in Hitlers »Mein Kampf« und Alfred Rosenbergs rassenantisemitischen Theorien vorgegeben wurde. Ausgeklügelte festliche Inszenierungen, Wanderungen in der Natur, Rituale, Empfänge und Ansprachen von besonderen Gästen, darunter Hitler und Göring, wurden als Höhepunkte des Programms betrachtet. Im typischen Stil Arno Brekers gehaltene Skulpturen des ›idealen germanischen Helden‹ schmückten die »Ordensburg« Vogelsang, so auch die riesige Skulptur eines nackten, muskulösen Mannes mit der Inschrift: »Ihr seid die Fackelträger der Nation. Ihr tragt das Licht des Geistes voran im Kampfe für Adolf Hitler«. In den NS-Ordensburgen fand die physische und ideologische Formierung einer entstehenden Kaste nationalsozialistischer Verwaltungsbeamter statt.11 Nahezu die Hälfte – zwölf von 25 – der Gebietskommissare im Generalkommissariat Shitomir hatte eine NS-Ordensburg besucht. So zum Beispiel Wolfgang Steudel, später Gebietskommissar in Kasatin, für den Vogelsang zum eigentlichen Ausgangspunkt seiner Karriere wurde. Nach dem Abitur war Steudel 1930 der NSDAP beigetreten und zunächst einer Beschäftigung als Leichtathletiklehrer nachgegangen. Dann arbeitete er für kurze Zeit an einer SA-Führerschule, anschließend als Sportlehrer an einer staatlichen Schule. 1936 kam Steudel nach Vogelsang, wo er dann als Adjutant des Burgkommandanten bis zu seiner Versetzung in die Ukraine Ende 1941 blieb. Auch Gebietskommissar Hermann Drechsler, der das Gebietskommissariat Radomyschl leitete, hatte eine Ordensburg besucht: Er war ursprünglich gelernter Bäckermeister, wurde jedoch, nachdem er SA-Mitglied geworden war und Vogelsang absolviert hatte, zertifizierter Lehrer für Biologie und Rassenhygiene. Heinrich Becher, der im Reich als Kreisleiter der NSDAP agiert hatte und schließlich Gebietskommissar in Gaissin wurde, war eigentlich gelernter Schmied; in der Weimarer Republik hatte er aufgrund »politischer Delikte« eine Haftstrafe verbüßt, was seinen weiteren Bildungsweg unterbrochen hatte. Becher war seit 1931 SA-Führer und stieg, nachdem er seine Ausbildung in 206

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48 Willy Meller: »Fackelträger«, Muschelkalkrelief des Feuermals auf dem Sonnwend­platz der »Ordensburg« Vogelsang, 1938.

der »Ordensburg« vervollständigt hatte, schnell in Partei und Staat auf. Der Gebietskommissar von Nemirow, Herbert Sittig, zu dessen Aufgaben die Aufsicht über Judenlager und Ghettos zählte, die Arbeitskräfte für den Straßenbau in der Ukraine stellten, war ursprünglicher gelernter Friseur und Weltkriegsveteran. Nachdem er sein Friseurgeschäft 1934 aufgegeben hatte, besuchte er 1936 den ersten Lehrgang in Vogelsang und blieb dort in der Folge als Kameradschaftsführer. Unter diesen überzeugten, ja fanatischen Nationalsozialisten finden sich als weitere Kandidaten für die Kommissariatsposten in der Ukraine zum Beispiel ein Landwirt, ein Apotheker sowie der Vorarbeiter einer Konservenfabrik, ein überzeugtes Mitglied einer paramilitärischen Organisation, das sich einer 15-jährigen Zuchthausstrafe entzogen hatte. Klemm setzte auch einen Kollegen aus Münster auf die Liste, einen Bürgermeister, der während der deutschen Besetzung der Ukraine im Ersten Weltkrieg bereits in Shitomir gewesen war.12 Aus der Kandidatenliste geht klar hervor, dass es sich bei den künftigen GebietsHitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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leitern in der Ukraine, die über enorme Macht verfügen würden, sowohl um ›Versorgungsfälle‹ des NS-Systems handelte als auch um Vertreter einer aufstrebenden Klasse von Revolutionären, die ihre Prägung im System der Elitebildung der NSDAP, den NS-Ordensburgen, erfahren hatten. Gebietskommissare wie Drechsler, Steudel und Becher machten nicht nur ihren Abschluss in Vogelsang, sondern wurden dort als Angehörige des Führungskorps eingestellt, um die nächste Generation der Parteielite in NS-Rassenkunde und Sport zu drillen. Die älteren Forschungen von Alexander Dallin und Gerald Reitlinger erwähnen zwar, dass einige Gebietskommissare die »Ordensburgen« auf ihrem Weg in den Osten im Rahmen eines schnellen Vorbereitungsprogramms durchliefen. Doch über die umfassende Schulung und die Lehrpläne der »Ordensburgen« sowie darüber, wie diese nationalsozialistische ›Hochschulbildung‹ die traditionelle Ausbildung von Staatsbediensteten untergrub, die vor 1933 Jura und Staatswissenschaften an einer Universität studiert hatten, wurde bislang nur wenig publiziert. Klemm legte seine Listen dem Ständigen Vertreter des Reichskommissars Erich Koch, Helmuth von Wedelstädt, zur Genehmigung vor.13 Diejenigen, die als Gebietskommissare ausgewählt wurden, erfuhren zunächst nicht genau, wo sie eingesetzt werden sollten, erhielten jedoch die Anordnung, einen Sekretär, einen Fahrer sowie einen Übersetzer zu benennen, die sie begleiten sollten. Schließlich wurden die Gebietskommissare für den 13. Oktober in die »Falkenburg am Krössinsee« in Pommern bestellt, wo sie eine Einweisung in ihre Aufgaben erhielten. Von dort aus ging es per Sonderzug nach Shitomir.14 Es haben nur wenige Quellen den Krieg überdauert, die darüber Auskunft geben können, welche Anweisungen die Kommissare erhielten, ehe sie in der Ukraine tätig wurden. Aus einer Quelle wissen wir, dass sie ihre Uniformen erhielten, zahlreiche Reden hörten und feierlich den Jahrestag von Hitlers Putschversuch am 8./9. November 1923 begingen. Willy Dietz veröffentlichte 1944 einen Bericht über seine Rekrutierung und das Einweisungsverfahren, an dem er in der NS-Ordensburg Krössinsee teilgenommen hatte: Er erinnert sich daran, dass er auf »Befehl des Führers« nach Berlin zitiert wurde und sich »beim Sonderstab R.« melden sollte. Zu diesem Zeitpunkt war er sich nicht sicher, ob »R.« für »Rosenberg« oder für »Russland« stand. Er zählte zu den eher Begeisterten, die ›etwas bewegen wollten‹, und reagierte umgehend auf die Aufforderung; andere, so Dietz, verzögerten die Angelegenheit und versuchten, die mögliche Versetzung in den gefährlichen Osten zu vermeiden. Schließlich »holte man fast alle Ordensburger zurück«, um sie dann nach Krössinsee zu schicken.15 Auf die Zusammenkünfte in Krössinsee und den Empfang bei Erich Kochs Politikchef, dem stellvertretenden Reichskommissar Paul Dargel, folgte unmit208

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telbar eine Periode von Fehlstarts und Verwaltungspannen, da der Transport der Gebietskommissare in die Ukraine mehrfach durch die Reichsbahn verzögert wurde. Der dadurch verlängerte Aufenthalt am Krössinsee war laut Dietz um so frustrierender, »weil keinerlei Angaben über Plan und Form des Einsatzes gemacht werden konnten«. Klar war jedoch von Anfang an, dass ihre Abordnung entscheidend für die Vorbereitung der langfristigen politischen Arbeit im Osten war.16 Der Sonderzug von 39 Eisenbahnwaggons mit 150 Angehörigen des Mitarbeiterstabes kam schließlich im November 1941 in Shitomir an, die Landschaft war bereits schneebedeckt und die Temperaturen waren auf bitterkalte - 17°C und darunter gefallen.17 Der Zeitpunkt der Ankunft der Kommissare ist bedeutsam, da viele von ihnen dieses Datum im Zuge der Strafverfolgung in der Nachkriegszeit zu verschleiern suchten. Die Ghettoisierung der überlebenden Juden im Generalkommissariat Shitomir, die den Tod der schwachen, kranken und älteren Juden zur Folge hatte, erfolgte kurz nachdem die Kommissare angekommen waren. Einige von ihnen behaupteten jedoch in Zeugenaussagen der Nachkriegszeit, dass sie erst Anfang 1942, das heißt nach der Ghettoisierung, angekommen seien.18 Klemm und seine Abteilungsleiter richteten ihre provisorische Kommandantur im Gebäude des ehemaligen staatlichen Museums ein. Den Gebietskommissaren wurden drei Fahrzeuge zugewiesen, eine Schreibmaschine, zwei NS-Flaggen, ein Funkgerät sowie einige Tausend Blatt Papier, anschließend wurden sie aufs Land geschickt. Vor der Abreise richtete Klemm einige ermutigende Worte an die Männer und erklärte, dass die Verwaltung die ihr vom Führer übertragenen Aufgaben mit freudiger Ergebenheit und »ohne bürokratischen Formalismus erfüllen werde.«19 Auch wenn es am Krössinsee vage Andeutungen im Rahmen der Theorien von »Raum und Volk« gegeben hatte und die Kommissare zumindest seit acht Jahren den nationalsozialistischen Antisemitismus und die Angriffe gegen die Juden kannten, erst in der Ukraine begriffen sie, dass der Massenmord Realität war und dass sie eine Rolle in seiner Durchführung spielen würden. Die Aufgaben der Kommissare bezüglich der »Judenfrage« wurden in den Verwaltungsrichtlinien Alfred Rosenbergs genau erklärt. Dort wurde festgehalten, dass die Gebietskommissare dafür verantwortlich waren: 1.) alle Juden zu registrieren und zu kennzeichnen; 2.) Ghettos einzurichten und zu verwalten; 3.) einen Judenrat und einen jüdischen Ordnungsdienst zu schaffen; 4.) brauchbare jüdische Arbeiter zu selektieren, mit den notwendigen Arbeitspapieren zu versehen und in besonderen Gebäuden oder Lagern zu konzentrieren; und Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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5.) zusammen mit den regionalen SiPo-SD Dienststellen, die die Erschießungskommandos stellten, die Auflösung von Lagern und Ghettos zu autorisieren und durchzuführen. Zusätzlich zu diesen Kompetenzen erhielten die Kommissare die Machtbefugnis zu bestimmen, wer Jude war und wer nicht. Dies bedeutete de facto, dass ein Gebietskommissar über Leben und Tod entscheiden konnte. Neben den formalen Amtsbefugnissen verfügten sie über beträchtlichen Handlungsspielraum, das heißt, ihnen wurde eine große Entscheidungsfreiheit übertragen – ob gezielt oder unabsichtlich sei dahingestellt. Dietz zufolge hatte diese Freiheit für die selbst  ernannten »Pioniere des Ostens« eine berauschende wie einschüchternde Wirkung zugleich: Da sie schlecht gerüstet waren, die extrem hohen Anforderungen ihrer Vorgesetzten zu erfüllen, fürchteten sie, bei unbefriedigender Leistung an die Front versetzt zu werden.20 Trotz ihrer insgesamt vergleichsweise geringen Zahl galten die Generalund Gebietskommissare als unübersehbar, waren sie doch dafür bekannt, als »Goldfasane« in ihren braunen, mit Rangabzeichen behangenen Parteiuniformen einherzustolzieren. Für die ukrainische Bevölkerung galten sie als der »Pan Gebietskommissar«, als Urheber lebensbedrohlicher Anordnungen, brutaler Zwangsarbeit und Methoden der Getreiderequirierung. Zeitgenössische Kritiker wie Forscher der Nachkriegszeit haben die gesamte Organisation Rosenbergs als »verwaltungsmäßige Monstrosität« gebrandmarkt, die von einer Gruppe »geltungssüchtiger Hyänen«, »politischer Abenteurer« und »Ostnieten« geleitet worden sei.21

Die Kommissare und der Holocaust in Shitomir, 1941–1944 Die Juden der Region Shitomir, die die Phase der Tötungsoperationen von SS und Wehrmacht des Jahres 1941 überlebt hatten, waren untergetaucht, lebten an Schauplätzen, die noch nicht »gesäubert« worden waren, oder waren zu speziellen Zwangsarbeitseinsätzen abkommandiert worden. Zudem bestanden einige Ghettos in der Region, vor allem in den Gebieten nahe der rumänisch besetzten Ukraine, so zum Beispiel in Chmelnik. Einzelne Menschen, die der SS und der Polizei entkommen waren, durchstreiften ländliche Gegenden, verbargen sich in Scheunen und Schuppen.22 Einige wurden auch von mutigen Ukrainern versteckt, die damit ihr Leben und das ihrer Familienangehörigen riskierten. In der zweiten Phase der nationalsozialistischen Besatzung, das heißt, nachdem die zivile Verwaltung eingerichtet worden war, dauerten die Massenexekutionen von Juden weiterhin an, allerdings wurden bei diesen Tötungen bis 210

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auf wenige Ausnahmen nicht mehr mehrere Tausend Menschen auf einmal ermordet, wie es noch 1941 der Fall gewesen war. Während jener ersten systematischen Tötungswelle des Jahres 1941, die die deutsche Wehrmachtsverwaltung, die SS und Polizeieinheiten durchgeführt hatten, wurden in der Region Shitomir 70.000 Juden ermordet, vor allem in den städtischen Gebieten von Winniza, Berditschew und Shitomir selbst. Mindestens 50.000 in der Region beheimatete Juden lebten noch, als die Kommissare eintrafen. Da klar geworden war, dass Himmler und seine Polizeikräfte das letzte Wort hatten, wenn es darum ging, das endgültige Schicksal der Juden zu bestimmen, versuchten die regionalen Verwaltungskräfte sowie Berater der Polizeiorgane Himmlers und die zivile Verwaltung Rosenbergs, lediglich einen Modus Operandi im praktischen Einsatz zu finden. Anfang 1942 erörterte Erhard Wetzel, als »Rassedezernent« im Ostministerium einer der Insider unter Rosenbergs Beratern in der »Judenfrage«, in seiner Korrespondenz mit SS-Funktionären die praktische Koordination von Gebietskommissaren und Sicherheitspolizei. Himmlers Sicherheits- und Ordnungspolizei behielt demnach weiterhin die übergeordnete Kontrolle über die Judenpolitik, ihre konkrete Umsetzung setzte jedoch die Zusam­menarbeit der einzelnen stationären Polizeikräfte – vor allem der Gendarmerie –, und weiterer Besatzungskräfte, der Gebietskommissare, der »Landwirtschaftsführer«, der Wirtschaftsspezialisten und der Forstleute voraus, zumal fast alle mobilen Tötungskommandos, die dem Höheren SS- und Polizeiführer Hans-Adolf Prützmann und dem Führer der Einsatzgruppe C Max Thomas unterstanden, sowie die Sicherungsdivisionen der Wehrmacht mittlerweile weiter östlich disloziert waren.23 Zudem setzten die Gebietskommissare, die auf die Polizeikräfte angewiesen waren, um ihre Machtposition zu sichern, eine wachsende Zahl ukrainischer Hilfskräfte sowie anderer nicht-deutscher Verbündeter ein, etwa ungarische und slowakische Streitkräfte, die in das Generalkommissariat Shitomir abkommandiert worden waren. Obwohl ukrainische Polizeikräfte in beträchtlichem Ausmaß rekrutiert wurden, benötigten die General- und Gebietskommissare die Hilfe anderer deutscher Dienststellen, um die »Endlösung« durchzuführen. Im Gebietskommissariat Rushin, einem Gebiet von 1.800 Quadratkilometern Fläche und etwa 129.000 Einwohnern, war der Gendarmerie-Posten beispielsweise mit zwei Motorrädern und einem Moped ausgestattet, verfügte jedoch nicht über einen Lastkraftwagen. Daher erwartete man von Personen, die nicht in polizeilichen Funktionen beschäftigt waren, dass sie Hilfe leisteten und polizeiliche Aufgaben übernahmen. So sollten zum Beispiel Ingenieure, die an Bauprojekten der Organisation Todt (OT) arbeiteten, die Lastkraftwagen bereitstellen, die zum Transport von Juden zu den Exekutionsstätten benötigt Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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wurden. Häufig jedoch wurden Juden, die beispielsweise von Förstern zufällig in ihren Verstecken aufgefunden wurden, an Ort und Stelle erschossen.24 Außerhalb der polizeilichen Hierarchie stehende Deutsche wirkten vor allem auf zwei Ebenen am Massenmord mit: Einerseits handelte es sich um Bürokraten der zivilen Kommissariate, die politische Vorgaben umsetzten, andererseits um Personen, die schlichtweg zustimmten, an Tötungsaktionen mitzuwirken. Diese beiden Handlungsebenen konnten sich überschneiden, so etwa, wenn Gebietskommissare nicht nur den bürokratischen Prozess der Organisation des Massenmords dirigierten, sondern selbst an der Mordaktion teilnahmen. Der Gebietskommissar hielt sich über den Sachstand in der »Judenfrage« in seinem Bereich auf dem Laufenden, indem er sich mit dem Gendarmerie-Gebietsführer seines Zuständigkeitsbereichs (oder im Falle von sechs Gebietskommissariaten im Generalkommissariat Shitomir mit den SS- und Polizei-Gebietsführern) sowie mit anderen Behördenleitern beriet, so etwa mit dem Wirtschaftsführer. Seine Erkenntnisse berichtete er dann an das Ostministerium. Für die ›höheren Chargen‹ in Berlin waren dabei zwei Punkte von besonderem Interesse: War der jeweilige Distrikt »judenfrei« und wie hoch war die Gesamtzahl der getöteten Juden? Während man den Gebietskommissaren einerseits erheblichen Spielraum einräumte, ihre – wie sie es sahen – ›Lehen‹ zu verwalten, so unterlagen sie andererseits bestimmten Einschränkungen durch ihre Vorgesetzten auf der Ebene der Generalkommissariate. Dazu zählte neben Ernährungs- und Gesundheitsfragen insbesondere die Plünderung des Eigentums der ermordeten Juden. Innerhalb der Verwaltung des Generalkommissariats oblagen die jüdischen Angelegenheiten der Politischen Polizei, Hauptabteilung  II. Zwar hatte die Militärverwaltung bereits im Großen und Ganzen damit begonnen, bestimmte antijüdische Maßnahmen anzuordnen, etwa die zwingend erforderliche Registrierung und die Kennzeichnung der Juden mit Sternen, doch diese Aufgaben übernahmen im November 1941 die Gebietskommissare und ihr Personal in der Politischen Abteilung. Sobald man die Juden gewaltsam in die Ghettos, in Lager und andere Orte umgesiedelt hatte, waren die Kommissare mit Hilfe der ukrainischen Polizei ihres Gebietskommissariats dafür zuständig, sie mit Lebensmittelrationen zu versorgen, die arbeitsfähigen von den nicht arbeitsfähigen Juden zu trennen sowie Zwangsarbeit anzuordnen. Kochs Anweisungen für die Lebensmittelrationen sahen vor, dass alle Juden die kleinste Ration, die eigentlich für Kinder bis zu 14 Jahren vorgesehen war, erhielten; dies aber auch nur, wenn Nahrungsmittel verfügbar waren, mit anderen Worten, sie erhielten das, was übrig war und auch dies nur in kleinsten Mengen.25 Juden im Arbeitseinsatz erhielten mehr, und zwar zwei Mahlzeiten täglich, eine um 5:30 Uhr, die andere gegen 18:30 Uhr. Eine typische Mahlzeit bestand 212

