Diese Studie stellt Moses Mendelssohns (1729 - 1786) OEuvre als einen einzigartigen Denkansatz in der sich neu herausbil
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German Pages 632 [634] Year 2009
ANNE POLLOK Facetten des Menschen
STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 32
FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG
ANNE POLLOK
Facetten des Menschen Zur Anthropologie Moses Mendelssohns
FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Rothschild Foundation Europe. Die vorliegende Arbeit wurde 2007 von der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg als Dissertation angenommen.
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INHALT
Einleitung ......................................................................................................
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Kapitel I: Die Bestimmung des Menschen I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹? ........ I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog .....................................................
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Kapitel II: Theorie der Sinnlichkeit II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept ............................ 117 II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen« ...... 154 II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie .......... 191 Kapitel III: Erkennen und Handeln III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns .................. 245 III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls 290 III.3 Zwischen Erkennen und Begehren. Das Billigungsvermögen ............. 334 Kapitel IV: Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung und Kultur IV.1 Lebendige Überlieferung oder toter Buchstabe. Mendelssohn über Sprache ................................................................ IV.2 Das Individuum im Spannungsfeld von Geschichte und Gesellschaft ................................................................................ IV.3 Was ist Aufklärung? Zu Mendelssohns Bildungsbegriff ...................... IV.4 Toleranz statt Assimilierung: normative Konsequenzen der Glaubenswahrheiten ..........................................................................
355 390 426 469
Kapitel V: Metaphysik als ›subjektive‹ Theodizee V.1 »Der Mensch ist bloß ein unaufhörliches Zeitliches …« Mendelssohns Theorie der Unsterblichkeit ......................................... 499 V.2 Die Seele als Münzensammler. Mendelssohn und Herder im Dialog 531 Schluss: Ansätze zu einer rationalistischen Anthropologie ................................ 575 Abkürzungs- und Siglenverzeichnis ................................................................. Bibliographie ................................................................................................. Personenregister .............................................................................................. Sachregister ....................................................................................................
585 587 613 619
»Meine Maxime ist, ich lasse mir kein Vergnügen entgehn, das mit irgend einer Vorstellungsart verbunden ist. Meine Vernunft muß nicht spröde thun, und mir die unschuldigen Vergnügen dieses Lebens verleiden wollen. Die Philosophie soll mich glücklicher machen, als ich ohne dieselbe seyn würde, und dieser Bestimmung muß sie treu bleiben. So lange sie eine gute Gesellschafterin ist, und mich auf eine angenehme Weise unterhält, bleibe ich bey ihr. So bald sie vornehme, frostige oder gar saure Geister macht, und üble Laune bekömmt, laße ich sie allein, und spiele mit meinen Kindern.« Moses Mendelssohn an Sophie Becker, 27. Dezember 1785; JubA XIII, 332 f.
»Die Dunkelheit hat in den Schriften einen Vorzug vor der Deutlichkeit, indem das Dunkle eine große Erwartung des Inhalts erregt, so wie im Dunklen alle Gegenstände größer aussehen. Es giebt Schriftsteller, die durch Dunkelheit glänzen (wenn es kein Widerspruch ist); denn indem Niemand ihre Schriften durchdringen kann, bleiben ihre Fehler unentdeckt.« Immanuel Kant, Menschenkunde (WS 1781/82), AA XXV, 874
»What kind of a project is it that had to be invented by later commentators who needed a dead dog to kick with impunity, in order to blame it for a desease which they believe it had passed down to them?« Robert Wokler, »The Enlightenment Project and its Critics«, in: The Post-modernist Critique of the Project of Enlightenment, ed. Sven-Eric Liedmann, Atlanta 1997, 18
»Denn ich kenne die Deutschen: sie wollen wie die Metaphysiker alles von vorn an wissen, recht genau, in Großoktav, ohne übertriebene Kürze und mit einigen citatis.« Jean Paul, Hesperus
EINLEITUNG »Die Teutschen haben sich durch die Naturgeschichte gewöhnt, alles zu klassifiziren. Wenn sie mit den Gesinnungen und Schriften eines Mannes nicht recht fertig werden können; so ergreifen sie den ersten den besten Umstand, bringen den Mann in eine Klasse, und machen ihn zum -isten, als wenn damit alles übrige schon gethan wäre.« Mendelssohn, An die Freunde Lessings, JubA III/2, 189 »Mendelssohn ist ein Denker der Nuancen.« Goetschel 1997, 205
Der anthropologische Diskurs ist ein Charakteristikum des Aufklärungszeitalters. Die Bedingungen für den Gebrauch des eigenen Verstandes, die Anwendung und Verfeinerung menschlicher Erkenntnis- und Handlungskategorien bildete einen Untersuchungsschwerpunkt seiner wichtigsten Vertreter und bestimmte so disziplinenübergreifend die Debatte. Dabei ist jedoch aufgrund der Vielfalt der in diesem Diskurs vertretenen Ansichten nicht immer klar, welche Art Anthropologie jeweils gemeint war. Ein prominentes Beispiel hierfür mögen Friedrich Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) sein. In ihnen wird der Versuch einer »transzendentalphilosophischen« Begründung des Schönen unternommen, der nicht nur bei den Zeitgenossen, sondern auch in der Forschungsliteratur immer wieder auf Befremden gestoßen ist. Gerade vom Standpunkt der von Schiller als Untersuchungsgrundlage angeführten Transzendentalphilosophie, sei sie nun Fichteanischer oder Kantianischer Prägung, ist der von ihm eingeschlagene Weg zur Aufdeckung innerseelischer Gesetzmäßigkeiten unverständlich.1 Ein Hinweis des Autors selbst bietet einen Ausweg aus dem Dilemma, denn er bezeichnet seine Analyse als eine »vollständige anthropologische Schätzung« (NA 20, 316, Hervorhebung A.P.), was schon in sich einer strengen Auslegung nach transzendentalphilosophischen Gesichtspunkten widerspricht. Was Anthropologie in diesem Zusammenhang meinte, scheint weitgehend unklar zu sein. Jedoch ließe sich im Hinblick auf die zeitgenössische Diskussion über Anthropologie und damit unter Rückgriff auf Autoren wie Moses Mendelssohn, die – über Jacob Friedrich Abel vermittelt – im Hintergrund von Schillers Philosophie stehen2, zeigen, dass Schiller hier auf einen bestehenden Diskurs zurückgriff, 1 Vgl. zur Unangemessenheit einer solchen ausschließlich auf die Kantische Philosophie abstel-
lenden Lesart Riedel 1998, 155. 2 Vgl. dazu umfassend Riedel 1985 (zum Zusammenhang mit der Bestimmungsdebatte v. a. S. 156–76) und 1998, sowie Alt 2000. Die Schriften des jüdischen Aufklärungsphilosophen waren Schiller seit der Karlsschulzeit bekannt, natürlich v. a. der Phädon (1767 u. ö.), aber sicherlich auch die Philosophischen Schriften (1761/71). Dass Schiller sich in der »Theosophie des Julius« an den erwähnten Werken orientierte, hat zuletzt Riedel 1985, 160–63 gezeigt. Auch andere Texte mögen hier einschlägig sein, ob Schiller sie nun im Original oder aus Diskussionen kannte. Während sich
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Einleitung
den näher zu erklären er für unnötig hielt. Um jedoch heutzutage das Konzept der »ausgeführten Bestimmung« (NA 20, 353) des Menschen im Genuss des »schönen Scheins« (ebd., z. B. 412) angemessen zu verstehen, ist die Kenntnis der in der Aufklärungszeit regen Debatte über die Bestimmung des Menschen von großer Wichtigkeit. Nun wurde aber gerade diese Form des Anthropologiediskurses in den 1770er und 80er Jahren von anderen Ansätzen, die frühestens mit Ernst Platner ihren festen Rahmen bekamen und sich mehr und mehr den sich herausbildenden Naturwissenschaften zuwandten, überformt und ist damit für die nachfolgenden Generationen weitgehend unkenntlich. Ein anderer, mit Johann Gottfried Herder assoziierter Strang entwickelte sich dagegen zur Ethnologie3, die die metaphysischen Konzepte der Aufklärungsphilosophie ebenfalls nachhaltig durchbrach. Beiden Ansätzen steht ein holistisch oder auch kulturtheoretisch geprägter, aber grundlegend der rationalistischen Philosophie verpflichteter Versuch einer »Bestimmung des Menschen« gegenüber, der erst in jüngerer Zeit wieder in den Blick der Forschung geriet. Er ist leibnizianischer Provenienz und das verbindende Glied so unterschiedlicher Ansätze wie desjenigen Christian Wolffs, Johann Georg Sulzers, Gotthold Ephraim Lessings oder auch Mendelssohns. Sein lebendiger Einfluss, so meine Vermutung, erstreckt sich bis auf Schillers Versuch einer »anthropologischen Schätzung« und zeigt den Einfluss des hochaufklärerischen, in gewissem Sinne noch vorkantischen Denkens im späten, bereits idealistisch geprägten 18. Jahrhundert. Wenn also gezeigt werden kann, was ›Anthropologie‹ zu Anfang der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war und sein sollte, lässt sich ein tieferer Einblick in das Denken der nachfolgenden Generation gewinnen, die, wie Schiller, auf diesen Diskurs zurückgriff und ihn mit später entwickelten Elementen zu kombinieren versuchte. Mendelssohns Philosophie stellt nur eine Form und Station in diesem ›Konzert‹ dar, doch ihr Einfluss ist kaum zu überschätzen, wie bereits Manfred Kuehn (1995, 197) in seiner Studie über die Rezeption der schottischen Common-Sense Philosophie in Riedel also auf die metaphysischen Wurzeln von Schillers frühen Schriften konzentriert, wird hier darauf verwiesen, dass Schillers philosophische Schriften nach der Kant-Lektüre auch aus popularphilosophischer Sicht betrachtet werden müssen, um ihre Komplexität und ihr eigentümliches Schwanken zu verstehen (vgl. Riedel 1985, V und Pollok 2008). 3 Vgl. Garber 2002, 163: Die aufklärerische Ethnologie »verhält sich zur Anthropologie wie eine Lehre der Lebenspraxis (physischer Standort, pflanzlich-tierische Ressourcen, gesellschaftlicher Organisationsgrad) zu einem (abstrakten) vollständigen Inventar aller Eigenschaftsformen des Menschen.« In Anlehnung an Johann Gottfried Herder tritt die Lehre von der Gleichwertigkeit der Kulturen als je eigenwertiger Ausbildungen menschenmöglicher Vollkommenheit als Forschungsprämisse hinzu (vgl. Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1774, Werke 4, 34 ff.). Seit 1770 ist der Terminus der »Kulturgeschichte« für dieses Gebiet bekannt (Garber 2002, 168). Wichtige Ressourcen dieser Forschungsrichtung sind u. a. Reiseberichte, physische Geographie, Menschheits- und Tierentwicklungslehre, wie v. a. Herder, aber auch Immanuel Kant und Carl Philipp Moritz hervorheben.
Einleitung
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Deutschland festhält: »Moses Mendelssohn was one of the most important German philosophers of the late German enlightenment. Indeed, it would be no exaggeration to say that he was one of the dominant forces on the German philosophical scene between 1755 and 1785. Especially his work in aesthetic theory and on the nature and role of sensibility was very influential, and it would be difficult to evaluate the development of German thought from Wolffian rationalism to Kantian idealism without paying close attention to Mendelssohn.« Aufgrund dieses weitgehend geteilten Urteils ist eine nähere Betrachtung von Mendelssohns ›Anthropologie‹ ein lohnenswerter und fruchtbarer Versuch, um die »anthropologische Schätzung« des 18. Jahrhunderts in ihren vielfältigen Facetten angemessener zu verstehen. Die vorliegende Arbeit ist dabei mit der Grundlegung einer solchen Untersuchung durch die Rekonstruktion einer ›rationalistischen‹ Anthropologie in Mendelssohns Œuvre, nicht dem darüber hinausgehenden Versuch einer Nachzeichnung ihrer Rezeptionsgeschichte befasst. Sie ist darüber hinaus kein Erklärungsversuch eines spezifisch ›jüdischen‹ Verständnisses von Anthropologie oder Philosophie, sondern folgt in diesem Sinne dem von Mendelssohn selbst ausgegebenen Diktum, dass die eigene Religion angesichts der aus Vernunftgründen darzulegenden Wissenschaft Philosophie zurückzustehen habe. Dennoch soll nicht geläugnet werden, dass seine Perspektive auf die Philosophie, nicht zuletzt in ›wissenschaftspolitischer‹ Sicht, durch seine Herkunft entscheidend geprägt ist. Verfasserin hält sich eine nähere Besprechung dieses Problemkomplexes für einen späteren Zeitpunkt vor; zudem sei auf die ausgezeichneten Arbeiten in dieser Hinsicht verwiesen.4 1784 resümiert Mendelssohn in seiner Beantwortung der Frage: »Was heißt aufklären?«: »Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maaß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen, als einen Punkt, worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen.« (JubA VI/1, 115 f.) Eine befriedigende philosophische Begründung dieses Ziels bleibt er – nicht nur im Aufklärungsaufsatz – schuldig. Mehr noch, es ist vor der Hand nicht leicht, den Inhalt dieses Konzepts einer »Bestimmung des Menschen«, wie Mendelssohn es verstanden wissen will, zu erfassen. Dennoch scheint der Mensch ein zentraler Begriff in seiner Philosophie zu sein.5 Wenn man Mendelssohns ›Auffassung vom Menschen‹ als den ruhenden Punkt annimmt und die weit gefassten Themengebiete als um diesen Punkt angeordnet interpretiert, lässt sich, so meine These, ein umfassenderes und zugleich kohärenteres Bild von Mendelssohns philosophischem Interesse und dessen Ausformulierung gewinnen, als es bisher vorliegt. Dabei ist als ein wichtiger Grundsatz 4
U. a. Altmann 1969, 1973, 1981, Arkush 1994, Bourel 2007, Sorkin 1996. Vgl. dazu bereits Altmann 1973, 12: »In dem reichen Œuvre Mendelssohns tritt uns seine Auffassung vom Menschen in vielen Variationen, aber ohne Schwankungen und Inkonsistenzen entgegen.« 5
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Einleitung
Mendelssohns eklektischer Umgang mit Referenzautoren beachtenswert, der nicht eine regellose Kombination fremder Elemente, sondern die Auswahl nach einem Kriterium verlangte.6 Ernst Cassirer hat in seiner Darstellung von Mendelssohns Philosophie deren einheitlichen Charakter betont, der sich über einen verbindenden Grundgedanken erhält. Alle seine Arbeiten sind demnach »von einem einheitlichen Geiste beseelt und beruhen auf der Durchführung ein und desselben systematischen Grundprinzips. [Dieses Prinzip] besteht in der Voraussetzung, daß die Wirklichkeit in ihrer Struktur und Fügung der Fügung des Gedankens genau entspricht und von ihr in keinem einzigen Zuge abweichen kann.« (Cassirer 1929, 42 f.) Mit dieser alles umfassenden Annahme einer durch und durch rationalen Einrichtung der Welt gemäß der leibnizschen Metaphysik ist allerdings noch nicht das gesamte Spektrum von Mendelssohns Denken bezeichnet. Zum einen erscheint ihm der Aspekt menschlicher Affektivität als ein zusätzliches wichtiges Untersuchungsgebiet, das sich zumindest dem ersten Anschein nach nicht nach diesen rationalen Gesetzmäßigkeiten richtet. Zum anderen nimmt er nicht an, dass diese rationale Weltstruktur allein gegeben ist, sondern, dass sie vom Menschen immer wieder rational wie emotional erfasst werden muss. Zu Recht formuliert daher Altmann als wichtigstes Anliegen von Mendelssohns Philosophie, die kognitiven und emotionalen Kräfte des Menschen auszubalancieren7, was wiederum der von ihm unterstellten Betonung eines auf Kohärenz ausgelegten Menschenbildes in Mendelssohns Denken entspricht. Dieser Auffassung des harmonischen Menschen als einer lebenslangen Forderung entsprach auch Mendelssohns Wissenschaftsideal: Zur wahren Erkenntnis gehört 6
Im Anschluss an Albrecht 1994, 19 f. und 577 definiere ich Mendelssohns Auffassung der Eklektik als eine »Auswahl« des Gegebenen nach einem bestimmten Prinzip. Nach den Studien Schneiders (1968, 5 und 1983, 86), an die Albrecht sich ausdrücklich anschließt, ist der entscheidende Punkt der Eklektik jedoch nicht in der Auswahl zu suchen – was ihren Begriff denn auch allzu beliebig erscheinen ließe –, sondern in der durch sie vermittelten Freiheit. Denn das Kriterium der Auswahl, die Frage, was ›passend‹ sei, wird dabei nach der eigenen Vernunft, nach den gewussten besten Gründen, und nicht nach einer vorab für wahr befundenen dogmatischen Lehrmeinung gewählt (in diesem Sinne auch in Anlehnung an Wolff, der sich nicht für einen Eklektiker, sondern Systematiker erklärt, jedoch daran festhält, dass jede gefundene oder ausgewählte Wahrheit selbständig verstanden werden muss, um überhaupt in die eigene Philosophie / das eigene System integrierbar zu sein; vgl. Albrecht 1995, 532). Obgleich Mendelssohn selbst sich abwertend über die neueren Eklektiker äußert, die »zu keiner Fahne [schwören], auch nicht einmal zur Fahne der Vernunft« (JubA V/1, 20. LB: 1. März 1759), hat er selbst doch, wie Albrecht 1994, 577 f. zu Recht betont, an der vernunftgemäßen Variante dieser Denkrichtung festgehalten. »Ich wähle auch aus den Systemen der Weltweisen immer dasjenige, was mich glücklicher und zugleich besser machen kann.« (an Sophie Becker, 27. Dezember 1785, JubA XIII, 333) Mit seiner philosophischen Methode des Dialogs zeigt er, wie der Weg zu einem wahren Gedanken entdeckt werden kann. 7 »The deepest concern of Mendelssohn’s philosophy: to bring the cognitive and emotional forces of the soul into harmony.« (Altmann 1971, 29) Siehe zum Modell der Harmonie im Gegensatz zu einem Balancemodell unten Kap. IV.3, 442 f., FN 169.
Einleitung
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nicht nur deren rationale Entwicklung, sondern auch die Bereitschaft, einmal angenommene Wahrheiten immer wieder zu überprüfen, sich mögliche Gegengründe bewusst zu halten und sich der Wahrheit der Sache immer durch eigene Begründung, nicht bloßes Vorurteil zu versichern.8 In diesem Sinne versuchte er auch, strenge Gedankenführung und Fasslichkeit des Ausdrucks zu einer – richtig verstandenen – Popularphilosophie zu verbinden: »Die Bestimmung des Menschen überhaupt ist: die Vorurtheile nicht zu unterdrükken, sondern sie zu beleuchten.« (JubA VI/1, 141)9 Vorbild für diese dynamische Auffassung menschlicher Vollkommenheit in der Vervollkommnung einer zugleich sinnlichen wie rationalen Welterkenntnis war nicht nur Leibniz, sondern waren auch so unterschiedliche Denker wie Sulzer, der nach den rational verborgenen Mechanismen menschlicher Welterfassung fragte, und Shaftesbury, der die menschliche Würde den höchsten Punkt seiner Betrachtung nannte.10 Auch die Forschungen der »philosophischen Ärzte«11 nach den Gesetzmäßigkeiten und Folgen des psycho-physischen Zusammenspiels als Konstituenten der menschlichen Natur spielen eine wichtige und derjenigen der empiristisch geprägten Common-Sense-Philosophie britischer Provenienz gleichzustellende Rolle. Mendelssohns Denken ist, ohne dass ihm das selbst vollständig bewusst zu sein schien, ein Philosophieren an einer Schwelle. Er selbst hielt in seiner »Nacherinnerung an Lavater« von 1770 fest: »Neue metaphysische Warheiten sind, wenn man will, seit Jahrhunderten nicht erfunden worden.« (JubA VII, 45) Doch heißt dies nicht, dass er sich lediglich an vorhandene Ergebnisse anschloss. Vielmehr versucht er sie im Lichte eines eigenen Ansatzes zu interpretieren. Sein vermeintliches ›Abschreiben‹ war ein »subtiles Umschreiben« eines Kernpunktes, der auch mit dem Begriff einer »anthropologischen Wende« innerhalb der Aufklärung bezeichnet werden kann.12 Dass diese ›Wahrheiten‹ während seiner Schaffenszeit noch eine ganz 8
So Mendelssohns Kommentar zu Baumgartens Einleitung in die dritte Auflage seiner Metaphysica, LB 21: 1. März 1759, JubA V/1, 14 f. Die Rezension bezieht sich auf die vierte Auflage von 1757, die die Vorreden der Auflagen 1739, 21742 und die »bei weitem ausführlichste« (Kommentar Engels in JubA V/3b, 548) von 31749 enthält. 9 In seinem Artikel Soll man der einreißenden Schwärmerei durch Satyre oder durch äußerliche Verbindungen entgegenarbeiten? für die Berlinische Monatsschrift 5 (1785), 133 ff. 10 Neben Mendelssohns Übersetzungsversuch von Shaftesburys Charakteristicks, den er zusammen mit Abbt und Nicolai unternahm (siehe JubA VI/2, LV), sowie den zahlreichen Bezugnahmen auf Shaftesbury in den frühen Schriften (vgl. Kap. II.2 und 3) ist dieser auch ein häufiger Referenzautor in Mendelssohns Rezensionen. Siehe bspw. LB 194: 12. November 1761, JubA V/1, 454, oder LB 194 f. (plus Beschluss) vom 12. und 19. November 1761, JubA V/1, 454–60. Mendelssohn hat sich zeitlebens, trotz stilistischer Kritik, seine Bewunderung für Shaftesbury erhalten. 11 Vgl. dazu umfassend Schings 1977, Geyer-Kordesch 1977, Riedel 1985, 11–17 und Zelle (Hg.) 2001. 12 Zitat bei Goetschel 1996, 164. Vgl. zur »anthropologischen Wende« und deren Datierung Riedel 1985 und 1994a und b, Zelle 1987 und 2001. Die schönste Zusammenfassung von Mendelssohns Werk und seinem subtilen Wirken (denn viele seiner Ideen wurden schlicht – und unge-
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Einleitung
andere, nämlich kantisch-kopernikanische Wende erlebten, steht dabei (wie auch Mendelssohns Unvermögen, mit diesen Umwälzungen umzugehen) auf einem anderen Blatt. In der vorliegenden Arbeit ist die Annahme leitend, dass Mendelssohn zwar mit den theoretischen Ressourcen der zeitgenössischen Ästhetik, Metaphysik und auch rationalen und empirischen Psychologie arbeitet, insofern er seine Untersuchungen in Termini dieser Disziplinen durchführt, dass aber der eigentliche Fluchtpunkt seines Arbeitens eine Anthropologie darstellt. Dabei erweist sich, wie bereits erwähnt, seine Auffassung als von der geschichtsphilosophisch-hermeneutischen Perspektive Herders ebenso unterschieden wie von Platners physiologisch orientierter Anthropologie (1772). Es soll in dieser Arbeit gezeigt werden, dass Mendelssohns Untersuchung des Menschen sich nicht in einer generellen Bezugnahme auf die (der »Bestimmungsliteratur« verwandten) Theologie erschöpft,13 sondern vielmehr einen eigenen Weg der Bestimmbarkeit des Menschen festhält, indem sie die menschliche Doppelnatur aus Seele und Körper sowie die sich daraus ergebende normative Ebene einer leib-seelischen Welterfassung und -erfüllung zueinander in Beziehung setzt, gerade ohne auf eine bestimmte theologische Theorie hinzuarbeiten. Unter dem hier nicht weiter zu verfolgenden Aspekt der Rezeption dieses Gedankens betrachtet, ist Mendelssohns Anthropologie prima facie kein ›Sieger‹ in der Philosophiegeschichte; hat sich doch ein anders gelagerter Anthropologiebegriff durchgesetzt. Dennoch vermag seine Perspektive einen umfassenderen Begriff der gerade erst aufkeimenden Debatte über die disziplinäre Ausgestaltung einer Anthropologie im 18. Jahrhundert bieten. Nicht zuletzt die erwähnten metaphysisch-anthropologischen Versuche Schillers, aber auch die Philosophie der symbolischen Formen Cassirers und die Forderung nach einer Philosophie der menschlichen Kultur in der sich an Cassirer anschließenden Forschung haben hier ihren Vorläufer.14
nannt – als neue Paradigmen aufgenommen) hat Goetschel zu Beginn des zweiten Teils in Spinoza’s Modernity geliefert, siehe ebd. 2004, 85–88. 13 In ihrer Studie zum Anthropologiebegriff im 18. Jahrhundert hat Mareta Linden gerade die auch von Mendelssohn vertretene Vorstellung von Anthropologie, die in einem engen Zusammenhang mit der »Bestimmung des Menschen« steht, aus diesem Grund ausgeklammert; vgl. Linden 1976, III. 14 Dass einige Grundtheoreme der rationalistischen Philosophie auch nach dem Siegeszug der Kantischen Philosophie in gewissen Formen erhalten bleiben, zeigt J. Heinz 1996, 38–47, v. a. mit Bezug auf die Neue Anthropologie (1790) von Platner sowie Christian Gottlieb Schaumanns Psyche oder Unterhaltungen über die Seele (1791), wobei ersterer das Vollkommenheitsparadigma, letzterer die Vermögensphilosophie samt ›Vorstellungsmechanik‹ wiederbelebt.
Vorgehen
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Vorgehen Mit einer Bestimmung des Menschen ist Mendelssohn zufolge zweierlei verbunden: zum einen gilt es, die Natur des Menschen zu erklären, bzw. die menschliche Determination15 festzusetzen. Zum anderen enthält der Bestimmungsbegriff auch den Aspekt menschlicher Zwecke, seiner Destination. Bevor er diese beiden Ebenen getrennt behandelt, charakterisiert er die ihnen gemeinsame Struktur der Perfektibilität, also der menschlichen Fähigkeit sowie Aufgabe, sich zu vervollkommnen. Der von Mendelssohn formulierte Grundsatz lautet dabei: »Die eigentliche Bestimmung des Menschen hienieden, die der Thor und der Weise, aber in ungleichem Maaße, erfüllen, ist also die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttlichen Absichten; denn hierauf zielen alle seine Verrichtungen auf Erden.«16 Damit setzt er die Perfektibilität als Gegenstand sowohl menschlicher Determination sowie Destination fest. Die »offene« Anlage des Menschen, also die Notwendigkeit, sich und seine Fähigkeiten erst zu entwickeln, wird zugleich durch ein zu realisierendes Ziel, die Erfüllung göttlicher Absichten, eingegrenzt. Die individuell wie auch im zwischenmenschlichen Miteinander erworbene Aus-Bildung findet ihren Platz in einem umfassenden Ganzen. Etwas differenzierter ausgedrückt ist aber Perfektibilität als ein ›Vermögen‹ zuerst Voraussetzung und Prozess; Vollkommenheit als ein Zustand des Individuums wie auch der Menschheit insgesamt ist das Ziel. Die individuelle Bestimmung soll dabei mit der metaphysischen Prämisse Leibniz’ von der besten aller möglichen Welten vereinbar sein, oder, anders formuliert: Gemäß Mendelssohns Adaption von Leibniz’ Metaphysik müssen das menschliche Wesen und die menschliche Geselligkeit als fundamental abhängig von dem universellen Zweck, also ihrer letztendlichen Einpassung in die beste aller möglichen Welten, verstanden werden und dennoch ihren Eigenwert bewahren. Damit steht aber eine ›rationalistische‹ Anthropologie vor folgendem Problem: Das Ziel, die philosophische Begründung menschlicher Entwicklung, wird über einen möglicherweise unbefriedigenden Weg, nämlich über ein bestimmtes metaphysisches System entwickelt; der Mensch selbst droht dabei aus dem Blick zu geraten. Es besteht also zum einen die Gefahr, dass mit Abweis der leibnizianischen Prämissen das gesamte Projekt Mendelssohns in sich zusammenfällt. Zum anderen steht ein auf leibnizianischen Prämissen aufruhendes Menschenbild unter einer internen Spannung, indem in ihm eine in sich vollkommene Welt mit einem sich erst vervollkommnenden Menschen ›synchronisiert‹ werden muss. Mendelssohn versucht dies15
Dies ist der von Mendelssohn selbst favorisierte Begriff; mögliche Synonyme sind Konstitution oder Definition. 16 Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend, JubA VI/1, 20 (siehe Kap. I.2); in der Evidenzschrift von 1763 wird dies auch (ganz im Sinne Wolffs) als Ziel der Moral ausgewiesen.
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Einleitung
bezüglich zu zeigen, dass die Komponenten Mensch und Welt bzw. Vervollkommnung und Vollkommenheit miteinander in Wechselbeziehung stehen. Damit steht nicht nur das Menschenbild unter metaphysischen Voraussetzungen, sondern umgekehrt ruht auch das rationale System auf einem spezifischen Menschenbild auf und wird durch es verwirklicht. Metaphysisch betrachtet erscheint für Mendelssohn der Mensch stets, d. h. unabhängig vom Entwicklungsstand seiner Anlagen, eingepasst in eine vollständig determinierte Welt; der Gedanke einer Vervollkommnung erübrigt sich unter dieser Perspektive. Jedoch von der phänomenalen Seite aus – und dies betont den anthropologischen Blickwinkel – nimmt sich der Mensch notwendig als ein unfertiges, strebendes Wesen wahr. Das statische metaphysische Gerüst kontrastiert hier mit einem dynamisch zu verstehenden Modell individueller Strebsamkeit, das deutlich bereits in Leibniz’ Monadenkonzeption enthalten ist.17 Nicht umsonst setzt Mendelssohn deshalb einen Antagonismus von Kräften und Entwicklungslinien als notwendige Bedingung für menschliche Kultur, den es philosophisch zu erfassen und zu begründen gilt. Die menschlichen Fähigkeiten der Erfassung und Realisierung von Vollkommenheit behaupten also ein Gegengewicht zur Metaphysik, das Mendelssohn auszutarieren bemüht ist. Dabei konzentriert er sich gerade nicht auf die Entwicklung eines tragfähigeren metaphysischen Fundaments; in dieser Hinsicht hat er sich vornehmlich an Leibniz, Baumgarten und Wolff angeschlossen. Vielmehr betrachtet er darauf aufbauend das Phänomen Mensch und versucht zu zeigen, wie der Mensch in dieses metaphysische System eingepasst ist. Seine Schriften prägt zum einen das Vertrauen in die generelle Richtigkeit des zugrunde liegenden Systems und zum anderen die Frage, was dies für den Menschen konkret bedeutet und wie er es zu erkennen bzw. praktisch umzusetzen in der Lage ist. Es ist der Versuch, die Praktikabilität einer leibnizianischen Weltordnung zu erweisen.18 Zugleich möchte Mendelssohn die Grundwahrheiten einer metaphysischen wie rational gesicherten Welterkenntnis leibnizianischer Provenienz nicht aufgeben und unternimmt daher den Versuch einer Verbindung beider Pole. Das Modell eines zugleich statisch wie dynamisch zu verstehenden Welt- und Menschenbildes bestimmt deshalb im Folgenden den Gang der Untersuchung. Da17
Die Analyse dieser Wendung von einer »statischen« zur »dynamischen« Theorie des Vergnügens findet sich bei Cassirer 1932, 304–7 und Altmann 1969, 101, der sie zwischen Wolff und Sulzer ansetzt. Übernommen wurde sie von Martino 1972, 91 f., Kondylis 1981, z. B. 325–42; vgl. auch Zelle 1987, 296 f., J. Heinz 1996, 74. Nach Martino sind zwar beide Theorien der Lust schon bei Leibniz angelegt, jedoch sollte für die Durchsetzung der dynamischen Theorie der Einfluss Dubos’ nicht unterschätzt werden. Man könnte es vielleicht so formulieren: eben weil Ansätze zu einer dynamischen Wendung der Lusttheorie bereits bei Leibniz vorhanden waren, konnten die ›Rationalisten‹ den emotionalen Dynamismus eines Dubos in ihre Philosophie integrieren. 18 Vgl. Altmann 1982, 26: »Das 17. und 18. Jahrhundert hatte den Menschen als Menschen entdeckt, und Mendelssohn war ganz von dieser Sicht beherrscht.«
Vorgehen
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bei betont Mendelssohn immer wieder die Bedeutung individueller Entwicklung, die jedoch nicht isoliert von gesellschaftlichen Strukturen möglich ist. Besonderes Gewicht misst er bei der Analyse dieser Entwicklung und der Begründung ihrer Konstituenten einer befriedigenden philosophischen Rekonstruktion menschenmöglicher Welterfassung in theoretischer, praktischer und nicht zuletzt ästhetischer Hinsicht bei.
Kapitel I: Die Bestimmung des Menschen Unter der Heuristik, dass Mendelssohns philosophisches Interesse auf eine (begrifflich näher zu bestimmende) Anthropologie fokussiert, sollen die Mendelssohns Werk prägenden Themenfelder umrissen werden. Nach einer detaillierten Diskussion der sogenannten ›Bestimmungsdebatte‹ als eines Aspekts der sich neu formierenden Anthropologie setzt die Untersuchung chronologisch inkorrekt mit der Debatte über die Bestimmung des Menschen zwischen Mendelssohn und Thomas Abbt um 1764/66 ein, um vor diesem Hintergrund die einzelnen Themenstränge sowie Mendelssohns Grundverständnis einer Philosophie vom Menschen zu entfalten. Von dieser erstmaligen expliziten Auseinandersetzung mit der Frage nach der Bestimmung des Menschen ausgehend, sollen in den folgenden Kapiteln Mendelssohns Grundsätze einer Definition des Menschen ausgewiesen werden, bevor im letzten Kapitel der Bogen zu den in der Bestimmungsdebatte aufgeworfenen Fragen um die menschliche Zweckbestimmung, seiner Destination, geschlagen und der Untersuchungsrahmen damit geschlossen wird. Dort erfolgt abschließend die Auswertung der Resultate, die Mendelssohn v. a. im dritten Gespräch des Phädon (zuerst 1767) und in den 1782 veröffentlichten Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz unternimmt. Die Bestimmung der menschlichen Konstitution allerdings ruht auf Ergebnissen seiner Überlegungen zu ästhetisch-sinnlichen, epistemologischen und moralischpraktischen Bereichen auf, die in den vorangehenden Kapiteln II bis IV entwickelt werden. Die Diskussion der grundlegenden Auseinandersetzung über die Bestimmung des Menschen, die im ersten Kapitel durchgeführt wird, soll die Strukturierung des zur Verfügung stehenden Materials ermöglichen. Dabei lassen sich in einer ersten groben Einteilung drei Ebenen einer Anthropologie Mendelssohns ausmachen: einer Bestimmung der menschlichen Natur steht eine Untersuchung zur menschlichen Geselligkeit zur Seite, die beide in die Reformulierung eines menschlichen – individuellen wie gattungsgemäßen – Zwecks münden bzw. von ihm getragen werden.
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Kapitel II: Theorie der Sinnlichkeit In seinem Frühwerk behandelt Mendelssohn die psychologischen wie physiologischen Grundlagen der menschlichen Welterfassung. Bestimmend ist hierbei eines der wichtigsten Anliegen der Aufklärung: die Rehabilitierung der Sinnlichkeit19 durch ihre Einbindung in metaphysische Prämissen. Körper und Geist, Neigungen und moralische Forderungen sollen in Übereinstimmung gebracht werden. Die körperliche und sinnliche Konstitution des Menschen wird dabei als ein fundamentaler Faktor seiner Welterfassung dargestellt und in Anschluss an Leibniz das Unbewusste als ästhetische wie moralische Kategorie fruchtbar gemacht.20 Grundlage hierfür ist die Entwicklung einer ästhetischen Theorie, die ihre integrierende Funktion auch in epistemologischen und praktischen Kontexten entfaltet. Es ist vermutlich kein Zufall, dass die weitestgehenden Revisionen – oder zumindest deren deutlichste Fassung – der hier einschlägigen Sammlung der Philosophischen Schriften Mendelssohns erst nach der Bestimmungsdebatte mit Abbt zu verzeichnen sind. Die Bestimmungsdebatte fand Mitte der 1760er Jahre statt, die zweite Auflage der genannten Philosophischen Schriften erschien 1771. Deren Themenvielfalt und die erwähnten, erst hier deutlich werdenden charakteristischen Modifikationen21 zeigen, dass es Mendelssohn nicht primär um einen gesonderten Wissenszweig geht, sondern der Blick auf ein – noch unklares – Ganzes, eben den Menschen, gerichtet ist. Besonders interessant ist dabei sein Umgang mit den Umbrüchen und Entwicklungen innerhalb der Psychologie.22 Lag ihr Schwerpunkt noch zu Beginn des Jahrhunderts auf der rationalen Abhandlungsmethode, so wurde dieses Konzept, auf dem auch ein Großteil von Mendelssohns Moralphilosophie zu ruhen scheint, sukzessive von der empirischen Psychologie abgelöst, welche wiederum bei verschiedenen Denkern in eine Form der Anthropologie überging. Diese von Christian Wolff initiierte 19
Mit dem Versuch einer Integration von Sinnlichkeit und Rationalität, das Kondylis 1981, Kap I.1 schlagwortartig unter der »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« zusammenfasst, befindet sich Mendelssohn in einer das 18. Jahrhundert insgesamt prägenden Bewegung. 20 Entgegen der Feststellung Oberhausens (2002, 127) erscheint es mir zweifelhaft, dass Philosophen wie Leibniz, Wolff, Baumgarten einen »differenzierten Begriff vom Unbewussten« hatten. Die Bestimmungen einer dunklen Vorstellung sind keineswegs völlig uniform und führen nicht immer zu übereinstimmenden Ergebnissen. Die dunkle Vorstellung hat eher die Funktion eines Grenzbegriffs, explizit positive Bestimmungen finden sich kaum. 21 Dabei ist hervorzuheben, dass die Grundzüge der Theorie der vermischten Empfindungen u. a. sich bereits in der Auflage von 1761 finden. Erst mit der zweiten Auflage von 1771 jedoch werden diese Neuerungen durch weitere Ausführungen, Ausstreichungen und Umstellungen explizit hervorgehoben. 22 Erste »Anthropologien« legen eine starke Verbindung dieser beiden Disziplinen ohnehin nahe; siehe bspw. Magnus Hundt: Anthropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus. 1501 und Otto Casmann: Psychologia anthropologia sive animae humanae doctrina; Secunda pars anthropologiae: hoc est: Fabrica humani corporis. 1594–96; vgl. dazu J. Heinz 1996, 118.
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und von Alexander Gottlieb Baumgarten verfolgte empirische Untersuchungsrichtung befasst sich mit ›sicheren‹ Tatsachenwahrheiten seelischen Wirkens und Erlebens und soll der sie begründenden Disziplin der rationalen Psychologie, die sich mit der Aufdeckung der Gesetze dieser Wirkungen beschäftigt, gewissermaßen zuarbeiten. Auch Mendelssohn hat sich in seinen psychologischen und ästhetischen Arbeiten mit dieser besonderen Art Empirie auseinandergesetzt. Doch bilden Einsichten der rationalen Psychologie zweifellos das Rückgrat der Bestimmungsdiskussion sowohl im Phädon als in den daran anschließenden Schriften. Auch hier zeigt sich Mendelssohn als ein Denker einer Übergangszeit, der unterschiedliche Untersuchungsstränge und -methoden verfolgt, um ein umfassendes Bild des Menschen zu zeichnen. Gerade sein Frühwerk weist unter einer ästhetisch-psychologischen Perspektive deutliche Charakteristika dieses Umbruchs auf. Mendelssohns ästhetisch-psychologische Theorie der menschlichen Natur ist Gegenstand des zweiten Kapitels. In drei Teilkapiteln erfolgt eine Annäherung an die ästhetische Bestimmung des schöpferischen Menschen über dessen generelle Perfektibilität sowie die in Termini der zeitgenössischen Psychologie konzipierten sinnlichemotionalen Vermögen, die einer rationalen Welterfassung zuarbeiten bzw. diese vervollständigen sollen. Von besonderer Bedeutung sind hier Mendelssohns Überlegungen zur Rolle und Gestalt menschlicher Perfektibilität als Motor und Ziel menschlicher Entwicklung, denen das erste Teilkapitel gewidmet ist. Im Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig, einer Nachschrift seiner Übersetzung von Rousseaus Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1756), skizziert Mendelssohn, herausgefordert von Rousseaus Kulturkritik, wichtige Grundlinien seiner Sicht einer Definition des Menschen. Thema ist dabei auch die von Mendelssohn immer wieder verteidigte Güte der menschlichen Natur, die über die Kulturentwicklung zwar verbessert, niemals hingegen allein pervertiert werden könne. Die Initialzündung für seine weiteren Untersuchungen besteht meines Erachtens in der Entdeckung und Ausformulierung der Theorie des Vergnügens und der vermischten Empfindungen, die Mendelssohn zuerst in den 1755 erschienenen Briefen über die Empfindungen seinen Überlegungen zugrunde legt und in nachfolgenden Schriften (Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften und Rhapsodie) differenziert und erweitert. Dabei verfolgt er nicht allein die Explizierung einer Theorie der Vervollkommnung des ganzen Menschen über die Sinnlichkeit und deren Engführung mit einer verständigen Aufklärung, sondern versucht ebenfalls zu zeigen, dass den Menschen die Fähigkeit auszeichnet, etwas als unvollkommen zu erfassen und dennoch zur eigenen Bewertungsfähigkeit in einen fruchtbaren Bezug zu setzen. Mit der zugrundeliegenden Vermutung, dass auch eine gewisse Art des Abscheus zur menschlichen Vervollkommnung beitragen kann, ergänzt er die Natur menschlichen Vergnügens
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als eines wichtigen Faktors menschlicher Perfektibilität um prima facie negative Gefühle. Damit wird jedoch, nicht zuletzt aufgrund des der Theorie zugrunde liegenden positiven Menschenbildes, eine Modifikation der Gesetzmäßigkeiten ästhetischer und psychologischer Wirksamkeit von Vorstellungen erforderlich (Teilkapitel II.2 und II.3).
Kapitel III: Erkennen und Handeln Neben den ästhetisch-moralischen Überlegungen enthält bereits das Frühwerk den Versuch einer Konzeption von der Wirksamkeit und Beeinflussbarkeit menschlicher Erkenntnismodi. Zwar ist, das scheint Mendelssohn unbestreitbar, das Spezifikum des Menschen dessen Fähigkeit zum Vernunftgebrauch, doch ist dieser nur eingeschränkt praktikabel. Was ist also zu tun, um die moralischen Wahrheiten zu einiger Evidenz zu bringen und damit das Handeln des Menschen über die Verbesserung seines Wissens zu stärken? Deutlich geht es Mendelssohn weniger um eine Begründung der Erkenntnis noch der Moral, sondern um eine Theorie ihrer Anwendungsbedingungen. Daneben musste er sich mit einem neuen Wissenschaftsideal auseinandersetzen, das das Bewusstsein einer Krise der rational-deduktiven Begründung von Wissen aufkommen ließ. Auslöser war die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich zu verzeichnende Zuwendung zu einer empiristischen Methodik, insbesondere Experiment und Beobachtung, was laut Zammito (2002, 225) zu einer Umwertung des Wahrheits- bzw. Überzeugungsbegriffs führte. Dieser wurde anthropologisch gewendet und fand in der Wahrscheinlichkeitstheorie seinen Ausdruck. Mendelssohn entwickelte, wie das erste Teilkapitel zeigen soll, seine Version von ihr in Auseinandersetzung mit ›Hume’s problem‹, der philosophischen Begründung von Kausalität und der Frage nach der allgemeinen Gültigkeit von Induktionsschlüssen. Zum einen verteidigt er in den dazu einschlägigen Schriften die erfahrungsunabhängige Geltung der rationalen Prinzipien menschlicher Erfahrung. Zum anderen versucht er menschenmögliche Einsichten mit einer Wahrscheinlichkeitstheorie des Wissens zu erklären: Angestrebt wird in Hinsicht auf ›Alltagswissen‹ nicht unbedingte Wahrheit, sondern eine möglichst hohe Sicherheit, gewonnen anhand einer kohärenten Erfahrung sowie deren Übereinstimmung mit Ergebnissen anderer Quellen. Diese Wahrscheinlichkeitstheorie soll aber, anders als bei Hume (wie Mendelssohn ihn versteht) nicht psychologischer, sondern rationaler Natur sein. Approximative, induktiv gewonnene Sicherheit ist, wenn sie rationalen Prinzipien entsprechend gewonnen wird, immer noch rational begründetes Wissen. Daneben versucht Mendelssohn die Wahrscheinlichkeitstheorie auf praktischem Gebiet für die Erklärung und Verwirklichung moralischer Handlungen fruchtbar
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zu machen. In der die Preisschrift Ueber die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften (1764) wie auch die Rhapsodie (1761/71) bestimmenden Frage nach der handlungsbestimmenden Evidenz der Moral spielt die an Baumgartens Metaphysik23 und Sulzers Psychologie angelehnte Nutzbarmachung des Unbewussten eine große Rolle (zweites Teilkapitel). Freie Handlungen sind innerhalb einer Theorie des auch unbewusst-sinnlich bestimmten Menschen möglich; sie unterliegen allerdings bestimmten Anforderungen, die ihrerseits begründet werden müssen. Noch immer war das Skandalon des Handelns wider besseres Wissen, dass durch die Theorie des Unbewussten erklärbar gemacht werden sollte, nicht gelöst. Mendelssohns Ansatz einer moralaffinen Schulung der unbewusst wirksamen Sinnlichkeit sollte hier anscheinend Abhilfe verschaffen. Doch auch die weitere Ausformulierung eines moralisch geschulten Sinns und seiner Verortung im menschlichen Vermögensapparat, zu dem sich das dritte, neben Verstand und Gefühl stehende Billigungsvermögen etabliert, kann das Problem der Willensschwäche und der bösen Handlung nicht befriedigend lösen (s. drittes Teilkapitel).
Kap. IV: Gesellschaftstheorie der Bildung, Aufklärung, Kultur Mendelssohns von persönlichen Anfeindungen initiierte Hinwendung zur politischen und Gesellschaftsphilosophie erscheint, abgesehen vom biographischen Aspekt, insbesondere deshalb konsequent, da zu einer Vervollständigung der Theorie des Menschen die Berücksichtigung menschlicher Gesellschaft und Kultur unabdingbar ist. So benennt er als Voraussetzung für ein gutes Leben nicht nur die individuelle Tugend, sondern auch den sozialen Charakter des Menschen. Er fasst diesen als eine Neigung, den Austausch mit Anderen zu suchen und Gesellschaften zu bilden. Die im ersten Teilkapitel explizierte Grundlage ist dabei die in Auseinandersetzung mit Rousseaus Thesen zur Entwicklung der Sprache durchgeführte Reflexion auf die Bedingungen gesellschaftlichen Austauschs. Mendelssohn sieht in der Sprache bzw. der Fähigkeit, Zeichen zu geben und zu verstehen, das Fundament menschlicher Rationalität und Kultur. Dabei soll jedoch die
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Insbesondere in Bezug auf dessen Theorie des fundus animae; vgl. dazu Oberhausen 2002 und Adler 1988. Laut Oberhausen (2002, 130) schlägt Baumgarten mit der Verwendung des fundus animae als eines Begriffs der pietistischen Mystik zugleich eine Brücke zwischen »der überwiegend dunklen und immer nur partiell erhellten menschlichen Erkenntnis und dem völlig deutlichen göttlichen Wissen von allen Dingen der Welt« (ebd.). Problematisch an einer solcherart angestrebten unio mystica wäre allerdings, dass es kein philosophisches, sondern lediglich ein dunkles Wissen von der göttlichen Durchdringung der Welt gäbe. Dies scheint weder Baumgartens noch Mendelssohns Erklärungsziel gewesen zu sein.
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Sprache durch eine an (rituellen) Handlungen gebundene Tradition vor Missbrauch geschützt werden. Mit einer verfeinerten Theorie menschlicher Entwicklung und der sie bestimmenden Konstituenten wendet sich Mendelssohn auch gegen gängige geschichtsphilosophische Konzepte, insbesondere dasjenige Lessings (zweites Teilkapitel). Das Gegen- und Miteinander menschlicher Bestrebungen, Interessen und Fähigkeiten macht einen wichtigen Faktor menschlicher Bestimmung aus; das sich daraus entwickelnde gesellige Leben, Handeln und die daran orientierte Entwicklung des Einzelnen im Austausch mit anderen werden als Alternative zu einer teleologischen Struktur menschlicher Geschichte, die die menschliche Glückseligkeit der Gattung mit einem Verlust des individuellen Werts erkauft, verstanden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der in den Diskussionen der Mittwochsgesellschaft konturierte Bildungsbegriff, den Mendelssohn als Kern seines Aufklärungsaufsatzes ausweist. Wie im dritten Teilkapitel gezeigt werden soll, ist ihm zufolge die Synthese aus Aufklärung und Kultur auf der Grundlage eines Antagonismus der menschlichen Fähigkeiten und damit gegenläufigen Bestrebungen, sowie deren Ausbalancierung die konstituierende Bedingung menschlichen Lebens und seiner Entwicklung. Damit führt er die Gesetze gesellschaftlicher Entwicklung wiederum auf die des Individuums zurück. Am deutlichsten lässt sich diese Tendenz am Jerusalem ablesen, insofern er hier die Bedingungen der Trennung zwischen Recht und Religion begründet und Ansätze zu einer auf der Entwicklung der Individuen, nicht der Gattung basierenden Geschichtsphilosophie skizziert. Eine allen Individuen gemeinsame, rational begründbare Menschennatur wird dabei unterstellt und argumentativ zu stützen versucht. Um dies angemessen nachzuzeichnen, werden ebenfalls kleinere Schriften der 1770er und 80er Jahre berücksichtigt, die sich mit der Ausformulierung der politischen Dimension der Aufklärung und insbesondere mit dem Toleranzgebot befassen. Wie im vierten Teilkapitel gezeigt werden soll, sind Mendelssohns auch für die tatsächliche rechtliche Besserstellung der Juden in Preußen relevanten Überlegungen seiner Zeit weit voraus. Das von ihm verfochtene positive Menschenbild trägt hier zur Formierung des Konzepts einer offenen, toleranten Gesellschaft bei, ohne die Unverfügbarkeit eines persönlichen Glaubens zu verletzen.
Kapitel V: Metaphysik als eine »subjektive« Theodizee Der letzte Teil der Arbeit schlägt, wie erwähnt, noch einmal den Bogen zu den in der Bestimmungsdebatte aufgeworfenen Fragen zum Zweck menschlichen Lebens. Abbts drängende Fragen nach einer eindeutigen metaphysischen Definition menschlicher Bestimmung hat Mendessohn mit den stärker metaphysisch-spekulativ ausgerichteten Arbeiten wie dem Phädon, seinen Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher
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Correspondenz und den Morgenstunden zu beantworten versucht. Es sind allerdings, und dies ist ein alle Kapitel durchziehender Aspekt, weniger die inhaltlichen als die formalen Aspekte seiner Antworten, die das Interesse am »Anthropologen« Moses Mendelssohn begründen könnten. Seine spekulative Begründung einer eindeutigen Festlegung und Garantie der Erfüllbarkeit menschlicher Bestimmung eignet hingegen weitaus eher, sich die Grenzen seines Denkens zu verdeutlichen. Mendelssohns Beantwortung von Abbts Zweifel im Orakel war, wie das erste Kapitel zeigte, noch unzureichend. Die Zielgerichtetheit menschlicher Bestimmung, die Erfüllung menschlicher Vervollkommnung im Jenseits und der Erweis einer ausgleichenden Gerechtigkeit konnte, so zumindest Mendelssohns Diagnose, nur mit einer anspruchsvolleren Theorie menschlicher Unsterblichkeit, verstanden als das Fortleben einer personal verstandenen Seele, gerechtfertigt werden. Diesem Unternehmen war sein wohl berühmtestes Werk, der Phädon (zuerst 1767), gewidmet, der sich zu großen Teilen der Auseinandersetzung mit Abbt verdankt. Diese Grundlinie soll im ersten Teilkapitel nachvollzogen werden. Das zweite Teilkapitel wendet sich dem Erbe dieser Debatte in der brieflichen Diskussion mit Herder zu und weist auf die abschließenden Überlegungen Mendelssohns in den Anmerkungen hin. Hier wird deutlich, wie weit eine Anthropologie herderscher Provenienz von den rationalistischen Prämissen Mendelssohns entfernt ist. Mendelssohn verteidigt nach wie vor die Idee einer sich gleich bleibenden, jedoch immer klarer und deutlicher zu sich selbst kommenden Menschennatur, die in jedem Individuum ihren Repräsentant findet und zugleich in einem umfassenden Weltentwurf aufgehoben ist. Die Unhintergehbarkeit des menschlichen Werts gründet sich dabei nicht, wie Herder argumentiert, auf einem prärationalen Gefühl, sondern auf seiner Eingebundenheit in einer durchgehend rational, vom Prinzip des guten, weil zureichenden Grundes bestimmten Welt. Es bleibt jedoch fraglich, ob eine solcherart gefundene »göttliche Beruhigung« das argumentative Gewicht, das Mendelssohn ihm auferlegt, zu tragen vermag. So läuft zwar die Argumentation des letzten Kapitels darauf hinaus, Mendelssohns umfassenden Anspruch, die Verfasstheit des Menschen als eines sich prinzipiell auch über den Tod hinaus vervollkommnenden Wesens bewiesen zu haben, zu begrenzen. Die Qualität des Mendelsohn’schen Ansatzes liegt auf einem anderen Gebiet, wie sich bereits in den vorangegangenen Überlegungen zur Determination des Menschen zeigen sollte. Das materiale Interesse an der »menschlichen Verbesserung« wie auch seine undogmatische, ja bisweilen rhapsodistische Methodik, so meine These, zeichnen den Aufklärer 24 und den Popularphilosophen Mendelssohn aus, der nicht materialiter, sondern v. a. formal innovativ oder zumindest belebend wirkte. 24
Mendelssohn wie Kant ging es um den selbständigen Gebrauch der (eigenen) Vernunft; dementsprechend findet sich in Mendelssohns Werk kein Hinweis etwa auf die von Georg Friedrich Meier in dessen 1744 erschienenen Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt
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Zum einen: Die menschenmöglichen Erkenntnismodi sowie die dem Menschen angemessenen Lebensweisen sind, so ließe sich die Entwicklung seiner Philosophie resümieren, nur unter Einbeziehung metaphysischer, ästhetischer, psychologischer, aber auch politischer, judaistischer und sogar mathematischer Untersuchungsgebiete zu begründen, die die prinzipielle Offenheit menschlichen Erlebens ›erfüllen‹. Und, zum anderen, bedarf eine Philosophie für den Menschen einer spezifischen Darstellungsweise. Sie soll in einer fassbaren, auch unter ästhetischen Gesichtspunkten zu würdigenden Form überzeugen und die Richtung menschlichen Strebens entscheidend (zum Guten) bestimmen. Ein wahrhaft aufgeklärter Mensch ist Mendelssohn zufolge nicht derjenige, der seine Sinnlichkeit besiegt, sondern der sie integriert. Deshalb strebt er auch keine reine, die überlieferte rationalistische Systematik lediglich verfeinernde Theorie an, sondern versucht, den Reichtum an Beispielen und die damit einhergehende lebenspraktische Nähe auch empiristischer Theorien auf eine rationale Grundlage zurückzuführen und mit Verwendung einer anschaulichen philosophischen Methode für die Verbesserung des Menschen nutzbar zu machen. Zwar kennzeichnet das Neben- und auch versteckte Gegeneinander von rationaler Metaphysik und den daran einzupassenden Beobachtungen menschlicher Wirklichkeit sein Werk. Zugleich zeigt es sein Bemühen, in ihm Probleme zu dialogisieren und in einer ihnen gemäßen Form nicht nur einer Lösung zuzuführen, sondern ihre Lösbarkeit dem Einzelnen, dem Leser, zu ermöglichen. Sein Philosophieren setzt dabei immer auf die Freiheit und Klugheit des Rezipienten; es spielt mit den Erwartungen und fordert so eigene Entscheidungen heraus. Mit dem Versuch, den theoretischen Konstruktionen von Leibniz und Baumgarten lebendige Kontur und damit Praktikabilität zu verleihen, ging sein Blick mehr auf die (Lebens-)Welt denn auf ein kohärentes System, was bisweilen die Stringenz der Argumentation empfindlich stört. Darüber hinaus war Mendelssohn nicht unabhängig von seinen Wurzeln. Ihre Berücksichtigung verdeutlicht, unter welchen Gesichtspunkten der eklektisch vorgehende Philosoph die zeitgenössischen Theorien bearbeitete; ja, sie macht überhaupt erst bestimmte Folgerungen, die er in den eigenen Schriften zog, einsichtig. Die Fundierung zahlreicher spezifischer Theoreme wie der Perfektibilität in einer rationalistischen Metaphysik leibnizscher Provenienz offenbart nicht zuletzt, in welchem Ausmaß er diesem Denkkreis verhaftet blieb und ihn, beispielsweise in Richtung eines Kantischen Kritizismus oder gar seines Transzendentalidealismus nicht überwinden konnte. So ruht der abschließende Satz der »Vorerkenntnis« in den Morgenstunden: »der Mensch forschet nach Wahrheit, billiget das Gute und Schöne, will alles Gute und tut das Beste.« (JubA III/2, 66) auf starken propagierte Nutzbarmachung anderer Menschen für eigene Zwecke. Die »Kunst der Menschenbeherrschung und politische Klugheit« (J. Heinz 1996, 26) gehörten nicht zu seinem Interessengebiet. Siehe dazu Kap. IV.3.
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metaphysischen Voraussetzungen, die die Folgezeit nicht oder nur sehr bedingt mit ihrem Vordenker teilte. Die indikativisch formulierte Beruhigung in der Vernunft stellte bei näherer Betrachtung in seinem Werk ein Problem dar, gerade in Hinblick auf die Untersuchung menschlicher Bestimmung. Es soll jedoch gezeigt werden, dass Mendelssohns Anthropologie abseits dieses Indikativs durchaus Überlegungen enthält, die seinen Ansatz interessant und fruchtbar machen.
Methodik Die vorliegende Arbeit soll keine umfassende und chronologische Werkexegese liefern25, sondern diejenigen Bereiche umreißen, die zu einer Formulierung von Mendelssohns »rationalistischer Anthropologie« sinnvoll erscheinen. Auch deshalb orientiert sich die Auswertung der Textzeugnisse an den inhaltlichen Befunden des ersten Kapitels: Mendelssohns Werk wird in den Kontext der Bestimmungsdebatte des 18. Jahrhunderts eingeordnet und die noch offenen Fragen der Bestimmungsdebatte an die folgenden Schriften ›weitergegeben‹. Die Textzeugnisse werden in folgender Abstufung26, die sich an den Kriterien der Authentizität sowie der Publizität der Texte orientiert, zum Beleg von Aussagen herangezogen: 1) Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden die Schriften, die Mendelssohns imprimatur besitzen. Hier spielt die interne Entwicklung spezifischer Theoreme eine wichtige Rolle, die sich beispielsweise aus den unterschiedlichen Fassungen der in den Philosophischen Schriften versammelten Aufsätze, sowie in den Anhängen und Zusätzen der Bestimmungsdebatte im Phädon bzw. den Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz ablesen lässt. 2) Neben einer Analyse der »großen« Abhandlungen sind auch die z. T. zu Lebzeiten anonym oder gar nicht veröffentlichten oder auch nur fragmentarisch erhaltenen kleineren Schriften zu berücksichtigen. Sie geben nicht nur ebenfalls über die Entwicklung von Mendelssohns Ansichten Auskunft, sondern zeigen darüber hinaus zahlreiche weiterreichende Anknüpfungspunkte der dort entwickelten Theoreme an andere Teildisziplinen dessen, was man als Mendelssohns ›Anthropologie‹ bezeichnen kann. Eine weitere wichtige Quelle stellt 3) Mendelssohns Korrespondenz dar, die über seine Lektüre und deren Einschätzung bzw. Aufnahme ins eigene Werk Auskunft gibt. Dementsprechend werden
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Zu diesem Zweck sei vielmehr auf die äußerst umfangreiche Arbeit Bourels (2007) verwiesen, die minutiös die biographischen und historischen Zusammenhänge nachzeichnet. Für philosophisch ergiebiger halte ich allerdings nach wie vor die überragende Biographie Altmanns (1973). 26 Vgl. Reinhard Brandt: Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft. A 67–76; B 92–101. Hamburg 1991, 16.
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der »Briefwechsel über das Trauerspiel« mit Lessing und Nicolai27 sowie die brieflichen Debatten mit Abbt und Herder eingehend berücksichtigt. Ein vorsichtigerer und eingeschränkter Gebrauch wird 4) von Rezensionen und Beiträgen zu den Briefen, die neueste Litteratur betreffend (1759–65), die er zusammen mit Lessing und Friedrich Nicolai herausgab, und für die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1756–59), zu deren Herausgebern er ebenfalls gehörte28, gemacht. Wie nicht nur Albrecht (1983, 68) feststellt, machen die Kritiken zwar einen gewichtigen Teil in Mendelssohns Gesamtwerk aus. Dies sollte jedoch nicht dazu verführen, ihr interpretatorisches Verhältnis zu den Mendelssohn eindeutig zuschreibbaren Schriften überzubewerten. Die Beiträge erschienen anonym, zum Schutze des Verfassers, aber auch in der Hoffnung, durch das Absehen von Personen eine unvoreingenommene Diskussion herbeiführen zu können.29 Es ist nach wie vor nicht eindeutig zu klären, welche Artikel Mendelssohn tatsächlich verfasste und welche in Zusammenarbeit mit anderen Autoren entstanden bzw. von Mendelssohn lediglich redigiert worden sind.30 Deshalb kann eine hier geführte Argumentation nur mit der gebotenen Vorsicht auf solche Rezensionen zurückgreifen und wird immer auch mit eindeutig Mendelssohn zuschreibbaren Texten zu stützen gesucht. Ist dies nicht möglich, wird ausdrücklich darauf hingewiesen. Ebenfalls sind 5) Notizen aus dem
27 Zuerst unter dem Titel Gelehrter Briefwechsel zwischen D. Johann Jacob Reiske, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing. Theil 1. Hg. von K. G. Lessing. Berlin 1789 erschienen. 28 Nach 1765 hat sich Mendelssohn angeblich aus dem Rezensionswesen zurückgezogen; siehe seinen Brief an Abbt vom 14. Juni: »Litteraturbriefe schreibe ich nicht mehr; die Bibliothek gehet mich nichts an.« (JubA XII/1, 90) Doch auch diese briefliche Aussage ist nicht unkritisch anzunehmen. 29 Es sei dahingestellt, ob die sichere Anonymität nicht auch gegenteilige Ergebnisse zeitigte – denn unter dem Schutz eines irreleitenden Namenskürzels ließen sich wissenschaftliche Fehden ausfechten. Dies mag Mendelssohn nicht praktiziert haben, jedoch ist es als ein Manko dieser Form der Rezensionskultur festzuhalten. So ist es auffällig, wie häufig sich Autoren, wenn sie negativ rezensiert wurden, als das Opfer einer solchen Fehde zu inszenieren wussten. Letztlich wäre wohl der von Kant geforderten Freiheit der Feder das Freiheitsrecht hinzuzufügen, eine gerechte Kritik unter dem eigenen Namen veröffentlichen zu können. 30 Die unter Mendelssohns Mitherausgeberschaft erschienenen Rezensionsorgane waren bei den Zeitgenossen ebenso angesehen wie gefürchtet. Zum Einfluss der Literatur und Periodika auf das (bürgerliche) Selbstverständnis im 18. Jahrhundert siehe Michelsen 1981, v. a. 111 ff. Mendelssohn im Besonderen erreichte durch seine Artikel in zweierlei Hinsicht eine Fortentwicklung und Aufwertung der Literaturkritik (vgl. Meyer 1965, XVI). Zum einen setzten die zumeist scharfsinnigen, so freundlich wie ehrlich gehaltenen Besprechungen neue Standards der Rezensionskultur: ihre auf das Grundsätzliche ausgerichteten Darlegungen galten bald als methodisch vorbildlich. Zum anderen erregte die Person Moses Mendelssohn selbst nicht nur Aufmerksamkeit und Anerkennung unter Fachgelehrten, sondern es erforderte auch von der breiten Leserschaft eine Revision althergebrachter Vorurteile, dass ausgerechnet ein Jude wegweisende Beiträge zur deutschen sowie europäischen Literatur und Philosophie leisten konnte. Vgl. dazu umfassend Eva J. Engels Einleitung zu den einschlägigen Bänden in JubA V/1.
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handschriftlichen Nachlass (Kollektaneen) und Übersetzungsfragmente eine wertvolle Quelle zur Einschätzung von Mendelssohns Entwicklung. Sie sind jedoch nur unzureichend überliefert (die meisten Originalmanuskripte gelten seit dem zweiten Weltkrieg als verschollen) und z. T. nur ungenau datierbar. Im gegebenen Zusammenhang, in denen ein Rückgriff auf diese Notizen fruchtbare Einsichten verspricht, wird auf die Datierungsfrage jeweils in Orientierung an die Ergebnisse der ausgezeichneten editorischen Arbeit der Herausgeber der Jubiläumsausgabe, aber auch auf darüber hinausgehende Vermutungen, die sich anhand flankierender, gesicherter Daten (wie bspw. Entstehungsdaten zitierter Werke) ergeben, eingegangen. Es wird hinsichtlich des Nachvollzugs von Mendelssohns intellektuellem Hintergrund und der Diskussionskontexte auch auf das nach seinem Tod erstellte Verzeichniß der auserlesenen Büchersammlung des seeligen Herrn Moses Mendelssohn, Berlin 1786 (im Folgenden Bücherverzeichnis, mit Angabe der Buchnummer/Seitenzahl), das zwecks Versteigerung des Mendelsohn’schen Nachlasses angefertigt wurde, zurückgegriffen. Aufgelistet sind 1089 Titel, die einen Überblick über Mendelssohns weit gespannte Interessen bieten. Es findet sich Mathematisches, Judaistisches, Literarisches und Ästhetisches sowie Abhandlungen zu anthropologischen Fragestellungen im weitesten Sinne. Die Tatsache, dass ein bestimmter Titel verzeichnet ist, bedeutet natürlich nicht zwangsläufig, dass Mendelssohn dieses Werk vollständig zur Kenntnis nahm, noch, dass er keine frühere Ausgabe kannte, was bspw. bei den Longin-Übersetzungen sicher der Fall ist (siehe Kap. II.3). Auch ist es durchaus möglich, dass er ein Buch weitaus später las, als es das Erscheinungsdatum anzeigt. Zuletzt kann auch die Tatsache, dass ein bestimmter Titel nicht im Verzeichnis auftaucht, nicht beweisen, dass Mendelssohn dieses Buch nicht zur Kenntnis genommen hätte. Zum einen ist das Verzeichnis unvollständig, da es lediglich die Hinterlassenschaft katalogisiert und damit eine Momentaufnahme bietet; zum anderen hat Mendelssohn rege Bücher ausgeliehen und sich solcherart ebenfalls neue Forschungshorizonte erschlossen. Aufgrund alles dessen kann der Hinweis auf diese Bücherliste nur illustrieren und zu Spekulationen einladen, die immer als solche gekennzeichnet sind. Es spiegelt in jedem Fall wider, wie rege Mendelssohn am Geistesleben seiner Zeit Anteil nahm und anscheinend alle bereits zu seiner Zeit »kanonischen« Denker kannte. Am schlechtesten vertreten ist vielleicht das christliche Mittelalter, das tatsächlich auf Mendelssohns Argumentationen, zumal allenfalls vermittelt über die Leibnizschen Schriften, einen geringen Einfluss ausübt. Um seine Denkweise angemessen zu erfassen, und dies ist auch hinsichtlich seiner Bewertung als Anthropologe von Bedeutung, muss Mendelssohn als ein Denker in Kontexten verstanden werden. Ich lehne mich dabei im weiteren Sinne an die von Dieter Henrich initiierte Konstellationsforschung an. Ihr zufolge macht die Erkenntnis, dass philosophische Werke innerhalb bestimmter Gesprächs- und Forschungskonstellationen zustande kommen, klar, »dass die philosophiegeschicht-
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lichen Forschungen, die sich innerhalb jenes Kraftfeldes nur an den Werken einer einzelnen Person orientieren, den Aufgaben einer Verständigung über die theoretischen Prozesse dieser Periode und somit auch über die Werke der einzelnen Personen selbst gar nicht gewachsen sein können. Trotz der großen Bedeutung persönlicher und freundschaftlicher Verständigungen für den Gang des philosophischen Denkens in dieser Zeit waren zwar die philosophischen Konzeptionen immer Leistungen von einzelnen. Innerhalb dieser Konzeptionen wirken sich aber viele Faktoren aus, die nur in Beziehung auf das gegenüber den Konzeptionen vorgängige Kraftfeld eine Erklärung finden können. Zu ihnen gehören etwa: die Dringlichkeit, die einzelnen Problemen und Perspektiven zuerkannt ist, eine Bereitschaft zur Umorganisation des eigenen Standpunktes, die sich von Kraftlinien innerhalb jenes jedermann vertrauten Feldes herleitet, Aussichten auf die synthetische Behandlung von Problemlinien, die sich aus der Verfassung des Feldes heraus öffnen.« (Henrich 1991, 12) Problematisch hierbei ist, wie der Fixpunkt einer solchen Untersuchung festgestellt werden soll, wenn es nicht doch das einzelne Werk ist. Henrich nennt als anvisierten Punkt dieses »vorgängigen Kraftfelds« den »Denkraum«, der die genannten Modifikationsfaktoren aufzeigen soll. Zur Bestimmung dieses »Denkraums« muss jedoch wiederum auf Textzeugnisse zurückgegriffen werden.31 In diesem Sinne werde ich mich an dem Kontakt, den Mendelssohn mit den Theoretikern und damit auch Theorien seiner Zeit pflegte, orientieren, denn die Rede allein von den Werken und auch dem persönlichen Austausch vorgängigen »Kräften« sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei immer, gerade im Jahrhundert des intellektuellen Austauschs und des sentimentalen Freundschaftskults durch eine Fülle an Dokumenten gut nachvollziehbar, um personale Beziehungen handelt, vermittelt durch Gespräche, Rezensionen und vor allem Briefverkehr, in dem sich Problemfelder durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Konzepte und damit verbundener, oft unausgesprochener Prämissen in deren Artikulation – und dem dabei oft auftretenden Missverständnis und der gegenseitigen Fehlinterpretation – herausbildeten. So geht zwar »[d]er Konstellation von Personen in den Debatten und den Lebensproblemen, die ihnen gemeinsam waren, […] immer eine Konstellation von philosophischen Problemen und von zueinander gegenläufigen philosophischen Entwürfen voraus […], die in den Debatten geklärt, vertieft und gelöst werden sollten« (Henrich 2005, 23), die Untersuchungsrichtung geht zur Reformulierung dieser Probleme jedoch notwendig den umgekehrten Weg. So kann im Kapitel I.1 zur Bestimmungsdebatte zwar anhand einer Vielzahl an Schriften und Äußerungen ein solches Diskussionsumfeld, das die bestimmenden Ideen auch für Mendelssohns Werk bereitstellt, herausgearbeitet werden. In der Untersuchung selbst jedoch lassen sich diese Entwürfe nur über eine 31
Etwas undeutlich fasst dies Stamm: »Diese Denkräume werden durch ihren jeweiligen theoretischen beziehungsweise argumentativen Kern bestimmt.« (Stamm 2005, 31)
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Reflexion auf diesen persönlichen Austausch und seine Konstituenten erschließen und nachweisen. Das Verhalten der an der Diskussion Beteiligten zu diesen Problemen führt wiederum zu neuen Argumentationslinien und Denkmustern, die sich im vorliegenden Fall exemplarisch nachzeichnen lassen. Zu diesem Zweck werde ich Mendelssohns einschlägige Schriften nicht isoliert, sondern in dem sie strukturierenden und prägenden intellektuellen Umfeld, und das heißt auch in Bezug auf die seine Ansichten prägenden Schriften anderer Autoren, explizit ohne Anspruch auf vollständige Berücksichtigung aller jemals genannten und gekannten Werke und Personen, untersuchen. Viele seiner Werke entstanden in direkter Auseinandersetzung mit einer bestimmten Position, wie bspw. die Briefe über die Empfindungen in ihrer Form auf Shaftesbury, inhaltlich v. a. auf Sulzer und Dubos verweisen, oder sein Phädon als eine ›verbesserte Übersetzung‹ des platonischen Dialogs firmiert. Schon im ersten Kapitel wird Mendelssohns Theorie einer Bestimmung des Menschen im Zuge der Auseinandersetzung mit der Position Thomas Abbts interpretiert; in den Folgekapiteln werden die lebendigen Einflüsse Rousseaus, Lessings, Kants, Humes und Herders berücksichtigt, um nur einige zu nennen. Dabei lassen sich die Stränge der Auseinandersetzung begrenzen; je nach Kontext bestehen vorherrschende Einflüsse, die es erlauben, das jeweilige Diskussionsgebiet angemessen zu durchmessen. Dabei ist keine umfassende Beleuchtung des intellektuellen Hintergrunds in Form der Rückführung jedes Gedankens auf seinen Ursprung anvisiert – denn dann wäre eine Abhandlung über den Einfluss des Epikureismus und der Stoa auf die Philosophie der Aufklärung vonnöten – sondern es geht um die Klärung spezifischer Einflüsse, um den »Denkraum«, in dem sich Mendelssohns Anthropologie bewegt, zu charakterisieren. Diese bestimmenden Linien erschließen sich wiederum nur über die Berücksichtigung von Briefen und Notizen, in denen dies am offensichtlichsten zutage tritt. Direkte und indirekte Zitate, sowie das auffällige Hinzutreten neuer Positionen in überarbeiteten, veröffentlichten Werken bieten ebenfalls wichtige diesbezügliche Indikatoren. Zugleich sind die ›Generalbässe‹ seines Denkens, Leibniz und Wolff, sowie in begrenztem Maße auch Shaftesbury und Spinoza32, in jedem Aspekt der
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Spinoza ist als Quelle von Mendelssohns Ideen mit Vorsicht zu behandeln. Wie nicht nur Mendelssohns öffentlichen Einlassungen im Zuge des Pantheismus-Streits oder seine »Rettung« Spinozas in den Philosophischen Gesprächen (1755) zeigen, steht er ihm zwar offen und bisweilen gar affirmativ gegenüber; er verneint jedoch gerade dessen Konzept der Substanz, also ausgerechnet den Grundzug von Spinozas Metaphysik. Andere spinozistische Gedanken dennoch zu einer durchgehend spinozistischen Philosophie Mendelssohns zu kompilieren, halte ich in diesem Sinne für mindestens missverständlich. Zu Recht charakterisiert Ursula Goldenbaum in einem diesbezüglichen Aufsatz, der die Bezugnahmen Mendelssohns auf Spinoza untersucht, schon im Titel das Verhältnis von Mendelssohn und Spinoza als »schwierig« (vgl. Dies. 2002). Dennoch lässt sich insbesondere mit Goetschel 2004 überzeugend dafür argumentieren, dass Mendelssohns Philosophie – abgesichert vom Leibnizianisch-Wolffianischen Rahmen – auch als ein »Dialog« mit
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Einleitung
Untersuchung präsent. Im Vordergrund steht aber immer Mendelssohns spezifische Zusammenstellung der Themen und Prämissen, die auch zu Modifikationen der Ursprungstheorien führen kann. Um die hier angeführten Überlegungen mit der oben genannten Qualifizierung der Verwertbarkeit des vorliegenden Materials in Übereinstimmung zu bringen, sei letztlich jedoch hervorgehoben, dass zwischen einer Version von Anthropologie, die Mendelssohn zwar indirekt, aber doch im veröffentlichten Werk zur Diskussion stellt, und einem im Hinblick auf das gesamte Datenmaterial gewonnenen Einblick, der Vermutungen bezüglich darüber hinausreichender Argumentationsstränge erlaubt, zu unterscheiden ist. Beide Aspekte sollen in der vorliegenden Arbeit untersucht werden; soweit möglich, ohne sie unentwirrbar miteinander zu vermischen. Zuletzt: Die einheits-, fast schon systemstiftende Perspektive dieser Arbeit sollte nicht über einen wichtigen Punkt hinwegtäuschen. So stellt sie zwar eine rekonstruktive Annäherung an Mendelssohns Denken dar, jedoch sollte sie nicht Einheit heischen, wo dieser selbst keine fand. Seine Versuche einer Bestimmung des Menschen sind Schritte auf einem Weg, den er nicht umfassend und befriedigend zu Ende gegangen ist. Schon mit den ersten expliziten Versuchen einer Bestimmung der Bestimmung des Menschen im Briefwechsel mit Abbt, die seltsam abgelöst von Mendelssohns bisherigen ›Ergebnissen‹ scheint, kann man nicht zufrieden sein und auch in der Folgezeit gelingt kein überzeugender theoretischer Gesamtentwurf. Die Formulierung einer Anthropologie auf der Grundlage seiner Ansätze mag eine interessante Alternative zu anderen, gängigeren Entwürfen sichtbar werden lassen. Doch strebt diese Arbeit nicht an, die Geschichte der Anthropologie neu zu erzählen, sondern der Betrachtung der Geburtsstunde der Anthropologie eine interessante – und in Hinblick einer Diskussion über menschliche Kultur und Bildung vielleicht sogar fruchtbare – Facette hinzuzufügen. Mein Ziel wird also erreicht sein, wenn man das philosophisch zentrale Problem Mendelssohns – nicht schon dessen Lösung – besser versteht als zuvor und damit einen neuen Zugang zu seinem Werk und dem ihn umgebenden anthropologischen Denkraum erhält. Für die Entstehung dieser Arbeit bin ich vielen Menschen zum Dank verpflichtet. Mein erster Dank gilt aber einer Institution, der Studienstiftung des deutschen Volkes, gleichviel wie den großartigen Menschen, die hinter dieser Institution stehen und mit denen ich in den Jahren meines Studiums wie der Promotionszeit in Kontakt stand. Die Stiftung und die von ihr initiierten Aktivitäten, allem voran natürlich die Sommerakademien (und hier insbesondere Alpbach 2004) haben mir Spinoza verstanden werden kann (vgl. insbesondere Goetschel 2004, 89 f.). Ich komme in Kap. IV eingehender darauf zurück.