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aus einer wässrigen Suppe sowie Ersatzbrot.26 Unter der Aufsicht der Spezialisten des Gebietskommissars für Ernährung, Medizin und Arbeitseinsatz überließ man die nicht arbeitenden Juden grundsätzlich dem Tod durch Verdursten oder durch Verhungern. Eine weitere Unterabteilung der Hauptabteilung Politik, geleitet von Dr. Müssig, überwachte die Buchführung über den beschlagnahmten jüdischen Besitz. In den Polizeiberichten über die Tötungsaktionen vermerkte der Leiter des Gendarmerie-Postens beziehungsweise der SS/Polizei-Führer, der Gebietskommissar und seine Finanzabteilung würden über die Aktion informiert.27 In gewissem Maße ist es möglich, Müssigs Finanzberichte mit dem Zeitpunkt antijüdischer Massaker und lokaler Germanisierungsaktivitäten in Verbindung zu bringen. So ordnete Müssig zum Beispiel Ende Juli 1942 an, dass alle Gebiets- und Stadtkommissare Listen von jüdischem Gold-, Silber- und Geldbesitz sowie anderen Wertgegenständen erstellen und diese Aufstellungen sowie die Gegenstände in die Finanzabteilung des Generalkommissariats bringen sollten. Während der letzten Tötungsaktionen im Reichskommissariat Ukraine gab Müssig diesen Erlass erneut heraus und fügte hinzu, dass auch andere Gegenstände wie Kleidungsstücke einbezogen werden sollten. Damit sollte der »dringende« Bedarf lokaler Organisationen (zum Beispiel der Volksdeutschen Mittelstelle) gedeckt werden, als die nahegelegene volksdeutsche Siedlung »Hegewald« errichtet wurde.28 Da nur wenige ukrainische Juden Gold, Edelmetalle oder Bargeld besaßen, konzentrierte sich der größere Teil der gegen sie gerichteten Plünderungsoperationen auf die Beschlagnahmung von Wohnungen, Möbeln, Betten und anderem Hausrat. Am 12. Dezember 1941 ordnete Generalkommissar Klemm an, dass alle jüdischen Besitztümer der Generalskommissariatsverwaltung auszuhändigen waren. Im Sommer und im Herbst 1941 hatten sich ukrainische Milizionäre jüdisches Eigentum angeeignet, was nicht nur einen Verstoß gegen nationalsozialistische Erlasse darstellte, sondern auch lokale Unruhen provoziert hatte.29 Wohnungsamt und Inventarkommission des Generalkommissars nahmen das jüdische Eigentum in Besitz und verteilten es an lokale Funktionäre und privilegierte Gruppen, insbesondere an die Gebietskommissare, Wehrmachtsbefehlshaber und an Volksdeutsche.30 In Rowno, gelegen im benachbarten Generalkommissariat WolhynienPodolien, veranstaltete Gebietskommissar Werner Beer einen Verkauf in seiner Dienststelle, wobei er den deutschen Funktionären in der Region ankündigte, dass er über Uhren, Schmuck, Zigarettenspitzen und andere persönliche Gegenstände von Juden verfüge.31 Unterstützt von einheimischen ukrainischen und volksdeutschen Schreibkräften, erstellte das Büro des Gebietskommissars sorgfältig Listen der »umgeHitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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siedelten« Juden und des privaten Eigentums aus ihren Wohnungen. Die Inventarkommission erhielt eine Fülle von Briefen, in denen lokale Vertreter der Organisation Todt, Volksdeutsche, Wehrmachtsbefehlshaber und andere Reichsdeutsche Betten, Tische, Stühle oder Geschirrschränke anforderten. Klemms Vertreter in der Inventarkommission, Plisko, gab im Juli 1942 detaillierte Anweisungen zur Beschlagnahme von jüdischem Besitz heraus, sodass die Verteilung jüdischer Wertgegenstände durch lokale Funktionäre, die sich die Objekte ohne ordnungsgemäße Buchführung nahmen, vorübergehend ausgesetzt wurde. Er wies die Gebietskommissare an, die Originale der Listen mit dem erfassten Eigentum der Juden (von denen die meisten nun tot waren) nicht zu vernichten, weil diese Aufstellungen (auch wenn sie potenziell belastend waren) die vollständigsten Aufzeichnungen darstellten, über die man verfüge.32 Unterdessen erstattete Dr. Kuhlberg, Leiter des Referats Gesundheitswesen, im Generalkommissariat Bericht über den Ausbruch von Seuchen, den er auf die Ankunft von jüdischen Zwangsarbeitern in den nördlichen Gebietskommissariaten von Shitomir zurückführte; es wurde nichts unternommen, um den erkrankten jüdischen Arbeitern zu helfen. Eine gesundheitspolitische Anordnung des Gendarmerieführers in Shitomir forderte im Juni 1942 alle deutschen Polizisten, die in Kontakt mit Juden kamen, zum Baden und zur Suche nach Läusen auf.33 Auch diese Maßnahme überschnitt sich mit der Ermordung von Juden im Sommer 1942. Der Rest der jüdischen Gemeinde von Berditschew, der (offiziell) 1.162 Menschen zählte, sah sich im Januar 1942 mit einer ganzen Reihe von Erlassen des Gebietskommissars Göllner konfrontiert. Als Erstes ordnete er an, dass alle Juden rückwirkend ab November 1941 eine spezielle »Judenabgabe« zu zahlen hatten.34 Im Januar verlangte er eine weitere Registrierung aller Juden und setzte durch, dass sie ein acht Zentimeter breites Ringzeichen auf der Kleidung trugen. Anschließend erhöhte er die Abgaben um 100 Rubel pro Kopf. Koch drängte seine Gebietskommissare, weitere Einnahmequellen zu finden, und wie die meisten deutschen Kommissare, etwa Gebietskommissar Dr. Paul Blümel im benachbarten Tschudnow, ging auch Göllner davon aus, dass man die Juden zu diesem Zweck weiter ausbeuten konnte. Die ukrainische Polizei sammelte das Geld ein, die Rubel gingen direkt auf sein Konto.35 Zwar ließen die NS-Führer einfache Untergebene, die sich bereicherten, strafrechtlich verfolgen, und es wurde in solchen Fällen auch die Todesstrafe verhängt, doch war die Korruption im System insgesamt weitverbreitet, und nationalsozialistische Spitzenfunktionäre (Göring und Koch etwa) boten die schlimmsten Beispiele staatlich geleiteten Raubes zum persönlichen Vorteil. Göllner prahlte über die »Perserteppiche, Satin-Bettwäsche und Wiener Tor214

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ten«, derer er sich als Gebietskommissar erfreute, und verlangte später, während der deutschen Evakuierung von Berditschew Anfang 1944, dass diese Gegenstände mitgenommen werden sollten.36 Einigen Gebietskommissaren reichte es nicht aus, lediglich die Durchführung der antijüdischen Maßnahmen zu überwachen – seien es Maßnahmen, die aus eigener Initiative zustande kamen oder auf eine der wenigen verordneten Richtlinien hin, die sie von oben erhielten, durchgeführt wurden. Manche fühlten sich verpflichtet, selbst an den Mordaktionen teilzunehmen. Während Klemms Verwaltungskräfte und Technokraten von ihrer Zentrale in der Stadt Shitomir aus die bürokratische Umsetzung der antijüdischen Maßnahmen routinemäßig betrieben, indem sie Listen von jüdischem Eigentum bearbeiteten, den Lagern Nahrungsrationen zuwiesen, die den Hungertod bedeuteten, oder Seuchen im Umfeld der jüdischen Lager beobachteten, nahmen viele deutsche Funktionäre der Gebietskommissariate in den ländlichen Verwaltungsgebieten tatsächlich an den Erschießungen teil.37 Laut Rosenbergs Richtlinien hatten die Gebietskommissare unbegrenzte Machtbefugnisse, um die Polizeiaktionen gegen Juden durchzusetzen.38 Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Gebietskommissar zusammen mit dem SD-Kommando selbst an den Gruben erschien und die Erschießungen überwachte, nachdem er zuvor bereits das Zusammentreiben von Juden beaufsichtigt hatte. Im Gebietskommissariat Litin überwachte Gebietskommissar Traugott Vollkammer, ein SA-Standartenführer, während der Auflösung des Ghettos am 19. Dezember 1941 nicht nur den Verlauf der Aktion, sondern auch die Erschießungen. Nachgeordnete Leiter der Abteilung Politik, darunter eine Person namens Sundermeier, nahmen an der Erschießung eines oder mehrerer Juden im Oktober 1942 teil. Am 18. September 1943 ordnete Vollkammers Büro die endgültige Auflösung des Ghettos in Litin an. Von mehreren Tausend Juden, die im Sommer 1941 noch in der Stadt gewohnt hatten, lebten nur noch weniger als Einhundert. Einige von ihnen konnten bei der Zerstörung des Ghettos entkommen, aber diese 14 Männer, 40 Frauen und 32 Kinder starben, als die Rote Armee wieder in die westliche Ukraine vorrückte. In Litin organisierte das Büro des Gebietskommissars 1943 zudem systematische Massaker an Roma sowie kollektive Vergeltungsmaßnahmen gegen Ukrainer.39 Die südlichen Bezirke der Region (Litin, Winniza, Nemirow und Gaissin) waren Schauplatz enormer Straßenbaumaßnahmen: Hier wurde die »Durchgangsstraße IV« angelegt, eine der Hauptnachschublinien der Wehrmacht. Der Einsatz jüdischer Arbeitskräfte beim Bau dieser Straße hatte zur Folge, dass die Gebietskommissare in dieser Gegend deutlich routinemäßiger und in den Jahren 1942 sowie 1943 kontinuierlich und in beträchtlicherem Ausmaß in die Verfolgung und Ermordung von Juden einbezogen waren als ihre Amtskollegen Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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in den nördlichen Gebietskommissariaten. Dort waren die meisten Juden in der ersten Tötungswelle im Sommer und Herbst 1941 sowie im Zuge der letzten Massaker im Sommer 1942 getötet worden.40 Im Ghetto von Chmelnik wurden ungefähr alle sechs Monate Hunderte Juden ermordet, dies war Teil der laufenden Selektion von Arbeitskräften und ihrer Familien (sie wurden zum Bau der »Durchgangsstraße IV« abkommandiert). Der Gebietskommissar von Litin, Witzemann, leitete die Planung der Massaker und nahm aktiv an den Tötungen teil, vor allem 1942. Witzemann war überzeugt, dass es seine Mission war, im Osten die politischen Ziele des Nationalsozialismus zu verwirklichen, vor allem Aktionen gegen Juden vollständig auszuführen. Nach dem Krieg legte ein Überlebender folgende Zeugenaussage über Witzemann ab: »Am Freitag, dem 2. Januar 1942, traf in seinem gelben Auto Wizermann [sic], der Gebietskommissar von Litin, in Chmelnik ein. Er beorderte den Vorsteher der Juden zu sich und verfügte eine neue, hohe Kontribution. Außerdem ordnete er an, daß die Juden unverzüglich aus der Neustadt in die als Ghetto vorgesehene Altstadt übersiedelten. […] Einige Tage vergingen, dann brach die ›Aktion‹ los. Es herrschten Sturm, Schneetreiben und klirrender Frost. Die Menschen fürchteten sich, ihre Häuschen zu verlassen, sie ahnten das Grauen und das Leid, das ihnen der kommende Tag bringen würde, buchstäblich voraus. […] Als die Menge auf dem Platz zusammengetrieben worden war, befahl der Gebietskommissar, eine Liste mit Namen von Fachleuten zu verlesen, denen es gestattet wurde, weiterzuleben. Alle anderen trieb man in den drei Kilometer von der Stadt entfernten Kiefernwald. Dort waren bereits Gruben ausgehoben.«41

Diese Massengräber waren von Kriegsgefangenen ausgehoben worden, denen man gesagt hatte, dass sie eine in den Boden eingelassene Vorratshaltung für Kartoffeln anlegen würden. Das Ghetto wurde von Landesschützenverbänden umstellt, das den Auftrag hatte, alle Juden, die zu fliehen versuchten, zu erschießen, einschließlich der Frauen und Kinder. Am 9.  Januar 1942 wurde das Ghetto um 5:00 Uhr abgeriegelt. Die nur halb bekleideten Juden wurden aus ihren Wohnungen ins Stadtzentrum getrieben und gezwungen, dort im Schnee und bei Minusgraden zu verharren. Diejenigen, die nicht gehen konnten oder wollten, wurden auf der Stelle erschossen. Nach einer Weile wurden etwa 6.800 Juden zu der Tötungsstätte geführt, wo ein Erschießungskommando des SD aus Winniza sie bereits erwartete. Die im Ghetto noch herumliegenden Leichen wurden eingesammelt, auf Schlitten gelegt und ebenfalls zu dem Massengrab im nahen Kiefernwald gebracht. Ungefähr eine Woche später durchsuchten deutsche Gendarmen und ihre ukrainischen Hilfskräfte das Ghetto nochmals 216

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und fanden dabei 1.240 Juden, die sich dort noch versteckt hielten; sie wurden von ihnen ebenfalls erschossen.42 Im nicht weit von dort entfernten Ssamgorodok setzte der Gebietskommissar von Kasatin, Wolfgang Steudel, die »Endlösung« in seinem Gebiet um. Am 16. Mai 1942 begannen die deutsche Gendarmerie und die ukrainische Polizei zunächst damit, die Juden zusammenzudrängen. Während dieser »Ghetto«Operation erschossen deutsche und ukrainische Polizisten die kranken und die älteren Juden sowie diejenigen, die sich wehrten. Die verbleibende Anzahl von rund 500 jüdischen Männern, Frauen und Kindern wurde einige Wochen später, am 4. Juni 1942, getötet. Steudel hatte den ukrainischen Bürgermeister von Germanowka angewiesen, 35 Ukrainer einer nahegelegenen Kolchose zu bestimmen, die die Massengräber ausheben mussten. Steudel inspizierte die Grube persönlich, kurz bevor die Juden ankamen. Er überwachte zudem die gesamte Aktion und gab dem Führer des örtlichen Gendarmerie-Postens, Josef Richter, mehrfach Anweisungen. Die Erschießungen wurden von zwei oder mehr Männern der SiPo/SD-Außenstelle an den Gruben ausgeführt.43 Ein Gebietskommissar konnte nicht nur auf die SS-Männer und Polizisten vor Ort zurückgreifen, sondern sich auch an lokale Wehrmachtseinheiten wenden, um Unterstützung zu erhalten. So wurde zum Beispiel am 26. Mai 1942 im Büro des Wehrmachtskommandos in Gaissin eine Besprechung abgehalten, um die Erschießung der jüdischen Bevölkerung zu planen, die für den folgenden Tag vorgesehen war. Die Besprechung wurde von Gebietskommissar Heinrich Becher einberufen, der vermutlich zuvor eine Weisung des SD in Winniza erhalten hatte; er bat die beiden örtlichen Wehrmachtskommandanten, einen Major Heinrich und den Kommandanten eines ungarischen Bataillons, sowie den Führer des Gendarmerie-Postens, einen gewissen Dreckmeier, zu dem Gespräch.44 Weil sie beabsichtigten, die Juden aus drei Dörfern zusammenzutreiben, teilte Becher die Aktion in zwei Transporte auf; einer wurde von Heinrich geleitet und von ukrainischen Polizeikräften sowie ukrainischer Infanterie eskortiert. Um 3:00 Uhr morgens zwangen sie die Juden auf Lastkraftwagen und fuhren sie zur Hinrichtungsstätte in Teplik, wo ein Erschießungskommando des SD bereitstand. Etwa 400 Juden wurden bei diesem Massaker getötet.45 Auch nach derartigen Massentötungen und der Auflösung der Ghettos blieben die Kommissare in die »Endlösung« eingebunden, weil viele insgeheim jüdische Schneider, Zahnärzte oder Handwerker ausbeuteten, sei es in ihren Wohnstätten oder Büros. Dabei handelte es sich um eine stillschweigende Verletzung der offiziellen Politik, die unter den höherrangigen zivilen Funktionären und Polizeiführern der Region verbreitet war, genannt seien etwa Otto Hellwig, der SS- und Polizeiführer des Generalkommissariats Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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Shitomir, und Generalkommissar Leyser selbst. Im Sommer 1943, ungefähr zu dem Zeitpunkt, als die Gendarmen den Befehl erhielten, alle Juden auszuhändigen, die noch in der Verwaltung beschäftigt waren, verriet Leyser seinen jüdischen Schneider, der Hellwig übergeben und erhängt wurde.46 Himmlers Dienste behielten zwar die oberste Kontrolle über den Apparat des Massenmords, aber die enorme Bedeutung, die die »Endlösung« für die NS-Führer hatte, sowie das Ausmaß des Holocausts machen deutlich, dass er vom Reichskommissariat und anderen Dienststellen mitgetragen werden musste: Die Teilnahme des Kommissariats war – im Gegensatz zu anderen nicht-polizeilichen Dienststellen in der Region – zwingend notwendig. Die Gebietskommissare leiteten die Zusammentreibung und die Festsetzung der verbleidenden jüdischen Einwohner, die die Phase der Wehrmachtsverwaltung überlebt hatten. Sie beaufsichtigten die Ghettoisierung der Juden und die Verwaltung der Ghettos. Des Weiteren koordinierten sie verschiedene Dienststellen bei der Planung der Massaker.47 Gab es anfangs noch Beispiele dafür, dass einige Gebietskommissare und andere deutsche Funktionäre den Verlust an Facharbeitern beklagten, der eine Folge der Massaker an den Juden war, so ist jedoch von keinem dieser Kommissare – weder aus den Kriegsjahren noch aus der Nachkriegszeit – das Zeugnis eines offenen individuellen Versuchs oder von gemeinschaftlichen Bemühungen überliefert, den radikalen Kurs der »Endlösung« zu behindern oder abzuschwächen.

Schluss Die Gebietskommissare in Shitomir – dies hat der Blick auf ihr Verhalten verdeutlicht – agierten in einer Art und Weise, die sich ihrer Überzeugung nach mit ihrer Funktion als Machthaber deckte, ja statthaft war. Sie setzten die ideologischen Ziele, die ihnen von ihren Vorgesetzten gesteckt wurden, in die ganz alltägliche Praxis und in eine Art Herrschaftssystem um. Zugleich konnten sich die Gebietskommissare einer gewissen Unabhängigkeit innerhalb ihrer jeweiligen Distrikte erfreuen, und sie konnten gewisse Verhaltensweisen an den Tag legen, die nicht durch die offizielle Politik oder die Erwartungen ihrer Vorgesetzten eingeengt wurden. Viele gefielen sich in der Rolle von Kolonialgouverneuren, die auf ihrem östlichen Vorposten saßen. Wie ihre Vorfahren in Deutsch-Südwestafrika herrschten auch die nationalsozialistischen Gebietskommissare mit der Peitsche, die in ihren Amtsstunden deutlich sichtbar auf den Schreibtischen lag. Sie träumten sich in den »Wilden Osten«, in die Frontier NS-Deutschlands sozusagen, wo bürgerliche Anstands- und Verhaltensnormen gegenstandslos schienen und hemmungslose Gewalt herrschte.48 218

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Gebietskommissar Dietz hat die »instinktive« Fähigkeit seiner Kollegen beschrieben, ihre historische Rolle zu erfassen: »Der Osten ist ein Bewährungsfeld für Pioniere in jeder Hinsicht. Aber der Raum und die unendliche Weite lassen ihre magischen Kräfte spielen und heischen ihren Tribut von dem, der nicht fest im Deutschen Denken und in seiner nationalsozialistischen Pflicht verwurzelt ist. Die Aufgabe im Osten, vor allem als Gebietskommissar, bietet allen Anlagen und Eigenschaften freien Lauf. Mancher entwickelte hier Talente und Fähigkeiten, zu deren Entfaltung es im Reich nie gekommen wäre. Aber hier fehlten auch die im Reich durch die gewachsene Gesellschaftsordnung gegebenen Grenzen. Nur der saubere Kern und der gesunde Instinkt des Ostpioniers dienten ihm als Pfadfinder durch den slawischen Raum. […] unsere einstige Verpflichtung den Ordensburgern gegenüber [war] tief genug […], auch jetzt die im weiten Raum der Ukraine verstreuten Kameraden verbunden zu halten.«49 Gewiss, nicht alle Gebietskommissare tranken maßlos, fraternisierten, plünderten oder befahlen Erschießungen nach Lust und Laune. Aus der Perspektive höherer SS-Offiziere in der Region traten einige der Gebietskommissare zu milde auf. Nachdem ein Mitarbeiter aus der Dienststelle des Höheren SS- und Polizeiführers Prützmann von Generalkommissar Klemm verlangt hatte, dass der stellvertretende Gebietskommissar in Nowograd-Wolynski, ein gewisser Müller, gemaßregelt werden solle, weil er die Arbeitskräfte und Einrichtungen seiner Region nicht hinreichend ausbeute, missachteten die SS und die Polizei zusammen mit dem örtlichen Landwirtschaftsführer schlichtweg die Amtsautorität Müllers, marschierten in die Dörfer des Gebietskommissariats, ergriffen Arbeitskräfte, konfiszierten Getreide und ermordeten die Dorfältesten, die sich den deutschen Forderungen widersetzten.50 Erschien ein Gebietskommissar zu »weich«, wurde er gewöhnlicherweise von anderen beiseitegeschoben, die willens waren, auch die schmutzigsten Arbeiten beim Aufbau des nationalsozialistischen Imperiums zu verrichten. So bleibt festzuhalten, dass die mit minimalen Ressourcen ausgestatteten Gebietskommissare unter dem extremen Druck ihrer Vorgesetzten daran arbeiteten, Vorgaben aller Art zu erfüllen; ihre größten Machtbefugnisse lagen dabei in der zentralen Koordinierungsfunktion, die ihnen bei der Umsetzung der nationalsozialistischen Politik auf den untersten Ebenen zufiel.51 Die Dienststelle eines Gebietskommissars war weder politisch stark genug noch personell derart ausgestattet, dass sie die alleinige Kontrolle über ein Gebietskommissariat ausüben konnte. Das Prestige, das diesen Behördenleitern zufiel, hing von der dienststellenübergreifenden Kooperation ab, zu der es in Shitomir kam. Obschon der gesamte nationalsozialistische Herrschaftsapparat mit seiner abscheulichen Politik, seinen mannigfaltigen Befehlsebenen Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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und seiner ad hoc-Struktur eine »Monstrosität« darstellte, bildete sich auf den unteren Ebenen im Reichskommissariat Ukraine ein unumgängliches System der Kooperation aus. Die Gebietskommissare stellten eine ungewöhnliche Mixtur von modernen Kolonisatoren, nationalsozialistischen Revolutionären und gesellschaftlichen Außenseitern dar, die in der »Bewegung« ihr Selbstwertgefühl und ihre neu entdeckte Macht im Osten fanden. Es handelte sich um Amateure, Abenteurer und Karrieristen mit materiellen Ambitionen, die nur über einen beschränkten Horizont und eine dubiose Erziehung verfügten. In vielerlei Hinsicht repräsentieren sie die aufstrebende, gerade erst entstehende Generation nationalsozialistischer Bürokraten. Sie hatten ihre Sozialisierung während des NS-Systems erfahren, waren von der Erziehung in den »Ordensburgen« geprägt und verachteten die pluralistische Politik der Weimarer Republik, sodass sie weder den rationalen, ›im eisernen Käfig eingesperrten‹ Bürokraten des Weberschen Modells verkörperten noch den banalen »Schreibtischtäter« der Typologien Hannah Arendts oder Zygmunt Baumanns.52 Diese selbst ernannte Avantgarde der »Bewegung« wurde gezielt im Bereich der Frontier des Reiches eingesetzt. Sie führten die revolutionärsten Absichten des Regimes mit klarem Zielbewusstsein und mit Überzeugung aus, nicht mit moralischer Gefühlslosigkeit oder Apathie. Wie Michael Mann in seiner Studie über nationalsozialistische Straftäter treffend betont hat: »modernity’s evil has been more ideological and blood-spattered than bureaucratic and dispassionate.«53 Die Gebietskommissare sind laut Hilberg mit anderen Bürokraten der mittleren Rangebene des NS-Systems zu vergleichen: »Zu jedem Zeitpunkt bewiesen sie verblüffendes pfadfinderisches Geschick im Falle ausbleibender Direktiven, nahtlose Übereinstimmung ihres Handelns trotz fehlender gesetzlicher Richtlinien und ein tiefes Verständnis der zu bewältigenden Aufgaben auch dort, wo keine expliziten Weisungen vorlagen.«54 Ergänzend zu diesen zutreffenden Charakterisierungen ist mit Blick auf die besetzten sowjetischen Territorien (und auch auf Polen) noch hervorzuheben, dass diese Funktionäre sich hier als Pioniere der europäischen imperialen Tradition sahen und über ein eigenes, verzerrtes Bewusstsein einer schicksalhaften Bestimmung Deutschlands verfügten.55 Die Gebietskommissare spielten bei der »Endlösung« zwar nicht die Hauptrolle, doch leiteten sie den Hauptverwaltungsapparat, der die Ukraine beherrschte und der der antijüdischen Politik die Priorität einräumte: von der Kennzeichnung der Juden und ihrer Ghettoisierung über die Beschlagnahme ihres Eigentums sowie ihrer Dienstverpflichtung zum Arbeitseinsatz bis hin zur Liquidierung von Lagern und Ghettos. Zeitgenössische Kritiker aus der Kriegszeit haben die Gebietskommissare als korrupte, ineffiziente und schwache Herrscher verlacht, und dies trug später 220

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zu der Fehldeutung bei, dass das Personal Rosenbergs nicht ernsthaft als ein Hauptvertreter krimineller Aktivitäten der Nazis zu verfolgen war. Im tiefen Schatten der SS-Männer und Polizisten Himmlers konnten viele Gebietskommissare den Ermittlungen und der Strafverfolgung in der Nachkriegszeit entkommen, indem sie sich hinter dieser Fehldeutung ebenso versteckten wie hinter der Maske eines normalen Bürokraten, der an einen entfernten Außenposten des Reichs verbannt worden war. Sicher, sie hatten sich an der Peripherie des Imperiums befunden, ihre Arbeit war jedoch von zentraler Bedeutung für die genozidale Neuordnung der Ukraine durch die Nationalsozialisten.56

Anmerkungen * 1

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Aus dem Englischen von Stefan Wunsch. Einige der Materialien, die in diesem Aufsatz verwendet werden, erschienen auch in meinem Buch: Nazi Empire-Building and the Holocaust in Ukraine, Chapel Hill 2005, S. 98–161; die hier gewählte deutsche Schreibweise der ukrainischen Orts- und Gebietsnamen richtet sich nach der dort auf S. 209f. gedruckten Übersicht. – Siehe Nürnberger Dokumente (ND) L–221, Besprechung im Führerhauptquartier, 16.  Juli 1941. Teilnehmer des Treffens waren neben Hitler der künftige Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg, der Chef der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers, der Leiter der Parteikanzlei Martin Bormann, der Reichsmarschall und Beauftragte für den Vierjahresplan Hermann Göring sowie der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel. Kriegstagebuch, 454. Sicherungsdivision, 20. August 1941. – U.S. National Archives and Record Administration (NARA), RG 242 T–315/R 2215/000438, und Kommandeur Rückwärtiges Heeresgebiet der Heeresgruppe Süd an Stab OKH, Übergabe an die Zivilverwaltung die Reichskommissare, 7. September 1941. – NARA, RG 242 T–501/R 5/000848. Die Übergabe der Region von Shitomir unter die zivile Besatzungsverwaltung erfolgte am 20.  Oktober 1941, als das Reichskommissariat Ukraine (RKU) bis zu der Linie von Dnjepr und Cherkassy-Perwomaisk ausgedehnt wurde; dies erfolgte gemäß einer Verfügung Hitlers vom 11. Oktober 1941. – NARA, RG 242 T–454/R 92/000861–62 und T–315/R 2216/000330. Die militärischen Angelegenheiten im Reichskommissariat Ukraine wurden dem Wehrmachtsbefehlshaber Ukraine Karl Kitzinger übertragen, der in Rowno, der Hauptstadt des RKU, stationiert war. Die Wehrmachtsbefehlshaber in den unter ziviler Verwaltung stehenden Gebieten waren für den Durchzug der Truppen, für die Kriegsgefangenen und für den Nachschub innerhalb der Region zur Front zuständig, sie wurden jedoch auch in die zivile Besatzungspolitik hineingezogen. Die Feldkommandantur 811 traf am 27. Oktober 1941 in Shitomir ein. – NARA, RG 242 T–315/R 2216/000437. Rosenberg hatte bereits Anfang April damit begonnen, einen Stab von »Ostexperten« zu bilden. Am 20. April 1941 ernannte Hitler ihn zum »Beauftragten für die Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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zentrale Bearbeitung der Fragen des osteuropäischen Raumes«. International Military Tribunal, Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMT). – NARA, RG 238, PS–865. Himmler (und Heydrich) hatten ebenfalls seit Anfang 1941 geplant, die Polizei- und Sicherheitsoperationen in den besetzten Ostgebieten zu leiten und Einsatzgruppen, Höhere SS- und Polizeiführer sowie Bataillone der Ordnungspolizei in den unter militärischer und ziviler Verwaltung stehenden Zonen einzusetzen. Zu Himmlers Planungen für den Krieg im Osten siehe BREITMAN, Richard: Der Architekt der »Endlösung«. Himmler und die Vernichtung der europäischen Juden, Paderborn 1996, TB-Ausgabe Zürich 2000. DALLIN, Alexander: German Rule in Russia,1941–1945: A Study of Occupation Policies, New York 1957, S. 107–118; dt. Ausgabe: Deutsche Herrschaft in Rußland 1941–1945. Eine Studie über die Besatzungspolitik, Düsseldorf 1958, ND 1981; REITLINGER, Gerald: The House Built on Sand: The Conflicts of German Policy in Russia, 1939–1945, London 1960, S. 129–142; dt. Ausgabe: Ein Haus auf Sand gebaut: Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944, Hamburg 1962. PICKER, Henry: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942. Eingeleitet, kommentiert und hg. von Andreas Hillgruber, Taschenbuchausgabe, München 1968, Nr. 188, 22. Juli 1942, S. 243–250, hier S. 250. »Die Zivilverwaltung in den besetzten Ostgebieten, Teil II: Reichskommissariat Ukraine« (»Braune Mappe«). – Osobyi Moscow 7021–148–183, S. 10. Ich danke Jürgen Matthäus für eine Kopie dieses Dokuments. Die anderen Generalkommissariate und ihre Leiter waren Wolhynien-Podolien unter SA-Obergruppenführer Heinrich Schöne, der zunächst in Brest, später in Luzk saß; Generalkommissar in Shitomir wurde zunächst Regierungspräsident Kurt Klemm (am 29. Oktober 1942 durch SS-Brigadeführer Ernst Leyser abgelöst); in Kiew wurde Gauamtsleiter Waldemar Magunia Generalkommissar, in Nikolajew NSFK-Gruppenführer Ewald Oppermann. Generalkommissar in Dnjepropetrowsk wurde SS-Oberführer und NSDAP Hauptbefehlsleiter Claus Selzner, im Generalkommissariat Krim übte Gauleiter Alfred Frauenfeld dieses Amt aus (er residierte in Melitopol). Vgl. BERKHOFF, Karel: Harvest of Despair: Life and Death in Ukraine Under Nazi Rule, Cambridge 2004, S. 39. Der Österreicher Frauenfeld war ein fanatischer Nazi, der 1953 inhaftiert wurde, da er in eine neonationalsozialistische Verschwörung verwickelt war, die den Sturz der Regierung in Bonn zum Ziel hatte. Siehe FRAUENFELD, Alfred: Ursache und Sinn unseres Kampfes, Wien 1944; FRAUENFELD, Alfred: Sowjetunion und Termitenstaat. In: Wille und Macht 22, Berlin 1941, S. 1–4; FRAUENFELD, Alfred: Und trage keine Reu’: Vom Wiener Gauleiter zum Generalkommissar der Krim. Erinnerungen und Aufzeichnungen, Leoni am Starnberger See 1978; DALLIN, German Rule, S. 264f. Das Generalkommissariat Shitomir wurde als geografische Einheit erst durch die Deutschen geschaffen, siehe: Der Generalbezirk Shitomir. – Staatsarchiv Shitomir