Methodik
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eine ganze Welt eröffnet. Verpflichtet bin ich auch dem Leo Baeck Fellowship Programme, in dessen Förderzeit als Postdoctoral Fellow ich u. a. die Endredaktion dieses Manuskripts unternehmen konnte. Desweiteren möchte ich meinen akademischen Lehrern, insbesondere Reinhard Brandt, Manfred Kuehn und Jutta Osinski (Universität Marburg) sowie Michael Pauen (Magdeburg/Berlin) danken. In academia gilt mein besonderer Dank jedoch Jürgen Stolzenberg, der mich immer unterstützt hat und mir eine großartige Arbeitsatmosphäre zur Entstehung dieser Arbeit verschaffte. Ich danke Lanier Anderson, Michael Friedman, Graciela De Pierris und Allen Wood. Die Gespräche mit ihnen, wie auch die generell enorm bereichernde und anregende Atmosphäre an der Stanford University 2006/07, die sie mir mit einer Einladung als Visiting Scholar verschafften, wobei wiederum auch ein Kurzstipendium der Studienstiftung entscheidende finanzielle Entlastung gab, sind ein essentieller Teil dieser Arbeit geworden. Ein herzliches Dankeschön an Dr. Marion Lauschke und Marcel Simon-Gadhof für ihre so fachkundige wie freundliche Begleitung durch den Drucklegungsprozess. Zugleich entschuldige ich mich für all die Arbeitsverzögerungen, die verworrene Geisteswissenschaftler bisweilen auslösen. Ich danke meiner Familie und meinen Freunden für ihre Unterstützung. Und ich danke, last but never least, Konstantin Pollok für unsere Gespräche, die zur näheren Konturierung der dieser Arbeit zugrunde liegenden Idee führten, sowie für seine unermüdlichen kritischen Nachfragen, die wohl einige Unsicherheiten erst ins Licht meiner Aufmerksamkeit rückten. Ob ich sie habe beseitigen können, liegt selbstverständlich allein in meiner Verantwortung.
KAPITEL I Die Bestimmung des Menschen
I. Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹? »Es ist doch einmal der Mühe werth, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll?« J. J. Spalding, Bestimmung des Menschen (71763), 5
Die Facetten des Menschen, ihre nähere Bestimmung und Einordnung in ein umfassendes Konzept der menschlichen Natur und seiner Einpassung in die ihn umgebende Welt ist ohne Zweifel von jeher eines der vitalsten Interessen der Philosophie und ihr verwandter Forschungszweige gewesen. Mit dem Hinweis auf den Menschen als dem »Maß aller Dinge« (Aristoteles) oder aber auch mit der generellen Aussage, dass das »Studium des Menschen« die edelste Angelegenheit menschlicher Beschäftigung sei, sind quer durch alle Epochen die philosophischen Schriften und Lehrbücher versehen. Dennoch ist das achtzehnte Jahrhundert als die Geburtsepoche der Anthropologie als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin zu benennen.1 Im folgenden Teilkapitel soll dargelegt werden, inwiefern diese Ansicht zu rechtfertigen ist. Es wird sich dabei zeigen, dass mit der ersten Benennung eines Untersuchungsfeldes noch nicht sein genauer Umfang bestimmt ist, sondern es sich unterschiedlichen Möglichkeiten der Fortentwicklung gegenüber offen zeigt. Der hier gewählte, auf das Werk eines einzelnen Philosophen bezogene Ansatz soll diese Fülle von Ansätzen kanalisieren und begrenzen; er dient in diesem Sinne jedoch nicht dazu, der Geschichte der Anthropologie eine eindeutige Richtung zu geben, sondern weist auf das enorme Potential während der Herausbildung des Anthropologiebegriffs hin, der sich auch in der Entstehung weiterer Disziplinen, wie der Geschichts-, Sozial- und Kulturphilosophie im weiteren Sinne, im Anschluss an die Aufklärung niederschlägt. Mendelssohn ist als ein Vater dieser Denkrichtungen zu verstehen. Um diese Perspektive zu verdeutlichen, wird im zweiten Abschnitt dieses Teilkapitels der Fokus der Betrachtung auf ein schärfer begrenztes Teilgebiet gelenkt: die Bestimmung des Menschen. Hier ist, so die These auch des nachfolgenden Teilkapitels I.2, die Wurzel zu Mendelssohns Beschäftigung mit dem Menschen zu suchen. Seine 1
Auch wenn es bis heute ernstzunehmende Stimmen gibt, die die Etablierung der wissenschaftlichen Anthropologie erst in den Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Arbeiten Gehlens, Schelers, Plessners verlegen; vgl. Marquard 1971, 362.
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
Überlegungen zu diesem Themengebiet, das er erstmals explizit und öffentlich um 1765 mit Thomas Abbt durchmaß, zeigen die Grundlinien seines philosophischen Interesses auf, weshalb die dort aufgeworfenen Differenzierungen für die daran anschließende, auf Mendelssohns gesamtes Oeuvre zurückgreifende Analyse, an deren Ziel die Formulierung eines Ansatzes zu seiner impliziten »rationalistischen Anthropologie« steht, leitend sind.
1. Was ist Anthropologie? Bestimmung eines Untersuchungsfeldes Um zu legitimieren, warum Mendelssohns Philosophie als eine Anthropologie gelesen werden kann und weshalb eine solche Lesart vorteilhaft ist, obwohl Mendelssohn selbst diesen Terminus nicht explizit erwähnt, bedarf einer Erläuterung. Ein erster Ansatzpunkt ließe sich unter Bezugnahme auf Cassirers umfassende Darstellung der Philosophie der Aufklärung (1932) reformulieren: Ziel dieser Philosophie, zu dessen führenden Köpfen Mendelssohn zweifellos gezählt werden kann2, sei es letztlich, »die Logik, die Moral, die Theologie in bloße Anthropologie aufzulösen.« (ebd., 155) Die pejorative Färbung des Ausdrucks »bloße Anthropologie« bezieht sich im betreffenden Kapitel von Cassirers Abhandlung auf eine damalige Tendenz, die Genese der Erkenntnis auch als das Kriterium ihrer Gültigkeit aufzufassen. Diese Tendenz ist jedoch für Mendelssohn nicht einschlägig; es ist vielmehr ertragreicher, mit Cassirers Spezifizierung des einleitenden Kapitels zu arbeiten: Ein generelles Charakteristikum der Aufklärungszeit sei die Bestrebung der eigenen Standortbestimmung und die Berücksichtigung der Methode, die zu ihr führte. »Die Epoche […] fühlt sich von einer mächtigen Bewegung ergriffen und vorwärts getrieben; aber sie kann und will sich nicht damit begnügen, sich dieser Bewegung einfach zu überlassen, sondern sie will sie in […] ihrem Ursprung und ihrem Ziel begreifen. Dieses Wissen um das eigene Tun, diese geistige Selbstbesinnung und diese geistige Vorschau, erscheint ihr als der eigentliche Sinn des Denkens überhaupt und als die wesentliche Aufgabe, die ihm gestellt ist.« Solche Neugier und Entdeckerfreude geht aber nicht allein auf die Erschließung der Welt, sondern auch auf den Menschen selbst: »Noch tiefer ergriffen und noch leidenschaftlicher bewegt fühlt er sich von der anderen Frage, was er selbst ist und was er selbst vermag.« (ebd., 3, vgl. 123) Dieses Anliegen wiederum wirkte zurück auf die Tendenz der Umschreibung bisheriger Er-
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Vgl. Bachmann-Medick 1989, 8. Die für die Popularphilosophen kennzeichnende »Abwendung von der strengen Systematik und Dogmatik des Leibniz-Wolffschen Rationalismus« (ebd., 12) ist bei Mendelssohn jedoch lediglich für die Popularisierung der Form (die mit derjenigen des Leibnizschen Spätwerks durchaus verwandt ist) zutreffend, nicht für den Inhalt seiner Überlegungen, der eher auf eine Begründung der Akzeptanz dieser Lehren ausgerichtet war.
I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?
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kenntnisse in spezifisch anthropologische Theoreme, die in diesem Sinne nicht als eine Reduktion, sondern eine Bereicherung des bisherigen Welt- und Menschenbildes verstanden werden können. Dabei wurde nicht allein das Wissen und Denken des Menschen Gegenstand der Untersuchung, sondern auch sein Gefühl. »The Enlightenment […] was as much an Age of Feeling as an Age of Reason, and for the most part it saw its purpose in the reconciliation of the two.«3 Anthropologie ist somit nicht nur als eine sämtliche ehemals metaphysische Theoreme dominierende Denkrichtung und damit bloß modischer Sammelbegriff verständlich, sondern erhält zugleich eine inhaltliche Richtung: Es geht um eine Verbindung zwischen den Theorien von menschlichem Gefühl und Sinnlichkeit mit den Betrachtungen vom erkenntnistheoretischen Standpunkt des geistbegabten Wesens Mensch in der Welt, kurz um eine Theorie der Verbindung zwischen Körper und Geist, zwischen Gefühl und Wissen und zwischen Einzelwesen und Gattungsbestimmung. Mendelssohn geht es dabei nicht um die schlichte Naturalisierung des Menschen (und seines Gottes); sondern er ist bemüht, dessen prekäre, auszubalancierende Position zwischen Himmel und Erde angemessen zu reflektieren und damit praktikable Lösungen zur Führung eines auf Vollkommenheit und Glückseligkeit hin ausgerichteten Lebens zu erfassen, ohne die Glaubenswahrheiten seiner Generation aufzugeben. Der Terminus »Anthropologie« taucht erstmalig im 16./17. Jahrhundert auf 4, doch bezeichnet er noch kein eindeutig umrissenes Forschungsgebiet. Neben einer immer wieder verteidigten theologischen Betrachtungsweise untersuchen schon diese frühen Schriften das Gebiet der menschlichen Seele, des Körpers und ihrer beiderseitigen Verknüpfung in physiologischer Hinsicht und präfigurieren damit die im 18. Jahrhundert verstärkt aufkommende Diskussion. Verkürzt gesagt, so auch Schings (1977, 25), leiten letztlich diese Versuche eine Ablösung von Metaphysik wie Theologie als alleinige Erklärung und normative Festlegung der »Natur des Menschen« ein. Diese emanzipierenden »Anfänge« dehnen sich bis ins 19. Jahrhundert aus und erhalten eine immer spezifischere Richtung. Insgesamt entfernt sich die Disziplin Anthropologie entschieden von ihren Wurzeln, nicht zuletzt indem ihre Vertreter zunehmend einen nichtmetaphysischen, naturalistischen Ansatz verfolgen. Mit ›Naturalismus‹ ist hier, relativ unspezifisch, um die Bandbreite seiner Zuordnungen 3
Duncan 2003, 48; vgl. auch Vierhaus 1995, 158 f., der in seinem Überblicksessay die Gleichzeitigkeit verschiedenartiger Entwicklungen im Aufklärungszeitalter darstellt und analysiert. 4 Marquard 1971, 363 nennt als erste Autoren, die den Begriff Anthropologie in der auch in Mendelssohns Zeit ungefähr gebräuchlichen Bedeutung verwendeten, Magnus Hundt, Otto Cassmann, C. Buthelius, Johannes Valentin Rethe und S. Gvenius. Allgemein zur Anthropologie des frühen 18. Jahrhunderts siehe Schings (Hg.) 1994, Moravia 1973, Proß 1987, Nowitzki 2003, J. Heinz 1996 und, obwohl im Bereich der vorkantischen/vorkritischen Popularphilosophie etwas dünn, Marquard 1965.
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
rechtfertigen zu können, eine »Einordnung des Menschen in einen Naturzusammenhang« (Proß 1987, 1133) gemeint. Diese Blickrichtung überformte immer mehr den angenommenen göttlichen Bezug des Menschen und wertet ihn schließlich in den Kategorien der Naturwissenschaft, nicht (mehr) der Metaphysik, Theologie oder Moralphilosophie. Neben einer so verstandenen medizinischen bzw. rein physiologischen Anthropologie und ihrer Spielarten in Biologie und Psychologie lassen sich noch weitere Tendenzen feststellen, die nicht allein die naturhafte Bildungsfähigkeit des Menschen, sondern auch sein kulturelles Vermögen in den Blick nehmen; die Ethnologie5, aber auch die spekulativen Tendenzen der Psychologie (Tiefenpsychologie, freudianische Theorien und ihre Vorläufer), die Geschichts- und sogar die Literaturwissenschaft sind hier zu nennen. Letztlich stehen sich, vereinfacht ausgedrückt, naturwissenschaftliche und humanistische Bestrebungen gegenüber, was sich schon im Ausgangspunkt der Anthropologie-Debatte im 18. Jahrhundert widerspiegelt. Mendelssohns Schaffenszeit befindet sich damit in einem Zwischenraum, in dem der Terminus Anthropologie selbst noch für mehrere Bedeutungs- und damit Untersuchungsebenen wie Methoden offen ist. Eine Anthropologiedebatte im Sinne einer methodischen Suche nach der Selbstdefinition des Menschen und seiner »Natur« findet somit mit unterschiedlichen Gewichtungen bereits statt, bevor noch die Begriffsextension klar bestimmt ist. In der 1732er Auflage von Zedlers UniversalLexicon ist von der Anthropologie als »Special-Theil der Physic« (Bd. II, Sp. 522) die Rede.6 Wie bereits Wolfgang Riedel (1985, 14) betont, beschreibt die erste Auflage von Johann Georg Walchs Philosophischen Lexicon von 1726 dagegen die Anthropologie konjunktivisch als die Lehre von der »gedoppelten Natur« (der physischen und moralischen) des Menschen; grenzt jedoch mit Hinweis auf den »Sprachgebrauch« die Verwendungsweise des Begriffs allein auf seine »medicinische«, also physische Dimension ein. Diese Definition wird in den folgenden drei Auflagen unverändert beibehalten. Erst die vierte Auflage von 1775 gibt die Platner folgende Beschränkung des Anthropologiebegriffs auf das Zusammenwirken von Körper und Geist wieder 5
Diese wurde besonders durch die aufkommende Reiseliteratur gefördert, als deren aufregendstes Ergebnis sich Darwins Evolutionsbiologie bezeichnen lässt. Diese war im übrigen weniger von rein biologistischen, sondern auch von ästhetischen Überlegungen eines Edmund Burke geprägt (diesen Hinweis verdanke ich einem Vortrag von Winfried Menninghaus, Stanford, 11. Januar 2007). Daneben sind auch Georg Forster und Alexander von Humboldt zu nennen. Von dieser Forschungsrichtung profitierte u. a. auch Kants »physische Geographie«, die als Pendant zu den Anthropologievorlesungen gehalten wurde (vgl. Brandt 1998, 9). 6 Generell verwiesen zu Beginn des Jahrhunderts nur wenige Lexika auf dieses »neue« Gebiet, was sich erst gegen Ende des Jahrhunderts grundlegend änderte (vgl. Linden 1976, 161–70). Nicht nur in Lexika, sondern auch in einschlägigen Monographien wird Anthropologie in verschiedene Richtungen spezifiziert. Dies ist schon in der jeweiligen Titelei sichtbar. Für einen Überblick siehe das Inhaltsverzeichnis in Linden 1976. Es ist deutlich, dass es einen »Konsens hinsichtlich ihres Umfanges […] ganz offensichtlich nicht zu geben« scheint (ebd. 161).
I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?
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(vgl. Mauser 2001, 49). Überlegungen zum Themenkomplex finden sich allerdings auch, und zwar schon früher, unter den Schlagworten »Psychologie«, »Seele«, »Bestimmung des Menschen« und »menschliche Natur«. Den letztgenannten Begriff bezeichnet Zammito in seiner Studie zu Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, als eine »Obsession« des 18. Jahrhunderts7; auch sein Umfang ist schillernd und reicht von moraltheoretischen zu medizinischen Überlegungen. Neben der außerordentlichen Bedeutungsvariation war der Begriff der Anthropologie von großer internationaler Reichhaltigkeit. Obwohl er v. a. im deutschsprachigen Raum seine Ausprägung erfuhr, war er der Sache nach schon lange auch in Frankreich und England Gegenstand des Interesses, wie überhaupt die anthropologische Forschung sich europäisch, nicht auf Nationen begrenzt, entwickelt. Hinsichtlich ihrer Wurzeln in Frankreich wäre Montaigne als Begründer der »beobachtenden Lebenswissenschaft«, wie Meiners es ausdrückte, zu nennen (vgl. Zammito 2002, 223). Aber auch die materialistisch geprägten Überlegungen von Condillac, Lamettrie, d’Helvétius u. a. sind für die Herausbildung der physiologischen Orientierung der anthropologischen Forschung auch im deutschen Sprachraum, wie die Untersuchungen der »vernünftigen Ärzte« zeigen, von Bedeutung.8 In Britannien der Neuzeit war es v. a. Bacon, der dieses neue Interesse formulierte und dessen ›Nachfolger‹ v. a. des Scottish Enlightenment, die Bacons Erbe weiter tradierten und systematisierten.9 Einflussreich waren aber vor allem die Schriften Anthony Ashley Coopers, Third Earl of Shaftesbury, und David Humes Treatise of Human Nature von 1739.10
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»a foremost obsession of the eighteenth century« (Zammito 2002, 228) Siehe dazu die ausführlichen Analysen in Nowitzki 2003 und Zelle 2001. 9 Wobei sich diese Richtung wiederum durch enge Verbindungen zu Frankreich auszeichnete. Neben Hume sind bspw. Francis Hutcheson, Thomas Brown, Adam Ferguson, Adam Smith, Thomas Reid und Alexander Gerard zu nennen. Siehe dazu v. a. die umfassende Studie Kuehn 1987. Er charakterisiert den Einfluss der britischen Philosophie wie folgt: »Kant, Mendelssohn, and their contemporaries tried in various ways to effect a synthesis of »British empiricism« and »German rationalism«. This shows, among other things, that the foreign, and especially British, influence extended much farther than to mere matters of style. Thus the Germans until this time had been occupied mainly with the rational side of man, or with logic and metaphysics, and they had neglected almost completely his sensitive aspects (or simply treated it »in analogy to reason«.). But the works of the British philosophers brought the importance of man’s sensitive nature most forcefully home to them. Accordingly, the younger German philosophers tried to supplement the Wolffian theory by relying on British observations, or they simply rejected Wolffianism altogether. Psychology and anthropology, aesthetic and educational theories based upon more empirical methods began to replace logic and metaphysics as the key disciplines for an understanding of the world and man’s place in it.« (Kuehn 1987, 39 f.) 10 Von ihm ist auch Condillacs Traité des sensations von 1754 beeinflusst, der mit einer Paraphrase von Humes Treatise beginnt; vgl. Proß 1987, 1152. Mendelssohn war das Werk in Garves Übersetzung zugänglich, jedoch hat er sich allem Anschein nach weitaus eingehender mit dessen Enquiry auseinandergesetzt, siehe Kap. III.1. 8
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
Diese beiden Wurzeln in der französischen und britischen Aufklärung zeigen darüber hinaus, dass die im Begriff des Menschen jeweils angelegte Spannung unterschiedliche Gewichtungen in der Betrachtung ermöglichte: ein Schwerpunkt konnte auf den physiologischen Gegebenheiten, ein anderer auf den moralischen Erfordernissen11 des Menschen liegen; ihre enge Verflechtung zeigt darüber hinaus freilich, dass sich diese Strömungen niemals gänzlich unabhängig voneinander entwickelten. Der Versuch zur Etablierung einer ganzheitlichen Betrachtung, wiederum mit unterschiedlichen Schwerpunkten, ist in nahezu allen Richtungen der aufkommenden »Anthropologie« zu verzeichnen. Mendelssohns Werk ist nur ein Beispiel, wie die auch in anderen Ländern sich formierenden Strömungen aufgenommen wurden. Im Folgenden soll nicht umfassend auf einzelne Vertreter dieser Richtungen eingegangen, sondern lediglich die Zeittendenz umrissen werden, vor der sich Mendelssohns spezifisches Interesse artikulierte. Was ist die integrative Kraft der »Anthropologie«, an der nicht wenige Denker der Aufklärungszeit derart interessiert schienen? Der Studie Lindens zufolge, in der der Anthropologiebegriff im 18. Jahrhundert erstmals eingehend untersucht wird, zeigt sich eine derartige Fülle an Ansätzen, dass dieser Name kaum geeignet scheint, eine einheitliche Disziplin zu kennzeichnen.12 Vielmehr muss man die Anthropologie als einen Sammelbegriff oder als ein Abgrenzungsversuch verstehen, der in der Hauptsache darauf abzielt, die menschliche Konstitution und ihr Weltverhältnis in unterschiedlichsten Hinsichten zu problematisieren. Unter diesem Oberbegriff lässt
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Hier wäre als ein Hauptvertreter in der deutschsprachigen Philosophie Christian Garve zu nennen, der sich als »deutscher Hume« bezeichnete, vgl. Versuche über verschiedene Gegenstände, Bd. 3, Breslau 1797, 91. Dazu Bachmann-Medick 1989, 13 und 163–241. Ihre fundierte Untersuchung zum popularphilosophischen Verständnis der Verbindung von Handlungs- und ästhetischer Theorie ist im gegebenen Rahmen allerdings von geringerem Interesse. Zum einen ist sie hauptsächlich auf Garve und Engel beschränkt, zum anderen deckt sie einen Zeitraum ab, der v. a. durch die Auseinandersetzung mit Kants Kritischer praktischer Philosophie definiert ist. Mendelssohn nimmt an dieser Diskussion nicht mehr teil. 12 Dies formulierte in polemischer Hinsicht Johann G. Gruber: Über die Bestimmung des Menschen. Für das gebildete Publikum. 2 Bde. Zürich, Leipzig 1800 (21809), VIII f. »Wenn dieser den Menschen zu einem Gotte zu erheben suchte, so würdigte ihn jener zu einem Pavian herab; wenn dieser ihn deshalb glücklich pries, weil er im Fortschritt der Kultur zum Philosophen und Künstler sich aufzuschwingen fähig gewesen, so behauptete der andere, dies sei nur Fluch für ihn, und nur in kindlicher Unbefangenheit und Einfalt gedeihe die zarte Pflanze seines Glückes; wenn nach diesem der Mensch in seinem Staate nur Heil und Segen fand, so zeigte gleich ein anderer, daß nur die Staaten der pestilenzianische Sumpf seien, aus dem alles Elend über die Menschheit sich ergieße; wenn dieser die Menschen als Engel schilderte, so malte jener sie als Teufel ab; wenn der eine darzuthun sich bemühte, der Mensch sei zur Tugend und Unsterblichkeit geboren, so lehrte bald ein anderer, nur zum frohen Genusse des Lebens sei er da; wenn dieser die Tugend als das höchste Gut des Menschen pries, so pries jener die Glückseligkeit dafür, und ein noch anderer Glückseligkeit und Tugend im Verein.«
I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?
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sich dann ebenso ein eher physiologisch orientierter Versuch der Einordnung der menschlichen Spezies in die »Kette der Wesen«13, als auch der leibnizianische Versuch einer logisch-metaphysischen Erläuterung des Leib-Seele-Zusammenhangs einordnen. »Anthropologie« lässt sich damit als ein umfassendes Untersuchungsfeld verstehen, was auch die Fülle der um 1800 möglichen Komposita, die insgesamt »Kategorien der Selbstverständigung des Menschen« (Mauser 2001, 50) darstellen sollen, zeigen. Eine »philosophische Anthropologie« befasste sich mit dem Menschen als einem vernünftigen Wesen; die psychologische behandelte dessen seelischen, die medizinische Anthropologie den leiblichen Teil. Die praktische oder pragmatische Anthropologie fokussierte den Menschen als ein moralisches Wesen, die Ethnologie (als: »Rassen-Anthropologie«) behandelte ihn in biologischen Kategorien. Soziale Anthropologie nahm das gesellschaftliche, historische Anthropologie das geschichtliche Wesen in den Blick, die Kulturanthropologie wandte sich dem schöpferischen Mensch zu. Für den Beginn der Debatte lässt sich jedoch mit Adler zwar ungenauer, aber zutreffender von einer »offenen Anthropologie« sprechen14, was auch das Bemühen um eine die disparaten Gebiete verbindenden Theorie bezeugt. Mauser benennt das herrschende anthropologische Interesse, selbst wenn dem Namen nach nicht von ihr die Rede ist, als eine »Ausbreitung lebensweltlicher Deutungskategorien«15, die sich
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Dieser Aspekt ist bereits umfassend von Lovejoy (zuerst 1936, dt. 1986) aufgearbeitet. Die genannte Zusammenstellung ohne Anspruch auf Vollständigkeit findet sich bei J. Heinz 1996, 19. Vgl. Adler 1994. 15 Mauser 2001, 50; wobei dieser letztlich den von den »vernünftigen Ärzten« geprägten, ganzheitlichen Anthropologiebegriff der Frühaufklärung (am Beispiel Krügers) verfolgt, die v. a. den Wert physiologischer Betrachtungen zur Begründung von Psychologie und auch Moralistik betonen (vgl. ebd., 57, 61) und damit der Anthropologie die vornehmliche Richtung der Erfahrungs- und Körperlehre geben. Ein weiteres, prominentes Beispiel für ein solches Deutungsmuster mag der Begriff der »Melancholie« bieten, der im 18. Jahrhundert eine Konjunktur erfuhr. »Wer Anthropologie treibt – die gesamte Popularphilosophie tut dies und mit ihr nicht wenige Literaten –, bekommt es mit der Melancholie zu tun.« (Schings 1977, 11) Mit Mendelssohn setzt sich Schings jedoch nur in wenigen Anmerkungen auseinander, was auch dem Umstand geschuldet ist, dass das Gebiet der Melancholie für Mendelssohn nur in enger Verbindung mit anderen Inhalten (Selbstmord, Bestimmung des Menschen, Genie) eine Rolle spielte. Es ist hier ebenfalls zu betonen, dass die Ausweitung lebensweltlicher Deutungsmuster auch für die Kategorie der »Popularphilosophie« allgemein von Bedeutung ist, wobei hiermit mehr eine Untersuchungs- und Darstellungshaltung, denn ein inhaltlich unterschiedenes Programm gemeint ist. In einer groben Differenzierung ließe sich die Popularphilosophie als stärker auf die Erfassung und Erklärung moralischen Verhaltens zum Zwecke der Menschheitserziehung ausgerichtet verstehen, während anthropologische Untersuchungen im weitesten Sinne auf die Einordnung des Menschen in einen Natur- oder Weltzusammenhang ausgerichtet waren. Es spricht jedoch nichts dagegen, einen Popularphilosophen auch als Anthropologen zu bezeichnen, was sich aus den Überschneidungen der Charakteristika beider Forschungsrichtungen erklärt und gerade für die Person Mendelssohn zutrifft. 14
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
als Charakteristika einer philosophischen Disziplin am besten im Rückgriff auf eine geteilte Methodik kennzeichnen lassen16: 1. Insgesamt ist das Interesse am Menschen durch einen verstärkten Rückgriff auf empirische Untersuchungen neben metaphysischen Erklärungsmodellen gekennzeichnet, was zu einer Problematisierung sowohl metaphysischer Prämissen als auch der empirischen Methoden und der Gültigkeit daraus zu ziehender Folgerungen führte. 2. Es findet eine Neubewertung der Sinnlichkeit im Anschluss an Baumgarten und die Affektenlehre Meiers statt, was dem monistischen Ansatz Leibniz’ schärfere Kontur verleiht. Andererseits boten die neuartigen Verbindungen von Physiologie und Psychologie, wie sie die »vernünftigen Ärzte« wie Haller, Unzer, Krüger versuchten, Möglichkeiten der Erklärung physisch-psychischer Phänomene, die zumindest von spezifischen metaphysischen Prämissen absehen konnten. Das Primat des Interesses verschiebt sich von Letztbegründungen hin zu pragmatisch, medizinisch oder psychologisch-moraldidaktisch erklärbaren Teilproblemen. Die Gewichtung der Erklärungsparameter entschied darüber, welchem übergeordneten System man sich zuordnete (Materialismus, Sensualismus, Spiritualismus etc.). 3. Daneben wird auf die thomasische Eklektik zurückgegriffen; ähnlich wie auch die die Interessengebiete anders wertende Popularphilosophie, die einen Schwerpunkt auf die Moralistik setzte, bediente sich die anthropologische Forschung der Methodenvielfalt, um empiristische, sensualistische und rationalistische Erkenntnisse zu verbinden.17 Anthropologisches Forschen meint ein integratives Vorgehen, abgezweckt auf die Verbindung verschiedener Disziplinen zur Untersuchung des »ganzen Menschen«. 4. Ebenfalls im Anschluss an Thomasius wurde mit einem erweiterten Sittlichkeitsbegriff gearbeitet, der weniger eine Begründung der Moral, als vielmehr deren Praktikabilisierung betonte und hierzu Mechanismen suchte (vgl. Mauser 2001, 62–66). Damit war ein herausragendes Kennzeichen der popularphilosophisch geprägten, »anthropologischen« Untersuchungen eine verstärkt didaktische und anschauliche, mit Anleihen aus der Literatur operierende Schreibweise. Die Untersuchung des Menschen sollte mit seiner Verbesserung einhergehen; diese Verbesserung war, so die allgemein geteilte Ansicht, nur mit der angemessenen Aufnahme der 16
Diese Auflistung greift mit Modifikationen auf Zelle 2001a, 11 zurück; dort im Bezug auf die Hallenser Medizin der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die 1760 Jahre, also klar vor Platners Anthropologie und symptomatisch auch für andere anthropologische Theorieversuche. 17 Den Einfluss von Thomasius’ Denken betonen Heinekamp 1986, 5, Zammito 2002, 10. Auf dessen Forderung, wahre Wissenschaft / Philosophie solle »schöngeistig betrieben« werden, die er in der Schrift Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen sollte? (verf. 1687, veröff. 1721) vertrat und damit auf die Verbindung von Inhalt und Wirkung pocht, weist Strube 1990, 142 ff. hin.
I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?
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neuen Erkenntnisse möglich und erforderte eine dementsprechend anschauliche Darstellungsart.18 Die Hinwendung zur Lebenswelt sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Versuchen um eine umfassende Anthropologie zumeist auch um die Erklärung der Verbindungsmöglichkeit von Empirie und Metaphysik – in einem menschlichen Maß – handelte. Der menschliche Gottesbezug löste sich nicht zwingend in einem Zuge mit seiner »Naturalisierung« auf, sondern wandelte sich. In dieser Hinsicht spielt das Theodizee-Problem zu Beginn der anthropologischen Wende der Philosophie eine bedeutende Rolle, bei dem sich der Problemhorizont zunehmend von einer göttlichen zu einer anthropozentrischen Perspektive verschob.19 Die moralische Stellung des Menschen in der Welt wurde zu einem Problem, zu dem unterschiedliche Lösungsstrategien versucht wurden. An der konzeptionellen Offenheit der Anthropologie als Wissenschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts änderte auch ein wichtiger, bereits öfter erwähnter Referenztext, Ernst Platners 1772 erschienene erste Auflage der Anthropologie für Aerzte und Weltweise, die schon in ihrem Titel die beiden sie bestimmenden Linien – Medizin und Metaphysik – zusammenbrachte, vorerst nichts. Mehr noch, ist Platners Werk selbst kennzeichnend für das noch immer vorhandene konzeptuelle Schwanken. Zwar schränkt er das Gebiet der Anthropologie explizit auf das Problem des Commercium mentis et corporis ein und definiert sie als Wissenschaft von »Körper und Seele in ihren gegenseitigen Verhältnissen, Einschränkungen und Beziehungen zusammen betrachte[t]«.20 Ausdrücklich klammert er die Psychologie, »oder welches einerley ist, Logik, Aesthetik und ein großer Theil der Moralphilosophie« (Platner 1772, XVI) als relevante Untersuchungsgebiete aus, da sie nur auf den seelischen Aspekt allein eingingen. An dieser Aussage ist nicht nur der umfassende und integrative Wert der noch jungen Disziplin der Psychologie interessant, der belegt, dass sie die bisherige »erste Philosophie«, Metaphysik bzw. Ontologie zu ersetzen beginnt. Hatte 18
Siehe dazu umfassend Heinrich Küntzel: Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen deutschen Prosa im 18. Jahrhundert. München 1969. 19 Dazu allgemein Müller 2004, Lorenz 1997, Costazza 1999, die insgesamt zwar einen Bedeutungsverlust der theologischen Variante, jedoch die deutliche Zunahme des Interesses an anthropozentrischen Lösungen des Problems des Bösen konstatieren – der Gottesbezug soll zunehmend aus menschlicher Perspektive erklärbar und zu rechtfertigen sein; vgl. Kap. I.2 und Kap. V. 20 Platner 1772, XVII. Dabei wandte sich Platner explizit von der Vermögenslehre ab und versuchte stattdessen eine »Kausalerklärung psychischer Akte aus physiologischen Prozessen zu liefern«, ein Verfahren, das »repräsentativ für die medizinische Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist« (John/Zantwijk 2001, 199). Jedoch ist eine solche Theorie immer darauf verwiesen, als ihre Grundlage das commercium-Problem ein für allemal zu lösen; was keiner von ihnen befriedigend gelang. Die Einführung des »influxus physicus« wird von John/Zantwijk sehr treffend als »Verlegenheitslösung« bezeichnet (ebd.), die den Boden der empirischen Wissenschaft verlässt und damit ihren Vorteil gegenüber der rationalen Vermögenspsychologie verspielt.
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
diese letztere im Wolffschen Schema noch den obersten Stellenwert eingenommen, wird ihre Rolle im Zuge der Entwicklung der Anthropologie platnerscher Provenienz herabgestuft. Zugleich wird diesem ganzen philosophischen Zweig, nun unter »Psychologie« zusammengefasst, die Zuständigkeit für die Erklärung des Zusammenspiels zwischen Körper und Geist und damit des ganzen Menschen genommen und allein der neu zu entwickelnden Anthropologie zugestanden, die damit – zusätzlich zum Abweis der Physiologie – seltsam »ortlos« erschien. In seiner Vorrede definiert Platner allerdings zur Frage »Was ist Philosophie?« ein umfassenderes Konzept: »Ich denke mir nichts anders dabey, als die Wissenschaft des Menschen und anderer Körper und Geister, welche zu seiner Natur ein Verhältnis und auf seine Glückseligkeit eine Beziehung haben.« (Platner 1772, III) Der Mensch, als der Gegenstand dieser Wissenschaft, wird wiederum ganz im Sinne der vorher definierten Anthropologie als eine »Harmonie« zwischen Seele und Körper verstanden (Platner 1772, IV). Der Philosoph ist nicht auf einen der beiden Bereiche allein eingeschränkt, wie es der Arzt und der »Moralist« sind (Platner 1772, IV)21, sondern er befasst sich mit beiden Bereichen; hier durchdringen sich Körperlehre, Moralistik, Pneumatik und letztlich Metaphysik zu einem auf den Menschen zentrierten Gesamtkonzept, wobei zu beachten ist, dass sich Platner insgesamt an die Ergebnisse der psychologisch orientierten Revision der Philosophie (1772) von Christoph Meiners hält und Philosophie zu einem Feld der Betrachtung und Analyse menschlicher Denk- und Empfindungstätigkeit erklärt.22 Hatte Platner vorher die Anthropologie als ein Teilbereich dieser Betrachtung definiert, so schleichen sich im Zuge der Untersuchung Aspekte des letztgenannten Gesamtkonzepts »Philosophie« mit ein, was der Forschungsrichtung einen umfassenderen Rahmen verleiht. Diese unklare und schwankende Ausführung der neuen Disziplin mag auch daran liegen, dass sich Platners Interesse nicht auf die genaue Art der Bestimmung des Commer-
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Wiederum ein Zeichen der bereits erwähnten Verflechtung zwischen Moralphilosophie und früher Anthropologie (vgl. Vollhardt 1994, 116 mit weiteren Nachweisen). Dies spiegelt sich auch in der älteren Forschung zur Anthropologie wider; siehe z. B. Jürgen von Stackelberg: Französische Moralistik im europäischen Kontext. Darmstadt 1982, 2 f.: »In der älteren Forschung war es üblich, von Anthropologie zu sprechen, wenn das gemeint war, was wir heute Moralistik nennen – oder richtiger: das, war wir so bezeichnen, war einmal ein Teil der so benannten Wissenschaft vom Menschen.« Im gegebenen Zusammenhang soll es aber um das übergeordnete Gebiet der »Suche nach dem Menschen« gehen. 22 Vgl. Nowitzki 2003, 178 f. S. 175 weist Nowitzki darauf hin, dass Platner mit dieser Engführung die Charakterisierung des guten ›philosophischen Arzt‹ anstrebte, der sich gerade durch das Ineinander von philosophischer und physiologischer Erkenntnis auszeichnet. Kernbereich von dessen Forschungsgebiet bleibe dennoch allein die Physiologie, wohingegen die Philosophie in den Bereich des Laienwissens fällt. Schwierig an dieser Sichtweise ist freilich, dass ein solcherart laienhafter »Arzt-Philosoph« weitreichende Entscheidungen über die Zusammenwirkung von Leib und Seele zu treffen hätte.
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ciums zwischen Körper und Seele23, sondern vielmehr auf die Folgen dieser Zusammenstimmung, welcher Art sie auch sei, bezieht und damit sogleich den Blick auf die Gesamtheit menschlicher Tätigkeitsbereiche lenkt. Auch wenn die genaue Art des Zusammenspiels für den Menschen nicht beobachtbar ist, so ist dennoch eine Philosophie des Menschen, basierend auf »klaren Erfahrungen und Empfindungen« (Platner 1772, XII f.) ihm zufolge möglich, die ihn seinem Ziel einer sinnvollen Darstellung dieser Folgen näher bringt. Interessanterweise geht er bei seinem Vorgehen hinter die physiologischen Erkenntnisse der »vernünftigen Ärzte« zurück und vertritt ein den Menschen dualistisch trennendes, »antinomistisches Mechanismus-Animismus-Konzept«, um im weiteren Verlauf der Untersuchung die empirische Beobachtung der metaphysischen Spekulation unterzuordnen.24 Versuche einer Synthese der unterschiedlichen Anteile menschlichen Wesens und Lebens werden in dieser Sichtweise wiederum voneinander getrennt. Nowitzki führt die nur eingeschränkte Praktikabilität des Platnerschen Anthropologiebegriffs dementsprechend auf seinen starken Bezug auf eine bestimmte Denkschule zurück: indem Platner die menschliche Natur als eine eingeschränkte Dualität auffasst, die nur eine bestimmte Art der Vermittlung erlaubt, kann er umfassenderen Konzepten gegenüber seinen eigenen Anthropologiebegriff nicht recht begründen.25 Dem stand beispielsweise die auch in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch lebendige Schule des an Stahls Forschungen orientierten, umfassenden Animismus entgegen, die von einem »influxus animae« ausgeht und die Nerven als »gespannte Saiten« annimmt, die den Impuls über Schwingungen weitergeben. Der physiologische Mechanismus wird dabei schon im eigenen Gebiet mit einem umfassenden Vitalismus kombiniert und macht die platnersche Trennung – und damit auch ihren anthropologischen Vereinigungsversuch – überflüssig. Dieses psycho-dynamische Konzept war es allerdings, das in modifizierter Form von Krüger und Sulzer übernommen wurde; auch Mendelssohn schloss sich ihm in Maßen an. Die Seele gilt hierbei als das Bewegungsprinzip des Menschen, was wiederum die konzeptionelle Nähe dieser Forschungsrichtung zur Psychologie erklärt. Diesem Vitalismus hatte Platner so nicht zugestimmt. Nowitzki (2003, 179 f.) zufolge ist bei ihm Anthropologie nicht die Grund-, sondern letztlich eine Hilfswissenschaft der Psychologie, die die notwendigen Lücken in der Verbindung zur Physiologie erklären können soll. Die nachfolgenden Theoretiker schienen dies anders zu sehen, obwohl sie sich durchaus nicht durchgehends mit Stahls Gegenmodell einverstan23
Er spricht sich allerdings im 2. Hauptstück, 11. Lehre aufgrund seiner bisherigen Erkenntnisse für einen »reellen« Einfluss des »Nervensaftes« auf die Seele aus. Zu Platners Unschlüssigkeit siehe auch Nowitzki 2003, 185 f. 24 Zu den Verschiebungen und Abwandlungen dieses Konzepts siehe ausführlich Nowitzki 2003, 165, 173, 181. 25 Vgl. Nowitzki 2003, 181 und Dürbeck 1998, 120 f. Diese mechanistische Auffassung der Nerventätigkeit ist auch für Malebranche, Tissot und Haller kennzeichnend.
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den erklärten. Der genaue Umriss einer Anthropologie stand also nach wie vor zur Debatte; allein ihr Gebiet: die Erklärung des körperlich-seelischen Zusammenspiels aller Lebens- und Wertungsäußerungen des Menschen, wurde zunehmend allgemein akzeptiert. Obwohl Mendelssohn nicht direkt auf Platner zu sprechen kommt, wird ihm dessen Anthropologie aus eigener Lektüre26 und auch durch Berichte seines Freundes Marcus Herz bekannt gewesen sein. Herz verfasste eine der umfänglichsten Rezensionen von Platners Anthropologie in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (1773, 25–51), die u. a. die fehlende Berücksichtigung des Einflusses der Seele auf den Körper, die Ausweitung des Anthropologiebegriffs auf metaphysische Lehrstücke und auch die fehlende Erklärung unbewusster Seelenzustände kritisiert (vgl. Nowitzki 2003, 200 ff.). Folgerichtig schloss sich Herz selbst einem anderen Projekt an, das sich ebenfalls der zeitgenössischen Anthropologiedebatte verdankt: es war die Etablierung der »Erfahrungsseelenkunde« als eines Betätigungsfelds der »moralischen Ärzte« in den 1780er Jahren.27 Unter Berücksichtigung der empirischen Erfahrung des Zusammenwirkens von Körper und Geist, das der Erfahrungsseelenkundler eben nicht aus einem vorhergehenden System entnahm, sondern über die genaue Beobachtung, die Aufmerksamkeit auf das »Klein Scheinende« (Moritz, Werke III, 93 f.), erhielt, wollte der Begründer dieser Lehre, Carl Philipp Moritz, einen befriedigenderen Weg anthropologischer Forschung erschaffen. Die wichtigste Forderung ist das delphische Motto »Erkenne Dich selbst«, das dem aus dieser Lehre resultierenden Magazin seinen Titel gab und das Marcus Herz in seinen 1771 erschienenen Beobachtungen aus der spekulativen Weltweisheit gefordert hatte: »Denn wenn Wissenschaften und Künste einzig dahin zielen, uns zu vergnügen, unsere Geselligkeit zu befördern, so muss die Erkenntnis unserer selbst allerdings vor denselben vorhergehen.« (Herz 1995, Vorrede, 5). Der zur Selbsterkenntnis beitragende Erfahrungsseelenkundler erreichte also über den Weg der beobachtenden Therapie – und damit der Wiederherstellung einer Leib-Seelischen-Harmonie – die Verbesserung des Menschen in persönlicher wie sozialer Hinsicht. Anthropologie war die Grundwissenschaft, von der ausgehend die Ziele der Moralistik erreichbar wurden. Beide, Herz wie Moritz, orientierten sich dabei auch an Mendelssohns Überlegungen. Schon rein biographisch lässt sich ihre Nähe aufzeigen. Moritz, der sich 1778 zweiundzwanzigjährig in Berlin niederließ, suchte Mendels26
Im Bücherverzeichnis sind die Anthropologie [582/48], die Philosophischen Aphorismen (1776, 1784) [245/31, 319/36] aufgelistet, ebenso wie andere einschlägige Werke zur Nervenphysiologie, z. B. Hallers Abhandlung von den empfindlichen und reizbaren Theilen des menschlichen Körpers (1756) [203/13], Unzers Medicinisches Handbuch (2 Bde., 1770) [204/ 29], Krügers Versuch über die Experimental-Seelenlehre (1756) [363/39]. 27 Davies 1985, 21 siehe auch ebd., 23: »Furthermore, Moritz’s Erfahrungsseelenkunde assumes that the term ›illness‹ applies to both moral and physical ills.«
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sohns Kontakt und wurde über ihn auch mit Herz bekannt.28 Die von ihnen geteilte und gemeinsam weiter entwickelte Definition der Krankheit als eines »widernatürlichen Zustandes des Körpers«29 erforderte die Einbindung physiologischer wie psychischer Momente; die empirische Durchdringung körperlicher Funktionen hatte zugleich auch den metaphysischen Mehrwert, dass sie dem vollkommenen Verständnis des ganzen Menschen diente.30 Getragen wurde diese von allen dreien geteilte Denkweise durch die letztlich auf Shaftesbury31 zurückgehende, aber auch mit einer leibnizianischen Metaphysik in Übereinstimmung zu bringende Voraussetzung, dass die nach empirischer Methode erfolgte Aufdeckung der Bedingungen von Krankheit resp. Gesundheit letztlich die universelle Harmonie alles Geschehens zeigte.32 Die mit der »Erfahrungsseelenkunde« propagierte »empirische« Methode war nicht die des naturwissenschaftlichen Experiments, wie es Lambert im Neuen Organon, 1. Bd., »Dianoiologie oder Lehre von den Gesetzen des Denkens«, 8. Haupt-
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Vgl. Davies 1985, 15, 17 f.. Mendelssohn steuerte sogar einen Aufsatz über das Stottern und einen über Laune im Magazin für Erfahrungsseelenkunde (JubA VI/1, 163–84, abgedr. im Magazin Bd. 1.3 und 2.3, 1783 f.), an dessen Namensgebung er nicht zuletzt entscheidend beteiligt war (vgl. JubA VI/1, XXXIV, Davies 1985, 23), bei. Einer von Mendelssohns frühen Biographen, sein Sohn Georg Benjamin Mendelssohn nennt Moritz mit Engel, Herz und Friedländer als den engeren Kreis um seinen alten Vater (vgl. G. B. Mendelssohn 1843, 53). Die Forschungen des Mediziners Herz, der sich u. a. für den Einfluss der Seele auf die Genesung des Körpers interessierte, verdanken sich höchstwahrscheinlich auch diesem Diskussionskreis um den späten Mendelssohn. 29 Vgl. Mendelssohns Brief an Herz vom 11. und 28. Februar 1780 (JubA XII/2, 171–75). So Herz in seinem Grundriss aller medicinischen Wissenschaften, 3: »Die Kunst Krankheiten zu heilen, die Medizin, ist die Kunst den widernatürlichen Zustand des Menschen in den völligen und bestmöglichen natürlichen Zustand zu verwandeln, und zwar vermittelst körperlicher Veränderungen.« Neben den körperlichen wollten sie jedoch auch seelische Veränderungen untersucht wissen, wofür v. a. Moritz’ Werk steht. Der »natürliche« Zustand wurde in Anschluss an Wolffs Vorstellung des gesunden Körpers als eines »corpus organicum compositum« verstanden (vgl. Davies 1985, 24 f.), wobei die Art der Zusammensetzung gerade zur Diskussion stand. 30 Davies 1985, 25 weist in dieser Hinsicht auf das Selbstverständnis dieser »moralischen« Ärzte als »Second Maker under Jove«, wie Shaftesbury im Soliloquy den Künstler charakterisiert, hin (vgl. Characteristicks, 1. Bd, Treatise III, 136). Die Ärzte, so zumindest ihre Auffassung, erschaffen erst den wahren, in sich harmonischen Menschen. 31 Über Shaftesburys Einfluss in Deutschland siehe Wolfgang H. Schrader: Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg 1984 (=Studien zum achtzehnten Jahrhundert 6) und Oskar F. Walzel: »Shaftesbury und das deutsche Geistesleben im 18. Jahrhundert«, in: GRM 1 (1909), 416–437 sowie dessen Aktualisierung durch Lothar Jordan: »Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts«, in: GRM 44 (1994), 410–24. 32 Vgl. Davies 1985, 30 f. in seiner Analyse von Moritz’ und Herz’ Schriften, die sich methodisch auf Lamberts Neues Organon, in ihren Prämissen v. a. auf Shaftesbury stützen. Letztlich betonen beide mit ihren Untersuchungen, dass der teleologische Gedanke sich in der Realität manifestiert.
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stück, umrissen hatte33, sondern der genauen (medizinischen) Erfahrung verpflichtet. Sie sollte im individuellen Fall die vollkommene universelle Ordnung entdecken, »weg von der Typologie, der man den Makel der Abstraktion vorwarf, weg von den ›Kompendienmenschen‹ und hin zum individuellen Fall, der möglichst voraussetzungslos beobachtet und beschrieben werden sollte, unter zumindest vorläufiger Aussparung von Urteil und Theorie«34. Die vorurteilsfreie Entdeckung des Seelenlebens war jedoch, wenig verwunderlich, so nicht durchzuhalten. Entweder der Erfahrungsseelenkundler verlor sich in Auflistungen immer weiterer Fälle, für die sich kein Zusammenhang und Oberbegriff finden ließ; oder der Beobachtende brachte schon zu Beginn seiner Analyse die nicht durch die Beobachtung zu begründenden Prämissen mit ein. Es soll hier jedoch nicht weiter um die Bedingungen und das Scheitern einer spezifischen Ausprägung des »Interesses am Menschen« am Ende des 18. Jahrhunderts gehen. Vielmehr sollte damit exemplarisch aufgezeigt werden, dass dieses Interesse eine Vielfalt an umfassenden metaphysischen Entwürfen, materialistischen Ideen bis hin zu vorgeblich individuellen Fallgeschichten und damit eine immense Bandbreite an Varietäten hervorbrachte, das bis zum Ende des Jahrhunderts verhinderte, die eine einheitliche und konsistente Anthropologie als wissenschaftliche Forschungsrichtung zu etablieren. Insgesamt lässt sich in Bezug auf die Herausbildung der Disziplin »Anthropologie« feststellen, dass sie aus einem zunehmenden Interesse an der Spezifität und Wirkungsweise der Seele in Verbindung mit ihrem Körper hervorging und zugleich das Bedürfnis artikulierte, die sich herausdifferenzierenden einzelnen Wissenschaftszweige unter ein umfassendes Gesamtkonzept zu bringen. Hintergrund der Frage nach den Funktionsbedingungen des Doppelwesens Mensch war der Versuch, eine Theorie zur fruchtbaren Einordnung menschlicher Spezifität zu erreichen. Wie ließ sich der Mensch, seine Konstitution, angemessen erfassen? Wie ließ er sich von der 33
Siehe Nachdr. Olms, S. 348–86: er unterscheidet hier Erfahrung, Beobachtung, Experiment; vgl. Davies 1985, 27. 34 Schings 1977, 28. Siehe auch Davies 1985, 30 sowie Moritz’ Vorrede zum Anton Reiser, Werke I, 120: das ungeordnet Scheinende löst sich letztlich bei genauer Beobachtung und Einordnung in ein harmonisches Ganzes, ein alles umfassendes individuelles Leben, auf. Deutlich firmiert hier Mendelssohns Ausspruch in den Hauptgrundsätzen: »jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre« als Ausgangspunkt (vgl. Schings 1977, 33), auf den noch zurückzukommen ist (Kap. II.3). Auffällig ist damit aber auch, dass die Nähe zur Ästhetik und der mit ihr verknüpften, an Shaftesbury anschließenden Forderung nach anschaulicher Erkenntnis des Weltganzen der Erfahrungsseelenkunde einigen theoretischen Ballast aufbürdete, unter dem sie letztlich zusammenbrach. Siehe dazu Zelle 1989, der im Schlusskapitel auf die Ästhetisierung des Schrecklichen durch Moritz hinweist, sowie Osinski 1995 und Adler 1994, 13: »Im gleichen Zuge aber, in dem Moritz den Menschen in psychologischer Hinsicht als selbstzweckliches und ganzheitliches Wesen begreift, entwirft er eine Ästhetik mit dem Schönen als dem »In sich selbst Vollendeten« und führt Anthropologie, Ästhetik und Ontologie in einem grandiosen Gemälde einer rastlos metabolisch tätigen Natur zusammen, in der alles zugleich Zweck und Mittel ist.«
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Mineralien-, Pflanzen- und Tierwelt unterscheiden (Linné, Buffon), und was hielt ihn von der Sphäre des Göttlichen fern? Ist die Seele sein konstituierender, sein einziger oder ein bloß phänomenal anhängender Bestandteil? Das Primat der Seele, wie es sich bei Mendelssohn, aber auch bei den eher an psychologischen Phänomenen interessierten Philosophen wie Sulzer und später Moritz zeigte, wies diese Richtung einer Philosophie vom Menschen von Anfang an über die bloß physiologischen Erkenntnisse der »Ärzte« hinaus, wobei die Riege der »Vernünftigen Ärzte«35 durchaus an den Verbindungsmöglichkeiten von physis und psyche interessiert waren und dementsprechend rege von Denkern wie Mendelssohn, Lessing, Herder und den »Popularphilosophen« wie Garve, Feder, Iselin u. a. rezipiert wurden. Hinweise auf die Schriften Hallers, Boerhaaves, Krügers und Unzers gehörten in der Mitte des 18. Jahrhunderts durchaus zum guten Ton36, ebenso wie der Verweis, dass es zu einer wahren Begründung menschlichen Wesens noch weiterer Aspekte bedürfe. »Although truly conceived as a ›natural history of man‹, eighteenth-century anthropological discourse required and presupposed a discourse of the soul, and especially about its union with the body.« (Vidal 2000, 426) Die bestimmenden diesbezüglichen Überlegungen in Deutschland orientierten sich zumeist an den Lehren des Rationalismus, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts vor allem mit den Werken Gottfried Wilhelm Leibniz’ und Christian Wolffs verknüpft war. Während das Ansehen Wolffs als wichtigsten Leibniz-Schülers und großen Systematisierers der Aufklärung verstärkt in den 1760er Jahren ihren Niedergang nahm, setzte mit der Neuherausgabe der Werke 1768 durch Louis Dutens eine Leibniz-Renaissance ein, die sich u. a. auch der Tatsache verdankte, dass mit Kenntnis der Primärtexte die Verflechtungen und Unterschiede zwischen Leibniz’ und Wolffs Philosophie sichtbarer wurden (vgl. Kondylis 1981, 578, 588 f.). Zwar setzt sich Mendelssohn selbst nicht explizit mit diesem Aspekt auseinander; doch ist seine sich verstärkende Hinwendung zu Leibniz auffällig.37 In Hinsicht auf stilistische Anforderungen an einen gu35
Nach Zelle 2001a, 10. Damit sind in erster Linie die Hallenser Mediziner wie Unzer und Krüger gemeint, die ihre Influxus-Theorie als einen Mittelweg zwischen Animismus (Stahl) und Mechanismus (Friedrich Hoffmann) entwickelten. Indirekt wird sich auch Platner an diese Richtung anschließen. 36 So Mendelssohn selbst in den Briefen über die Empfindungen (1755); siehe ansonsten bspw. die Untersuchungen von Adler 1990, J. Heinz 1996, Bachmann-Medick 1989, Nowitzki 2003, Dürbeck 1998, 123. 37 Vgl. Buschmann 1989a, 70. Mendelssohns Bücherverzeichnis enthält die folgenden Schriften: Leibnitii opera omnia, Bd. VI, 1768 [38–43/7], Leibnitii & Bernoullii commercium philosophicum & mathematicum (1694–1716) 1745 [65 f./8], die Acta eruditorum [155–75/12] und deren supplementa [175–77/12], Oeuvres philosophiques latines & francoises de feu Mr. de Leibnitz tirees de ses Manuscripts un se conservent dans la Bibliotheque royale à Hannovre, & publiees par Raspe. [307/19], Nouveaux Essais [307/19], Leibnitz philosophische Werke nach Raspens Sammlung übersetzt von Ulrich, 1ter Band 1778. [397/46], Leibnitii episotlae ad diversos, theologici, juridici, medici,
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ten philosophischen Stil ist seine Absetzung gegenüber Wolff in der Zurückweisung der mathematischen Methode und der syllogistischen Schreibart beachtenswert.38 Es ist nicht nur die Frage der Darstellung, weniger das Ideal geometrischer Wissenschaftlichkeit im Geiste Descartes’ oder Wolffs, das Mendelssohn verfolgte, als ein auf Leibniz’ Monadenkonzeption beruhender Humanismus39, der die Seele des Einzelnen als ein unhintergehbares Weltzentrum begreift. In dessen Versuch einer umfassender Welterklärung kommt auch dem spezifisch menschlichen Ineinander von tierlicher und göttlicher, dunkler und deutlicher »Erkenntnis«, ein prominenter Platz zu. Wenngleich es verfehlt wäre, Leibniz’ umfassenden metaphysischen Entwurf als eine Anthropologie darstellen zu wollen, so wirkte sich sein Konzept dennoch in diese Richtung auf die anthropologischen Entwürfe der Folgezeit aus. Dabei beschränkte man sich vornehmlich auf die Betrachtung von Leibniz’ Vorstellungstheorie, die die menschlich erfahrbare Palette möglicher Vorstellungsgrade ausmisst und auf allgemeine Prinzipien bringt. Mit den Monaden als individuellen Kraftzentren, die die Welt gemäß ihrem Standort in Abstufungen der Klarheit repräsentieren, waren die Grundprinzipien einer Vorstellungspsychologie gegeben, auf die aufruhend die grundlegenden menschlichen Fähigkeiten, ihre Aufgehobenheit in einem Gesamtentwurf sowie deren »Verbesserung« (siehe dazu auch Abschnitt 2) untersucht und formuliert werden konnten. Mit der Monadenkonzeption hatte Leibniz zugleich, wie Buschmann (1989a, 45) betont, die Moralphilosophie als eine der Körperlehre gleichwertige Wissenschaft rehabilitiert: auch sie war bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die sich beschreiben und begründen ließen und mit denjenigen der Körperwelt harmonierten. Damit war die Grundlage der Anthropologie aus einer spezifischen Form der Psychologie geschaffen, die sich aus der Metaphysik herschrieb, aber v. a. auf deren Teilgebiet der empirischen Psychologie
philosophici, mathematici & philologici argumenti. Lipsio 1734. [397/42] und Leibnitii epistolae ad diversos volumen IV. & ultimus. Lipsiae 1742. [421/42] 38 In diesem Sinne ist die Einschätzung Braschs simplifizierend, wenn auch in der Tendenz korrekt: »Im Gegensatze zu diesen Wolfianern ist es überall sein Bestreben, auf die ursprüngliche Quelle des Systems selbst, auf Leibniz zurückzugehen, wie er auch da, wo er neuen philosophischen Schriften kritisch gegenüber verfährt, meist den ursprünglichen Maßstab von Leibniz anlegt, indem ihm dieser dem schriftstellerischen Charakter nach weit näher steht als der mathematischdemonstrative Wolf, dessen ›barbarisches Gewäsch‹, wie er sich einmal in einem Briefe an Abbt über den Stil seines Jus naturae ausdrückt, dem ästhetischen Stilkünstler und dem Meister des klaren und gerundeten Ausdrucks zuwider sein musste.« (Brasch 1880, LXXXIII f.) 39 Gegen diese anthropozentrische Sichtweise mag sich eine biologistisch-mechanistische Leibniz-Interpretation verschließen (vgl. Lovejoy 1936, 227 ff., Wilson 1995, 447). Die Zusammenstimmung aller Teile im Weltganzen ergibt sich jedoch auch in Leibniz’ Philosophie nicht allein über den mechanistischen Gedanken von ineinander greifenden Bestandteilen, sondern über einen vitalistischen Kraftbegriff, der den Appetitus der Monaden antreibt und so die Welt in ihrer dynamischen Gestalt erhält.
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berief.40 Diese hatten Baumgarten wie auch Wolff gegenüber der rationalen Psychologie abgegrenzt, wobei die erstere das Wissen von der Seele des Menschen aus der »Erfahrung« ableitet, letztere »aber erkläret alles aus der Natur und dem Wesen der Seele und zeiget von dem, was man observiret, den Grund darinnen« (Wolff, Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schriften, § 79).41 In monistischer Lesart ist Erfahrung nur graduell von intellektuellem Wissen unterschieden (darauf wird zurückzukommen sein); die empirische Psychologie also letztlich gleichwertig, nur einer anderen Methode folgend und – ihr großer Vorteil – für den noch »ungeübten« Verstand eingängiger.42 Der mit ihr verfolgte Zweck einer Erklärung psychischer Phänomene über die Erfahrung und ihrer gleichzeitigen Fundierung in einer darüber hinausreichenden Metaphysik ging mit einer verstärkten Konzentration auf den inneren Sinn einher.43 40
Siehe auch Baumgarten, Meditationes, § 115: Da die Logik des unteren Erkenntnisvermögens bislang zu wenig beachtet wurde, herrsche hier Nachholbedarf. Eine Beschäftigung mit der sensitiven Erkenntnis fordere aber gerade die Psychologie. Vgl. dazu eingehend Sommer 1892, 1–57. 41 Riedel macht gerade in Wolffs Konzeption der Psychologie eine Wiederaufnahme der cartesianischen Substanzentrennung aus: »Freilich, was Wolff (und hier ist von der Psychologia rationalis auszugehen, die methodisch und inhaltlich der Psychologia empirica vorausgeht und ihr übergeordnet ist) unter dem Titel ›Psychologie‹ traktierte, war der Sache nach nichts anderes als Pneumatik und methodisch und begrifflich eine an Descartes geschulte Theorie des Geistes als des Anderen den Körpers.« (Riedel 2004, 5) Es ist auch aus diesem Grund wichtig, bezüglich Mendelssohns Rückgriffen auf Leibniz wie Wolff mit einer generalisierenden wie verfälschenden Bezeichnung einer »Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie«, der Mendelssohn angeblich anhing, vorsichtig zu sein. Zwar ist es durchaus nicht zwingend, den genannten Terminus ersatzlos zu streichen, allein weil ihn Wolff ablehnte und auch Leibniz in dieser Form sicher nicht angenommen hätte (vgl. Wilson 1995, 445); beinhaltet er doch eine im 18. Jahrhundert einflussreiche philosophische Strömung (vgl. Adler 1992, 12). So argumentieren viele sogenannte Popularphilosophen mit einer Mischung aus Leibnizianischem und Wolffianischem Gedankengut, ohne die spezifischen Differenzen beider Denker zu berücksichtigen. Auch zeigen zeitgenössische Abhandlungen, dass der Begriff durchaus gebräuchlich war; bspw. Georg Volckmar Hartmanns Anleitung zur Historie der Leibnitzisch-Wolffischen Philosophie (1737) und Carl Günther Ludovicis Neueste Merckwürdigkeiten der Leibnitzisch-Wolffischen Weltweisheit (1738). Jedoch ist im gegebenen Zusammenhang immer auf die genaue Anschlussstelle von Mendelssohns Überlegungen hinzuweisen; es wird sich herausstellen, dass Mendelssohns Psychologie näher an den Gedanken Leibniz’ und Baumgartens, als an denen Wolffs orientiert und damit in der Grundlinie spekulativer ist. 42 So Wolff im genannten Paragraphen. Philosophie als Anthropologie zu verstehen heißt damit ebenfalls, den Grad ihrer Fasslichkeit als ein Qualitätskriterium zu werten (siehe oben, Punkt 4). Dies hält auch Mendelssohn fest, der die Rede von der »pragmatischen Erkenntnis« als einem handlungseffektiven Wissen begründete (vgl. JubA I, 413 und Brandt/Stark 1997, XIV f.). 43 Vgl. Sturm 2001, 176. Unter Rückgriff auf Lockes Begriff der »reflection« bemühen sich Wolff und Baumgarten um eine Systematisierung des inneren Sinns, der nicht nur Daten des psychischen Verhaltens, sondern auch Aufschluss über die Funktionsgesetze des inneren Sinns bieten soll »in terms of laws or of human faculties governed by laws.« (Sturm 2001, 176) Sturm verzeichnet weiterhin (ebd., 177) die dem Introspektionismus gegenüberstehenden Modelle, die
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Die Abgrenzung der empirischen Psychologie von ihrer – höher stehenden – Schwester, der rationalen Psychologie, geschah vor allem in Hinblick auf ihre Methodik. Es ist allerdings zu bemerken, dass die empirische Psychologie durchaus nicht allein auf einem wie auch immer gearteten beobachtenden Verfahren gegründet war, sondern ihre Ergebnisse ebenfalls mit den metaphysisch abgesicherten Kriterien des Satzes von ausgeschlossenen Widerspruch und des Satzes vom zureichenden Grunde entdeckt. Ihre Ziele waren 1) das Wissen der menschlichen Seele von sich selbst auf deutliche Begriffe bringen, 2) die in der Seele wahrgenommenen Veränderungen nach den genannten Prinzipien zu begründen und 3) aus den aufgeklärten, vormals dunklen und verworrenen Begriffen der Seele von sich selbst, die Grundbegriffe der Logik, Moralphilosophie und Politik entwickeln.44 Ein Problem einer solchen Psychologie war, dass sie lediglich die widerspruchsfreien Äußerungen der Seele erfassen und erklären konnte. Handelt man aus einem unzureichenden Grund, so ist dies in Wolffischer Terminologie nur noch in Termini der fehlgeleiteten Abweichung aufgrund unzureichender Erkenntnis zu deuten.45 In dieser Hinsicht erfolgte auch Sulzers Kritik an Wolff, dieser habe die dunkle Seite der Seele vernachlässigt. Eine wahre und umfassende Psychologie habe sich, in Sulzers Lesart, »hauptsächlich dreier Themen anzunehmen (mit deren Behandlung denn auch der pneumatische Denkraum bewußt verlassen wird): erstens des Komplexes der ›dunklen‹ oder, wie sie später heißen werden, unbewußten Vorstellungen (ideae obscurae); zweitens der Störungen und Dysfunktionen der Wahrnehmungs- und Verstandeskräfte; drittens der Zusammenhänge ›zwischen dem Zustand des Leibes und der Seele‹ (commercium mentis et corporis), und zwar nicht mehr auf der Grundlage einer zweifelsfrei geltenden Substanzentrennung.« (Riedel 2004, 7) Mendelssohn wendete sich den von Sulzer angesprochenen und die Psychologie entscheidend auch um sinnlich-körperliche Aspekte erweiternden Punkten ebenfalls zu, worauf noch umfassend einzugehen ist (Kap. II.2 und III.2). Hinsichtlich der Frage nach der Substanzentrennung allerdings finden sich bei ihm keine klaren Äußerungen. Er geht allgemein von der Notwendigkeit eines einheitlichen Bewusstseinsraums des Menschen aus, dem der Körper als ein »Sensorium« beigegeben ist und kümmert sich weiter nicht um die metaphysische Erklärung der »Hypothesen, nach welchen man den Einfluß zwischen Seele und Körper zu erklären sucht« (JubA ein Verständnis der menschlichen Psyche (auch) über empirische Methoden sowie Hirnphysiologie anstrebten. Auf ersterer Seite stand, neben Wolff und Baumgarten, Johann Nikolaus Tetens (alle drei mit entscheidendem Einfluss auf Kant) – auf der anderen Charles Bonnet, David Hartley, Ernst Platner u. a. 44 Ich folge hier der Auflistung bei Zandwijk 2001, 46–49. 45 Diese Kritik äußerte z. B. Joachim Georg Darjes, siehe Zantwijk 2001, 58 – dort wird allerdings nicht auf dieses Interesse an einer auch die dunkle Seite menschlicher Psyche beachtenden Anthropologie hingewiesen.