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(ZhSA), P1151–1–51. 1942 umfasste das Generalkommissariat schließlich 26 Gebietskommissariate. Im Februar 1942 war die Stelle des Gebietskommissars jedoch in drei der 25 Gebietskommissariaten vakant: Leltschizy, Komarin und Monastyrischtsche. – Kiew, Archiv der Oktoberrevolution (AOR), United States Holocaust Memorial Museum Archives (USHMM), RG31.003M, Rolle 3. Siehe den Bericht des Generalkommissars über die Verwaltungsstruktur. – ZhSA, P1151–1–42. Weitere Beschreibungen der Verwaltungen der Gebietskommissare finden sich im Abschlussbericht der Ermittlungen zu den Gebietskommissaren in Shitomir. – Bundesarchiv (BA) Ludwigsburg, ZSL II 204a AR-Z 135/67, und im Prozess gegen Friedrich Becker, Schupo Berditschew. – BA Ludwigsburg, II 204a AR-Z 129/67, Nr. IV. – Die in diesem Aufsatz angegebenen Aktensignaturen aus der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg (ZSL) wurden dort eingesehen, bevor die nicht mehr für Zwecke der Strafverfolgung benötigten Unterlagen der ZSL an das Bundesarchiv gingen; sie sind heute Teil des Bestandes B 162. Vgl. das Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920, Punkt 20, hier zitiert nach LEHNERT, Detlef: Die Weimarer Republik. Parteienstaat und Massengesellschaft, Stuttgart 1999, S. 374–379, Zitat S. 377. Siehe auch MOSSE, George (Hg.): Nazi Culture: Intellectual, Cultural and Social Life in the Third Reich, New York 1966, Tafel VI, und HEINEN, Franz Albert: Gottlos, schamlos, gewissenlos. Zum Osteinsatz der Ordensburg-Mannschaften, Düsseldorf 2007, ferner seinen Beitrag in diesem Band. Eine Liste sowie eine Karte der Gebietskommissare, die in Shitomir und anderen Gebieten der besetzten Ukraine sowie im Reichskommissariat Ostland eingesetzt wurden, ist abgedruckt in: Burggemeinschaft Nr. 7/9 (1944). Ich danke F. A. Heinen für diesen Hinweis. Eine Sammlung dieses Mitteilungsblattes für Absolventen der NS-Ordensburg Krössinsee liegt in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig vor. Zum Begriff »Ordensjunker« siehe MICHAEL, Robert/DOERR, Karin: Nazi Deutsch: An English Lexicon of the Language of the Third Reich, Westport 2002, S. 304. Zur Korrespondenz zwischen Klemm und Meyer siehe ZhSA, P1151–1–19; zu den Zeugnissen und Beglaubigungsschreiben des Personals sowie zur Parteiquote vgl. ZhSA, P1151–1–26 and P1151–1–46; zum Treffen in Berlin am 23. und 24. September 1941 sowie zur Ernennung des Personals für das Generalkommissariat Shitomir vgl. ZhSA, P1151–1–24. Helmuth von Wedelstädt (1902–?), Leiter der Hauptabteilung I des RKU (Politik), nach 1945 Rechtsanwalt und in der Lokalpolitik für die FDP aktiv. Laut britischen Geheimdiensterkenntnissen hatte Wedelstädt in der Nachkriegszeit Verbindungen zu den nationalsozialistischen Untergrundkreisen um Werner Naumann, ehemaliger Staatssekretär in Goebbels Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, siehe KLEE, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich: Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2003, S.  658 (Eintrag Wedelstädt) und S. 429 (Eintrag Naumann).

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14 Memoranden betreffend einen Sonderzug für die Kommissare zur Reise nach Shitomir, November 1941. – ZhSA, P1151–1–26; und Notizen von Klemm zum Treffen vom 23. und 24. September 1941. – ZhSA, P1151–1–18. 15 DIETZ, W.: Die Ordensburgen im Osteinsatz (Reichskommissariat Ukraine), in: Burggemeinschaft No. 7/9 (1944), S. 9–12, Zitate S. 9. 16 Ebd. 17 Akte Klemm. – ZhSA, P1151–1–26; die Ankunft der Kommissare ist auch von Fritz Margenfeld, dem ehemaligen Stadtkommissar von Winniza, beschrieben worden. Siehe Aussage Margenfelds zur Einweisung am Krössinsee, 17. März 1971. – Staatsanwaltschaft (StA) Stuttgart, 84 Js 3/71, S. 2. 18 Siehe zum Beispiel Sittigs Aussage. – BA Ludwigsburg, Abschlussbericht, II 204a AR-Z 141/67, Bd. II, S.  362f. Vgl. Ermittlungsverfahren. Aussagen von Fritz Margenfeld (Stadtkommissar Winniza), 17. März 1971. – StA Stuttgart, 84 Js 3/71, S. 3–9. 19 Klemm, Notiz zur Einführung für die Kommissare, 5. Dezember 1941. – ZhSA, P1151–1–33. 20 W. Dietz, Ordensburgen in Osteinsatz, S. 9f. 21 Siehe IMT, NARA, RG 238, NO–1897. Ein tendenziöser Nachkriegsbericht stammt von Rosenbergs Stellvertreter, siehe BRÄUTIGAM, Otto: Überblick über die besetzten Ostgebiete während des 2. Weltkrieges, Tübingen 1954, S. 25; sowie das Portrait des Historikers Jonathan Steinberg: STEINBERG, Jonathan: The Third Reich Reflected: German Civil Administration in the Occupied Soviet Union, 1941–44. In: English Historical Review 110 (1995), S. 620–651, hier S. 621. 22 Einer von den zwei Überlebenden von Dserschinsk, wo die Deutschen die 4.000 Seelen zählende jüdische Bevölkerung ermordeten, hat seinen Leidensweg, die Verstecke in alten Scheunen und das Durchstreifen von Dörfern auf der Suche nach Nahrung und Zuflucht beschrieben, siehe Michael Alexeyevich Rozenberg, Interview (25. April 1996). Nina Borisovna Glozman berichtete ebenfalls davon, dass sie sich in Scheunen, verlassenen Häusern und Fabriken versteckte, Interview (2. Februar 1995). Eva Abramovna Frankel durchquerte Hunderte Kilometer und musste in den Dörfern um Berdytschiw um Nahrung und Zuflucht bitten, Interview mit Kira Burova (2. Februar 1995). Office of Jewish Affairs and Emigration, Zhytomyr Ukraine. Vladimir Goykher berichtete in seinen Erinnerungen von ähnlichen Erfahrungen: GOYKHER, Vladimir: The Tragedy in the Letichev Ghetto, New York 1993. 23 Laut Wetzel waren Himmlers Kräfte mit der Leitung betraut. Vgl. Akte Otto Bräutigam, Richtlinien über die Behandlung der Judenfrage. – NARA, RG 242 T–454/R 154/MR 334 EAP 99/447. 24 Kommandeur der Gendarmerie, Kommandobefehl, 6.  Juni 1942. – ZhSA, P1151–1–9. 25 Juden erhielten Verpflegungsrationen nur dann zugewiesen, wenn Nahrungsmittel übrig waren; wenn sie Nahrungsmittel erhielten, so war dies die Ration, die einem Kind (bis zum Alter von 14 Jahren) zugedacht war. Bericht des RKU, Hauptabtei-

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lung Ernährung und Landwirtschaft, 20. Februar 1942. – Kiew AOR 2206–1–65, in USHMM, RG31.002M, Rolle 2. Zum Lager Kasatin und den Essenszeiten siehe ZhSA, P1182–1–6. Die meisten dort festgehaltenen Juden wurden vor dem Oktober 1942 getötet, nur wenige lebten noch, als das Lager im Mai 1943 aufgelöst wurde, Korrespondenz zwischen dem Leiter der SD-Außendienststelle Berditschew, Knop, und Gebietskommissar Steudel, 5. Mai 1943. – ZhSA P1536–1–2. SS- und Polizei-Gebietsführer Kasatin an den SD Berditschew, 11. Februar 1943, S. 167–168. – ZhSA P1182–1–6; Gendarmerie-Leiter Pogrebitschtsche an den SSund Polizeiführer Kasatin, 1. März 1943. – ZhSA, P1182–1–6. Müssig an die Kommissare, Juli 1942, und 27.  Oktober 1942. – ZhSA, P1151–1–139. Klemm an die Kommissariatsverwaltungen, 12. Dezember 1941. – ZhSA, P1182– 1–6, S. 170. Vgl. mehrere Auflistungen ehemaliger jüdischer Wohnungen in der Lubarska Straße in der Innenstadt von Shitomir. In einer Aufstellung wird erwähnt, dass eine Wohnung mit jüdischer Einrichtung von einem Angehörigen der Feldkommandantur beansprucht worden war, Notiz vom 12. Mai 1942. – ZhSA, P1152–1–13. An die Inventarkommission gerichtete Anforderungen von Einrichtungsgegenständen finden sich in ZhSA, Rolle 9, P1152–1–16 und P1152–1–13. 1943 befand sich auch Eigentum von ukrainischen Männern und Frauen, die als Partisanen verhaftet und getötet worden waren, unter den beschlagnahmten und verteilten Gegenständen. Ankündigung Beers, Verkauf von jüdischen Wertgegenständen, 29.  November 1941. – USHMM, RG 31.002 (Zentrales Staatsarchiv, Kiew), Rolle 4. Zu den Forderungen nach Wohnungen und Möbeln siehe Pliskos überarbeitete Dienstanweisung für den Umgang mit jüdischem Eigentum, 29.  Juli 1942. – ZhSA, P1152–1–16. Kommandobefehl, 5. Juni 1942. – ZhSA, P1182–1–4. Die gezielte medizinische Vernachlässigung und Ermordung von Geisteskranken sowie Behinderten ereignete sich in Winniza unter Stadtkommissar Margenfeld. Siehe Ermittlungsverfahren, Aussagen von Fritz Margenfeld (Stadtkommissar Winniza), 17. März 1971. – StA Stuttgart, 84 Js 3/71, 3–9. Erlass Göllners vom November 1941 und Bilanzbücher aus Tschudnow, die die Judenabgabe verdeutlichen (November 1941–Februar 1942). – ZhSA, P1537–1–282. ZhSA, P1188–2–421. Erlasse Göllners an den Bürgermeister von Berditschew und an die Bezirksleiter von Berditschew, Januschpol und Andruschewka, eine jüdische »Abgabe« betreffend, 27. November 1941 und 20. Januar 1942. Inventar Göllners, 8. Februar 1944. – ZhSA, 2375–1–1. Im Stab des Generalkommissars übte Dr. Moyisch die Funktion als persönlicher Referent von Klemm und Leyser aus; Leiter des Justizreferats war Dr. Gunkel; die Staatsanwaltschaft stand unter der Leitung von Dr. Derks; das Wirtschaftsreferat wurde von Dr. Amend geführt, ihm unterstellt war Dr. Hollnagel als Leiter der Abteilung Industrie und Produktion; Leiter des Arbeitseinsatzes war Dr. Feierabend. Hitlers Kolonisatoren in der Ukraine

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Der Verwaltungsleiter Politik, der die antijüdischen Maßnahmen »betreute«, hieß Dr. Rauch. Siehe Personalübersichten und Telefonlisten. – ZhSA, P1151–1–42. Diese leitenden Beamten der Verwaltung des Generalkommissariats Shitomir waren zwischen 36 und 45 Jahren alt, das heißt, dass sie Ende der 1920er bis Mitte der 1930er Jahre promoviert hatten. Verordnung über polizeiliche Strafgewalt der Gebietskommissare, 23. August 1941, »Braune Mappe«, S. 56. Abschlussbericht, Ermittlungen Litin. – BA Ludwigsburg, II 204a AR-Z 135/6, S. 561ff. Vollkammer wurde zuletzt 1945 in Kurland gesehen, 1973 wurde er im Zuge von Ermittlungen aufgrund von Kriegsverbrechen zum Vermissten erklärt. Dietz prahlte mit den Erfolgen der Kommissare bei der Ausbeutung sowie der Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft und Infrastruktur, er führte auch ihre Unterstützung von Arbeitskommandos an, die zum Bau der »Durchgangsstraße IV« abkommandiert waren, erwähnte dabei jedoch nicht den Einsatz jüdischer Arbeitskräfte; vgl. DIETZ, Ordensburgen im Osteinsatz, S. 9. GROSSMAN, Wassili/EHRENBURG, Ilja (Hg.): Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, dt. Ausgabe hg. v. Arno Lustiger, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 80f. In der von Grossmann und Ehrenburg besorgten amerikanischen Edition »The Black Book«, Ausgabe New York 1980, findet sich das Zitat S. 31f. Landesschützenbataillon 466, Oberleutnant Hermann Marohn (1891–1948), Abschlussbericht, Ermittlungsverfahren gegen Kommissare in Litin. – BA Ludwigsburg, II 204 AR-Z 135–67, S. 24ff. Abschlussbericht, Ermittlungen Kasatin. – BA Ludwigsburg, 204 ARZ 137/67, Band II, S. 20ff. Abschlussbericht, Ermittlungen Kasatin. – BA Ludwigsburg, 204a AR-Z 137/67, Band II, S. 225. Abschlussbericht, Ermittlungen Kasatin. – BA Ludwigsburg, 204 ARZ 137/67 Band II, S.  12. Zur Tötungswelle des SD in Teplik und Sobolowka, siehe KRUGLOV, Alexander: Unichtozhenie evreiskogo naseleniia v Vinnitskoi oblasti v 1941–1944, Mohyliv-Podil’s’kyi: n. p. 1997, S. 9f. Die grausame Behandlung ungarischer Juden, die als Arbeitskräfte in der Ukraine der 2. ungarischen Armee als Arbeitskräfte zugeordnet waren, wird detailliert dargestellt von BRAHAM, Randolph: The Hungarian Labor Service System 1939–1945, New York 1997, S. 35–38. BA Ludwigsburg, II 204 AR-Z 8/80 (Ermittlungen gegen Franz Razesberger), Bd. I, S. 41, 62. In Weißrussland spielte die Zivilverwaltung eine vergleichbare Rolle, folgt man der Arbeit von CHIARI, Bernhard: Alltag hinter der Front: Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland, 1941–1944, Düsseldorf 1998, S. 59 und Kapitel 7. Siehe auch GERLACH, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschaftsund Vernichtungspolitik in Weißrussland, 1941–1944, Hamburg 1999, der den nördlichen Teil des Generalkommissariats Shitomir (heute Weißrussland) behandelt, S. 165, 224ff. 447. Wendy Lower

48 Zu den Peitschen auf den Schreibtischen der Kommissare siehe BERKHOFF, Harvest of Despair, S.  47. Zum nationalsozialistischen Kolonialismus und zum »Wilden Osten« vgl. FURBER, David: Going East: Colonialism and German Life in Nazi-Occupied Poland, (PhD Thesis) State University of New York-Buffalo, 2003. 49 DIETZ, Ordensburgen im Osteinsatz, S. 10. 50 Zu Müller siehe ZhSA, P1151–1–383. In Winniza gerieten betrunkene Wehrmachtsoffiziere der landwirtschaftlichen Dienststelle eines Nachts in ein Handgemenge und zwangen ukrainische Milizionäre, ihnen Frauen zu besorgen; anschließend versuchten sie, die ukrainische Putzfrau in ihrer Dienststelle zu vergewaltigen. – Staatsarchiv Winniza, P1311–1–2, zugänglich in USHMM RG31.011M, Rolle 1. 51 Wie Timothy Mulligan aufgezeigt hat, »beherrschten im Januar 1943 rund 25.000 Reichsdeutsche 16.910.008 Einwohner, die auf die fünf Städte des Reichskommissariats und 443 Rayons verteilt waren. […] allein diese Dimensionen bewirkten, dass die untersten Ebenen der Verwaltung vollständig von Ukrainern abhingen«, [Übersetzung], MULLIGAN, Timothy: Politics of Illusion and Empire: German Occupation Policy in the Soviet Union, 1942–1943, New York 1988, S. 64. 52 BLOXHAM, Donald: Bureaucracy and Genocide. Vortrag auf der Tagung »Genocide: Causes-Forms-Consequences, The Namibian War (1904–1908)«, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 9. Januar 2005. 53 MANN, Michael: The Dark Side of Democracy: Explaining Ethnic Cleansing, Cambridge 2005, S.  242; dt. Ausgabe: Die dunkle Seite der Demokratie: Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007. 54 HILBERG, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1990, Bd. 3, S. 1061. 55 Zu den regionalen Verwaltungskräften in Polen und ihrer kolonialen Mentalität siehe FURBER, Going East. Reichsdeutsche Frauen erlebten ebenfalls einen »Ost-Rausch« und übernahmen die koloniale Berufung, ihre Beteiligung am Holocaust ist jedoch eher indirekt und auf die Eingliederung Volksdeutscher bezogen, vgl. HARVEY, Elisabeth: Women and the Nazi East: Agents and Witnesses to Genocide, New Haven 2004; dt. Fassung: »Der Osten braucht Dich!« Frauen und nationalsozialistische Germanisierungspolitik, Hamburg 2010. 56 Selbstverständlich betonte Rosenberg die höchste Bedeutung seiner Kommissare gegenüber seinem Rivalen Himmler. Anfangs stand Hitler in dieser Auseinandersetzung auf der Seite Rosenbergs, wenn er die exekutive Autorität der Gebietskommissare im August und September 1942 bekräftigte, siehe Rosenbergs und Himmlers gemeinsames Memorandum über die Kommissare, September 1942. – NARA, RG 242, T–175/R 17/2521105. 1944 beschrieb Dietz den selbstständigen Beitrag und die »Pionierarbeit« der Kommissare in der Ukraine, vor allem im Hinblick auf die Ausbeutung der Landwirtschaft und die Zwangsarbeit, siehe DIETZ, Ordensburgen im Osteinsatz.

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Karrierewege ehemaliger NS-Eliteschüler in der Bundesrepublik

In meinem Beitrag beschäftige ich mich mit Karrieren ehemaliger NS-Ausleseschüler nach 1945. Wie Sie wahrscheinlich wissen, habe ich zusammen mit Cordelia Stillke und Bernd Leineweber ein Forschungsprojekt über ehemalige so genannte »Napola-Schüler«, Schüler von »Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (NPEA)«, durchgeführt, dessen Ergebnisse 1996 in dem Buch »Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus« zusammengefasst sind. Unser Interesse war indes kein »historisches« im Sinne der üblichen Zeitgeschichtsforschung. Uns interessierte in diesem sozialpsychologischen Projekt, welche psychischen Wirkungen und Folgen die Napola-Erziehung hatte. Und zwar nicht nur auf die Schüler, die legendären »Jungmannen« selbst, sondern auch – dies begriffen wir unter »Folgen« – welche Auswirkungen eine solche schulische Erziehung, die man zu Recht als Zurichtung bezeichnen kann, auf die Kinder der ehemaligen »Napolaner«, wie sie sich selbst gerne nennen, hatten. Schließlich fragten wir uns, ob von dieser Erziehung auch noch bei der Enkelgeneration etwas festzustellen sei. Es war dies seinerzeit die erste transgenerationelle Studie über NS-Folgen, die drei Generationen umfasste. In diesem Beitrag sollen jedoch nicht die Ergebnisse dieser aufwändigen Forschung vorgeführt werden, die methodisch wesentlich auf einer speziellen Interviewtechnik beruhte, die sich an das analytische Erstinterview anlehnte. Ich werde im Folgenden skizzenhaft aufzeigen, welche Wirkungen diese spezielle Pädagogik für die beruflichen Karrieren der Ehemaligen hatten. Mittlerweile ist eine interessante Umbewertung der Napola-Erziehung eingetreten. Direkt nach 1945 galten die Zöglinge als eine überaus gefährliche Hinterlassenschaft des NS-Regimes. Sie wurden ähnlich wie die Werwölfe als zu allem bereite Fanatiker eingestuft. Viele Napolaner konnten ihre Schulausbildung nicht fortsetzen, viele verschwiegen ihre schulische Herkunft, um keine Schwierigkeiten zu bekommen. Das hat sich geändert. Ein ehemaliger Napola-Schüler berichtet dazu: Napola war »eine Zeit, die ich 1954 in meiner Bewerbung für eine Schlosserlehrstelle glatt unterschlug, weil es damals noch überhaupt nicht opportun war, so etwas zu erwähnen. Ganz im Gegen-

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satz zu heute, wo die Napola in fast keinem Nachkriegsgrößenlebenslauf fehlen darf.«1 Diese Aussage stammt aus der Autobiographie von Heinz Duerr (Rottweil). Seine Karriere ist bekannt: Vorstand von AEG und Daimler, dann Arbeitgeberpräsident, schließlich Bundesbahn-Chef. In Österreich ist der Einfluss der Napola so groß, dass Soziologen von einer »Generation der Napola« sprechen. Und Harald Ofner, ehemaliger österreichischer Justizminister – ein FPÖ-Mann – sagte mir, dass viele Aufstiegswillige, die nie eine solche Schule von innen gesehen haben, sich eine Napola-Zeit erdichteten, weil der Besuch einer solchen Anstalt als Elitenachweis angesehen wird. Napola gilt also heute längst als karrierefördernde Einrichtung. Und tatsächlich belegt der überdurchschnittliche Erfolg vieler Absolventen das auch. Ich möchte hier skizzenhaft und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit etwas über die Karrierewege ehemaliger NS-Eliteschüler berichten und ich beziehe mich hier, ohne dies im Einzelnen zu differenzieren, auf drei NS-Ausleseschulen, also die Napolas, die Adolf-Hitler-Schulen und die Reichsschule Feldafing. Auffällig ist bei den ehemaligen Schülern dieser Anstalten zunächst die große Zahl der publizistisch Tätigen. Um einige Namen zu nennen: Theo Sommer, Herausgeber der »Zeit«; beim selben Blatt Manfred Sack und, als Leiter des Zeit-Magazins, Jochen Steinmayr; der FR-Chef Walter Holzer oder der FAZ-Redakteur Klaus Natorp; der Chefredakteur von »Eltern«, Otto Schuster. Ferner Rüdiger von Wechmar und Hans »Jonny« Klein, die später dann doch in die Politik wechselten, der eine als Regierungssprecher und später Bundestagsvizepräsident, der andere als Botschafter und Präsident der UNO-Vollversammlung. Mainhard Graf Nayhauß, der mit seinen Kommentaren das politische Intimleben der Bonner Republik beleuchtete, war ebenso auf einer Napola wie der langjährige Kulturchef des »Spiegel«, Hellmuth Karasek. Und schließlich der »Stern«-Reporter Jörg Andrees Elten, der heute, nachdem er sich durch Baghwan bekehren ließ, Swami Satyananda heißt. Ein zweiter bevorzugter Karriereplatz wurde das Militär. So waren z. B. der stellvertretende Generalinspekteur der Bundeswehr Hans Poeppel und der Nato-Oberbefehlshaber Europa-Mitte, Leopold Chalupa, Schüler von NS-Eliteinternaten. Ebenso Generalmajor Jochen Löser und der durch eine Affäre leidlich bekannt gewordene General Kießling. Das wichtigste Wirkungsfeld jedoch war die Wirtschaft. Denn mehr als in allen anderen Bereichen haben sich hier Vorstellungen, die dem Erziehungsbild der NS-Ausleseschulen entsprechen, so elegant – und scheinbar »ideologiefrei« – umsetzen lassen. So wenig die Unterstellung zutrifft, die schulische Karrierewege ehemaliger NS-Eliteschüler in der Bundesrepublik

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Prägung prädisponiere eindeutig spätere politische Optionen, so auffallend ist, dass bevorzugt in diesem Feld das zwiespältige Erbe der Ausleseerziehung zum Tragen kam. Das korporatistische Grundklima der deutschen Nachkriegswirtschaft bildete zusammen mit dem hierarchiebezogenen Denken den geeigneten Humus, um den Samen der NS-Eliten-Prägung optimal aufgehen zu lassen. Die typische Mischung aus patriarchalischer und, dem Stab-LinienModell folgender quasi-militärischer Führungsstruktur, war wie gemacht für die auf den Elite-Anstalten vermittelten Einstellungen. Einerseits konnten ihre ehemaligen Schüler nahtlos an die Erfahrungen von Befehlskette, Gehorsam und Korpsgeist anknüpfen. Andererseits konnten sie im Zuge ihres persönlichen Aufstiegs nach und nach moderne, gruppenbezogene Führungselemente einführen, deren Vorformen sie auf den Schulen kennen gelernt hatten. Die Generation Napola in der Nachkriegswirtschaft steht für das Paradox einer »Modernisierung im Zeichen des Alten«. Ihre Angehörigen waren traditionsverpflichtete Modernisierer, geschickte Strategen des Fortschritts – an einer Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse lag ihnen nicht. Exemplarisch dafür ist die Karriere von Harald Völklin (der Name wurde geändert, da der Betreffende nicht erkennbar sein möchte), die mit einer Lüge begann. Nach 1945 strich er – er war nicht der einzige – die Zugehörigkeit zu einer Napola aus seinem curriculum vitae. Verständlich, denn die ehemaligen Schüler galten in den Augen der Sieger als die gefährlichste Hinterlassenschaft des alten Regimes. Als in der Firma, bei der er nach Kriegsende unterkam, eine Auslandsstelle für Bewerber ausgeschrieben wird, die der Landessprache kundig sind, meldet er sich – ohne ein Wort der Sprache zu kennen. Niemand überprüft seine Sprachkenntnis, Völklin vertraut auf sein überlegenes Auftreten und die Möglichkeit, das Erwünschte in kurzer Zeit zu lernen, er hat nicht das Gefühl, eine Täuschung zu begehen. Und in der Tat: Er wird genommen. Noch Jahrzehnte nach dieser Heldentat strahlt er vor Stolz, wenn er von seinem karrierebegründenden Täuschungsmanöver berichtet. Er hat doch, so meint er, nur das existenzielle Motto seiner Schule »Ihr seid besser!« befolgt. Für ihn steht diese Anweisung durchaus nicht im Widerspruch zum ethisch gefärbten Imperativ »Du bist nichts, Dein Volk ist alles«. Denn er pflegte als Chef beides zu befolgen. Führung war das eine, betont er. Aber jede Führungsaufgabe war in der Napola immer sowohl auf die Gruppe als auch auf die Gesamtheit bezogen. »Es ging immer um Gruppen-, es ging nicht um die Spitzenleistung. Und Sie werden lachen, das ist eine der Lebensweisheiten, die mir auch sehr geholfen haben. Jedes Unternehmen, jede Abteilung in einem Unternehmen hat ihre eigenen Spielregeln, und wenn Sie die nicht schnell mitkriegen, auch als Chef, und Sie wissen nicht, wo hier die informellen Führer sitzen, ja, dann kommen Sie auf keinen grünen Zweig.«2 Er zählt 230

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die Elemente seines Erfolgs auf, die er der Napola-Erziehung zu verdanken habe: Die beflügelnde Kraft, sich als »etwas Besonderes gefühlt« zu haben, half ihm, den Weg in die Chefposition zu finden; der »Korpsgeist« sei ihm so »ins Blut« übergegangen, so dass er sich später »immer automatisch in einer absoluten Identifikation« mit seiner Firma wiederfand; schließlich der unbedingte Wille des Vorwärtsstrebens zum Nutzen des »Großenganzen«. Er hat Schwierigkeiten, seine eigenen Kinder zu verstehen, die sich als Wissenschaftler spezialistischen Themen widmen. »Für mich als Napolaner ist das Kokolores. Wie kann ich meinem Volk, wie kann ich meiner Volkswirtschaft – das ist ja heute wesentlicher – nutzen, wenn ich mich jahrelang mit solchen Themen beschäftige?« Im Handumdrehen wird aus dem »Volk« die »Volkswirtschaft«. Es ist eine der typischen »Umdefinitionen«, die die ehemaligen NS-Elitisten nach 1945 zu leisten hatten, wenn sie in der Welt des Wirtschaftswunders Fuß fassen wollten. Völklin führt sie exemplarisch vor: Nun galt es nicht mehr die Welt zu erobern, sondern die Weltmärkte. Nicht länger die Gruppe war wichtiger als der Einzelne, sondern das »Team«. Die alte »Begeisterung« war leicht durch »Motivation« zu ersetzen, der Treueschwur durch »Identifizierung«. Das Erbe der Eliteausbildung trug Früchte in einem neuen Typus Wirtschaftsführer, dem Typus der leitenden Angestellten. »Wir waren fantastische zweite Männer«, fasst ein ehemaliger Napolaschüler das Resultat seiner Erziehung zusammen: Nicht zu den im Rampenlicht stehenden »Vorzeigeführern« seien sie erzogen worden, sondern zu »grauen Eminenzen«, den Strippenziehern im Hintergrund. Und in der Tat: Ihre Gesichter zieren keine Titelblätter, man kennt jenseits ihres beruflichen Umfelds oft nicht einmal ihre Namen, aber sie hatten die Schlüsselpositionen inne. Natürlich gibt es auch hier Prominente: An erster Stelle Alfred Herrhausen, Chef der Deutschen Bank oder der genannte Heinz Duerr oder auch Hans Günther Zempelin, Aufsichtsrat der Akzo Nobel und Präsident des BDA. Aber wichtiger als sie waren die »Männer der zweiten Reihe«. Sie haben die Geschichte der Bundesrepublik nachhaltig geprägt.

Anmerkungen 1 2

Dürr, Heinz: In der ersten Reihe. Aufzeichnungen eines Unerschrockenen, Berlin 2008, S. 11. Alle Zitate aus: Schneider, Christian/STILLKE, Cordelia/LEINEWEBER, Bernd: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, Hamburg 1996, S. 133ff.

Karrierewege ehemaliger NS-Eliteschüler in der Bundesrepublik

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Freerk Huisken

Scham – Abwehr – Verdrängung Täterorte als Störfälle der deutschen Erinnerungskultur

Um es gleich vorweg zu sagen: Die große Chance, die ehemalige Ordensburg Vogelsang als Lern­ort zu etablieren, sehe ich darin, die von Anerkenntnis von Schuld, geteilter Verantwor­tungsübernahme und Scham gezeichnete Erinnerungskultur der letzten Jahrzehnte radikal zu ersetzen durch eine of­fene theoretische Befassung mit dem politischen Gehalt von Nationalsozialismus und Faschismus – dem der Jahre 1933–1945 und dem, der sich in der deutschen Nachkriegsde­mokratie erneut eta­bliert. Eine solche theoretische Befassung hat nämlich – wie ich in einer zusammen mit Rolf Gutte erstellten Untersu­ chung über den Schulunter­richt zum Thema NS-Zeit feststellen musste1 – in großen Teilen in der Form einer ideologischen Unterweisung, ja, ich möchte sagen, In­doktrination stattgefunden, die den deutschen Faschismus nur als ne­gative Matrix behandelt hat, vor der die Nachkriegsdemokratie zwangsläufig, d. h. ohne dass sie selbst zu einem Thema gemacht worden wäre, in einem positiven Licht erscheinen sollte. Ein Beispiel: Mit der Konzentration des deutschen Faschismus auf den Holocaust wird dieser als Ver­brechen eingeordnet, d. h. als moralische und rechtliche Abweichung von dem, was demokrati­scher Rechtsstaat und demokratische Moral gebieten. »So ein Verbrechen wäre in einer/unserer Demokra­tie nicht möglich!«, lautet dann die Schlussfolgerung, die den demokratischen Rechts­staat und die demokratische Wertegemeinschaft zu einem sicheren Bollwerk gegen Nationalsozialismus und Faschismus verklärt. In der Tat: Ein Holocaust an Minderheiten aus rassistischen Gründen wäre hierzulan­de nicht denkbar. Soweit ist dem Befund zuzustimmen. Und dennoch kann man ihn damit nicht abhaken und zwar aus drei Gründen nicht: Erstens ist es sehr fraglich, ob es eigentlich wirklich ein gutes Licht auf die Demokratie wirft, wenn man ihr attestiert, zum Holocaust würde sie es heu­te nicht bringen! Es soll ein Lob der Demo­kratie darstellen, wenn ihre politischen und pädago­gischen Repräsentanten diesem politischen System einen Massen­mord an Juden nicht mehr zutrauen! Allein schon die in diesem geständigen Befund enthaltene Fra­gestellung, ob denn in der Demokratie so etwas vorstellbar wäre, ist dazu angetan, mir kalte Schauer über den Rücken zu jagen. Offensichtlich kann man sich so eini­ges an menschenverachtenden 232

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Handlun­gen in der De­mokratie vorstellen – dabei sind solche Vorstellungen längst von einer Wirklich­keit eingeholt wor­den, zu der Massenarmut ebenso ge­hört wie daraus erklärbarer, in­zwischen verbreiteter Kindsmord, verseuchte Lebensmittel ebenso wie strahlende AKWs, Amokläufe ebenso wie Ausländer­ feindlichkeit und Kriegsbeteiligungen -, nur eben den Holocaust nicht. Bravo! Ob das wirklich für die herrschende politische Ordnung spricht? Zweitens lebt dieser Befund von einer Entpoli­tisierung der Befassung mit dem Nationalsozialismus bzw. Faschismus (im Folgenden abgekürzt mit NS/F). Wo in der Analyse des deutschen Faschismus vornehmlich moralische und juristische Maß­stäbe an­gelegt werden, da lässt sich dieser nicht als das begreifen, was er war, nämlich als ein politis­ches Programm, das die Beseitigung der »Schmach von Versailles« und die Erneuerung der deut­schen Nation ebenso wie die Erobe­rung von Lebensraum zum Ziel hatte; ein Programm, das in zentralen Grundzügen von anderen Parteien der Wei­marer Republik geteilt worden war und offensicht­lich Zustimmung in großen Teilen des deut­ schen Volkes fand – jenes Volkes übrigens, das nach dem ver­lorenen Krieg wenig Mühe hatte, sich mit den neuen demokratischen Herren an­zufreunden. Anders gesagt: Wer den deutschen Faschismus nur als Ansammlung von Verstößen gegen demo­kratische Werte, demokratische Moralvorstellung und Rechtsordnungen kennt, der mag zwar dadurch zu ei­nem Jünger demokratischer Ideale reifen – wohl­gemerkt nur der ›Ideale‹, denn eine vorurteilsfreie Befas­sung mit der demokratischen Herrschafts­form liegt selbstverständlich dort nicht vor, wo die Demokratie nur als nicht- bzw. antifaschis­tisches Ver­ sprechen vorgestellt wird -, doch vom Faschismus selbst wird der wenig begriffen haben.2 Drittens schließlich ist die Bollwerk-Theorie längst empirisch widerlegt. Alle Anstrengungen, den Anfän­gen zu wehren, haben offensicht­lich versagt. Denn: Die Demokratie bringt neue Faschisten, die Neo-Fa­schisten in nicht geringer Zahl hervor. Von »Anfängen« lässt sich schon gar nicht mehr sprechen. Es handelt sich bei ihnen nicht um Ewig-Gestrige und Unbelehr­bare, son­dern um Jugendliche und Erwach­sene beiderlei Geschlechts, die in der Nachkriegsde­mokratie groß geworden sind und sich in ihr ras­sistische und nationalistische Maßstäbe der po­litischen Beurteilung des Tagesgeschehens angeeignet haben, die dann vor al­lem Ausländer – aber nicht nur diese – zu spüren bekommen.3 Die Bollwerk-Theorie, dieses antifaschistische Element der Staatsräson der Nachkriegszeit erweist sich also nicht nur als »Rohrkrepierer«, markiert nicht nur eine Form der demokratie-ideologischen (Nicht-)Befassung mit NS/F, sondern ist darüber hinaus deswegen nicht das Papier wert, auf dem sie niedergeschrieben wird, weil es – wie schon die Weimarer auch – die geläuScham – Abwehr – Verdrängung