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VI/1, 93). So betont er in seinen Anmerkungen zu den Termini der Logik Maimonides’: Zwar gebe es vielleicht einen Nervensaft, der aufgrund seiner Beschaffenheit näher am Geistigen sei – aber er »ist im Raum enthalten und in den drei Dimensionen eingeschlossen, und er bewegt sich in räumlicher Bewegung von Ort zu Ort« (JubA II, 200); dies ist bei der Seele nicht der Fall, sie ist raum- und zeitenthoben. Mendelssohn gesteht angesichts der Frage, wie ein solcher Übergang von einem ins Andere möglich sei, schlicht seine Unwissenheit und lässt es unter dem Hinweis auf die größte Plausibilität des Theorems der prästabilierten Harmonie bewenden.46 Ihn interessieren vielmehr die Gesetzmäßigkeiten des Zusammenspiels unterschiedlicher Vorstellungsqualitäten und ihre Folgen auf menschliche Erkenntnismöglichkeiten, Handlungen und Empfindungen. Dennoch ist die Entscheidung dieser Frage für die Anthropologiedebatte relevant. Nowitzki geht in seiner groß angelegten, sich jedoch auf die medizinische Anthropologie beschränkenden Untersuchung in dieser Hinsicht von einer Ersetzung des psychophysiologischen Parallelismus durch die Influxus-Theorie schon für die Mitte des 18. Jahrhunderts aus (vgl. Ders. 2003, 26 f., ähnlich J. Heinz 1996). Die Theorien orientierten sich damit zunehmend von einer metaphysisch orientierten Sicht weg hin zu einer eher ›naturwissenschaftlichen‹ Vorgehens- und Betrachtungsweise. Jedoch stand diese Verschiebung nicht von Beginn an fest47, noch wurde sie durchgehend akzeptiert. Dafür argumentieren auch die Herausgeber Brandt und Stark in ihrer Einleitung zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht im Band 25 der Akademieausgabe (1997, XVII f.): das commercium-Problem ist letztlich nur eines von vielen, dessen Beantwortung durch eine philosophische Definition des Menschen versucht wurde. Es wurde von Wolff und Baumgarten nur kurz abgehandelt und auch von Locke und Hume aus der näheren Betrachtung ausgeschlossen. Gerade diese Autoren sind jedoch ebenfalls für die Entwicklung einer rationalistischen Anthropologie, wie sie Mendelssohn verfolgte, von Bedeutung. Dementsprechend nennt Riedel in seinem Überblick über die Entwicklung anthropologischer Fragestellungen drei verschiedene Bastionen des Widerstandes gegen das Bestreben der Spätaufklärung, den »ganzen Menschen« auf den Körper und damit die Metaphysik auf die Physiologie zu reduzieren48: 46 Mendelssohn schließt sich damit der Wolffischen Vorgehensweise an, vgl. Deutsche Metaphysik, §§ 765 ff., 812–15. Laut Dürbeck 1998, 38 könnte dem bloßen Wortlaut nach hier zwar auch eine influxistische Lesart vermutet werden, jedoch liegt es aufgrund der umgebenden Ausführungen nahe, von einer strikten Trennung der beiden Entitäten und ihrer harmonischen Entsprechung auszugehen, vgl. bspw. ebd., §§ 778 f. 47 Wie Nowitzki 2003, 27 zeigt, wehrte sich auch Baumgarten gegen die Akzeptanz der Influxus-Theorie, die entscheidende Leibnizsche Theoreme unterwandert. An ihn schließt sich nicht nur Georg Friedrich Meier, sondern auch Mendelssohn an. 48 Vgl. Riedel 1994a, 110, siehe auch Schings 1977, 20–24.
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1. Bis ca. 1781, also dem Erscheinen von Kants Kritik der reinen Vernunft, übte die Schule der »metaphysischen Anthropologie« der Popularphilosophen großen Einfluss aus. Wichtigster Grundsatz dieser Lehre war die substantielle, freie und unsterbliche Seele und ihre damit begründete Gottähnlichkeit. Die diese Richtung vertretenden Denker gingen vom Postulat der ewigen Selbstvervollkommnung des Menschen – im Gegensatz zum Tier – aus und richteten die Theorie des Menschen nach diesen Grundsätzen aus, was eine generelle Abwertung physiologischer Erkenntnisse bedeutete. Als wichtigste Vertreter nennt Riedel Spalding, Mendelssohn und Schiller. An diesem Punkt wird vor allem der Versuch einer »Bestimmung des Menschen« ansetzen (siehe Abschnitt 2), der sich jedoch nicht so körperfeindlich darstellt, wie man annehmen möchte. 2. Daneben bietet die Physiognomie auf Grundlage der Theologie eine Umkehrung des medizinischen Bestrebens: es wird ein fundamentaler und unumkehrbarer Einfluss der Seele auf den Körper festgestellt und aus diesem Zusammenhang Rückschlüsse auf menschliche Bestimmung und Zwecksetzung gezogen. Wichtigster Vertreter dieser Richtung ist Lavater; illustrer ist seine Gegnerschaft, bei der sich neben dem gemäßigten Mendelssohn Denker und passionierte Streiter wie Lichtenberg, Schiller und Abel finden. Keiner argumentiert dabei schlicht umgekehrt für die Einprägung körperlicher Eindrücke auf die Seele; vielmehr nehmen sie einen vermittelnden Standpunkt ein. Es wird in Bezug auf Mendelssohn darauf zurückzukommen sein. 3. Eine Sonderrolle nimmt Kant ein. Er legt »in seiner Anthropologie die Probleme des Commerciums als unlösbar ad acta«49 und widerlegt mit seiner kritischen Philosophie zugleich den metaphysischen, substantialistischen Seelenbegriff (vs. Mendelssohn) zugunsten eines transzendentalen Einheitspunktes aller Erfahrung, der psychologisch nicht weiter analysierbar ist. Damit ist die Seelensubstanz der Psychologia rationalis zwar endgültig abgewiesen; jedoch rettete Kant mit seinem transzendentalphilosophischen Ansatz die grundlegendsten Faktoren, Autonomie und Vernunft, zumindest, so Riedel, nur »für knapp drei Generationen«50. In der Anthropologie
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Riedel 1994a, 110. So den Worten nach auch Platner, der seine diesbezügliche Zurückhaltung jedoch schon im Gang der Anthropologie wieder zurücknimmt und für den »reellen« Einfluss des »Nervensaftes« auf die Seele, also influxus physicus argumentiert, vgl. hier FN 72. Zu Kant siehe Brandt/Stark in AA XXV, XVII: Noch 1798 hielt Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht fest, dass das Commercium-Problem nicht den ersten Rang in der Anthropologie beanspruche; »Als pragmatische Disziplin hat sich die Anthropologie offiziell von dieser Last befreit; sie untersucht die Motive und Zwecke des Handelns, aber nicht deren physiologische Ursachen.« 50 Riedel 1994a, 110. Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass ein kantianischer Normativismus wieder hochaktuell ist, wie u. a. die Arbeiten Robert Brandoms belegen mögen.
I.1 Anthropologie versus Bestimmung: Was ist der ›ganze Mensch‹?
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betont Kant die Wichtigkeit der »Weltkenntnis«, der ihr auch ihren »pragmatischen« (und damit eben nicht streng wissenschaftlichen) Charakter verleiht.51 Neben diesen von Riedel referierten Ansätzen lassen sich in Mendelssohns unmittelbaren Umfeld noch weitere Positionen ausmachen, die im Laufe der hier zu entwickelnden Anthropologie Mendelssohns noch eine wichtige Rolle spielen werden; es sind v. a. Thomas Abbt, Johann Gottfried Herder und Carl Philipp Moritz, die sich jeweils in ihrem Interesse auf historische bzw. psychologische Spielarten der Anthropologie konzentrierten. Gemeinsam ist allen genannten Richtungen, dass sie stärker philosophisch, oder auch metaphysisch orientiert waren. »Nicht, daß ihre Verfasser die Bemühungen in ›Naturgeschichte‹, Physiologie, Medizin, physischer Geographie und in anderen Disziplinen der Naturwissenschaften zu jener Zeit nicht gekannt hätten, allen voran Herder und Kant. Gemeint ist vielmehr, daß der beharrliche Versuch, die Natur des Menschen allein auf Grund deskriptiver und womöglich klassifizierbarer, wenn nicht sogar quantifizierbarer Beobachtungen zu bestimmen, ohne nach Grund und Bestimmung zu fragen, zurückgewiesen wurde, daß, kurz, die Naturwissenschaften zwar zur Anthropologie Zulieferdienste leisten, nicht aber eine Leitfunktion übernehmen [sollten].« (Adler 1994, 135 f.) Damit wurde Anthropologie nicht als eine reine Beschreibung des Menschen und seiner Einordnung in einen naturalen Gesamtzusammenhang verstanden, sondern vielmehr musste die Verortung des menschlichen Zwecks eine wichtige Rolle in der tatsächlich möglichen Erforschung der menschlichen Natur spielen. Formuliert man den hier interessierenden anthropologischen Ansatz, um ihn innerhalb dieses begrifflich schwankenden Umfelds näher zu fassen, in ein damals populäres Schlagwort um, so bietet Mendelssohns Diskussion der »Bestimmung des Menschen« einen ersten Ansatzpunkt. Es soll in dieser Arbeit anhand eines personenzentrierten Vorgehens dafür argumentiert werden, dass diese Frage nach der Bestimmung des Menschen als eine originär anthropologische Fragestellung bezeichnet werden kann und im Gesamtzusammenhang anthropologisch-philosophischer Untersuchungen einen wichtigen Platz in der Philosophiegeschichte einnimmt. Dabei soll eben nicht die Verwandtschaft der Anthropologie mit der Medizin oder anderen eher physiologisch orientierten Untersuchungsfeldern, sondern ihre Nähe
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Kant sieht, so seine Vorrede, ihr vornehmliches Ziel darin, zu zeigen, was der Mensch aus sich qua freien Wesen machen soll (vgl. AA VII, 119). In diesem Sinne ist die Interpretation konsequent, dass Kant selbst die Anthropologie durch ihre allzu große Nähe zur Ethik überflüssig machte (vgl. Marquard 1971, 366). Jedoch zeigt seine Untersuchung an, dass er sie gerade in dem Bereich der »Kompensation« bloß physiologischer Untersuchungen sah: seine Ausführungen zu den Temperamenten und Charakteren soll auch aufweisen, was der Mensch auf der Grundlage seines auch physiologisch bestimmten Wesens aus sich machen kann.
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
zu einer ganz anderen Disziplin, der Ästhetik, betont werden.52 Wie auch die Etablierung der Ästhetik als Wissenschaft bzw. Spezialgebiet innerhalb der Philosophie, so war auch die junge Anthropologie von methodischen Spannungen, begrifflichen Unsicherheiten und konträren Festlegungen wie transportierten Weltbildern gekennzeichnet.53 Es ist kein Zufall, dass weder Platner als ›Vater‹ der Anthropologie, noch Baumgarten als Begründer der Ästhetik nach der Etablierung ihrer jeweiligen Disziplin eingehender rezipiert wurden. Sie hatten einen Namen und eine abgrenzbare Disziplin geschaffen, aber nicht ihre Gestalt abschließend bestimmen können. Vielmehr waren sie, als Ausgangspunkte, noch den Paradigmen anderer Disziplinen verpflichtet. Nach der ersten Konstituierungsphase, die mit einschneidenden Verschiebungen und Umwertungen bisher fest angelegter Begrifflichkeiten einherging, folgten mehr oder weniger konstante Phasen der Konsolidierung parallel verlaufender, miteinander unvereinbarer Untersuchungsstränge, die das neue Vokabular verfestigten und deren ursprüngliche Konnotation bisweilen fast vergessen machten.54 So war es bei der Ästhetik die sinnliche Erkenntnis mit noch starkem Bezug zur Wurzel, der Aisthesis und damit die Kunst, schön wahrzunehmen und schön zu denken, die immer mehr von sensualistischen, idealistischen und normativistischen Positionen überformt und schließlich nicht mehr als Teil der eigentlichen Ästhetik gewertet wurde. Der ästhetische Diskurs hat sich als eine Philosophie der Kunst vom erkenntnistheoretischen oder auch psychologischen abgespalten; Baumgartens Projekt einer notwendigen Erweiterung menschlicher Erkenntnismodi hatte zu einer 52 Zelle 2001, 5–24 spricht in dieser Hinsicht von einer »Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie«, vgl. Nowitzki 2003, 371, Marquard 1965, 227 f., Sauder 1974, 107, Zelle 1999, 40. Vgl. auch Dürbeck 1998, 180, die die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts durchsetzende Tendenz zur Betrachtung individueller Fälle, und damit der Abkehr von rationalen Systemen bzw. der Hinwendung zur empirischen Beobachtung betont. Das Individuelle wird, wie bei Moritz, zum Fall eines induktiv zu erschließenden Felds, nicht zum Beispiel deduktiv erworbenen Wissens. 53 Vgl. Marquard 1971, 364; Hinske 1966, 421: »Die Unsicherheit der Methode aber, die ihre Anfänge charakterisiert, hat die Geschichte der philosophischen Anthropologie tiefgreifend bestimmt.« 54 Zur Schwierigkeit mit Fachbegriffen im 18. Jh. siehe Nowitzki 2003, 28: »Die wissenschaftliche Terminologie des 18. Jh. war noch nicht, wie heute, definitorisch eingeschmolzene geschichtslose Begrifflichkeit, die den alltagssprachlichen Bezug im Bewußtsein der Sprecher verloren und sich zu einer bloßen Ansammlung von termini technici gewandelt hat. Ganz im Gegenteil, sie schillert noch in einer verwirrenden semantischen Vielfarbigkeit und ist alles andere als jedweden metaphorischen Nebensinns entkleidete, nackte, sog. klare Terminologie, und als solche objektive Wahrheit generierende Begrifflichkeit.« Damit einhergehend ist eine gewisse, den späteren Leser verwirrende »terminologische Konservativität« zu verzeichnen – Kant verwendete bisweilen denselben Begriff wie Wolff, meint aber etwas ganz anderes. »Das Neue zeigt sich hier wie dort [im popularphilosophischen wie belletristischen Schrifttum] stets im Alten, für den heutigen Leser nur erkennbar an feinsten, kaum spürbaren Nuancierungen, was es mitunter äußerst kompliziert macht […], gerade die innovativen Momente in der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, von Altem und Neuem aufzuweisen.« (ebd.)
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Diversifizierung geführt, in der sich Erkenntnistheorie, Psychologie und Ästhetik als Theorie des Schönen oder Kunstphilosophie weiter voneinander entfernten. Ähnlich erging es dem »anthropologischen« Diskurs.55 Wäre eine einheitliche Rekonstruktion einer so zu nennenden Debatte angestrebt, so müsste gerade für die Anfangsphase mit der Unterstellung gearbeitet werden, die betreffenden Protagonisten seien sich tatsächlich bewusst gewesen, für welches künftige Weltbild sie die Vorarbeit leisteten. In dieser Lesart ist Anthropologie »schon immer« physiologisch, naturwissenschaftlich, anti-metaphysisch und anti-theologisch orientiert. Es steht jedoch anhand der im vorangegangenen erwähnten anderweitigen Strömungen zu vermuten, dass sich die Lage innerhalb dieser Konstituierungsphase anders darstellte. Damit schließt sich diese Arbeit an die Kritik von Garber und Thoma an: Es ist misslich, die »anthropologische Wende« der Aufklärungszeit »vorwiegend als Empirisierungs- bzw. Naturalisierungsvorgang« zu deuten, da somit »die in Anthropologie- und Naturdeutung eingelassene normative bzw. kulturelle Dimension« vernachlässigt wird.56 Aus der Perspektive einer methodisch und inhaltlich ausgereifteren Wissenschaft wie der modernen philosophischen Anthropologie mag es daher im Rückblick seltsam erscheinen, auch die Philosophie Moses Mendelssohns mit in ihre Geburtsstunde aufzunehmen, war doch der Berliner Aufklärer eher für seinen metaphysischen Rationalismus oder allenfalls seine Arbeiten zur Ästhetik bekannt. Die These, Mendelssohns Philosophie sei als eine Anthropologie zu verstehen, kann also nur im Rückgriff auf die Ausgangslage der anthropologischen Debatte verstanden werden. Wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, Mendelssohns »Suche nach dem Menschen« als eine Anthropologie zu beschreiben57, heißt dies nicht, dass sie an den Inhalten der schließlich etablierten wissenschaftlichen 55
Siehe dazu zwei grundlegende Untersuchungen: J. Heinz 1996 befasst sich mit der ästhetischen Dimension des anthropologischen Diskurses im spätaufklärerischen Roman; Nowitzki 2003 untersucht die »genuinen Wurzeln« der Anthropologie in den Theorien der »Vernünftigen Ärzte« (er bespricht u. a. Krüger, Unzer und Platner, um schließlich Wezels Versuch über die Kenntniß des Menschen (1784/85) als ein Gegenmodell, das »einen in seiner Zeit singulären holistisch-sensualistischen Anthropologiebegriff« (Nowitzki 2003, 9) entwickelt, hervorzuheben). Die von Nowitzki 2003, 11–27 ausgemachten Problemfelder anthropologischer Forschung: das Konzept der »Maschine«, das Commercium-Problem und die Methodenbestimmung anthropologischer Forschung sind jedoch für die Richtung, die Mendelssohns Denken verfolgt, kaum paradigmatisch, sondern engen den Anthropologiebegriff von vornherein auf physiologisch dominierte Positionen ein. Mareta Lindens Begriffsgeschichtlicher Untersuchung von 1976 und den Arbeiten über den Problemkomplex der »Bestimmung des Menschen«, der ebenfalls in Versuche einer Philosophie des Menschen mündet, folgend, soll hier jedoch ein weiterer Begriff von Anthropologie grundlegend sein. 56 Im Vorwort des Sammelbands Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen 2004 (=Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 24), VIII mit Bezug auf Schings 1994. 57 Dies wurde u. a. von Ebeling/Zelle 1992, 149 als ein Desiderat der Mendelssohn-Forschung herausgestellt.
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Disziplin gemessen wird. Vielmehr wird zu zeigen sein, welche Bestandteile nach Mendelssohns Philosophie für eine »vernünftige«, »rationalistische« oder »philosophische Anthropologie«58 letztlich essentiell wären, die sich durch ihr Interesse an der menschlichen Kultur auszeichnet. Sein Bemühen geht weder auf die Erfassung menschlicher Vielfalt in einer synchronen Betrachtungsweise – wie es für die Geburt der Ethnologie aus Disziplinen wie Kants physischer Geographie der Fall ist – und auch nicht allein auf eine diachrone geschichtsphilosophische Betrachtung, sondern setzt am Individuum und die es konstituierenden natürlichen und kulturellen Bestimmungen an. Das macht seine Sichtweise bisweilen etwas naiv, unterstellt sie doch eine unwandelbare, aus göttlicher Hand stammende Menschennatur. Doch zugleich scheint sie ein wichtiges Korrektiv für grassierende Biologismen bzw. euphorisch teleologische Fortschrittsmodelle darzustellen, indem sie die zwar kulturverbundene, aber letztlich an eine umfassende Rationalität gebundene Bildungsfähigkeit des Menschen zu durchdringen versucht. In einer solchen Untersuchung gilt es, bei aller Sympathie für den Gegenstand, den historischen Rahmen zu wahren59 und also Mendelssohn im Kontext seiner Zeit und auch seiner Zeitgebundenheit zu betrachten. Zugleich sollen Tendenzen, die eine »rationalistische Anthropologie« nachvollziehbar und anschlussfähig machen, reflektiert werden. »For Mendelssohn to philosophize is to look for appropriate distinctions within and across various phenomena, but with a confidence – in his eyes, as rational as it is devout – that there is a harmony to the real differences underlying those distinctions.« (Dahlstrom 2002, 618) Diese Grundeinstellung beinhaltet zwei Prämissen: zum einen die generelle Übereinstimmung zwischen Welt und Wahrnehmung60, zum anderen die positive hermeneutische Einstellung, zuerst Rationalität zu unterstellen und sie zu suchen, wo andere ein Chaos vermuten. Zusätzlich verpflichtet diese Ansicht zur analytischen Methode, wie Mendelssohn in seiner 1764 erschienenen Preisschrift ausführt. Letztlich lässt sich, so seine Voraussetzung, die Wahrheit durch Analyse verworrener Ideen oder Empfindungen herausarbeiten: Forschen ist Aus-Wickeln und Entdecken, nicht aber, abgelöst von den Gegebenheiten etwas Eigenes zu erfinden. Autonomie im strengen Sinne ist Mendelssohns Weltverständnis fremd; vielmehr bedeutet Wissen die Aufklärung verworrener Ideen, die Zurückführung des (ärmeren) Abstrakten in Konkretes, Vielschichtiges. Eine solche vielschichtige Idee ist die »Bestimmung des Menschen«, die Mendelssohns anthropologisches Interesse formt und leitet. 58
Vgl. Adler 1994, 134, der sie einer »theologischen« Spaldings und einer »sozialen Anthropologie« Abbts entgegensetzt. 59 »Wird der Mendelsohn’sche Diskurs aus seiner spezifischen Positionierung innerhalb der im 18. Jahrhundert akzeptierten Alternativen herausgerissen, so muß sein metaphysisches Gewand notwendig in sich zerfallen und man mag dahinter Altzopfigkeit und Apologie wittern.« (Goetschel 1997, 204) 60 So Cassirer 1929, 42 f.; vgl. hier Einleitung, 10.
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2. Die Bestimmung des Menschen Die grundlegenden Charakteristica Die »Bestimmung des Menschen« ist ohne Zweifel eine »Basisidee«61 der deutschen Aufklärung. Spaldings erbauliche Schrift dieses Titels erfreute sich außerordentlicher Auflagenstärke und großer Beliebtheit, und nahezu jeder Denker, der etwas auf sich hielt, führte diese Vokabel im Munde oder Buchtitel.62 Doch so einfach die Worte, so schwer deren nähere Erklärung, denn über die Extension der Bestimmungsfrage war man sich uneins. Dies zu übersehen verhindert ein angemessenes Verständnis des zuerst offenbarungstheologisch und metaphysisch, später anthropologisch und historiologisch geprägten Themenfelds.63 Deshalb ist hinsichtlich von Spaldings, Abbts und Mendelssohns Überlegungen zur Bestimmung des Menschen auch nicht von der Herausbildung der Anthropologie schlechthin, sondern einer Anthropologie zu sprechen (vgl. Nowitzki 2003, 19–27 m. w. V). Begriffsgeschichtlich von der i. S. v. einer einzigen Anthropologie im 18. Jahrhundert auszugehen, ist, wie die vorangegangenen Überlegungen zeigen sollten, ohnehin nicht möglich; zu mannigfaltig und einander diametral entgegengesetzt waren die Ansätze. Hier wird als Spezifizierung die »Bestimmungsdebatte« gewählt, um eine bestimmte Richtung des Diskurses über den Menschen anzudeuten. Nicht nur seine physiologische, sondern auch seine moralische und erkenntnistheoretische Bestimmtheit kommt damit verstärkt in den Blick.64 Insgesamt steht jede Arbeit über ›Anthropologie‹ im 18. Jh. vor dem Problem, nur einen Ausschnitt einer umfassenden Debatte liefern zu können. Der Begriff der jeweiligen Anthropologie entsteht damit erst im Durchgang durch die Themenfelder – die Gefahr dabei ist natürlich, sich die jeweils passende anthropologische Fragestellung zurechtzulegen und gegenläufige Entwicklungen zu ignorieren.
61
Hinske 1999, 3. Zum Ge- und Missbrauch dieser »griffigen Formel« vgl. auch Jannidis 2002. Auch versteckte Anleihen waren möglich; so bezeichnete Kant in einer Vorlesung Tetens 1777 erschienene Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung als »Bestimmung des Menschen« (1784/85 in Anthropologie-Mrongovius, AA XXV, 1322). 63 Das wissenschaftliche Interesse an der Bestimmung der »Bestimmung des Menschen« ist rege; dafür spricht nicht zuletzt der von Norbert Hinske herausgegebene Band 11.1 (1999), der neben einschlägigen Untersuchungen auch einen Nachdruck der neunten Auflage (1768) von Spaldings Werk enthält, sowie das Themenheft Aufklärung und Anthropologie, Bd. 14 (2002) der Halbjahresschrift Aufklärung. 64 Es ist hierbei auch mit Bödeker 1981, 228 gegen Linden 1976, III darauf hinzuweisen, dass der Diskurs über die menschliche Bestimmung nicht allein theologische Elemente enthielt, sondern sich gerade in der »anthropologischen Wende« von diesem umfassenden Gebiet entfernte. Der Hinwendung zur Lebenswelt (Bödeker: diese Fragen konvergierten »auf seine Menschennatur, auf sein Verhalten, auf die Gestaltung seiner Lebenswelt«) ist jedoch nicht absolut. Immer bleibt ein bestimmender Aspekt, was an der menschlichen Natur auch auf seine »Jenseitigkeit« verweist. 62
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Auch deshalb wurde in dieser Arbeit ein personengebundener Ansatz gewählt. Es soll gezeigt werden, wie Mendelssohn die Frage nach dem Menschen auffasste, welche Antworten er zu geben versuchte und gegen wen er sich abgrenzte bzw. wem er sich anschloss. Dass ein aus Mendelssohns Philosophie extrahierter Anthropologiebegriff nicht gänzlich an der Realität des 18. Jahrhunderts vorbeiging, zeigen ›holistische‹ Definitionsversuche des Menschen im letzten Drittels des Jahrhunderts65, die sich mit Mendelssohns Position in Verbindung bringen lassen. Die Frage nach der menschlichen Bestimmung ist so alt wie die Philosophie selbst. Nicht zuletzt die mannigfaltigen Rückgriffe auf antike Quellen – zumeist in schlichter Zitatform – zeigen66, so auch Hinske (1999, 5 f.), dass ihre Aspekte in der Aufklärungszeit nicht allein in theologischen, sondern in ebenfalls an die Antike anknüpfenden naturphilosophischen Fragestellungen zu suchen sind. Auch die Diskussion zwischen Mendelssohn und Abbt, angestoßen von Abbts Versuch einer Rezension der siebten Auflage von Spaldings Schrift, zeigt diese Doppelsinnigkeit (siehe Kap. I.2). Dabei betont Hinske zu Recht, dass die anscheinende Vermischung der Zeitebenen und Themengebiete durch den Rückgriff auf antike Quellen nicht einfach eine »historische Arabeske« war. »Er ist vielmehr zugleich von hohem sachlichem Interesse. Er führt aufs anschaulichste vor Augen, daß die Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen zuerst und zunächst nicht etwa im Felde der Offenbarungstheologie, so wichtig diese auch sein mag, zu suchen ist. Die Antwort hat sich vielmehr zunächst auf die Bauform des Menschen zu gründen, auf charakteristische Merkmale seiner Existenz, die sich durch die verschiedensten Epochen in dieser oder jener Form durchhalten.« (Ders. 1999, 6) Das Gebiet der Bestimmungsdebatte entspricht also weitaus mehr demjenigen der zeitgenössischen Anthropologie, als dies prima facie den Anschein hat. Um einen Überblick über den Bedeutungsgehalt und die eingehenden Implikationen der Frage nach der »Bestimmung des Menschen« in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu geben, sei diese in Anlehnung an die begriffszentrierte Arbeit Jannidis’67 in drei Teilbereiche aufgespalten:
65
Mit Hinweis v. a. auf das Werk Wenzels und sich daran anschließender Schriften siehe Nowitzki 2003, 24 ff.; Linden 1976, 192–200; dort auch S. 200–15 zu einem entsprechenden Anthropologiebegriff in der Zeitschriftenkultur des späten 18. Jahrhunderts. 66 So beginnt auch Abbt in einer Anspielung auf Spalding, aber auch auf Shaftesbury (Miscellaneous Reflections III.1, in Characteristicks 2, 254) mit einem Zitat aus den Satirae von Aulus Persius Flaccus [III, 67]: »Quid sumus? et quidnam victuri gignimur?« – Was sind wir? und was ist unsere Bestimmung im Leben? (Übers. JubA VI/1, 220; siehe zu den weiteren Nachweisen Schwaiger 1999, 13) Er hebt mit dem Hinweis auf Shaftesbury auch hervor, dass der Mensch sich nicht in Bereichen, die ihn am nächsten angingen, dem Denken Anderer überlassen dürfe. 67 Vgl. Jannidis 2002, 81, 83 u. 84. Ähnlich auch D’Alessandro 1999, 21 f. Es ist hier hervorzuheben, dass Jannidis sich v. a. mit der Frage nach der Verwendung des Phraseologems »Bestim-
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a) Natur des Menschen b) Mensch und Menschheit c) Zweck des Menschen Alle diese Bereiche stellten, verstärkt ab ca. 1750, die Zentren der Bestimmungsdebatte dar; die in ihnen enthaltenen Fragestellungen und Antworten unterliegen einer starken Dynamik, die sich nur schwerlich nachvollziehen und angemessen fassen lässt. In einer ersten Annäherung sollen daher lediglich die zur Diskussion stehenden Bereiche umrissen und ihre jeweilige interne Dynamik wenigstens in Stichpunkten reflektiert werden. Da die vorliegende Untersuchung auf Moses Mendelssohns Philosophie als einer Suche nach dem Menschen und einer Beschreibung von dessen »Facetten« konzentriert ist, wird von allzu kühnen – und in Anbetracht der nahezu unübersehbaren Sachlage auch vermessenen – weitergehenden Urteilen abgesehen.
a) Menschliche Natur Dieser Untersuchungsstrang ist am engsten mit dem im vorherigen Abschnitt exponierten Begriff der Anthropologie verwandt. Das, was Mendelssohn später (explizit 1782) als »Bestimmung« im Gegensatz zu seiner »Wiedmung« abgrenzt, ließe sich auch in einem ersten Schritt als die Frage nach der menschlichen Determination bzw. Definition und damit dem Bedeutungsgehalt des Begriffs »menschliche Natur« auffassen.68 Welche Rolle spielten die Aspekte der Körperlichkeit, des Denkens und Fühlens und inwiefern wirken diese verschiedenen Konstitutionsebenen zusammen? Neben der rein geistigen Dimension der Überlegungen und zumeist des Überlegungsgegenstandes wurde dabei auch die körperliche Dimension des Menschen in den Blick genommen; die oben genannten Ebenen anthropologischer Fragestellungen sind also ebenfalls relevant. Die Besonderheit innerhalb der Bestimmungsdebatte war, dass die Überlegungen hinsichtlich physischer und psychischer Konstitution des Menschen immer auch auf die alles überlagernde Dimension seiner Zweckhaftigkeit hin mung des Menschen«, nicht mit seinem begrifflichen Umfeld auseinandersetzt. Deshalb sind die Ergebnisse seiner Studie tatsächlich für den philosophisch relevanten Fragekomplex nach dem begrifflichen Umfang der Bestimmung des Menschen nur als eine Vorstudie anzusehen, wie er selbst festhält (Jannidis 2002, 78, 80). 68 Bei Tetens war die Beantwortung dieser Frage ebenfalls grundlegend für jede weiter anthropologische Untersuchung: »Allemal aber kann die Frage: was kann aus dem Menschen werden, und was und wie soll man es aus ihm machen? nur gründlich und bestimmt beantwortet werden, wenn die theoretische: was ist der Mensch? was wird er und wie wird ers in den Umständen und unter dem Einflusse der moralischen und physischen Ursachen, unter denen er in der Welt sich befindet? vorher bestimmt und deutlich beantwortet ist.« in: Ders.: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. II, 373.
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interpretiert wurde. Die leitenden Fragestellungen gingen also schon an dieser Stelle über das allein Vorfindliche hinaus und lassen sich auf die Frage hin konzentrieren, auf was die menschliche Natur deute. Gibt es hier überhaupt einen verlässlichen Verweisungszusammenhang zwischen dem, was der Mensch ist und dem, was er sein soll, oder sein kann? Oder hat man es in dieser Hinsicht gar mit einander widerstreitenden »Hinweisen« zu tun? 69 Dabei avancierte auch in der deutschsprachigen Debatte der Begriff der Perfectibilité zu einem Kernkonzept, das Lessing und Mendelssohn in ihrer Debatte über Rousseaus zweiten Discours einführten.70 Lessing verdeutschte ihn zwanglos zur Perfektibilität, Mendelssohn bezeichnete ihn etwas umständlicher, dabei seinen damit verbundenen Rückgriff auf Leibniz stärker betonend, als Vervollkommnungsfähigkeit.71 Die Anwendung des Perfektibilitätskonzepts spiegelt die zweifache Hinsicht einer auf den Menschen zentrierten Forschung wider. Zum einen wird der Mensch als ein unvollkommenes Wesen verstanden, das mit der Geburt weniger fertige Eigenschaften, als seine nahezu universelle Adaptionsfähigkeit mitbringt. Zum anderen zeigt diese Offenheit zur Vervollkommnung der Anlagen – so zumindest die gängige Ansicht – eine bestimmte Richtung, die zumindest über die Einstufung des Menschen als eines bloß sensitiv bestimmten Naturwesens hinausweist. Damit enthält der Begriff auch eine normative Dimension, indem er auf die grundlegenden Konzepte der Aufklärung: Mündigkeit, Selbsttätigkeit und Selbstvervollkommnung angewendet wurde und den sich vervollkommnenden Menschen auf seine Aufgabe, die Verteidigung der sinnstiftenden Instanzen, festzulegen versuchte.
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Es ist auffällig, dass auch Platner in seiner Anthropologie (1772) diesen Ausgangspunkt wählt. Gleich der erste Paragraph bietet, so hält auch Nowitzki 2003, 184 fest, einen »teleologischen Ansatz«: wenn man etwas über die Natur des Menschen sagen wolle, müsse man sein Ziel – bzw. das Ziel Gottes bei der Erschaffung des Menschen – kennen. Menschlicher Zweck sei seine Glückseligkeit, zu deren Erreichung Gott den Menschen mit Vernunft begabt erschaffen habe. 70 »Aber die neuerdings aufgestellte These, daß schon Leibniz das für die Aufklärung so wichtige Schlüsselwort der Perfektibilität ›eingeführt‹ habe, hält einer Nachprüfung nicht stand. Die frühesten Belege, die sich bei Lessing, Mendelssohn, Reimarus und Tetens finden, zeigen vielmehr, daß der Perfektibilitätsbegriff erst während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Rousseaus Schriften in den deutschen Sprachraum übernommen wurde.« (Hornig 1980, 224) Dennoch ist im deutschen Sprachraum die an Leibniz’ Denken angelehnte Interpretation der Vervollkommnungsfähigkeit augenfällig. Vgl. Hermann Samuel Reimarus: Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, 3. Aufl. 1766 und 4. Aufl. 1772. Dieser fasst Perfektibilität nicht, wie Lessing, als »ruhende Eigenschaft oder bloße Potenz«, sondern als »wirksame Seelenkraft« auf (Hornig 1980, 226). Johann Nikolaus Tetens Schrift Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1777) bezeichnet »den Grundcharakter des Menschen als ›Perfektibilität an Selbstmacht‹, als ›perfektible Selbsttätigkeit‹ und als ›Perfektibilität der menschlichen Seele‹« (Hornig 1980, 227). Die Verweise auf den Aspekt der Selbsttätigkeit der Monade sind deutlich. 71 Oder auch »Fähigkeit, sich zu vervollkommnen« (vgl. JubA VI/2, XXXVIII, 102).
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Insgesamt jedoch wurde die Vervollkommnungsfähigkeit im Zusammenhang mit ihrer Grundlage, der Vollkommenheit selbst, zusammengedacht und manifestierte den anthropologischen Aspekt des aufklärerischen Fortschrittsoptimismus. Auch die »Nachwirkungen des Vollkommenheitsbegriffs der antiken Philosophie und die Einflüsse von christlichen Glaubensvorstellungen« (Hornig 1980, 222) waren dabei virulent, indem die sich in der Geschichte zeigende menschliche Entwicklung als ein Verbesserungs- oder gar ein Heilsgeschehen reformuliert wurde. Mendelssohn übernimmt Teile dieser Elemente spätestens mit dem Rückgriff auf Leibniz’ Philosophie.72 Vollkommenheit, als das Prädikat Gottes (oder gar als ein göttliches Prädikat), ist kein Ausdruck quantitativer, sondern qualitativ absoluter Größe. Eigenschaften, von denen keine Schranke denkbar ist, können der Vollkommenheit zugerechnet werden.73 Zugleich bildet der Begriff der Vollkommenheit auch den Ausdruck der Realität einer Sache, denn »wenn ein existierendes A gedacht wird, wird mehr an Realität gedacht, als wenn ein mögliches A gedacht wird.«74 Die Kriterien, die Leibniz für die Vollkommenheit festlegt, sind auch für die Interpretation von Mendelssohns Denken von großer Wichtigkeit: Vollkommenheit ist Realität (Mendelssohn nennt dies: bejahende Eigenschaften), Kraftäußerung und Zusammenstimmung der Eigenschaften zu einem gemeinsamen Endzweck und damit Zusammenstimmung in einer Einheit. Von Wolff wurde sie handhabbar definiert als »perfectio est consensus in varietate, seu plurimum a se invicem differentium in uno« (»Vollkommenheit ist die Übereinstimmung in der Mannigfaltigkeit oder des Vielen, das unter sich different
72
Am elaboriertesten verteidigt und begründet Leibniz diese Konzeption in der Theodicée und in der von der Erklärung der Monaden zum »Gottesstaat« (§§ 85 f.) aufsteigenden Monadologie bzw. in den Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison. 73 Vgl. Monadologie § 41. In der an die Theodicée angeschlossenen Abhandlung Über den Ursprung des Übels (S. 422) weist Leibniz auf die Möglichkeit einer menschlichen Gottesvorstellung hin, »daß die Gottesidee aus der Idee von uns selbst durch die Aufhebung der Schranken unserer Vollkommenheiten entsteht, wie die Ausdehnung im absoluten Sinne in der Idee einer Kugel inbegriffen ist.« Dies heißt nicht, dass die Gottesidee durch diesen Abstraktionsvorgang etabliert wird, sondern dass das über die menschlichen Grenzen hinausweisende Vermögen der Vorstellung einer Vollkommenheit auf diese Vollkommenheit selbst verweist. Vgl. Leibniz, Discours de métaphysique (1686), (Ders., Hauptschriften II, 343). Die Attribute Gottes sind vollkommen, wenn sie »vortrefflich« und »allen Forderungen, die man nur stellen kann, gemäß« sind. Wichtig ist allerdings, dass nicht die Vollkommenheit Gottes seine Taten gut macht (»Denn wie sollte man ihn für das, was er geschaffen, loben, wenn er gleich lobenswert wäre, falls er das Entgegengesetzte geschaffen hätte?«, ebd., 344), sondern sein Handeln gemäß des SvG es dem Menschen überhaupt erlaubt, von Güte zu sprechen. Güte und göttliche Handlung fällt damit ineins; es meint letztlich: bestbegründete Handlung innerhalb eines Systems ausweisbarer, rationaler Gründe. 74 »Patet etiam Existentiam esse perfectionem, seu augere realitatem, id est, cum concipitur A existens, plus realitatis concipi, quam cum concipitur A possibile.« Brief an A. Eckhard, in: GWL 1, 266. Vgl. Th. S. Hoffmann in Ritter, Bd. 11, 2001, 1115–32, hier 1127.
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ist, in Einem«, Philosophia prima, sive Ontologia (1730), § 503). Gerade über diesen Kriterienkatalog bestand allerdings auch zu Mendelssohns Zeit große Uneinigkeit. Angesichts von dessen Übernahmen der leibnizschen und leibnizianischen Philosophie möchte ich dafür argumentieren, dass er diese Kriterien der Vollkommenheit als eine Zusammenstimmung nach (Vernunft)Gründen versteht und zugleich auf die ontologische Verfasstheit der Welt ausdehnt. Indem er nämlich allein mit spekulativen Überlegungen die gesamte Wirklichkeit adäquat zu erfassen vermeint, so sind die flankierenden Bedingungen dieses Denkens zugleich Gesetze dieser Wirklichkeit. Die Vorstellung einer vollkommenen Zusammenstimmung beruht dabei auf der universellen Gültigkeit des Satzes der Identität bzw. vom ausgeschlossenen Widerspruch (SvW) und auf dem Prinzip des zureichenden Grundes (SvG).75 Gelten diese nicht, so ist weder rationale Welt- noch Gotteserkenntnis möglich; handelt Gott ohne zureichenden Grund, können wir dieses Handeln nicht zureichend beschreiben, erklären und begründen. Indem aber rational argumentiert wird, finden die genannten Prinzipien Anwendung. Wo immer Überlegung und Begründung auftritt, müssen sie gelten – sonst ist Überlegung und Begründung selbst nicht möglich.76 In seiner universellen Anwendung auf das oberste Prinzip der Vollkommenheit zeigt sich die normative Grundlage rationalistischen Denkens: Nur das kann als wahr gelten, für das es einen zureichenden Grund gibt. Die Rede von Wahrheit ist damit immer auch die Rede von einer begründbaren Wahrheit. Leibniz’ Philosophie kann so als der groß angelegte Versuch gelten, Tendenzen der Zersplitterung und Vereinseitigung seiner Zeit wieder unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Der Satz vom zureichenden Grund sollte noch einmal die vielen Begriffe der »causa« zusammenführen: er ist zugleich ein Prinzip logischer Erklärung wie auch das Gesetz der in sich zufälligen Ereignisse (vgl. Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, Abschnitt 11.) Die traditionellen Begründungsansätze 75
Siehe Leibniz, De libertate, Hauptschriften II, 654–60; ebenso Monadologie, §§ 31 ff., Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, Abschnitt 7, Theodicée, Discours préliminaire, 34 f. (Abschnitt 2) und Teil I, § 44. Wolff definiert das Prinzip folgendermaßen: »Per rationem sufficientem intelligimus id, unde intelligitur, cur aliquid sit.« (Unter einem zureichendem Grunde versteht man das, aus dem eingesehen wird, warum etwas ist.) Um daran sogleich anzuschließen: »Nihil est sine ratione sufficiente, cur potius sit quam non sit.« (Nichts ist ohne zureichenden Grund, warum etwas eher ist als nicht ist. Ontologia, § 70). 76 Vgl. damit die Funktion des frühaufklärerischen Gottesbegriffs, der laut Buschmann 1989a, 53 »als höchste Instanz der Rationalität im Sinne einer Vernünftigkeit des Weltprozesses« fungiert. Gott ist ein (logisches) Prinzip, das die Welt davor bewahrt, neben dem Verstand zu existieren. Mit einem solchen Gottesbegriff ist die Welt zugleich immer – je nach Verstandesleistung – dem Denken zugänglich und durch es vollständig nach Prinzipien beschreibbar. Mendelssohn hat diese grundsätzliche Applizierbarkeit auch als Quelle der rationalen Begründung von physiologischen, psychologischen, moralischen und anthropologischen Gesetzen genutzt. So Leibniz in der Théodicée (Hauptschriften IV, 4): »Gott ist die Ordnung selbst, in ihm herrscht strenge Folgerichtigkeit der Beziehungen und er ist mit der universellen Harmonie identisch.«
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werden von ihm damit als unterschiedliche Anwendungsfälle eines logischen Prinzips reformuliert »und die logische, ontologische, kausale und teleologische Begründung [erweisen sich] bloß als verschiedene Aspekte derselben Sache«77, nämlich der Rationalität Gottes. Dieser erschuf die beste aller möglichen Welten nicht deshalb, weil sie die einzig mögliche war, sondern weil sie dem göttlichen Wohlgefallen am besten Prinzip am vollkommensten entsprach. Dass damit die normativen Prinzipien auch ontologische werden, wurde dabei nicht nur von Kant, sondern auch von Abbt, Herder und anderen kritisiert. Ich werde in den gegebenen Kontexten darauf zurückkommen. Es liegt mir in meiner Arbeit jedoch nicht daran, diesen Beweis und seine Widerlegungen zu untersuchen oder gar neue Beweise vorzulegen; hier ist m.E. die Kantische Wende eindeutig und unumkehrbar vollzogen. Vielmehr soll das Prinzip als eine grundlegende Hypothese in Mendelssohns Philosophie über die rationale Einrichtung der Welt angenommen werden, an das sich – so der Versuch – ein möglichst lückenloses Netz anderer rationaler Sätze anschließen sollen. Wie in Kants transzendentaler Deduktion wird damit nicht ein Rückgang auf erste Gründe unternommen, sondern, dem juristischen Sprachgebrauch der Zeit gemäß, der Erweis einer Berechtigung formuliert, indem die Bedingungen der Möglichkeit erwiesen werden78; es entsteht ein menschlich einsehbares Begründungsnetz, und kein gottgegebener Katalog einander unverbundener Grundsätze – in Bezug auf dessen fundamentale Geltung ohnehin die Frage nach unserer diesbezüglichen Einsichtsfähigkeit und der Berechtigung unserer Festlegung auf sie entstünde. Mendelssohns Annahme der Gültigkeit rationaler Prinzipien soll also insofern geteilt und daraufhin befragt werden, inwiefern die Geltung dieser Prinzipien die menschliche Erkennbarkeit der Welt zu begründen und das Vollkommenheitspostulat auch aus anthropologischer Sicht zu stützen vermag. Dies heißt noch nicht, dass die ontologische Geltung der rationalen Grundsätze erwiesen ist (dies hat auch Mendelssohn so nie zu zeigen versucht, auch wenn er dies indirekt durch die von ihm unternommenen Gottesbeweise abzusichern suchte), sondern lediglich, dass sich mit diesen Grundsätzen ein konsistentes System gewinnen lässt – das allerdings in letzter Instanz den Schritt zur wahren Geltung nicht vollziehen kann. Die Fragen, inwieweit 77
Hans-Jürgen Engfer: Artikel »Principium rationis sufficientis«, in: Ritter 7, 1325–36, hier
1327. 78 Kant spricht in der zweiten Auflage der KrV in der Deduktion von einer Parallelisierung mit dem Recht (das schon durch die grundlegende Frage »quid juris?« von der der empirischen Deduktion »quid facti?« abgegrenzt wird) von einer Anzeige der »Rechtmäßigkeit«, die festlegt, woraus der »Besitz« an einer Sache entsprungen ist (KrV B 117=A 85) und wonach im vorliegenden Fall nicht nachzuweisen ist, dass es Kategorien gibt, sondern dass diese die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, und zwar der begrifflichen wie anschaulichen, sind. Vgl. zur Struktur dieses »juridischen« Beweises Dieter Henrich: »Kant’s Notion of a Deduction and the Methodological Background of the First Critique,« in: Kant’s Transcendental Deductions. The Three Critiques and the Opus Postumum. Ed. by Eckart Förster. Stanford 1989, 29–46.
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sich mit einem solchen System als rationale Prämisse arbeiten lässt und inwiefern das Vollkommenheitspostulat damit befriedigend reformuliert werden kann, sind in diesem Sinne leitend für die vorliegende Untersuchung. Ebenfalls ist hier von Belang, dass die feststehende (im Sinne einer statischen) Definition von Vollkommenheit und eine normativistische Auffassung der sie konstituierenden Gesetze im Verständnis der rationalistischen Auffassung menschlicher Perfektibilität zusammenhängen. Ohne Zweifel beinhaltet der Begriff der Vervollkommnung einen dynamischen Aspekt, der sich im Begriff der Vollkommenheit – als einer idealtypischen Beschreibung – so nicht ohne weiteres findet. In Bezug auf die Erklärung menschlicher Natur jedoch zeigt sich das dynamische Potential der Vollkommenheitsphilosophie als Lehre von der Vervollkommnung. Offensichtlich unterschied sich die göttliche Perspektive einer harmonisch zusammenstimmenden Welt von derjenigen des Menschen, der sich einem widersprüchlichen Gespinst unterschiedlichster Ereignisse ausgesetzt sah. Leibniz unterschied in diesem Sinne zwischen den Vernunft- und den Tatsachenwahrheiten. Erstere waren logisch notwendig und gehorchten dem SvW; letztere jedoch beschrieben die kontingenten, faktischen Wahrheiten, die sich im Modell einer vernünftigen und auf das Beste eingerichteten Welt aus dem Prinzip des zureichenden Grundes ergaben.79 Zugleich wirkt die Geltung des principium rationis sufficientis als Begründung der Vollkommenheit der Welt: da Gott nach dem besten Grund handelt und daher die beste aller möglichen Welten geschaffen hat, so ist sie vollkommen eingerichtet. Diese Vollkommenheit spiegelt sich in den in ihr herrschenden Prinzipien ebenso wider wie in den sie repräsentierenden Lebewesen. Hier greift auch die leibnizsche Vorstellung von der Doppelfunktion der monadischen Repraesentatio: Vorstellung und Darstellung sind eins, indem die Vorstellung der Monade zugleich die Verwirklichung der Welt in der Vorstellung bedeutet – immer aber aus individuellen Gesichtspunkten, je nach Standpunkt im Weltganzen. Der Blick auf die immer bestehende Vollkommenheit wird damit perspektiviert und dynamisiert, indem alle Monaden aus ihrem individuellen Standpunkt zum vollkommenen Einheitspunkt hinstreben und erst durch dieses Streben die Vollkommenheit verwirklichen. Dies zeigt auch Leibniz’ Definitionsversuch der Vollkommenheit, wie dieser ihn umfassend in der Abhandlung »Von der Weisheit« erläutert und zugleich mit anderen Schlüsselbegriffen des rationalistischen Denkens in Zusammenhang bringt: »Vollkommenheit nenne ich alle Erhöhung des Wesens, denn wie die Krankheit gleichsam eine Erniedrigung ist und ein Abfall von der Gesundheit, also ist die Vollkommenheit etwas, so über die Gesundheit steiget; die Gesundheit aber selbst
79
Vgl. Altmann 1982, 140. Siehe Leibniz Theodiée, Discours préliminaire, 34. Vorausbestimmung, Präformation ist »von richtender, niemals von nötigender Art« (30 und 34 (Abs. 2).
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bestehet in Mittel und in der Waage, und leget den Grund zur Vollkommenheit. Gleichwie nun die Krankheit herkommet von verletzter Wirkung, wie solches der Arzneiverständige wohl bemerket, also erzeiget sich hingegen die Vollkommenheit in einer gewissen Kraft zu wirken, wie denn alles Wesen in einer gewissen Kraft bestehet, und je größer die Kraft, je höher und freier das Wesen. Ferner bei aller Kraft, je größer sie ist, je mehr zeiget sich dabei Viel aus einem und in einem, indem Eines viele außer sich regieret, und in sich vorbildet. Nun die Einigkeit in der Vielheit ist nichts anders, als die Übereinstimmung, und weil eines zu diesem näher stimmet, als zu jenem, so fließet daraus die Ordnung, von welcher alle Schönheit herkommet, und die Schönheit erwecket Liebe. Daraus sieht man nun, wie Glückseligkeit, Lust, Liebe, Vollkommenheit, Wesen, Kraft, Freiheit, Übereinstimmung, Ordnung und Schönheit miteinander verbunden, welches von Wenigen recht eingesehen wird.« (Leibniz, Hauptschriften II, 651, Hervorhebungen A.P.) Auffällig ist die Definition der Vollkommenheit nicht nur in ihrer vielfältigen Ausprägung, die die Verbundenheit der einzelnen auch Mendelssohns philosophische Position bestimmenden Faktoren anzeigt, sondern auch die aktivische Beschreibung: Vollkommenheit ist die Erhöhung des Wesens, nicht seine bereits erreichte Erhabenheit. Damit ist die Welt nicht allein ein Mannigfaltiges, das zu einer Einheit, der Idee Gottes, übereinstimmt, sondern zugleich ein Mannigfaltiges, das diese Übereinstimmung immer wieder herstellt. Jahrzehnte später hat Christan Garve mit seiner – kritischen – Definition des Vollkommenheitsbegriffs in der wolffianischen Schulphilosophie eine in dieser Hinsicht interessante Anmerkung gemacht. In seiner Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre (zuerst 1798)80 benennt er Wolffs Definition der Vollkommenheit als »die Uebereinstimmung des in einem Dinge vorhandenen Mannigfaltigen zu Einem« (Garve 1986, 178 f.) und bemerkt dazu in einer Fußnote: »Ich bediene mich hier des bey den Wolfianern gewöhnlichen Ausdruckes: ob er gleich etwas dunkel ist. Es soll die Uebereinstimmung zu einem gemeinschaftlichen Endzwecke, oder zur Unterstützung der 80
Darüber hinaus stellt Garve in seiner – sehr kurzen – Darstellung der Wolffianischen Vollkommenheitslehre fest, dass Vollkommenheit nicht allen (auch leblosen) Dingen zukommen kann, sondern nur Menschen und Tieren, die als »lebendige und vernünftige Wesen […] ihrer selbst bewußt sind« (Garve 1986, 178). Dinge sind nur vollkommen in Bezug auf uns, was ein »Rationalist« oder »Wolffianer« wie Mendelssohn gar nicht bestritten hatte. Im zweiten Gespräch des Phädon beispielsweise legt er das oberste Prinzip der Einheit in die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in der Seele. Nach Garve jedoch haben die »Wolffianer« und Leibniz-Adepten allein auf die Ordnung der Dinge achtgegeben, nicht aber auf die sie zusammenhaltenden Prinzipien. Garve selbst gründet in Anlehnung an Kant, dem das Werk gewidmet ist, alles in das vereinigende Prinzip des Ich denke; allerdings scheint seine Interpretation dieses obersten Prinzips »subjektivistischer«, als Kant dies intendierte.
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Thätigkeit eines gewissen Hauptteils, oder zur Hervorbringung einer gewissen Form, oder alles dieß zugleich anzeigen. Vielleicht aber ist diese Unbestimmtheit des Ausdrukkes selbst das beste Kennzeichen von dem Werthe der Definition.« (Garve 1986, 179, Hervorhebungen A.P.)81 Mit der letzten Bemerkung muss nicht – wie bei Garve intendiert – allein das Defizit dieser Definition bezeichnet sein, sondern auch ihre Offenheit gegenüber verschiedenen Lesarten. Durchaus ist es also möglich, in der Vollkommenheit »an sich« auch ein Bestreben zur Vollkommenheit enthalten vorzustellen. Auf die Mehrdeutigkeit dieser Definition hatte auch Mendelssohn bereits 1755 in Anmerkung l) (1771: Anm. r) der Briefe über die Empfindungen hingewiesen. Dort kontrastiert er die Definition Leibniz’ von der Vollkommenheit der Seele als dem Grad der Klarheit ihrer Vorstellungen (was Leibniz mit »Realität« übersetzt) mit der Wolffschen Festlegung, dass Vollkommenheit vielmehr ein »Bestreben etwas gemeinschaftlich zu erhalten« sei (vgl. Theologia naturalis, Bd. 2, § 15) und versucht, beide miteinander zu vereinbaren. Ihre jeweilige Gültigkeit gewinnen sie über die Bestimmung ihres Gegenstandsbereiches; Leibniz lege den Schwerpunkt, so drückt Mendelssohn dies hier vereinfachend aus, auf einfache, Wolff auf zusammengesetzte Gegenstände. Der Grad der Vollkommenheit der einfachen Entität »Seele« als die Klarheit ihrer Vorstellungen kann somit zugleich mit dem Grad der Vollkommenheit des zusammengesetzten Wesens »Mensch« als eines Wesens, das bestrebt ist, seinen Vorstellungen eine Einheit zu geben, bestehen. Vollkommenheit wird demnach in der rationalistischen Schulphilosophie, um sie einmal mit einem solchen schlichten Sammelbegriff zu benennen, nicht allein als ein allgemeines Seinsprädikat verstanden (vgl. Baumgarten, Metaphysica, §§ 94–100). Mit inbegriffen ist auch ihre dynamistische Wendung im Begriff der Vervollkommnung, die zwar als Begriff erst mit der Rousseau-Rezeption auch in Deutschland ihren Siegeszug antritt (vgl. Kap. II.1), aber der Sache nach auch von Leibniz, Wolff und Baumgarten angedacht wurde. Wie erwähnt, haben sich Mendelssohn und Lessing in ihrer Rousseau-Interpretation explizit dieser Richtung zugewandt. Schon in der Definition der Vollkommenheit scheint damit die Vervollkommnung ebenfalls erfasst. So auch die Interpretation Cassirers: »Die Leibnizische ›Monade‹ ist dynamische Einheit […] und ist nur, sofern sie tätig ist. […] Und niemals ist 81
Garve selbst zielt im betreffenden Abschnitt seiner Schrift auf die Begründung der Moralität im Vollkommenheitsparadigma ab. Ihm zufolge müsse die genannte, rein formale Definition der Vollkommenheit bereits die moralische Güte des Menschen voraussetzen, könne sie aber nicht begründen. Definiere man auch die ästhetische Vollkommenheit derart, dann sei bloß das Nützliche benannt, denn in ihm müsste ebenfalls alles zu einem gemeinschaftlichen Endzweck zusammenstimmen (Garve 1986, 180). Leider behandelt Garve diese Problematik so kurz wie polemisch; sich an Wolff anschließende Denker wie Mendelssohn tauchen gar nicht auf und werden durch diese Überzeichnung auch nicht adäquat getroffen.
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einer dieser Momente dem andern schlechthin gleich; niemals läßt er sich in dieselbe Summe rein statischer ›Eigenschaften‹ auflösen. Jede Bestimmtheit, die wir hier vorfinden, ist vielmehr nur im Übergang zu fassen. Ihre Erkennbarkeit, ihre rationale Erfaßbarkeit beruht nicht darauf, daß wir sie in einem einzelnen Merkmal fixieren können, sondern daß wir die Regel dieses Übergangs ins Auge fassen, daß wir ihn in seiner spezifischen Gesetzlichkeit vergegenwärtigen können. […] An die Stelle jener analytischen Identität, wie sie für Descartes und Spinoza gilt, ist hier das Prinzip der Kontinuität getreten. Auf ihn baut sich Leibniz’ Mathematik und seine gesamte Metaphysik auf. Kontinuität bedeutet Einheit in der Vielheit, Sein im Werden, Beharrlichkeit im Wandel. Sie besagt einen Zusammenhang, der sich nur im Wechsel und in der stetigen Andersheit von Bestimmungen ausdrücken kann – der daher die Mannigfaltigkeit ebenso notwendig, ebenso ursprünglich und wesentlich wie die Einheit fordert.« (Cassirer 1932, 38 f.) Die das Weltganze auch im verworrenen repräsentierende und sich vervollkommnende Monade erkennt nach dem SvG ihre Welt – auch Mendelssohns an dieses Konzept angelehnten anthropologischen Überlegungen lassen sich als eine Ausformulierung dieses Prinzips benennen. Dass Leibniz’ Metaphysik in einer derart dynamistischen Lesart, wie sie hier stellvertretend für viele Cassirer vorstellt, überhaupt lesbar erscheint, mag nicht zuletzt an ihm nachfolgenden Philosophen wie Mendelssohn liegen. Im Begriff der Monade, ihrem eigentlichen Wesen, liegt damit bereits in ihrer Definition als Kraftzentrum »von Beginn an das Moment der Entwicklung«82. Diese Entwicklung auf ein Ziel hin und aus einer bereits existierenden Einheit heraus prägt die Vorstellung menschlicher Determination in der Diskussion um die Bestimmung des Menschen. Dabei ist zuletzt auch der eudaimonistische Aspekt der Monadenkonzeption nicht zu übergehen, der zugleich auf die menschliche Destination hinweist: die Erfüllung der Vorstellungstätigkeit, die Verbindung der Vorstellungen zu einer möglichst klaren und deutlichen Einheit wird mit Lust erlebt und erweckt Vergnügen; schlussendlich macht erst dies glückselig.83 Dieser nexus zwischen Vollkommenheit, Vergnügen und Glückseligkeit findet sich auch in den leibnizianisch bestimmten Vorstellungen von Moral- und Staatsphilosophie wieder: Zweck des Menschen ist eine bestimmte, »wahre« – weil rationale,
82
Paetzold 1983, XVI f. und Totok 1986, 182. Lessing und Mendelssohn weisen auch in Pope, ein Metaphysiker! (1756) auf die dynamische Komponente in Leibniz’ Monadenkonzept hin. 83 Die bloße Synonyma-Häufung von »Vollkommenheit« in der Schrift Von der Weisheit (vgl. Hauptschriften II, 651) hat Leibniz in den systematischer orientierten Vernunftrinzipien der Natur und der Gnade, der Metaphysischen Abhandlung und v. a. der Monadologie geordnet. Dabei wird die zur Glückseligkeit leitende Lust nicht mehr schlicht der Vollkommenheit beigestellt, sondern erhält einen funktionalen Aspekt, indem sie als das Strebensmoment der Monade begriffen wird, das ihre Kraft/Vorstellungsäußerung steuert. Siehe Monadologie, §§ 10–19.
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nicht allein emotive – Form der Glückseligkeit; sie ist Voraussetzung seines Handelns und der Verbindungen zu anderen Menschen.
b) Mensch und Menschheit Neben der Betrachtung des Menschen als einem noch zu spezifizierenden Wesen trat die Untersuchung der Menschheit als Gattung. Die Frage nach der menschlichen Natur führte, spätestens nach Rousseaus zweitem Discours 84, das Problem mit sich, von welchem Standpunkt aus diese in den Blick genommen werden musste. Dabei bildete sich als methodologische Ausgangsbasis der Rückgriff auf einen »Naturzustand« des Menschen heraus. Der Mensch als ein Mängelwesen85 an Instinkt, soviel schien klar, konnte nicht als ein Einzelwesen allein, sondern musste als ein geselliges, lernfähiges und -bedürftiges Wesen betrachtet werden. Unklar allerdings war, ob die individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit auch auf die Gattung Mensch als Ganzes übertragen werden konnte. Befand sich die gesamte menschliche Gattung auf dem Weg zur Vervollkommnung, oder kam diese Entwicklung nur dem Einzelnen zu, ja, störte die gesellschaftliche Einbindung seine Entwicklung gar? Musste ein einmal erreichter Entwicklungsstand immer neu erkämpft werden – und war damit immer in Gefahr, Rückschläge zu erleiden? Anders formuliert: bewirkte das menschliche Telos auch ein historisches? Oder beinhaltete die menschliche Perfektibilität nicht zugleich die fundamentale Gefahr seiner Korruptibilität86, so dass sich
84
Mendelssohn übersetzte dieses Werk schon 1756, also nur ein Jahr nach dessen Erscheinen. Mit Rousseau wird die Frage nach der menschlichen Natur wie seiner Bestimmung virulent; sei es in »anthropologischer«, moralphilosophischer oder staatstheoretischer Hinsicht; vgl. dazu ausführlich Kap. II.1. 85 In Anlehnung an den zentralen Begriff Arnold Gehlens; er ist der Sache nach in den Konstruktionen des Naturzustands, z. B. bei Rousseau, schon deutlich vorhanden. 86 Das weitgehende Fehlen dieser notwendigen Ergänzung des beherrschenden Begriffs der Perfektibilität bemerkt Jannidis 2004, 9. Hornig 1980, 225 hält fest, dass der kontradiktorische (also die Perfektibilität ausschließende) Begriff derjenige der »Imperfektibilität« sei, was allerdings eine Unveränderlichkeit impliziere. »Korruptibilität« dagegen könne »von den gleichen Personen, Phänomenen oder Institutionen ausgesagt werden, von denen auch die ›Perfektibilität‹ behauptet wird. Wie sich etwas vervollkommnen kann, so kann es sich auch verschlechtern und degenerieren.« Im Gegensatz zu Jannidis, aber auch mit Blick auf einen größeren Zeitrahmen, spricht Hornig von der »schon frühzeitig nachweisbare[n] Bildung der Gegenbegriffe« (ebd.). Als prominentes Beispiel nennt er (S. 227) Georg Christoph Lichtenbergs Streitschrift gegen Lavater: Über Physiognomik (1778), die Mendelssohn durch seine Einmischung in diesen Streit (Ueber einige Einwürfe gegen die Physiognomik, und vorzüglich gegen die von Herrn Lavater behauptete Harmonie zwischen Schönheit und Tugend, erschienen im Deutschen Museum 1778 unter Rückgriff auf ältere Notizen, vgl. JubA III/1, LIV ff. und 321–28) bekannt war. Später nahm auch Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784) dieses Begriffpaar – und damit einhergehend dessen kritische
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tatsächlich jeder äußerliche Fortschritt bei näherer Betrachtung als Pervertierung »ursprünglich reiner« Triebe herausstellte? Die Wiederentdeckung Leibniz’ und Shaftesburys und des daran anschließenden Gedankens der allumfassenden »Kette der Wesen«, die auch den Zusammenhalt menschlicher Gesellschaften sowie deren Relevanz zur Erfüllung individueller Glückseligkeit fundierte, führte innerhalb der Hochaufklärung zur Herausbildung generell optimistischer gesellschaftstheoretischer Konstrukte, in denen die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft und als Diener eines allgemeine Fortschritts, in dem sich immer auch das gesamte Universum widerspiegelte, festgeschrieben wurde.87 Gegen Rousseau wurde der ursprünglich soziale Wesenszug des Menschen verteidigt und die Gesellschaft als eine notwendige Bedingung seiner Glückseligkeit verstanden. Begriffsgeschichtlich hat sich damit die Bedeutung der faktischen und menschheitsumgreifenden Vervollkommnung gegenüber der bloß individuell vorhandenen Anlage der Vervollkommnungsfähigkeit immer mehr durchgesetzt.88 Dadurch »gewinnt der Perfektibilitätsbegriff je nach Anwendungsbereich eine größere anthropologische, geschichtsphilosophische, religionsphilosophische, theologische, pädagogische oder politische Relevanz. Diese Feststellung gilt auch für den Fall, daß der geschichtliche Vervollkommnungsprozeß als ›unendlich‹ bezeichnet, als progressus in infinitum verstanden und als solcher von dem Gedanken der stetigen Annäherung an das Ziel einer absoluten Vollkommenheit losgelöst wird.« (Hornig 1980, 249) Diese Entwicklung kommt allerdings erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Fahrt. Mit der dort vertretenen Sicherheit eines umfassenden Fortschritts geht zugleich, wie Bödeker (1981, 222 ff.) treffend hervorhebt, eine in den gebildeten Schichten der Aufklärungszeit erfahrene Ungeschütztheit und gesellschaftlicher Isolierung einher. Fortschrittskonzepte wurden so zu Kompensationsmodellen der eigenen politischen Ohnmacht, oder sie verlagerten die goldene Zeit in eine unbestimmte Zukunft, die die Menschheit erst durch das Bezwingen von herrschenden destruktiven Strukturen erringen musste. Die sich zum Ausgleich des Verfalls sicherer sozialer Gefüge bildenden aufklärerischen Gesellschaften, wie die Berliner Mittwochsgesellschaft oder die Montagsgesellschaft, befassten sich dementsprechend mit der Etablierung einer
bis skeptische Implikationen – auf (vgl. ebd., Werke 6, 337 und Hornig 1980, 228). Dass dabei der offene Begriff der Perfektibilität durch den ebenfalls unbestimmten des »Humanismus« ersetzt wird, führt freilich zu weiteren Schwierigkeiten. 87 Zur Aufnahme Leibniz’ und Shaftesburys vgl. Kondylis 1981, 576–95, insbesondere 589. Indem der Einzelne im leibnizianischen Monadenmodell als der »Typ« des Ganzen angesehen wurde, konnte sein generelles Aufgehobensein in seiner Gesellschaft, seiner Geschichte und Kultur als gegeben angenommen werden. Dem stehen zugleich andere Tendenzen wie bspw. diejenige Herders gegenüber, die in Kap. V.2 zu thematisieren ist. 88 Vgl. Hornig 1980, 243 und 249. Als ersten Vertreter dieser Richtung wertet Hornig den Kantianer Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838).
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neuen Kultur der Gebildeten, die sich weder über Glauben noch Macht, und daher auch nicht aus der Professorenschaft an Universitäten, Mitgliedern der Akademie oder kirchlichen Kreisen rekrutierte, sondern vielmehr eine von allen erwerbbare Bildung als ihre Grundlage begreift. Damit sollte der unterschwellig vorhandene Fortschrittsgedanke verstetigt und institutionalisiert, sowie das Modell einer den Einzelnen angemessen fördernden Gesellschaft erprobt werden. Mendelssohns hier einschlägige Gedanken zu Bildung und Aufklärung werden in diesem Zusammenhang zu thematisieren sein (vgl. Kap. IV.3).
c) Menschliche(r) Zweck(e) Es war Voraussetzung der systematischen Entwicklung anthropologischer Theoreme innerhalb der Bestimmungsdebatte, inwiefern sie eine Antwort auf die Erfüllung des Zwecks resp. der Zwecke menschlicher Entwicklung geben konnten (vgl. Linden 1976, 135). In diese Richtung geht auch die deutlich später vorgenommene, aber auch vorher geäußerte Bedenken zusammenfassende Kritik Hegels an der Unbestimmtheit des Perfektibilitätsbegriffs. »In der That ist die Perfectibilität beinahe etwas so Bestimmungsloses als die Veränderlichkeit überhaupt; sie ist ohne Zweck und Ziel, wie ohne Maaßstab für die Veränderung: das Bessere, das Vollkommenere, worauf sie gehen soll, ist ein ganz Unbestimmtes«.89 Wie auch immer Hegel selbst mit dieser Problematik umgegangen sein mag, fest steht, dass seine Kritik einige Berechtigung hat. Die Versuche, der Vervollkommnung auch einen begründbaren Begriff der Vollkommenheit als ihr Ziel zur Seite zu stellen, kennzeichnet die Debatte um die menschliche Bestimmung. Dabei geraten die Pole der Diskussion, also die menschliche Natur und deren übermenschlicher Zweck in ein starkes Spannungsverhältnis. Welche Wege gab es, einem irdischen Wesen einen umfassenden Zweck beizulegen, ohne die Grenzen einer anthropologischen Untersuchung zu sprengen? Das zunehmende Bewusstsein für die menschliche Perspektive und deren immanenter Grenzen brachte es mit sich, metaphysische Prämissen wiederum zur Disposition zu stellen, wenn sie eindeutig einen menschenmöglichen Erfahrungshorizont überschritten. Die 89
Werke VII, Stuttgart 1964 (4. Aufl.), 447. »Da Hegel selbst die Geschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit deutet, wird man sagen können, daß seine dialektische Geschichtsphilosophie wesentliche Elemente des mit dem Perfektibilitätsbegriff gemeinten Sachverhalts in sich aufgenommen hat.« (Hornig 1980, 244) Siehe aber auch schon frühere Kritiker wie Herder, der in seiner Geschichtsphilosophie von 1774 auf den relativen Charakter der »Glückseligkeit« als Ziel einer Vervollkommnung hinweist: Die »menschliche Natur [ist] kein Gefäß einer absoluten, unabhängigen, unwandelbaren Glückseligkeit, wie der Philosoph sie definiert«, »sondern das Bild der Glückseligkeit wandelt mit jedem Zustande und Himmelsstriche« (Werke 4, 38).
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psychologia empirica erbrachte keine rationalen Prinzipien, sondern diese mussten ihr vorgeschaltet werden – oder man musste auf allgemeingültige, rationale Erklärungsmuster generell verzichten. Autoren wie Spalding und auch Mendelssohn arbeiteten hier mit einer »rationalistischen Intuition«, indem sie die unterstellte Zweckhaftigkeit der Welteinrichtung und den Theodizeegedanken zum Beweis der unendlichen menschlichen Vervollkommnung, und damit zum Beweis der Unsterblichkeit der individuellen Seele, auszuweiten suchten. Es ist vielleicht wenig erstaunlich, dass die »Liste der Begriffe, die als Bestimmung des Menschen gedacht werden«, sehr kurz und eigentlich wenig innovativ ist. »Zu den häufigsten Antworten zählen Sittlichkeit bzw. Tugend und Glück. Um 1800 kommen Humanität und Bildung dazu.«90 Eine Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Zweck war freilich in der jeweiligen Theorie von der dort angegebenen menschlichen Konstitution abhängig. Der Mensch als sinnliches Wesen sucht die Glückseligkeit in der Lust, als ein vernünftiges erreicht er seinen Zweck in Erkenntnis des Wahren und Guten, oder, was damit häufig synonym gesetzt wurde, in einer vollkommenen Sittlichkeit. Die Ausformulierung eines Ziels problematisierte zugleich – v. a. im Zusammenhang mit theologischen, religiösen Überlegungen – den Sinn irdischen Daseins. Denn offensichtlich erreichten nicht alle die angemessene Stufe der Vollkommenheit, die sie verdient hätten – oder, schlimmer noch, Vielen blieb schon ein erster Schritt in diese Richtung verwehrt. Das hier prominenteste Beispiel dürfte das Säuglingssterben sein, das ebenfalls in der Diskussion zwischen Abbt und Mendelssohn eine Rolle spielen wird. Ein Zweck macht, auch als Handlungsdirektive, wenig Sinn, wenn er weder ›verdient‹ noch eigentlich erreicht werden kann. Es wurde versucht, in den verschiedenen und mannigfaltigen Entwürfen einer Theodizee diese Lücke zu schließen, die – dem anthropozentrischen Ansatz gemäß – zunehmend die Perspektive des Subjekts, nicht eines rational geordneten Weltganzen befriedigend erklären musste. Eine Möglichkeit war die Verknüpfung des Perfektibilitätsgedankens mit dem Unsterblichkeitspostulat: das eigentliche »Wesen« des Menschen sei seine Vernunft, diese jedoch ist ewiger – und damit auch: jenseitiger – Vervollkommnung fähig (vgl. Jannidis 2002, 84). Ein anderer Weg war, die Vervollkommnung selbst bereits in den Zweckgedanken aufzunehmen; der Mangel an dieser Sichtweise ist allerdings, dass die prinzipielle Offenheit einer solchen Vervollkommnung (wenn nicht ihre prinzipielle Begrenzung gezeigt werden kann, z. B. unter Rückgriff auf einen umfassenden Weltbegriff) aus dem Blick verliert, dass damit der Sehnsucht nach einer Geschlossenheit oder besser formuliert Abgeschlossenheit dieser Vervollkommnung nicht Rechnung getragen wird. Darüber hinaus ließe sich bloße Vervollkommnung 90
Jannidis 2002, 84. Es liegt auf der Hand, dass Mendelssohns Aufklärungsaufsatz von 1784 sowie Herders Humanitätsbriefe (1793–97) hier einflussreich waren.