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terte Nachkriegsdemokratie zu nicht zu übersehenden (Neo-)Faschismen gebracht hat. Und gerade diese Tatsache leitet unmittelbar über zu jener Fra­gestellung, der sich Wissenschaftler an einem solchen Ort wie Vogelsang, an dem einst die »Elite« des deutschen Nachwuchses auf Ras­sismus und Nationalismus eingeschworen wurde bzw. eingeschworen werden sollte, zu widmen hätten. Ich will die Frage ein­mal offen formulieren, obwohl ich schon einige Hypothesen anzubieten hätte und im Folgen­den anbieten werde: Wie erklärt sich der Umstand, dass sich demokratisch sozialisierte Men­schen faschistischem Gedankengut nähern und sich gar dem Faschismus als ihrer politischen Heimat zuwenden? Oder enger ge­fasst: Worin ist die herrschende Demokratie ein Nährboden für Rassismus und Nationalismus? Einige Hypothesen will ich im Folgenden kurz vorstellen:

Scham, Schuld, Verantwortung Ich kann mich noch gut an meine Schulzeit erinnern, in der ein kritischer Lehrer den Einstieg in das Thema ›deutscher Faschismus‹ mit den Worten begann, wir alle trügen Verantwortung für den Massen­mord an den Juden, müssten zu dieser Schuld stehen, weswegen uns ein wenig Scham gut zu Gesicht stün­de. Mich hat das damals tief beeindruckt. Heute weiß ich es besser. Heute weiß ich, dass dieser Lehrer zu uns nicht als Faschismuskritiker, sondern als guter Deutscher gespro­chen hat. Wie soll man sich auch als Faschismuskritiker oder gar als Antifaschist für Ta­ten von Fa­schisten schämen oder für sie Verantwortung übernehmen? Als solcher hat man doch nicht nur nichts ge­mein mit ihnen, sondern definiert sich als ihr politischer Gegner. Lassen Sie mich das an ei­nem anderen Beispiel illustrieren: Wenn hierzulande ein Raubmörder dingfest gemacht wird und die Schlagzeilen füllt, kommt dann jemand auf die Idee, sich für diesen Menschen zu schämen, Mitschuld auf sich zu nehmen – nur weil ein Deutscher ist? Natürlich nicht. Wer als Antifaschist zur Scham für die Taten des Nationalsozialismus aufgerufen wird, soll also im deutschen Faschisten weniger den Faschismus als vielmehr das Deutschtum erblicken, dem dieser Deutsche damals Schande ge­macht hat. Also nur weil jemand zufällig deutscher Staatsbürger ist, wird er moralisch in Sippenhaft genommen – ausgerechnet für Taten seiner politischen Gegner! Im Namen einer proklamierten völkischen bzw. volksmäßigen Identi­tät, zwischen den faschistischen Deutschen von damals und den demokratischen Deutschen von heute, die von allen Unterschieden und Gegensätzen, die es in einem Volk gibt, abstrahiert, wird diese Büßerhaltung – bis heute 234

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noch – eingefordert. Es mag zunächst paradox erscheinen, aber es verhält sich in der Tat so, dass aus­gerechnet die kritische Nachkriegsbefassung mit dem Faschismus, die doch mit Rassismus und Nationa­lismus aufräu­men wollte und will, ein Stück nationalistischer (Nachkriegs-)Erziehung darstellt: Ich soll mich ganz als Deutscher fühlen und diese Empfindung – mit Scham-, Schuldund Verantwortungsgefühlen – über meinen antifaschistischen politischen Standpunkt stel­len. So übt man sich in nationalistisches Gedankengut ein: Ich, soll der gute Deutsche denken, bin vor allem, was ich sonst noch denke und will, erst einmal Deutscher und habe meinen Gefühlshaushalt entsprechend zu justieren.4 Die Schwierigkeit dieses Befundes liegt darin – dessen bin ich mir bewusst  –, dass dieser Schuld-Scham-Verantwortungs-Nationa­lismus hier weder als Hurra-Pa­triotismus noch als das – neu­erdings wieder üblich gewordene – stolze Bekenntnis zu Deutschland, weder als Feindschafts­erklärung an Nachbarstaaten noch als revanchistisches Programm daherkommt. Er tritt auf als negativer Nationalismus – wie ich das nennen möchte. Nicht als Stolz auf die Nation, sondern als Bekenntnis zur Schuld der Nation! Eine solche eingeforderte nega­tive nationalistische Stellung ist denn auch vielen jener Deutschen, die bis 1945 gerade noch einem anderen Nationalismus gehuldigt hatten, nach Kriegsende nicht leicht gefallen. Lieber hätten sie, wie andere Nationen es mit Teilen ihrer Geschichte gemacht haben ( Japan zu China, Frank­reich zu Algerien …) und im­mer noch machen, dieses Kapitel deutscher Ge­schichte über­sprungen, abgelegt und gleich mit dem Stolz auf das »deutsche Wirtschaftswun­der« neu ange­fangen. Das war jedoch für den Kriegsverlierer Deutschland nach 1945 außenpolitisch nicht opportun: Er hatte sich in der Staatenwelt als von innen und nach außen gereinigter, geläuterter entnazifi­zierter Staat vorzustellen, wozu die negative Nationalerziehung – aus staatspolitischem Oppor­tunismus geheuchelt oder ernst genommen – ihren Beitrag leisten sollte und geleistet hat. Und den hat sie so gut geleistet, dass z. B. die Grünen ihren Stolz auf das heutige Deutschland, also ih­ren neuen positiven Nationalis­mus gerade mit dem ne­gativen Nationalismus, also damit begründen, dass sich Deutschland doch Jahrzehnte lang für den Mord an den Juden geschämt hat: Was sind wir doch für ein tolles Volk, dass wir zu unseren Untaten der Vergangenheit stehen, nicht den Versuch machen, sie zu leugnen, sondern oben­drein die Leugnung noch unter Strafe stellen. So etwas folgt der rein instrumentellen Lo­gik des Ablasses: Lan­ge genug und für die Welt überzeugend haben wir für unsere Sünden ge­büßt (nicht zuletzt auch mit Geldzahlungen), jetzt darf wieder »gesündigt« werden. Und so war es denn auch den Grünen unter Außenminister Josef Fi­scher vorbe­halten, die erste Kriegs-

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beteiligung nach 1945 – die Rede ist vom Kosovo-Krieg – mit dem Ver­weis auf »unsere Vergangenheit« zu legitimieren. Übrigens und damit ich nicht missverstanden werde, so einen außenpolitisch geschmeidigen nega­tiven Na­tionalismus hätten und haben Faschisten unter Vaterlandsverrat abgebucht. Doch spricht das nicht für den negativen Nationalismus. Vielmehr lassen sich daran die Fortschritte der De­mokratie in Sachen Nationalerziehung ablesen: Wo der demokratische Natio­nalismus, er nennt sich heute lieber Patriotismus oder Heimatliebe, nicht gleich mit Säbelrasseln da­herkommt, gilt er als harmloses Bekenntnis zum eigenen Vaterland, als Ausdruck »der Liebe zu den Seinen, die nichts mit dem Hass auf das Fremde zu tun hat« (Richard von Weizsäcker), wie dies heute in der Schule gelehrt wird. Zu Unrecht! Denn jedes Be­kenntnis zum Deutschtum – wie immer es auch genannt wird – fingiert nach innen eine quasi-natürliche Identi­tät aller hierzulande lebenden Menschen und schließt nach außen immer zugleich eine Abgrenzung gegenüber dem Rest der Welt ein. Der ist dann rein negativ zum Deutschtum als Ansammlung von Nicht-Deutschen definiert – was für von ihrer Besonderheit und Güte überzeugte Deutsche immer schon eine quasirassistische Abwertung einschließt. Diese Abgrenzung, die zunächst keine zwischen Völkerschaften, sondern eine zwischen ihren nationalen Führungen ist, kommt nie gleich als Kriegserklärung daher, sondern nimmt je nach dem politischem Verhältnis zwischen konkurrierenden Nationalstaaten unterschiedliche Formen an. Da gibt es »unsere Freunde« oder »unsere Bündnispartner«, die sich entsprechend aufführen müssen, um unsere Freundschaft zu verdienen, mit anderen wird bloß kooperiert, sprich: sie sind als Ansammlung ökonomischer Ressourcen von Interesse, wieder andere stehen auf schwarzen Listen oder gehören gar zu »den Schurkenstaaten«, die als Staaten kein Existenzrecht besitzen, weil sie eigene, also störende regional- oder weltpolitische Interessen haben, und werden entsprechend mit Kriegsandrohungen oder Kriegen überzogen. So gesehen ist der demokratische Nationalismus von heute in jeder Hinsicht eine funktionalere, weil anpassungsfähigere politische Produktivkraft als der faschistische; zumal er gar nicht als Nationalismus gilt, weil hier und heute nur jene Identifizierung mit nationalen Interessen, die sofort als Feindschaftserklärung daherkommt, unter diesem Etikett läuft. Dass Nationalismus, also das Sichgemeinmachen mit den Zwecken des Nationalstaats, die für die meisten Bürger höchst unerquickliche Perspektiven einschließen, in einer Vielzahl von unerfreulichen Varianten existiert, ist der durchgängigen Identifizierung von Nationalismus mit seiner faschistischen Spielart zum Opfer gefallen. Intendiert ist das nicht. Es ist vielmehr das Resultat jener – inzwischen von der Wissenschaft abgesegneten – politischen Gesinnung, die faschistischen Nationalismus begriffslos 236

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verurteilt und deswegen zutiefst überzeugt davon ist, dass eine gleiche Geisteshaltung bzw. Programmatik bei Demokraten nicht vorliegen kann.

Antirassismus des GG: Art. 3(3) Und auch das haben wir alle gelernt: Rassismus, gar Antisemitismus verträgt sich nicht mit der demokratischen Grundordnung unseres Gemeinwesens. Das Grundgesetz, Art 3(3), mit seinem Diskri­minierungsverbot stellt das eindeutig klar. Doch möchte ich auch hier eini­ge Fra­gen stellen. Zum Beispiel diese: Warum muss ein Diskriminierungsverbot im Grundgesetz verankert werden, wenn Diskriminierungen doch gar nicht zur Demokratie passen – wie es heißt? Warum befinden die Hüter des Grundgesetzes nicht etwa Folgendes: Den Art 3(3) können wir streichen, denn so et­was kommt in einem demokratischen Gemeinwesen ohnehin nicht vor! Bekanntlich ist das Ge­genteil der Fall: Der GG-Artikel wurde jüngst gar in einem zusätzlichen Antidiskriminierungs­gesetz ausfor­muliert. Es scheint dafür ein Bedarf zu bestehen. Und der wird in allen Abteilun­gen des Art. 3(3) entdeckt, besonders im Umgang der Deutschen mit Ausländern. Deswegen meine Frage: Wie erklärt sich die grassierende Ausländerfeindlichkeit, die durch empirische Untersuchungen hinreichend ermittelt worden ist? Wo und wie produzieren die demokratischen Lebens­verhältnisse diese Sorte durchgesetzter rassistischer Ausländerfeindlichkeit5, die man doch eher, folgt man hiesiger Indoktrination, in rechtsextremen bis faschistischen Systemen vermuten müsste? Dazu meine nächste Hypothese. Ich beginne sie mit einer Frage: Was macht einen Menschen zu einem Ausländer? Ein Ausländer ist ein NichtDeutscher! Und als Nicht-Deutscher wird er vom deutschen Staat vor jeder anderen Befassung mit der Frage konfrontiert, ob er eigentlich dann, wenn er sich zum Arbeiten und Leben hier niederlassen will, überhaupt den Ansprüchen genügen kann, die der hiesige Staat an sein autochthones Staatsvolk stellt. Diese Frage formuliert einen Verdacht und der stellt die rassistische Grundlage der gültigen Auslän­dergesetzgebung dar: Menschen werden, nur weil sie jenseits der hiesigen Grenze geboren wurden, zunächst einmal gar nicht als das betrachtet, was sie als diese einzelnen Menschen mit Interessen und Vorlieben, mit Ansichten und Hobbys, mit oder ohne Besitz sind, sondern allein als Bürger des fremden Staates, als ihm treu dienende Anhän­ger, kurz als Nationalisten ihres Heimatstaates. Und diese an der fremden Staatsbür­gerschaft festgemachte Einsortierung der Ausländer als treue Nationalisten ihres Heimatlandes – der inländische Staat nimmt dabei Maß an dem Ideal, das er von seinen Bürgern hat – wird in der Ausländergesetzgebung wie die Natur, wie Scham – Abwehr – Verdrängung

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das innere Wesen dieser Menschen behandelt. Jeder Bürger eines anderen Staates wird darin wie die Verkörperung des fremden, konkurrierenden bis gegensätzlichen Staatswillens behandelt. Er gilt deswegen hierzulande – und noch vor allen politischen oder ökonomischen Brauchbarkeitserwägungen, denen er unterzogen wird – als eine potentielle Störung, wenn nicht gar als Gefahr, eben als fünfteKolonne des anderen Staates. Und genau gemäß dieser Beurteilung wird hierzulande mit ihm praktisch verfahren: Geprüft wird er, unter eine Sondergerichtsbarkeit subsumiert und dann entschieden, ob er und wenn ja, er unter welchen restriktiven Bedingungen wie lange bleiben darf. Diese, aus nationalen Interessen erwachsene rassistische Verdachtshaltung in der Demokratie charakterisiert alle Hässlichkeiten im praktischen Umgang des Staates mit Ausländern: Von der Anwerbung als »Gastarbeiter« als billiges Arbeitsmaterial, über die nachfolgende Abschiebung derjenigen von ihnen, die der kapitalistische Arbeitsmagen nicht mehr verwenden konnte, bis hin zum Schengen-Abkommen mit seinen Hunderten von Toten an den Mittelmeerküsten. Und zugleich ist diese politisch generierte Verdachtshaltung die Grundlage der Ausländerfeindlichkeit so vieler guter deutscher Bürger. Die übersetzen sich die ideologi­sche Ausformulierung des politischen Verdachts – man kennt das: »das Boot ist voll«, Wirt­schaftsflüchtlinge, »Kinder statt Inder«… .- in ihr privates Milieu und erfinden sich in der An­wesenheit von Ausländern fälschlicherweise prompt Anschläge auf »ihren« Arbeitsplatz, ihr Hartz-IV, ihre Rente, ihr deutsches Hausklima, ihren Vorgarten usw. So gesehen sind deutsche Bürger, die die Grundla­ge nationaler Ausländerpolitik teilen, immer zugleich Vertreter des darin enthaltenen Rassis­mus, den sie sich alltagsadäquat ausmalen. Der Übersetzung des politischen Ausländerrassismus in ihr privates Umfeld ist häufig eine Entzweiung vieler guter Deutscher mit ihren Lehrmeistern, den politischen Repräsentanten nationaler Auslän­derpolitik geschuldet. Gelegentlich haben solch gut erzogene Bürger kein Verständnis dafür, dass der Staat im Um­gang mit den Ausländern Ausnahmen kennt – was Günther Beckstein von der CSU einmal so formuliert hat: »Ausländer, die uns nützen, dürfen bleiben, und Ausländer, die uns ausnützen, müssen gehen!« Der Rassismus des Bürgers gerät deswe­gen schon mal fanatischer als der des demokratischen Staates, der noch gewillt ist, seine prinzi­pielle Verdachtshaltung gegenüber Ausländern an nationalökonomischen oder diplomatischen Kalkulationen zu re­lativieren (»Gastarbeiter«, Greencards). Diese demokratisch sozialisierten Bürger machen dann die NPD, die Reps, die DVU oder die Skins aus, die schon mal mit Baseballschlägern jenes Urteil unbefugt, quasi in Selbstjustiz vollziehen, welches sie der offiziellen demokratischen Ausländerpolitik abge­lauscht haben: Ausländer haben im Prinzip hier nichts 238

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zu suchen. Es ist diese fanati­sche Adaptation des politischen Standpunktes zu Ausländern, der in der Demokratie gilt, die aus supertreuen Deutschen schon mal Rechtsextreme oder Neofaschisten macht.