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nicht nach sicheren Kriterien beurteilen – letztlich wäre auch die Ausbildung der Fähigkeit, zu stehlen, eine Vervollkommnung, jedoch in einer Hinsicht, die sich kaum als auf einen höheren Zweck hinweisend verstehen ließe. Die Formen dieser Beziehung – und ihrer möglichen gegenseitigen Beeinflussung und Abhängigkeit, die sich in dieser groben Formel kaum begründen lässt – sollen in den folgenden Kapiteln in Bezug auf Mendelssohns Philosophie untersucht werden.
Die ›Bestimmung des Menschen‹ als Formel Das erfolgreichste Werk mit dem Titel Bestimmung des Menschen ist dasjenige Johann Joachim Spaldings, eines Hauptvertreters der deutschen Aufklärungstheologie. Es war zuerst 1748 erschienen und erlebte bis 1794 mindestens elf 91 legale Neuauflagen, dazu kommen noch unzählige Raubnachdrucke. »Die stete Veränderung und fortschreitende Vermehrung (die letzte Auflage ist ein ganz anderes Buch als die erste) spiegelt an einem zentralen Thema eindrucksvoll auch den Wandel im Selbstverständnis der deutschen Aufklärung wider.« (D’Alessandro 1999, 22) Ab der siebten Auflage von 1763 nimmt der Umfang der Abhandlung auch deshalb signifikant zu, da Spalding die Überlegungen noch durch Anhänge erweitert, die ebenfalls separat veröffentlicht wurden. Offensichtlich hatte er mit der Wahl des Titels den Nerv seiner Zeit getroffen und auf eine eingängige Formel gebracht (vgl. Eibl 1996, 140). Ganz davon abgesehen, wie er sie im Einzelnen ausführte, so war schon mit dieser »Schlagwortschöpfung« sein Einfluss auf die »geschichtlichen Basisprozesse« der Folgezeit enorm.92 Allein im hier einschlägigen Zeitraum von 1750–85, Mendelssohns »Studien«- und Schaffenszeit, fallen vierzehn Werke (jeweils nur die erste Auflage gezählt), die sich dem Titel nach mit der »Bestimmung« des Menschen auseinanderset-
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Nicht, wie oft angegeben, dreizehn, siehe Beutel 2006, XXV. Er zählt (XXVI f.) insgesamt 29 nachweisbare Auflagen und Übersetzungen zu Spaldings Lebzeiten. 92 Eibl 1996, 140. Wie auch Jannidis 2002, 80 und Schwaiger 1999 bestätigen, waren gerade die Denker der »zweiten und dritten Reihe« für die Entwicklung und Aufnahme von Ideen relevant. Sie dienten als eine konsensfähigere Folie als »die komplexen Entwürfe der ›großen Denker‹« (Jannidis 2002, 80). Die eher schwer zugänglichen und auch nur bedingt allgemeinverständlichen Systeme »sickern nicht hinab in die Allgemeinkultur, sondern aus dem Angebot von solchen Denkern wird durch die alltägliche Verwendung ausgewählt und das Ausgewählte in eigener Weise typisiert und weitergegeben.« Bei der Tradierung solcher komplexer Begriffe spielt also weniger ihre spezifische Ausformulierung innerhalb eines philosophischen Systems, sondern vielmehr von ihnen abgeleitete, vereinfachte und »habitualisierte Konzepte« (ebd. 79) eine Rolle. In der Studie Jannidis’ steht allerdings die gesellschaftliche Breitenwirkung als »Selektionsfaktor« des Phraseologems »Bestimmung des Menschen« noch vor einer Untersuchung eines direkten Einfluss’ auf andere philosophische Entwürfe (vgl. ebd. 2002, 80); hier wird ein anderer Weg gewählt, der dennoch auf die durch die Person Mendelssohns bestimmte Umgebung beschränkt bleiben soll.
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zen.93 Noch deutlicher wird Mendelssohns Verflechtung in diese Debatte, wenn man zum einen die Autoren, und zum anderen die Erscheinungsdaten berücksichtigt. a) Von den bei Jannidis angegebenen Autoren ist einer Mendelssohn selbst. Streng genommen käme mit den vier Auflagen des Phädon, den separaten Veröffentlichungen der Bestimmungsdebatte in den Litteraturbriefen sowie in der Werkausgabe von Abbts Schriften, zuerst 1771 und in der zweiten Auflage von 1782, mit einem erläuternden Anhang versehen, noch sieben einschlägige Veröffentlichungen hinzu. Als weiteres Werk wird Abbts Zweifel genannt, der im nächsten Teilkapitel I.2 behandelt wird, sowie ihr gemeinsamer Bezugstext von Spalding. Ein weiterer Autor ist August A. von Hennings, Mendelssohns Briefpartner der 1770/80er Jahre, auf den er ohne Zweifel einigen Einfluss ausübte94, und zuletzt noch – Mendelssohn vermutlich immerhin durch Lessing bekannt – der Hamburger Pastor Johann Melchior Goeze, dessen Text sich wiederum direkt an Spalding anschließt.95 Ein guter Teil der veröffentlichten Literatur zur Bestimmungsthematik musste Mendelssohn also bekannt gewesen sein. b) Desweiteren zeigen die Veröffentlichungsdaten der noch verbliebenen Schriften ein ebenso interessantes Bild. Vor der Bestimmungsdebatte mit Abbt finden sich lediglich – abgesehen also von Spaldings und Goezes Werk – nur zwei Veröffentlichungen, die diesen Titel enthalten. Eine davon mag bei genauem Hinsehen jedoch nicht einschlägig gewesen sein, es ist Christoph Christian Sturms Die Bestimmung des Menschen beym Landleben (1764). Das andere Werk ist demgegenüber keine eigenständige Schrift, sondern nimmt schlicht Spaldings Werk in »nutzlichen Anhängen« auf 96 und forciert so deren Rezeption. Der barocke und nicht wenig selbstbewusste Titel dieses weit auseinanderliegende Theoreme vereinigenden Sammelwerks des Pietisten Friedrich Christoph Oetinger lautet: Die Wahrheit des Sensus Communis, 93
Ich stütze mich in einer ersten Annäherung auf die von Jannidis 2002, 88–93 angeführte Liste, die, das sei wiederum betont, lediglich diejenigen Werke verzeichnet, die explizit die Bestimmung des Menschen im Titel führen. Es ist natürlich unbestritten, dass sich Werke dieses Themenkomplexes auch anderer Titelformeln bedienten; vgl. Jannidis 2002, 78 f. Eine umfassende Berücksichtigung auch dieser Schriften sprengte zweifellos den hier gewählten Untersuchungsrahmen. 94 Dessen 1785 erschienenes Werk Ueber die wahren Quellen des Nationalwohlstandes, Freiheit, Volksmenge, Fleiß, im Zusammenhange mit der moralischen Bestimmung der Menschen und der Natur der Sachen Jannidis 2002, 86 als eine »nach heutigen Begriffen weitgehend volkswirtschaftliche […] Schrift« bezeichnet, enthält den an Mendelssohns Aufklärungsaufsatz erinnernden Passus, dass die schlimmsten Übel den Menschen entstünden, wenn sie »das Wichtigste, ihre Bestimmung, aus den Augen verlieren« (ebd. V, zit. nach Jannidis 2002, 86). 95 Die zweite, von Spalding autorisierte Auflage seiner Bestimmung des Menschen findet sich in Goezes Gedanken über die Betrachtung von der Bestimmung des Menschen. Halle 1748, in der Goeze eine »streitbare Entgegnung« verfasst hatte; vgl. Beutel 2006, XXXIV–XLIX. 96 Diesen Hinweis verdanke ich Reinhard Breymayer; Jannidis 2002 erwähnt diesen Umstand nicht.
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in den nach dem Grund-Text erklärten Sprüchen und Prediger Salomo, oder das beste Hauß- und Sitten-Buch für Gelehrte und Ungelehrte, samt nutzlichen Anhängen: I. Frantzösisch- und teutscher Extract aus dem Buch les moeurs oder die Sitten. II. Tractat von der Bestimmung des Menschen, worinn alles aus dem sensu communi hergeleitet ist. III. Ubersetzung des englischen Buchs des Grafen Schafftesbury [sic], sensus communis, samt dessen Leben. IV. Erklärung der zehen Gebotte, und eine Anzeige von dem gantzen Leben Jesu nach den zehen Gebotten. V. Anweisung, die Jugend zu gesundem Verstand anzuführen (1753, 21781).97 Ein weiteres Werk, das den Bestimmungs- als Erziehungsgedanken betont, ist der Versuch einer Theorie von dem Menschen und dessen Erziehung (1753). Dieses von Friedrich Engel anonym in Berlin veröffentlichte Werk, das eine Vorrede von Nathanael Baumgarten98 enthält, schien sehr populär gewesen zu sein und wurde 1755 ins Englische übersetzt (A New Theory of Human Nature, with a correspondent System of Education). Lessing rezensierte es vor der Bekanntschaft mit Mendelssohn am 3. Mai 1753 in der Berlinischen Privilegierten Zeitung (Lessing, Werke 2, 499) und bemängelte allein die unklare Ausdrucksweise, die es auch verhindere, genaue Auskunft über den gesamten Inhalt des Buches, das sich v. a. um eine Theorie der Kindheitsentwicklung bemüht, zu geben. Die weiteren von Jannidis erfassten Werke wurden erst nach der Bestimmungsdebatte 1765 verfasst. Hervorzuheben bleibt: vor der Bestimmungsdebatte lassen sich kaum einschlägige Werke verzeichnen; der Großteil folgt erst in den 1780er Jahren – ein Einfluss Mendelssohns und Abbts auf diese auffällige Belebung ist neben dem alles beherrschenden Spalding durchaus nicht auszuschließen. 97
Auffallend ist hier zusätzlich der Verweis auf den »sensus communis«: zum einen war auch Mendelssohn an einer Shaftesbury-Übersetzung, und zwar ebenfalls des Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour (1709) interessiert (siehe JubA VI/2, 213–23). Es ist allerdings zweifelhaft, ob er zu diesem Zweck eine bereits vorliegende Übersetzung zu Rate zog, noch dazu er des Englischen mächtig war. Laut der Einschätzung Engels in JubA VI/2, L war Oetingers Schrift Mendelssohn 1754 nicht bekannt; dies spricht jedoch nicht dagegen, dass er später von ihr Kenntnis genommen hat, selbst wenn das Bücherverzeichnis sie nicht auflistet. Da jedoch letztlich unklar ist, ob Mendelssohn das Werk überhaupt je zu Gesicht bekommen hatte, sollen hier weiter keine diesbezüglichen Spekulationen angestellt werden. Allerdings kannte Mendelssohn Oetinger zumindest über einen Brief von diesem vom 7. September 1770 (JubA XII/1, 227 f.), dem auch dessen Werk Metaphysik in Connexion mit der Chemie (1770, siehe Bücherverzeichnis 266/33) beigefügt war. Eine Antwort Mendelssohns ist nicht erhalten. Vielleicht lag ihm dessen »biblizistische Apologetik und pietistische Neo-Mystik« (Riedel 1985, 166, differenzierter 77–85 mit Verweis auf Oetingers Rezeption von Carl Casimir von Creuz’ und Claude-Nicolas Le Cats Theorie des »Mitteldings«, der Seelenkraft als einer Art »Amphibium« zwischen Körper und Geist) allzu fern. 98 Siehe Mendelssohns Bücherverzeichnis 409/43. N. Baumgarten wiederum war der Lehrer Goezes und der theologische Hauptberater des Verlegers Johann Justinus Gebauer in Halle, der 1748 die zweite Auflage der Bestimmung des Menschen samt Goezes Gegendarstellung herausbrachte, vgl. Beutel 2006, XXXVI f.
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Der Erfolg der Formel ist auch durch seine immense Variationsbreite gesichert. Laut Jannidis (2002, 85) konnte mit ihr, die »Sinnstiftung mit empirischem Wissen verknüpfte«, ein stabil bleibendes Interesse der Zeit seinen Ausdruck finden, wie es Oetingers Titel so schön zusammenfasst. Hier wurde ein jeder mit allem angesprochen. Es gab schließlich eine Fülle an »compendiösen« Werken, die sich im weitesten Sinne mit der Bestimmung des Menschen auseinandersetzten. Im Kontext der Gebildeten allerdings rief diese Breite, die schließlich kaum mehr einem systematischen Zugriff eignete, ein Bedürfnis nach Spezifizierung in bestimmtere Disziplinen wach. So mag es kein Zufall sein, dass die Anthropologie wie die Ästhetik und sogar die Biologie sich auch dem von den »Bestimmungsdebatten« beherrschten zeitgenössischen Diskurs verdankten, aber doch rasch von ihm abkoppelten. Insgesamt steht die Formel »Bestimmung des Menschen« zunehmend für ein festes, an die Anthropologie ebenso wie die Theologie angelehntes Untersuchungsfeld: »die Festlegung des Lebensziels eines Menschen ausgehend von der menschlichen Natur insgesamt« (Jannidis 2002, 87).
Spaldings ›Bestimmung des Menschen‹ Um die Diskussion zwischen Mendelssohn und Abbt über die Bestimmung des Menschen angemessen zu erfassen, ist ein kurzer Blick auf die Diskussionsgrundlage, also Spaldings Schrift, unerlässlich.99 Das leibnizianische Vervollkommnungsmodell wird hier mit einer an der Idee des altruistischen Grundtriebs und der damit verbundenen Glückseligkeitslehre von Hutcheson und Shaftesbury kombiniert100 – 99
Als Zitiervorlage dient die Kritische Ausgabe von Albrecht Beutel 2006. Siehe darüber hinaus die Zusammenfassungen von Hinske 1994, 138 f. und Altmann 1982, 99 f. Zur näherer Einordnung in den historischen Kontext und die möglichen, auch für Mendelssohn bestimmenden Einflüsse vgl. Altmann 1973, 132, der das Werk als Widerspiegelung des Leibniz-Wolffschen Gedankenguts interpretiert. Dagegen bspw. Giorgio Tonellis Rezension von Altmann, in: International Studies in Philosophy 6 (1974), 222 f. und Joseph Schollmeier: Johann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung. Gütersloh 1967, 16 ff., die den Einfluss der britischen Philosophie, insbes. Shaftesburys betonen. So auch Adler 1994, 126 und 128 f., der darauf hinweist, dass die Methode der meditativen Selbstversenkung und der Selbstevidenz vernünftiger Überlegungen bei Spalding eine Rezeption des common sense darstellt; Hutcheson, Hume, Shaftesbury werden von Sauder 1981, 153 und M. Heinz 1992, 264 (diese betont, dass Spalding selbst auch auf den an Leibniz angelehnten Vollkommenheitsgedanken zurückgreift) ebenfalls als Quellen dieser Ansicht hervorgehoben. Spalding kannte Shaftesbury nachweislich und betrieb dessen Übersetzung (Eibl 1996, 139, Beutel 2006, XXVIII). Riedel 1985, 167 bezeichnet wiederum das Werk als aufruhend auf eine »Metaphysik säkularer, genauer leibnizianischer Herkunft«. Schwaiger 1999, 8 ff. schließlich gesteht beiden Denkern, Leibniz und Shaftesbury, ihren Anteil an der »geistigen Erweckung« Spaldings zu. 100 Vgl. Altmann 1982, 99, Riedel 1985, 166–73 und M. Heinz 1992, 264.
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Denkrichtungen, die auch in Mendelssohns Werk eine bedeutende Rolle spielen. Die Differenz zu Mendelssohn liegt in der Auffassung von der Rolle der Religion. Ausdrücklich wollte Spalding zwar ein Werk der vernünftigen Selbstversenkung und keine theologische Abhandlung geschrieben haben. Er bleibt aber als Neologe dem Christentum stark verbunden. Sein Abweis einer reinen Vernunftreligion ist bei der Interpretation seiner Aussagen also immer zu bedenken. Durch methodische Selbstbeobachtung und meditative Versenkung sucht Spalding in seiner Schrift den Weg von der Natur des Ich zu seiner »Bestimmung« über die Wahrnehmung eines Bestrebens, das sich inhaltlich verschieden füllen lässt und mit unterschiedlichen Graden der Befriedigung erlebt wird. Ausgehend vom sinnlichen Vergnügen, das sich jedoch – auf Dauer betrachtet – als schal herausstellt (vgl. Spalding 7/1763, 10 ff.), bewegt er sich über die Betrachtung der »Vergnügungen des Geistes« (ebd., 12–17) und des Handelns für die menschliche Gattung (»Tugend«, ebd., 17–31) schließlich zu dem, was auch diese zu transzendieren vermag und ihnen einen »höheren« Sinn gibt: zur Erkenntnis Gottes (»Religion«, »Unsterblichkeit«, ebd. 32–56). Der Weg über eine ›vernünftige‹ Beobachtung, das Sich-leiten-Lassen von einem ›gesunden Menschenverstand‹ lag dabei durchaus im Geist der Zeit.101 Die innere Wahrnehmung der Fähigkeit, Ordnung zu empfinden und sie zu begründen (vgl. Spalding 7/1763, 12) ist dabei die entscheidende, von einem vernünftigen, aber dennoch unbefriedigenden Sinnengenuss hinausführende Beobachtung, denn sie zeigt, dass der Mensch auf die Erkenntnis der Vollkommenheit angelegt ist. Der sich Beobachtende entdeckt außerdem, dass er nicht nur sich selbst zu fühlen imstande ist, sondern ebenfalls ein grundlegendes Gefühl für den »Anderen« in sich verspürt, das, so Spalding in Anlehnung an die schottische Moralphilosophie, nicht egoistischer Herkunft scheint (Spalding 7/1763, 18 ff., 23). Erst der Bezug auf die Vervollkommnung Anderer weist dem forschenden Ich den Weg zu den »Regeln des Rechts und der moralischen Ordnung« (Spalding 7/1763, 36) als den Gesetzen der »Schönheit, Uebereinstimmung und Vollkommenheit in den Gesinnungen und Handlungen freyer verständiger Wesen« (Spalding 7/1763, 19 f.).102 Durch das Erreichen des Ziels, die eigene Natur und die Ordnung der Welt zu verstehen, sei diesem Bestreben als einer fortdauernden Liebe nach »Wahrheit« und »Güte« kein 101 Vgl. Jannidis 2004, 8: Spaldings Weg der Introspektion trifft mit der Konjunktur derjenigen anthropologischen Denkmodelle zusammen, die den Weg zur Erkenntnis des Menschen über die beobachtbaren Phänomene gehen. 102 In der neunten Auflage von 1768 hat Spalding diesen Passus stark erweitert (vgl. Spalding 9/1768, 19–29). Eventuell hat ihn die Bestimmungsdebatte zwischen Abbt und Mendelssohn zu dieser Modifikation animiert. Die Betonung der Bestimmung zur »theilnehmenden Geselligkeit« nimmt dabei Bezug auf die Überlegungen Abbts, siehe JubA VI/1, 14; ebenso wendet er sich gegen Abbts Polemik, doch in die Wälder zurückzukehren (vgl. Spalding 9/1768, 24 f.); vgl. dazu Kap. II.2.
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Ende gesetzt. Aus dieser dem Streben nach Erkenntnis innewohnenden Tendenz zur Unendlichkeit erkennt das meditierende Ich, dass es für eine höhere Welt, für die »Ewigkeit« gemacht ist: »Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind.« (Spalding 7/1763, 46 f.) Das bloße Wissen um diese Aufgehobenheit in Gott wirkt ebenfalls als Beruhigung, dass letztlich die eigene menschliche Glückseligkeit auch angesichts widriger Umstände nicht restlos zerstört werden kann. Die Gottesbetrachtung wiederum weist die Bestimmung und das Sein des Menschen auf, denn sie zeigt ihm, dass er eben dieser Gottesbetrachtung und Sinnsuche fähig ist; der Gegenstand der Betrachtung allein adelt diese als höchste Form menschlicher Tätigkeit. Er ist zwar nur ein Bewohner eines kleinen Planeten im »Sonnenwirbel«, bzw. eines Punkts im »Sandkorn« (vgl. Spalding 7/1763, 37), aber: »das macht mich noch zu etwas, daß ich die Ordnung empfinden, und in derselben bis zu dem Anfange aller Ordnung hinaufsteigen kann.« (ebd.) Doch nicht nur dies; versichert ihn die Gotteserkenntnis auch allererst der Gültigkeit und Sinnhaftigkeit der Moral. Wenn es eine Ordnung gibt, so gleicht Gott erlittenes Unrecht wieder aus (vgl. Spalding 7/1763, 42–45).103 Diese Kompensationstheorie göttlicher Vorsehung (im Gewand einer Theodizee) war ein Stein des Anstoßes der Bestimmungsdebatte zwischen Mendelssohn und Abbt. Spalding versucht also, in der Bestimmung des Menschen die zwei Säulen des göttlichen Trosts für den unvollkommenen, aber suchend strebenden Menschen zu beweisen: a) Zum einen zeigt die prinzipielle Entwicklungsfähigkeit des Menschen nicht Armut, sondern ein Versprechen. Die Bedürftigkeit des Menschen ist zugleich ein Hinweis auf die Erfüllung dieser Bedürftigkeit – wenn es einen gütigen Gott gibt. Spalding setzt dies für seine Argumentation bereits voraus und zeigt lediglich, dass die prinzipielle Offenheit menschlicher Entwicklung den Absichten dieses Gottes gemäß ist. Nicht zu unrecht hat schon Goeze Spaldings Argumentation eines logischen Fehlers bezichtigt: er schließe vom Möglichen aufs Wirkliche, wenn er die Möglichkeit der unendlichen Vervollkommnung als Beweis für die Wirklichkeit der Unsterblichkeit – und damit die Erfüllung der Vervollkommnung – verstehe (so Goeze 1748, 9, nach Beutel 2006, XXXIX). Hinzu tritt in der Argumentation Spaldings das Postulat der Einheit der Seele, das den Menschen nicht nur zum unhintergehbaren Zentrum seiner Wahrnehmungen, Urteile und Bestrebungen macht, sondern auch darauf hinweist, dass dieses Zentrum den Strom der Zeit überdauern wird. Der Tod wird damit einer Veränderung auf
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Lorenz 1997, 199 weist darauf hin, dass in dieser Lehre der »Bruch mit der ›sola-gratia‹Lehre des Altprotestantistmus« vollzogen wird.
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der phänomenalen Ebene gleich gestellt und verliert den Charakter einer absoluten Schranke104. b) Zum anderen wird die mit dieser Offenheit einhergehende Gefahr eines Fehlgehens, der Sünde oder des physischen Unglücks mit dem Verweis auf die Erfüllung menschlicher Unvollkommenheit im Jenseits und dem Verweis auf die Bestrafung irdischen Fehlens und der Belohnung irdischen Wohlverhaltens neutralisiert; wie erwähnt vertritt Spalding in Hinblick auf die Theodizee-Problematik eine Kompensationstheorie, in der Diesseits und Jenseits gegeneinander wägbar gedacht werden und die auch, darauf wird Abbts Kritik zielen, den Vergeltungsgedanken nicht unberührt lässt (vgl. Spalding 7/1763, 45). Alle Beruhigung, die Spalding aus diesen Tröstungen gewinnt, ist durchaus in Zweifel zu ziehen. Da wir Gott und das wahrhaft gute Leben erkennen können, so Spalding, dürften wir davon ausgehen, dass diese erkannte vernünftige Weltordnung wahr sei und jede Durchbrechung dieser Ordnung diese Voraussetzung nicht vernichte, sondern bestätige. Unglück kann letztlich nur eine Prüfung sein (vgl. Spalding 7/1763, 46). Solche Prüfungen wiederum machen nur Sinn, wenn es tatsächlich einen Gott gibt, der das Wohlverhalten lobt und Vergehen straft. Und diese Ausgleichstheorie wiederum ist nur sinnvoll, wenn von einem Weiterleben der Seele nach dem Tode, von einer fortdauernden Vervollkommnung ausgegangen wird. So greifen die Perfektibilitätstheorie und die Ausgleichstheorie, beide »Tröstungen«, ineinander: Die Einrichtung der Welt wäre vergeblich und damit ebenfalls sinnlos, wenn sie nicht diese Instanz der Vervollkommnungsgelegenheit und Prüfung wäre, und die Vernichtung der Seele mit dem Tod würde die bis dahin erfolgte Übung der Seelenkräfte ad absurdum führen. Spalding schließt sich hier nicht einer Vernunftreligion leibnizianischer Provenienz an, obwohl er das Handeln Gottes als »nach den strengsten Regeln und nach den edelsten Absichten« eingerichtet beschreibt (Spalding 7/1763, 47), die auf die leibnizianische Gottesvorstellungen hinweisen. Dennoch weist er der vernünftigen Erkenntnis Gottes nicht denselben Stellenwert zu wie dem Offenbarungsglauben (vgl. Spalding 7/1763, 60, 66 f.). Er setzt damit den letztgültigen Beweis seiner Hoffnungen auf die göttliche Offenbarung. Noch einmal betont er dies in einem ersten Anhang, der als Antwort auf die Streitschrift Goezes in der dritten Auflage von 1749 erscheint105, sowie in seinen Ausführungen zur »Religion« im dritten Abschnitt: die Seele soll auf die göttliche Offenbarung »aufmerksam […] seyn« (Spalding 7/1763, 104
Der Begriff der »Schranke« wird hier anachronistisch verwendet; ich orientiere mich dabei an Kants Definition der Schranke in den Prolegomena (1783) als »bloße Negation« und damit dasjenige, was nicht mehr Bestandteil des Gegenstands ist; im Gegensatz dazu kennzeichnet die Grenze die äußersten Punkte einer Sache, gehört aber noch als positives Element zu dieser (z. B. die den Kreis bezeichnende Linie); siehe AA IV, 354. 105 Vgl. Beutel 2006, XLVI, Spalding 1749, Anhang 1, 202.
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38) und sich der Gottesbetrachtung hingeben. Jeder andere Weg führt »in Irrgänge voll Dunkelheit und Schrecken« (Spalding 7/1763, 46). Darüber hinaus hat Spalding selbst festgehalten, dass die vorgebrachten Beweise auch falsch sein könnten (Spalding 1748, 24 f.), und er würde sie dennoch glauben wollen, denn »es ist mir zuviel daran gelegen, daß sie wahr sey[en].« In der Version von 1763 ist der besagte Passus nicht mehr aufgenommen (vgl. Spalding 7/1763, 55); allerdings ist nach wie vor von der »alles versüßenden Vorstellung« (ebd., 56) göttlicher Offenbarung die Rede, die den Zweifelnden mit der Gewissheit des Todes versöhnt. Beutel bezeichnet dies als eine »regulative Idee« von »transzendentalphilosophischer Relevanz« (Beutel 2006, XXXIV und XLII): Spalding verlange keine streng theologischen oder philosophischen Beweise, sondern will sich auf die menschliche »Selbstvergewisserungsfähigkeit« verlassen. Einer theologischen, vorkritischen Position jedoch den Kern der Transzendentalphilosophie zuzuschreiben, mutet im gegebenen Zusammenhang mindestens waghalsig an. Es liegt weitaus näher zu vermuten, dass Spalding mithilfe der Einsichten des common sense die theologische Lehre unterstützen wollte, worauf auch die Argumentation im ersten Anhang der dritten Auflage, der auch in der siebten Auflage enthalten ist (vgl. Spalding 7/1763, 57–68), schließen lässt. Gegen diesen Vorstoß werden sich Abbt und auch Herder zur Wehr setzen, während Mendelssohn versucht, auf dieser philosophisch letztlich doch recht schwachen Vorlage, verbunden mit eigenen Ideen, eine Philosophie für den Menschen, die sein Handeln und seine Existenz in der Welt erträglich und erklärbar machen, zu entwickeln. Beide Parteien sind sich jedoch darüber einig, dass die Bestimmung des Menschen keinesfalls in eine körperfeindliche Wendung jenseitiger Verklärung führen darf, sondern die Bedürfnisse des hiesigen Lebens ernst nehmen muss. In diesem Sinne gehen sie über Spalding hinaus, der zwar von einander einschließenden Stufen der Vervollkommnung spricht, aber dessen Modell keinen Raum für eine vernünftig begründbare ›jenseitige Sinnlichkeit‹ lässt. Jannidis fasst den bereits vollzogenen Prozess, der in der vorliegenden Arbeit nicht vorauszusetzen, sondern zu erklären ist, wie folgt zusammen: »Die Formel von der Bestimmung des Menschen in einem Buchtitel ist spätestens um 1800 so konventionalisiert, daß sich die vom Leser geforderten Erwartungen beschreiben lassen: Es handelt sich prototypischerweise um einen Text für ein gebildetes Publikum von Selbstdenkern. Aufgerufen wird ein Themenfeld, nämlich die Festlegung des Lebensziels eines Menschen ausgehend von der Kenntnis der menschlichen Natur insgesamt. Daraus lassen sich moralische, pädagogische, erbauliche Überlegungen ableiten. Diese Sinnstiftung ist mit einer Aura von besonderer Relevanz und Wichtigkeit umgeben. Fünf Aspekte werden durch den Titel aufgerufen: die Natur des Menschen; der Fortschritt der Kultur; Mensch und Gesellschaft; Unsterblichkeit und
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das Lebensziel des Menschen: Glückseligkeit, Tugend, Humanität oder Bildung und Individualität.« (Ders. 2002, 87) Die Bedeutungsvielfalt wurde durchaus nicht mit Spaldings Schrift allein gewonnen, sondern erforderte u. a. die Überlegungen Abbts und die daran anschließenden Ausführungen Mendelssohns als »Väter« dieser umfassenden Form einer »Anthropologie«.
I. Mendelssohn und Abbt im Dialog »Ich habe dieses halbe Jahr wieder über Ontologie und Cosmologie gelesen. Der Himmel aber weis, daß ich von den drey begriffen Substantia, Substantiale, und Vis, worauf doch endlich alles herauskömmt, wenig erbauet bin. Denn was weis ich endlich, wenn ich mir die Kraft als den Grund von der inhaerentia eines accidentis vorstelle, und diese rationem wieder als das ex quo aliquid cognosci potest. Kein Mensch begreift, wo diese Kraft sitze, und ob sie zum composito, oder simplici gehöre, und am Ende wissen wir also doch nicht, was Materie, oder Geist sey.« Thomas Abbt an Mendelssohn, 6. März 1765, JubA XII/1, 78 f. 106 »[…] so wählen Sie die Philosophie des Menschen. The proper study of mankind is man.« Mendelssohn an Abbt, 9. Februar 1764, JubA XII/1, 35
Die Diskussion zwischen Mendelssohn und Abbt, angestoßen von Abbts Versuch einer Rezension der 1763 erschienenen siebten Auflage von Spaldings Schrift107, kann als ein Paradefall der zeitgenössischen Suche nach der Bestimmung des Menschen gelesen werden. Sie wurde zwischen 1764 und 1782 allein vier Mal veröffentlicht108
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Mendelssohn antwortet darauf nur kurz und äußert sein Beileid, dass dieser sich mit solchem »metaphysische[n] Gewäsche« abgeben müsse (Brief vom 26. März 1765, JubA XII/1, 88). Eine wirkliche Auseinandersetzung mit »Kraft und Substanz« verschiebt er allerdings – bis 1782, Anm. z), JubA VI/1, 60; siehe hier Kap. III, 1, 281 und Schluss, S. 576. 107 Jedoch lag dazu bereits im 277. Litteraturbrief eine Rezension Resewitz’ vor (18. Stück, vom 29. März und 5. April 1764, 3–24; vgl. JubA VI/1, XV). Bödeker 1981, 229 hat diese Rezension irrtümlicherweise Abbt selbst zugewiesen. Dies ist m. E. aus einigen Gründen unwahrscheinlich. Zum einen weist das Kürzel am Ende des Textes auf Resewitz als Autor hin (vgl. andere ihm zugesprochene Rezensionen unter http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/brieneulit/index. htm; dort ist der Artikel ebenfalls Abbt zugeordnet). Darüber hinaus lässt sich inhaltlich jedoch zum einen argumentieren, dass Abbt nicht seinen Zweifel hätte schreiben müssen, wenn er die Rezension hätte veröffentlichen dürfen, oder dass er zumindest in dieser Rezension Gedanken des Zweifels ebenfalls geäußert hätte. Zum anderen, wichtiger noch, ist der Rezensent im 277. LB, anders als Abbt, mit Spaldings Ausführungen in weiten Teilen zufrieden. Insbesondere die von diesem entdeckte »Wahrheit«, »daß der Tugendhafte nach diesem Leben eine glückliche Ewigkeit geniessen wird« (Beschluss vom 5. April 1764, 19) weist eindeutig in eine andere als die von Abbts Zweifel eingeschlagene Richtung. 108 Zuerst erschienen im 287. Litteraturbrief vom 21. und 28. Juni, 5. und 12. Juli 1764; 1767 zusammen mit dem Phädon (»Vermehret mit den Zweifeln und dem Orakel, über die Bestimmung des Menschen«). 1771 wird der Briefwechsel plus Zweifel/Orakel im dritten Band von Abbts Vermischten Werken von Nicolai publiziert; 1782 erscheinen Mendelssohns Anmerkungen in einer Neuauflage von Abbts freundschaftlicher Correspondenz. Die einschlägigen Materialien gesammelt und angeordnet hat Oscar Fambach: Der Aufstieg der Klassik in der Kritik der Zeit. […] Berlin 1959, 120–61 (=Ein Jahrhundert deutscher Literaturkritik 1750–1850. Ein Lesebuch und Studienwerk
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und stieß auf ein vornehmlich positives Echo. Wie im vorangegangenen Teilkapitel gezeigt wurde, ließe sich auch die aufkommende Mode der Bestimmungsbücher auf diese populäre Fortsetzung der Spalding’schen Schrift zurückführen. Doch auch für Mendelssohns Werk ist die Debatte von großer Bedeutung, wird hier doch zum ersten Mal explizit die menschliche Bestimmung thematisiert. Sie zeigt die im vorangegangenen Teilkapitel untersuchte Vieldeutigkeit, die Mendelssohn erst in den 1782 erschienenen Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz spezifiziert. Dort benennt er in Anmerkung k) zwei Seiten des Ausdrucks »Bestimmung des Menschen«, indem er zum einen nach dessen Wesen, zum anderen nach seinem Zweck fragt (vgl. JubA VI/1, 35), also zwischen Determination, einer Definition des Menschen, und der Destination, der Zweckbestimmung, unterscheidet. Fraglich ist, auch in der Debatte zwischen Mendelssohn und Abbt, wie sich die beiden Bereiche zueinander verhalten. Lässt sich aus der (deskriptiven) Untersuchung menschlicher Natur auf eine (auch präskriptive) Festsetzung seines Daseinszwecks schlussfolgern? Geht ein menschlicher Zweck überhaupt über sein irdisches, und damit empirisch wahrnehmbares und bestimmbares Leben hinaus, oder muss er in ihm gesucht werden? Vor der Hand bietet Mendelssohn lediglich eine differenziertere Verwendung des Vokabulars: »Die Zweydeutigkeit im Deutschen zu vermeiden, mag Bestimmung für determination bleiben, destination aber gebe man durch Beruf, Wiedmung [wieder].«109 (JubA VI/1, 35) In seinen eigenen Arbeiten zur menschlichen Bestimmung unterläuft er die eigene Differenzierung, indem er wiederholt von Bestimmung spricht, wenn er »Wiedmung« meint (vgl. Anmerkung r), JubA VI/1, 43–48, v. a. 47). Dies verkompliziert zwar die Interpretation, sollte aber zur Vermeidung von voreiligen Schlüssen auf Mendelssohns angeblichen Dogmatismus110 in der Bestimmungsfrage vorerst als eine Ungenauigkeit der Ausdrucksweise berücksichtigt werden. Darüber hinaus weist dieser ›Rückfall‹ im Gebrauch des Begriffs »Bestimmung« im Sinne von Zweck und nicht Definition auf die enge Verflechtung beider Gebiete hin. Gerade in Bezug auf Mendelssohn ist zu bemerken, dass er mit der »Bestimmung/Wiedmung« eine Fülle von Themengebieten zu integrieren und
Bd. 3). Allerdings geraten bei seiner Anordnung die Zeitebenen durcheinander, so dass die erst 1782 erschienenen Anmerkungen wie zeitnahe Zusätze wirken. In der vorliegenden Arbeit wird auf den Abdruck in der Jubiläumsausgabe zurückgegriffen. 109 Diese Aufteilung hielt sich, in unterschiedlichen inhaltlichen Ausprägungen, bis ins 19. Jahrhundert, vgl. Vollhardt 1994, 113 f., der auf Christoph Meiners Allgemeine kritische Geschichte der ältern und neuern Ethik oder Lebenswissenschaft […]. Erster Theil. Göttingen 1800, 270 hinweist: »Die Lebenswissenschaft besteht […] aus zwey Hauptstücken: aus Untersuchungen über die menschliche Natur, oder das, was der Mensch ist; und dann aus Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen, und die Mittel, diese Bestimmung zu erreichen: oder aus Betrachtungen über das, was der Mensch werden soll, und wie er es werden kann.« 110 So Lorenz 1997, 195; hierauf wird im Fazit näher eingegangen.
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in ein sinnvolles und sinngebendes Ganzes einzubetten versucht, was wiederum die Verortung spezifischer Theoreme erschwert. Der Stellenwert dieser Debatte liegt nicht darin, dass in ihr tatsächlich Fragen beantwortet würden, sondern dass anhand der in ihr aufgeworfenen Diskussionsbereiche das Feld, das Mendelssohn für eine tatsächlich befriedigende Lösung zu bearbeiten hatte, aufgezeigt wird. Die Analyse wird also keine Antworten, sondern präzisere Fragestellungen angeben und das Untersuchungsgebiet konturieren. Es wird sich zeigen, dass gerade in den Bereichen, in denen Mendelssohns Reaktionen auf Abbts Anstöße unzureichend scheinen, andere Schriften einen elaborierteren Lösungsvorschlag bieten. Auch dies impliziert nicht, dass Mendelssohn im Gesamtwerk zu einer eindeutigen und befriedigenden Lösung kommt. Jedoch war er sich der Problematik einiger Theoreme weitaus mehr bewusst, als seine nahezu dogmatische Einstellung in der Bestimmungsdebatte vermuten lässt. Dass der veröffentlichte Teil der Debatte zwischen den beiden Freunden auch von Zeitgenossen geschätzt wurde und auf sie Einfluss hatte, zeigt neben den in Kap. I.1 angegebenen Rezeptionslinien u. a. eine Bemerkung Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs in der zweiten Sammlung seiner Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur von 1766 (S. 99 f.): »Ich empfehle Ihnen vor allem die Zweifel nebst dem Orakel über die Bestimmung des Menschen, die nicht nur das schönste Stück in den Berlinischen Briefen [die neueste Litteratur betreffend, A.P.], sondern eine der feinsten Compositionen sind, die ich je bey einem Alten oder Neuern gefunden.«111 111 Zit. nach Lorenz 1997, 195. Dazu auch Zammito 2002, 167: Die Veröffentlichung der Debatte »was received immediately and has been regarded historically as one of the most significant moments in the intellectual debate of the German Aufklärung.« So auch in einem Brief Iselins vom 13. Brachmonat [Juni] 1764: »Darf ich Sie fragen wer der Verfaßer der in den Litteraturbriefen von Schinznach angegebenen Stücke über Hn Spaldings Bestimmung des Menschen ist. Ich habe dieselben mit einem wahren Vergnügen gelesen – obgleich unsere Freunde von Zürich etwas böse darüber geworden sind.« (Frison 1976, 262) Im folgenden Brief vom 8. August 1765 vermeldet Iselin seine Werbetätigkeit: »Das nächste mal da ich etwas an des Prinzen Ludwigs D[urch]l[aucht] schicken werde: sollen auch die Zweifel über die Bestimmung des Menschen mitgehen. Ich rechne es Schinznach zur Ehre daß dieser Ort disen zwey vortrefflichen Stücken vorgesetzet ist.« (Frison 1976, 263) Die Angabe im Titelblatt »Gedruckt zu Schinznach, 1763« ist allerdings bloße Fiktion (vgl. Altmann, JubA VI/1, XV), das aber nicht ganz der Anspielung entbehrte: dort hielt die aufklärerisch-politische Helvetische Gesellschaft ihre Jahrestreffen ab, in denen sie ihre Überlegungen zur aufgeklärten Umbildung der Gesellschaft innerhalb des bestehenden Systems formulierte. Die Bestimmungsdebatte erhält dadurch die Aura einer Befreiungs- und Aufklärungsschrift im konservativen Sinne, was anscheinend durchaus nicht nur mit Begeisterung aufgenommen wurde. Es ist, dies sei nur am Rande erwähnt, interessant, welche Namen Nicolai für die Verfasser in der vorangeschobenen »Nachricht« in den Litteraturbriefen wählt. Der Vorschlag stammte von Mendelssohn selbst; siehe dessen Brief an Abbt vom 9. Februar 1764, JubA XII/1, 32 f. Abbt nennt sich daraufhin in seiner Antwort »Aristipp«; vgl. dessen Schreiben vom 20. Februar 1764, JubA XII/1, 37, was allerdings nicht in die Druckfassung übernommen wird. Vielmehr heißt Abbt dort
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Jedoch entstand diese »feine Composition« aus Abneigung. Zu ihren Anstößen gehörte nicht allein die Kritik an Spalding, sondern auch die Auseinandersetzung mit der damals gärenden Theodizee-Problematik, sowie den neuen Ansätzen in der Debatte um Nationalidentität112 und Geschichtsphilosophie. In einem Schreiben vom 2. November 1762 hatte Mendelssohn Abbt auf David Humes Geschichte von England hingewiesen und an ihr die angemessene Behandlung des Stoffs gelobt, da Hume nämlich »beydes die gute und schlechte Seite seiner Charaktere, die vorher bestimmlichen und zufälligen Ursachen einer jeden Begebenheit [behandelt], und […] jene so vermischt, und diese so in einander verflochten vor[stellet], wie sie in der Natur zu seyn pflegen.« (JubA XI, 357 f.) Abbts Antwort darauf in einem Brief vom 10. November 1762 ist abweisend: »[…] ich fange an die Historie zu hassen. Was für eine Erde? Was sollen wir zur Bestimmung des Menschen sagen?[113] Ich glaube immer, daß wir, nach meinem Begriffe, nichts davon wissen […].« (JubA XI, 360). Es wäre besser, so Abbt weiter, sich auf die diesseitige »Tugend« zu konzentrieren. Diese Aussage bekräftigt er in einer Rezension von Johann Süßmilchs Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, dem Tode, und der Fortpflanzung desselbigen erwiesen (2. Auflage, Berlin 1762), die er in den Litteraturbriefen 245–50 zwischen dem 29. Juli und 19. August 1762 veröffentlichte.114 Dort kritisierte er u. a. Süßmilchs Versuch, auch den Tod von Kindern und Säuglingen durch die göttliche Vorsehung zu rechtfertigen115, wobei sich seine Kritik nicht darauf bezieht, dass der Kindstod mit der göttlichen Vorsehung in Verbindung gebracht wird, sondern vielmehr auf das Problem anspielt, diese Aussage als eine Euphranor, Mendelssohn Theodul – dies mag mehr oder weniger deutlich eine Anspielung auf die Briefe über die Empfindungen sein, in deren zweiter Fassung der vernünftige Engländer Theokles den schon 1755 unter diesem Namen auftretenden, schwärmerischen deutschen Euphranor belehrt. Siehe dazu Kap. II.2 und 3. 112 Siehe dazu v. a. im Hinblick auf die Montesquieu-Rezeption in Deutschland Vazsonyi 1999. Das Zusammenspiel zwischen Universalität (Menschsein) und Partikularität (Angehöriger einer »Nation«, Gruppe, und auch: Individuum zu sein), bezeichnet Vazsonyi (ebd., 229) hier mit Henry Vyverberg: Human Nature, Cultural Diversity, and the French Enlightenment. New York 1989 als »Conundrum« der Aufklärung. Auch die Bestimmungsdebatte ließe sich als an dieser Leitlinie orientiert verstehen. 113 Es liegt nahe, dass beiden zu diesem Zeitpunkt schon eine frühere als die die Debatte anscheinend bestimmende siebte Auflage von Spaldings Schrift vorlag (vgl. Hinske 1994, 141, FN 19). Das Bücherverzeichnis 249/32 nennt lediglich die neunte Auflage von 1774. 114 Zit. nach der elektronischen Version (scan der Originale) unter http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/aufkl/brieneulit/index.htm. 115 Siehe den 250. Litteraturbrief vom 19. August 1762, 126. Zammito (2002, 168) ist der Auffassung, dass Abbt hier gegen Süßmilchs Apologetik göttlicher Ordnung das »Chaos« und die schreiende »Ungerechtigkeit« der Welt beklage. Jedoch ist dessen Sichtweise in der Rezension so streng nicht. Vielmehr spricht er von der Möglichkeit, Gott in Demut angesichts noch verbleibender Ordnung anzubeten (ebd., 127 f.). Was er bezweifelt, ist die menschliche Fähigkeit, das »Warum« (ebd., 128) dieser Ordnung einzusehen.
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befriedigende Antwort auf die Frage menschlicher Bestimmung zu werten. Ähnlich wie später im Zweifel formuliert er es auch hier: die Absichten Gottes hinsichtlich des Sterbens von Kindern sind uns vollkommen undurchsichtig. Doch: »Selbst die Offenbarung lehrt uns nicht unsre eigentliche Bestimmung. Sie zeigt uns Mittel zu unsrer Vollkommenheit. Aber die Bestimmung des Menschen heißt nicht seine Vollkommenheit überhaupt, sondern das Quantum, welches er zur Vollkommenheit des Ganzen beytragen soll, woraus sich auch seine Würde bestimmen läßt, so fern er seinen Beytrag seiner Freyheit gemäß entrichtet.« (250. LB, 126) Eine exakte Bestimmung dieses Quantums hält Abbt in seiner Rezension für unmöglich, ja, für Hybris angesichts einer Fragestellung, »über welche sogar Seraphim ein tiefes Schweigen beobachten« (ebd., 127). Die menschliche Vernunft könne den kleinen Bestandteil, den das menschliche Leben – oder gar: ein menschliches Leben – im Verhältnis zum Ganzen ausmacht, nicht erkennen. Bisweilen sei es zwar möglich, die Erscheinungen von Veränderungen nachzuvollziehen; niemals jedoch könnten die Menschen zureichende Gründe dafür vollständig angeben (vgl. ebd., 128). Dies bedeutet Abbt zufolge nicht, dass der Mensch jeglicher Hoffnung, die göttlichen Gebote zu erfüllen, entsagen müsste – denn in praktischer Hinsicht sieht er »genug«, um seine Handlungen seiner Bestimmung gemäß einzurichten. Dennoch ist die Frage nach dem genauen Quantum ein Stachel im Fleisch der Aufklärung, der immer wieder zu Untersuchungen in diese Richtung anhält. Die Bestimmungsdebatte gehört eindeutig in dieses Umfeld und Abbt ist es auch, der den Streit immer wieder in diese Richtung drängt. In der Rezension Süßmilchs präsentiert er lediglich eine grobe Idee seiner Fragestellung. Letztlich bedeutet die dort festgestellte Unmöglichkeit der Festsetzung einer menschlichen Bestimmung, dass die Metaphysik an ihr Ende gelangt sei, noch bevor sie die Grundsätze, die allen Menschen am wichtigsten sein müssten, entdecken könne. Gerade bei der Antwort auf die Frage, wozu der Einzelne da sei, müsse sie sich zurückziehen und der allein praktisch relevanten, aber nur intuitiv erkannten Tat das Feld überlassen.116 Folgerichtig wendet sich Abbt der praktischen Philosophie zu: »Man mag dieses Jahrhundert im Scherze oder im Ernste das philosophische nennen: so viel bleibt immer gewiß, daß, wenn wir auch in spekulativen Materien noch nicht soweit sind, als wir wünschen, und doch immer weiter, als Ausländer wissen, die nur lesen und nicht lernen wollen: daß nichts destoweniger die politische Philosophie so grossen Fortgang unter uns zu gewinnen scheint, als sie nicht leicht vorher gehabt hat.« (Beschluss des 245. LB, 67) Er scheint hier v. a. auf die erstarkende Debatte um 116
Nicht umsonst behandeln Abbts Hauptwerke, Von dem Tode für das Vaterland (1761, 2. Aufl. 1770) und Vom Verdienste (1765, 2. Aufl. 1766), die Möglichkeiten und Vorteile der Vita activa. Beide Werke »bildeten wesentliche Anstöße eines umfassenden Politisierungsprozesses der Aufklärungsgesellschaft.« (Bödeker 1981, 225)
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Montesquieus L’esprit des lois (1748), v. a. durch deren Aufnahme in Johann Georg Zimmermanns Von dem Nationalstolze (1758) – später zusätzlich durch Friedrich Carl von Mosers Von dem deutschen National-Geist (1765) – anzuspielen. Sein Interesse an einer nicht zuerst politisch, sondern metaphysisch gültigen Bestimmung des Menschen bleibt jedoch erhalten und äußert sich in bestimmtester Form in seinem Zweifel sowie den daran anschließenden Briefen an Mendelssohn.
1. Abbts »Zweifel« Zur Eröffnung der Debatte bietet Abbt eine andere Binnendifferenzierung in der Frage nach der Bestimmung des Menschen, als dies Mendelssohn getan hatte. Sie lässt sich in Anlehnung an Altmann (1982, 101) als subjektive bzw. objektive Perspektive auf die menschliche Bestimmung darstellen. Abbt formuliert dies folgendermaßen: »Die Bestimmung des Menschen! soll dies so viel heissen: wie sich der Mensch zu diesem oder jenem Verhalten, um glücklich zu werden, bestimmen soll? oder soll es heissen: der bestimmte Platz für den Menschen in der Beziehung auf das ganze angeordnete Weltgebäude? Nach der letztern Bedeutung wird die Beantwortung der Frage schwerer. Doch dies schadet nichts: meine Frage ist auch erheblicher […].« (JubA VI/1, 10)117 Anders formuliert kann also die Bestimmung des Menschen entweder als eine Frage des persönlichen Glücks, oder in Bezug auf eine universelle Dimension gedeutet werden. Die metaphysisch und damit, so Abbt, »schwerer« zu beantwortende objektive Dimension der Bestimmungsfrage lautet auch: gibt es überhaupt ein sinnvolles, gottgewolltes Weltganzes? Sie ist deshalb »erheblicher«, da sie die subjektive Dimension und damit die Frage nach dem individuellen Glück mit umfassen soll. In diesem Sinne steht hinter der objektiven Dimension, der Einordnung des Menschen in ein »Weltgebäude«, auch, ob in diesem Ganzen die individuelle Glückseligkeit Raum erhalten und was genau der Einzelne zu dessen Verwirklichung beitragen kann. Zu ihrer Beantwortung sind die von Mendelssohn angegebenen Momente der Konstitution wie Destination zu berücksichtigen, oder, mehr noch, stehen die Momente menschlichen Seins und menschlicher Zweckhaftigkeit in einem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis. Dieses ist in Bezug auf Abbts Zweifel, die Bestimmung des Menschen betreffend herauszuarbeiten. Es wird sich zeigen, dass Mendelssohn und
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Vgl. damit Abbts Brief an Mendelssohn vom 20. Februar 1764 (also vor der Debatte, wie sie in den Litteraturbriefen veröffentlicht wurde), JubA XII/1, 38, Punkte 1 und 2 sowie bzgl. einer ähnlich gelagerten Unterscheidung, die in Bezug auf die subjektive Perspektive die Notwendigkeit der Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wesens des Menschen festhält den LB 179: 30. Juli 1761, 20.
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Abbt in Hinsicht auf dieses Verhältnis unterschiedliche Gewichtungen vornehmen, was entscheidenden Einfluss auf ihre Bewertung von Spaldings Schrift bzw. der Beantwortbarkeit der Frage menschlicher Bestimmung hat. Obwohl Abbt dabei der objektiven Dimension größeres Gewicht zugesprochen hatte, wird er vielmehr Gründe dafür angeben, weshalb sich auch die Philosophie mit der subjektiven Dimension begnügen sollte. Getragen wird Abbts Zweifel von einer durchweg skeptischen Distanz gegenüber den Verteidigern des sogenannten »Optimismus«, denjenigen Philosophen (und Theologen) also, die eine Erklärung aller weltlichen Übel durch einen Verweis auf die letztlich guten göttlichen Absichten zu leisten versuchten. Die Gründe zur Erklärung empirisch nachweisbarer Übel wurden dabei der traditionellen Metaphysik oder auch der Offenbarung entlehnt, während die Gegner dieser Ansicht darauf verwiesen, dass die Besinnung auf umfassende rationale Strukturen dem Leid des Individuums Hohn sprächen. Im Spannungsfeld der Diskussion steht also der Widerstreit zwischen individueller, empirischer Erfahrung und universeller, rationaler Überlegung, die jeweils um ein tragfähiges Konzept des Menschen und seiner Stellung in der Welt ringen. Im erwähnten Brief an Mendelssohn vom 10. November 1762 zeigt Abbt, welcher Seite des Streits er zuzuordnen ist. Die Betrachtung der Historie zumindest habe ihm hinlänglich gezeigt, dass es keinen Zweck hat, sich auf die Überzeugung göttlicher Fügung in menschlichen Schicksalen zu verlassen; allzu leicht lasse sich dieser Gedanke durch das faktische historische Geschehen widerlegen. Sein jetziger Vorstoß im Zweifel richtet sich darüber hinaus gegen Spaldings Schlussfolgerung in dessen Bestimmung des Menschen: dass letztlich die jenseitige – und erwartbare – Glückseligkeit den Menschen schon im Diesseits trösten solle. Wie es Adler (1994, 129) polemisch ausdrückt, bietet dies für Abbt allein »Trost durch Vertröstung«. Gegen diese Spalding’schen Tröstungen wendet er sich vehement.
a) erster Trost: menschliche Offenheit Abbt gibt seiner Kritik ein allgemeines Gesicht, indem er zu Beginn des Textes in Form einer Parabel die optimistische Grundstimmung von Spaldings Werk unterminiert und zugleich Grundlinien seiner eigenen Ansicht vorgibt. Mit der Parabel reagiert er auf Spaldings »ersten Trost«. Dieser hatte auf den dynamischen Charakter menschlicher Vervollkommnung hingewiesen, die sich schon im Diesseits abzeichne und, bei »vernünftiger« Betrachtung, dem Menschen die Zweckhaftigkeit irdischen Daseins offenbare. Abbt hält dagegen, dass die Offenheit der Entwicklungsfähigkeit nicht prinzipiell ihre Erfüllung im Jenseits in sich enthielte; noch, dass dies rational erkennbar sei. Zwar ist es vorstellbar, dass alles einen Sinn und eine Fortsetzung im
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Jenseits findet und sich damit letztlich zum Guten und Passenden fügt. Aber der Mensch weiß dies nicht und sollte sich dementsprechend nicht auf die Wahrheit dieser Hoffnung verlassen. Leben ließe sich vielmehr als eine Aufgabe verstehen, das Abwesende oder Unerkennbare nicht mehr zu befragen und es stattdessen mit einem diesseitig orientierten Sinn zu füllen. Diese Aufgabe soll nun aber nicht die Religion, sondern die (praktisch verstandene) Philosophie lösen.118 Auf Abbts Antwort auf Spaldings »zweiten Trost«, die Kompensationstheorie, wird in Abschnitt b) näher eingegangen. Die Parabel, die Grundlage des ersten Aspekts seiner Kritik, entnimmt Abbt vorgeblich einer »Beschreibung von dem Marsche einiger Kriegsvölker, und was für lustige Begebenheiten sich dabey zugetragen. Strasburg 1586« (JubA VI/1, 11). Ob man die Gespräche einiger Teilnehmer dieser Märsche auch als eine solche »lustige Begebenheit« bezeichnen sollte, lässt Abbt offen. Er schildert die ihn interessierenden »mancherley Reden und Muthmaßungen« (ebd.) verschiedener Gruppen: zum einen die in den Tag hineinlebenden Soldaten, von denen einige des Nachts spurlos verschwinden, ohne dass ihre Mitstreiter wüssten, aufgrund welchen Befehls und wohin sie abgeordert worden seien. Zum anderen die gemäßigten und immer abmarschbereiten Oberste und Offiziere, die jedoch ebenso wenig wie ihre Untergebenen von den »geheimen Absichten des Soldherren unterrichtet« sind.119 Man rätselt neben dem Verbleib einiger Soldaten auch über die künftige Kriegsplanung; alle sind ungewiss über Richtung und Sinn des Krieges, sogar darüber, ob überhaupt einer stattfindet, oder es sich um eine anders geartete Mission handelt. Ebenso herrscht Unsicherheit über die Kriterien von Belohnung bzw. Bestrafung durch den Soldherrn. Die Abberufung der Soldaten jedenfalls geschieht dem Anschein nach völlig unmotiviert. Die Aufschlüsselung der Parabel ist so deutlich, dass abgesehen von ihrer skeptischen Botschaft auch ihre ironischen Spitzen ins Auge stechen. So gäbe es zwar einige »Soldaten«, die angeblich Briefe der verschwundenen Waffenbrüder erhielten – doch 118
Abbt Suche nach philosophischen Lösungen der Bestimmungsfrage reflektieren zwei stoisch geprägte Äußerungen in seinem Aufsatz »Vom rechten Studium der Philosophie« (um 1760; Fragment): »Das Geschäft der Philosophie ist: Unser Leben einzurichten, zu ordnen, zu verschönern; und zu lehren, das Widrige stark, das Gute mäßig und ruhig zu ertragen; im Unglück unser Trost zu sein, im Wohlstand uns etwas nieder zu halten […] Jede Kenntnis, die beiträgt, Glückseligkeit durch Vernunft zu erlangen, ist folglich Teil der Weltweisheit […]« (Abbt, Werke VI, 155) »Der letzte größte Endzweck aber ist: daß die Philosophie uns zeigen muß, wie wir durch Vernunft, aus der Kenntnis unserer selbst und anderer Dinge außer uns, unser Leben bestimmen und unserer Glückseligkeit erlangen sollen.« (ebd., 99 f.) 119 Deutlich sichtbar wird hier auch die soziale Dimension von Abbts Kritik, wie sie Adler 1994, 131 ff. weiter ausführt. So auch Herder in seinem Torso von 1768: »[…] seine ganze Schrift vom Tode fürs Vaterland […] ist von einem Manne, der als Mensch fühlte, als Bürger dachte, als Untertan schrieb.« (Herder, Werke 2, 582)
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gerade dies seien »Leute, an die am letzten unter allen jene [Waffenbrüder] würden geschrieben haben« (JubA VI/1, 11). Übersetzt heißt dies wohl, dass all diejenigen, die behaupten, Kenntnis über den Verbleib der Verschwundenen (=Verstorbenen) und damit eine Ahnung über Art und Weise des zur Frage stehenden Einsatzes zu haben, ausgerechnet solche Personen seien, denen sich die Verschwundenen niemals anvertraut hätten. Oder, noch deutlicher: diejenigen, die die Offenbarung für sich reklamieren, erscheinen ihrer am unwürdigsten. So Abbts Polemik. Letztlich bietet sich den Soldaten kein einziger verlässlicher Anhaltspunkt für den Sinn und Zweck ihres Unternehmens. Selbst wenn bereits eine Strafe zu erleiden ist, ließe auch diese keine Einsicht in die weiter gehenden Absichten des »Soldherren« erkennen. Ebenso wenig lässt sich daraus ableiten, ob nach dem Einsatz noch weitere Strafen folgten. Die »Soldaten« sind mit bloß unsicheren Hinweisen auf ihrem Einsatz allein gelassen. Interpretiert man die Parabel als ein Bild menschlichen Lebens, so wissen Abbt zufolge die Menschen über nähere Zwecke ihres »Soldherren« Gott nichts und jeder Erklärungsversuch scheitert an der nackten Kontingenz der Ereignisse. Wie soll man nun mit der Unkenntnis über seine eigentliche Aufgabe auf Erden leben? Schlimmer noch: was, wenn es gar keinen eindeutigen »Marschbefehl« gibt, keinen obersten »Soldherren«? Abbts Antwort ist die des Verzichts: man solle sich feste Regeln für die unmittelbare Gegenwart, also unangesehen des Unwissens über die weitere Bestimmung, machen. Alle darüber hinausgehenden Fragen sind sinnlos. In diesem Sinne radikalisiert er die subjektive Seite der Bestimmungsfrage: aufgrund der fundamentalen Unsicherheit bzw. Unbeantwortbarkeit der Frage nach einem außerweltlichen Zweck besteht die Notwendigkeit zur Etablierung einer vom »Soldherren« unabhängigen Tugend. Bloßes Hoffen auf jenseitige Sinngebung und Besserung, also Spekulationen über mögliche Pläne Gottes sind fruchtlos, gar schädlich. Letztlich hat Abbt damit ausgesprochen, was er schon im ersten diesbezüglichen Brief vom 10. November 1762 festhält: »Aber was können wir nun auf der Erde davon [dass wir angeblich zu einem »grösseren Plan gehören«, ebd.] nützen? Weiter nichts als dieses, deucht mir, daß jeder Mensch sein eigenes Glück durch seine Tugend machen müsse, und daß sich die Vorsicht weiter in keine Belohnungen und Strafen mische, als in so ferne sie ihren Plan durchsetzen muß.« (JubA XII/1, 360) Schon der letzte Satz zeigt allerdings, dass sein Abweis der Existenz einer »Vorsehung« durchaus nicht so radikal ist, wie es den Anschein hatte. Vielmehr wollte er mit der Parabel betonen, dass ein trostvoller Blick des Einzelnen auf ein sinnstiftendes Ganzes unmöglich ist und deshalb der Offenbarung überlassen werden muss.120 Schweigt diese, so ist die Möglich120
So M. Heinz 1992, 266. Lorenz 1997, 202 f. (FN) betont dagegen, dass Abbt hier die Trennung zwischen der jenseitigen Bestimmung, die der Offenbarung bedürftig sei, und der Erkennbarkeit der Bedingungen diesseitigen Wohlverhaltens stärkt.
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keit einer Kenntnis des Menschen und seines Gottes prekär. Abbts Ausweg ist, nach Bedingungen zur Erfüllung diesseitiger menschlicher Bestimmung zu fragen. Über den Fideismus, den Verzicht rationaler Begründung und dem Rückzug auf einen schlichten Glauben hinaus fordert er hier Besinnung auf das Menschenmögliche: Denn da die Offenbarung, wie die Parabel zeigen sollte und auch die SüßmilchRezension anklingen ließ, hinsichtlich der Spezifizierung menschlicher Bestimmung schweigt, so muss sich der Mensch mit seinen allein diesseitigen Zwecken, soweit er sie erkennen kann, begnügen. So unklar also die allgemeinen Weltzusammenhänge und –gesetzlichkeiten auch sind, so könne man doch durch die Besinnung auf eine diesseitige »Tugend« die spezifisch menschlichen Erfordernisse letztlich erreichen. Ausgehend von »dem allgemeinen Endzwecke aller erschaffenen Dinge« (JubA VI/1, 15) sollen »Lebensregeln« gefolgert werden, »die auch richtig und zur Erreichung meiner möglichsten Glückseligkeit hinlänglich wären.« (ebd.) Die Untersuchung der Bedingungen diesseitigen Glücks sei für den Menschen erreichbar und benötigte gar keinen Rückgriff auf irgend einen Glauben: »Und so ist es klar, daß der Mensch, vor dem die Thüre seines Einganges in dieses Leben, und die Thüre seines Ausganges aus demselben mit Wolken verdecket ist, daß dieser Mensch, sage ich, doch Licht genug hat für den Weg, den er wandeln soll.« (JubA VI/1, 15) 121 Allerdings erfordert die tröstliche Ansicht – die deutlich auf den von Abbt verehrten Epos Alexander Popes, Essay on Man (1734), anspielt (vgl. Redekop 2000, 135) –, nämlich dass dem Menschen genug Licht für die Erfüllung seiner irdischen Bestimmung bleibe, mehr, als die Parabel selbst und Abbts weitere Ausführungen hergeben. So scheint in der Parabel die Lage weniger hoffnungsvoll, da noch nicht einmal die sichtbaren Anzeichen sich zu einem sinnvollen und lebbaren Ganzen zusammenfügen wollten. In den darauf folgenden Ausführungen des Zweifels hingegen klingt es so, als sei – hätte man erst einmal seinen Fragehorizont auf weltimmanente Fragen begrenzt – »hienieden« eine befriedigende Lösung erreichbar und eine umfassende, auf eine »Vorsehung« hin deutende Ordnung zu erkennen. Abbts Skeptizismus ist nicht universell, sondern gilt für das Bedingungsverhältnis zwischen der objektiven Bestimmung, nämlich der Einpassung des Menschen in eine nicht gänzlich zu erkennende, aber als vollkommen unterstellte Schöpfung, und der subjektiven Seite, der Erreichbarkeit menschlichen Glücks. Er beantwortet letztlich also nicht 121
Abbt verwendet dieses Bild in etwas variierter Form auch in seinem Entwurf Vom rechten Studium der Philosophie (1760): »Das Geschäft der Philosophie ist: unser Leben einzurichten, zu ordnen, zu verschönern; uns zu lehren, das Widrige stark, das Gute mässig und ruhig zu ertragen; im Unglück unser Trost zu seyn, im Wohlstand uns etwas niederzuhalten; und endlich, am Ende der Laufbahn, durch gutes Bewußtseyn uns aufzurichten; und wenn sie auch beym Eintritt ins andere Leben die Fackel nicht vorträgt, doch in etwas die Dunkelheit zu erleuchten.« (Werke 6, 115) Hier herrscht eine stoische Philosophiekonzeption vor, die zwar nicht das Jenseits beleuchtet, jedoch den Trost eines ewigen Lebens zu versprechen scheint.
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die »erheblichere« Frage der objektiven Dimension, sondern weist auf die Gründe hin, weshalb der Mensch mit der subjektiven Dimension vorlieb nehmen muss, um zugleich mit der Abkehr vom Eudaimonismus, da individuelles menschliches Glück kaum erreichbar erscheint, noch der Einzelne seine Glückvorstellung seinen Nebenmenschen unterstellen dürfe, eine Rückbesinnung auf einen gesellschaftszentrierten Tugendbegriff zu fordern.122 Damit übergeht Abbt jedoch ein Problem, das er in der Parabel geäußert hatte: Denn offensichtlich erscheint die Welt voller verwirrender und den sich aufs Diesseits beschränkenden Menschen in die Quere kommender Ereignisse, die diesen aus seiner Selbstgenügsamkeit hinaustreiben und die Fragen: »Warum gerade ich? Warum gerade jetzt?« in ihm wachrufen. Dieses Bedürfnis hatte er mit der Parabel beschworen, um es nun als haltlos abzuweisen, indem er auf die notwendige Beschränkung auf innerweltliche Angelegenheiten verweist. Eine Begründung der »Tugend« und ihrer Kriterien, die den Gottesbezug abzulösen in der Lage wäre und den derart Fragenden tatsächlich beruhigen könnte, unternimmt er hier aber gerade nicht. In den an die Parabel anschließenden Abschnitten des Zweifels kritisiert Abbt Spaldings Vorgehen direkt. Durch die meditative Versenkung erhalte man keine allgemeingültigen Ergebnisse, sondern eine (ungenaue) »Bestimmung aller Geschöpfe«, aber nicht diejenige des Menschen (vgl. JubA VI/1, 12 und Lorenz 1997, 201). In seinem monologischen, meditativen Vorgehen verliere Spalding ebenfalls die Vielfalt menschlicher Charaktere aus dem Blick.123 Insbesondere sei nicht ausgemacht, dass tatsächlich jeden bei der bloß epikuräischen Befriedigung seiner Sinnlichkeit das »dunkle Gefühl eines Mangels« beschleiche, das über die bloß sinnliche Sphäre des Menschen hinausverweise (vgl. Spalding 7/1763, 10 ff.). Letztlich also sind Abbt zufolge menschliche Lebensziele disparater, als Spalding dies annimmt. Jedoch erfordert eine derartige Untersuchung neben einer »uninteressierten und vorurteilsfreien Vernunft« (M. Heinz 1992, 266) nicht nur die Selbstbeobachtung, sondern auch die Kenntnis fremder Völker und der Geschichte124 und damit einen umfassenden Blick auf sämtliche individuelle Ausprägungen des Menschseins. Fehlt dies, so sind die gewonnenen Ergebnisse zu ungenau, um dem Menschen wirkliche Orientierung
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Redekop 2000, 134 weist hier auf den Einfluss Helvétius’ De l’Esprit hin, der die tugendhaften Konzepte als Konstrukte zum Erhalt von Gesellschaft (und damit letztlich dem Eigeninteresse dienlich) bezeichnet hatte. 123 Die Beschränkung auf den »Denker«, der sich allein der Erkundung menschlicher Bestimmung widmen könne, trug nach Jannidis 2002, 86 nicht unerheblich zu der »Auratisierung« des Begriffs »Bestimmung des Menschen« bei. Ein Problem dieses Vorgangs ist freilich, dass damit zugleich eine Deutungshoheit angemeldet wird, die mit Rückgriff auf diese Formel nicht mehr zu rechtfertigen ist. Auch in diesem Sinne ist Abbts Kritik daran der Aufklärung verpflichtet. 124 Vgl. JubA VI/1, 10. Wobei allerdings Abbt die Schwierigkeit, inwiefern eine vorurteilsfreie Kenntnis dieser fremden »Menschengeschlecht[er]« möglich sein soll, ebenso wenig beantwortet.
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zu bieten. Das offensichtliche Problem, wie mit einer allgemeinen Überlegung jede spezifische Individualität erfasst werden soll, verschweigt Abbt dabei, noch bietet er Ansätze zu dessen Lösung. Darüber hinaus seien die von Spalding verwendeten Begriffe wie »Glück«, »Strafe«, »Ewigkeit« etc. allzu unbestimmt und relativ, um eine eindeutige Antwort darzustellen. Indem Spalding zwar auf die Destination des Menschen ziele, aber dessen spezifische Konstitution nicht berücksichtige, könne er auch gar keine Schlüsse auf »die Geheimnisse der Gottheit über« den Menschen ziehen (JubA VI/1, 15). Abbt betont zu Recht die logischen Lücken, die Spaldings Schluss einer angeblichen unendlichen Vervollkommnung offen lässt. So ist es kaum möglich, das Gefühl einer unendlichen Vervollkommnung nach menschlichen Maßstäben zu beweisen125; ebenso gut könnte es schlicht auf einem vagen Wunsch basieren. Was berechtigt den Menschen dazu, sich selbst zu »dem Subjekt [zu machen], an dem diese Durchsetzung [des Guten] geschehen muß?« (JubA VI/1, 17) Eine Hoffnung auf Unsterblichkeit gesteht Abbt zwar zu, hält jedoch weder ihre genaue Ausgestaltung noch ihren Beweis für durchführbar – also können auch keine »Lebensregeln« auf Unsterblichkeit gebaut werden. Alle dahingehenden Bemühungen sind letztlich der Gefahr des menschlichen »Eigendünkels« ausgesetzt, der dazu tendiert, anzunehmen, »daß Ordnung hier fehle, so bald wir sie nicht fühlen.« (JubA VI/1, 18, Hervorhebung A.P.) Spalding führe die Spekulation sogar noch weiter, indem er über einen weiteren Sinn nachdenke, der sich womöglich nach dem Tod, also dem wahrscheinlichen Verlust der anderen fünf Sinne, ergebe. Dies sei ebenso unzulässig, wie zum Beweis bestimmter Vorgänge einen sechsten, oder siebten Sinn anzunehmen: mit einer solchen Argumentation komme man bis ins Unendliche, nur nicht zu einem gültigen Schluss. Letztlich pocht Abbt hier auf den Grundsatz, dass die Vermutungen mit Erfahrungen belegt werden müssen, um nicht in fruchtlose Spekulation auszuarten: »Sobald ich diesen [den Körper, also die Sinnlichkeit, A.P.] ganz wegfallen lasse; so verliere ich den dünnen Faden, der mich auf die Spur des Denkens leitet.« (JubA VI/1, 17) Eine genauere Untersuchung der menschlichen Natur wäre also als Grundlage weiterer Überlegungen erforderlich. Darüber hinaus ist der Beweis einer jenseitigen Vervollkommnung der Bestimmung, wie Spalding ihn vorbringt, nur zu halten, wenn »das menschliche Geschlecht an das übrige Weltgebäude weiter gar nicht gebunden sey.« (JubA VI/1, 17). Spalding argumentiere also erst mit dem Hinweis auf die göttliche Harmonie, um sie zur Erfüllung des vage gefühlten Wunsches individueller Vervollkommnung wiederum 125
Abbt nennt, hier ganz Empirist, als Beispiel die Unzulänglichkeit des Gedächtnisses; vgl. JubA VI/1, 17. »Versuche, die man gemacht hat, beweisen, daß es wenigstens im gegenwärtigen Körper einen Stillstand habe.«
I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog
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zu verletzen, kurz, ihm misslinge es, die subjektive und objektive Ebene konsistent miteinander zu vereinbaren.
b) Zweiter Trost: unendliche moralische Vervollkommnung Abbts Kritik an Spalding hat, wie erwähnt, noch einen weiteren, auf die Ausgestaltung einer Moralphilosophie bezogenen Aspekt. Mit seinen Argumenten gegen die moralische Validität einer ›Vergeltungstheorie‹ bezieht er sich kritisch auf Spaldings ›zweiten Trost‹. Wie die Soldaten der Parabel nach völlig willkürlich erscheinenden Gesichtspunkten ›abberufen‹ werden, so ist Abbt zufolge in der menschlichen Geschichte kein Hinweis auf eine gerechte Verteilung von Glückseligkeit ersichtlich. Spalding verweist hier auf einen notwendigen Ausgleich irdischer Ungerechtigkeit im Jenseits. Die Voraussetzung dafür ist aber zum einen das Unsterblichkeitspostulat, zum anderen eine auf ›Vergeltung‹ und ›Ausgleich‹ angelegte Moral. Beides findet Abbts Kritik. Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele könne man zum einen in Hinblick auf die allgemeine metaphysische Lehre »keine Substanz wird vernichtet« (JubA VI/1, 15 f.) zu beantworten suchen. Damit ist allerdings noch nicht geklärt, ob die individuelle Seele im Jenseits zu ihrem Recht kommt. Darüber hinaus ist aber die spezifischere Frage: »Gehört wohl zu meiner Existenz auf der Erde noch eine Fortdauer mit angeknüpftem Faden der Begebenheiten unter zurückerinnerndem Bewußtseyn«?126 (JubA VI/1, 15), darauf spielte die Parabel an, nicht beantwortbar. Dies führt Abbt v. a. bezüglich Spaldings Morallehre aus. Der spezifisch menschliche, individuelle Zweck, »zu dessen Erreichung der Mensch an die ihm zugewiesene Stelle gekommen ist« (JubA VI/1, 16), kann eben nicht mit Verweis auf jenseitige Kompensation beantwortet werden. Das Diesseits als Prüfung und entsprechend das Jenseits als Ausgleich und Entschädigung dessen zu verstehen, sei wohl kaum eine verlässliche Erklärung, da diese sich wiederum auf eine Hoffnung gründe, die schon in Bezug auf die unendliche Vervollkommnung zurückgewiesen wurde. Nur weil es dem Menschen so erscheint, dass ihm Unrecht geschehen sei, könne man darauf nicht ein Wissen gründen, dass dieses Unrecht im Jenseits ausgeglichen werden müsse. Vielmehr charakterisiert Abbt Spaldings Glaubensweise als eine fromme, jedoch unbegründete Hoffnung. Dementsprechend lautet sein Resümee knapp und abschlägig: »Allein es giebt Artikel, die einer dem andern ohne Gedanken nachbetet, blos weil man froh ist, etwas, das man vortragen kann, zu haben« (JubA VI/1, 17). Solange diese 126
Ebenso behandelt Leibniz in der Theodicée die Frage nach der Unsterblichkeit in zwei Teilen: neben der Unverweslichkeit muss auch die Fortgängigkeit des »Bewusstseins« bewiesen werden; Mendelssohn wird dieses Schema im Phädon übernehmen; vgl. Kap. V.1.