Elitenbildung Meine letzte Hypothese führt zurück zu Vogelsang; zur Ordensburg, die zum Zweck der Produktion einer Elite für das »Dritte Reich« ausgebaut worden war. In den Publika­tionen zur Elitenbildung und -auslese im deutschen Faschismus wird der Eindruck erzeugt und soll der Eindruck erzeugt werden, dass Elitenbildung per se etwas zutiefst Undemokratisches ist6: Eine dem Füh­ rer ergebene Clique junger Menschen/Männer soll heran gezüchtet werden, denen der Führer später sein Erbe übergeben kann. Weit über der Masse des Volkes stehend und sie benutzend, sollte diese elitäre Kampfeinheit Deutschland im Sinne Hitlers zu neuer Macht und Größe führen, eben »das Reich tragen«. Konfrontiert man damit einmal die im letzten Jahrzehnt hierzulande begonnene Debatte über Eliteuniversitäten erscheint der völlig andere Tonfall zur gleichen Sache, der Bil­dung von Eliten, merkwürdig. Heute verkörpert die Elite, die per Sonder-»züchtung« in den Exzellenzuniversitäten produziert werden soll, nicht mehr die kleine Clique der Mächtigen, die der Masse des Volkes gegenübersteht, und sie für ihre verwerflichen Zwecke instrumentalisiert. Heute sind bei der Elitenbildung nur gute nationale Zwecke am Werk. Dabei ist auch die neue nationale (Wissenschafts-)Elite durchaus ebenfalls als »Kampfeinheit« konzipiert; und zwar für Konkurrenzsiege über andere Mächte. Sie stellt eine Art (natur-)wis­senschaftlicher Kampfeinheit für notwendige Erfolge dar, die in der Standortkonkurrenz gegen andere Nationalökonomien errungen werden sollen. Neue Größe und Machtzuwachs der Nation ist auch hier das Ziel. Nur: Es soll noch ein jeder einsehen, dass diese Eliteuniversitäten schnellstens den naturwissenschaftlichen Standard der USA und Japans ein-, wenn nicht gar überholen müssen, damit das Geschäft mit »Zukunftstechnologien« in Deutschland und nicht in den USA gemacht wird. Wenn sich Deutschlands Größe nicht militärisch buchstabiert, sondern ökonomisch, d. h. nur als Okkupation von Teilen des Weltmarkts, nur als Aneignung von Kapitalreichtum auf Kosten anderer Weltmarktteilnehmer, nur als Verdrängung von ökonomischen Konkurrenten, nur als Anstrengung, welche die Anstrengungen anderer Nationen entwerten – und nicht etwa ergänzen -, dann soll daran auf einmal nichts Verdächtiges mehr zu entdecken sein. Dann sind plötzlich alle Konnotationen, die noch die faschistische Elite Scham – Abwehr – Verdrängung

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auszeichnen, sie sei eine Klasse skrupelloser Machtinhaber, welche sich über die Masse erhebt und sie (ver-)führt, verschwunden. Obwohl hier von wissenschaftlicher und nicht von politischer Elite die Rede ist7, trifft es nicht zu, dass – wie vielfach behauptet wird – die Bildung der Eliten in beiden Systemen nicht vergleichbar ist. Es verhält sich umgekehrt: Gerade weil die faschistische Aus­lese als politisch-rassische vollzogen wurde, die demokratische Auslese dagegen ganz auf dem Leistungsprinzip auf­baut, lässt sich überhaupt ein Vergleich anstellen, der nach den Unterschieden in der Produktion von Identischem, nämlich der Eliten, fragt. Wodurch zeichnet sich also das Leistungsprin­zip vor der rassischen Selektion aus? Weswegen hat es im Unterschied zur politisch-rassischen Ausleseform so einen guten Ruf ? Dieses Sortierungsprinzip fördert – nicht erst seit PISA I – zutage, dass Kinder aus unteren Klassen/Schichten mehrheitlich Haupt- und Re­alschulen bevölkern, d. h. sich auf ein Leben am Rande des Existenzminimums einstellen dürfen. Sie landen als Resultat leistungsorientierter Auslese in ihrer Mehrzahl wieder in jenem »prekären« Lebensumkreis, aus dem sie stammen. Wohlgemerkt und ganz ohne Ironie: In der hiesigen Schule geht es in der Tat streng leis­tungsorientiert zu. Es werden die aus unterschiedlichsten Herkunftsmilieus stammenden Kin­der mit den gleichen Leistungsnormen und -maßstäben konfrontiert und auf diese Weise die relativ leistungsstärksten8 Schüler für Laufbahnen im Bereich der politischen und wissenschaftlichen Elite ermittelt. Genau durch dieses Verfahren erweist sich die demokratische Leistungsschule – nicht als Rassenschule, wohl aber – als Klassenschule. Sie macht mit Chancengleichheit, diesem Ideal freiheitlicher Konkurrenz, gerade dadurch ernst, dass sie keinem Kind in der Schule die Lernzeit zubilligt, die es braucht, sondern jedem die gleiche und für viele Kinder damit eine viel zu knappe Lernzeit verordnet. So werden hier­zulande ebenfalls funktionale Eliten – politische und wissenschaftliche – produziert, indem sich in der demokratischen Leistungsschule die gesellschaftliche Ungleichheit nicht nur fortsetzt, sondern sich in ihr reproduziert und auf diese Weise ganz ohne rassistische Auslese an den Kindern das Stigma ihrer Herkunft praktisch und mit allen Folgen für das Leben im »Prekariat« befestigt.9 Das sieht die pädagogische Wissenschaft natürlich ganz anders: Die pro­ duzierte Hierarchie – mit der Elite in der Spitze und der Masse in der Basis der Pyramide – habe, so erklären z. B. Erziehungswissenschaftler, ihren wahren und letzten Grund in dem, was der Einzelne so an sich hat, über was er an angeborener oder erworbener Substanz verfügt. Ein von jedem Antise­ mitismus gereinigter demokratischer (Begabungs-)Rassismus soll dann die Resultate einer schulischen Auslese erklären. Das Ergebnis schulischer Produktion wird zur Sache der Schülernatur erklärt und somit die Schule freige240

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sprochen von jeder Verantwortung für die Sortierung und ihre Konsequenzen. So wird in der Demokratie die leistungsorientierte Produktion von Eliten, die für das Funktionieren der Klassengesellschaft sorgen, rassistisch legitimiert.

Fazit Drei Hypothesen, die andeuten, warum und wieso die demokratische Gesellschaft, die gegen Rassismus und Nationalismus angetreten ist, für beide Gesinnungen dennoch geistige und politisch-praktische Milieus schafft, beide auf ihre besondere Weise produziert und reproduziert, ja, ich würde sogar sagen, beide für die Sicherstellung erwünschter ideologischer Ausrichtungen ebenso wie für den Vollzug und für den staatskonformen Nachvollzug ausländerpolitischer und pädagogischer Ausleseprozesse braucht. Grund genug, neu, gründlich und ohne die hierzulande errichteten moralischen Denk­barrieren über das Verhältnis von Faschismus/Nationalsozialismus und Demokratie nachzudenken. Das habe ich ge­meint, wenn ich eingangs angeregt habe, hier statt der Etablierung einer weiteren Gedenkstätte eine Denkstätte zu errichten: Wenn das Interesse des institutionalisierten Erinnerns weder dem nationalpädagogischen Muster der »Erinnerungskultur« folgen, noch musealen Charakter haben soll, sondern ernsthaft dem Imperativ folgen will, dass »so etwas nicht noch einmal passieren darf«, dann kürzt sich das Erinnern an nationalsozialistische Politik und ihre Resultate heraus. Nimmt man das »so etwas« nämlich vorurteilsfrei beim Wort, versteht darunter den deutschen Faschismus mit all dem, was Nationalismus und Rassismus unter seiner Herrschaft angerichtet haben, dann hat sich das theoretische und aufklärerische Augenmerk allein auf jene Gesellschaft zu richten, die sich – einst (?) – diesem Imperativ verschrieben hat: »Nicht noch einmal« sollen doch nationalistische und rassistische Vereinnahmungen, Übergriffe und Verheerungen in der heutigen Demokratie »passieren«. Folglich wäre sie zentraler Gegenstand von Untersuchung und nachfolgender Aufklärung. Im Zentrum hat die Frage zu stehen, inwieweit die politische und ökonomische Organisation dieser Gesellschaft, ihre darin vergegenständlichten nationalen Zwecke von Innen- und Außenpolitik zu dem Befund Anlass geben, dass auch sie nicht ohne Nationalismus und einen ihm inhärenten Rassismus mit ihren theoretischen und praktischen Sortierungsmaßnahmen, völkische Ausgrenzungen, grenzübergreifenden Hegemonialvorstellungen und außen- wie innenpolitischen Feindschaftserklärungen auskommen. Für den Fall, dass dieser Befund ermittelt und erhärtet wird – einige Hypothesen habe ich vorgestellt –, dann stehen weder die Erinnerung Scham – Abwehr – Verdrängung

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an »Gräuel« des deutschen Faschismus von 1933–1945 noch die Konzentration auf den aktuellen Neo-Faschismus an, sondern die Kritik jener demokratischen Gesellschaft, die Jahr für Jahr z. B. in den wohl formulierten Erinnerungen an Widerstandskämpfer ihre antifaschistische Staatsräson beschwört. Verweise auf den Nationalsozialismus hätten in Lernorten – wie Vogelsang –, dann allein die Funktion, über jene Erinnerungskultur kritisch aufzuklären, die das reduzierte und interessiert vorsortierte Gedenken an den deutschen Faschismus überhaupt nur pflegt, um die Besucher auf das Lob der Staatsform, unter der sie leben, einzuschwören.

Anmerkungen 1 2

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GUTTE, Rolf/HUISKEN, Freerk: Alles bewältigt, nichts begriffen. Nationalsozialismus im Unterricht, Hamburg 20073. Eine Analyse des deutschen Faschismus, die diesen Fehler nicht macht, hat Konrad Hecker vorgelegt: HECKER, Konrad: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, München 1996. Vgl. dazu auch HUISKEN, Freerk: Brandstifter als Feuerwehr. Die Rechtsextremismus-Kampagne, Hamburg 2001. Übrigens Scham beim Täter oder Mittäter ist gleichfalls keine gelungene Form der Selbstkritik. Sie drückt die – moralische – Distanzie­rung des Täters von sich selbst aus, leugnet die Gründe für seine Tat, statt zur Tat zu stehen, ohne die Gründe, die ihn zu der Tat bewogen haben, zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigie­ren. Die Ausländerfeindlichkeit hat ihren Grund in jener Menschensortierung, die mit der Einrichtung von Nationalstaaten unabdingbar ist – in demokratischen ebenso wie in faschistisch organisierten Gemeinwesen, in Militärdiktaturen ebenso wie ehemals auch in den Staaten des realen Sozialismus. Die Rede ist von der Sortierung nach In- und Aus­ländern, die alles andere als eine harmlos-formelle Angelegenheit ist. Überlegen wir uns ein­mal einen Moment, wie ein Mensch Inländer, z. B. Deutscher oder Franzose oder Japaner etc. wird. Eine Sache seines Willens, seiner freien Entscheidung ist diese Zuordnung, die immerhin in der Regel ein Leben lang gilt und das ganze Leben nachhaltig bestimmt, schon mal nicht: Als Kind von Inländern wird der kleine Mensch vielmehr automatisch vom Staat als Inländer »rekrutiert«, als Deutscher behördlich verbucht, den Statistiken über die Bevölkerungsentwicklung einverleibt und zugleich der hiesigen Ordnung – Rechts-, Staats- und Wirtschaftsordnung – unterworfen. Über seine Lebensumstände ist damit staatlicherseits entschieden, bevor der Mensch überhaupt in der Lage ist, vernunftgeleitete Entscheidungen zu treffen. Kein Mensch wird gefragt, wel­cher Nation er zugehören möchte, ob er die Marktwirtschaft wirklich der Planwirtschaft vor­zieht, ob er demokratisch oder diktatorisch oder vielleicht gar nicht regiert werden möchte. Aber so rekrutiert ein Staat sein Staatsvolk – in erster Linie; in zweiter Linie über Einbürgerun­gen, Grenzkorrekturen und Erobe­rungen – als das Freerk Huisken





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Menschenmaterial, das er für die Verfolgung seiner politischen und ökonomischen Zwecke benötigt. Wie er dann dafür sorgt, dass seine Bürger sich – ich möchte fast sagen: trotzdem – positiv zu ihm stellen, da gibt es dann Unterschiede: Da gibt es politische Herrschaftsformen, die setzen die Ablehnung der politischen Führung unter Strafe, und da gibt es andere, die verfertigen aus der Zulassung solcher Ablehnung sogar ein Gütezeichen ihres Systems. Die Rede ist von der Demokratie, in der die personelle Auswahl der jeweiligen politischen Führung dem Volk überlassen wird. Und sie fährt gut damit, da die Teile des Volks, die regelmäßig zur Wahl schreiten, mit der Wahl des Herrschaftspersonals erstens zugleich die Herr­schaftsordnung – Nationalstaat und Marktwirtschaft, mit allem was dazu gehört – akklamieren, die sich zweitens damit die Einbildung leisten, die in der Regierung sitzenden Staatsführer seien deswe­gen schon für sie und ihre Belange da, weil sie über einen Wahlakt des Volkes zustande gekommen ist; und die drittens regelmäßig ihre Unzufriedenheit mit den Regierenden erneut in einer Wahl zum Ausdruck bringen (dürfen) – was viele Bürgern bereits mit dem demokratischen System versöhnt. Familien- und Schulerziehung tun ein Übriges dafür, dass die alternativlos vorgesetzten Lebensumstände, in denen man sein Leben ungeachtet aller enttäuschten materiel­len Lebensziele einrichten muss, für die letztlich einzig menschengemäßen gehalten und die politische Führung für deren Einrichtung und Pflege für zuständig erklärt wird. So stellt sich bei so vielen Deutschen/Franzosen/Japanern schlussendlich jene Sorte freiwilliger Zustimmung zur Nation her, d. h. jener Nationalismus her, auf den die Führung eines politischen Gemeinwesens großen Wert legt, da in der Demokratie nur mit dem und nicht gegen das Volk das Gemeinwesen zu Macht, Anse­hen und Wachstum gelangen kann. Was hat das alles nun mit Rassismus zu tun? Einerseits nichts, da im bisher Dargestellten nirgend­wo jene rassistische Argumentation entdeckt werden konnte, der zufolge Menschen mit dem Verweis auf – erfundene – Natureigen­schaften einsortiert, in die Pflicht genommen oder benutzt werden. Andererseits hat es viel da­mit zu tun: Denn genau dieser politische, nach Recht und Gesetz verlaufende Volksrekrutie­rungsprozess wird als einer dargestellt, der dem hier lebenden Menschen von Natur aus zukäme: »Deutsch zu sein, ist ein naturgegebener Sachverhalt«, WEIZSÄCKER, Richard von (Bulletin, 12.6.85). Geschichte, Sprache und Kultur seien für diesen »naturgegebenen Sachverhalt« ver­antwortlich. Früher wurde noch die Rasse hinzugefügt, die es aber gar nicht braucht, um hier theoretischen Rassismus zu entdecken. Wir sollen glauben, dass unsere Natur, unser Wesen uns gar keine andere Wahl lässt als jene, die per staatlicher Entscheidung ohnehin an uns exekutiert worden ist. Deswegen muss man uns auch gar nicht danach fragen, ob uns die völkische Zwangsrekrutierung passt oder nicht, wo der Staat nur unserer Natur, unserem Wesen ent­sprochen hat. Deutscher ist man von Natur aus, ebenso wie Franzosen oder Japaner dies von Natur aus sind. Und das ist in Nationalstaaten die erste und bedeutsamste Daseinsbestimmung von Menschen. Vgl. z. B. MILLER-KIPP, Gisela: »Deutsche Jungs, die dem Führer helfen, das Reich zu tragen«. Elite-Bildung und Elite-Bewusstsein in der Adolf-Hitler-Schule Scham – Abwehr – Verdrängung

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nebst Erinnerungsspuren zur »Ordensburg« Vogelsang. In: CIUPKE, Paul/JELICH, Franz-Josef (Hg.): Weltanschauliche Erziehung in Ordensburgen des Nationalsozialismus. Zur Geschichte und Zukunft der Ordensburg Vogelsang (=Geschichte und Erwachsenenbildung, Bd. 20), Essen 2006, S. 53–64. Letztere ist auch in der Demokratie nicht verschwunden; für die Schaffung einer politischen Elite ist mit dem Bil­dungssystem, das hier eingerichtet ist, ohnehin gesorgt, da sich aus dem Kreis der erfolgreichen Absolventen der Universitäten schon immer »die Mächtigen von morgen« (FRIEDRICHS, Julia: Auf den Spuren der Mächtigen von morgen, 2008) rekrutieren. Von relativer Leistungsstärke muss geredet werden, weil die jeweils individuell erbrachten Schulleistungen gar nicht für sich zählen, sondern immer nur relativ sind im Verhältnis zur Gesamtleistung einer Schulklasse, Jahrgangsstufe usw. Wie sollten auch anders Noten vergeben werden? Weswegen im Übrigen die verbreitete Kritik an Noten, sie seien allzu häufig durch subjektive Vorurteile der Lehrer bestimmt, vollständig an der Sache vorbei geht. Wenn ein und dieselbe individuelle Schulleistung je nach Gesamtleistung der Klasse einmal eine zwei und in anderem Zusammenhang eine vier sein kann, dann können einem subjektive Korrekturbesonderheiten von Lehrern egal sein, denn dann steht die Verteilung der Schüler auf eine Hierarchie, nebst deren Exekution in einem Ausleseverfahren, das Schüler mehrheitlich von gehobenen Bildungskarrieren ausschließt, als Zweck der Notengebung zur Kritik an . So etwas fällt übrigens nicht unter den Antidiskriminierungsartikel des Grundgesetzes: Ein Verbot der sozial-ökonomischen Benachteiligung sucht man in Art. 3(3) vergebens. Kein Wunder, auf dieser »Diskriminierung« basiert nun einmal die Marktwirtschaft, die man inzwischen auch wieder Kapitalismus nennen darf.