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
»Glaubensartikel« nicht bewiesen sind, steht ein darauf gebautes Moralsystem auf tönernen Füßen. Ist die Perspektive allein auf das Diesseits beschränkt, fällt die ungerechte Verteilung von Glück und Unglück ins Auge; und auch der Trost, dass der skrupellose Tyrann eigentlich nicht glücklich sein kann, hypostasiert lediglich die ganz persönliche Vorstellung von Glückseligkeit als die einzig mögliche (vgl. JubA VI/1, 16).127
Abbts Ausweg: Diesseitige Moral Was ist aber nun Abbts Ausweg aus dieser verzweifelten Lage? Die Zweifel daran, ob das menschliche Leben womöglich nicht teleologisch eingerichtet und gerechtfertigt ist, sind ihm zufolge kein Einfallstor für umfassenden Nihilismus oder Tatenlosigkeit, sondern weisen den Menschen auf die ihm angemessene Konzentration auf seine »Bestimmung«: er soll »[z]uerst anbeten! und dann wohl thun!« (JubA VI/1, 18) Dies ließe sich so paraphrasieren, dass der Mensch sich bescheiden (und glauben) und damit auf die ihm möglichen, diesseitigen Handlungen konzentrieren solle. Nicht um einer irgend gearteten jenseitigen Belohnung willen, sondern weil er doch trotz aller Zweifel eines innerweltlichen Zwecks gewärtig werden könne: »Dis kann ich erkennen, daß ich mit allen Geschöpfen zur Ordnung und Eintracht geschaffen bin, und daß bey Zerstörung derselben mein Glück nicht bestehen könne.« (JubA VI/1, 18) Dieses Glück, das einzig begründbare, besteht aus der innerweltlichen, gesellschaftlichen bzw. geselligen Ordnung zwischen den Menschen, wobei die höchste Stufe der Tugend, die altruistische Neigung zum Mitmenschen, eben nicht angeboren sei, sondern erworben werden müsse (vgl. JubA VI/1, 14).128 Der Ausweg aus 127
In seiner Rezension von Süßmilch in LB 245: 1. Juli 1762, 68 benennt Abbt dieses Problem bereits: Der Mensch ist nicht Mittelpunkt und Maß aller Dinge – »welches wohl einer der grössesten und allgemeinesten Irrthümer seyn dürfte« (ebd.) – und dürfe deshalb nicht vergessen, dass er seine Erkenntnisse von einem bestimmten Standpunkt aus gewinne. 128 Vgl. Vom Verdienste 1766, 349 f.: »Bey dem Wohlwollen würde es nun wohl in die Augen leuchten, daß, da es entweder durch philosophische Gründe, oder durch gewisse Verordnungen, Grundsätze oder Triebfedern dem großen Haufen müßte beygebracht werden, daß, sage ich, nur solche Verfassungen, worinn dergleichen angelegt worden, auch dieses zum Verdienst nöthige Wohlwollen erreichen: daß hier die Religion ungemeine Dienste leisten könne, und daß die eingeschärfte Pflichten der Allmosen, der Gastfreyheit und Leutseligkeit gegen Fremde auch bey dem stärksten Despotismus recht gute wohlwollende Herzen schaffen können; daß sogar die gesetzliche Ceremonien der Chineser, und die ehrwürdige Verhältnisse zwischen jedem Mandarin und seinen Untergebenen, wie zwischen Vater und Sohn ein solches Wohlwollen gleichfalls ins Herz prägen können; daß aber freylich nur in den Republiken, wo jeder / dem andern als Gleicher und als Bruder erscheint, ein solches Wohlwollen zur Triebfeder des ganzen Staates, unter dem Namen der Tugend könnte angewandt werden; daß der Grundsatz der Ehre eigentlich das Wohlwollen ausschließe, und wenn gar Ueppigkeit sich zu dem erstern gestellet [sic], dasselbe vollends ermorde,
I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog
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der Parabel ist damit ein zweifacher. Zum ersten ist es die Mahnung, sich hinsichtlich philosophischer Erkennbarkeit auf diesseitige Verhältnisse zu beschränken. Der zweite Ausweg ist die Konzentration auf das entsprechende Moralsystem, das seinen Fokus auf die humane Einrichtung menschlicher Gesellschaften und nicht auf einen wie auch immer geordneten, jenseitigen ›Ausgleich‹ richtet. Nach Lorenz (1997, 201) ist der ganze Zweifel Ausdruck von Abbts »Überzeugung von der Möglichkeit einer provisorischen, nicht-theonomen Moral«. Dem entspricht die Verneinung der möglichen Formulierung einer Vorsehung, die dem Menschen schon auf Erden über seine Bestimmung – auch die jenseitige – belehrte und die Forderung nach einer neuen Begründung des tugendhaften Handelns. Allerdings fehlen diesbezügliche positive Ausführungen. In seiner Rezension von Mosers Beherzigungen (1761) in den Litteraturbriefen lässt sich ein Ansatz in diese Richtung verzeichnen, indem Abbt dort die Unterscheidung zwischen politischen und religiösen Tugenden durchführt.129 Wiederum meint diese Unterscheidung nicht, dass politische Tugend auf anderen Grundlagen basiert, sondern sie ist struktureller Natur: die Befolgung politischer Tugenden erfordert eine andere Art des Gehorsams als diejenige religiöser Tugenden. In der letzteren ist Unterwerfung unter Gottes Gebot die höchste Maxime, die erstere jedoch gebietet republikanisches und damit auch freies und eigenverantwortliches Handeln zur Beförderung allgemeiner Wohlfahrt, nicht fragloses Gehorchen (vgl. Abbts Rezension in LB 179, 15 ff.). Über die Begründung dieser Tugenden ist damit nichts gesagt, im Gegenteil, erwähnt Abbt hier ausdrücklich die sich aus der gesellschaftlichen und naturhaften Ordnung der Welt ergebende Ahnung auf dessen göttlichen Urheber, dessen »Ehre zu befördern« die Menschen schuldig sind (ebd., 19) und führt die Tugenden wiederum auf eine alle vereinigende »Welttugend« (mit Verweis auf Shaftesbury, ebd., 20 f.) zurück. Aufruhend auf der »moralischen« Tugend ergäben sich die »Societätstugenden«, die zur Aufrechterhaltung eines Gemeinwesens notwendig seien. Es geht ihm also nicht um eine »Befreiung« der Politik von Moral und Glauben, sondern um eine angemessene Differenzierung. Diese soll es ermöglichen, die empirisch-historisch evidente, tugendhafte Haltung auch derjenigen Staatsmänner zu erklären, die nicht dem christlichen Glauben (v. a. an die Unsterblichkeit, daß in solchen Fällen die Religion um destomehr zu verstärken sey, zumal da die Philosophie nur auf wenige wirket; daß aber diese auch, wo sie sich zeiget, in jeder Verfassung ihre Wirkung thun könne.« 129 Mit Mosers Beherzigungen setzt sich schon LB 178: 30. Juli 1761, 3–14 allerdings lediglich in stilistischer Hinsicht auseinander, während die daran anschließenden Briefe 179 f. (inkl. Beschlüsse und Nachschriften bis zum 13. August 1761), 14–38 mit der Frage nach spezifisch politischen Tugenden und ihrem Verhältnis zu den moralischen Tugenden befasst sind. Redekop 2000, 148 f. hält Abbts Trennung zwischen Politik und Moral hier für stärker, als es der Text m. E. zulässt.
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vgl. 29 ff.) anhingen und dennoch nicht zwangsläufig allen moralischen Geboten zuwider handelten. Abbt geht es in seiner Kritik eher um die Unterscheidung der wohlfeilen Proklamation des Christentums auf der einen, und dem tugendhaften Ausrichten der Handlungen nach Grundsätzen auf der anderen Seite. – Letzteres ist auch dem nichtchristlichen Staatsmann möglich. Jedoch sind seine Ausführungen eher empirischer als philosophischer Natur, da er eine glaubensunabhängige Begründung dieser moralischen Grundsätze eben nicht unternimmt, weder hier noch in seinen Hauptwerken.130 Unübersehbar ist in diesen zwar der generelle Zug, zur Verbesserung der menschlichen Gesellschaft beizutragen.131 Jedoch vermögen beide die Begründungslast nicht vollständig zu tragen – im Gegenteil, verweist Abbt in ihnen ausdrücklich auf den der Legitimation eines »Verdienstes« vorangehenden Gottesbegriff, der den Ausführungen zugrunde liegt132; auch wenn bisweilen »Seelenstärke« erforderlich sei, sich angesichts einer verwirrenden Welt dem Glauben hinzugeben.133 Im vierten Kapitel »Vom Erwerb des Verdienstes« in Vom Verdienste (ebd., 336–50) betont er darüber hinaus den Wert der Religion für die bürgerliche Gesellschaft (v. a. Vom Verdienste, 349 f.), die dem »gemeinen Mann« verständlich sei und deshalb der Tugend nicht nur ihren Wert, sondern auch die angemessene Durchschlagkraft gäbe. »Kurz, weder die Metaphysik über das menschliche Herz, noch das alberne Zeug ohne Philosophie über dasselbe ist für den gemeinen Mann zugerichtet. Er braucht beydes nicht. Treu und fleißig in seinem Berufe wandeln; seinen Obern gehorchen; seinen 130
Redekop 2000 150 ff. unternimmt eine solche Begründung in Hinblick auf Abbts Abhandlung Vom Verdienste (1765), die einen an utilitaristischen Standards ausgerichteten Begriff einer guten, i. S. v. dem Allgemeinwohl dienlichen Handlung etabliert und diese als von einem (noch auszubildenden) Publikum anhand des ›common sense‹ beurteilbar vorstellt, vgl. dazu auch Kuehn 1987, 251 ff. Der Übergang zwischen dem Selbstinteresse und dem gesellschaftsbezogenen Interesse, sobald der Einzelne in Gesellschaft tritt und bemerkt, dass man zusammen mehr erreichen könne (LB 179 und Beschluss, 16 ff.), wird allerdings nicht begründet und erscheint philosophisch lückenhaft. Vor allem kann dieser Ansatz das Konzept des ›Trittbrettfahrers‹ nicht erklären, der sich zwar in Gesellschaft begibt und alle zum geselligen Handeln anregt, selbst jedoch weiterhin egoistische Motive verfolgt. Zum anderen ist unklar, wie ein ›natürliches‹ Eigeninteresse durch den bloßen Eintritt in die Gesellschaft zu einem Interesse am Erhalt dieser mutiert und sich sogar soweit ausbildet, dass Handlungen gegen das Eigeninteresse möglich werden. All dies mag empirisch feststellbar sein; begründet ist es damit nicht. 131 Vgl. dazu Redekop 2000, 123–67, der Abbts Modell einer Etablierung eines aufgeklärten und politischen Publikums nachzeichnet. Abbts Ziel sei es »to lead readers to locate themselves and their well-being in an enlarged societal frame« (ebd. 123), wobei sein Fokus auf der Etablierung einer von die freie Meinungsäußerung unterdrückenden Tendenzen des Staates befreiten öffentlichen Sphäre liegt. 132 So wird bspw. S. 169 die »Nachahmung der Gottheit« weitaus höher gewertet als Gegenstände, die sich »blos als eine Folge der Menschheit« erweisen. 133 Vgl. Vom Verdienste 1766, 104 (gegen den Selbstmörder), auch S. 108: »Die Stärke der Seele besteht also in der Leichtigkeit, diese zum Vortheile wichtiger Ideen nöthige Herrschaft über den Willen zu erhalten.«
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Lüsten und Begierden nicht fröhnen; auf Gott vertrauen; in ihm seine Freude und Beruhigung suchen; einer fröhlichen Zukunft des Herrn in einem ehrbaren Wandel der Seinigen warten mit gutem Gewissen! diß muss er lernen […]« (Vom Verdienste, 289) Von der Skepsis des Zweifels ist hier wenig zu merken.134 Er beschließt sein Werk mit dem Satz: »Die unentbehrlichste Wissenschaft für jeden ist, zeitig genug zu erfahren, nicht nur, wozu er tauglich sey; sondern auch, wozu er tauglich zu seyn, Erlaubniß und Beruf habe.« (Vom Verdienste, 351) Für die – Lorenz’ Vermutung stützende – Interpretation, dass dieser »Beruf« rein weltimmanent zu verstehen sei, gibt es kaum Anhaltspunkte. Es ist in dieser Hinsicht auch interessant, dass die briefliche Diskussion zwischen Mendelssohn und Abbt, die unmittelbar an die Bestimmungsdebatte anschließt, zwar Abbts Werk Vom Verdienste zum Gegenstand hat, allerdings nicht eine dort irgend angelegte, von göttlicher Vorsehung unabhängige Moral berührt.135 Worum es Abbt in seinem Werk vielmehr ging, scheint eine an Shaftesburys Essay Sensus Communis: An Essay on Wit and Humour (1709, ersch. 1711 in Bd. 1 der Characteristicks) angelehnte Etablierung eines allen zugänglichen common sense zu sein, der sich weder in hochtrabenden philosophischen Abhandlungen, noch absolutistischem Staatsgebaren, sondern in der Besinnung auf die Erfordernisse des einzelnen, einfachen Menschen entdecken lässt. Der Gottesbezug, so scheint es mir zumindest, ist dabei nicht der wichtigste Aspekt, sondern wird als eine Möglichkeit des einfachen Glaubens aufrechterhalten. In diesem Sinne ließe sich die über die irdische Begrenzung hinausgehende Frage »wohin gehen sie denn?« (Abbt an Mendelssohn am 21. Mai 1764, JubA XII/1, 47) auch so reformulieren, dass der Mensch keine über seine Erkenntnismöglichkeiten hinausgehenden Fragen an Gott stellen solle, sondern glauben müsse. Dass es aber diese Ordnung gebe, und dass sie in einer diesseitigen Ordnung erkennbar sei, davon schien Abbt, entgegen der Proklamationen des Zweifels, auszugehen. Abschließend zusammengefasst, erscheint Abbt nur die subjektive Dimension der Bestimmungsfrage – ob und wie der Einzelne glücklich werden könne – beantwortbar; unter Einschränkung auf das Diesseits. Damit gibt er einem möglichen moralischen Verhalten zur individuellen und gesellschaftlichen Verbesserung einen innerweltlichen Bezug, ohne diesen allerdings selbst positiv ausführen oder begründen zu können. 134
Auch Redekop 2000, 157 weist hinsichtlich dieser Stelle darauf hin, dass es verfehlt sei, dem »tugendhaften Mann« in der Abbtschen Theorie einen Zug gegen das Christentum zu unterstellen. 135 Siehe die Briefe ab dem 11. August 1764, JubA XII/1, 54–69. Es soll damit allerdings nicht gesagt werden, dass Abbts Werk sich unkritisch zum Christentum verhielt. Vielmehr wandte es sich gegen die herrschende Spielart des Pietismus (vgl. auch Bödeker 1981, 233): Der Bürger sollte tätig und nützlich sein und nicht »in der unthätigen Wachsamkeit über seine innere Kampfveränderung verharren« (Vom Verdienste, 276).
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Letztlich soll zwar, und dafür sprechen auch seine beiden Hauptwerke, »Tugend« nicht Gottgefälligkeit, sondern gesellschaftliches Engagement sein.136 Die darüber hinausgehende tatsächliche und nicht regulative Beantwortung der objektiven Frage bedürfe dahingegen der Offenbarung. Der einzige Weg für die Philosophie, über die beschränkte Sicht des Einzelnen hinauszugelangen, wird daher in die Begründung einer innergesellschaftlichen Moral verlegt.137 Allerdings übersieht eine solche Interpretation die der Bestimmungsdebatte folgenden Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Abbt. Immer wieder äußert Abbt darin seine Hoffnung, doch noch eine überzeugende Antwort auf die Bestimmungsfrage zu erhalten – in dem Wissen, dass eine solche Antwort mehr verlangt als eine innerweltlich zum Besten aller geordnete Staatsform und eine diese ermöglichende Menschenliebe. Auch ist ein Schwanken hinsichtlich der Beurteilung diesseitigen Lebens festzustellen. Auf der einen Seite herrsche moralisches Chaos, in dem der Einzelne weder Gerechtigkeit noch Zielgerichtetheit feststellen könne. Zum anderen jedoch, so Abbts Postulat, fühle der Mensch, dass er zu »Ordnung und Eintracht« mit seiner Umwelt geschaffen sei und zur Erfüllung dieser Ordnung den Erkenntnisumfang besitze, der ihm dafür zukomme. Zwar will er den Schritt über diese gottgewollte innerweltliche Teleologie der diesseitigen Welt hinaus nicht machen, doch benötigt schon seine gemäßigte Position stärkeres argumentatives Rüstzeug, als er es in seinem Zweifel ausführt. Die von ihm angemahnte Verbesserung der Kenntnis von der menschlichen Natur, um von dort aus die Vervollkommnungsfähigkeit auf eine tragfähigere Basis zu stellen, wird im Laufe des Briefwechsels ebenso wenig befriedigend gelöst, wie es im Zweifel geschah. Über den bloßen Textbestand hinausgehend wäre dennoch mit Abbt zu fragen, welche von bestimmten Glaubensinhalten unabhängigen Kriterien eine menschliche 136
Vgl. Bödeker 1981, 231. Dieser hebt v. a. die Differenzierung Abbts zwischen Mensch und Bürger hervor; dies ist allerdings nicht in der Bestimmungsdebatte expliziert worden, sondern in den politischen Schriften. Dort spöttelt Abbt über die um sich greifende Empfindsamkeit. Die Empfindung für Andere sollte zur aktiven Verbesserung der jeweiligen Lage der betreffenden Person motivieren. Zwar ist dies öfter nicht leicht möglich, doch sollte dies nicht zu einer Verzärtelung des Gefühls führen (vgl. Vom Verdienste, 158 f.), das sich schon von vornherein des Handelns enthoben sieht. »Weinen ist leichter, als Hand anlegen, und wünschen leichter als helfen.« (ebd., 159) Es ist auch weniger verdienstvoll, wie Abbt auch in einem Brief an Mendelssohn vom 20. Februar 1764 (JubA XII/1, 39) festhält: »So groß ist der Unterschied zwischen tadeln und selbst Hand anlegen. Beym letztern bricht der Schweiß aus.« 137 Es ist allerdings irreführend, Abbt eine ›rein‹ republikanische, sogar pazifistische Denkart zu unterstellen. So hält die Einschätzung M. Heinz’ 1992, 267: »Die Herstellung einer Gesellschaftsund Staatsform, die Krieg und Unterdrückung, die aus der Gesellschaft selbst erwachsenden Übel, vermeidet, wird für Abbt zum vordringlichen Ziel […]« dem Befund nicht durchgehend stand, da Abbts eigene Ausführungen im Vom Tode für das Vaterland ebenso unmissverständlich wie die an Montesquieu angelehnten Überlegungen zur Tugendhaftigkeit in unterschiedlichen Staatsformen in Vom Verdienste zeigen, dass er auch anderen politischen Konzepten gegenüber offen war. Vgl. dazu Redekop 2000, 158 f.
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Moral und ein menschliches Selbstkonzept zu begründen vermögen. Schon für Abbt selbst müsste die Beantwortung der Frage zu einigen Schwierigkeiten geführt haben. So ist auch bei ihm kaum ein Bewusstsein für die Trennung zwischen der Ebene der »physischen« und derjenigen der »moralischen Übel«138 zu verzeichnen. Die Frage nach der göttlichen Vorsehung angesichts eines toten Kindes (infolge eines Naturereignisses) ist aber eine andere als die, was die moralische Güte eines Menschen bzw. eine böse Handlung ausmacht, bzw., um im Bild zu bleiben: eines ermordeten Kindes. Die deskriptive Ebene einer Naturbestimmung und die normative Ebene einer Moralbestimmung sind hier kaum zu unterscheiden, was im Übrigen nicht nur auf Abbt, sondern auch seinen Briefpartner zutrifft. Dennoch wäre zu fragen, ob dessen Ansätze einer Beschreibung menschlichen Wesens und menschlichen Sollens fruchtbare, »nicht-theonome« Lösungsvorschläge für Abbts Zweifel darstellen.
2. Mendelssohns »Orakel« Im Spannungsraum der Bestimmungsdebatte geht Mendelssohn auf eine andere Alternative zum Offenbarungsglauben ein. Im scharfen Gegensatz zu Spalding, der die natürliche Religion für unzureichend hielt139, unternimmt er es in seinem Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend (JubA VI/1, 19–25), die von Abbt gestellten Fragen aus der Vernunft zu beantworten und damit deren transzendenten Bezug zu betonen, wobei er, wie dies auch Spalding in Maßen getan hatte, die Legitimität der objektiven Dimension menschlicher Bestimmung auf der Grundlage einer leibnizianischen Metaphysik verteidigt. So sehr die Ausführungen dieser Metaphysik verpflichtet sind, so ist die Tendenz des Orakels und aller daran anschließenden Schriften dennoch auch innerhalb der Aufklärungsdebatte zukunftsweisend in ihrem Vertrauen auf die Kompetenzen menschlicher Vernunft und in ihrem Insistieren auf die menschliche Entwicklungsfähigkeit. Mendelssohn will zeigen, dass Abbts Erklärungsansatz einer menschlichen Bestimmung zu kurz greift bzw. ihrer tatsächlichen Begründung noch entbehrt. Wie aber kann die Frage nach der menschlichen Bestimmung angemessen gefasst werden? Grundtenor ist, wie das Folgende zeigen soll, eine Voraussetzung: der Mensch muss als ein bildungsfähiges und bildungsbedürftiges 138
Ein Grundsatz, den Leibniz zur philosophischen Begründung der Freiheit Gottes anführt; siehe Theodicée (darin Discours préliminaire) und Discours de métaphysique, Abschn. 13. 139 Dies als ein Argument für die Eigenständigkeit von Mendelssohns Argumentation, das sich bei Hinske 1994, 141 so nicht findet. Sichtbar wird Spaldings Position u. a. in der Grundannahme des »Anhangs bey der dritten Auflage« von 1749: »daß unsere Vernunft für sich und ohne alle Anweisung gänzlich unvermögend ist, sich über die sinnlichen Dinge und bis zu den Wahrheiten der Religion zu erheben« (Spalding 7/1763, 57–68, hier 60). Der »Anhang« lässt sich insgesamt als eine Verteidigung des Christentums gegen alle anderen Offenbarungsreligionen lesen.
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Wesen verstanden werden, das sich nach seiner Sinnlichkeit und Vernunft ausrichtet. Zu begründen ist die Erfüllung der Vervollkommnung zwar durch eine der menschlichen Konstitution vorgelagerten Metaphysik, die sich aber, wie zu zeigen ist, als dem einzelnen Menschen angemessen erweisen soll. Den Ausgangspunkt formuliert Mendelssohn zu Beginn seines Orakels mit einem an Spaldings Argumentation erinnerndes Bekenntnis zur Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen: »Die eigentliche Bestimmung des Menschen hienieden, die der Thor und der Weise, aber in ungleichem Maaße, erfüllen, ist also die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttlichen Absichten; denn hierauf zielen alle seine Verrichtungen auf Erden.«140 (JubA VI/1, 20) Die Verwendung des Terminus »Bestimmung« ist hier doppeldeutig. Die »Ausbildung«, oder auch Vervollkommnung ist dem Menschen eigen, sie ist seine Fähigkeit und sein Wesen und gehört damit zum Themengebiet der »Determination«. Zugleich jedoch wird Mendelssohn dafür argumentieren, dass diese Vervollkommnungsfähigkeit nicht nur, statisch betrachtet, auf das Ziel eines »vollkommenen Menschen« angelegt ist, sondern sich darüber hinaus schon im Akt der Vervollkommnung, also unter einem dynamischen Aspekt, verwirklicht. Anders formuliert: die menschliche »Tendenz zur Vervollkommnung«141 ist bereits im Vollzug eine Vollkommenheit und entspricht damit seiner Destination. Sie ist damit subjektiv immer schon in der reinen Entwicklung eingelöst und zeigt zugleich die menschliche Einbindung in einem harmonischen Weltganzen. Es geht Mendelssohn um eine Theorie menschlicher Bestimmung auf Erden, oder, wie er es auch ausdrückt, »hienieden«, die menschliche Determination und Destination in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit und diesseitigen, vernünftigen Erkennbarkeit aufzeigen und begründen soll. Um dies als eine Antwort auf Abbts Zweifel nachvollziehbar zu machen, soll in Anlehnung an dessen Zurückweisung der beiden Spalding’schen Tröstungen auch Mendelssohns Antwort im Orakel und die Fortsetzung des daran anschließenden Briefwechsels dargestellt werden.
a) Erfüllte Offenheit Seinen Argumentationsgang eröffnet Mendelssohn im Orakel, indem er das Bedingungsverhältnis von objektiver und subjektiver Dimension menschlicher Bestimmung betont. Dabei bleibt er in argumentativer Nähe zu Spalding, verstärkt aber die Tendenz der zugrunde liegenden leibnizianischen Metaphysik zur Dynamisierung.
140
Vgl. zu den Anleihen an Leibniz und Wolff Kap. I.1, Abschnitt 2. Tomasoni 2004, 283: »tendency to perfection«. Vgl. zu dieser doppelten Struktur zwischen Statik und Dynamik schon in Leibniz’ Argumentation Kondylis 1981, 582–89. 141
I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog
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Die objektive Seite umfasst nicht nur den Menschen, sondern die gesamte Natur – also den Menschen nicht qua Menschsein, sondern als Naturwesen. So ließe sie sich auch als eine »allgemeine« Bestimmung bezeichnen, an der nicht nur alle Menschen, sondern alle Wesen in der Natur Anteil haben müssen (vgl. JubA VI/1, 19). Die subjektive Bestimmung dagegen meint die Perspektive und die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen als Menschen. Sie berücksichtigt das, was dem Menschen »eigenthümlich« (JubA VI/1, 19) ist. Mendelssohns Unternehmen im Orakel und den thematisch daran anschließenden Schriften ist es, das Abhängigkeitsverhältnis dieser beiden Aspekte zu klären. In einem ersten Schritt weist er die Skepsis Abbts hinsichtlich der Erkennbarkeit des menschlichen Zwecks zurück, indem er unter Rückgriff auf Leibniz’ Postulat einer vernünftig und harmonisch geordneten Welt142 die Einbindung des Menschen in diesen Gesamtzusammenhang und seine Möglichkeit der Einsicht darin darzulegen versucht. Objektiv betrachtet steht diese Einbindung unter metaphysischen Prämissen; die Möglichkeit der subjektiven Einsicht darin hingegen setzt einen Schwerpunkt auf die spezifisch menschliche Erkenntnisfähigkeit. So ist die objektive Bestimmung des Menschen laut Mendelssohn für sich betrachtet völlig unabhängig vom menschlichen Wollen und menschlicher Erkenntnis; sie lässt sich womöglich, das gibt er Abbt zu, vom eingeschränkten menschlichen Verstand gar nicht vollständig erfassen. Dies heißt allerdings nicht, dass der Mensch durch den Verstand keinen Zugriff auf eine gottähnliche Erkenntnis der objektiven Bestimmung hätte, da er in der Lage sei, die bestimmenden Strukturen zu erkennen. Im Sinne Leibniz’ sei die gesamte Natur als ein Zeichen Gottes143 zu lesen, das menschlicher Erkenntnis, und zwar auch über das bloß sinnliche Erfassen der Welt zumindest in den Grundzügen zugänglich ist. Beides, subjektives menschliches Empfinden wie auch die Vernunft führten den Menschen immer über sich hinaus und wiesen ihn auf die objektive Bestimmung, seine Einpassung in das Weltganze hin. Von dieser Warte aus betrachtet ist der Mensch eingebunden in die »grosse Harmonie« der gesamten Schöpfung: er bildet wie »die gesammte Natur […] die Gedanken des Allmächtigen« ab (JubA VI/1, 19). Es ist die eigentümlich menschliche Bestimmung, dieses System zu erkennen, sich selbst als darin eingepasst wahrzunehmen 142 Vgl. bspw. Discours de métaphysique, 1–5; Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, §§ 9 f.; Monadologie §§ 46, 53–55; Theodicée I, 8–10, 25. 143 Adler spricht mit Bezug auf Mendelssohns Äußerung: »Die gesammte Natur bezeichnet die Gedanken des Allmächtigen, aber durch Zeichen, die die Sachen selbst sind.« (Juba VI/1, 19) von einem poietischen bzw. semiotischen Prozess: die »Sachen« bezeichnen die »Gedanken Gottes«, sie sind sein Werk und zugleich für den Menschen Zeichen. »Wenn Natur und Geschichte in diesem Sinne poietisch sind, dann ist die Anweisung zu ihrem Verständnis eine Philosophie auf semiotischer Grundlage – eine Poetik der Schöpfung.« (Adler 1994, 133) Ich komme auf diesen Aspekt der ›Weltpoetik‹ und ihren menschlichen Bezug in Kap. II.3 zurück.
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und zu verhalten. Wohlgemerkt hatte auch der skeptische Abbt von einer natürlichen Einsicht in den Zusammenhang der Geschöpfe gesprochen – an diesen Aspekt lehnt sich Mendelssohn hier an. Oftmals geschehe diese Erkenntnis ohne explizierbares, begriffliches Wissen. Dies bekräftigt Mendelssohn noch einmal in seinem Schreiben vom 26. März 1765: »[Die Menschen] hören, sehen, fühlen, vergleichen, üben sich und denken unaufhörlich, und mit grosser Begierde; nur daß sie die allgemeine Notionen nicht haben, von Zweck, Daseyn, Mittel u.s.w., um dasjenige, was sie unaufhörlich empfinden und thun, in einen logischen Satz zu verwandlen.« (JubA XII/1, 88) Menschen haben damit ›Kenntnis‹ von einer sinnvoll geordneten Welt, ohne diesen Sinn explizieren zu können. Ihre Bestimmung, sei es in Hinblick auf Determination oder Destination, ist die Geschichte einer Suche, in der die den Einzelnen umgebende Umwelt und auch er selbst voller Hinweise steckt, die ›entziffert‹ sein wollen. Das Kriterium dieser Vervollkommnungsbewegung liegt in der nicht empirisch, sondern metaphysisch begründeten Annahme einer »vollkommenen Ordnung«, die an sich feststeht, in phänomenaler Hinsicht jedoch noch zu entdecken ist. Diese bloß subjektive Einsichtsmöglichkeit des Menschen macht ihn zu einem Geschöpf, dessen Einbindung in das ›objektive‹ Universum auf phänomenaler Basis immer auch prekär bleibt. Sie muss durch Regeln erst hergestellt und im Zuge menschlicher Tätigkeit ausgeführt werden. Dabei geht Mendelssohn im Orakel nur andeutungsweise auf den Aspekt der körperlichen Entwicklung als Vervollkommnung ein144, sondern behandelt v. a. den Aspekt der geistigen, intellektuellen Verbesserung. Die menschliche Natur bietet dabei eine Ausgangsbasis, die jedoch durch den Vernunftgebrauch über ihre bloße Naturhaftigkeit hinausweist. Da der Mensch – objektiv betrachtet, aber auch sinnlich wahrnehmbar – in den Kosmos eingebunden ist, so kann und soll er aus seiner eigenen Wesensbestimmung diese objektive Dimension erkennen. In diesem Sinne weist die Determination auf die Destination; im Gegensatz zu Abbt, der dies nur hypothetisch formulierte, scheint für Mendelssohn dieses Verweisungsverhältnis jedoch 144
Vgl. dazu auch das Plädoyer für die Sinnlichkeit, besonders betont in der zweiten Fassung der Rhapsodie (1771), JubA I, 393 (in Modifikation der Abtrennung der »Wollust« von der sinnlichen Lust in den Briefen über die Empfindungen (zuerst 1755), z. B. JubA I, 56, 66 und dessen teilweise erfolgten Revidierung im 10. Brief, 81–84). Mit der Einbeziehung der sinnlichen Dimension geht Mendelssohn über die so häufig vertretene wie einseitige Auffassung, der Mensch finde wahre Vollkommenheit nur im Streben nach Sittlichkeit, hinaus. Bei Spalding finden sich zwar Ansätze zu diesem umfassenderen Blick, siehe die Abschnitte »Sinnlichkeit« und »Vergnügen des Geistes« in der Bestimmung (vgl. Kap. I.1, und Spalding 7/1763, 9 ff.). In der hierarchisierenden Anlage der Schrift gehen diese Ansätze allerdings nahezu unter. So entwickelt er im Gegensatz zu Mendelssohn keine über die bloße Feststellung der Wichtigkeit körperlicher Erhaltung und Vervollkommnung hinausgehende Theorie, ja mehr noch, wird letztlich der Körper als ein abzustreifender Zusatz betrachtet, der der Seele »niedrig und klein« vorkäme angesichts der wahren Gottesschau, vgl. Spalding 7/1763, 87.
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festzustehen und es ist eine Forderung an den Menschen, sich dieser Eingebundenheit angemessen klar zu werden. An dieser Stelle wird aus dem metaphysischen ein umfassend normatives System. Dies hängt aber nicht nur von der Gültigkeit der objektiven Dimension, sondern auch der Unhintergehbarkeit der subjektiven Dimension ab. Subjektive Erkenntnis der Ordnung ist nicht auf das für objektiv gehaltene Ordnungsgefüge reduzierbar. Im Erkenntnis- und Bildungsprozess des Menschen ist der Einzelne zwar auf Vorvermutungen einer allgemeinen Ordnung angewiesen, um überhaupt den Mut und die Motivation zu haben, seinen Weg zu gehen. Aber er muss diesen tatsächlich selbst zurücklegen: das Ereignis ist dabei ebenso wichtig und vollkommen wie sein Ergebnis. Zwar muss also der Mensch ohne sein Ziel zu kennen »absegeln«145. Aber er wird nicht ohne Hinweise und Hilfe gelassen – die der Sache nach vorausgehende, aber erst noch zu erkennende metaphysische Grundlage erschließt sich ihm nur über die gerichtete Ausbildung seiner Kräfte, die wiederum dynamischer Aspekt dieser Vollkommenheit ist. Mendelssohn führt dieses Bild einer geleiteten Entwicklung weiter aus: Die gesamte menschliche Konstitution, selbst menschliche Leidenschaften wiesen den Menschen auf seine positive Bestimmung hin, indem sie auf Ausübung und Ausbildung drängten. Wie bereits erwähnt, ist dieses Bestreben aus der je subjektiven Perspektive betrachtet immer auch fallibel, da die verworrenen, unsicheren Vorstellungen, denen mehr ein Gefühl als eine Erkenntnis entspricht, zumindest anfangs überwiegen. Der Mensch muss eine der objektiven Bestimmung gerecht werdende Ausführung seiner Tätigkeiten erst suchen, ohne viel mehr als die Hauptzüge dieser objektiven Bestimmung zu kennen bzw. zu fühlen. Die Charakterisierung dieser »Eigenthümlichkeit« gewinnt Mendelssohn mit Blick auf die menschliche Tätigkeit, bzw. der Anlage dazu: denn es sei offenkundig, dass der Mensch nicht von Anfang an aller Handlungen fähig ist, sondern seine Seelenkräfte üben muss, um sie auszuführen. In diesem Sinn betont er die Notwendigkeit, dass die menschliche Vollkommenheit unter einem dynamischen Aspekt zu betrachten ist, »er unterwirft die menschliche Vollkommenheit der Entwicklungsfähigkeit (und der Entwicklungsbedürftigkeit).«146 Dies hatte Mendelssohn schon 1755 in
145
Damit lehnt sich Mendelssohn an das von Abbt im Zweifel gewählte Wortfeld an, vgl. JubA VI/1, 18. 146 Zöller 2002, 484. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass die Entwicklungsbedürftigkeit einen wichtigen Part in Mendelssohns Überlegungen zu spielen beginnt. Stärker wird dieser Aspekt noch im dritten Gespräch des Phädon (vgl. JubA III/1, 111) betont. Allerdings ist diese Idee an sich nicht neu; das ›Instinktmängelwesen‹ Mensch war im 18. Jahrhundert ein breit diskutierter Gegenstand. Neu mag hier vielmehr sein, dass Mendelssohn diesen Gegenstand explizit in den metaphysischen Gesichtskreis stellt und so die eigentliche Aufgabe anzeigt, beides miteinander zu vereinbaren, um nicht einem blinden Spiritualismus oder leeren Materialismus zu verfallen.
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den Briefen über die Empfindungen mit der Stimme Palemons (später Theokles) formuliert: »Allein der innere Mensch ist unbebauet. In jedem Jahrhunderte betreten andre Menschen die Szene des Lebens. Sie müssen alle an ihrer Besserung arbeiten, unermüdet arbeiten.« (JubA I, 63)147 Fraglich ist allerdings, wie der Mensch seine Aufgabe, sich selbst in der Entwicklung zu verwirklichen, erfüllen soll. Mendelssohn äußert sich in dieser Hinsicht im Orakel nicht eindeutig. Zum einen scheint die Entwicklung der Seelenfertigkeiten nahezu von selbst abzulaufen: der Mensch wird geboren, mit der Welt und ihren Eindrücken konfrontiert – und kann gar nicht anders, als sich im Umgang mit diesen Einflüssen zu verändern und zu entwickeln. Damit scheint die Fallibilität sowie die subjektive Seite der Bestimmungsfrage letztlich ausgeklammert: der Mensch kann gar nicht fehlgehen, da er immer im Universum ›aufgehoben‹ ist und sich durch schlichte Entwicklung verbessert. Diese verläuft in Mendelssohns Lesart letztlich blind. Mehr noch, scheint eine qualitative Bewertung unterschiedlicher Entwicklungsformen gar nicht möglich. Wenn auch der »Wilde« seine Seelenkräfte angemessen übt, indem er im Wald sitzen bleibt, fragt Abbt spöttisch im ersten auf das Orakel folgenden Brief, warum sollen andere Menschen mühevoll ihre Verstandesfähigkeiten verbessern (vgl. JubA XII/1, 48)? Zum anderen aber bietet die Argumentation des Orakels einen Ansatzpunkt, um die Regulierung der Entwicklung angemessener zu beschreiben als eine bloß blinde Erfüllung eines angeborenen Programms. Denn neben der reinen Übung der Seelenkräfte ist die Rolle der sinnlichen Empfindungen, des Körpers und der Leidenschaften ein weiterer wichtiger Aspekt menschlicher Bestimmung. Prima facie sind sie zwar ein Element menschlicher Begrenztheit. Mendelssohn fordert aber nicht ihre Überwindung, sondern eine Harmonie der »sinnlichen Gliedmaaßen« (JubA VI/1, 20) mit dem Geist.148 Gesund und zuträglich ist damit nur eine Ausbildung der »Seelenfertigkeiten«, die die sinnlichen Empfindungen berücksichtigen; andernfalls ist das Ergebnis ein bloß tierischer Mensch, oder ein überfeinerter Geist. Triebfedern der Entwicklung sind damit auch die im Menschen angelegten »Begierden, Wün147 Siehe dazu meine Edition dieses Textes (Mendelssohn 2006, 27), da gerade an der angegebenen Stelle in der JubA unvollständig wiedergegeben ist. 148 Vgl. dazu auch die früheren Briefe über Kunst (ca. 1758), JubA II, 166: »Du räumest mir ferner ein, daß diese Glückseligkeit nicht bloß in der Zufriedenheit, – welches die Glückseligkeit eines Schlafsüchtigen ist; nicht bloß in einer kaltsinnigen und begierdelosen Gemütsart, – welche auch die Glückseligkeit eines Steinbildes genannt werden kann; und endlich nicht bloß in dem Genusse des Vergnügens, welchen wir mit Tieren und Insekten gemein haben, sondern in einem ununterbrochenen Fortgange zu höheren Vollkommenheiten bestehen müsse. Die Vollkommenheit des Menschen bestehet, trotz allem, was die Verächter der Weisheit dawider spotten mögen, außer dem Wohlbefinden des Körpers in einem gereinigten Verstande, einem rechtschaffenen Herzen, und in einem feinen und zärtlichen Gefühl der wahren Schönheit, oder in der Übereinstimmung der untern Seelenkräfte mit den obern.«
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sche, Leidenschaften« (JubA VI/1, 20). Das Drängen der »Naturtriebe«149 (JubA VI/1, 21) auf Entfaltung der angelegten Fähigkeiten kann durchaus fehlgehen, da ihre natürliche Grenze dem Menschen nicht bewusst ist. Letztlich kommt es darauf an, sie, bewusst oder unbewusst, in die ›richtige‹, nämlich in den harmonischen Gesamtbau eingefügte Richtung zu lenken; Triebe mit vernünftigen Erwägungen in Übereinstimmung zu bringen. Die Proportion und Harmonie in der Ausbildung der Seelenkräfte kann also für die individuelle Entwicklung nicht vorausgesetzt werden, sondern ist seine Aufgabe, die letztlich auch unter subjektiven Gesichtspunkten lohnenswert ist, da sie dem Einzelnen einer wahrhaft angenehmen, gar lustvollen Ausübung seiner Fähigkeiten versichert. Mendelssohn vertritt im Orakel damit die wohlbekannte These, dass zur bestmöglichen Erfüllung dieser Aufgabe der menschliche Verstand geübt werden muss, um die sinnlichen Kräfte, die allein dem Menschen ein wahres, weil dauerndes Vergnügen bereiten können, in angemessene Bahnen zu lenken. Erst derjenige, der sich an der göttlichen Vollkommenheit orientiert, kann die wirklich harmonische Zusammenstimmung zwischen sich und der ›Welt‹, zwischen Körper und Seele genießen. Sich allein von Leidenschaften treiben zu lassen, kann dagegen kein dauerhaftes Glück versprechen. In dieser Hinsicht vertritt Mendelssohn ebenso wie Abbt einen »feineren Epikureismus« (JubA VI/1, 13). Die vernünftige Einsicht im Zusammenspiel mit einer sich ebenfalls ausgebildeten Sinnlichkeit bietet letztlich die höchste Form menschlichen Wesens, indem es befähigt, das dunkel Wahrgenommene zu beurteilen und sich zu ihm evaluativ und zielgerichtet zu verhalten. Erst die Berücksichtung dieser Stufe macht die Notwendigkeit der Ausbildung des Vernunftvermögens einsichtig. Vom »dunklen Fühlen […] zum geistigen Begreifen« (JubA VI/1, 20) muss ein Weg geebnet werden, der nicht auf eine Vernichtung des »dunklen Fühlens«, sondern seine Aufnahme und gleichzeitige Leitung abzielt.150 Diese Art der Vervollkommnung ist, angewandt auf das zugrunde liegende leibnizsche Monadenmodell, ein Gang von bloßen Perzeptionen zur vollkommenen Apperzeption. Interessanterweise wird dies bei Mendelssohn v. a. mit Rückgriff auf die gesellige Dimension des Menschen ausformuliert: »Der vernünftige Mensch besiegt 149
Auch Shaftesbury berücksichtigt diesen Aspekt, wenn er in seinen Miscellaneous Reflections (III.1, in den Characteristicks Bd. II, 253) als grundlegende Fragen formuliert: »Who or what he is; whence he arose or had his being; to what end he was designed; and to what course of action he is by his natural frame and constitution destined« – wobei sein Hymnus an die Natur immer auch ein Lobgesang der menschlichen natürlichen Einpassung in die göttliche Schöpfung ist: »… and the sum of philosophy is, to learn what is just in society and beautiful in nature and the order of the world.« (ebd., 255). Das Ineinanderdenken von Natur und Kultur übersehen weder er noch Leibniz in dieser Hinsicht durchaus nicht, wie Schwaiger 1999, 14 befürchtet, sondern führen es geradezu als Grundbedingung ihres Denkens aus. Zur großen inhaltlichen Nähe zwischen Leibniz und Shaftesbury siehe Schwaiger 1999, 17, Walzel 1909, 419–21. 150 Vgl. Altmann 1972, 18 f. und zur Verteidigung des Eigenrechts beider Modi S. 24.
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diese widerstrebende Neigungen [Trägheit und Unwillen, anderen mit allen Mitteln ebenfalls zur Glückseligkeit zu verhelfen] durch Ueberlegung und anhaltende Uebung, und vermehret durch die nehmlichen Mittel die Kraft der geselligen Meinung.« (JubA VI/1, 25) Es ist demnach den menschlichen Fähigkeiten gemäß, sich nach seiner »vernünftigen Erkenntniß« (ebd., 23) zu vervollkommnen. Der Rückgriff auf die »gesellige Meinung« ließe sich darüber hinaus auch als ein Zugeständnis an Abbt verstehen, der diese soziale Dimension ebenfalls als für den Menschen erkennbar klassifiziert hatte. Problematisch ist jedoch, dass Mendelssohn dies im Zuge der Argumentation wiederum abschwächt. Die grundlegende Entwicklung vom Embryo zum Kleinkind, die doch allererst zu menschlicher Vervollkommnung prädisponiere, verläuft naturhaft, ohne bewusste Entscheidungen oder Zwecksetzungen. »Der Unendliche hat nicht einmahl die Stillung des Hungers auf unsere Vernunft ankommen lassen, geschweige die Erfüllung seiner Hauptendzwecke.« (JubA VI/1, 24, Hervorhebung A.P.) Letztlich erreicht jeder durch die bloße Tätigkeit und Ausbildung der Seelenfertigkeiten, wie die Gestirne, seine jeweilige Bestimmung – ohne es zu wissen, ja, mehr noch verbleiben viele Menschen auf dieser ›unbewussten‹ Stufe, und erfüllen dennoch ihre Bestimmung. Ein überzeugendes Modell vernünftiger Bildung zum ganzen Menschen ist Mendelssohns Theorie zumindest in dieser Ausformulierung nicht, denn bei einer weitgehend unbewussten Entfaltung der Fähigkeiten wird man kaum von spezifisch menschlicher Entwicklung sprechen wollen, sondern muss die subjektive Vervollkommnung auf einen metaphysisch bestimmten, objektiven Vollkommenheitsrahmen bezogen denken. Mendelssohns Sicht ist hier deutlich ambivalent. Abbt ist folgerichtig mit dem bloßen Rekurs auf die Ausbildung der Seelenfertigkeiten als Destination des Menschen unzufrieden. Dies zeigen auch seine dem Orakel nachfolgenden Briefe: Allein der Verweis auf die Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten ist ohne die Beantwortung der Frage »wozu?« nicht genug. Damit habe Mendelssohn lediglich die erforderlichen formalen Elemente genannt, nicht jedoch die inhaltlichen, die eine Reformulierung subjektiver Vervollkommnung benötige. Zum einen also: was sollen die Menschen »mit ihrer Entwicklung insbesondere anfangen«? (Abbt am 6. März 1765, JubA XII/1, 78) Und was ist mit ihnen, wenn sie nicht zu der Stufe gelangen, auf der sie tatsächlich über ihre spezifische Widmung nachdenken können? »Denn, wenn Sie gleich sagen, daß der Fortgang von der ersten Empfindung des foetus bis zum ersten klaren Begriff weiter sey, als vom a, b, c, des Schulknaben bis zum problemate binomiali des Newton[151]; so 151
So Mendelssohn im Orakel, JubA VI/1, 20. In der ersten der Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz von 1782 (JubA VI/1, 32) weist er diesbezüglich darauf hin, dass zu jeder menschlichen Tätigkeit »Witz, Vernunft und Einbildungskraft« notwendig seien – fehlten diese, so sei auch die primitivste Handlung oder Reflexion nicht möglich. Der Rückgriff auf Newton mag
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deucht mir doch, daß der Zweck der Entwicklung nur alsdann erreicht sey, wenn der die Entwicklung leidende, weiß, warum er da ist.« (ebd.) Schon vorher hatte er die Frage ganz ähnlich formuliert. In seiner brieflichen Reaktion auf das Orakel vom 21. Mai 1764 (JubA XII/1, 46–48, hier 46) merkt er an, dass diese Entwicklung wohl menschliche Bestimmung, aber nur im Sinne eines »Werkzeugs« zur »Wiedmung« heißen könnte.152 Die eigentlich anvisierte Frage: »wohin gehen sie denn?« sei damit noch nicht beantwortet (vgl. JubA XII/1, 47). Dies, so Mendelssohn darauf, müsse die Philosophie aber gar nicht leisten. Vielmehr steht es ihr an, die allgemeinen Bedingungen menschlicher Vervollkommnung mit einer gültigen Beschreibung menschlicher Natur zu verbinden. Dabei kann nicht jedes Individuum berücksichtigt werden, sondern allein das, was den Menschen als Menschen auszeichnet. Eine darüber hinausgehende Frage »wozu Leben?« ist in diesem Sinne zu kurzsichtig gestellt. Bei der Betrachtung einer Fliege zu fragen, ob sie ihren Körperbau deswegen habe, um im nächsten Augenblick von einer Spinne gefressen zu werden – dass also ihr Zweck sei, die Fresslust der Spinne zu reizen – ist schlicht zu kurz gegriffen.153 Der zuerst benennbare »Zweck« sei das »Leben des Thierchens«. Weitergehendes Fragen und die damit einhergehende Sprachlosigkeit sind darüber hinaus eher der menschlichen Kurzsichtigkeit geschuldet. Oder, wie im folgenden Brief vom 14. Juni 1765 formuliert: »Nur müssen wir nicht übereilt schliessen, wie[:] wir wissen nicht wie, also wissen wir auch nicht ob, [oder:] wir wissen nicht alles, also wissen wir gar nichts.« (JubA XII/1, 92) Er verteidigt damit seine Ansicht, dass wir etwas über den menschlichen Zweck sagen können, aber sicherlich nichts über dessen individuelle, spezifische Zwecke, die über die Ausübung seiner Fähigkeiten
daneben auch – als literarisch-philosophische Remineszenz – der Lektüre von Bonnets Palingénésie (1769) und vor allem Alexanders Popes Essay on Man (1733/34), der schon Gegenstand von Mendelssohns und Lessings satirischer Preisschrift Pope, ein Metaphysiker! (1756) war, geschuldet sein. Beide hatten auf Newton als ein herausragendes Beispiel menschlichen Geistes hingewiesen, das dennoch in den engen Grenzen der menschlichen Begrenzung verbleiben müsse: »Superior Beings, when of late they saw / A mortal Man unfold all Nature’s law, / Admir’d such wisdom in an earthly shape, / And shew’d a Newton as we shew an Ape.« (Pope 1964, 59 f.) Auch Herder weist im Vierten Kritischen Wäldchen, [Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Leipzig 1990], 460 in deutlicher Anlehnung auch an Mendelssohns Theorie der Gewohnheit als »Verdunkelung« klarer und deutlicher Schlüsse (vgl. hier Kap. III.2) auf die generelle Gleichartigkeit eines Kleinkindes und eines Newton hin. Ebenso verneint Herder im Wäldchen die Frage nach dem Grund eines Daseins, sondern nennt das ursprüngliche, allem vorgängliche Faktum (qua dunkler Wahrnehmung ein »Gefühl«) des Ich-Bewusstseins. 152 Lorenz fasst dies als eine Frage nach dem inhaltlich bestimmten Ziel der Gattung auf (vgl. Ders. 1997, 205 f.). Es verwundert dann allerdings, warum Abbt im Folgenden auf eine Erklärung negativer Umstände der Individuen beharrt. 153 So in seinem Schreiben vom 26. März 1765 (JubA XII/1, 86 f.) Altmann 1973, 138: »What he [Mendelssohn] objected to was the narrowly utilitarian outlook of these champions of teleology, who were given the final coup de grâce by Kant.«
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hinausginge. Damit ist Vervollkommnung als ein allen Menschen eigener Modus zu betrachten, an der jeder einzelne auf je unterschiedliche Weise teil hat; philosophisch aber die »Werkzeuge« und die allgemeine Zielrichtung angegeben und gesichert werden können. Die genaue Untersuchung der allgemeinen Möglichkeiten menschlicher Vervollkommnung hat Mendelssohn hier nicht vorgenommen – sie lassen sich jedoch als zentrale Themen seiner Überlegungen ausmachen, in denen er sich mit den hier genannten Konzepten des Vergnügens, der Sinnlichkeit, des moralischen Handelns und der Erkenntnis auseinandersetzt. In allen Bereichen, so die Ausgangshypothese, müsste sich die Ausformulierung des hier nur skizzierten Entwicklungskonzepts finden. Wie die Hinweise auf die auch unbewusst verlaufenden Entwicklungsmomente zeigen, wird ein wichtiger Punkt hierbei die Theorie der unbewussten Perzeptionen und ihr Verhältnis zur klaren und deutlichen Erkenntnis sein. Es ist nun wiederum aus menschlicher, forschender Perspektive offensichtlich, dass – wie Abbt sich ausgedrückt hatte – nicht alle Menschen die Chance haben, überhaupt in Grundzügen zu begreifen, »warum sie da sind«.154 Hier liegt die gängige Frage der Theodizee nahe, ob man unter solchen Umständen tatsächlich von einer vernünftig und gut eingerichteten Welt sprechen könne, die den Einzelnen zum bloßen Mittel der Vollkommenheit des Ganzen degradiere. Wie das vorangegangene zeigen sollte, soll und kann der Mensch sich Mendelssohn zufolge zur höchstmöglichen Form des Vernunftwesens entwickeln. Alle seine Kräfte seien darauf hin ausgelegt, wie es auch seine offenkundige Entwicklungsbedürftigkeit, sein Mangel an Instinkt zeige. Allerdings hatte er ebenfalls dafür argumentiert, dass eine nur unzureichende Entwicklung des Keims dieser Kräfte schon ausreiche, um die jeweilig individuelle, konkrete Bestimmung in der Welt zu erfüllen. Von der »objektiven« Warte auf gesehen ist eine größtmögliche Ausbildung von Seelenfertigkeiten in alle Richtungen und ohne Schranken ohnehin unmöglich. Durch die Einpassung in das Weltganze ist die allgemeine Richtung der Entwicklung vorgegeben: Alle Dinge sind füreinander und zueinander ausgerichtet und erfüllen erst im Zusammenklang ihre auch individuelle Bestimmung: »In der göttlichen Ordnung herrscht Einheit des Endzwecks« (JubA VI/1, 21), bei großer Mannigfaltigkeit der individuellen Ausprägungen. Damit ist Mendelssohns Argumentation streng an die objektive Dimension der Bestimmungsfrage gebunden: Der einzelne Mensch ist immer als Teil eines Kosmos zu verstehen, der als in sich harmonisch und zum Besten geordnet verstanden werden muss. Der Definition der Vollkommenheit wird er allerdings nicht gerecht, wenn er viele gleichartige Teile zu einem Aggregat zusammenfügt. Vielmehr erfordert der Begriff der Vollkommenheit neben der Mannigfaltigkeit den der Einheit, der sich hier aus einer Anordnung auf einen gemeinsamen 154
Vgl. Abbt am 6. März 1765, JubA XII/1, 78, dort im Singular.
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Endzweck hin ergeben soll: »die Einheit der Absicht erfordert Mannigfaltigkeit in den Bestimmungen der Theile« (JubA VI/1, 24). Auf die Welt angewandt, ergibt diese Formulierung nach wie vor ein problematisches Bild: Der Tod des Säuglings und der des Wissenschaftlers unterscheiden sich in Bezug auf ihre individuelle Vollkommenheit prima facie grundlegend, denn nur letzterer hat zum gegebenen Zeitpunkt die nötige Einsichtsfähigkeit erreicht, um das Weltganze mit seinem Verstand zu umfassen. Jedoch nach letztgenannter Lesart sind beide der menschlichen Bestimmung, jeder auf seine Art, vollkommen gerecht geworden. Was phänomenal verstanden in bestimmten Hinsichten eine nur defizitäre Entwicklung ist, soll in Hinblick auf das Weltganze Entfaltung der Vollkommenheit sein. Problematisch dabei bleibt, dass diese Vollkommenheit nur objektiv – und damit mit Bezug auf ein »Weltganzes«, zumindest auf die menschliche Gattung in ihrem Zusammenhang – verstanden werden kann, obwohl Mendelssohn zuvor den Menschen als Selbstzweck beschrieben hatte. Letztlich erscheint das Individuum hier nur als ein ästhetisch relevanter Zulieferer für Mannigfaltigkeit, dessen Einheit als Vollkommenheit sich nur unter Absehung seiner individuellen Würde und Glückseligkeit erfüllt. An dieser Stelle wird deutlich, dass sich Mendelssohn anscheinend in zwei einander ausschließende Positionen155 begeben hat: unterstellte individuelle Vollkommenheit streitet mit der Rücksichtnahme auf ein »mannigfaltiges« Ganzes, das nur zulässt, sich seine Bestandteile im Sinne einer Stufenfolge der Vervollkommnung vorzustellen und damit einzelne Sprossen als unvollkommen, als Vor-Stufen erfasst.156 »Allein die göttlichen Absichten erstrecken sich sowol auf jedes einzelne als aufs Ganze, und [s]ie werden im Ganzen auf das vollkommenste, im Einzelnen aber nur in Rücksicht auf das Ganze erfüllet.« (12. Juli 1764, JubA XII/1, 50 f.) Wenn tatsächlich alle einzelnen Glieder des Ganzen sich zur gleichen Höhe an Vollkommenheit aufschwingen könnten, so sei der göttlichen Schöpfung ihre Vollkommenheit genommen; Ord155
Vgl. Altmann 1973, 137. Über die Gefahr einer solchen Vorgehensweise vgl. Hinske 1966, 419: »Bezieht sie [die Anthropologie] die Frage nach der ›Natur des Menschen‹ und seiner ›eigentümlichen Stelle in der Schöpfung‹ in den Umkreis ihrer eigenen Fragestellungen ein, so läuft sie Gefahr, die divergierendsten Tendenzen und Interessen in sich zu vereinigen und so beispielsweise ständig zwischen Beobachtungslehre und Wesensbestimmung des Menschen hin- und herzuschwanken.« 156 Diese Sichtweise radikalisiert Mendelssohn 1782 in Anmerkung u) (JubA VI/1, 54 ff.), indem er umgekehrt Abbt vorwirft, dass dieser zugunsten einer allseits gleichartigen Ausbildung vorhandener Geistesfähigkeiten das Eigenrecht von »vernünftigen Wesen von geringerer Fähigkeit« (ebd., 56) verneint habe. Mannigfaltigkeit sei gerade nicht ästhetisch zu verstehen, sondern erfordere, die gegebenen Bestandteile als harmonisch und zueinander kompatibel in ein Ganzes eingeordnet zu verstehen. Vom subjektiven Standpunkt fragt sich allerdings wiederum, ob nicht das Insistieren auf einer objektiven Perspektive letztlich einem metaphysischen Ästhetizismus huldigt.
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nung würde durch »Chaos« (ebd. 51) ersetzt.157 Abbts Verlangen nach individueller Vollkommenheit sieht Mendelssohn nur in Hinblick auf ein Fortleben der Seelen nach dem Tod erfüllt; der »hienieden« erreichte Grad an Vollkommenheit wäre dementsprechend auf der individuellen Ebene nicht zwingend der letzte. Die auf Erden vollzogene bzw. begonnene Vervollkommnung der Seelenkräfte ist nicht die endgültige Stufe; was das Individuum auf Erden erworben hat, ist nach dem Tod nicht verschwunden: »Nichts ist ohne Früchte verloren.« (JubA VI/1, 22) Das verbindende Glied zwischen den Welten sei die »Erinnerung« (ebd.) an das bereits Erworbene. Darüber wie die Seele im Jenseits sich weiter vervollkommnen wird, könne Mendelssohn zufolge der Mensch mangels Einsichtsfähigkeit nicht vernünftig philosophieren. Zu der Hoffnung, dass Gott diese höheren Zwecke mit dem Menschen verfolge, sei er dennoch berechtigt, denn »Gottlob! wir Menschen sind kein Rindvieh, wir laufen mit unter den Geistern.«158 (JubA XII/1, 52) Bis hierher allerdings ist es eine Hoffnung, auf die sich auch Mendelssohns Position, ebenso wie diejenige Spaldings, baut und die nur unter Zuhilfenahme von metaphysischen Voraussetzungen bestehen kann, die Abbt mit seinem Zweifel gerade bestritten hatte. Noch immer ist die Frage, warum der Einzelne einen Eigenwert haben sollte, wenn er lediglich als ein Bestandteil des harmonisch eingerichteten Weltganzen verstanden wird, nicht beantwortet. Mit Abbts Worten: »[Ich] halte es immer für schöner, wenn mir der Tischler ein halb Dutzend ganz einförmiger und ausgemachter Lehnstühle bringt, als wenn er um mehrerer Schönheit willen, dem einen einen Rücken, dem andern einen Arm, dem dritten einen Fuß hätte fehlen lassen.« (Abbt am 6. März 1765, JubA XII/1, 78) Dem begegnet Mendelssohn in seiner Antwort vom 26. März 1765 lediglich mit einer Bekräftigung des Unsterblichkeitspostulats. Auch weist er darauf hin, dass Abbts Vergleich nur eine Momentaufnahme biete; der menschliche wie auch universelle Zweck sich jedoch nicht in einem statischen Gefüge, sondern durch einen Prozess erfüllt. Auch wenn das Individuum für den Moment, d. h. im hiesigen Leben seine Anlagen nicht entwickeln könne, seien sie nicht umsonst. Die Dispositionen gehen, werden sie nicht entwickelt, nicht per se verloren, »sie hören nicht auf zu seyn«, sondern sie sind immer in die objektive Bestimmung eingepasst: »sie hören nicht auf, die Absichten Gottes zu erfüllen, die bis ins unendlich-kleine herabsteigen,
157
Dieses Argument hat Mendelssohn im zweiten Gespräch des Phädon, JubA III/1, 90 ebenfalls verwendet – wahrscheinlich war dieses Gespräch schon zur Zeit der Bestimmungsdebatte in den Grundzügen ausgeführt (s. Kap. V.1) und Mendelssohn konnte auf es zurückgreifen. Die Abhandlung Die Seele (veröff. 1787) schließt mit der lapidaren Feststellung: »[…] die Welt ist unmöglich ohne Rangunterschied.« (JubA III/1, 233) 158 Vgl. dazu die Unterscheidung bei Leibniz, auf die Mendelssohn hier zweifellos anspielt, zwischen Tieren und Vernunftwesen resp. Geistern im § 5 der Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison.
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und würden wahrscheinlicherweise, wenn ihre innere Organisation nicht so wäre, wie sie ist, diese Absichten nicht haben erfüllen können« (JubA XII/1, 86 f.) Aus einem Gefüge von Zweckhaftigkeiten würde, um im Bild zu bleiben, die bloße Ansammlung unterschiedlicher, aber tatsächlich in sich zweckloser, weil unbrauchbarer Stühle herausfallen, wenn nicht die Annahme gälte, dass diese Stühle wiederum gerade zu sinnvollen Sitzgelegenheiten bearbeitet werden. Die Vollkommenheit der Welt ist demnach kein zufälliges Aggregat von Verschiedenheiten, sondern ein Gefüge von Substanzen, die ihre jeweilige Eigenständigkeit und ihren Platz innerhalb des Gefüges behaupten, der sich erst über die gesamte Dynamik erschließt. Dies hebt die Mannigfaltigkeit der Welt auch von einer ästhetisch verstandenen Mannigfaltigkeit ab. Anders formuliert: In der Welt gibt es keine halben Monaden, sondern nur sich vervollkommnende, aber zugleich vollkommen zusammenstimmende Bestandteile, die noch dazu zwei Dimensionen besitzen: eine gleichbleibende, vielleicht ›absolut‹ zu nennende; und eine phänomenale Seite, die sich mit ›Menschenleben‹ und ›Erfahrung‹ bezeichnen ließe. Mendelssohns Anthropologie kennt beide Seiten: die dem Menschen phänomenal zugängliche Seite seiner Entwicklung gelangt in dieser Hinsicht zu einem Eigenwert, dem das harmonische Weltganze nicht entgegenstehen soll. Damit ist allerdings noch immer die Frage nach dem Eigenwert des diesseitigen Lebens nicht gelöst.
b) Affirmation der unendlichen Verbesserung Neben der Frage nach der rationalen Vervollkommnung des Menschen ist Mendelssohn auch an den Bedingungen einer Verbesserung des moralischen Wesens Mensch interessiert.159 In Anlehnung an Spaldings Position vertritt er ein positives Menschenbild, demzufolge der Mensch die höchste Stufe der Schöpfung darstellt, die der Vollkommenheit Gottes zwar nicht erreiche, ihr aber immerhin am nächsten komme. Er ist darüber hinaus nicht nur ein sich mechanisch entwickelndes, sondern ein geselliges Wesen; ein »zoon politicon«. In der Argumentation des Orakels kommt Mendelssohn wiederholt auf die Frage nach der ursprünglichen geselligen und gütigen Natur des Menschen zu sprechen. Alle Neigungen und Begierden, so seine Minerva160, seien letztlich nicht an sich 159
»Mendelssohn understood by the »true vocation« of man his perfection as a rational and moral being.« (Altmann 1973, 136) 160 An diesen Stellen ›spricht‹ Mendelssohn sozusagen durch zwei Medien gleichzeitig: er ruft, als Gegenspieler zu Abbts Sprachrohr Bayle, Leibniz auf den Plan, der wiederum Minerva als Göttin der Weisheit für sich sprechen lässt (Vgl. JubA VI/1, 21 ff.). Wie im Phädon vermeidet Mendelssohn in seiner Figurenwahl Anspielungen auf die christliche oder gar jüdische Überliefe-
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schlecht, sondern als gute Keime in uns vorhanden, die durch falsche Übung und Gewohnheit pervertiert werden könnten. Ginge man von einem grundsätzlich bösen Menschen aus, so gäbe es keine Hoffnung auf irgendeine Besserung, aber auch keine Hinweise auf gute menschliche Taten: »So wenig eine willkührliche Bewegung, wo kein Muskel ist, durch Uebung und Gewohnheit hervorgebracht werden kann; eben so wenig kann eine künstliche Neigung erzeugt werden, wo keine natürliche zum Grunde liegt.« (JubA VI/1, 23, wiederholt in Anmerkung n), JubA VI/1, 37) Es müssen also gutartige Keime im Menschen angesiedelt sein, die lediglich in falscher Hinsicht entwickelt werden können. Jedoch: rechtfertigt dies die Behauptung, der Mensch sei an sich und ausschließlich gut? Woher kommen dann die »Widerstände«, die man beim rohen und ungebildeten Menschen findet und die ihn von der wahren Ausbildung seiner Kräfte abhalten? Mendelssohn gibt hier lediglich eine Perspektive auf die Umgehung dieser destruktiven Kräfte durch Aufklärung und »Uebung« (vgl. JubA VI/1, 25). Dabei soll der Widerstand als eine äußerliche Kraft verstanden werden, der allein eine Hemmung durch falsche »Uebung und Gewohnheit«, nicht eine widerstreitende, angeborene schlechte Anlage darstellt. Im Umkehrschluss ist freilich auch menschliche Güte ein Vermögen, das erst durch Ausbildung zur Ausübung gelangen kann; die Anlage an sich ist lediglich ein Ausgangspunkt dafür. Diese Sicht vertritt Mendelssohn im Zusatz zur zweiten Auflage des Phädon von 1768: »Genug, daß denken und wollen […] Grundthätigkeiten sind. Nun können alle natürlichen Kräfte nur Bestimmungen abändern, nur Modifikationen mit einander abwechselnd machen, niemals aber Grundeigenschaften und für sich bestehende Thätigkeiten der Dinge in Nichts verwandeln […].« (JubA III/1, 134) Das Denken und Wollen können sich nicht – über eine in sich böse, das heißt auch negative Anlage – in nichts verwandeln, sie können höchstens mangelhaft ausgebildet sein. Damit ist wiederum die Entwicklungsbedürftigkeit des Menschen betont: ›an sich‹ ist die menschliche Güte lediglich eine Anlage, die sich erst herausbilden muss, doch ist sie notwendige Voraussetzung. Der allgemeine »gesellige, uneigennützige Trieb, ein Grundtrieb zum allgemeinen Besten« (JubA VI/1, 25) begründet Mendelssohn also zum einen durch die Eingebundenheit des Menschen in die aufeinander ausgerichtete ›allgemeine Weltordnung‹. Zum anderen schließt er sich Abbts Kritik an Spaldings zweitem Trost an. Auch die von Spalding angewandte ›Vergeltungstheorie‹ kann letztlich nur jedes Handeln als egoistisch motiviert beschreiben: man handelt gut, um nicht bestraft zu werden. Dies sei eine unzureichende Begründung menschlicher Handlungen. rung. Es ist jedoch zu beachten, wann Mendelssohn ›selbst‹ spricht und wann er die »Schatten« anderer beschwört. In dieser Hinsicht ist nicht ganz ersichtlich, wieso die Berufung auf Leibniz eine »grundsätzliche Zustimmung« Mendelssohns zu den Argumenten des Lutheraners (wohlgemerkt ist das nicht gleichbedeutend mit Leibnizianers) Spalding bedeuten soll (so Hinske 1994, 142).
I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog
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Wahrhaft moralisch wären diese vielmehr dann, wenn die jeweilige Tat um ihrer selbst willen geschähe und der Handelnde seine Glückseligkeit in der Ausübung der Tugend selbst fände (vgl. JubA VI/1, 23). Wo die Ausübungsmöglichkeiten auf Widerstand stoßen, würde dieser Mensch weder die tugendhaften Handlungen (wegen mangelndem Erfolg) einstellen, noch würde er denen, die ihn behinderten, Böses wünschen. Weder im Orakel, noch im folgenden Briefwechsel ist dieser Aspekt befriedigend ausgeführt. Auch später, in der Anmerkung o) der Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz, kommt er nur kurz auf diesen Punkt zurück: Der enge Zusammenhang der eigenen Glückseligkeit mit derjenigen meiner Mitmenschen lade immer dazu ein, das auf den anderen gerichtete Wohlwollen letztlich als einen egoistischen Zug zu reformulieren, da es ja zur eigenen Vervollkommnung beiträgt. Mendelssohn charakterisiert hier die Bezeichnung eines solchen Verhaltens mit »Eigennutz« als eine »feine Grübeley« (JubA VI/1, 38), die an der Realität vorbeigehe. Entscheidendes Differenzierungsmerkmal sei das unmittelbare Bewusstsein der Handlung. Dies merke man auch an den Folgen des eigenen Verhaltens auf den Gemütszustand; handle man mit der Intention, unmittelbar jemandem – nicht der eigenen Vervollkommnung – nützlich zu sein, so entstehe das Gefühl »der Selbstzufriedenheit, des Adels und der Erhabenheit der Seele« (ebd.). Diese Handlungen, da sie unbestreitbar auch zur eigenen Verbesserung führten, eigennützig zu nennen, nehme der Sprache lediglich die Möglichkeit, valide, der Sache nach vorhandene Differenzierungen zu benennen. Mendelssohns Ansicht von der Güte bzw. ›Unschuld‹ menschlicher Triebe schließt sich damit deutlich an die Rousseau-Debatte mit Lessing (Kap. II.1) und die Ausformulierung der Theorie der vermischten Empfindungen (Kap. II.2 und 3) an. Außerdem, so Mendelssohn in Übereinstimmung mit Abbts weitergehender Kritik an Spalding, sei auch das Unsterblichkeitspostulat nicht deswegen notwendig, um einen ›Ausgleich‹161 diesseitig erlittenen Unrechts zu garantieren. Vielmehr bemüht er sich, den Vergeltungsgedanken im Sinne der Vervollkommnungslehre ins Positive zu wenden, indem er in der Annahme eines Jenseits den Schwerpunkt nicht auf Strafe, sondern auf Erziehung legt. Gäbe es kein Jenseits, in dem sich die bereits erworbenen Fertigkeiten weiter – und zwar zum Guten – entwickelten, so sei all 161 Gegen die »Vergeltungs- und Bestrafungstheorie« auch in der (hebr. verfassten) Abhandlung Die Seele (veröff. 1787), JubA III/1, 231 f.: Warum sollte Gott als Vergeltung zu üblen Taten Übles hinzufügen? »Nach meiner Ansicht gibt es keine Strafe ausser zum Nutzen des Sünders, zu seiner Erziehung. Ich meine damit: da die Quelle der Sünde die Unkenntnis des Guten und Schlechten ist, so erkennt der Verstand durch die Verknüpfung der Strafe mit der Sünde, dass er das Gute verworfen und das Schlechte gewählt hat; und dies ist der Zweck der Strafe.« Strafe als Abschreckung (ebd., 232) ist zusätzlich möglich und gerecht, denn dann ist die Strafe nicht nur nützlich für den Sünder, sondern auch für die Gesamtheit – allerdings dürfe sie nicht unverhältnismäßig sein: »Gott […] beugt nicht das Recht des Einzelnen zum Nutzen der Gesamtheit […].«
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
denen, die in ihrem irdischen Leben ihre Entwicklung in die falsche Richtung getrieben hätten, auf immer die Chance auf Verbesserung ihrer Einsichten verwehrt. »Alle Züchtigung hat Besserung zum Endzwecke […].« (20. Juli 1764, JubA XII/1, 53) Auch dieser Ansatz betont das Konzept einer dynamischen Entwicklung; es ist in Bezug auf Mendelssohns Bildungsbegriff darauf zurückzukommen (Kap. IV.3).
3. Offene Enden Konnte Mendelssohn mit seinem Orakel und den anschließenden Briefen Abbts Zweifel auflösen? Um im Bild der Parabel zu bleiben, so dürfte es wohl kaum ausreichen, den Soldaten zu bescheiden, sie müssten nur die Befehle abwarten, dann würde sich ihnen der Gesamtsinn schon erschließen. Das geschilderte Problem war ja gerade, dass die Soldaten den einen Tag auf den Marsch, den anderen zum »Muschelsammeln« (Mendelssohns Beispiel) geschickt werden und erst angesichts dieser offenkundigen Verwirrung und Sinnlosigkeit zu zweifeln beginnen. Diese Frage hat, wie der erste Teil dieses Kapitels zeigen sollte, auch Abbt mit seiner Forderung nach Bescheidenheit nicht beantworten können. Mendelssohns Antwort auf diesen Zustand lautet vorerst: ›Schaut doch (so, wie Spalding in sich hineinhorcht) genau hin, dann seht ihr die offenkundige Vollkommenheit, der ihr nachstrebend sollt!‹ Abbt hingegen hält, geht man allein von der Parabel aus, dem entgegen: ›Ihr fragt falsch! Schaut nicht auf einen kosmischen Sinnzusammenhang, denn diesen zu begreifen seid ihr zu klein, sondern seht darauf, eure täglichen Verrichtungen gut zu erledigen!‹ Sein von dieser Selbstbescheidung abweichendes Fragen nach dem »wozu?« in den Briefen an Mendelssohn darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass er mit dieser Lösung selbst nicht zufrieden war, sondern darüber hinaus die Zweckhaftigkeit einzelner Verrichtungen wiederum infrage stellte. Auf Mendelssohns Brief vom 26. März 1765, der die Harmonie des Universums auf eine metaphysische (nicht ästhetische) Basis zurückzuführen versucht hatte, hat Abbt anscheinend (sein Antwortschreiben ist verloren) geantwortet, dass eine solche Lösung »demütigend« für den Menschen sei. Mendelssohn in seiner Antwort darauf vom 14. Juni 1765 sieht dies nicht (vgl. JubA XII/1, 92). Nun hält er die irdische Selbstbeschränkung hoch: In der Tat ist die menschliche Erkenntnis mangelhaft. Aber immerhin wüssten die Menschen, dass sie eine Bestimmung hätten. Ob dies Abbt glücklicher gemacht hätte, sei dahingestellt. Wohl zu Recht hält Lorenz fest: »Das Mißliche am metaphysischen Optimismus ist, daß sich das leidende Gemüt nur vermittels der allgemeinen Reflexion darauf trösten kann, daß das vorfindliche Übel Teil des besten Systems sei: Der Nachweis, wie und warum es dies sei, gelingt, obwohl theoretisch immer (und für den unendlichen Verstand Gottes stets und immer) möglich, fast nie.« (Ders. 1997, 96)
I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog
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Mendelssohn und Abbt argumentieren deutlich auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Lorenz hat zur Charakterisierungen solcher Situationen, wie sie sich im 18. Jahrhundert häufig in den Rollen Bayles und Leibniz’ fanden, das treffende Bild zweier Schwerhöriger zitiert, die ihre Position, taub gegen Argumente, auch dann verteidigen, wenn das Gegenüber noch spricht (vgl. ebd., 83). Ist eine positive, optimistische Beantwortung der menschlichen Bestimmung nur unter Rückgriff auf ein starkes metaphysisches Postulat wie die Unsterblichkeit der Seele und die »Vorsehung« Gottes möglich? Oder sind diese Begriffe letztlich nicht viel mehr als eine »göttliche Beruhigung« (JubA VI/1, 23)? Im Brief an Abbt vom 9. Februar 1764 jedenfalls betont Mendelssohn die Wichtigkeit der Argumentationsgrundlagen: »Der Mensch, seine Kräfte und seine Fähigkeiten, Sitten, Rechte und Obliegenheiten bilden ein unermeßliches Meer von Erkenntnissen. Wer sich ohne das Steuer einer gesunden Metaphysik[162] auf dieses Meer wagt, der scheitert.« (JubA XII/1, 35, Hervorhebung A.P.) Diese Metaphysik soll Sicherheit in der Frage nach der immer weiter fortschreitenden Vervollkommnung der menschlichen Seele auch nach dem Tod liefern. Mendelssohn kann daher im Orakel allein Abbts Zweifel nicht ausräumen. Um die Zeichenhaftigkeit der Welt und die Unsterblichkeit der Seele – beide als Funktionen göttlicher Vorsehung – einsichtig zu machen, ist eine tragfähigere Basis nötig. Diese zu entwickeln ist das Projekt von Mendelssohns Reformulierung menschlicher Bestimmung. Eine Theorie menschlicher Natur soll zeigen, wie er sich in die Welt einzupassen in der Lage ist; seine Destination jedoch weist, so wird Mendelssohn im Phädon argumentieren, über allein empirische Beobachtung hinaus. Er versucht damit, dem metaphysischen Optimismus Leibniz’ eine Richtung auf eine anthropozentrische Betrachtungsweise zu verleihen, indem er Rückschlüsse auf die menschliche Moral, seine Sinnlichkeit und Erkenntnisfähigkeit zieht. Damit versucht auch er, einem allgemeinen Trend des 18. Jahrhunderts folgend, die »Lesbarkeit der Welt«, also die Physikotheologie, mit dem leibnizianischen Konzept der Vernunft zu verbinden.163 Diese »Lesbarkeit« soll auch mit Bezug auf den neuralgischen Punkt der Bestimmungsdebatte, das Perfektibilitätstheorem, erfüllbar sein. Mendelssohn zieht die Bedeutungsebenen der Perfektibilität – nämlich die Vervollkommnungsfähigkeit und die faktische Vervollkommnung – zusammen und benennt damit die menschliche Anlage, eine Fähigkeit, mit demselben terminus wie den sich faktisch vollziehenden 162
Im vorangehenden Absatz des Briefes nennt Mendelssohn alternativ »den blumigten Wegen der Geschichte, Moral und Politik, oder […] die Anhöhen der Mathesis« (ebd.). 163 Vgl. Lorenz 1997, 97 f. mit Verweis auf Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1989, siehe dort 250. Eine mit Bezug auf Mendelssohn höchst aufschlussreiche Debatte des Wolffianischen Konzepts einer solchen »Lesbarkeit« via natürliche Zeichen, der sich Mendelssohn anschließen wird, gibt Wellbery 1984, 24–30. Siehe auch Mendelssohns hier einschlägige Äußerungen im Jerusalem, JubA VIII, 160 ff.
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
Prozess (vgl. Hornig 1980, 248, 224). Damit ist die eingangs angesprochene Gefahr, selbst eingeforderte Differenzierungen nachträglich zu verwischen, gegeben. Mendelssohn hatte, wie erwähnt, zwischen der menschlichen Definition und seiner Destination unterschieden und die prinzipielle Offenheit für Entwicklung als Definition, die Erfüllung dieser Offenheit im menschlichen Denken, Handeln und Empfinden als Destination bestimmt. Zugleich hat er mit der Zuschreibung von Vollkommenheit für beide Zustände diese Differenzierung wiederum verdunkelt. Dies ist, so meine Vermutung, für die Unklarheit seiner Argumentation mitverantwortlich. Der ›Rationalist‹ Mendelssohn hat durchaus mehr zu bieten als die »göttliche Beruhigung« in der Selbstversicherung einer vollkommenen Weltordnung, die letztlich weder beweisbar ist, noch das menschliche Bedürfnis nach einem individuell gelungenen Leben befriedigt. Dass dies eine unvollständige Interpretation von Mendelssohns Werk bedeutete, soll in dieser Arbeit gezeigt werden. In der Korrespondenz mit Abbt wird die erste Bedeutungsdimension des Menschen, also seine Determination, zumindest dem ersten Anschein nach nicht extensiv thematisiert. Sie bleibt aber immer eine Argumentationsgrundlage. Die spezifische Wesenheit des Menschen, die Mendelssohn in seine Entwicklungsfähigkeit legt und diese mit der synonym verwendeten Bezeichnung Vervollkommnungsfähigkeit sogleich einem teleologischen Muster unterwirft, führt zurück auf die psychologischphysiologischen Betrachtungen in den sogenannten ästhetischen Schriften der 50er bzw. 60er Jahre. Altmann zufolge hatte Mendelssohn die Thematik schon in den Briefen über die Empfindungen (1755) und der Preisschrift Ueber die Evidenz (1764) berührt. Die Diskussion mit Abbt kam ihm nun umso gelegener, da er einen »focal point« für seine Ausarbeitung des Phädon benötigte. »For two and a half years164 the Vocation of Man formed a major topic in the correspondence between Mendelssohn and Abbt, the significance of which for the completion of Mendelssohn’s Phaedon cannot be overestimated.«165 Die Bestimmungsdebatte weist damit zum einen zurück auf Mendelssohns Frühwerk; sie zeigt zum anderen auch die künftige Entwicklung an. Die beiden zuerst genannten Schriften, die Briefe wie die Evidenzschrift, gehören dabei unterschiedlichen Themenfeldern an. Untersucht Mendelssohn in den ersteren die Natur und Ausrichtung menschlichen Vergnügens, so fügt dem die 1764 erschienene Preisschrift weitere Ausführungen zur menschlichen Fähigkeit des Bewertens und Handelns hinzu. Worüber kann es sicheres Wissen geben? Was sind die Kriterien dieser Sicherheit? Wenn dem Menschen ein Großteil der Welterfassung nur über 164
Also vom ersten diesbezüglichen Brief Abbts an Mendelssohn vom 10. November 1762 (JubA XI, 359 f.), bis zu Abbts plötzlichen Tod am 3. November 1766 (Abbts letzter Brief an Mendelssohn datiert vom 28. August 1766 (JubA XII/1, 120 f.). 165 Altmann 1973, 131. Siehe auch dessen Aufsatz zur »Entstehung des Phädon« in Altmann 1982, 84–108.
I.2 Mendelssohn und Abbt im Dialog
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die verworrenen Vorstellungen zugänglich ist, so muss sich dieses Feld mithilfe einer angemessenen Theorie menschlicher Wissenserlangung und dessen Absicherung bestimmen lassen. Der modus der klaren und verworrenen Empfindungen als ein wichtiger Bestandteil menschlicher Welterfassung hat seinen Platz deshalb nicht nur in der Erklärung angenehmer Empfindungen (Kap. II), sondern wirkt auch auf theoretische Überlegungen und praktische Erwägungen (Kap. III). Der Unterschied zwischen einem »Tierchen«, einem Kind und Newton, ebenso wie zwischen Mensch und Engel, soll somit in einer umfassenden Theorie erklärbar werden. Mit der in ästhetischer Hinsicht entwickelten Theorie der vermischten Empfindungen wiederum versucht er, auch das movens zu moralischen Handlungen, und damit die in der Bestimmungsdebatte angesprochene Übung, sowie den Sinn verständiger Verbesserung zu begründen. Darüber hinaus hat sich Mendelssohn verstärkt nach 1770, im Zuge des Lavater-Streits und angesichts der Möglichkeiten politischer Öffentlichkeit in Berlin, der Frage der Bestimmung des Menschen in der Gesellschaft zugewandt, die auch Abbt in der Bestimmungsdebatte angesprochen hatte. Diesbezügliche Überlegungen weisen Mendelssohns Verständnis einer menschenmöglichen, -notwendigen und politisch verantwortlichen Bildung aus (Kap. IV.3). Abbts Fragen und Mendelssohns zeitnahen Antwortversuche sind darüber hinaus für die sich etablierende Geschichtsphilosophie bedeutsam (Kap. IV.2).166 Mendelssohn formuliert das von Abbt angesprochene Problem der historischen Perspektive der Menschheitsentwicklung universalistisch und zugleich konzentriert auf das Individuum. In Bezug auf die subjektive Dimension der Bestimmung verschiebt sich der Fokus vom Blick auf die Menschheitsgeschichte als Gattungsgeschichte zur Geschichte je individueller Entwicklungen, ohne dies derart einzugrenzen, dass sie nur noch für die betreffenden Individuen lesbar wäre.167 Doch wie die vorangegangene Analyse zeigte, liegt die Befürchtung nahe, dass Mendelssohn die Abgrenzung zwischen einer Weltgeschichte (objektive Dimension) und der des Individuums (subjektive Dimension) nicht immer durchhalten wird. Die Frage, wie der Mensch – angesichts einer als sinnlos wahrgenommenen Gattungsgeschichte – sich dennoch selbst zur Glückseligkeit bestimmen soll, wird von ihm letztlich unter Ausschluss einer historischen Perspektive geführt, die den Menschen konstituierenden Eigenschaften als universell gültig und gleichbleibend aufgefasst. In einer umfassenden Betrachtung von Mendelssohns im 166
Nach Hinske 1994, 145–56 ist auch Kants 1784 veröffentlichte Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht ebenfalls als Antwort auf die Bestimmungsdebatte zu verstehen (siehe Kap. IV.2, Abschnitt 5, S. 416 passim). Damit prallen in den Gestalten von Abbt, Herder, Mendelssohn und Kant vier unterschiedliche Konzepte aufeinander. 167 Dies trägt auch die später in Ueber die beste Staatsverfassung (in den 1780er Jahren entstanden, zuerst gedruckt in GS IV/1 (1844), 150–53) gemachte Aussage, dass der Fortschritt der Menschen durchaus mit einem Rückschritt der Menschheit einhergehen könne; siehe JubA VI/1, 145–48, hier 156 und Kap. IV.2.
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Kapitel 1 · Die Bestimmung des Menschen
Orakel vertretenen Auffassung ergibt sich eine paradox anmutende Folgerung: zwar macht er gegen eine gattungsgeschichtliche Betrachtung die individuelle Ausbildung der Vermögen geltend, doch impliziert das eine nur eingeschränkt ›individualistische‹ Sicht auf die Bestimmung des Menschen. Vielmehr lässt sich, so Mendelssohns Annahme, menschliche Konstitution nach allgemeinen Gesetzen beschreiben. Der Weg zur Vervollkommnung ist argumentativ an das Postulat einer vollkommen aufgebauten, d. i. harmonischen Welt und einem in seinen Grundzügen konstanten Begriff von den wesentlichen Eigenschaften des Menschen gebunden. Auch der Hinweis, dass die »Naturtriebe« nach göttlichem Plan funktionierten – überlässt man sich ihnen, könne man nicht fehlgehen – spricht für diese Lesart (vgl. JubA VI/1, 20 f.). Letztlich steht Mendelssohns Ansicht im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit der Berücksichtung eines sozial und geschichtlich bestimmten Individuums und dessen gattungsspezifischer Merkmale.168 Seine Erklärungsabsicht geht damit auf den Menschen als einen je individuellen Vertreter der Menschen als Gattung; das Individuum ist die einzigartige Ausprägung einer allgemeinen Menschennatur und gliedert sich dennoch immer in ein harmonisches Weltganzes ein (Kap. V). Doch es ist weniger dieses harmonische Weltganze als die Ausformulierung des Entwicklungsgedanken selbst, die Mendelssohns Position interessant und wertvoll macht. »Enlightenment itself, he believed, lost its value when passed around as a readymade commodity instead of being the result of ever-renewed search and testing.« (Altmann 1973, 32) Die Möglichkeit des Menschen, sich der Bestimmung durch Ausbildung der eigenen Vernunft und Sinnlichkeit in immer neuen Anläufen bewusst zu werden, nimmt der hier vertretenen Position ihre Statik. Allerdings erfordert die Ausformulierung dieser Theorie eine Berücksichtigung der sie konstituierenden Bestandteile, die er ebenso wenig wie Abbt in der im gegenwärtigen Kapitel interpretierten, kurzen Debatte angemessen hat ausführen können. Das im Teilkapitel I.1 angesprochene teleologische Element in der Beschreibung menschlicher Natur innerhalb der Bestimmungsdebatte, aber auch die Konstituenten der Perfektibilität und ihr Zusammenhang mit der menschlichen Vernunftfähigkeit wurden von beiden Kontrahenten vielmehr vorausgesetzt. Diesen Aspekten, sowie den sich darauf ergebenden Folgerungen auf die komplexe menschliche Natur als eines gemischten Wesens, widmen sich die nun folgenden Kapitel. »However, the publication of these two essays did not conclude the debate by any means.« (Altmann 1973, 131) 168
So erscheint »Bildung« als eine Grundfunktion, wird aber nicht individuell gedacht (vgl. Jannidis 2004, 10). Altmann 1982, 118 ff. weist diesbezüglich auf Lessings Sicht hin, die sich auch gegen Leibniz’ Causa Dei richtet: nicht die Verdammung (der Gottlosen), sondern »das Einzel[-]ich [als] die einzige metaphysische Realität in der Geschichte« sollte philosophisch relevant sein. Ob Lessing selbst diese Ansicht konsistent vertreten hat, ist Gegenstand von Kap. III.2.
KAPITEL II Theorie der Sinnlichkeit
II. Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept »How should an Aufgeklärter philosophize in the aftermath of Rousseau?« Zammito 2002, 1
Wie das Interesse an der Bestimmungsdebatte zeigt, war das 18. Jahrhundert nicht nur ein Jahrhundert der neuen Disziplinen, sondern auch eines der Krisen. Mit der Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses erwuchs zugleich auch die Unsicherheit über vertraute Wahrheiten, wie Abbts Zweifel widerspiegelte. Martino weist in seiner Studie der »dramatischen Theorien« auf eine der umfassendsten dieser Krisen hin, die »Krise der Vernunft«.1 Wie er jedoch festhält, bezeichnet dieser Ausdruck keine Krise der Rationalität an sich, sondern vielmehr ist sie der Ausdruck eines Misstrauens gegen die Verunreinigung des vernünftigen Wissens durch ungesicherte Zusätze, »Pseudowissen und Vorurteile« (ebd.). Mit dem Bemühen um Sichtung und Prüfung angeblich vernünftiger Urteile ging ebenfalls eine Aufwertung der Sinnlichkeit und ihre Einordnung in einem umfassenden Konzept vom Menschen einher. Menschliche Konstitution als eines komplexen Zusammenspiels sinnlicher und intellektueller Aspekte, wie auch die Annahme seiner Entwicklungsbedürftigkeit führte zu einer Besinnung auf seine Wurzeln, sowie auf seine irrational erscheinenden Bedürfnisse und Fehler. Diese Krise der Vernunft, die auch die Umbesetzung ihres begrifflichen Gehalts andeutete, fand in dem solcherart charakterisierten Rahmen wohl am einschneidensten in der Auseinandersetzung mit einem ihrer schärfsten Kritiker, Jean-Jacques Rousseau, ihren Ausdruck, der nicht zuletzt die von Mendelssohn in der Bestimmungsdebatte verteidigte Perfektibilität scharf angegriffen hatte. Zwar stellte dessen Ansicht eine klare Kritik fortschrittsgläubiger Aufklärung dar, war jedoch, in Über1
Martino 1972, 114 f. Die Rede von einer »Krise« hat jüngst Zelle 1999, 99 f. wieder aufgegriffen. Ihm zufolge artikulieren die zahlreichen Texte zum Genuss am Schrecklichen in der Aufklärung ein Wissen um eine »Dialektik der Aufklärung«, das »das Bewusstsein ihrer aufklärerischen Verfasser übersteigt« (ebd.). ›Krise‹ ist damit der Ausdruck einer probleminduzierten, in ihren Anfängen aufgrund des destruktiven Potentials verdrängten Bewusstseinslage innerhalb des jeweiligen Umfelds, das bestimmten Schwierigkeiten mit nur unzureichenden theoretischen Mitteln Herr werden kann. Versuche vorsichtiger Revision stehen hierbei »alleszermalmenden« Tendenzen gegenüber; Lagergrenzen verschärfen sich.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
einstimmung mit Martinos Einschätzung, keine generelle Absage an die ratio per se. Er strebte vielmehr innerhalb seiner Schriften zu einer differenzierteren Sichtweise auf die problematischen Aspekte menschlicher Entwicklung. Das Studium des Menschen, nicht einer göttlich kalten Vernunft sei es, so Rousseau, das der höchsten Aufmerksamkeit philosophisch-anthropologischer Forschung bedürfe. Mit inbegriffen in diese Forderung war eine Neubesinnung auf die Methode, um einer Erfassung des Menschen habhaft zu werden. Rousseaus »Anthropologie«, wie er sie in den beiden Discoursen vorgetragen hat, ist dabei v. a. durch Opposition gegen gängige Tendenzen bestimmt; erst in den späteren Werken scheint er eine konstruktivere Ansicht zu vertreten.2 Jedoch soll im gegebenen Rahmen nicht auf diese, sondern auf den zweiten Discours eingegangen werden, von Mendelssohn zu Beginn seiner philosophischen Karriere übersetzt und mit starkem Einfluss auf sein Denken, wie zeitnahe Diskussionen, insbesondere mit dem Freund der frühen Berliner Jahre, Gotthold Ephraim Lessing, belegen. Das Nebeneinander und die gegenseitige Beeinflussung von wolffianischen und leibnizianischen Gedanken mit Rousseaus Kritik führte schon früh zu einer internen Spannung von Mendelssohns philosophischen Grundbegriffen, ohne dass diese vehement an die Oberfläche trat. Vielmehr lässt sich in einer eingehenderen Analyse der vom Rousseau-Interesse bestimmten Schriften zeigen, inwiefern dessen Skepsis an einer allumfassenden Vernunft auch Mendelssohn zu einer Verfeinerung seiner Ansichten zur Vervollkommnung des Menschen durch eine differenzierter verstandene Vernunft führte. Die Aufgabe dieses Teilkapitels ist mit der Frage bestimmt, was Mendelssohns Begriff der Perfektibilität umfasst und welches Menschenbild dieser trägt. Ebenfalls werden die laut Rousseau im Menschen ursprünglich wirksamen Kräfte der Freiheit und Mitleidsfähigkeit im gegebenen Zusammenhang diskutiert. Es wird sich zeigen, dass Mendelssohn bestrebt ist, alle diese Momente in einer umfassend wirksamen Menschenvernunft, die auf den Ausgleich von Überlegung und Leidenschaft, sowie Eigeninteresse und Mitgefühl zielt, zu verbinden.
2 Zum Verhältnis einer ›negativen‹ Kulturphilosophie der beiden Discourse und der dem entgegenstehenden ›positiven‹ Auffassung im Contrat Social und im Émile (beide 1762) siehe (im Anschluss an Kants Einschätzung, AA VIII 116) u. a. Fetscher 1981, 905 m.w.Vw. Ihm zufolge ist diese Gegenüberstellung ohnehin fragwürdig; vielmehr ließe sich die ›positive‹ spätere Kulturphilosophie nicht als ein Widerruf, sondern als ein Versuch des Umgangs mit dem unvermeidlichen Niedergang lesen. »Die Aufgabe des Politikers und Volkserziehers ist es – nach Rousseau –, ›den Fortschritt zum Übel‹ wenigstens zu verlangsamen, obwohl er im Grunde unaufhaltsam ist.« (Fetscher 1981, 905) Eine eingehende Rezeption der später veröffentlichten Schriften Émile und Contrat Social ist daneben in Mendelssohns Spätwerk kaum nachweisbar; vgl. Kap. IV.1 und 3.
II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept
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Vorbemerkungen: Mendelssohns Herangehensweise an Rousseaus zweiten Discours Mendelssohns Übersetzung3 dieser gerade 1755 erschienenen und die aufgeklärte, wissenschaftsoptimistische Gesellschaft der deutschen Philosophen auf- und abschreckende Schrift erfolgte zeitnah: schon 1756 erschien sie anonym unter dem Titel: Abhandlung vom Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen und worauf sie sich gründe 4, versehen mit einem Sendschreiben an den Herrn Magister Leßing in Leipzig, in dem Mendelssohn die ihm am wichtigsten erscheinenden Punkte einer kritischen Erörterung unterzog. Damit schloss sich Mendelssohn einer in Deutschland verbreiteten Linie an: die Reaktionen auf Rousseau erfolgten dort generell außerordentlich rasch. Eine weitere Besonderheit der deutschen Rousseau-Rezeption ist aber nicht nur die Schnelligkeit der Aufnahme bzw. Ablehnung von dessen Werk, sondern auch deren Heftigkeit. Beide Discourse wurden als ein Angriff auf die Aufklärungsphilosophie gewertet – ergo fühlten sich alle Rezensenten dazu aufgerufen, sie entschieden zu widerlegen. Die einheitliche Linie der allzu pauschalen Rousseau-Ablehnung durchbrachen erstmals die Rezensionen Lessings, zuerst in der April-Ausgabe 1751 in der Beilage zu den Berlinischen Staats- und Gelehrten Zeitungen: Das Neueste aus dem Reiche des Witzes, später am 10. Juli 1755 in der Berlinischen Privilegirten Zeitung, die vielmehr zu einer ernsthaften und vorurteilsfreien Lektüre des provozierenden Autors aufrufen. Eine ähnliche Intention scheint auch Mendelssohn mit seiner Übersetzung verfolgt zu haben. Wie Ursula Goldenbaum in ihrem Vorwort der jüngsten Edition dieses Werks zeigt, rief sie ein durchweg positives Echo in der Kritik hervor und diente sogar noch bis ins vergangene Jahrhundert als Grundlage für Neuübersetzungen.5 Auf der anderen Seite spiegelt sich Mendelssohns Skepsis gegenüber Rousseau in einer satirischen Paraphrase beider Diskurse in der Wochenschrift Der Chamäleon (JubA II, 133–43), die trotz der überzeichnenden Tendenz einen für seine Sicht auf Rousseaus Ideen charakteristischen Zug enthält: Es gäbe auch in der Gesellschaft genug Mitglieder, die eben nicht entarteten, sondern zur Erreichung der wahren Glückseligkeit der Gesellschaft bedürften. Ihre moralischen Eigenschaften erfüllen »ihre Seele mit einer göttlichen Beruhigung, die von der dummen Zufriedenheit eines wilden Menschen eben so weit, als die Glückseeligkeit eines Engels von der ein3
Sie war wohl zu Anfang als eine Übung seiner Deutschkenntnisse geplant, vgl. Altmann 1973, 39, 48 f., jedoch ging das Interesse von Mendelssohn und Lessing an Rousseaus Ideen tiefer, wie ihr Briefwechsel zu dieser Zeit zeigt (Briefe in JubA XI, Nr. 10, 12, 16 ff.) 4 Wiederabgedr. in JubA VI/2, 61–202. Im Folgenden nach dieser Fassung zitiert unter Discours, S. 5 Zur Geschichte der Reaktionen auf Rousseaus Werke allgemein siehe Goldenbaum 2000, 14–19, zu Mendelssohns Übersetzung ebd., 38–44.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
geschränkten Glückseeligkeit eines Menschen entfernt ist. Alle ihre Bedürfnisse sind Triebe zur Glückseeligkeit; und wenn sie diesen Genüge leisten wollen. so müssen sie sich die Unbequemlichkeiten gefallen lassen, die von dem gesellschaftlichen Leben, als dem einzigen Mittel zu ihrer Glückseeligkeit, unzertrennlich sind.« (JubA II, 139) Bis hierher entspricht dies auch der im Orakel vertretenen Sichtweise (vgl. Kap. I.2); durch die darauf folgenden Überlegungen darüber, mit welchen »vernünftigen Einrichtungen«, die Gesellschaft vor Übertretungen des allgemeinen Wohlwollens geschützt werden könne, schlägt die Besprechung in Satire um. Denn zur Besserung der Zivilisation sollten alle Sünder zuerst durch eine grausame Spezialbehandlung wieder zu dummen Tieren gemacht werden, um anschließend zu diesen, »mit welchen sie die meiste Aehnlichkeit haben« (JubA II, 142), in die Wälder geschickt zu werden, um dort die natürliche Güte zurückzuerlangen (JubA II, 140–43). »This rather cruel satire hardly agrees with Mendelssohn’s gentle nature, nor does it represent his true understanding of Rousseau. But it suited the moralizing tone of the Chamäleon and was made for entertaining reading.« (Altmann 1973, 80) Der Erfolg bei seiner Leserschaft dürfte ebenfalls dem allgemein geteilten Unbehagen an Rousseaus Kritik entsprechen. Wie seine unterschiedlichen, veröffentlichten Reaktionen zeigen, stand der junge, erst vor wenigen Jahren in Berlin angekommene Mendelssohn dem zweiten Discours ambivalent gegenüber. Tubach spricht gar von einer Widersprüchlichkeit in Mendelssohns Haltung: im Sendschreiben bekundet er, »… dass ich nicht selten gewünscht habe, der Verfasser hätte mit seiner göttlichen Beredsamkeit eine bessere Sache vertheidigt…« (JubA II, 83). In einem Brief an Lessing vom 26. Dezember 1755, also nahezu zeitgleich, aber heißt es: »Ich kann in sehr wenig Stücken mit Rousseau uneins seyn…« (JubA XI, 27)6 Einige Hinweise sprechen jedoch dafür, dass die öffentliche Bekundung der Uneinigkeit im Sendschreiben ein rhetorischer Trick ist, um dann mit Rückgriff auf Rousseau selbst zu zeigen, wie sich das Werk dennoch sinnvoll interpretieren lässt. Liest man auch das aus dem Brief angeführte Zitat in seinem Zusammenhang, ergeben sich bezüglich der generellen Zustimmung zu Rousseau, die Tubach hier ausgemacht haben will, zwei Einschränkungen. Zum einen macht Mendelssohn deutlich, welcher Disziplin er Rousseaus Werk zuordnet, und grenzt damit die Gültigkeit der Untersuchung auf ein bestimmtes Gebiet ein: »Ich kann in sehr wenig Stücken mit Rousseau uneins seyn, und mich kann nichts mehr ärgern, als wenn ich in einer philosophischen Staatskunst erwiesen sehe, daß alles nach der Vernunft so hat seyn müssen, wie es bey uns ist.« (JubA XI, 27, Hervorhebung A.P.) Der Discours wird also nicht als eine metaphysische oder moralphilosophische Abhandlung, sondern als ein Werk der »philosophischen Staatskunst« gewertet. Von 6
Vgl. Tubach 1960, 146. Die genaue chronologische Reihenfolge beider Stellen ist allerdings unklar; das Sendschreiben entstand 1755 und ist auf den »2ten Jenner 1756« (JubA II, 96) datiert.
II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept
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diesem erwartet Mendelssohn keine Apologetik des jetzigen Zustandes, noch eine umfassende Welterklärung, sondern kritische Auseinandersetzung mit den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten, zu denen eine Rekonstruktion der Gesetzmäßigkeiten menschlicher Entwicklung nur eine Zugabe ist. Mendelssohns zweite Einschränkung, bereits auf seine Kritik von Rousseaus Perfektibilitätskonzept anspielend, folgt schon im nächsten Satz: Rousseau spreche in seinem Werk »dem gesitteten Menschen […] alle Moralität ab […]. Für diese bin ich aber allzu sehr eingenommen.« (JubA XI, 27) Die Einschätzung wird im Sendschreiben wiederholt: »Sollte Rousseau […] eine Meinung angenommen haben, die aller Sittlichkeit schnurstraks zuwider zu laufen scheinet?« (Sendschreiben, JubA II, 83) Die Intention von Mendelssohns Lektüre, die er im Sendschreiben zusammenfasst, geht gerade in die Richtung, zwar Rousseaus Kritik aufzunehmen, aber dessen Auffassung menschlicher Moralität zu korrigieren. Mendelssohn fasst also den Discours als eine Aufklärungsschrift auf und ist in dem Sinne mit der Absage an den gegenwärtigen Zustand und der Diagnose einiger gesellschaftlicher Defizite und den Formen der Unterdrückung, die Rousseau dahinter ausgemacht hat, »nicht uneins«. Er lehnt aber darüber hinausgehende generelle Aussagen gegen jedwede Form menschlicher Natur, Moralität und Gesellschaft ab.7 7
Vgl. JubA II, XXI f. und die Nachschrift zum Sendschreiben, JubA II, 98 f. Kant reformuliert in den 1770er Jahren Rousseaus Kulturkritik ebenfalls (vgl. Anthropologie Friedländer, WS 1775/76, AA XXV, 684 f. und Anthropologie-Pillau, WS 1777/78, ebd., 846 f.): letztlich ist es nicht eine Verneinung des gesellschaftlichen Standes, der bürgerlichen Gesellschaft an sich, sondern eine Kritik an der herrschenden Gesellschaft. Die Frage, die Rousseau aufgeworfen habe, sei also nicht, wie man jedwede Form von Kultur oder Gesellschaft vermeiden könne, sondern wie diese Entwicklungen in größtmöglichen Einklang mit der menschlichen Natur zu bringen seien. Im Naturzustand sei der Mensch weder moralisch guter noch böser Handlungen fähig; ihm fehlten sowohl die Laster als auch die Tugenden. Insofern gibt Kant auch Rousseaus Analyse recht, dass die Ehrsucht und Selbstliebe ein Resultat menschlicher Vergesellschaftung ist. Im Discours, 15. Anm, JubA 188 f. unterschied dieser Selbstliebe (bzw. Liebe zu sich selbst) als eine natürliche Neigung (amour de soi) von Eigenliebe aber einem »gemachten Begriff«, der die (verderbliche) Quelle des Ehrgefühls ist (amour propre). Kant formuliert dies im Sinne einer negativ verstandenen Freiheit als Abwesenheit von Lastern (vgl. AA XXV, 686 f. und 798): »Freyheit ist die negative Bedingung aller Hindernisse unserer Willkühr; oder wenn uns nichts hindert, uns unserer Freyheit zu bedienen. […] Die Freyheit ist nichts anders als die Unabhängigkeit, von andrer ihrer Neigung und Gewalt. Ich muß glücklich seyn nach meiner Meynung; wenn ich Glückseeligkeit genießen soll; Die Freyheit giebt mir eine hohe Meynung von mir, oder macht mich stoltz, das heist hier, sie giebt mir meine wahre Würde zu erkennen.« Im Naturzustand ist diese Freiheit jedoch von besonderer Qualität: »Demnach lebt der Mensch im natürlichen Zustande unschuldiger, als im bürgerlichen. Er lebt glücklich und unschuldig wie ein Kind. Dieses ist aber kein positives Glück, aber auch kein positives Unglück […].« (AA XXV, 688, Hervorhebung A.P.) Deshalb ist auch eine »Rückkehr« in den Naturzustand kaum möglich: »Kein Volck ist aus dem gesitteten Zustande in die Wildniß [als Zustand seiner »Kindheit«, A.P.] gegangen, es ist also dieses kein Fortgang zur Vollkommenheit der Menschheit, sondern vielmehr ist der Fortgang aus der Wildheit in die bürgerliche Verfaßung, und daß also in der Vollkommenheit der bürgerlichen Verfaßung die Vollkommenheit des Zustan-
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
Auch sein Versuch, die Zueignungsschrift, die er ebenfalls in die Übersetzung aufnimmt (JubA VI/2, 65–77), als einen Schlüsseltext zur Entschärfung oder gar Umwandlung von Rousseaus Thesen zu lesen, spricht für dieses Interesse (vgl. Goldenbaum 2000, 20, 27 und 41). Indem sich nämlich Rousseau in der Zueignungsschrift positiv über zumindest eine Form menschlicher Gesellschaft äußere – diejenige der Stadt Genf – so könne er sie gemäß Mendelssohns Interpretation gar nicht rundheraus verneinen. Der in der Zueignung beschriebene zwischenmenschliche Zusammenschluss ist allem Anschein nach der für die menschliche Natur bestmögliche (vgl. Discours, 72). Und damit, so führt Mendelssohn den Gedanken weiter, auch besser als ein erträumter und ungeselliger Naturzustand. So bräche sich in dieser Zueignungsschrift »die angebohrne Liebe zur Geselligkeit« (Sendschreiben, JubA II, 85) Bahn.8 Damit hat Mendelssohn prima facie eine Richtung eingeschlagen, die viele Zeitgenossen bevorzugten: Rousseau nachzuweisen, dass seine Theorie von seiner eigenen Lebenspraxis abginge. Er geht aber darüber hinaus, indem er diese Divergenz nicht dazu benutzt, den Autor insgesamt zu desavouieren. Vielmehr versucht er die sich im Werk (und nicht zwischen Werkaussage und dem Leben des Autors) zeigende Spannung zu nutzen, um Rousseaus genereller Kritik einen rationalen Kern abzugewinnen. Mendelssohns grundlegende Frage lautet damit: Inwiefern kann Rousseaus Position genutzt werden, eine konstruktive Kritik an der bestehenden Gesellschaft zu
des der Menschen zu setzen sey.« (ebd., 689) Rousseau habe eigentlich nicht sagen wollen, dass der Mensch gar nicht den Kulturzustand suchen solle, sondern, dass er dafür nicht den ganzen Naturzustand aufgeben dürfe. »Nur im bürgerlichen Zustande allein entwickelt der Mensch seine Talente.« (ebd. 690) Damit zeige Rousseau letztlich, »daß in uns die Keime der Ausbildung zu unserer Bestimmung liegen; und daß wir deswegen die bürgerliche Verfassung nöthig haben um die Zwecke der Natur zu erfüllen; Wenn wir aber in der bürgerlichen Verfassung jetzt stehen bleiben, so wär es besser in den Stand der Wildheit zu kehren. […] Wenn das menschliche Geschlecht seiner Bestimmung näher kommen soll, so gehört dazu, eine vollkommne bürgerliche Verfassung, gute Erziehung, und die besten Begriffe in der Religion.« (ebd., 847) So beendete Kant, den Nachschriften gemäß, seine Anthropologie-Vorlesung 1777/78, was wiederum den hohen Stellenwert betont, den Rousseau für ihn einnahm; dieser habe ihn »zurecht gebracht«, wie Kant in einer Anmerkung in den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764–65) schreibt (AA XX, 44). Kants Rousseau-Lektüre ging in dieser Hinsicht allerdings auch auf den Émile und Contrat Social. 8 Dabei rückt Mendelssohn Rousseaus ebenfalls geäußerte Kritik an Genf in den Hintergrund; vgl. Strauss 1969, 253 f. m.w.Vw. Allerdings stellt auch dieser eine Spannung fest zwischen Rousseaus Plädoyer für die Rückkehr in den Naturzustand bzw. seine Lobeshymne an die Polis, eine Gesellschaft freier Menschen (vgl. ebd.). »Rousseau believed to the end that even the right kind of society is a form of bondage.« (ebd., 255) Der absolute Maßstab, an dem er also alles, auch die Gesellschaft misst, ist die Freiheit; sie ist die höchste Legitimationsinstanz. Strauss geht allerdings über den hier gewählten Rahmen hinaus, indem er auch das Früh- aus dem Spätwerk miteinbezieht. Dies ist zur Rekonstruktion von Rousseaus Position insgesamt richtig; im gegebenen Zusammenhang jedoch soll nicht auf Material zurückgegriffen werden, das Mendelssohn zum Rezeptionsund Reaktionszeitpunkt nicht kennen konnte.
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reformulieren und menschliche Gesetzmäßigkeiten dabei aufzuzeigen, die – entgegen der geäußerten Kritik am Vervollkommnungsgedanken – dennoch einem richtig geleiteten gesellschaftlichen Fortschritt dienen? Er versucht damit, Rousseau gegen sich selbst anzuwenden, um den Perfektibilitätsgedanken zu retten. Diese Uminterpretation wird dahingehend ›geadelt‹, dass sie sozusagen mit Rousseaus indirekt in der Zueignung ausgedrücktem Segen geschieht. In der Beschäftigung mit dieser umstrittenen Abhandlung, namentlich im Sendschreiben, sind schon in nuce die Konstituenten von Mendelssohns Auseinandersetzung mit der Bestimmung des Menschen festgelegt, in denen er sich auf die Kernpunkte Mitleid und Perfektibilität konzentriert.9 Es liegt auf der Hand, dass diese eigenen Konzepte leibnizianischer Natur, und damit deutlich optimistischer sind. Vervollkommnung soll dabei, übereinstimmend mit dem Befund der Bestimmungsdebatte, die sich auch aus den Überlegungen zu Rousseau speist, als ein Vollzugsmoment der Vollkommenheit definierbar werden; die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einem Zweck wird auf die Entwicklung von Welt und Mensch, auf die Entfaltung des Individuums auch im notwendigen Austausch mit seinen Mitmenschen bezogen gedacht. Damit stellt er sich Rousseaus Aussage diametral entgegen, der den Niedergang des Menschen durch die Ausbildung zur Gesellschaft diagnostiziert hatte. Es scheint daher müßig, sich mit einem ganz anderen Gedankengang bei Rousseau zu befassen, der schon in den Grundzügen den rationalistischen Prämissen einer ›vernünftigen‹ Welteinrichtung entgegensteht. Doch Mendelssohns Umgang mit dieser ihm fremden Theorie, die er frei handhabte und auf die er seine Ansicht der Vollkommenheit applizierte, trägt dazu bei, sein eigenes Konzept zu konturieren. Es mag sein, dass er der eigentlichen Intention des Discours nicht gerecht wurde. Festzuhalten aber ist, dass er zumindest den Versuch unternahm, sein kritisches Potential produktiv zu nutzen. Im Folgenden werde ich unter dem Stichwort Perfektibilität10 die Diskussion über Vollkommenheit, Vervollkommnung und ihre Erfordernisse, sowie die Stellung des Theorems innerhalb einer Philosophie vom Menschen und seinen vernünftigen wie sinnlichen Vermögen analysieren (1). Damit einher geht die Frage nach dem 9
Vgl. Goldenbaum 2000, 25. Mendelssohns Kritik an der Naturzustandslehre soll hier nur gestreift werden. 10 Zur Begriffsentwicklung im französischsprachigen Raum (im Zuge der »Querelle des Anciens et des Modernes«, in Anlehnung an Turgot etc.) vgl. Müller 1997, 94: »Den Rahmen bilden der innere Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung in Raum und Zeit und die Weitergabe wichtiger Errungenschaften, vor allem in der Bewältigung des praktischen Lebens, von Generation zu Generation in den Mitteln von Sprache und Schrift.« Siehe auch R. Baum / S. Neumeister in Ritter, Bd. 7, 238–41, sowie Jean-Luc Guichet: Rousseau. L’animal et l’homme. L’animalité dans l’horizon anthropologique des Lumiéres. Paris 2006, der die Wurzeln von Rousseaus Unterscheidung von Mensch und Tier in den Überlegungen (und in Abgrenzung zu) Descartes, Diderot, Buffon, d’Helvétius, Condillac untersucht.
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Stellenwert der Freiheit, Rousseaus zentralem Anliegen, im Spannungsverhältnis zur menschlichen Vernunft, sowie des Theorems des Fort- oder Rückschritts menschlicher Gesellschaft. Ein weiterer Punkt ist die Auseinandersetzung mit der »natürlichen« Anlage des Menschen zum Mitleiden (2). Mit Rousseau verteidigt Mendelssohn die ursprünglich gute Konstitution des Menschen; gegen ihn fundiert er den Mitleidsbegriff in einer tiefer als die Selbstliebe liegenden Tendenz zur Vollkommenheit und greift damit auf das Theorem der Perfektibilität zurück, das er nicht wie Rousseau als der Freiheit entgegenstehend, sondern als mit ihr vereinbar formuliert. Dem ordnet Mendelssohn in Absetzung zu Rousseau einen grundsätzlichen Zug zur Geselligkeit bei und verteidigt den Grundsatz, dass die Vollkommenheit des Einzelnen niemals losgelöst von der Vollkommenheit Anderer erreichbar ist. Wichtig sind also vorerst die Grundbegriffe Rousseaus, Perfektibilität und Mitleid, die bei Mendelssohn eine spezifische, schon auf die Bestimmungsdebatte hindeutende Interpretation erfahren. Weitergehenden Fragen nach dem Zusammenhang von menschlicher Natur und seiner Soziabilität und, damit zusammenhängend, der menschlichen Sprachfähigkeit und einer (kulturell bedingten) Sprachentwicklung ist das Kapitel IV.1 gewidmet.
1. Was ist Perfektiblität – und wie groß ist ihr Schaden? Rousseaus Kritik an Vernunft und Vervollkommnung Wie Rousseau sogleich mit den ersten Sätzen verkündet, ist das Ziel des zweiten Discours’ die vertiefte Kenntnis des Menschen, wie er an sich sei, um die Ursprünge der Ungleichheit aufdecken zu können. Diese, so setzt Rousseau voraus, liege gerade nicht im Wesen des Menschen selbst, sondern müsse über die Konstruktion eines Naturzustandes und dessen Überformung durch menschliche Kultur nachvollziehbar gemacht werden.11 Die Rekonstruktion eines ursprünglichen Zustands des Menschen unternimmt er dabei in Anlehnung an das Konzept des »inneren Sinns« aus Buffons Histoire Naturelle (ersch. Paris 1749–89, siehe Discours, 157 f.). Dieser sei, so Rousseaus Interpretation, eben so wenig auf die Ausbildung des äußeren und äußerlichen Menschen konzentriert wie um das Bild des Einzelnen in den Augen der Anderen besorgt, sondern vertiefe, selbst im Status der Zivilisation davon unberührt, die Kenntnis des eigenen 11
Vgl. Discours, 79 f. Damit stellt sich Rousseau auch gegen die noch junge Tradition der Naturzustandskonstruktion, die laut Altmann 1982, 182 bislang vornehmlich zur Legitimierung des bestehenden Staates, nicht zu einer Absage an ihn genutzt worden waren.
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Wesens.12 Rousseau wendet ihn zur Auffindung der das menschliche Leben bestimmenden Gesetzmäßigkeiten an. Diese sollen als »Naturgesetze« reformulierbar sein, die nicht qua Vernunft normativ binden, sondern mit der Kraft von Naturgewalten wirken (vgl. Discours, 81). Ein Charakteristikum solcher »Naturgesetze« muss es sein, dass ihre Allgemeingültigkeit für jeden einsehbar ist und sie somit unmittelbar mit der Stimme der Natur zum Menschen sprechen, wenn er in der Lage ist, den Ballast der falschen Zivilisation abzuwerfen. Allein solche Gesetze, die für alle und immer einsichtig wirksam sind, dienen zur wahren Verbesserung des Menschen: »Man hat also nicht nöthig, den Menschen erst zum Philosophen zu machen, bevor man ihn zum Menschen machet.« (Discours, 83) Was also ist der Mensch, oder mit Rousseau: was war er vor den verfälschenden, kulturellen Einwirkungen? Rousseau macht hier zwei Grundtriebe aus, die er als die »allerersten und einfachsten Würckungen der menschlichen Seele […], die vor aller Vernunft hergehen« (Discours, 83, Hervorhebung A.P.) bestimmt: Selbstliebe und Mitleid. Die Annahme einer ursprünglichen Geselligkeit ist dabei nicht nötig, denn selbst das Mitleid, das man prima facie in Hinsicht auf das soziale Wesen des Menschen zu interpretieren geneigt ist, wird vielmehr in Hinblick auf eine Form der Selbstliebe im Anderen begründet; ich komme später (s. 2. Abschnitt) darauf zurück. Von diesen grundlegenden Prinzipien ausgehend, sucht Rousseau den Ausgang des Menschen aus einem imaginierten, ›unschuldigen‹ Naturzustand zu erklären und greift dabei auf zwei weitere Eigenschaften zurück: »das Vermögen zu wollen, oder vielmehr zu wählen, und das Bewußtseyn von diesem Vermögen sind blos Handlungen des Geistes, die sich durch keine mechanischen Gesetze begreifen lassen« (Discours, 102) – also Freiheit – sowie das »Vermögen sich vollkommener zu machen« (ebd.): Perfektiblität. Beide stellt Rousseau den tierlichen Vermögen gegenüber, letztere allerdings mit mehr Nachdruck.13 Im ›reinen‹ Naturzustand scheint folgerichtig gerade die letztgenannte Vervollkommnungsfähigkeit nicht im vollen Umfang wirksam zu sein. Der zufriedene Wilde habe noch kein Zeitbewusstsein und denkt also nicht über den Tag hinaus, da er alle drängenden Bedürfnisse ohne weitere Planungen erfüllen könne. Rousseau setzt da12
In den ersten Anmerkungen wird Rousseau dennoch (v. a. IV ff., VIII) nicht auf den inneren Sinn, sondern auf aus Buffons Werk entlehnte biologische Erkenntnisse über physische Funktionen des menschlichen Körpers im Vergleich zum Tier eingehen. Dem korrespondiert jedoch sein Vorhaben, zuerst das physische, dann das metaphysische oder moralische Wesen des Menschen zu untersuchen; siehe Discours, 101. 13 »Wenn man auch wider diesen Unterschied zwischen Menschen und Thieren noch Schwierigkeiten machen könnte; so gibt es dennoch eine besondre Eigenschaft, dadurch sich diese Arten unterscheiden, und die ausser allem Streit ist; Ich meine, das Vermögen sich vollkommener zu machen.« (Discours, 102) Letztlich ist der Freiheitsbegriff im zweiten Teil des Discours eher eine Äquivokation: dort geht es um die Souveränität des Menschen, während die hier genannte Freiheit mit der Perfektibilität näher verwandt ist, aber deren Strebensmoment entbehrt.
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mit dessen Selbstgenügsamkeit fest: »sein Hertz fordert nichts« (Discours, 104). In diesem Zustand ist »weder Erziehung, noch Besserung« (Discours, 120), da beides zum Überleben unnötig erscheint. Allerdings muss der Mensch als ein Mängelwesen an Instinkt diesen durch Lernen ausgleichen. Er ist damit ein situationsoffenes Wesen, dessen Fähigkeiten sich nicht nach einem irgend gearteten Plan, sondern gemäß äußeren Erfordernissen entwickeln. Rousseau scheint sich vorgestellt zu haben, dass eine solche Entwicklung im Naturzustand ihr natürliches Ende in der Erlangung reiner Funktionstüchtigkeit finden kann, ohne weiter reichende Bedürfnisse mit sich zu bringen. Der tatsächliche Abfall vom Naturwesen erfolgt nach Rousseaus Rekonstruktion nicht durch dieses – auch mit der bloßen Freiheit, ohne Instinkt zu leben, kompatible – Lernen, das ihm lediglich einen angemessenen Gebrauch seiner körperlichen Kräfte zur Stillung aller natürlichen Bedürfnisse erlaubt, sondern vielmehr sollen es äußere Katastrophen und Zwänge gewesen sein, die den Menschen dazu veranlasst hätten, sein selbstgenügsames Leben aufzugeben, um sich in die schützende, aber auch Abhängigkeitsverhältnisse generierende Gesellschaft mit Anderen und den damit einhergehenden Kampf um Eigentum und Ansehen zu begeben.14 So unklar die Erklärung des Übergangs vom Naturzustand in die Kultur auch erscheint, so ist doch eine einflussreiche Ansicht Rousseaus hervorzuheben: Zum einen hängt die bloße Möglichkeit eines solchen Übergangs von der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit ab, die ihn über das bloß vor ihm Liegende hinausführt. Zum anderen besteht die Gefahr dieses Vermögens gerade darin, dass es als eine naturhafte Lernfähigkeit und kulturbildende Kraft nicht teleologisch strukturiert ist. Es dient nicht, wie gemäß einer leibnizianischen Lesart zu vermuten wäre, einer generellen Verbesserung, sondern führt zur unruhestiftenden Differenzierung der im natürlichen Zustand einander gleichen Menschen. Diese Ansicht versucht Rousseau mit einer näheren Untersuchung der physiologischen, sowie der »metaphysischen und moralischen Seite« (Discours, 101) des Menschen zu belegen. Explizit stellt er dabei der Perfektibilität die Freiheit entgegen, und trennt damit die jene regierende Ratio von diesem zweiten Grundvermögen. Verstand gilt, zumindest im zweiten Discours, als eine rein instrumentelle Kraft ohne innere normative Kriterien. Es liegt auf der Hand, dass ein solcherart ambivalentes Vermögen auch eine gefährliche Instanz der inneren Gesetzgebung ist.15 Darüber hinaus ist sie, so Rousseau gegen die »Sittenlehrer«, entscheidend von den Leidenschaften und letztlich Bedürfnissen abhängig, die ihr ihre Strebensrichtung vorgeben. Letztlich ist selbst das Ziel intellektueller Bestrebungen durch Leidenschaften infiziert und jeder auch intellektuelle Antrieb findet seine Befriedigung in einem sinnlichen Genuss: »Wir suchen Einsicht, weil 14
Einem ähnlichen Muster folgt Rousseaus Spekulation zum Ursprung der Sprachen (vgl. Discours, 126, 130; Velkley 2002, 31). S. hier Kap. IV.1. 15 Vgl. Forst 2003, 368, der dieses Konzept auch für den Émile (1762) aufweist.
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wir geniessen wollen« (Discours, 103). Anmerkung IX verdeutlicht das tief sitzende, entzweiende Potential einer derart auf Genuss angelegten Ratio: da sie auf Klugheitserwägungen beschränkt ist, so wird sie auch einander widersprechende Ratschläge erteilen und den Menschen ohne ein Kriterium lassen, demgemäß er seine Entscheidungen einrichten sollte. Dem Einzelnen gebietet sie Mitleid, in Rücksicht auf seiner Teilhabe an der Gesellschaft jedoch zugleich die Vernichtung oder zumindest Erniedrigung des Anderen zwecks Verbesserung des eigenen Status’ (vgl. Discours, 166 f., sowie ebd. Anm. XV, 188 f.). Wird die natürliche Eigenliebe (amour de soi) von »Vernunft[16] geleitet und von dem Mitleiden eingeschränket«, so wird sie »Tugend und Menschlichkeit« (ebd., 188 f.) hervorbringen; vermischt mit dem Blick nach außen im Stand der Geselligkeit jedoch pervertiert sie zur amour propre, der Selbstsucht. Der Verstand allein kann für die Richtung einer möglichen Auswirkung kein Kriterium zu bieten, sondern ist von äußerlichen Zielen abhängig.17 Im Übergang von Natur zu Kultur verfällt der Mensch zur vermeintlichen Verbesserung seines Zustandes auf »eine Art von Ueberlegung oder mechanischer Klugheit« (Discours, 127, Hervorhebung A.P.), die ihn weit von seiner ihn eigentlich auszeichnenden Freiheit entfernt, sondern in die Fesseln unnatürlicher ›Bedürfnisse‹ und Zwangsverhältnisse bringt. Rousseau weist wiederholt auf die Gefahr des solcherart entstehenden künstlichen Blick von außen hin: »Ein jeder bemerkte alle andere, und hatte Lust wiederum von ihnen bemerkt zu werden. […] Der wilde Mensch lebet in sich, der gesellige hingegen ist immer ausser sich, und lebet nur in der Meinung, die andere von ihm haben.« (Discours, 131, 155) Es entstehen Stolz, Beleidigung und Rache. Und über das verstärkte Gefühl für, oder gar die Selbstdefinition über den Blick des anderen entsteht auch die Neigung zum Schein: »Seyn und Scheinen wurden zwey ganz verschiedene Dinge« (Discours, 136), wobei der Schwerpunkt in der Kultur auf dem letzteren liegt. Durch ihn ließen sich die Menschen auch für die Interessen einiger Weniger einspannen und erschufen so den modernen Staat: »Die Gesetze und die Gesellschaften, die auf diese Art entweder wirklich entstanden, oder wenigstens haben entstehen können, hielten die Armen noch fester im Raume, und den Reichen legten sie neue Kräfte bey, richteten unsere natürliche Freyheit ohne Rettung
16
Es fällt auf, dass Mendelssohn »raison« an den pejorativ konnotierten Stellen zumeist mit »Verstand« übersetzt, während er in Hinblick auf Rousseaus Erwähnung von ihren positiven Seiten (nicht durchgängig) »Vernunft« setzt; siehe neben der zitierten Stelle v. a. Discours, 146 (Vernunft verbindet zur Erhaltung des Lebens), 156 (durch das »Licht der Vernunft« lässt sich der menschliche Verfall erklären). Insgesamt jedoch ist zu betonen, dass auch Mendelssohn selbst beide Begriffe zumeist synonym verwendet (Goldenbaum 2000, 43 f.) 17 Velkleys Folgerung: »Reason cannot establish a secure correspondence between human willing and natural order because all rational efforts bring about disequilibrium« (Velkley 2002, 55) ist jedoch in ihrer Absolutheit auch für Rousseau anzuzweifeln, wie ich mit Hinweis auf die ambivalente Verwendungsweise des Begriffs »raison« schon andeutete.
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zu Grunde, setzten das Gesetz des Eigenthums und der Ungleichheit auf Ewig fest, verwandelten eine geschickliche Usurpation in ein unwiederrufliches Recht und […] verdammeten […] das gantze menschliche Geschlecht zur Arbeit, Dienstbarkeit und Jammer.« (Discours, 140) Hätte ein jeder seine Freiheit bewahrt, anstatt sich den irrlichternden Gesetzen einer fehlgeleiteten Ratio anheimzugeben, so wäre ihm dies erspart geblieben. Wie aus einem Schreiben an Voltaire hervorgeht, ist sich Rousseau der schwierigen Position der raison und einer damit verbundenen Vervollkommnung durchaus bewusst. Sie ist nicht prinzipiell fehlgeleitet (dagegen sprechen die großen Meister der Antike), sondern vielmehr stark irrtums- oder fehleranfällig, was sich bei zunehmender Entfernung vom Naturzustand dramatisch verstärkt, je mehr der Blick nach außen geht. Nicht die schlichte Unwissenheit sei es demzufolge gewesen, die zum Niedergang menschlicher Kulturen geführt habe, sondern der primär von Eitelkeit geleitete Irrtum, womit Rousseau die eingangs erwähnte »Krise der Vernunft« genau trifft.18 »Suchen wir den ersten Ursprung der Wirren der Gesellschaft, so werden wir entdecken, daß alle Übel der Menschen eher vom Irrtum als von der Unwissenheit stammen. Was wir nicht wissen, schadet uns viel weniger, als was wir zu wissen vermeinen.«19 Indem die Menschen sich mit vermeintlichem Wissen und Halbbildung zufriedengäben, hätten sie also gerade an ihrer Verschlechterung gearbeitet: Bedürfnisse und Leidenschaften fanden über diese schlechte Wissenschaft Eingang in das gesellschaftliche Leben und wurden durch eine solcherart »faule Vernunft« verfestigt. Dieser Auffassung nahe steht eine der abschließenden Passagen im ersten Discours. Mit Hinweis auf einige Genies wie Baco, Descartes, Newton als »Lehrer des Menschengeschlechts« räumt Rousseau dort ein, dass der Mensch durchaus fähig ist, wahre Erkenntnisse zu erlangen. Doch der Weg zu diesen Erkenntnissen ist nicht durch eine ununterbrochene historische Abfolge aus Lehr- und Lernverhältnissen zu verstehen. Gerade diese Männer mussten nicht an eine sorgfältig und ununterbrochen tradierte Schulbildung anschließen, die vielmehr ihr Genie eingeengt hätte. Rousseaus Forderung an Genies dieser Art ist vielmehr intellektuelle Selbständigkeit: »Muß man schon einigen Menschen erlauben, sich dem Studium der Wissenschaften und Künste zu widmen, so nur denen, welche die Kraft in sich spüren, allein auf ihren Pfaden zu wandeln und sie weiterzubringen, das heißt jener kleinen Zahl, die Monumente zum Ruhm des menschlichen Geistes errichtet.« (Rousseau, erster Discours, in: Ders. 1995, 55, Hervorhebung A.P.) Vervollkommnung geschieht – wenn überhaupt – demnach eben nicht in kontinuierlich aufeinander aufbauenden Stufen einer umfassenden Vernunftentwicklung, sondern sprunghaft. Die wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritte werden nicht als eine stetige Entwicklung und Vertie18 19
Die Nähe zu Bayles Position ist hier greifbar, vgl. Cassirer 1932, 214 ff. Rousseau an Voltaire am 10. September 1755, in: Rousseau 1995, 313.
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fung von Wissen verstanden, sondern als Erkenntnisse Einzelner. Wogegen Rousseau hier streitet, ist der Versuch, durch die Herausbildung einer Wissenskultur diese Stufenfolge verstetigen zu können. Für ihn ist jede Tradierung wiederum Tendenz zur Verfälschung und Einbruchstelle für von Machtansprüchen geleitete Interessen, die zu Instrumentalisierung und Unterdrückung Anderer, oder auch der gesamten Menschheit, führen. Zusammengefasst gesagt, bestreitet Rousseau letztlich nicht den Wert der Vernunft per se, sondern weist auf ihre Fehleranfälligkeit und Verführbarkeit hin, die letztlich zu einer Verfestigung der negativen Tendenzen des Gesellschaftszustands führe und die ursprüngliche, natürliche Souveränität des Menschen vernichte. Nur ein freier, nicht durch Machtverhältnisse bzw. Eigentumsinteressen gesteuerter oder durch Vorurteile verfälschter Gebrauch von ihr kann ihren schädigenden Einfluss verhindern. Ohne das Für und Wider von Rousseaus Gesellschaftsentstehungslehre und -kritik an dieser Stelle eingehend diskutieren zu können, was neben den erwähnten Aspekten auch seine Eigentumstheorie berühren müsste, lässt sich in Hinblick auf die Vervollkommnungsfähigkeit und ihrer Verbindung zur menschlichen Vernunft folgendes festhalten: Rationalität wird in ihrer Verbindung mit Perfektibilität als der Grund menschlichen Unglücks verstanden. Die Ratio besitzt keine eigenen zielsetzenden Prinzipien, sondern dient vornehmlich Klugheitserwägungen, die über unterschiedliche Zielsetzungen verwirrt werden und den Menschen als ein zugleich für sich und andere sorgendes, aber auch seine Stellung in der Gesellschaft verteidigendes Wesen entzweit. Eine solche Gesellschaft zerrissener und uneigentlicher Individuen vernichtet alle natürliche Ordnung und Gleichheit und macht den Menschen zum Sklaven des (mitunter lediglich imaginierten) Anderen sowie der abstrakten Bedürfnisse der Gesellschaft. »[M]it seiner Vervollkommnungsfähigkeit und seinem wachsenden Vernunftgebrauch erzielt der Mensch zwar einen zivilisatorischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritt, ist aber zugleich dazu verdammt, ständig Verfall und Niedergang, Korruption und Verbrechen mitzuproduzieren«.20 Die Forderung Velkleys, »If perfectibility is the source of all ills, then to be free of it should be good« (Ders. 2002, 44), mag damit noch nicht die Lösung des Problems darstellen. Doch Rousseaus Zeitgenossen, die diese Kritik ernst nahmen – und Mendelssohn ist zu ihnen zu zählen – stellte sich die Aufgabe, die Rolle der Vervollkommnung eingehender zu untersuchen, bzw. sie zu legitimieren.
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Hornig 1980, 250 und auch 256 f. Er verweist darüber hinaus auf die Aufnahme des Perfektibilitätskonzepts im 20. Jh. unter Berufung auf die Aufklärungsphilosophie. Siehe v. a. Reinhart Koselleck: »›Fortschritt‹ und ›Niedergang‹ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe«, in: Niedergang. Studien zu einem geschichtlichen Thema. Hg. v. R. Koselleck und Paul Widmer. Stuttgart 1980 (=Sprache und Geschichte 2), 227.
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Rousseaus Absage an die Kultur hat jedoch einen weiteren Aspekt, der auch für Mendelssohn von Bedeutung war. Mit inbegriffen in diese Absage ist nämlich die These, dass sich der kulturelle Mensch von dem prärationalen und präsozialen Wesen eines historischen oder konstruierten Naturzustandes radikal unterscheidet. Die Auffassung von einem sich selbst ewig gleich bleibenden Menschen wandelt sich zu einem sich unter komplexen historischen Bedingungen entwickelnden Wesen.21 Der Einwurf Mendelssohns im Sendschreiben, was man denn nun tun solle, wo doch der Abfall von der ursprünglichen Unschuld bereits geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen sei (vgl. Sendschreiben, JubA II, 83 f.), ist in diesem Sinne durchaus berechtigt. Wenn das Vermögen der Perfektibilität einmal angeregt und die Bahn der historischen Entwicklung beschritten sei, so sei der Naturzustand endgültig verlassen und unwiederbringlich verloren. »Unsere ursprüngliche, und wenn man will, beglückte Dummheit ist nunmehr gebrochen. […] Die Sehnsucht, unsern Zustand vollkommener zu machen, ist in uns rege geworden. Warum will man uns verhindern, an der Besserung zu arbeiten, wenn das Verlangen darnach nicht mehr unterdrückt werden kann?« (JubA II, 84, Hervorhebung A.P.)22 Rousseaus Analyse kann kaum als der Aufruf zur Rückkehr auf die Bäume verstanden werden, sondern setzt vielmehr die herrschenden Umstände einer generellen Kritik aus, die zugleich die Bedürftigkeit des Menschen nach Kultur und Entwicklung ernst nehmen muss. Ganz im Gegensatz zum prima facie offen liegenden Ergebnis einer Absage an den kulturell geprägten Menschen ist also eine fruchtbare Fortentwicklung von Rousseaus Gedanken nur in der Kultur möglich. Dabei leistet Rousseaus Theorie nicht allein die Analyse dieses Zustandes, sondern weist durch die Feststellung, dass es die Gesellschaft, und keine Erbsünde o. ä. ist, die die Wurzel des Schlechten darstellt, zugleich auch einen Weg über den faktischen, schlechten Zustand hinaus.23 Der
21
Vgl. Müller 1997, 132 f. Der Naturzustand dient ihm zufolge als eine »Folie«, auf der erst die Menschheitsentwicklung als Fortschritt oder Depravation gewertet werden kann. In diesem Sinne ist auch Rousseaus Ansatz einer Anthropologie als ein Schritt zur Entwicklung der historischen Sichtweise zu werten; anders interpretiert dies Mühlmann 1984, 51, der sich allein auf die unzureichenden anthropologischen Methoden zur Entwicklung der Naturzustandstheorie bei Rousseau bezieht. 22 Schiller hat dieses Dilemma später mit dem Begriff des Sentimentalischen umschrieben, ohne jedoch die grundsätzliche Ausweglosigkeit dieser Situation zu umreißen – vielmehr etablierte er die Erfüllung der Sehnsucht nach »Arkadien« im »Elysium«, ohne erklären zu können, wie dies mit dem entzweienden Verstand möglich sei, vgl. Pollok 2008. 23 Vgl. Marks 2005, 16 f., Melzer 1990, 84, Velkley 2002, 57, Cassirer 1932, 209: wenn es der Verstandesgebrauch ist, der das Böse in die Welt bringt, so liege es auch in seiner Macht, dieses wiederum zurückzunehmen. Das Böse ist kein Produkt der Natur, sondern der menschlichen Freiheit und steht damit dem Menschen zur Verfügung: sein Sündenfall ist nicht metaphysischer, sondern empirischer Natur, seine Freiheit die Fähigkeit der Selbstkorrektur. Erst mit Rousseau erfolge damit die eigentliche Vollendung der Aufklärung: »The good that humans seek and the evil
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Mensch ist ein Wesen, das der richtigen Kultur bedarf. Diese wiederum kann nun, mit Rousseau, als veränderungsbedürftig als auch als veränderungsfähig verstanden werden und setzt auch den Menschen jenseits des Naturzustandes in die Lage, sich auf seine Wurzeln zurückzubesinnen, um die Richtung des Fortschritts zu korrigieren. Darauf deutet ebenfalls der Schluss von Rousseaus zehnter Anmerkung hin, in der er sich der Frage zuwendet, was der einmal kultivierte Mensch tun könne, um seinen gegenwärtigen Zustand zu verbessern. Explizit fordert er hier nicht, sich wieder auf alle Viere fallen zu lassen, wie es Voltaire in seinem Brief, den Mendelssohn ebenfalls in die Übersetzung aufnimmt, sarkastisch anklingen lässt (vgl. JubA VI/2, 199). Vielmehr – und hier erfüllt sich Mendelssohns Interpretationsversuch des Discours’ als eine Aufklärungsschrift, die letztlich auf einen geläuterten Gesellschaftszustand zielt – sollen die Einzelnen versuchen, ihre Gesetze einzusehen, sie zu erfüllen und sich dabei auf die grundlegenden Fähigkeiten der vernünftigen Selbstliebe, begrenzt durch das Mitleid, zu besinnen (vgl. Discours, 172 f.).24 So unzureichend diese ›Lösung‹ des Problems von Rousseau sein mag, hat er doch in der generellen Anlage seines Werks eine neue, fruchtbare Richtung eingeschlagen. In diesem Sinne ist auch Velkleys Aussage zu verstehen: »Since Rousseau, the analysis of human experience in the humanities and social sciences has been mostly in terms of culture and history, not nature.« (Ders. 2002, 31) Die historische Rekonstruktion und der Aufweis ebenfalls historischer Begebenheiten führt eine neue Betrachtungsweise in die Rechtsund Staatsphilosophie, aber auch in die des Menschen in Geschichte, Gesellschaft
that they despise are not to be grounded in something alien to the human soul.« (Velkley 2002, 57) Cassirer geht in seiner Deutung noch darüber hinaus, indem er Rousseaus Ausführungen als eine weitere Lösung der Theodizee versteht (Ders. 1932, 204–11): wenn das Übel aus der menschlichen Entwicklung und Vergesellschaftung erwachsen ist und die Lösung dieses Problems wiederum in der Hand der Menschen liegt, so ist Gott für diese Entwicklungen nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Das damit zu eröffnende große Feld der Freiheitsproblematik im Zusammenhang mit der menschlichen Verantwortung des Bösen in der von Gott gegebenen Freiheit soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden. 24 Oder, um es schärfer in Rousseaus Worten auszudrücken: Die Menschen sollten wieder lernen, auf die »übernatürlichen Lehren« (ebd., 173) ihrer Väter zu gehorchen. Denn letztlich habe »die göttliche Stimme [die für jeden gleich gültig sei, A.P.] das ganze menschliche Geschlecht zu den Einsichten und zu der Glückseligkeit der himmlischen Geister gerufen« (ebd.), ohne dass allerdings dieses »himmlische« Geschenk in den vorangegangenen Abschnitten begründet worden wäre. Nach einem solchen eher vernunftreligiösen Gesetz sollen die Menschen die »heiligen Bande der Gesellschaft« ehren, solange diese nicht auf die Verteidigung des Besitzes geht, sondern lediglich Gesetze zur Verhinderung »jener Menge von Misbräuchen und Uebeln« (ebd.) enthält. Diese Passage ließe sich freilich ebenfalls als eine Absicherung Rousseaus gegen mögliche Anklagen lesen. Ihr explanatorischer Wert ist nicht zuletzt auch deshalb eingeschränkt, weil sie unverbunden neben den ihr entgegenstehenden Argumenten steht. Mendelssohn jedoch konnte, geleitet durch seine Interpretation der »Zueignung«, durchaus eine daran angelehnte Lesart vermuten. Für ein ähnliches Konzept in späteren Werken Rousseaus argumentiert Forst 2003, 370 f.