Freerk Huisken

Die Autorinnen und Autoren

Dieter Bartetzko

Architekturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Erhielt 2006 den Preis für Architekturkritik des Bundes Deutscher Architekten. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Zucht und Ekstase. Zur Theatralik von NS-Architektur, Berlin 1985; Illusionen in Stein. Stimmungsarchitektur im deutschen Faschismus. Ihre Vorgeschichte in Theater- und Film-Bauten, Reinbek 1985. Jost Dülffer

bis 2008 Professor für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln. Forschungsschwerpunkte u. a.: Historische Friedensforschung, Internationale Geschichte, Deutsche Geschichte mit Schwerpunkt NS-Zeit, Regionalgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Deutsche Geschichte 1933–1945: Führerglaube und Vernichtungskrieg, Stuttgart 1993 (auch englisch); Europa im OstWest-Konflikt, 1945–1991, München 2004; Frieden stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. Jahrhundert, Köln 2008. Franz Albert Heinen

Redakteur des Kölner Stadt-Anzeigers in der Lokalredaktion Euskirchen. Forschungsschwerpunkte u. a.: Regionalgeschichte, Geschichte der NS-Ordensburgen und ihrer Besatzungen. Veröffentlichungen u. a.: Gottlos, schamlos, gewissenlos. Zum Osteinsatz der Ordensburg-Mannschaften, Düsseldorf 2007; Vogelsang. Von der NSOrdensburg zum Truppenübungsplatz. Eine Dokumentation, Aachen 20064; Vogelsang. Im Herzen des Nationalparks Eifel. Ein Begleitheft durch die ehemalige »NS-Ordensburg«. Reihe Freizeitführer Rheinland, Düsseldorf 20105 (zus. mit Christina Threuter). Freerk Huisken

Von 1971 bis 2006 Professur für »Politische Ökonomie des Ausbildungswesens« an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte u. a.: Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nach 1945, Schule und Erziehung im Kapitalismus, Rechtsextremismus und Jugendgewalt.

Die Autorinnen und Autoren

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Veröffentlichung u. a.: Alles bewältigt, nichts begriffen! Nationalsozialismus im Unterricht (zus. mit Rolf Gutte), Hamburg 1997/2007; Brandstifter als Feuerwehr: Die Rechtsextremismus-Kampagne, Hamburg 2001. Zahlreiche Publikationen zum Thema Ausländerfeindlichkeit, Jugendgewalt, Rechtsextremismus, Kritik von Schule und Erziehungswissenschaft ( www.fhuisken.de) Wolfgang Keim

Dr. phil., Prof. em. für Allgemeine und Historische Pädagogik an der Universität Paderborn, Forschungsschwerpunkte: Bildungsgeschichte des 20. Jh.; Reformpädagogik; Einheitsschule und Gesamtschule; Erziehung unter der Nazi-Diktatur, zur Kontinuitätsproblematik in der deutschen Pädagogik des 20.Jh., Gedenken und Erinnern an den Holocaust als pädagogische Aufgabe. Veröffentlichungen u. a.: Erziehung unter der Nazi-Diktatur. 2. Bde.: I.: Antidemokratische Potentiale, Machtantritt und Machtdurchsetzung; II: Kriegsvorbereitung, Krieg und Holocaust, Darmstadt 1995,1997; Bildung versus Ertüchtigung. Gab es einen Paradigmenwechsel im Erziehungsdenken unter der Nazi-Diktatur? In: Uhmann, Hartmut/Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe – Erfahrungen und Tranformationen im Exil, Göttingen 2004, S. 223–258. Wendy Lower

Ph. D., Projektmitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität München. Forschungsschwerpunkte u. a.: Europäische Geschichte, die »Endlösung« in der Ukraine. Veröffentlichungen u. a.: Nazi Empire-Building and the Holocaust in Ukraine, Chapel Hill 2005; The Shoah in Ukraine. History, Testimony, Memorialization, Bloomington 2008 (zus. mit Ray Brandon). Thomas Roth

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am NS-Dokumentationszentrum EL-DEHaus Köln. Forschungsschwerpunkte u. a.: Geschichte von Polizei, Justiz, Kriminalität und sozialer Ausgrenzung, NS-Herrschaft und Diktaturforschung. Veröffentlichungen u. a.: ›Verbrechensbekämpfung‹ und soziale Ausgrenzung in Köln 1933–1945 (Diss.) 2007; Kriminalpolitik im NS-Regime. In: Lange, Hans-Jürgen (Hg.), Kriminalpolitik, Wiesbaden 2008, S. 37– 246

Die Autorinnen und Autoren

55; »Gestrauchelte Frauen« und »unverbesserliche Weibspersonen«: zum Stellenwert der Kategorie Geschlecht in der nationalsozialistischen Strafrechtspflege. In: Frietsch, Elke/Herkommer, Christina (Hg.): Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper. »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945. Bielefeld 2008, S. 109–140. Christian Schneider

Soziologe und Forschungsanalytiker, Privatdozent an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte u. a.: psychoanalytische Generationengeschichte; transgenerationelle Wirkungen des Nationalsozialismus Veröffentlichungen u. a.: Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, Hamburg 1996 (mit C. Stillke und B. Leineweber); Trauma und Kritik, Münster 2000 (mit denselben); Das Böse im Blick. Die Gegenwart des Nationalsozialismus im Film, München 2007 (Hg. mit M. Frölich und K. Visarius); Projektionen des Fundamentalismus. Reflexionen und Gegenbilder im Film, Marburg 2008 (Hg. mit M. Frölich und K. Visarius). Hans-Ulrich Thamer

Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte u. a.: Nationalsozialismus und europäischer Faschismus, Ideen- und Sozialgeschichte Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert, Kulturgeschichte von Sammlungen, Ausstellungen und Museen. Veröffentlichungen u. a.: Verführung und Gewalt: Deutschland 1933–1945, Berlin 1986; Der Nationalsozialismus, Stuttgart 2002. Christina Threuter

Dr. phil. habil., Kunstwissenschaftlerin, Privatdozentin an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Visuelle Kultur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart mit den Schwerpunkten Raum- und Bildtheorien, Architekturgeschichte, Geschichte der Kunst- und Architekturtheorie, Geschlechterforschung, Interkulturalität, Postkolonialismus. Veröffentlichungen u. a.: Projektionen. Rassismus und Sexismus in der Visuellen Kultur. (Hg. zus. mit A. Friedrich, B. Haehnel, V. Schmidt-Linsenhoff ), Marburg 1997; Erinnerungsräume: Topographien des Krieges. (Hg. zus. mit von A. Bulanda-Pantalacci). Katalogbuch zur Ausstellung, Trier 2009; Westwall: Bild und Mythos, Petersberg 2009 ; »Urban Body«: Ein Leichentuch für Ground Zero. In: Das »letzte Hemd«. Zur Konstruk­ Die Autorinnen und Autoren

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tion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur. Hg. v. K. Ellwanger, T. Helmers, H. Helmhold, B. Schrödl, Oldenburg 2010, S. 214–237; Vogelsang. Im Herzen des Nationalparks Eifel. Ein Begleitheft durch die ehemalige »NS-Ordensburg«. Reihe Freizeitführer Rheinland, Düsseldorf 20105 (zus. mit Franz Albert Heinen). Stefan Wunsch

Freiberuflicher Historiker, Lektor und Vogelsang-Referent. Forschungsschwerpunkte u. a.: »Die ›NS-Ordensburg‹ Vogelsang in der Regionalgeschichte der Eifel«; Zeitzeugenprojekt zur »NS-Ordensburg« Vogelsang für die künftige NS-Dokumentation; »Der europäische Kongress – Rolle und Funktion in der internationalen Politik 1856/57–1870/71« (Dissertation). Veröffentlichungen u. a.: Velbert. Geschichte dreier Städte, Köln 2009 (mit Horst Degen und Christoph Schotten); Köln im Kaiserreich, Köln 2010 (Hg. zus. mit Th. Deres u. J. Oepen); Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Band 3: Das 19. Jahrhundert (1794–1914), Köln 2010 (Hg. zus. mit J. Herres u. G. Mölich). Mitherausgeber und Redakteur von: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte.

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Die Autorinnen und Autoren

Abbildungsnachweise

Umschlagabbildung: Archiv vogelsang ip, Schleiden Sammlung Rolf Sawinski, Abbildungen: 1 (Weltfotobericht, Berlin Neukölln), 8, 9, 10, 37, 38, 43 Sammlung F.A. Heinen, Abbildungen: 2, 3, 4, 6, 7, 40, 41, 42, 45 Archiv der deutschen Jugendbewegung, Witzenhausen: Abbildung 11 Sammlung Heinen/Fotostudio Mertens, Gemünd: Abbildungen 12, 19, 20, 26, 27, 31, 35, 36, 39 Sammlung Hartmut Happel, Abbildung: 5 Foto Schmölz; Bildarchiv Wim Cox, Köln, Abbildungen: 23, 25, 30 Deutsches Historisches Museum Berlin, Abbildung: 24 Georg Schmitz, Abbildung: 38 Archiv vogelsang ip, Schleiden, Abbildungen: 16, 17, 29, 37, 44, 46, 48 Rheinische Blätter, Jg. 1939, S. 641, Abbildung: 18 Das Schwarze Korps, 24. 11. 1938, Abbildungen: 13, 14, 15 Surén, Hans: Kraftgymnastik, Stuttgart 1935, Titelbild, Abbildung: 21 Eifel-Kalender für das Jahr 1940 (1939), S. 17, Abbildung: 32 Schmidt, Peter: Zwanzig Jahre Soldat Hitlers, zehn Jahre Gauleiter. Ein Buch von Kampf und Treue, Köln 1941, S. 272; Brües, Otto/Bröcker, Wilhelm: Die schöne Heimat. Ein Buch des Gaues Köln-Aachen, hg. v. Richard Ohling, Köln 1943, Abb. 1, Abbildung: 33 Der Planungsraum Rheinland, seine Struktur und Entwicklungsrichtung. Referate der Regierungspräsidenten in Düsseldorf,  Köln, Aachen, Koblenz und Trier, erstattet auf der 1. Sitzung des Beirats des Landesplanungsgemeinschaft Rheinland, am 23. Febr. 1938 in  Düsseldorf, Düsseldorf [1938], S. 31, Abbildung: 34 Wir sind Bollwerk im Westen. Es wurde gearbeitet und es wurde nicht gerastet. Rückblick und Ausblick, für den Gesamtinhalt verantwortl. Hans Englram, Neustadt a. d. W. 1937; Havertz, Heinz/Hoffmann, Heinrich: Deutsches Bollwerk im Westen des Reiches, Köln u. a. 1938, Abbildung: 35 Burggemeinschaft, Folge 7–9, 1944, Abbildung: 46

Abbildungsnachweise

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K ATHRIN KOMPISCH

TÄTERINNEN FR AUEN IM NATIONALSOZIALISMUS

Bis auf wenige besonders grausame Beispiele ist die Beteiligung von Frauen an den verbrecherischen Taten der Nationalsozialisten lange aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen ausgeblendet worden. Erstmals zeigt nun das Buch von Kathrin Kompisch die Bandbreite weiblicher Täterschaft während des »Dritten Reiches«. Eindringlich schildert die Autorin die sozialen und persönlichen Voraussetzungen und Motive der Frauen und stellt die Frage nach ihrer Verantwortung. 2008. 277 S. MIT 20 S/W-ABB. GB. MIT SU. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20188-3

Kompisch beschreibt die Täterinnen wie sie tatsächlich waren – Frauen, die aus Überzeugung am Mordprozess teilhatten, aber keineswegs »von Natur aus« böse Psychopathinnen und damit entschuldbar waren. […] Und das waren neben den prügelnden und mordenden KZ-Aufseherinnen in letzter Konsequenz auch die Fürsorgerinnen oder (braunen) Rot-Kreuz-Schwestern. Und all die bislang wenig beachteten Sekretärinnen und Nachrichtenhelferinnen, kurz: die »vergessenen« Täterinnen – sie waren allesamt Rädchen im großen Getriebe des NS-Staates. Süddeutsche Zeitung böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien

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Wissenschaftlich fundiert und kenntnisreich erschließt Volker Koop die Geschichte des Lebensborn e.V. von der zugrunde liegenden Ideologie bis zu dem Nachkriegsschicksal der Betroffenen. Sein Buch ermöglicht neue Einblicke in den praktizierten Rassenwahn dieser SS-Organisation, die unter dem Vorwand, Müttern und Kindern zu helfen, rücksichtslos die »Germanisierung« Europas vorantreiben wollte. Ö8 ÖÖ3Ö-)4ÖÖ37 !""Ö'"Ö-)4Ö35ÖÖ8ÖÖ--Ö )3".Ö    

Mit Bilddokumenten, ausführlichen Zitaten aus dokumentarischen Quellen, reichem Faktenmaterial und der Darstellung von exemplarischen Einzelschicksalen vermittelt das sachlich gehaltene Buch ein authentisches Bild der kriminellen Organisation und trägt damit zur Geschichte des Dritten Reiches wie der praktizierten Rassenhygiene/Eugenik bei. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

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Als eine der geheimnisumwittertsten Einrichtungen des Nationalsozialismus gilt die von Heinrich Himmler initiierte NS-Organisation »Werwolf«, die in den letzten Kriegswochen für zahlreiche Morde an deutschen Zivilisten, die mit den Alliierten kooperierten, verantwortlich war. Volker Koop legt mit seinem neuen Buch eine umfassende Darstellung vor, die der Verharmlosung oder gar Heroisierung des »Werwolfs« durch rechtsradikale Kräfte den Boden entzieht. ÖÖ3ÖÖ37 !""Ö'"Ö-)4Ö35ÖÖ8ÖÖ--Ö )3".Ö    

[Ein] Buch, das wohl das ultimative zu dem Thema sein dürfte. Tagesspiegel Volker Koop hat eine detailreiche Darstellung der Geheimorganisation „Werwolf “ vorgelegt. Himmlers letztes Aufgebot konnte Deutschlands Niederlage nicht verhindern. Die Angst davor aber hat dazu geführt, dass tausende unschuldige Jugendliche verhaftet wurden. Manche bezahlten die Werwolfangst mit ihrem Leben - die letzten Opfer des Krieges. 3sat Kulturzeit böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien

PETER GATHMANN, MARTINA PAUL

NARZISS GOEBBELS EINE PSYCHOHISTORISCHE BIOGR AFIE

Joseph Goebbels (1897–1945) war einer der einflussreichsten Politiker des NS-Regimes und einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust. Diese Biografie nähert sich der Persönlichkeit Goebbels mit den Mitteln der Psychohistorie und sucht in den Erlebnissen seiner Kindheit und Jugend die Wurzeln für die späteren politischen Entscheidungen.

„In dieser psychohistorischen Biografie versuchen die Autoren Goebbels quasi posthum auf die Couch zu legen. Und das gelingt ihnen auf weite Strecken in beeindruckender Weise.“ (Profil) Dass sie [die psychohistorische Analyse] zu beeindruckenden Ergebnissen führen kann, zeigen insbesondere die Kapitel über Goebbels Abhängigkeit von Hitler – eine faszinierende Studie über eine „narzisstische Verschmelzung“, in der der Aufstiegshungrige seine Erweckung und Erlösung erlebt. (Frankfurter Rundschau) 2009. 298 S. 16 S. S/W-ABB. GB. M. SU. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78411-1

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Hermann Voss (1884-1969) gehört zu den profiliertesten deutschen Kunsthistorikern des 20. Jahrhunderts. Leipzig, Berlin, Wiesbaden und Dresden waren Stationen seiner Museumskarriere. Verbunden bleibt sein Name jedoch mit der Tätigkeit als Sonderbeauftragter Hitlers für das »Führermuseum« in Linz. Dieses Buch untersucht erstmals detailliert das Leben und Wirken des Kunsthistorikers und seine Verstrickung in den nationalsozialistischen Kunstraub, die schon lange vor seiner Ernennung zum »Sonderbeauftragten für Linz« begann. Voss hatte bereits als Direktor der Wiesbadener Gemäldegalerie, deren Leitung er 1935 übernahm, im Sinne des NS-Staates agiert und von der Beschlagnahme jüdischen Eigentums profitiert. Konsequenzen sollten sich für ihn nach Kriegsende daraus nicht ergeben. Voss verstarb 1969 in München als geachteter Wissenschaftler und Gemäldeexperte.

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Der Nationalsozialismus war die größte politische und soziale Katastrophe der Neuzeit. Aber er war keineswegs ein Betriebsunfall der Geschichte, sondern wurzelte tief in gesellschaftlichen Grundströmungen des 19. und 20. Jahrhunderts – in Nationalismus, Rassenantisemitismus und sozialer Frage. Das Buch behandelt ebenso umfassend wie kompakt die Grundzüge des Nationalsozialismus aus gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive: von den Ursprüngen und Anfängen bis zum blutigen Ende in den Wirren des Jahres 1945. Eine übersichtliche Gesamtdarstellung auf dem aktuellen Stand der Forschung – zugleich Handbuch und leicht fassliche Einführung in die komplexe Geschichte des Nationalsozialismus. ÖÖ8Ö Ö#-ÖÖ3Ö:!(,2Ö37 !""Ö"2 )3".Ö    

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