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und Selbstkonstitution ein. Rousseaus fulminante Absage an die Kultur wurde als die Absage an die bestehende Kultur reformuliert, um sich auf bessere Bedingungen zu besinnen. Damit wurde versucht, der aktiven Veränderung des status quo geeignete Mittel an die Hand zu geben.
Mendelssohns Verteidigung der Notwendigkeit individueller Vervollkommnung Die Frage nach den Grundkonstanten menschlicher Entwicklung war im Zusammenhang mit der Reflexion menschenmöglicher und notwendiger Verbesserung für Mendelssohn in den Jahren zwischen 1755–65 von großem Interesse. Es ist auffällig, dass er sich, oft in Auseinandersetzung mit Lessing, gerade in dieser Zeit intensiv mit der Stellung des Individuums und den Determinanden seiner Vervollkommnung befasste.25 Damit verbunden ist das Bewusstsein einer gewissen Ambivalenz, der insgesamt dem Perfektibilitätsbegriff schon zu Beginn seiner Karriere in der deutschsprachigen Philosophie eigen ist. Wie bereits in Kap. I.1 erwähnt, wurde er zwar von Rousseau und durch Lessing und ihn vermittelt in den deutschsprachigen Raum aufgenommen. Dabei wurde er jedoch sofort mit leibnizianischen Elementen überformt. Das Element der Entwicklung als Aufklärung dunkler Vorstellungen, sowie das Konzept des »appetitus« als movens der Monaden, von einer Perzeption zur anderen überzugehen und damit ihr Wesen als Kraft zu äußern, ist aus dieser Lehre kaum wegzudenken und lässt daher die Idee einer Korrumpierung des Menschen gerade durch dieses Vermögen widersprüchlich erscheinen. Ebenfalls wird nach leibnizianischer Lesart die Vervollkommnungsfähigkeit als an die Freiheit gebunden verstanden. Appetitus ließe sich, so Leibniz, in Bezug auf den Menschen mit »Wille« übersetzen (vgl. Monadologie § 15). Das Moment der Entwicklung ist in diesem Verständnis also bereits normativ besetzt. Weder Tugend noch Vollkommenheit, aber auch Freiheit sind ohne diesen Willen denkbar. Auch Mendelssohn hat vor diesem Hintergrund Rousseaus Ansicht einer natürlichen Tugend im Naturzustand – ohne die ihm innewohnende und deswegen für ihn nicht zu verneinende Tendenz, diesen zu verlassen – zurückgewiesen.26 Was sich im na-
25
Dies zeigt auch die einschlägige Lektüre Mendelssohns in dieser Zeit; u. a. las er Shaftesbury, Hutcheson, Mandeville, Burke (vgl. JubA VI/2, XLIV) 26 Dabei ist es bis heute umstritten (vgl. Müller 1997, 34, 52 f. m.w.V., Fetscher 1975, 27, 62 f.), ob Rousseau tatsächlich eine historische Rekonstruktion anstrebte. Hier soll nur Mendelssohns Auffassung von Rousseaus Werk interessieren (Jacobs 2001, 68 f. deutet an, dass Rousseau selbst zwischen einer logischen Konstruktion und einer historischen Feststellung schwankte – aus »Faszination«, so Jacobs, an der eigenen Idee). Immerhin kann, so auch Müller 1997, 53, ein hypothetischer Urzustand, wenn er sich als zweckmäßig erweist, um den Zustand des Menschen mit
II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept
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türlichen Menschen zeige, können allenfalls Potentiale sein, nicht jedoch bereits vorliegende Fertigkeiten, die es zu konservieren gälte (vgl. Sendschreiben, JubA II, 91 f.). In den Litteraturbriefen hat er sich ebenfalls wiederholt und durchgehend kritisch zur Naturzustandsfiktion geäußert. Zum einen weist er dort auf die notwendige Kompliziertheit eines sich entwickelten Staatswesens hin und enthüllt die Sehnsucht nach einer »natürlichen«, unschuldigen »ersten Einfalt« in einem überschaubaren Gesellschaftswesen als töricht (LB 67: 8. November 1759, JubA V/1, 102). Zum anderen betont er dort den notwendig fiktionalen Charakter dieser Konstruktion: Er sei »nichts anders als eine bequeme Erdichtung der Sittenlehre, um die erworbenen Rechtsame, die zugezogenen Pflichten und Obliegenheiten von den Ursprünglichen zu trennen.« (LB 22: 1. März 1759, JubA V/1, 17) Zugleich berücksichtigt Mendelssohn den naiven Menschen, eine Personifizierung eines Rousseauischen, unschuldigen Naturzustands, als eine legitime Manifestation der Vollkommenheit, jedoch eher als eine Illustration denn ein Ziel menschlichen Lebens. Das an sich »ungesucht«, also natürlich erscheinende Gute ist in Maßen realistisch darstellbar, aber es deckt nicht die ganze Skala einer Veranschaulichung des Vollkommenen ab, sondern ist ein Teil des umfassender zu verstehenden Erhabenen. Letztlich ist es eben so prekär wie der idealisierte Naturzustand für Menschen, die ihre Vernunft entwickeln: Überzeugt die Naivität von Kindern auch als innere Einstellung, so kann der erwachsene Mensch sich der Naivität nur im Ideal, oder eben der Anschauung nähern. Die bewundernswürdige Naivität, die Mendelssohn als einen Aspekt des Erhabenen in der Kunst reformuliert, soll damit weder konservativ noch rückwärtsgewandt zu verstehen sein, wie man es als Rousseauist meinen könnte, sondern bildet eine Kategorie der Ästhetik, die den Menschen vervollkommnen soll, ohne ihm ein Bild der mit sich einig seienden Natur vorzuenthalten. Naivität ist damit Veranschaulichung, nicht Zweck. Mendelssohns Ausführungen dazu werden ihre Fragilität offenlegen (vgl. Kap. II.3). Mendelssohns an Leibniz angelehnte Kritik von Rousseaus Ansicht des negativen Verbunds von Ratio und Perfektibilität lässt sich anhand seiner Vorarbeiten27 zum Sendschreiben exemplarisch nachzeichnen: Nach einigen kurzen Sätzen über die unterschiedliche Auffassung vom Vergnügen beim Wilden, beim »Wollüstling« und einer Analyse seiner Grundfähigkeiten zu verbinden, als »Ausgangspunkt für die spätere historische Entwicklung« gewertet werden. »Da bestimmte Wesenszüge der menschlichen Natur auf ihren verschiedenen Entwicklungsstufen herausgearbeitet werden sollen, müssen gewisse Grundmerkmale auch historisch-genetisch beglaubigt erscheinen.« (ebd.) 27 Die Entstehungszeit dieser Notizen in den Kollektaneenbüchern spricht für diese Einschätzung, vgl. JubA II, X f. Dennoch ist bei der Handhabung dieser Notizen Vorsicht geboten: der Abdruck ist keine Übertragung aus einem solchen Kollektaneenbuch, da diese bereits zur Drucklegung der ersten Bände der Jubiläumsausgabe nicht mehr in Gänze existierten. Die zitierten Notizen entstammen aus einem sogenannten »Notizbuch I«, einer Abschrift aus Mendelssohns Heft.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
beim »gemäßigten Menschen«28 kommt er zum Kern seiner eigenen Sichtweise, in der er versucht, den Zusammenhang zwischen Bedürfnis und Entwicklung zu klären, um die Vervollkommnung näher zu bestimmen: »Entweder unser Daseyn ist ein Uebel; oder wir werden vollkommener, je mehr Fähigkeiten sich bei uns entwickeln und je mehr Bedürfnisse wir zu stillen haben.« (JubA II, 7) Auf Rousseaus Bestandsaufnahme bezogen heißt dies, dass das jetzige Dasein im Zustand der Kultur entweder – mit Rousseau – schlecht ist, oder dass – gegen Rousseau – die Vervollkommnung zwar Bedürfnisse weckt, jedoch zugleich eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustands bedeutet. Diese Argumentation übernimmt Mendelssohn auch im Sendschreiben (vgl. JubA II, 88 f.), um dann an Leibniz’ Theodicée anknüpfend festzustellen: auch wenn »neue« Übel durch die Vervollkommnung des Menschen aufgetaucht seien, so seien diese immer noch geringer, als es das Übel gewesen wäre, sich nicht zu vervollkommnen. »Allein das Gute, das dadurch [durch die Vervollkommnung, A.P.] erhalten wird, muß nothwendig das wenige Uebel überwiegen; sonst wären solche Geschöpfe, wie die Menschen sind, nimmermehr da gewesen.« (JubA II, 88) Was aber ist ein Bedürfnis? Ist es derart negativ zu werten, wie Rousseau dies getan hatte? Dazu hält Mendelssohn fest: »Eine jede Fähigkeit gebiert ein Bedürfniß; denn die Fähigkeiten sind Modificationen der ursprünglichen Kraft, und müssen dahin streben, ihren Zustand zu ändern.« (JubA II, 7) Eine Zunahme an Fähigkeiten, oder ihre Entwicklung, versteht er vor dem Hintergrund der Vollkommenheit als eine größere Mannigfaltigkeit (an Eigenschaften) unter der Einheit einer Person. Wenn diese Person Eigenschaften entwickelt (oder: die entsprechenden Anlagen in sich aufklärt), so wird sie desto mehr ihrer Defizite gewahr und wird bestrebt sein, auch diese auszugleichen. Woraus letztlich folgt: »Jedes Bedürfniß ist ein Trieb zur Vollkommenheit.« (ebd.) Damit ist die Rolle des Bedürfnisses nicht, menschliche Unvollkommenheit und Abhängigkeit zu kennzeichnen, sondern es ist der Motor der Kraftäußerung der menschlichen Seele, sei es bewusst oder unbewusst. Ohne diesen Antrieb – der zumeist erst ins Bewusstsein gelangt, wenn er als ein Mangel erscheint – ist keine Entwicklung denkbar, aber streng genommen auch kein Leben. Dies wiederum bedeutet: »Wir müssen einen Theil unserer Bedürfnisse nicht zu dem Zwecke unsres Daseyns machen; sondern alle zusammen in einer einträchtigen Harmonie machen unsre Vollkommenheit aus.« (JubA II, 7) Mendelssohn stimmt Rousseau darin zu, dass die Verabsolutierung der Bedürfnisse schlechte Folgen nach sich zieht. Jedoch folgt daraus nicht, dass sie für sich abzulehnen wären oder sich verhindern ließen, 28
Mendelssohn versucht mit dieser Dreiteilung auch zu zeigen, dass Rousseaus Disjunktion zwischen dem Wilden und dem Kultivierten unvollständig ist. Diese Argumentation findet sich auch im Sendschreiben, siehe JubA II 93 f.
II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept
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indem der Mensch im »Naturzustand« verbleibt, sondern dass sie in eine bestimmte Ordnung gebracht werden müssen. Und auch Rousseau habe dies eigentlich gemeint, denn: »Rousseau selbst wünscht sich nicht den Zustand der Wildheit.« (JubA II, 8) Wichtig ist für Mendelssohn, dass die Richtung der Bedürfnisse ihre Bewertung bestimmt: »Die Bedürfnisse unseres Körpers, insoweit sie nur dem Körper zugehören, gehen uns nichts an.« (JubA II, 7, Hervorhebung A.P.) Es geht eben nicht um ein nur sinnliches Gleichgewicht29, sondern vielmehr: »Wenn die Zufriedenheit [also eben dieses sinnliche Gleichgewicht] das höchste Gut wäre, so würde Rousseau Recht haben. Allein das Gesetz der Natur verbindet uns nicht nur, zufrieden zu seyn, sondern hauptsächlich, uns vollkommener zu machen.« (ebd.) Anvisiert ist nicht nur ein bloß angenehmes Gefühl unbeschwerten Daseins, sondern die Berücksichtigung der auch rationalen Kräfte. Vollkommenheit und Vervollkommnung liegen in diesen Sätzen am Beginn, nicht am Ziel der Argumentation. Mendelssohn hat hier nicht das Bedürfnis nach Vervollkommnung begründet. Vielmehr nimmt er es zusammen mit Rousseau als eine grundsätzliche Eigenschaft des Menschen an und versucht, es in eine positive Auffassung menschlicher Entwicklung einzuordnen. Grundlage seiner Argumentation ist dabei die dynamistische Lesart von Leibniz’ Begriff der Vollkommenheit, wie sie in Kap. I.1 dargelegt wurde. Damit wendet er sich gegen Rousseaus Charakterisierung des Naturzustandes als ursprünglich selbstgenügsam und leidenschaftslos, in dem die Perfektibilität nicht zur bestimmenden Ausübung käme. Der natürliche Mensch, so Mendelssohn im Sendschreiben, kann nicht ein Wesen ohne menschliche Züge sein – dies setzt Vernunftgebrauch und damit schon eine Realisierung der Perfektibilität voraus.30 Also kann kein »Zustand« des Menschen, sei er nun historisch oder systematisch gemeint, korrekt mit ›ungerichtet‹ und ›leidenschaftslos‹ beschrieben werden. Sollte der natürliche Mensch bereits das Vermögen, sich vollkommener zu machen, besitzen, so müsste er es auch ausüben. Sobald er es ausübe, sei er auf die Bahn der Entwicklung getreten, die dann jedoch nicht einseitig zu verdammen wäre, wenn nicht die Menschheit insgesamt verneint werden soll.
29
Für die Ablehnung einer allzu starken Betonung physischer Bedürfnisse spricht in diesen Notizen auch, dass Mendelssohn sich in ihnen vornehmlich gegen Rousseaus Folgerungen aus den körperlichen Besonderheiten ausspricht (vgl. JubA II, 8). 30 So auch die Interpretation Velkleys: auch der Mensch im Naturzustand ist nicht völlig arational, sondern in gewisser Weise an Rationalität gebunden. »The idea of the best life derives from our original nature, but we discover that our original nature must contain at least the seeds, or the earliest forms, of rationality. The earliest man is inconceivable without some reflection, and therewith some ›bondage‹ to reason.« (Velkley 2002, 33) Nach Tubach greift Mendelssohn in seiner Auffassung von der natürlichen Fähigkeit der Perfektibilität, die bei angemessener Erfüllung erst die »Quelle menschlichen Glücks« sein kann, auf diese ursprüngliche Bindung zurück (vgl. Tubach 1960, 147).
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Die allein körperliche Verbesserung zum Ausgleich fehlenden Instinkts, wie Rousseau dies im ersten Teil seiner Abhandlung beschreibt, kann als Zugeständnis einer Vervollkommnung im Naturzustand ebenfalls nicht genügen, da dies einer unausgewogenen Sicht auf den ganzen Menschen entspringe. Polemisch fragt Mendelssohn: »Soll er [der Mensch] diese thierischen Fähigkeiten auf den Gipfel der Vollkommenheit bringen, und die Seele, diesen herrlichsten Theil des Menschen, diese Blume der Schöpfung, in ihrer Knospe verwelken, und niemals zum Aufbruche kommen lassen?« (Sendschreiben, JubA II, 89) Die Vollkommenheit des Menschen, so auch die 1757/58 entstandene Notiz Verwandtschaft des Schönen und Guten, die ebenfalls seiner Auseinandersetzung mit Rousseau entstammt, »bestehet aus der Vollkommenheit seiner einzelnen Kräfte und Fähigkeiten, und aus ihrer Übereinstimmung zum Ganzen.« (JubA II, 182) Dies zu erreichen, erfordere eine rationale Einsicht in das Wesen der Dinge ebenso wie eine harmonische Ausbildung der menschlichen Sinnlichkeit.31 In diesem Sinne stellt Mendelssohn diese Vervollkommnungsfähigkeit als eine Funktion vor, die Leidenschaften des Menschen (als dunkle Vorstellungen) sowie seine unterschiedlichen Bedürfnisse auszutarieren und damit seine innere Harmonie zu erhalten. Die Erweiterung der Möglichkeiten durch eine Erweiterung der Fähigkeiten führt, wie bereits erwähnt, immer auch neue Begrenzungen vor Augen. »Eine jede Entwickelung unserer Kräfte ist eine Erweiterung unseres Daseyns; denn je mehr Kräfte sich bey einem Dinge äussern, desto grösser ist der Grad seiner Wirklichkeit. Wird nun unser Daseyn erweitert; so kommen auch gewisse neue Schranken zum Vorscheine, die vorher noch mit der blossen Fähigkeit in der Grundbildung gleichsam zusammengewickelt gelegen haben.« (Sendschreiben, JubA II, 87) Die Vervollkommnungsfähigkeit kann nur extern, nicht durch andere im Menschen bereits angelegten Fähigkeiten konterkariert werden, wenn nicht der Mensch als ein in sich hoffnungslos entzweites Wesen vorgestellt werden soll, was das Dasein zweifellos als »von Übel« erscheinen lassen würde. Vernunftgebrauch in diesem Sinne ist damit kein Beginn des Verfalls; der Mensch schreitet im Zuge der Vervollkommnung voran, nicht zurück. Diesen teleologischen Zug hat Lessing zu entschärfen versucht. In einem Brief an Mendelssohn vom 21. Januar 1756, der seine »wichtigste[n] Feststellungen gegenüber Rousseaus zweitem Diskurs«32 enthalte, legt er der Perfektibilität eine andere 31
In diesem Sinne erscheint es unverständlich, dass Fick (1993, 150) Mendelssohns angebliche Tendenz, die sinnlichen Vorstellungen aufzuklären, und damit in verständige Vorstellungen umzuwandeln, betont. Harmonische Entfaltung der Seelenkräfte ist eben keine »Erkältung« der Gefühle, sondern umfasst ebenfalls ihre Akzeptanz als Gefühle. 32 Tubach 1960, 147. Es ist jedoch aus der Perspektive der Forschung zu bedauern, dass Lessing eine weitere Diskussion »auf unsre mündliche Unterredung« verschiebt (JubA XI, 33). Am Rande sei darauf hingewiesen, dass Herder in seinen Humanitätsbriefen Lessings Auffassung zustimmend reformuliert (vgl. zweite Sammlung, 25. Brief, in: Werke 7, 123).
II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept
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Bedeutung bei. Ihm zufolge ist Vervollkommnung »eine Beschaffenheit, welche alle Dinge in der Welt haben, und die zu ihrer Fortdauer unumgänglich war.« (JubA XI, 34) Damit will er den aktivischen, strebenden Aspekt, den Mendelssohn mit der »Bemühung, sich, vollkommener zu machen« (ebd.) betont hatte, wieder zurücknehmen und das Vervollkommnungsprinzip nicht als prospektiv, sondern als konservativ festsetzen. So kann »das Vernunftprinzip auch im Naturzustand als gültig« (Tubach 1960, 148) betrachtet werden, ohne dass es notwendig mit dem Niedergang des Menschen einhergehen muss. Vervollkommnung dient so nicht der Verbesserung, sondern der Erhaltung. Der Mensch »erhielt also die Perfectibilität nicht deswegen, um etwas beßres als ein Wilder zu werden, sondern deswegen, um nichts geringers zu werden.« (JubA XI, 34) Perfektibilität ist damit kein leibnizianisch zu verstehendes Streben, sondern eine Eigenschaft »alle[r] Dinge in der Welt« (ebd.), auf ihrer jeweiligen Stufe zu bleiben. In diesem Sinne ist sie zwar als ein auch im Naturzustand wirksames Vernunftprinzip erklärbar in dem Sinne, dass dieser nicht verlassen werden muss, um sie zugleich als wirksam anzusehen. Der Mensch nutzt seine Lernfähigkeit, um seinen mangelnden Instinkt auszugleichen und also sein Leben zu erhalten. Es wird jedoch nicht recht klar, ob Lessings Lesart die Ausführungen Rousseaus zum menschlichen Niedergang durch die Vervollkommnungsfähigkeit angemessen erfasst; denn seinem Modell zufolge kann es zu gar keiner fehlgeleiteten Entwicklung kommen. In diesem Sinne knüpft Lessing hier durchaus an Leibniz’ statischem Modell der Weltvollkommenheit an. Darüber hinaus ist es nicht einsichtig, warum eine solche Auffassung der Vervollkommnung – als bloße Lebensherhaltung – nicht zu weitergehenden Bedürfnissen führen soll. Dass sein Standpunkt wenig überzeugt, hat Lessing selbst gesehen. »Ich zweifle, ob ich mich deutlich genug ausdrücke; und zweifle noch mehr ob mein Einwurf Stich halten würde, wenn ich ihn auch noch so deutlich ausdrückte.« (JubA XI, 34) Mendelssohn scheint eine ähnliche Meinung gehegt zu haben33; zumindest ist über diesen Punkt keine weitere schriftliche Diskussion zwischen den beiden nachweisbar, auch wenn einige Streitpunkte über Rousseau, wie prominent die Bewertung des Mitleids, zwischen den beiden virulent bleiben.
33 Indirekt lässt sich dies in einem Brief an Jacob Hermann Obereit vom 13. März 1770 zeigen, wenn man unter dem kritisierten (von Cochius verwendeten) »Ausdehnungstrieb« der Seele Lessings Einschätzung der Vervollkommnung versteht: »Eine richtige Zergliederung dieser Begriffe würde manche Untersuchung erleichtert haben. Mit dem Ausdehnungstriebe, dünkt mich, hat es seine Richtigkeit: wenn man darunter auch den Trieb versteht, das Erworbene nicht zu verlieren. Sonst gehen alle Triebe offenbar auf eine Übung und Beschäftigung unserer Geisteskräfte; und diese sind allezeit von der Entwickelung und Vervollkommnung der Begriffe nicht zu unterscheiden, oder haben diese vielmehr zum Endzwecke. Der Ausdehnungstrieb scheint mir mit dem Vollkommenheitstrieb vollkommen einerlei.« (JubA XII/1, 217)
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Darüber hinaus weisen auch Mendelssohns Überlegungen an anderen Stellen auf eine sich durchhaltende Lesart der Vervollkommnungsfähigkeit als ein positiv zu verstehendes, prospektives und einheitliches Vermögen hin. So betont er in den Notizen zu Sulzers Essai sur le bonheur 34 die Unmöglichkeit, mehrere einander widerstreitende »Vollkommenheiten« im Menschen, sowie in der gesamten Schöpfung anzunehmen, ohne dass dadurch die Möglichkeit von unterschiedlichen Hinsichten von Vollkommenheit ausgeschlossen wäre. Im Hinblick auf die Theodizee-Problematik vermerkt Mendelssohn: »Der Herr Prof: wollen es hier nicht zu geben, daß 2 Regeln der Vollkommenheit in einem Werke Gottes mit einander sollten streiten können, und am Ende Ihrer Schrift, scheinen Sie es anzunehmen, indem Sie gestehen, daß manches Uebel zur Vollkommenheit des Gantzen beförderlich sey – Und in Warheit, wenn sich Gott auch nur ein eintziges Intreße vorgesetzt hat, das aus dem Gantzen entspringen soll; kann dieses allgemeine Intereße sich nicht in verschiedene Regeln trennen, nachdem es auf die verschiedene Theile dieses Gantzen angewendet werden soll?« (JubA II, 31) Auf die Bestimmungsdebatte bezogen: es kann durchaus verschiedene Ausdrucksweisen einer Vollkommenheit geben. Dies kann die vollkommene Weltordnung sein, in der alles harmonisch zusammenhängt. Zugleich ist aber auch die Vollkommenheit in der Entwicklung, die die Repräsentation der vollkommenen Weltordnung aus der Perspektive der individuellen Seele in den Blick nimmt und von ihm aus auf eine individuelle Vervollkommnung zielt, mit angedacht. Diese ist – im Gegensatz zur Vollkommenheit in objektiver Hinsicht – immer in gewisser Weise eingeschränkt und damit zugleich mit einem Strebensmoment versehen. »[D]er Stand der vollkommenen Glückseeligkeit, nach welcher wir uns sehnen, führt immer noch das Siegel der Endlichkeit an sich, indem er nichts anders ist, als ein ununterbrochener Uebergang von einer Vollkommenheit zur andern.« (JubA II, 32) Jeder Zustand der Seele ist in dem Sinne Vollkommenheit, dass er eine Mannigfaltigkeit der Vorstellungen unter der Einheit der Seele darstellt; zugleich jedoch ist der Grad der Klarheit der jeweiligen Vorstellungen immer einer weiteren Vervollkommnung fähig. Vollkommenheit in diesem Sinne ist ein uneigentlicher Ausdruck, da nicht deren objektive Dimension als vollkommene Verfasstheit der Welt, sondern die subjektive Hinsicht einer personalen Weltperspektive gemeint ist. Während die einzelne Seele zur vollkommenen Klarheit strebt, ist das Weltganze ›immer schon‹ ein in sich stimmiges Gebilde. Zwei Prinzipien der Vollkommenheit,
34
Sulzer veröffentlichte den Essai zuerst in der Histoire de l’Académie Royale des Sciences et Belles Lettres, Berlin 1756, 399–417; dann in den Vermischten philosophische Schriften, I, 323–47 unter dem deutschen Titel »Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen«. Mendelssohn bezieht sich auf die Seite 416 (der Ausgabe 1756), bzw. 346 (der Ausgabe 1773). In der Einleitung zur JubA II weist Bamberger darauf hin, dass Mendelssohn vermutlich Sulzers Schrift im Manuskript vorlag und die Notizen einen Briefentwurf an Sulzer darstellen könnten, vgl. ebd., XI ff.
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Streben und Statik, stehen hier, wie später in der Debatte mit Abbt, nebeneinander. Mendelssohn versucht, beides zu vereinen, indem er das Dasein des Individuellen als einen Grad von Vollkommenheit, dem zugleich ein Bestreben beigegeben ist, diesen Grad zu erhöhen, beschreibt (womit freilich der Ausdruck ›Vollkommenheit‹ einen relativen Zug bekommt). Jede Stufe der durch das Streben eingeleiteten Entwicklung soll wiederum Übergang und Selbstzweck zugleich sein. So weit ist er damit nicht von Lessings Auffassung der Perfektibilität entfernt, denn dieser hatte von einem Bestreben gesprochen, seine Fähigkeiten zu entwickeln, um die Vollkommenheit der Welt in eben dem Zustand – nämlich einem vollkommenen – zu erhalten. Es wäre in dieser Lesart widersprüchlich, einen Zustand vollkommen zu nennen und zugleich seine Vervollkommnung zu fordern. Dies hat auch Mendelssohn nicht im Sinn; vielmehr möchte er zeigen, dass es das Phänomen der gefühlten Unvollkommenheit des Einzelnen ist, worum es im Begriff der Perfektibilität geht. Entwicklung ist bei Mendelssohn wortwörtlich zu denken und meint das Phänomen der sich langsam über sich selbst klarer werdenden Seele. Die ursprüngliche Vollkommenheit ist nur denkbar in der objektiven Perspektive: die höchste Vollkommenheit ist immer schon in der Monade enthalten, allerdings in unterschiedlichen Graden der Klarheit. In der subjektiven Perspektive wird Vollkommenheit gerade erfahrbar im Fortschritt, in der schrittweise erfolgenden Aufklärung. Die Rolle der Vervollkommnungsfähigkeit gewinnt in Mendelssohns Philosophie zunehmend an Bedeutung. So formuliert er in einem Antwortschreiben auf einen verloren gegangenen Brief von Jacob Hermann Obereit vom 13. März 1770 die wichtige Rolle der individuellen Entwicklung zur Entwicklung der Tugend. »Der höchste Endzweck der Tugend ist, was verbessert werden kann, zu verbessern; und beim Menschen ist das ganze Genus sowohl als jedes Individuum eines unendlichen Fortgangs fähig.« (JubA XII/1, 215) Auf die politischen und gesellschaftstheoretischen wie geschichtsphilosophischen Folgerungen aus diesen Beobachtungen im Jerusalem werde ich später (Kap. IV) eingehen. Hier soll jedoch vorwegnehmend festgehalten werden, dass eine der zentralen Bestimmungen dieses Textes, die Auffassung der »Ewigkeit« des Menschen als »ein unaufhörliches Zeitliche[s]«35 (JubA VIII, 108) in der schon in den 1750er Jahren sich herausbildenden Auffassung der menschlichen Vervollkommnung gegründet ist.
35
Diese Aussage halte ich für eine der wichtigsten, die Mendelssohn zur Charakterisierung des Menschen gefunden hat.
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Die freie Äußerung der Perfektibilität Kommen wir vorerst auf Mendelssohns Auseinandersetzung mit Rousseau zurück. Während dieser die Perfektibilität als ein den natürlichen Menschen entzweiendes Moment und damit Kultur als eine Verfallsstufe auffasst, versucht Mendelssohn, diese Folgerung zu umgehen. Der Mensch entwickelt sich in natürlicher Weise mithilfe der vernunftgerichteten Perfektibilität aus dem Naturzustand zur Kultur und erreicht damit einen höheren Grad der Vollkommenheit (vgl. Tubach 1960, 147). Diese Lesart impliziert darüber hinaus, dass der Verstand als nur ein möglicher Motor der Vollkommenheit verstanden wird, die zugleich durch die Forderung nach Harmonisierung aller menschlichen Triebe sowie einem noch zu erläuternden Zug zur Geselligkeit, den Mendelssohn gegen Rousseau verteidigt, geleitet und begrenzt wird. Die Rolle des Verstandes hält Mendelssohn auch hinsichtlich des zweiten menschlichen Vermögens, der Freiheit, hoch. Vergleicht man seine Notizen und das Sendschreiben (JubA II, 97) mit Rousseaus Abhandlung, so wird deutlich, dass Mendelssohn in der Reformulierung von Rousseaus Position der Fähigkeit zur Vervollkommnung lediglich das Moment der körperlichen Bedürfnisse entgegengesetzt, es aber nicht mit der Freiheit kontrastiert. Er hat damit wenn nicht verkannt36, dann doch übergangen, »dass Rousseau nicht die Vernunft, sondern die Freiheit für die spezifisch menschliche Eigenschaft ansah, kraft derer der Mensch das Leben nicht nur bestand, sondern auch schöpferisch meisterte.« (JubA VI/2, XXXVII) Allerdings hat er diese Thematik in der Nachschrift zum Sendschreiben aufgegriffen. Von der Freiheit spreche Rousseau, so seine Formulierung hier, als der »edelsten Gabe des Himmels« (JubA II, 98). Aber ist sein Freiheitsbegriff auch in sich konsistent?37 Um dies zu untersuchen, definiert Mendelssohn Freiheit zuerst im Anschluss an Leibniz’ Auffassung der Willensfreiheit als »das Vermögen eines Geistes, nach überlegten Bewegungsgründen zu handeln« (Nachschrift, JubA II, 99), was den Bezug zur Vernunft sogleich offenlegt. Dies könne allerdings kaum dem Menschen im Naturzustand, wie Rousseau ihn beschreibe, zukommen, da er von seiner dafür notwendigen Vernunft keinen angemessenen Gebrauch machen könne. Darüber hinaus ist zu einer freien Handlung auch das Bewusstsein von ihrer Freiheit erforderlich. Der »Wilde« handelt nach einem blinden Trieb, jedoch »ohne innerliche Ueberzeugung von der Richtig36
Siehe die unterschiedlichen Wertungen in JubA II, XXII und VI/2, XXXVII. Mendelssohn differenziert die Feststellung Rousseaus, dass der Mensch frei sei, mit der Disjunktion: »moralisch frei«, oder, »die Freyheit darinn ein thierisches Geschöpf lebet?« (Sendschreiben, JubA II, 99, vgl. JubA VI/2, XXXVII) Die Dimensionen von Rousseaus Freiheitsbegriff, der in seiner nichtmetaphysischen, sondern vielmehr politischen und gesellschaftsphilosophischen Dimension hier deutlich an Voltaire anschließt (Cassirer 1932, 336 ff.), können hier nicht angemessen berücksichtigt werden. 37
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keit seiner Handlung« (JubA II, 100). Neben der moralischen Forderung des Bewusstseins von der rechten Handlung entwickelt Mendelssohn noch einen weiteren Aspekt wirklicher Freiheit. Aber auch dieser zweite, rechtliche Freiheitsbegriff, der »einen äußerlichen politischen Zustand[38], darnach sich alle Vernünftigen sehnen, und ohne welchen das Leben dem allergeduldigsten Menschen kaum erträglich seyn kann« (JubA II, 99) meint, ist ohne Vernunftgebrauch nicht denkbar. Denn nach dem Modell des Naturzustandes ausgeführt, bedeutet diese »Freiheit« allein, ohne Zwang etwas tun zu können – also auch die »Freiheit«, »ungestraft die Negers überfallen und umbringen zu können« (JubA II, 99), wie es auch Rousseau in Anm. 10 über die »Pongos und Ourang-outangs« gesagt habe. Freiheit aber als ein »Zustand, darinn wir von keinem äusserlichen Zwange abgehalten werden, unsern wahren Bedürfnissen auf einer unschuldigen Weise ein Genüge zu leisten« (JubA II, 100), erfordert eine Abwägung darüber, was eigentlich »unschuldig« ist. Hinzu kommt hier die generelle Reziprozität der politischen (und auch moralischen) Freiheit: So, wie der natürliche Mensch frei von Zwang sein soll, seine Bedürfnisse zu erfüllen, verbindet ihn dieses Recht von Anfang an auch zu bestimmten Pflichten, wie eben der, die Freiheit des Anderen und damit dessen Bedürfnisbefriedigung zu akzeptieren.39 Nur so kann eine freie Handlung ihren Beitrag zur größten Glückseligkeit des Einzelnen und der Gesellschaft beitragen, wobei die eine Sphäre die andere bedingt und begrenzt. Dass die Sphäre des Einzelnen auch bezüglich der Freiheit nicht ohne den Anderen gedacht werden kann und damit die Glückseligkeit des Einzelnen immer auch in seinem Wohltun für andere und deren verbesserten Zustand liegt, erklärt Mendelssohn aus der schlichten Unmöglichkeit, in einer ›monologisch-solipsistischen‹ Welt überhaupt irgendeiner Form der Glückseligkeit teilhaftig zu werden. Was er hier übersieht ist allerdings, dass Rousseaus Problematisierung der Freiheit nicht auf die Willensfreiheit bezogen ist, sondern dass er hiermit die Frage nach der möglichen Souveränität des
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Die Anspielung auf einen politischen Zustand zeigt auch die Anlehnung an Wolffs Definition der Freiheit im Naturzustand als eine Freiheit von obrigkeitlichen Zwängen: »Hinc Libertas definiri potest, quod sit independentia hominis seu actionum ipsius a voluntate alterius hominis cuiuscumque. Ut adeo homo liber non dependeat in agendo ab ullo alio homine nisi a seipso.« (Ders.: Jus naturae, I 1, § 153). Mendelssohn unterwandert hier wiederum Rousseaus Begriff des Naturzustands, indem er schon in ihm eine Urform der Geselligkeit annimmt und in ihr Normen, die den Gebrauch der Freiheit Anderen gegenüber regeln, für gültig erachtet. Siehe dazu die Analyse Altmanns 1982, 164–91, sowie Kap. IV.3. 39 Vgl. Altmann 1982, 187. Dieser betont darüber hinaus den festen Zusammenhang dieser Freiheitsauffassung, unter ihrer »Subsumtion« als »Bestimmung des Menschen«, mit der Auffassung der »Menschenrechte«, wie sie Mendelssohn in seinen politischen Schriften verfolge. Es erstaunt nicht, dass ein Philosoph, dessen oberstes Interesse die Bestimmung des Menschen war, auch die unveräußerlichen und ersten Rechte, die Menschenrechte, zu seinem Thema machte. Dass als ein biographischer Grund für dieses Interesse auch in dem miserablen rechtlichen Status der Juden gegründet war (siehe Altmann 1982, 166), liegt auf der Hand; vgl. hier Kap. IV.4.
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Menschen im Gesellschaftszustand fragt.40 Den Begriff gesellschaftlicher Kontrolle und Unterdrückung nimmt Mendelssohn nicht in seine Diskussion auf, wie sich auch in Bezug auf die gesellschaftlichen Dimensionen des Menschen, die in Bezug auf den Jerusalem zu diskutieren sind, zeigen wird (s. Kap. IV).Er verteidigt vielmehr »seine Auffassung von der Natur des Menschen als einer untrennbaren Einheit von Selbstliebe und Wohlwollen gegenüber anderen« (Altmann 1982, 188), die er in der gesellschaftlichen Konstellation tatsächlich kollidierender Vorstellungen nicht reflektiert. Um diese Erweiterung der Vollkommenheit auf Vernunft, Freiheit und Affektionen zu verstehen, ist allerdings als ein weiterer Aspekt von Mendelssohns Rousseau-Kritik zu berücksichtigen: die Rolle des Mitleids.
2. Mitleid als zentrale Kategorie in Kunst und Kultur Laut Rousseau vernichten ratio und Zivilisation, da sie Ungleichheit produzieren auch die natürliche Fähigkeit des Mitleids (Discours, 116 f.) als ein vorrationales Moment der Identifikation. Pitié bewirkt, »daß wir kein empfindendes Wesen, und vornehmlich keines von unsersgleichen, ohne Widerwillen untergehen oder leiden sehen können« (ebd., 116). An anderer Stelle formuliert er es sogar in Begriffen der zeitgenössischen Psychologie: »Die Gewogenheit und die Freundschaft selbst entspringen […] aus einem beständigen Mitleiden, das auf einen besondern Gegenstand geheftet ist: denn was heißt das Verlangen, daß ein anderer nicht leiden soll, anders, als ein Verlangen, daß er glücklich seyn möchte; Gesetzt, das Mitleiden sey nichts, als ein Gefühl, das uns an die Stelle des Leidenden setzet, ein Gefühl, das bey einem Wilden dunkel und lebhaft, bey dem gesitteten Menschen hingegen aufgeklärt, aber schwach seyn muß[41]; wird nicht eben dieser Begrif, demjenigen, was ich gesagt habe, noch mehr Nachdruck geben?« (Discours, 116, Hervorhebung A.P.) An die Stelle des Mitleidens tritt in der Kultur die von Rousseau pejorativ gemeinte vernünftige Eigenliebe – deren Vernunftgehalt weniger auf das geregelte Maß dieser Eigenliebe geht, sondern nach Rousseaus Auffassung der ratio vielmehr eine Instrumentalisierung des Anderen intendiert und damit Mitleid im empathischen, altruistischen, sowie im für den Menschen zuträglichen Sinne abschwächt und zu einer reinen Instrumentalisierungsfunktion verkommen lässt. In einer extremen Ausformung benennt Rousseau 40
»The problem that vexed Rousseau was the problem of freedom in its limited sense of sovereignty, that is, the extent to which man controls his own life and the respective powers of the state and the individual.« (Rotenstreich 1966, 33) 41 Im Original »sentiment obscur et vif« vs. »développé mais faible« (vgl. Rousseau 1995, 174). Das Mitleid, das der Zuschauer für das Geschehen in der Tragödie verspürt, ist damit ein Überrest dieser eigentlich starken und grundlegenden Empfindung. Schings 1980, 27 nennt dies ein »Indiz« für das Überdauern der Menschlichkeit »selbst unter fatalen Umständen«.
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dies mit dem Weltweisen, der sich so weit von Seinesgleichen entfernt hat, dass man unter seinem Fenster sogar morden könne: er wird sich »den Finger in das Ohr […] stecken und ein wenig Vernunftschlüsse« machen, um sich zu beruhigen – helfen wird er nicht (Discours, 116). Der Verlust der intuitiven Mitleidsfähigkeit ist damit ein deutliches Zeichen menschlichen Niedergangs und pervertiert die Identifikation zu Hass und einer aus Selbstsucht resultierenden Befriedigung am Leiden Anderer. Wie das Zitat zu Beginn dieses Abschnitts zeigt, begeht Rousseau nicht den Fehler, das Mitleiden auf die Erhaltung des Anderen gerichtet zu beschreiben, denn dann wäre es das Gefühl einer grundlegenden, positiv zu verstehenden Geselligkeit. Vielmehr ist es »ein Gefühl, das uns an die Stelle des Leidenden setzet« (Discours, 116) und damit generell von der Selbstliebe abhängt. Es ist in dem Sinne ein Gesetz, mit dem die Natur Gebrauch der vorrationalen Empfindlichkeit des Menschen macht: Mitleid wirkt nur, insoweit es noch nicht durch den Verstand gebrochen ist. Es dient dem Zweck, die »Wirksamkeit der Eigenliebe« zu mäßigen und so, als Naturgesetz, das menschliche Geschlecht zu erhalten (vgl. Discours, 117). Es ist damit eher ein negatives42 Gesetz, das sich unter Berücksichtigung des ersten Gesetzes, das auf Selbsterhaltung zielt, als eine »natürliche Abneigung, seinesgleichen mehr Schaden als nötig zuzufügen« (Discours, 83) paraphrasieren lässt: ›Schade deinem Nebenmenschen nicht mehr, als zu deiner Selbstsorge nötig ist.‹ In der Kultur müsse dieses natürliche Gefühl durch künstliche Normen ersetzt werden – es liegt nahe zu vermuten, dass diese Substitution nicht ohne Wirksamkeitsverlust vonstatten geht. Genau dies scheint Rousseau mit der Formulierung »aufgeklärt, aber schwach« gemeint zu haben.43 Für Mendelssohn dagegen entsteht Mitleid aus Liebe, ist also in sich und zuerst positiv.44 Letztlich wendet er sich dabei in erster Linie gegen Bernard de Mandeville, 42
Vgl.. Fetscher 1981, 911 und Melzer 1990, 16, wobei laut Melzer Rousseau dem natürlichen Menschen auch ein »rudimentäres« empathisches Gefühl für den Anderen zugesteht. Dann wäre allerdings wiederum die Absage an eine ursprüngliche Geselligkeit problematisch. 43 An diesem Punkt ist Altmanns Analyse von Mendelssohns und Rousseaus Einschätzung des Verhältnisses von Mitleid und Selbstliebe etwas ungenau. Beide stimmen in der »Bejahung der Selbstliebe« überein (Altmann 1982, 189); jedoch ist der Status des Mitleids bei Mendelssohn stärker und spezifiziert damit die von Rousseau vertretene Alleingeltung der Selbstliebe nicht bloß von negativer Seite (Mitleid als Begrenzung), sondern auch positiv (Mitleid als ein Gefühl eigener Geltung). 44 Vgl. Erlin 2002, 90. Ähnlich argumentiert auch Sulzer in seiner Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen 1751/52 (Verm. Schriften I, 1–98, vgl. auch Versuch über die Glückseligkeit verständiger Wesen, (zuerst 1754), in Vermischte Schriften I, 323–47): »Weil also die Idee des Guts oder Übels eben die Eindrücke auf uns macht, als das Gute oder Übel selbst […], so ist deutlich, da[ß] auch das Gute anderer Menschen, vermöge seiner Natur die angenehme, und ihr Übel die unangenehme Empfindung in uns erregen muß. Woraus die Wahrheit meines Grundsatzes erhellet: daß wir einen natürlichen Hang haben, an dem Guten und Übel anderer Theil zu nehmen.« (86) Für Sulzer folgt die Unmittelbarkeit der Einfühlung also
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der in der Fable of the Bees, einem Mendelssohn wohlvertrauten Werk, das Mitleid vielmehr als eine Schwäche der Vernunft benennt, wogegen der Egoismus die eigentliche gesellschaftstragende und fortschrittschaffende Kraft sei.45 Der wichtigste Aspekt von Mandevilles Denken im gegebenen Zusammenhang lässt sich jedoch mit Rousseaus Kulturkritik parallelisieren: Gute Taten geschehen laut Mandevilles Analyse bzw. im Rousseauischen Kulturzustand nicht um ihrer selbst, sondern um des eigenen Ansehens willen bzw. um die Mitmenschen zu übervorteilen. Sie sind also bloßer Schein, ihr Gebrauch ist instrumenteller Natur und ihre Geltung ebenso relativ wie Kleidermoden. Allerdings bietet Rousseaus Auflösung dieses Befundes in eine historisch umdeutbare Analyse bessere Angriffspunkte, um dem eine alternative Entwicklungsmöglichkeit des Menschen entgegenzuhalten. Genau dies scheint Mendelssohns Ziel gewesen zu sein. Mandevilles Kritik dagegen speist er mit dem Hinweis, dass sie auf einer Übertreibung eines Gedankens beruhe, relativ kurz ab. Die Liebe zum Anderen, die sich im Mitleid manifestiert, sieht Mendelssohn in der Neigung zur Vollkommenheit, nicht in einer Übertragung des eigenen Gefühls auf einen anderen Menschen begründet.46 Wenn es diesen Anderen schlecht ergehe, so vermische sich die grundlegende Liebe zu ihnen mit dem Unlust, ihren Zustand als eingeschränkt zu erleben – Mitleid ist damit mit der menschlichen Soziabilität eng psychologisch aus der Tatsache, dass moralisch besetzte Ideen ebenso unmittelbar wirken wir sinnliche. Vgl. dazu Dürbeck 1998, 198 f., die allerdings auch dem widersprechende Stellen nennt und die Rolle der Einbildungskraft, die hier für die nötige Eindringlichkeit sorgt, betont. 45 Gegen Mandeville wendet sich auch Rousseau, vgl. Discours, 114 ff. Vgl. Sendschreiben, JubA II, 101 und Schings 1980, 22–33). »Pity, tho’ it is the most gentle and the least mischievous of all our passions, is yet as much a Frailty of our Nature, as Anger, Pride, or Fear. The weakest Minds have generally the greatest Share of it, for which Reason none are more Compassionate than Woman and Children. It must be own’d, that of all our Weaknesses it is the most amiable, and bears the greatest Resemblance to Virtue; nay, without a considerable mixture of it the Society would hardly subsist: But as it is an Impulse of Nature, that consults neither the publick Interest not our own Reason, it may produce Evil as Well as Good.« (Mandeville I, 56) Zur »Provokation Mandeville« und deren Folgen für den aufklärerischen Moralapriorismus siehe Jacobs 2001, 38 ff. 46 Damit verwandt ist Mendelssohns Grundgedanke über die Einheitlichkeit der Seele, wie er ihn auch in den Hauptgrundsätzen formuliert (JubA I, 428): die Grundkraft der Seele muss eine einzige sein, sonst wäre die Seele ein zusammengesetztes Wesen. Freude und Leid gründen sich somit gleichermaßen in der (erfüllten oder versagten) Sehnsucht nach Vollkommenheit (vgl. hierzu die Theorie der vermischten Empfindungen (Kap. II.2), seine Illusionstheorie (II.3), sowie die metaphysische Ausformulierung des Einheitspostulats im Phädon, Kap. V.1). Insgesamt ist das Mitleid bei Mendelssohn auch nicht, wie es Schings 1980, 31 formuliert, eine »untergeordnete, ableitete, ja defiziente Form« der Liebe zur Vollkommenheit, sondern ihr vollkommener Ausdruck. Schings identifiziert Mendelssohns Vollkommenheitsphilosophie mit einer steril erscheinenden Vorliebe für Harmonie und Ordnung; Mendelssohn selbst scheint aber vielmehr auf eine Zusammenstimmung von Vernunft und Gefühl zu dringen, die das Gefühl für Vollkommenheit eben nicht instrumentalisiert, sondern es in ein umfassendes Konzept einzugliedern versucht. Berücksichtigt man neben dem Sendschreiben auch die Briefe über die Empfindungen wird diese Miteinbeziehung der Sinnlichkeit umso deutlicher.
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verbunden und verlangt diese grundlegende Mitfühlung per se. Schon bevor amour de soi in amour propre ausartet, empfindet der Mensch das Gebot des Mit-Fühlens und damit der Ausrichtung aller seiner Handlungen auch auf den Anderen. Letztlich ist laut Mendelssohn der Begriff des Mitleids in Verbindung mit der Annahme einer grundsätzlichen Ungeselligkeit des Menschen bei Rousseau inkonsistent. Mitleid resultiert wie Selbstliebe aus der umfassenden Neigung zur Vollkommenheit; es kann dementsprechend mit der ›richtigen‹ Ausbildung der Vernunft auch in menschlichen Gesellschaften nicht zwangsläufig pervertiert werden. Mit Lessing diskutiert Mendelssohn dieses Problem am Rande des sogenannten Trauerspielbriefwechsels, einer durch die Frage nach Beschaffenheit und Zweck der Tragödie zusammengehaltene Brieffolge, zu der zeitweise auch der gemeinsame Freund Friedrich Nicolai hinzutrat.47 Der Disput ist einer ausgeglichenen Analyse jedoch nicht immer zugänglich, denn er forderte beide Seiten zu extremen Positionen heraus, die beide in der Folgezeit modifizierten und erweiterten.48 Darüber hinaus erschwert der Umstand, dass die Beteiligten nicht über das Mitleid an sich, sondern das durch die Kunstform der Tragödie hervorgerufene Mitleid diskutieren. Im gegebenen Zusammenhang ist allerdings allein auf das Verständnis von der Rolle des Mitleids im menschlichen Gefühlshaushalt einzugehen. Wie auch immer man die Rollen der drei »Kombattanten« bewerten will, eines scheint geteilter Standpunkt zu sein: »In the limited scopes of metaphysics and psychology he [Mendelssohn] was probably surer of himself than Lessing in any one field of his more extensive interests, with the exception of classical philology.« (Nolte 1931, 311) Gerade die Überlegungen zur Tragödie eignen sich tatsächlich, um die psychologischen Grundlagen von Mendelssohns Menschenbild zu beleuchten; wurde doch die Poetik »in einer immer ausschließlicher psychologisch ausgerichteten Ästhetik«49 fundiert und greift explizit auf das Bild eines natürlich guten Menschen zurück. 47
Siehe zu diesem Aspekt v. a. Nolte 1931, Michelsen 1966 bzw. 1990, Heidsiek 1979, Schillemeit 1984, Schings 1980. Auf den Einfluss Rousseaus auf die Debatte über Mitleid vs. Bewunderung im sogenannten Trauerspielbriefwechsel gehen allein Schillemeit (81 ff.) und Schings ausführlich ein. 48 Vgl. Goetschel 2004, 101. Schillemeit 1984, 85 macht zu recht darauf aufmerksam, dass bei der Interpretation der jeweiligen Texte auf die unterschiedliche Intention zu achten ist. So stellen die Briefe über die Empfindungen eine Empfindungstheorie allgemein, die Briefe zum Trauerspiel eine Theorie der affektiven Wirkungen der Tragödie auf. Die Verwendungskontexte sind nicht völlig deckungsgleich – also ist es auch wenig erstaunlich, dass bspw. das Element der Bewunderung in den Briefen bzgl. des Trauerspiels keine große Rolle spielt. Nichtsdestotrotz ist diese Kategorie dort immer präsent und wird auch im Umkreis der Diskussion über das Erhabene wieder eingeholt: die Bewunderung für den Künstler (bzw. im Beschluss der Briefe für den jeweiligen Akteur, der die erste Art des Mitleids kennzeichnet, vgl. JubA I, 108) ist ein feststehender Gedanke in Mendelssohns Werk. Vgl. Kap. II.2 und 3. 49 Michelsen 1966, 550. Nicolai, Lessing und Mendelssohn lehnten sich dabei auch an die von Michelsen 1966, 552 so bezeichneten »erste[n] radikal subjektivistischen Ästhetik« in Dubos’
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Mitleid wird in der Trauerspieldebatte als eine spezifische Form von Leidenschaft gewertet. Überhaupt entzündete sich die Debatte vornehmlich50 an Nicolais Abhandlung vom Trauerspiele, wobei sich diese Abhandlung explizit auch auf Mendelssohns 1755 in den Briefen über die Empfindungen entwickelte Mitleidstheorie (vgl. Nicolai, Abhandlung, 17 sowie JubA I, 108–12) anlehnt. Beide vertreten den Grundsatz, dass es der Zweck der Schaubühne sei, Leidenschaften zu erregen (JubA I, 94 f.). Was Nicolai nicht behandelt, ist eine Erklärung des Umstands, warum der Zuschauer an den Trauerspielen, die dem von ihm nahegelegten Grundsatz folgen, tatsächlich Vergnügen hat.51 Man ist dazu vornehmlich auf die Anmerkungen zur Psychologie des Vergnügens, die Mendelssohn in den Briefen vorträgt, verwiesen. Im »Beschluss« der Briefe hatte Mendelssohn auf die Wurzel des Mitleids als einer theatralischen Leidenschaft par excellence als ein dunkles (und daher sinnliches) Bewusstsein von einer zugleich empfundenen Liebe für eine Person und Abscheu gegen ein ihre Vollkommenheit einschränkendes Ereignis bestimmt. Mitleid vereinigt in sich Lust und Unlust; man ist für eine Person positiv eingenommen, empfindet also Wohlwollen und bedauert deshalb umso mehr ihr Unglück. Selbst wenn wir angesichts einer Katastrophe (als ein Beispiel firmiert in den Briefen der vielzitierte Schiffsuntergang, der entweder in der Gemäldegalerie, oder gar vom sicheren Ufer mit Vergnügen betrachtet wird) erschrecken, sei dies ein »Mitleiden, das uns schnell überrascht« (JubA I, 110). Der Grund des Vergnügens am Mitleid liege, so bescheidet Mendelssohn knapp, »in der Natur unserer Empfindungen«52, ihre Wirkung sei aus der menschlichen Neigung zur Vollkommenheit erklärbar. Damit ist die Opposition gegen Rousseau bereits umrissen. Jedoch ist es im Trauerspielbriefwechsel überraschenderweise nicht Mendelssohn, sondern Lessing, der den Wert des Mitleids vehement verteidigt, während Mendelssohn die Bewunderung hervorhebt.53 Mitleid, so Lessing, sei die wichtigste und eigentlich auch einzige Lei-
Réflexions critique sur la Poésie et la Peinture (1719) an, um sich damit zugleich implizit gegen die Poetiken Gottscheds zu stellen. Vgl. dazu Pollok 2008. 50 Obwohl das Thema schon vorher von Mendelssohn angesprochen wurde, siehe seinen Brief an Lessing vom 26. Dezember 1755, JubA XI, 28: »Was halten Sie dafür? kann uns die Großmuth Thränen auspressen, wenn sich kein Mitleiden ins Spiel mischt?« Erst mit Nicolais Abhandlung über das Trauerspiel kommt die Debatte allerdings in Gang. Schings 1980, 33 weist zu Recht darauf hin, dass zu einem vollständigen Verständnis der Debatte die vorangegangene Auseinandersetzung mit Rousseau (und Mandeville) von großer Bedeutung ist. 51 Vgl. die spärlichen Hinweise in Nicolai, Abhandlung, 13. 52 Im Zuge der Modifikation seiner Theorie, die in die Ausgestaltung der vermischten Empfindungen mündet, wird Mendelssohn es unternehmen, diese Gesetzte der »Natur unserer Empfindungen« genauer auszuarbeiten, siehe die anschließenden Teilkapitel. 53 Mitleid ist für Lessing weder »ästhetizistischer Formalismus«, noch allein um des Selbstgefühls willen angestrebt. Vielmehr vergrößert die Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, die »empfindsame Kompetenz« des Menschen, wie Lessing im Anschluss an Hutcheson, dessen Inquiry into the Origi-
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denschaft, die die Tragödie erwecken könne. So reformuliert er in Anlehnung an Mendelssohn den Schrecken als ein Mitleiden, was uns schnell überrascht und die Bewunderung, weniger überzeugend (so auch Nolte 1931, 323 f. und 328), als das »entbehrlich gewordene Mitleiden« (November 1756, nach JubA XI, 66). Während die anderen Gefühle auf spezifische Situationen gerichtet seien und als Affekt erlöschen, sobald der Tragödienbesucher das Schauspielhaus verlässt (vgl. Brief vom 18. Dezember 1756, JubA XI, 92 f.), so wirke das Mitleid universell und verfeinere die menschlichen Empfindungen. Zweck dieser unterschiedlichen Ausprägungen des Mitleids ist die Erhöhung menschlicher Gesellschaftsfähigkeit: »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Grossmuth der aufgelegteste.« (JubA XI, 67, siehe auch Goetschel 2004, 101) Intendiert ist damit eine Absage an den von Mendelssohn und Nicolai formulierten Grundsatz der Leidenschaftserregung als Zweck der Tragödie. Lessing zufolge ist die Erregung der Leidenschaften auf dem Theater nicht Endzweck, sondern Mittel, den Menschen zu bessern.54 Dies kann nur erfüllt werden, wenn die einzige anvisierte Leidenschaft der Schaubühne eben das moralisch relevante Mitleid ist. Mit Mendelssohn und damit kritisch gegen Rousseau betont Lessing darüber hinaus, dass diese Verbesserung der ›Gefühlskompetenz‹ eine bessere Form der Geselligkeit her-
nal of Our Ideas of Beauty and Virtue (1729) er unter dem Titel Sittenlehre der Vernunft gerade 1755 (angeben ist 1756) übersetzt und herausgegeben hatte, formuliert (vgl. Kimpel, 1982, 279 f. und Schings 1980, 25). Ästhetisches Mitleid zeigt an, dass die Rezipienten eine Fertigkeit zum Mitleiden überhaupt besitzen – und so auch im ›wirklichen Leben‹ anwenden können. Lessing versucht damit das Problem zu beantworten, wie abstrakte moralische Prinzipien überhaupt in die praktische Umsetzung überführt werden können. Mit Hutcheson argumentiert er dabei für die Unabhängigkeit dieses Gefühls von Verstand und Willen. Nach der These Heidsieks ist es nicht Rousseaus, sondern vor allem Hutchesons Mitleidsbegriff, der Lessings Ansichten prägt (vgl. Heidsiek 1979, 13). Hutcheson will zeigen, dass es nicht nur die Selbstliebe ist, die den Menschen antreibt, sondern auch ein entgegengesetzter, ebenfalls nach dem Grundprinzip der Lustmaximierung und Schmerzminderung funktionierender Grundtrieb: »nämlich das zu befördernde Glück des Mitmenschen« (Heidsiek 1979, 15). Für Heidsieks Interpretation spricht, dass Lessing diesen zweiten Trieb nicht weiter problematisiert, was er unstreitig tun müsste, wenn er von Rousseaus Mitleidskonzeption allein ausginge. Es soll im weiteren aber nicht um Lessings, sondern Mendelssohns Begründung der Mitleidstheorie gehen. Dass dieser an dem ›Problem Rousseau‹ interessiert blieb, zeigen seine Schriften deutlich. Für Mendelssohns Beschäftigung mit Hutcheson (mal zustimmend, mal ablehnend) spricht, dass dessen Inquiry als eine explizite Verteidigung der Gedanken Shaftesburys gegen Mandeville konzipiert war (siehe dessen vollständigen Titel). 54 Es ist hier zu betonen, dass allein Lessings Auffassung zur Zeit des Trauerspielbriefwechsels berücksichtigt wird. Darüber hinaus ist der Bemerkung Gleissners (1988, 37) zuzustimmen, das »[d]ie in Äußerungen aus den Anfängen seiner kritischen Tätigkeit noch häufiger begegnenden moraldidaktischen Bestimmungen der Aufgaben von Romanen, Dramen und Lehrgedichten […] mit den Jahren seltener und auch schwerer greifbar« werden. Auf den Einfluss Mendelssohns auf Lessing geht Gleissner nicht ein (was der germanistischen Tradition, eine Einflussmöglichkeit nur auf umgekehrten Wege zu vermuten, durchaus entspricht).
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vorruft. Indirekt hat damit auch er Rousseaus Naturzustand um eine grundlegende Tendenz zur Geselligkeit erweitert, jedoch dessen Kritik an der Ratio beibehalten. Nicht der denkende, vernünftige, sondern der Mitleid fühlende Mensch ist Endzweck theatralischer Darstellung. Mit dieser Einschränkung auf das Mitleid unterscheidet sich Lessing Standpunkt grundlegend von demjenigen Mendelssohns, der ein umfassendes Konzept der ästhetischen Wirksamkeit intendiert, in dem das Mitleid als eines der durch die Schaubühne erregten Affekte mit der Vernunft in Zusammenhang gebracht werden soll; wohlgemerkt ist dieser Zusammenhang kein Bedingungs-, sondern ein freies55 Verhältnis. In Auseinandersetzung mit Rousseau nimmt hier die Perfektibilität die Rolle der Vernunft ein; sie ist das Moment der umfassenden Verbesserung, die nicht durch den Intellekt gestört, sondern notwendig auch von ihm getragen werden muss.56 Wie in den Briefen über die Empfindungen (JubA I, 110) formuliert er seine Theorie des Mitleids auch im Sendschreiben: Mitleid resultiert aus Liebe, diese ist ein Vergnügen, Vergnügen stützt sich auf Vollkommenheiten. Auch diese sinnlich erfahrbaren Vollkommenheiten führten letztlich auf die umfassende Verbesserung des ganzen Menschen.57 Gemeint ist aber damit nicht seine moralisierende Aufwertung des Verstands, sondern die Begründung der positiven Wirkung des Mitleids durch den Rückgriff auf eine Theorie des Eigen55
Auch Goetschel 2004, 102 betont diesbezüglich die Eingebundenheit des Mitleids in einen Funktionszusammenhang der Affekte. Da er diesen aber aus Spinozas Affektenlehre der Ethica (1677) ableitet, sehe ich nicht, wie der Aspekt der Freiheit bei ihm aufrecht erhalten werden kann. Hinzu kommt, dass eine spinozistische »Veraffektierung« der Vernunft in Bezug auf Mendelssohns Theorie m. E. nicht haltbar ist, da er, mit Leibniz, Affekte und Vernunft gerade von der anderen Seite her, aus Sicht der Vernunft, betrachtet (deshalb auch das Argument vorgebracht in JubA XI, 102 (Brief an Lessing) gerade die Ansicht stützt, dass die Affekte die Vernunft als das Fundament, dass nicht mit ihnen gleichzusetzen ist, benötigen; sie mögen frei spielen, doch müssen als letzten Grund der Ratio folgen, nicht umgekehrt. Dies hat Mendelssohn auch gegen Sulzer hochgehalten; siehe Kap. II.2). 56 »Mendelssohn is less directly governed by moralistic principles than Lessing, but his outlook is essentially metaphysical, and ethical considerations are strongly implied.« (Nolte 1931, 315, Hervorhebung A.P.) Noltes Erklärung der Leibnizschen Vorstellungstheorie und ihrer ästhetischen Implikationen ist allerdings irreführend. Gegen Baumgarten folgert er: Einfache Vorstellungen sind die unterste Form der Vervollkommnung; »the more abstract you become, the closer you get to reality.« (Nolte 1931, 316) Dies hätte weder Leibniz, und noch weniger Baumgarten unterschrieben, der vielmehr die Klarheit der Gedanken als durch einen Abstraktionsverlust erkauft ansah: »Quid enim est abstractio, si iactura non est?« »Was ist Abstraktion, denn ein Verlust?« (Aesthetica § 560) Nolte folgert darüber hinaus, dass Mendelssohns Ziel in den Briefen über die Empfindungen gewesen sei, die einfachen Empfindungen zu überwinden. Das Gegenteil scheint der Fall: Seine Theorie der Empfindungen lässt sich vielmehr als der Versuch lesen, ihre Quellen nachzuvollziehen und jeder von ihnen ihr Recht zukommen zu lassen. 57 Ähnlich in einer Mendelssohn zugeschriebenen Rezension von Fergusons Grundsätzen der Moralphilosophie, in AdB 17.2, 1772 (JubA V/2, 156–73, hier 166): Die drei nach Ferguson obersten Prinzipien der Selbsterhaltung, gesellschaftlichen Neigung und Neigung zur Vollkommenheit ließen sich allein auf die letztere zurückführen.
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werts menschlichen Empfindens überhaupt. Damit geht Mendelssohns Auffassung deutlich über die Verstandeslastigkeit hinaus, die ihm oft attestiert wird. »Sinnliche Vollkommenheiten« meinen gerade dunkle bzw. verworrene Vorstellungen von Vollkommenheiten, die zur Erhöhung der Wirksamkeit gar nicht aufgeklärt werden müssen, sondern ihren Eigenwert behalten. Dass die Seele sich über die ›tatsächliche‹ Qualität dieser Vollkommenheiten täuschen kann, steht auf einem anderen Blatt – diese Möglichkeit ist Mendelssohn mit Wolff durchaus bewusst, ohne dass er dieses Defizit nutzte, um eine umfassende Aufklärung alles Dunklen zu fordern. Vielmehr will er, sozusagen in idealer Anhängerschaft an Spinoza58 – den er hier nicht nennt – und Baumgarten59 den Eigenwert sinnlicher Empfindungen aufweisen, die sehr wohl mit der Vernunft, nicht aber gegen sie bestehen können. Aus diesem Grund hält er die Bewunderung als eine Bedingung der Einfühlung überhaupt hoch; höher vielleicht, als er es in einer ausgeglichenen Gesamtschau der von ihn vertretenen Positionen tun müsste.60 Doch ist dies nicht unbedingt ein Ausdruck des Abweises jeglicher Mitleidstheorie, im Gegenteil. Vielmehr soll der bewunderte Mensch die Vorbedingung zum Mitleiden sein. »[E]s geht darum, die menschliche Seele von dem Verdacht einer ursprünglichen, wenn auch mehr oder weniger entwickelten[61] oder latenten Anlage zur Schadenfreude freizusprechen. Oder abstrakter und Mendelssohn näher formuliert: es geht darum, die Meinung zurückzuweisen, die Seele könne am Anblick irgendwelcher Unvollkommenheiten als solcher Vergnügen finden.« (Schillemeit 1984, 87; ähnlicher Auffassung ist auch Zelle 1987, 319) Die Bewunderung vorausgesetzt, ist dieser Versuch allerdings ernsten Schwierigkeiten ausgesetzt. Wenn
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Goetschel 2004, 103 weist hier auf den Einfluss von Spinozas Affektentheorie der Ethica (1677) hin. Allerdings ist es fraglich, ob Mendelssohn der Ansicht, dass die bloße Gewalt der Affekte zugleich eine Verstärkung der Ratio als »strongest and most permanent affect« (Goetschel) bedeute, zustimmen würde. Der Ausgleich dieser beiden Pole menschlicher Psyche scheint ihmzufolge weitaus komplizierter. 59 Den er zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht eingehend studiert hatte, wie die signifikanten Änderungen in den Hauptgrundsätzen zeigen; siehe Kap. II.3. 60 In seiner Interpretation, die Mendelssohn einen Bruch mit seinen das Mitleid positiv wertenden Ansätzen in den Briefen über die Empfindungen attestiert, übersieht Schings, (1980, 34 f.), dass Mendelssohn in den Folgejahren nicht von seiner Hochschätzung des Mitleids abrückt. Dies hätte er zweifellos getan, wenn es tatsächlich zwischen den Briefen und dem Trauerspielbriefwechsel einen fundamentalen Bruch gegeben hätte – denn dass sich die Kontrahenten nicht gegenseitig überzeugen konnten, zeigt der Verlauf bzw. Abbruch der Diskussion (vgl. Nolte 1931, 309) an. Vielmehr scheint Mendelssohn im Briefwechsel um der schärferen Kontrastierung willen vorerst allein die Bewunderung hochgehalten zu haben. Zu einer angemessenen Interpretation des Status des Mitleidsgedankens auch in Mendelssohns späteren Schriften kann deshalb nicht gänzlich auf einschlägige Überlegungen vor der Trauerspieldebatte verzichtet werden. 61 Vgl. damit die unterschiedlichen Stadien der Mitleidsfähigkeit je nach Erziehung und Gewohnheit, wie sie Mendelssohn im Beschluss der Briefe über die Empfindungen erwähnt (JubA I, 108 ff.).
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der bewunderte Mensch ins Unglück gerät, so scheint die Emotion, mit der der Zuschauer diesen Fall begleitet, nichts anderes als Schadenfreude, vielleicht sogar Sensationslust zu sein. Mendelssohn möchte die Bewunderung jedoch dazu einsetzen, dass sie solche negativen Gefühle gerade verunmöglicht, weil der Bewunderte als ein Maß des Guten unsere Anerkennung erworben hat. Folglich könne sein Fall uns nur deshalb interessieren, weil wir ihn um seiner selbst willen wieder glücklich zu sehen wünschen. Der dem Mitleid zugrunde liegende Trieb soll also in der Empathie und der Akzeptanz des Anderen wurzeln, nicht in der heimlichen Freude, dass dieser bewunderte Charakter doch nicht so bewundernswert (und damit beneidenswert) ist, wie wir anfangs annahmen – und so sein Fall doch eher unserer Selbstliebe schmeichelte, die dann den Grund für das Vergnügen am Mitleid bildete. Im Jerusalem formuliert Mendelssohn diesen grundsätzlich empathischen Standpunkt schließlich so: »Der Mensch kann ohne Wohlthun nicht glücklich sein, nicht ohne leidendes, aber eben so wenig ohne thätiges Wohlthun. Er kann nicht anders, als durch gegenseitigen Beistand, durch Wechsel von Dienst und Gegendienst, durch thätige und leidende Verbindung mit seinem Nebenmenschen, vollkommener werden.« (JubA VIII, 116)62 Die Verbindung zu den Nebenmenschen soll ihn nicht allein auf sich selbst, sondern auf das Menschliche in ihm zurückführen. Indem er das »Wohlthun« mit einer Forderung nach einer entsprechenden inneren »Gesinnung« verbindet, deutet es in seiner Struktur bereits über das Selbstinteresse des Einzelnen hinaus auf eine affektive Einbeziehung des Anderen. Mit der Berücksichtigung der beiden Gefühlsqualitäten will er den nexus von Affekt und Vervollkommnung festigen. »Das Mitleiden rührt unser Herz, die Bewunderung erhebt unsere Seele.« (JubA XI, 129) formuliert er es unter der Rubrik »Streitigkeiten« in einem Zwischenresümee vom 14. Mai 1757. Beides, daran hält er mit Nicolai fest, sind Ausdruck der »sittlichen Empfindlichkeit« (ebd., Nachsatz von Nicolai, 131). Gegen Lessing behauptet Mendelssohn also die Irreduzibilität von Bewunderung auf Mitleid und argumentiert vielmehr für deren gemeinsame Wurzel in der Vollkommenheit, wobei beide Gefühle jeweils eigenständige Ausprägungen von dieser darstellen. Lessing geht auf diesen Standpunkt ein und hält nun seinerseits fest, dass diejenige Person, die das Mitleid am meisten errege, zugleich auch diejenige sein müsse, die unser Mitleid am meisten verdiene. Welche könnte dies sein, wenn nicht diejenige, die wir (auch) bewundern, die also eine sinnlich wahrnehmbare Vollkommenheit repräsentiert? Deutlich wird hier das Bemühen, beide Empfindungen zu »koordinieren« (Nolte 1931, 322 und 324 ff.) – ein Vorhaben, das in der Trauerspieldebatte nicht mehr zur Ausführung kommt. Dessen Ende ist mehr ein bloßes 62
Auf eben diese Argumentation greift er auch in den Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz 1782 zurück, siehe Anmerkung o (JubA VI/1, 38 f.); vgl. Kap. I.2.
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Anhalten, als dass es auf eine Lösung geführt hätte. Das Zusammenspiel dieser Leidenschaften ist aber in Hinblick auf die Bewertung von Rousseaus Auffassung des Mitleids bei Mendelssohn klar: wie die Bewunderung als ein positives Gefühl für den Anderen dem Selbstinteresse vorausgeht, so wird auch das Mitleid nicht als eine sublimierte Form des Selbst-Mitleids verstanden. Deutlich formuliert Mendelssohn dies in einer Kritik an Lessings Aristoteles-Interpretation in einer Fußnote der Rhapsodie, die er erst 1771 einfügt: Wenn auch Aristoteles, nach Lessings Interpretation, mit Furcht (anstatt Schrecken) »dasjenige, was wir für uns selbst […] empfinden« (JubA I, 396) meint63, so sei damit zwar die Aristoteles-Interpretation in sich stimmig, erreicht aber keine angemessene Reformulierung tragischer Wirkung. Mendelssohn will das erschreckte Mitleid – an der Parallelisierung von Schrecken/Furcht und Mitleid hält er durchgehend fest – als altruistisch verstanden wissen. Es geht dabei lediglich um eine Modifikation in Nuancen, die die Interpretation des Mitleids und Charakterisierung der es auslösenden Faktoren durchgängig bestimmen soll: Mitleiden bedeutet nicht, einen Zustand auf die eigene Person zurückzuführen, sondern eine affektiv gesteuerte Besinnung auf das allen menschlichen Wesen Gemeinsame, das der Einzelne nur in sich fühlen, aber auf andere übertragen kann. In Mendelssohns Formulierung: Mitleid wird nicht gestärkt durch die Rücksicht auf uns selbst, sondern durch das »lebhaftere Selbstgefühl eines ähnlichen Uebels« (Rhapsodie, JubA I, 396). Er erklärt den Effekt damit psychologisch: Mitleid ist als Gefühl in die Vergangenheit gerichtet: es ist die dunkle Erinnerung an ähnliche eigene Empfindungen, was das Sympathisieren mit dem Leidenden psychologisch betrachtet erleichtert.64 In einem Brief an Lessing verdeutlicht er seine Vorbehalte: »Dieses aber möchte ich von Ihnen wissen, ob Sie diese Furcht des Aristoteles für wahr, für Natur und Erfahrung gemäß halten? Nichts würde, meines Erachtens, das Spiel der Illusion [hier gemeint: die Wirksamkeit des Theaters; A.P.] so sehr verderben, als diese Rücksicht auf unsre eigne theure Person.« (JubA XII/1, 162) Das ›Erinnern‹ an eigene ähnliche Empfindungen ist ein emotionaler, nicht vernunftgesteuerter Prozess. Wir »vergessen, wer, was und wo wir sind, was für Angelegenheiten wir haben, und was für Begegnisse uns angenehm oder unangenehm seyn dürften« (ebd.). Diese »dunkle Erinnerung« (ebd.) verstärkt das Netz aus Assoziationen, das der Zuschauer mit dem Geschehen auf der Schaubühne verbindet, was er aber nicht selbst verständig durchschauen kann. Die Geschehnisse müssen in irgendeiner Form in die eigene Erlebniswelt transformierbar sein. Die Kunst der Tragödie soll eine anschauende Erkenntnis 63
In Lessings Worten, »[…] es ist die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt« (Lessing, Werke 6, 556). 64 »Schrecken« ist in diesem Sinne nach wie vor dieselbe Empfindung, die »schnell überrascht«. Die in diesem Zusammenhang bedeutsame Rolle der Illusion, die jedoch mehr den technischen Aspekt der künstlerischen Verwirklichung dieser Forderung bedeutet, wird in II.3 eingehender diskutiert.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
von ihnen bieten.65 Es ist allerdings zu beachten, dass diese Transformation nicht in eine inhaltliche wie formale Gleichheit von Bühne und Realität münden muss. In der Rhapsodie betont Mendelssohn, dass wir Mitleid und Furcht für die Figuren in Situationen empfinden, in die wir selbst niemals gekommen sind und kommen werden. Auch dies spricht gegen eine Identifizierung im Sinne einer innerlichen Gleichsetzung mit den bemitleideten Personen, sondern qualifiziert die theatralische Täuschung lediglich als eine psychologische Vorbedingung zum »Selbstgefühl« des fremden Unglücks. Mitleid ist also eine Bedingung menschlicher Vervollkommnung; nicht indem sie auf das Individuum und seine Interessen verweist, sondern indem es über das Gefühl einer gemeinsamen Natur – und damit letztlich einem Gefühl für die Vollkommenheit – seine Wirksamkeit entfaltet. Damit versucht Mendelssohn, Rousseaus Auffassung des Mitleids einen grundlegend geselligen Zug zu verleihen, der auch der Vervollkommnungslehre gegenüber offen ist. Eine verbesserte Vernunft kann solcherart die Mitleidsempfindung gar nicht stören, sondern sie nur bereichern. Die psychologischen Voraussetzungen seiner Position sind dabei in den auf Rousseau bezogenen Schriften noch nicht deutlich genug gefasst; sie sollen im folgenden Teilkapitel erläutert werden. Mendelssohns Beharren auf der wichtigen Rolle eines Gefühls für die Vollkommenheit, sei es nun in der eigenen Seele oder im fremden Glück, betont jedoch deutlich seine Opposition. Seine Ansicht einer philosophischen Humanität ist an die leibnizianische Metaphysik und ihren Vollkommenheitsbegriff gebunden. Das Bestreben zur Vervollkommnung, das Wolff als ein Natur- bzw. Vernunftgesetz bezeichnet (vgl. Deutsche Ethik, §17, 20 und 23)66, bezieht seine normative Kraft aus der Voraussetzung, Vernunft sei per se auf Vervollkommnung ausgelegt und nur durch ihre Ausübung tatsächlich eine »Realität«. Dies erfordert auch, dass menschliche Vernunft mit göttlicher Vollkommenheit tatsächlich kompatibel ist; eine Frage, die Mendelssohn schon in der Bestimmungsdebatte nicht befriedigend hatte beantworten, son65
Nebenbei weist Mendelssohn in dieser Hinsicht auch auf eine angemessene Anwendung der »Zeichen« in der Kunst hin; »Der Zuschauer kann die innern Regungen des Herzens nicht sehen, sondern er muß sie aus äusserlichen Zeichen schließen. Je fester die Zeichen mit den Regungen durch die Association der Begriffe verknüpft sind, desto lebhafter, feuriger und anschauender wird die sympathische Regung, die den Zeichen entspricht. Niemals aber können die Zeichen eine so lebhafte Wirkung thun, als wenn wir die bezeichnete Sache selbst gefühlt […] haben«. (JubA XII/1, 162 f.). Die Anwendung der Zeichen im Sinne in der – nach Mendelssohn: Leidenschaften erwekkenden – Kunst richtet sich hinsichtlich ihres Gelingens auch nach dem Betrachter; dessen Erfahrung ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Kunstprozesses, der in diesem jedoch aus einer bloß egoistischen auf eine allgemein-menschliche, aber anschaulich verständliche Ebene gehoben wird. 66 Goetschel 2004, 96 verweist hier wiederum auf Spinoza als Quelle; es liegt jedoch nahe, auch die rationalistische Schule zu beachten, noch dazu, da Wolff ausdrücklich die Vervollkommnung der Mitmenschen in sein »Naturgesetz« aufnimmt.
II.1 Perfektibilität als ein nicht-rousseauisches Konzept
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dern nur voraussetzen können. Auch Wolff kann dies nicht, sondern beschränkt die Neigung zur Vollkommenheit auf ein Vernunftkonstrukt, das sich zirkulär aus der Vollkommenheit, nicht aber aus der menschlichen Natur herleitet. Mendelssohn hat versucht, eine ›menschliche‹ Philosophie zu entwickeln, die das subjektive Empfinden des Einzelnen und seine Affekte ebenso berücksichtigt wie eine rein affektive, aber nicht selbstbezogene Übertragungsleistung der eigenen Erfahrung auf Andere. Freiheit, Vervollkommnung, Mitleid und Vergnügen sollen so in der Vorstellung von einem in sich ruhenden und zugleich empathisch seiner Umgebung zugewandten Menschen zusammengenommen werden; die Tragödientheorie bringt hierbei eine Facette dieser Auffassung zur Geltung. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Mendelssohn zufolge ist Rousseaus Bestimmung des Menschen durch zwei Grundvermögen unzureichend, noch dazu, da dieser die genannten Vermögen nur in ihrer unentwickelten Form als Vollkommenheiten auffasst. Für ihn, Mendelssohn, liegt demgegenüber die Vollkommenheit der menschlichen Natur gerade in der Anlage, sich selbst und andere zu vervollkommnen; also in ihrem Streben, in freier Überlegung über ihren »Urzustand« hinauszugelangen. Die ratio ist zugleich in der Perfektibilität und in der menschlichen Freiheit ansiedelt. Vernunft firmiert damit sowohl als Instanz der Erkenntnis wie auch als Garant freier Handlungen. Sie ist im Zusammenspiel mit dem Gefühl, das auch die Selbstliebe und das Mitleid – als einer Liebe und Akzeptanz des Anderen als notwendiger Teilhaber an der gesamten Vollkommenheit – umfasst, ebenso präsent wie in der metaphysischen Erkenntnis und drängt immer, affektiv bestimmt oder kalkulierend, über den aktuellen Zustand hinaus. Dieser Ansatz, der Affekte und Ratio in ein umfassendes Gesamtkonzept zu integrieren versucht, erfordert die Einbeziehung sinnlicher Forderungen, Leidenschaften und emotionaler Aspekte in die menschliche Vernunft, die über die Theorien Wolffs hinausgeht. Dadurch gewinnt zugleich die dynamistische Ausformulierung der Vollkommenheit als Vervollkommnung breiteren Raum.
II. Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen« Die Briefe über die Empfindungen und die Rhapsodie »umfassen den Menschen in seinem weiten Inbegriff vermischter Natur, und gäben, noch genauer nach Quantität bestimmt, eine sehr Philosophische Theorie der vermischten Empfindungen. In ihnen aber ein System der Ästhetik suchen wollen, ist so, als wenn Swifts Mondabenteurer unter den seligen Seleniten nach Golde fragte…« Herder, Viertes Kritisches Wäldchen (1769/1846), Werke 2, 392 f.
In Absetzung zu Rousseau hatte Mendelssohn das Theorem der Perfektibilität als ein zugleich emotionales wie vernunftgeleitetes, Freiheit ermöglichendes und kulturschaffendes Vermögen zu verteidigen versucht. Als eine wichtige Grundlage zu einer vollständigen Theorie menschlicher Selbstvervollkommnung, die neben einer sozialen Verbesserung der Menschen als Mitglieder einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft steht (dazu Kap. IV), ist das weite Feld der menschlichen Emotionalität und ihres Zusammenhangs mit rationalen Überlegungen, Entscheidungen und Handlungen, wie es im Trauerspielbriefwechsel nur unzureichend anklang, von Bedeutung. Es soll, diesen Aspekt vorbereitend, im Folgenden um Mendelssohns psychologische Theorie des Vergnügens, die dieser schon von Beginn seiner philosophischen Überlegungen an verfolgt und mit ästhetischen Implikationen zu verbinden versucht hat, gehen. Seine Überlegungen erweisen sich hierbei als der Versuch einer Brücke zwischen den beiden Polen rationalistischer und empiristischer67 Theoreme. Aus67
Im gegebenen Rahmen sollen beide Begriffe zunächst unspezifisch verwendet werden: es geht Mendelssohn um die Verbindung zwischen Vernunft und Erfahrung, oder, anders formuliert, die Verbindung von Prämissen einer Leibnizianischen Metaphysik mit empirischen Beobachtungen. Dabei wird der Empirismus jedoch vornehmlich als Ideengeber benutzt, die Mendelssohn in ein rationales System einzupassen versucht. Demgegenüber ist kaum erweisbar, dass er den Grundgedanken des englischen Empirismus v. a. im Aufbau seiner Psychologie und Ästhetik mit der Präferenz der induktiven Analyse gefolgt sei, wie Cassirer 1929, 41 und Zammito 2002, 39 es darstellen (vgl. zur Methode hier Kap. III.1, 261 passim). Dennoch wäre eine Diskussion von Mendelssohns Auseinandersetzung mit den Repräsentanten des Empirismus, wie des Scottish Enlightenment (als ihre Vertreter bspw. Hutcheson, Reid, Smith und Hume) ein lohnenswertes, weiterführendes Untersuchungsgebiet. Siehe dazu auch Kuehn 1987; auf die dortigen Ergebnisse aufbauend ließe sich eine Untersuchung der ästhetischen Theorie Mendelssohns und ihrer Anleihen bei den schottischen Philosophen angliedern. Siehe ebenfalls Heidsiek 1983. Dessen These, dass Lessings Mitleidsbegriff vornehmlich durch Hutcheson (vgl. S. 124–127), wie auch durch Adam Smith (S. 127 ff.) beeinflusst ist, wäre im gegebenen Rahmen hinsichtlich der Frage interessant, ob auch Mendelssohn sich an Smith (dessen Mitleidsbegriff, basierend auf der »Sympathy« als »common bond between people in society« (ebd.), dem seinen ähnlich ist) orientierte. Heidsiek macht darüber keine Angaben; Mendelssohn selbst leider auch nicht. Insgesamt scheint mit sein Begriff der Sympatie zu unspezifisch, um ihn eindeutig einer bestimmten Quelle zuordnen zu können.
II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«
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gangspunkt ist wiederum eine Verortung des Vergnügens und der Sinnlichkeit allgemein im Vollkommenheitsparadigma. Gerade dessen dynamische Ausformung als Vervollkommnung greift an vielen Stellen auf empirische Beobachtungen zurück, die einem rein spekulativen, statischen Vollkommenheitsbegriff entgegenstehen und integriert sie in ein umfassendes Konzept, wobei Mendelssohn sich vor allem auf Leibniz stützt und auch, durchaus kritisch, auf Spinoza zurückgreift. Mendelssohns Geist und Körper umfassende Theorie des Vergnügens wird dabei von wichtigen Erkenntnissen der auch in die Überlegungen anderer Anthropologen einfließenden Theorien über Nerventätigkeit und Physiologie gespeist. Doch ist immer das Bestreben zu bemerken, am Primat des Geistes festzuhalten. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum er sich nicht an die gängigen, eher physiologisch orientierten Überlegungen zur Möglichkeit der gegenseitigen Einflussnahme von Geist und Materie anschließt, sondern sich vielmehr, hierin Platner ähnlich, auf die Folgen der Miteinbeziehung körperlicher Bedürfnisse in die Vervollkommnungslehre konzentriert.68 Die Ausformulierung der Theorie der vermischten Empfindungen zwischen den 1750er und 1770er Jahren ruht dabei, so meine These, auch auf der Ausformulierung seines Menschenbildes auf. Die Explizierung der entscheidenden Erweiterungen in dieser Hinsicht finden sich auffälliger Weise erst 1771, wobei hier gezeigt werden soll, dass auch die 1760er Jahre bereits Anklänge an diese Ausformulierung bieten, die auf Mendelssohns differenzierte Sicht auf den Menschen hindeuten. Man ist geneigt, einen Großteil von Mendelssohns Veröffentlichung zwischen 1755 und 1771 als ›ästhetische Schriften‹ zu bezeichnen.69 Doch damit wird ein wichtiger Sachverhalt vereinfacht, da die Etikettierung dazu verführt, ihre inhärente Themenvielfalt zu übergehen. Generell ist dies für die ›Ästhetik‹ dieser Zeit charakteristisch. Sie entstand aus dem Ungenügen an der empirischen Psychologie und damit »an der Peripherie der Erkenntnislehre« (Adler 1992, 1), um das Bild vom ›ganzen Menschen‹ zu erweitern und zugleich zu festigen.70 Als ein Teil der Psychologie, Erkenntnislehre oder der Metaphysik zielte sie damit nicht zuerst auf eine Philosophie der Kunst ab, sondern sollte die theoretische Erfassung des gesamten menschlichen Vorstellungsvermögens leisten; sie war damit als eine ›Ergänzungswissenschaft‹ zur Logik konzipiert, sollte aber nicht diese nur begleiten, sondern ihr gleichberech68
Dürbeck 1998, 54 spricht in diesem Sinne von einem an Shaftesbury und Joseph Addison angelehnten »dialogischen« Verhältnis der oberen und unteren Erkenntnisvermögen. 69 So auch die Edition Pollok 2006, die der Übersichtlichkeit halber eine Reihe von Schriften unter diesem Titel versammelt. 70 Dazu auch Wellbery 1984, 46 f. und 52 f. Das Paradigma des ästhetischen Repräsentationalism erfasst demgemäß den Menschen zum einen als ein rational wie sinnlich bestimmtes Subjekt und weist zugleich auf seine Partizipation in der Klasse der Humanität hin. Standard der ästhetischen Beurteilung ist damit der Mensch, in seiner partikularen wie universellen Bestimmtheit.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
tigt zur Seite gestellt werden. Laut Baumgartens Programm der Aesthetica (1750/58) sollte dies eine Philosophie der dunklen oder sinnlichen Erkenntnis sein, wobei die Rolle der dunklen Empfindungen sich von derjenigen der sinnlichen (klaren und verworrenen) Erkenntnis unterschied. Chronologisch betrachtet, bilden erstere den Subtext der ästhetischen und psychologischen Überlegungen bei kritisch an Wolff anschließenden Philosophen wie Sulzer und Mendelssohn, während die ›Karriere‹ der sinnlichen, also klaren und verworrenen Vorstellungen bereits mit der breiten Aufnahme von Leibniz’ diesbezüglichen Explizierungen beginnt. Um den Menschen erkenntnistheoretisch wie psychologisch zu erfassen und damit seiner Besonderheiten gerecht zu werden (ob dies nun als Vorstufe zur vollständigen Welterkenntnis oder als Selbstzweck gedacht wurde), war man – und das wurde im Verlauf der Herausbildung der Ästhetik als einer Wissenschaft immer deutlicher – in weiten Teilen auf die dunklen Regionen der Seele als ein Deutungsmoment angewiesen. Eine sich nur den klaren und deutlichen Vorstellungen zuwendende Philosophie konnte keine ausreichende Erklärung dieser Bereiche bieten. Eine Verabsolutierung des ›Dunklen‹ erschien freilich ebenfalls kontraproduktiv, sondern gerade eine Einordnung und theoretische Durchdringung der unteren Stufen bzw. Grade menschlicher Erkenntnis und damit auch des menschlichen Weltbezugs sollte eine Wissenschaft der unteren Vermögen, eine Gnoseologia inferior leisten, die sich erst im Laufe der Zeit, im Verbund mit Rhetorik und Poetik, zu einer Disziplin der Kunstphilosophie wandelte (vgl. Adler 1990, IX). In der Bewertung der Sinnlichkeit liegt auch die Art und Weise ihrer entsprechenden Ausdeutung für psychologische, erkenntnistheoretische wie auch genuin kunstphilosophische Theorien: »Die Leistung der Sinne hat in ihrer Anerkennungsgeschichte den Weg vom Störfaktor über den des Problems bis hin zu einem der konstitutiven Elemente des Humanitätskonzepts durchlaufen.«71 Mendelssohn steht am Anfang dieser Entwicklung, doch die Idee der Sinnlichkeit als ein konstitutives Moment menschlicher Bestimmung ist ihm, mit Spinoza, durchaus bewusst.72 Seine Überlegungen zur Theorie des Vergnügens und den Mechanismen menschlicher Welterfassung laufen so nicht zwangsläufig und allein auf eine tatsächlich eigenständige Kunstphilosophie hinaus, wie dies Herder im
71
Adler 1992, 1 (Hervorhebung A.P.). Adlers grundsätzlicher Ansatz, Herders Philosophie unter einem meiner Fragestellung ähnlichen Blickwinkel zu betrachten erscheint mir sehr stringent. Auch bei Herder sind – allerdings unter anderen Gewichtungen – Gnoseologie, Ästhetik und Geschichtsphilosophie in einer eng miteinander verzahnten Betrachtung des Menschen und seiner spezifischen Welterfassung verbunden; vgl. Kap. V.2. 72 Auch Wolff geht mit der Betonung der sinnlichen Erkenntnis als Initiierungsmoment von Erkenntnis überhaupt in diese Richtung, was für die Beeinflussung Wolffs durch den Empirismus Lockescher Provenienz spricht. »[…] die Leistung Wolffs besteht in dieser Hinsicht darin, den Ort der Sinne durch systematische Betrachung zum Gegenstand differenzierter philosophischer Behandlung gemacht zu haben.« (Adler 1992, 20)
II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«
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als Titelmotto gewählten Zitat feststellt. Im Gegenteil, erscheinen doch gerade seine kunsttheoretischen Überlegungen als eher traditionell und sind, für sich betrachtet, nicht immer überzeugend. Ich schließe mich auch aus diesem Grund der von Wellbery und Goetschel vertretenen Skepsis an, ob Mendelssohn in seiner »Kunsttheorie« tatsächlich eine reine Ästhetik begründen wollte und ob dieses Theorem darüber hinaus durch den ›modernen‹ Zug der Ersetzung ›objektiver‹ durch ›subjektiver‹ Kategorien gekennzeichnet sei.73 Weitaus relevanter sind seine diesbezüglichen Arbeiten für die Klärung der Frage, wie sich die menschliche Sinnlichkeit und das menschliche Vergnügen zur menschlichen Bestimmung, der Vervollkommnung verhalten; objektive wie subjektive Aspekte spielen in diesem Unternehmen nahezu zwangsläufig zusammen, um ein umfassendes Bild des Menschen und seines sinnlichen Weltverständnisses zu zeichnen. Relevant ist für einen Nachvollzug dieser Entwicklung in Mendelssohns Oeuvre zum ersten seine Theorie des Vergnügens und ihre psychologischen wie moralischen Implikationen, die hier im ersten Abschnitt behandelt werden sollen. Zum zweiten führt Mendelssohn diesen Themenkomplex eng mit der Frage nach einer angemessenen Reformulierung menschlichen Vergnügens auch an moralisch unzureichenden Gegenständen, was die Entwicklung der Theorie der vermischten Empfindungen initiiert (Abschnitt zwei). Mit einem Schwerpunkt auf der Ästhetik als Kunstphilosophie ist sodann zum einen die Frage nach der Spezifität der ästhetischen Wahrnehmung (Illusionstheorie) und einer Theorie des Künstlers als einem »second maker under jove« (Genie, Erhabenes) von Bedeutung. Diesen Aspekten, als der tatsächlichen Kunstphilosophie Mendelssohns, im Kontext seiner Anthropologie gelesen, wende ich mich im Teilkapitel II.3 zu.
1. Mendelssohns Theorie des Vergnügens Vorläufer und Quellen Mendelssohns Theorie des Vergnügens, die meiner Ansicht nach eng mit seiner Konzeption menschlicher Bestimmung (in beiden Bedeutungen) zusammenhängt, ist nicht eine bloß psychologische Überlegung, sondern verbindet ethische, psychologische und metaphysische Aspekte. Damit steht Mendelssohn durchaus nicht allein. Der wichtigste Vorläufer dieser Verbindung ist ohne Zweifel Leibniz, der das Modell der unterschiedlichen Vorstellungsgrade und ihres Zusammenhangs mit der
73
Vgl. Wellbery 1984, 49, Goetschel 2004, 112 ff.
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Erkenntnis in den Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684) entwickelt74, welches in der Folgezeit, mit jeweils spezifischen Abwandlungen, von Wolff 75 sowie Baumgarten tradiert worden ist. Desweiteren ist Spinozas Affektenlehre der Ethica (1677) von einigem (subkutanen) Einfluss.76 Es ist anzumerken, dass Leibniz die in den Meditationes vorgenommene Differenzierung der Erkenntnismodi durchaus nicht schlicht von Descartes übernahm, sondern sich von dessen diskontinuierlichen Modell kategorialer Unterschiede zwischen den einzelnen Stufen abwandte und für eine Abstufung, also ein kontinuierliches Modell argumentierte. Damit wertete er die Rolle der dunklen, sowie der klaren und verworrenen Vorstellungen auf. Wolff wird zumindest diese Aufwertung der dunklen Vorstellungen etwas zurücknehmen: sie sind ihm zufolge ein Defekt. »Ex adverso obscuritas atque defectus perceptionum est id, quod Tenebrarum nomine in anima venit.« (Psychologia Empirica, § 36, vgl. Deutsche Logik, 1. Cap., § 12) Mendelssohn folgt wiederum Baumgarten und Sulzer in der erneuten Zuwendung zu diesem Themenkomplex und verbindet ihn auf innovative Weise mit (auch) spinozistischen Überlegungen. Baumgarten hatte dafür mit seinem Werk (seinen Meditationes (1735), dem Abschnitt »empirische Psychologie« der Metaphysica (1739)
74
Vgl. desweiteren Discours de métaphysique, 24; Monadologie, §§ 13–28; Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, §§ 4 f.) Zur wichtigen Rolle der Meditationes siehe auch Adler 1992, 3 m.w.Vw. Dass Mendelssohn Leibniz’ Konzeption der dunklen Vorstellungen spätestens 1759 zur Kenntnis genommen hatte, legt der 34. LB: 19. April 1759 nahe: »Vielleicht hat der Tadler Leibnitzens [gemeint ist Glissonius] die dunkeln Vorstellungen, die dieser Weltweise den einfachen und wahren Substanzen beylegt, für das Leben der Materie genommen.« (JubA V/1, 44) 75 Vgl. bspw. Wolff: Deutsche Logik, § 9 ff. und Psychologia Empirica, § 31 ff. Laut dem Vorwort Arndts in der Deutschen Logik hat gerade die letztgenannte leibnizsche Schrift einen starken Eindruck in Wolffs Werk hinterlassen (vgl. ebd., 19). 76 Vgl. Goldenbaum 2002 und Goetschel 2004, 54–52 und 85–118. Goetschel hebt in seiner umfassenden Untersuchung zur Rezeption Spinozas bei Mendelssohn, Lessing und Heine darauf ab, dass gerade die Aspekte, die Mendelssohn scheinbar nicht von Leibniz und Wolff übernahm, sondern denen er eine eigene Wendung gab, spinozistisch gelesen werden können. Namentlich die Theorie der Affekte und ihrer internen Dynamik sowie deren Wirkung auf die Vernunft sei hier zu betonen, wobei Goetschel durchaus nicht beansprucht, dass diese Rezeption tatsächlich bewusst geschehen sein muss, sondern sich auch über die von beiden geteilte Perspektive – zum einen als Juden angesichts der christlich geprägten europäischen Geistesgeschichte, zum anderen in ihrem Interesse auf eine umfassende Philosophie des Menschen – erklärbar ist (vgl. ebd., 910 f.). Das größte Problem einer spinozistischen Lesart ist, m.E. ihr naturalistischer Einschlag (vgl. ebd., 46), der sich nur schwerlich mit Mendelssohns Position zur Deckung bringen lässt. Auch die von Goetschel konstatierte Statik im Leibnizianischen Modell (z. B. ebd., 95) sehe ich so nicht. Es steht zu vermuten, dass ein »geläuterter Spinozism«, wie ihn Mendelssohn für Lessing im Streit mit Jacobi postuliert, seiner eigenen Ansicht weitaus näher kommt und damit wiederum Spinoza seine Stacheln nimmt – und in eine durchaus Leibnizianische Lesart zurückführt.
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und nicht zuletzt seiner Aesthetica (1750/58)) für eine Verwissenschaftlichung des »fundus animae« (Metaphysica, §511) bzw. der gegenseitigen Durchdringung und Beeinflussung des »Reichs des Lichts« und dem der »Finsternis« (Metaphysica, § 522) den Grundstein gelegt. Sulzer forderte in der zweiten Auflage seines Kurzen Begriffs aller Wißenschaften (1759), § 206, das Instrumentarium der Psychologie durch die Berücksichtigung der dunklen Empfindungen wieder zu verfeinern. Beide gehen damit implizit hinter die Wolffsche Psychologie zurück, der die dunklen Bereiche der Seele Ausgangspunkt und Abgrenzungsmoment, nicht Gegenstand sind (vgl. Adler 1992, 16 f., 24 ff., 41). Schließlich hatte auch Spinoza in der Ethica den Parallelism von Körper und Geist zugunsten eines psychosomatischen, umfassenden Ansatzes der menschlichen Natur, betrachtbar aus zwei Perspektiven, aber in sich eins und auf Selbstverwirklichung durch angemessene Kraftäußerung angelegt, zurückgewiesen (vgl. ebd. Buch 3, Prop. 2). Leibniz’ Aufsatz erscheint angelegt als ein Klärungsversuch oder eine abschließende Bestimmung dessen, was »Vorstellungen«, »Ideen«, »Repräsentationen«, allesamt »denkbar weit gefasste gnoseologische Termini«77, überhaupt sind. Wichtig ist, dass er diese Begriffe als grundlegend metaphysisch und damit in Abgrenzung zu einer empiristischen oder sensualistischen Auffassung verwendet, indem er letztlich Vorstellungen nicht als ›Eindrücke‹ äußerer Einflüsse, sondern als Operationen oder Aktivitäten der Seele selbst formuliert. »Der Psychologie der ›Sensation‹ tritt jetzt eine reine Funktionspsychologie gegenüber.«78 Dies zeigt sich ebenfalls in den darauf folgenden Positionen. Nach Baumgartens Definition in Metaphysica § 506 ff. ist eine Vorstellung »der Inbegriff dessen […], was die Seele gemäß der Stellung des Körpers an weltbezogenen Bewusstseinsinhalten aufweist« (Paetzold 1983, IX ). Ähnlich bezeichnet sie auch Wolff: eine perceptio ist der »actus mentis, quo obiectum quod-
77
Paetzold 1983, IX; dort im Singular gebraucht; vgl. auch zur ebenfalls weitgefassten Verwendungsweise bei Wolff Dürbeck 1998, 37. Es sei hier betont, dass Kants Unterscheidung dieser Begriffe in einer »Stufenleiter« (zur Bestimmung der »Idee«) in der KrV (A 320/B 376 f.) mit dieser Rangfolge nicht übereinstimmt. In Kants Einteilung kommt sein Diskontinuitätsargument, dass er gegen Leibniz und Wolff vorbringt, zur Geltung, so dass bspw. die Aufklärung einer »Empfindung (sensatio)« niemals über deren Selbstbezug als Modifikation meines Zustands auf eine »Erkenntnis (cognitio)« als »objektive Perzeption« hinausgehen kann. Sich diesen kategorialen Unterschied zwischen Kants und Mendelssohns Philosophie gewärtig zu bleiben ist auch deswegen unerlässlich, weil er vor einer Uminterpretation lediglich äquivok verwendeter Begriffe schützt. 78 Cassirer 1932, 161. In der Vorstellungskraft sind diese Phänomene als ihre jeweils besondere Operation gekennzeichnet: »Wenn der Geist sich zum Spiegel der Wirklichkeit macht, so ist und bleibt er hierbei ein lebendiger Spiegel des Universums; ein Inbegriff nicht von bloßen Bildern, sondern ein Ganzes von bildenden Kräften. Diese Kräfte aufzuweisen, sie in ihrer spezifischen Struktur kenntlich zu machen und ihr Ineinandergreifen zu verstehen: das wird fortan die eigentliche Grundaufgabe der Psychologie und Erkenntnislehre.« (ebd., 166)
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cunque sibi repraesentat« (Psychologia Empirica, § 24). Sie ist damit das Resultat der Tätigkeit des Repräsentierens und grundlegend dynamischer Natur.79 Wolffs wie Baumgartens Begriffsgebrauch lässt sich unter Rückgriff auf den erwähnten Aufsatz von Leibniz besser konturieren. Dessen ›dynamische Bewusstseinstheorie‹ unterschied die Grade der Bewusstheit nach der Klarheit ihrer Inhalte, was sich auf ihre Gesamtheit sowie auf die sie konstituierenden Merkmale bezieht. In den Meditationes benennt Leibniz darüber hinaus auch die Aspekte der zeitlichen wie qualitativen Erfassungsmöglichkeit von Vorstellungen und stellt so ein nicht nur analytisches Vokabular, sondern auch ein auf die Gegebenheiten menschlicher Vorstellungsmöglichkeiten zentriertes Modell bereit. Bestimmendes Moment der erstgenannten Einteilung ist die Wiedererkennbarkeit einer Vorstellung (vgl. Baumgarten, Meditationes, § 13): wenn sie nur dunkel ist, lassen sich keine Einzelheiten ausmachen. Dementsprechend ist die Vorstellung kaum von anderen abgrenzbar, da sie dazu einige spezifische Merkmale als Unterscheidungskriterium aufweisen müsste. Eine klare Vorstellung hingegen ermöglicht es, eine vorgestellte Sache anhand der sie bestimmenden Merkmale zu identifizieren. Allerdings können Teilbereiche der Vorstellung noch verworren sein. Eine klare und verworrene Vorstellung ist also klar in Bezug auf das Ganze, verworren in ihren Teilen. Die höchste Stufe, die klare und deutliche Vorstellung bzw. Erkenntnis, ist gegeben, wenn die dem Gegenstand zugeschriebenen Merkmale sich in der Betrachtung vollständig zergliedern lassen.80 In diesem für den Menschen seltenen Fall, so betont es Leibniz81, werden die Vorstellung als Ganzes mit den konstituierenden Merkmalen vollständig begrifflich erfasst, sie kann erinnert, mitgeteilt und vollständig definiert werden. Desweiteren kann eine Vorstellung, insbesondere wenn sie in sich komplex ist, adäquat bzw. inadäquat sein. Eine klare und deutliche Erkenntnis ist dann inadäquat, wenn die Konstellation der sie konstituierenden Merkmale zueinander lediglich verworren erkannt und also die bestimmenden Merkmale lediglich aufgezählt 79
Die ›Übersetzung‹ von Vorstellung in Empfindung bzw. Erkenntnis wird in Abhängigkeit mit ihrer qualitativen Bestimmung nach dem hier angegebenen Schema erfolgen. 80 Siehe dazu auch Adler 1992, 3 ff.: In den Meditationes verdeutlicht Leibniz dieses Verhältnis über die Erkenntnis zusammengesetzter Gegenstände. Diese lassen sich bis auf die Ebene der Elemente (auch Merkmale oder »nota«) zergliedern. Die Möglichkeit dieser Zergliederung und des erinnernden Wieder-Zusammensetzens beschreiben dementsprechend den jeweiligen Erkenntnismodus. Es wäre allerdings anzumerken, dass die Dynamik sich bei Wolff als eine rein »aufwärts« ausgerichtete versteht – im Gegensatz zu Spinoza, Leibniz, Sulzer und Mendelssohn hielt Wolff wenig von einer Wechselbeziehung zwischen klaren und deutlichen, wie verworrenen oder gar dunklen Vorstellungen. 81 Leibniz, Meditationes, 13; siehe auch Wolff, Psychologia Empirica, § 315, Deutsche Metaphysik, § 285. Zu Leibniz vgl. Adler 1992, 5 ff. Bei Proß 1987, 874 findet sich eine übersichtliche Graphik zum Verhältnis der Vorstellungsarten.
II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«
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werden können (vgl. Meditationes, 10 f.). Eine durchgängige Bestimmung der Merkmale – nicht hinsichtlich ihrer Beschaffenheit, sondern ihrer Beziehung zueinander – ist dann nicht möglich. Über eine bloße Nominaldefinition (als Aufzählung von Merkmalen) hinaus lässt sich über die Realität eines inadäquat erkannten Gegenstandes keine gültige Aussage treffen. Der Idealfall einer adäquaten Erkenntnis ist dabei zumeist der göttlichen Perspektive vorbehalten. Je nach Grad der Inadäquatheit allerdings lässt sich auch von zureichender menschlicher Erkenntnis sprechen, wenn nämlich diejenigen Teile, die einen Schluss auf Widerspruchsfreiheit und interne Verträglichkeit der Merkmale zulassen, hinlänglich deutlich sind. Menschliche Vorstellungen sind damit zumeist hinreichend adäquat, dringen aber nicht bis ins letzte Detail in die Komplexität des Vorstellungsinhalts ein. Die vollständige klare und deutliche Erkenntnis ist für den Menschen nicht nur deshalb schwer erreichbar, weil sein Erkenntnisapparat eingeschränkt aufnahmefähig, sein Gedächtnis nicht göttlich-unendlich ist, sondern auch, da seine Erkenntnis generell perspektivisch gemäß seiner individuellen Stellung in der Welt organisiert ist – ein Aspekt, den auch Baumgarten in der Metaphysica (§ 512) betont. Es sind aber ›Umwege‹ denkbar, die eine Welterfassung auf indirektem Wege ermöglichen. In diesem Sinne differenziert Leibniz zwischen »symbolischen« und »intuitiven« Vorstellungen, wobei die erstgenannte die menschliche Gedächtnisleistung berücksichtigt. Intuitiv und adäquat ist das klare und deutliche Erfassen einer komplexen Vorstellung mit einem Mal (vgl. Leibniz, Meditationes, 11). Dadurch, dass dabei die Analyse entfällt, ist dieser Vorstellungsmodus außerordentlich leicht – aber nach menschlichen Maßstäben so gut wie unmöglich. Der Mensch muss sich entweder mit der cognitio primitiva, dem Äquivalent auf der niedrigeren Stufe der Erkenntnis des Einfachen, zufriedengeben, was Mendelssohn als ein »sinnliches Vergnügen« reformulieren wird, oder aber über den ›Umweg‹ der symbolischen Erkenntnis. In ihr werden Zeichen verwendet, »Worte, deren Sinn mir zum mindesten dunkel und ungenau gegenwärtig ist, für die Ideen selbst, da ich mich entsinne, daß ich ihre Bedeutung kenne, ihre Erklärung aber jetzt nicht für nötig halte.« (Leibniz, Meditationes, 11) Damit bleiben in der Vorstellung selbst zwar einige Aspekte unanalysiert, werden aber als potentiell auflösbar angenommen.82 Alle Merkmale und konstituierenden Beziehungen der Merkmale untereinander in einer komplexen Vorstellung gegenwärtig zu haben würde menschliche Erkenntnisfähigkeit überlasten; der Symbolgebrauch erleichtert dies, obgleich er eine wirklich intuitiv adäquate Erkenntnis damit auf die virtuelle Ebene verschiebt.
82
Vgl. Leibniz, Meditationes, 11. Adler (1992, 7) zufolge könne man deshalb »die symbolische Erkenntnis als pragmatische oder als anthropologisch bedingte Abbreviatur der adäquaten Erkenntnis auffassen.«
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Den Eigenwert einer verworrenen Erkenntnis betonend, fügt Baumgarten dieser Theorie einen weiteren Aspekt hinzu, indem er zwischen extensiver und intensiver Klarheit differenziert.83 Ihm zufolge ist die Empfindungsqualität der verworrenen Vorstellungen die eigentlich »poetische« (vgl. Baumgarten, Meditationes 84 § 14). Intensiv klare Vorstellungen sind solche, bei denen die einzelnen Bestandteile analytisch aufgeklärt und damit immer differenzierter vor Augen geführt werden. Extensiv klar dahingegen sind solche, bei der die Qualität der Verworrenheit nicht aufgehoben wird – in diesem Sinne sind es unhintergehbar sinnliche Vorstellungen –, aber mehrere (ebenfalls verworren erkennbare) Merkmale in dieser Vorstellung enthalten sind; die Nähe zur symbolischen Vorstellung nach Leibniz ist offenkundig, legt aber einen Schwerpunkt auf die Fülle (ubertas, siehe Metaphysica, § 515; dazu Schweizer 1983, XIII f.). Um sich der extensiven Klarheit bewusst zu sein, muss lediglich eine gewisse Klarheit – bezüglich des Bewusstseins, dass mehr Merkmale wahrgenommen werden, wie auch immer sie realiter (das heißt, in einer klaren und deutlichen Vorstellung) bestimmt seien – gegeben sein. Das heißt, die Vorstellung ist nicht qualitativ deutlicher, sondern es werden verworren quantitativ mehr Eigenschaften wahrgenommen. Eine extensiv klare Vorstellung ist nach Baumgartens Verständnis reichhaltig, bzw. lebhaft (vgl. Meditationes §§ 17, 20, Metaphysica, § 515). Ihr ästhetischer Wert ist darüber hinaus irreduzibel. So könne zwar der Beschreibungskatalog der griechischen Schiffe in Homers Illias auf die Bezeichnung »Flotte« verkürzt werden; er würde dann aber der sensitiven Erkenntnis entzogen, wie auch das Grün nicht mehr vorhanden ist, wenn man es auf seine klar und deutlich erkennbaren Bestandteile Gelb und Blau reduziert.85 Auch aus diesem Grund wird eine deutlichere, aber weniger lebhafte Vorstellung, die Abstraktion, als ein »Verlust« bezeichnet (Aesthetica, § 560.). Die Unhintergehbarkeit der solcherart reichen sinnlichen Erkenntnis begründet darüber hinaus die von Baeumler (1975, 212) so benannte »Logik des Individuellen«: 83
Vgl. Meditationes, § 16, Metaphysica § 531, sowie Paetzold 1983, 13 ff. Dürbeck (1998, 185 f.) weist auf die Aufnahme dieser Bestimmung auch in Meiers Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744, § 40) hin. Mendelssohn jedoch nahm Meier v. a. als ›Übersetzer‹ der Baumgartenschen Aesthetica (mit dessen Anfangsgründen), weniger als eigenständigen Philosophen wahr; vgl. Pollok 2006, 300 f. m.w.Vw. 84 Die angemessene Übersetzung des Titels von Baumgartens Dissertationsschrift Meditationes philosophicae de nonnullis ad Poema pertinentibus (Halle 1735)s gibt Adler 1992, 27 unter Rückgriff auf Baumgartens eigene Übersetzung in seiner Antrittsvorlesung (Alexander Gottlieb Baumgartens, Ordentl. Lehrers der Philosophe zu Frankfurth, Gedancken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien, Wonebst er zu seiner Antrits-Rede und ersten Frankfurthischen Lese-Stunden eingeladen. [zuerst 1740] Zweyte vermehrte Auflage. Halle 1741, 19) mit: Philosophische Gedanken von einigen zum Gedicht gehörigen Stücken an. 85 Vgl. Meditationes, § 19, scholium in Anlehnung an Leibniz’ Meditationes, 15: »So nehmen wir bei einer Mischung von Teilchen des Gelben und Blauen die grüne Farbe wahr: und obwohl wir dabei nur Gelb und Blau in innigster Vermischung empfinden, bemerken wir dies nicht und denken uns irgendeine neue Wesenheit aus.«
II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«
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die Ästhetik achtet auf die Fülle von Merkmalen, die eine bestimmte Vorstellung ausmachen, nicht ihr abstraktes »Wesen«. »Logik und Ästhetik verfahren gegenläufig in dem Sinne, daß die Logik von dem Individuum abstrahierend zur Spezies usw., die Ästhetik konkretisierend, das heißt nach Baumgarten ›in mehrerer Bestimmung betrachtet‹ [Metaphysica, § 149, Anmerkung] zum Individuum tendiert.« (Adler 1992, 44) Alle diese Vorstellungsarten orientieren sich am Begriff der Vollkommenheit. So vereinigt z. B. »eine extensiv klare Vorstellung […] in sich das Moment des Vielen (Fülle der Merkmale) und zugleich das Moment der Einheit (Identifizierbarkeit der Gesamtvorstellung)« (Paetzold 1983, XX) und ermöglicht damit, Vollkommenheit auch in einem gnoseologisch inferioren Bereich zu erreichen. Immer, dies ist im Hinblick auf Mendelssohns Aufnahme dieser Überlegungen wichtig, wird mit dieser Differenzierung eine jeweils individuell nach Graden bzw. Perspektive bestimmte Vollkommenheit in den Blick genommen. Der Grad an Deutlichkeit der Vorstellungen unterscheidet sich Leibniz’ Ansicht zufolge durch die Perspektive, die die betreffende Monade einnimmt. Empfindungsqualität ist damit nicht zuletzt eine Frage des Standpunkts. Und sie ist Kennzeichen einer unhintergehbaren Individualität. Der Lehre von den Graden der Vorstellungen ist darüber hinaus eng verbunden mit ihrer Beziehung zu den (im weitesten Sinne) Affekten des Vorstellenden sowie der damit verknüpften Wirkung auf dessen Willen. Jede Vorstellung ist mit dem appetitus der vorstellenden Instanz verknüpft – sie wirkt auf das Begehrungsvermögen und führt zum Übergang zu weiteren Vorstellungen, das mit einem Gefühl der Erfüllung, oder auch: des Vergnügens verbunden ist. Letztlich äußert sich darin die den Seelen innewohnende Kraft: diese Bewegung ist ihr Leben. Dabei sind die enge Verknüpfung von Erkenntnis und Vergnügen und die erst auf das Urteil über den Gegenstand, bzw. dessen Güte folgende Hinwendung zu ihm von Bedeutung. Diese Abfolge entnimmt Baumgarten wie Mendelssohn der Wolffschen Philosophie, »derzufolge die menschlichen Begehrungen stets ein gnoseologisches Implikat enthalten. Allen Willensstrebungen muss eine kognitive Leistung vorangehen, welche dem Willen vorstellt, auf was er aus ist (vgl. Wolff, Psychologia Empirica, § 509: »…ex cognitione nascitur primum voluptas, inde porro judicium de bonitate objecti, ac hinc demum resultat appetitus…«.)«.86 Man kann dies auch so formulieren: jedes »gnoseologische Implikat« ist mit einem emotionalen Element verknüpft. Eine Seele in Tätigkeit erfüllt ihr Wesen, erhöht ihre Vollkommenheit und ist darüber ›vergnügt‹. Erst dies disponiert sie überhaupt dazu, zur Herausbildung des Willens ein86
Cognitio benennt Wolff hier ausdrücklich als das »fundamentum totius philosophiae moralis« (ebd.). Siehe zum engeren Zusammenhang zwischen Vervollkommnung und Glückseligkeit v. a. Wolffs Deutsche Ethik (1720), §§ 40–47 und Philosophia practica universalis, methodo scientifica pertractata (1738), Bd. 1, § 374, Bd. 2. , § 28.
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schlägige Urteile zu fällen und diese mit einem entsprechenden Gefühl verbunden zu erleben. Bei Spinoza wird die »Freude« an einer Erkenntnis darüber hinaus nicht allein mit dem Willen, sondern mit den Affekten generell verknüpft (vgl. Ethica Buch 5, Prop 3 und Prop 4 Schol). Auf all dies, in einer spezifischen Gemengelage, hat Mendelssohn deutlich zurückgegriffen. Bezüglich der Verbindung zwischen Vergnügen, Lust und Vollkommenheit hat Schwaiger auf die Bedeutung des Briefwechsels zwischen Leibniz und Wolff hingewiesen, in dem der Begriff des Vergnügens modifiziert wird. Eine erste Definition der »Lust« lautete bei Wolff noch schlicht: »angenehme Empfindung«, was ihm die Kritik von Leibniz einbrachte87, dem diese Wolffsche Bestimmung nichtssagend schien. Ein endliches Wesen, so Leibniz, könne in der Welt gar nicht letztgültig glücklich werden, sondern es könne sich höchstens in der fortschreitenden Vervollkommnung bzw. Entfaltung seiner Kräfte glücklicher machen. »In der Sache weiter führt erst die Einsicht, dass jedem Lustgefühl bewusst oder unbewusst die ›Empfindung einer Vollkommenheit‹ (sensus perfectionis) zugrunde liegen muss.« (Schwaiger 2000, 64) Leibniz betont also den internen Zusammenhang von Lust und Vollkommenheit und impliziert damit eine dynamische Komponente. »Diese These vom inneren Zusammenhang zwischen der Entfaltung eigener Talente und der Erlangung echten Glücks macht sich fortan auch Wolff zu Eigen. Das höchste Gut oder die Seligkeit des Menschen bestehe in einem unablässigen Fortgang zu täglich größeren Vollkommenheiten. Erfülltes Dasein ist auf Dauer nicht in einem müßigen Sich-gehen-Lassen oder in passivem Konsum zu finden, sondern in der Anspannung der eigenen Kräfte und im Hinauswachsen über sich selbst.«88 Der Tätigkeitsaspekt wird, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche, auch in Mendelssohns Theorie des Vergnügens eine entscheidende Rolle spielen. In der Psychologia empirica erfolgt bei Wolff schließlich eine »stärker visuell-kognitiv gefasste Definition«89 mit Rückgriff auf Descartes: »Voluptas est intuitus, seu cognitio intuitiva perfectionis cujuscunque verae, sive apparentis.«90 Die Betonung der Visualität ist jedoch nicht für alle Phänomene des Wohlgefallens einschlägig,
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Vgl. Schwaiger 2000, 62 f. Wolff hält 1703 in der Dissertation Philosophia practica universalis, methodo mathematica conscripta (1703), Prop. 12, Cor. 4 in Anlehnung an Descartes das glückliche Leben als einen stillen Zustand, dessen höchstes Ziel die Verherrlichung Gottes ist. 88 Schwaiger 2000, 65 f. mit Verweis auf Leibniz’ Brief an Wolff, 21.2.1705 und dessen Brief an Leibniz vom 15.10.1705; siehe dazu Briefwechsel zwischen Leibniz und Christian Wolff. Aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover. Hg von C.I. Gerhardt. Halle 1860. Reprint: Hildesheim 1971. 89 Schwaiger 2000, 64. Siehe aber auch Deutsche Metaphysik § 827. 90 Lust ist »das Anschauen oder die anschauende Erkenntis irgendeiner Vollkommenheit, mag dies eine wahre oder bloß vermeinte sein« (Psychologia empirica,§ 511, Übers. nach Schwaiger)
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noch kann sie die Bandbreite menschlicher Affektivität befriedigend erklären. Denn damit auch der Genuss den Menschen als ein Vernunftwesen ausweist, muss vorausgesetzt werden, dass der Genießende überzeugt von der wahrgenommenen Vollkommenheit ist. Was hier nicht ins Gewicht fällt sind diejenigen ästhetisch genießbaren Gegenstände, die diese Überzeugung in Reinform gar nicht mehr zulassen, sowie andere Formen sinnlicher Lust, die andere Sinne beanspruchen als den des Gesichts. Jedoch blieb vorerst der Einfluss dieser Sichtweise bestimmend: »Wolff’s conception of pleasure as the sensory cognition of objective perfection completely dominated aesthetic theory in Germany for the next fifty or more years. Some writers looked for criteria to demarcate the aesthetic from other conceptions of goodness or to add special character to it, but none detached it from this general theory of value or subscribed to Hutcheson’s conception of disinterestedness, even though his views were well known in Germany.«91 Auch Mendelssohn schließt sich eher an Wolff und dessen ›Nachfolger‹, als an Hutchesons Theorie eines Gefühls für die Schönheit an, da ihm in letzterer Theorie die Anbindung an ein umfassendes Bild zu fehlen scheint.92 Einen neuen Sinn zu entwerfen (wie Mendelssohn Hutchesons Ansicht, vielleicht simplifizierend, versteht) sei eine allzu einfache Lösung. Anspruchsvoller – und zutreffender – erschien es ihm, den Schönheitssinn aus einem ganzheitlichen Menschenbild heraus zu erklären, ohne dabei den volitiven und leidenschaftsaffinen Elementen die Oberhand zukommen zu lassen. In dieser Hinsicht geht Mendelssohn vielmehr in eine ähnliche Richtung wie Sulzer, an dessen Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen er sich kritisch anschließt. In einer Rezension benennt er dessen Vorzug gegenüber Wolff: »Wolf hat die Würkungen des Verstandes beym deutlichen Denken und Urtheilen fürtrefflich beschrieben. Wenn man auf eben diese Weise [wie Sulzer dies unternimmt, A.P.] das Betragen der Seele bey der undeutlichen Erkenntnis und bey den schnellen Urtheilen, welche aus der anschauenden Erkenntnis folgen, bey allerley Arten der Fälle genau aus einander setzte, so würde dieser Theil der Philosophie noch sehr erweitert werden.« (LB 61: 11. Oktober 1759, JubA V/1, 92) Mendelssohns eigene Behandlung von Sulzers Theorie in den Briefen über die Empfindungen macht deutlich, dass er bereits 175493/55 diese Ansicht hegte, ohne allein der dunklen, schnellen Empfindung das Wort zu reden. Die Aufgabe war vielmehr, dessen spezifische Rolle und 91
Guyer 1993, 83; vgl. gegen Hutcheson als einen Vorläufer des interesselosen Wohlgefallens Rind 2002, 77–81. 92 Siehe dessen Kritik in den Hauptgrundsätzen (JubA I, 429 f., bereits in der Version von 1757 enthalten). Allerdings ist die Idee, Schönheit als eine vom Subjekt ausgehende Attributierung der Dinge zu verstehen, durchaus mit Mendelssohns Theorie verwandt. 93 Die Skizze Von dem Vergnügen, JubA I, 125–31 ist, wie Altmann 1969, 85–110 überzeugend dargelegt hat, als eine Vorstudie zu den Briefen zu verstehen und reflektiert bereits auf Sulzers Ansichten.
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Wert im Gefüge der Empfindungen zu definieren und damit das an Leibniz anschließende Konzept der Vorstellungsmodi nutzbar zu machen. Dabei ist wiederum zu betonen, dass Mendelssohn die theoretischen Schriften des Letztgenannten zu Beginn seiner philosophischen Laufbahn nur bruchstückhaft im Original kannte. Er zitiert neben der Theodicée lediglich den auf der Monadologie beruhenden Kommentar des Wolffianers Michael Gottlieb Hansch: Godefredi Guilielmi Leibnitii Principiae philosophiaa more geometrico demonstrata: cum excerptis ex epistolis philosophi (1728), nicht die Originalwerke.94 Die Bekanntschaft mit diesen wird sich, wie bereits in Kap. I.1 erwähnt, erst mit der Werkausgabe durch Louis Dutens vertieft haben. Ähnlich wie Sulzer95 ging es Mendelssohn 1755 bereits darum, die Quellen des Vergnügens aufzudecken, unabhängig davon, ob es sich um ein moralisches, intellektuelles oder rein sinnliches Vergnügen handelte, und dennoch im Bereich eines leibnizianisch-wolffischen Rationalismus zu verbleiben. Ausgangspunkt ist nicht eine rationale Theorie der Affektenkontrolle, sondern eine umfassende Sicht auf die Variationsbreite der Vorstellungsmodi und ihrer Bezüge zu den menschlichen Vermögen, kurz: auf die ganze menschliche Natur. Sulzer wird später, in seinen Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen und des Vermögens zu empfinden, befindet (1763)96 in dieser Hinsicht das Verhältnis der Seele zu den Zuständen des Wollens und Erkennens als eine jeweils spezifische Richtung der Aufmerksamkeit der Seele beschreiben: einmal auf Äußeres, einmal auf die eigene Haltung dazu. Einen dritten Zustand, den der »contemplation« (ebd., 236 f.), in dem die ansonsten ewig zwischen diesen zwei Polen geteilte Seele ruhen kann und der also beide Aspekte in sich vereinigt, nennt er am Ende der Schrift, ohne ihn gänzlich konsistent aus dem Vorangegangenen entwickeln zu können; daran scheint Mendelssohn mit seiner Theorie des »Billigungsvermögens« angeknüpft zu haben (siehe dazu Kap. III.3). Die Vorläufertheorie in den Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen von 1751/5297, versucht dagegen noch, die Lust der Seele auf eine deutliche oder nur undeutlich erkannte Lust an Vollkommenheiten zurückzuführen. Demzufolge empfindet der Mensch Vergnügen, wenn »die ursprüngliche Vorstellungskraft zu einer lebhaften Wirksamkeit gereizt« (ebd., 18) 94
Vgl. Altmann 1982, 38 (FN 43): Hanschs Werk »was based on the latin version of the Monadology published in the Acta eruditorum Lipsiensium (Suppl. Vol. III, 1721, Sect. 11, 500– 14).« Mendelssohns Zitat findet sich in Anmerkung l) (1771: r), JubA I, 118. 95 Zu Sulzer siehe die einschlägige Diskussion bei Dürbeck 1998, 197. 96 In: Vermischte philosophische Schriften. Bd. I, 225–43. 97 Wiederabgedruckt (in deutscher Übersetzung) in den Vermischten Philosophischen Schriften, Bd. I, 1–98. Mendelssohn besaß die französische Erstfassung von 1751/52 (siehe Bücherverzeichnis, 83/8 und 273/16).
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wird und dementsprechend Unlust, wenn sich seiner Vorstellungskraft Hindernisse entgegenstellen. Welcher Art dieses Vergnügen ist, bleibt dabei gleichgültig. Alle Vergnügungen der Seele gingen letztlich auf die Vollkommenheit, die hier zu einer eudaimonistischen Glückseligkeitslehre reformuliert wird, und gewährten der Seele leichten, ungehemmten Umgang mit Vorstellungen. Wiederholt betont Sulzer das Bild eines Flusses, der nicht durch Wehre und andere Eingriffe behindert werden dürfe. Diese Ausrichtung auf einen ungehinderten Tätigkeitstrieb der Seele war Mendelssohn zu einseitig. Die Quelle der Empfindungen erfordere eingehendere Differenzierung – es geht also darum, die »Natur des Vergnügens« exakter auszuloten und mit einer Theorie menschlicher Natur und menschlicher Zweckbestimmung zu verbinden.
Mendelssohns Theorie des Vergnügens Bereits mit dem Titel seiner zweiten philosophischen Veröffentlichung, den Briefen über die Empfindungen (1755), kündigt Mendelssohn das Thema an, das ihn bis an sein Lebensende beschäftigen sollte: die Besonderheit und Funktion der vernünftigen und emotionalen Kräfte des Menschen, ihr Zusammenspiel und ihre Operationalisierung. Was sind und wie wirken Empfindungen, und wie verhält sich das Denken dazu? Wie muss der Eindruck eines Gegenstands beschaffen sein, um Vergnügen zu erwecken? Liegt das ›wahre‹ Vergnügen in einer rationalen oder sinnlichen Erkenntnis? Wie lässt sich das intuitiv scheinende Erlebnis des Vergnügens analysieren – und erneut herstellen? Diese Fragen zielen ebenfalls auf die der jeweiligen Empfindung wesentliche Form: nach Descartes wie auch Wolff sei es zum Vergnügen genug, »wenn wir den Gegenstand nur als vollkommen ansehen« (in der Formulierung Mendelssohns, JubA I, 127). Vollkommen sei ein Gegenstand, wenn er ein Mannigfaltiges enthält, das auf einen gemeinsamen Endzweck hin angeordnet ist, also in sich eine Einheit besitzt, auch wenn diese nur verworren wahrgenommen wird. Eine solche Form der inneren Ordnung, so die Theorie, beschäftigt und fördert die Vorstellungskraft des Menschen auf angenehme Weise. In diesem Sinne ist also von einer einfachen Variation einer Kopplung auszugehen: Je klarer und deutlicher eine Vorstellung, desto klarer ist ihre Ordnung und die sie konstituierenden Bestandteile sichtbar, und desto vollkommener ist sie. Vollkommenheiten bereiten der vorstellenden Instanz Vergnügen; ergo ist diejenige Vorstellung am wertvollsten, die Klarheit bietet. Dieses einfache Schema durchbricht schon die differenziertere leibnizianische Einteilung, aber am nachhaltigsten Baumgarten in seiner Dissertation, indem er auch den dunklen und verworrenen, also dem unteren Erkenntnisvermögen zugeordneten Vorstellungen eine eigene Form der Vollkommenheit zuschreibt und damit
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zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Vergnügen und Erkenntnis ein reziprokes Verhältnis annimmt.98 Auch Mendelssohn fragt in dieser Hinsicht nach dem Verhältnis von sinnlicher und rationaler Erkenntnis der Vollkommenheit. Den ersten Versuch einer Beantwortung zeigt der Entwurf Von dem Vergnügen, in dem er seine Kritik derjenigen Positionen formuliert, an die er auch in den Briefen über die Empfindungen anknüpft.99 Demgemäß ist das Vergnügen an einer leicht zu entwickelnden Vorstellung zwar dem Menschen nicht abzusprechen, wie er unter Hinweis auf Descartes, Wolff, Pouilly und dem diese Positionen verbindenden Sulzer festhält (vgl. JubA I, 128: Nr. 5). Jedoch ist dieser angenehme Zustand von demjenigen der »Lust« zu unterscheiden (JubA I, 131: Nr. 18): Denn abgesehen von der Annehmlichkeit einer leichten Vorstellung, die auch den Körper harmonisch bewegt, was wiederum die Seele dunkel wahrnimmt, ist die Lust an einer Vollkommenheit komplexer. Sie setzt neben Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit eine Erkenntnis des Einheitspunkts dieser Vorstellungsbestandteile voraus und ist so mit einer rationalen Vorstellung der Vollkommenheit vereinbar, ja, sie ist letztlich eine menschenspezifische Spielart von ihr. Letztlich will Mendelssohn hier zeigen, dass alle Vergnügungen an bestimmte Formen der Vollkommenheit gebunden sind. Der Ansatz des Entwurfs geht diesbezüglich allerdings kaum über eine grobe Skizze seiner Gedanken hinaus. Er ist aber auch deshalb defizitär, weil Mendelssohn hier seinen wichtigsten Gegner nicht erwähnt: eine Auseinandersetzung mit Dubos’ skandalöser Theorie der bloßen Gemütsbewegung zur Vermeidung von Langeweile, und damit der Negation jeglicher Vollkommenheitsbindung, findet sich hier nicht; Mendelssohn scheint diese Lektüre erst kurz vor der Niederschrift der Briefe als ebenfalls behandelnswert eingestuft zu haben. In den Briefen lässt er die im Entwurf skizzierten Lösungen von den Freunden Euphranor und Palemon (in späteren Fassungen umbenannt in Theokles) diskutieren.100 98
Vgl. Baumgarten, Meditationes, §§ 3, 7, 9; siehe auch Aesthetica, § 14, Metaphysica, § 662: »Perfectio phaenomenon, seu gustui latius dicto observabilis, est PULCRITUDO.« Übers. Paetzold 1983, XIII: »Die vollkommene Erscheinung, sofern sie durch den Geschmack im weiteren Sinne beobachtet werden kann, ist SCHÖNHEIT.« Interessant an Baumgartens Bestimmung des Gedichts im § 9 der Meditationes (»Oratio sensitiva perfecta est POEMA.«) ist darüber hinaus, dass dessen Vollkommenheit sich vor allem in einem anderen telos als dem der Rede manifestiert. Es ist nicht nur eine sinnlich vollkommene Rede, sondern es soll »sensitive Erkenntnisse rein als solche geschehen lassen« (Paetzold 1983, XIV f., XLV). Das heißt, dass es nicht, wie die Rede (als Oratio), letztlich auf eine Form der Lehre oder Überredung (bzw. Überzeugung) zielt, sondern allein auf die sensitive Erkenntnis. Den nexus zum Vergnügen hat Baumgarten dann allerdings nicht so explizit gemacht, wie dies die erwähnten Ästhetiker in seiner Folge unternehmen. 99 Vgl. zur Rolle Spinozas, der ebenfalls ungenannt im Hintergrund von Mendelssohns Theorie stehen könnte, Goetschel 2004, Goldenbaum 2002 und 1997. Die Gemengelage der Positionen, die Mendelssohn kritisch behandelt, wird von Altmann 1969, Kapitel 2 grundlegend analysiert. 100 Indem Mendelssohn die Form eines fiktiven Briefwechsels wählt, kann er die Frage, welcher der beiden vertretenen Positionen er selbst sich anschließt, vorläufig offen lassen. Wie die späteren Schriften zeigen, ergriff er ohnehin nicht einfach Partei für eine der hier repräsentierten Strömun-
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Die Frage, welche Figur mit was für einem Erfolg welche spezielle Theorie verträte, wird in der Forschungsliteratur immer wieder zu beantworten versucht. So vermutet Geyer-Kordesch, dass Euphranor die Thesen Meiers personifiziert, wohingegen Palemon die Rolle eines so idealtypischen wie trockenen Rationalisten spielt.101 Weitaus verbreiteter ist noch die Ansicht, Palemon/Theokles sei das »Sprachrohr« Mendelssohns102, während Euphranor als bloße Kontrastfolie fungiert. Dies nimmt jedoch kaum Rücksicht auf das stilistische Vorbild Shaftesbury, der im Soliloquy (1710) die Methode des Selbstgesprächs propagiert und ihm in den Moralists (1709) das Ideal des sokratischen Dialogs an die Seite stellt. Dabei ist diese Technik v. a. auf eine gerechte und ausgewogene Darstellung der unterschiedlichen Positionen gerichtet, die zur selbständigen Bewertung und damit einem im wahrsten Sinne aufgeklärten Umgang mit den jeweiligen Gedanken einlädt.103 Programmatisch formuliert Shaftesbury dies folgendermaßen: »We might preadventure be less noisy and more profitable in company, if at convenient times we discharged some of our articulate sound, and spoke to ourselves viva voce when alone. For company is an extreme provocative to fancy[104]; and, like a hot bed in gardening, is apt to make our imaginations sprout too fast. But by this anticipating remedy of SOLILOQUY, we may effectually provide against the inconvenience.« (Shaftesbury, Characteristicks, Bd. I, 106) Wenn in dieses Selbstgespräch der mögliche Andere als ein konstruktiver Gesprächspartner integriert wird, können die Vorzüge beider Überlegungsarten kombiniert werden; so zumindest Shaftesburys wie auch Mendelssohns Kalkül. Mendelssohns Anlehnung an diese Vorgehensweise zeigt, dass seine Position innerhalb der Briefe weder eindeutig als Wolffianisch auszulegen ist105, noch sich
gen, sondern suchte diese einer Synthese zuzuführen. Das Verhältnis der hier dargestellten Charaktere findet sich in ähnlicher Form auch in dem 1757 erschienenen Essay David Humes Of the Standard of Taste (Nr. 22 in Essays Moral, Political, and Litterary I, 226–49). Dort hatte Hume sie als Ausdruck unterschiedlicher Geschmacksausprägung nach dem Lebensalter unterschieden, vgl. ebd. 244: »A young man, whose passions are warm, will be more sensibly touched with amorous and tender images, than a man more advanced in years, who takes pleasure in wise, philosophical reflections, concerning the conduct of life, and moderation of the passions.« 101 Vgl. Geyer-Kordesch 1977, 147. Dies setzt natürlich voraus, dass man die Position Meiers als einen Fortschritt gegenüber Wolff u. a. ansieht. 102 Vgl. Zelle 1987, 320; Terras 1978, 8 f., Michelsen 1966, 556 und Juchem 1970, 33 f. 103 Vgl. die damit übereinstimmenden Analysen bei Bamberger, JubA I, XXVII, Altmann 1969, 110 f., und Pikulik 2001. Auch Geyer-Kordesch 1977, 147 hält diese Möglichkeit fest. 104 Dieser ist, wie auch »humour« und »opinion«, als affektive Seite des Menschen den vernünftigen Vermögen »reason« und »common sense« gegenübergestellt; vgl. Dürbeck 1998, 59 ff. Im »Soliloquy« sollen die beiden Seiten, Affekt (appetite) und Vernunft sich gegenseitig durchdringen und der Mensch sich so über die wahren Motive und Gründe klar werden. In den Moralists zeigt Shaftesbury schließlich, wie so aus einem Zweifler oder einem Schwärmer ein »vernünftiger Enthusiast« werden kann. 105 Wie es Bamberger, JubA I, XXVII f. nahelegt. Er greift allerdings bereits auf die dann von
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schlicht einem der Briefpartner zuweisen lässt. Pikulik spricht treffend und an Shaftesbury anschließend von einer »experimentellen Selbstbefragung des Autors« (Ders. 2001, 18), der durch dieses Manöver »unterschiedliche Ansichten zu Wort kommen lässt« (ebd. 14). Mendelssohn scheint in dem Wechselspiel der Ansichten auch eine Kritik an herrschender Einseitigkeit zu verbergen. Die aktuell vertretenen Thesen in Rationalismus und Empirismus, rationaler und empirischer Psychologie, Medizin oder Metaphysik sollten eben nicht separat, sondern in ihrem gegenseitigen, befruchtenden Widerspiel dargestellt werden. Es ist allerdings letztlich Aufgabe des aufgeklärten und selbstdenkenden Lesers, eine Synthese beider Positionen zu vollenden. Ansatzpunkte dazu bietet Mendelssohn in den Briefen, sowie den anschließenden Schriften zur Genüge. Dabei zeigt sich die tiefgreifende Modifikation der lediglich an einem schulphilosophischen Wolffianismus angelehnten Vollkommenheitsphilosophie ebenfalls in der geschickt versteckten Aufbrechung der Dominanz dieser Lehre durch den Zweifler Euphranor. Dieser vertritt, ausgerechnet als Deutscher, den Part eines schwärmerischen Enthusiasmus’, der sich ganz dem Genuss sinnlicher Empfindungen überlässt und daraus seine anti-rationale »Lehre vom Vergnügen« formuliert. Das Vergnügen werde gerade durch eine »allzusorgfältige Zergliederung« (JubA I, 45) seiner Bestandteile, also einer Umwandlung in eine klare und deutliche Erkenntnis, zerstört. So solle man nicht über die Schönheit einer menschlichen Gestalt nachdenken, denn damit werde das Vergnügen in »trockene Schlüsse aufgelöst«, und die Freude an schönen Augen wird zur deutlichen Erkenntnis eines wässrigen, gallertartigen Organs (vgl. JubA I, 46). Vollends offensichtlich wird die Anleihe an Shaftesburys Thesen im ›Naturhymnus‹ des achten Briefs: in Anlehnung an Palemons Lehren findet Euphranor nun zwar bereits »gedoppeltes« Vergnügen an der klaren und deutlichen Erkenntnis des Weltzusammenhangs, aber die reinste Freude ist doch die vernunftübersteigende oder sie vergessende Hingabe an das bloße Empfinden (vgl. JubA I, 71–75). Der britische ›Rationalist‹ Palemon hält Euphranor beharrlich und über verschiedene Überlegungsstufen hinweg, die Zweifel seines Gegenübers zu integrieren versuchend, das Vergnügen am Denken entgegen, das durch die Analyse nur verstärkt werde und eigentlich die höchste Form menschenmöglichen Genusses darstelle. Damit übernimmt Mendelssohn indirekt die Kritik am Enthusiasmus, die Locke in der vierten Auflage von 1700 seines Essay concerning human understanding formuliert und auf die auch Shaftesbury in den Moralists hinweist106: in seiner schlechten Altmann angeführte Differenzierung in einen statischen und dynamischen Aspekt der zugrundeliegenden Leibnizschen Metaphysik zurück, die, so Bamberger, auch auf Wolffs Philosophie bereits zutreffe. Dies ist allerdings gerade in Bezug auf die Ästhetik zu bezweifeln. 106 Siehe Locke, Essay IV, 16. Vgl. zur generellen Richtung von Shaftesburys auf Henry More zurückgehende Auffassung des Enthusiasmus, Schings 1977, 171, 179–84. Ihm zufolge hatte dieser die Enthusiasmus-Auffassung zunehmend »anthropologisiert«. Shaftesbury ist dabei nicht, wie
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Form spielt der Enthusiasmus als ein Gegenbegriff zur Vernunft deren natürliches Licht der Einsicht gegen ein als übernatürlich und unerklärlich aufgefasstes Gefühl der Begeisterung aus, um sie zu unterdrücken. Die »Gotteserfülltheit« wird so zum Gegenentwurf einer auf die Kraft der menschlichen Vernunft vertrauenden Wissenschaft und liefert den Menschen einem obskuren Glauben aus. Ein solcher Verzicht auf die Verifizierung durch die Vernunft führt letztlich – aus anthropologisch erklärbaren Defiziten wie melancholischer Frömmigkeit oder Bequemlichkeit – dazu, jede Möglichkeit einer Verifizierung zu verneinen.107 Enthusiastische Erkenntnis gewinnt damit eine gefährliche und pathologische Zirkelstruktur, vor der auch Palemon seinen Euphranor zu bewahren strebt. Allerdings deutet sich in Palemons modifizierter Theorie eben keine gradlinige Zurückweisung des Enthusiasmus an, sondern eine Reformulierung zu einer wahrhaft göttlichen, die menschliche Vernunft integrierenden Begeisterung, wie sie auch Shaftesbury vorgeschwebt haben mag. Vergnügen werde demgemäß durch eine klare und deutliche, also rationale Erkenntnis des Vollkommenen wenn nicht erweckt, so doch entscheidend verfeinert und gesteigert. Hat man alle Teile einer Vorstellung überdacht und durchdrungen, werde das Vergnügen ungleich größer sein, als wenn man sich schlicht seinen Eindrücken überlässt. Die Überlegungen sind hier dem Baumgartenschen Konzept der »extensiven Klarheit« sowie die Erfordernisse der intuitiven, nun solcherart diskursivierten Erkenntnis nahe, die das ästhetische Vergnügen bereichern sollen. Zwar ist eine Bekanntschaft mit den Texten Baumgartens zu dieser Zeit nicht nachweisbar; im Gegenteil, scheint eine vertiefte Lektüre erst nach 1757, dem ersten Erscheinen der Hauptgrundsätze, stattgefunden zu haben. Dennoch ist die konzeptuelle Nähe nicht zu leugnen. In Termini des Entwurfs Von dem Vergnügen ist erst mit der rationalen Durchdringung ein Bewusstsein von der Vollkommenheit des Gegenstands gegeben, der den höheren Genuss (als »Lust«) überhaupt entstehen lässt. So soll die Natur des Vergnügens unter Miteinbeziehung der Gesetzmäßigkeiten menschlicher Vorstellungstätigkeit in ihrem Bezug auf eine zugrundeliegende Neigung zur Vollkommenheit erklärt werden. Palemons Paradebeispiel ist die Mathematik (die Mendelssohn selbst übrigens ausgezeichnet beherrschte).108 Sei man den beschwerlichen Weg der Locke, ein strenger Gegner des Enthusiasmus, sondern stellt der schlechten, leidenschaftsbezogenen und vernunftfeindlichen Version einen wahren, ästhetischen Enthusiasmus platonischer Provenienz gegenüber (Schings 1977, 180), den er auch mit »feeling of the Divine Presence« (A Letter Concern-ing Enthusiasm (zuerst 1708), in Characteristicks, Bd. 1, 37) benennt. 107 Vgl. Schings 1977, 172. Auch Leibniz kritisiert in den Nouveaux Essais das »innere Licht« der Enthusiasten. Bedeute dieses nicht letztlich bloß eine Sublimation der sich entzündeten Lebensgeister (also Hörigkeit auf Leidenschaften)? Vgl. Nouveaux Essais IV, 19. 108 Geyer-Kordesch vermutet, dass die Wahl dieses Beispiels als eine implizite Kritik an den Hallenser Medizinern aufzufassen ist. Diese hatten den Mathematiker »als Exempel abstrahierender Gefühllosigkeit dargestellt« (Dies. 1977, 159).
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Berechnungen zuende gegangen, empfinde man ein umfassendes Lustgefühl, dem keine rein sinnliche Freude gleiche. »Mein Wahlspruch ist: wehle, empfinde, überdenke und geniesse.« (JubA I, 54). Deutlich wird hier Mendelssohns Bestreben, einem rein aus der rationalistischen Tradition argumentierenden Denken durch die Integration der körperlichen und emotionalen Bedürfnisse ein vollständigeres Bild menschlichen Vergnügens zu verschaffen. In gewisser Weise steht er hier zwischen Leibniz und Baumgarten, indem er die klare und deutliche, intellektuelle Durchdringung der Welt feiert, jedoch auch den Rückzug in den sinnlichen Genuss erlaubt. Später, im LB 210 vom 14. Januar 1762 wird er en passant auf die Besonderheit der sinnlichen, schönen Erkenntnis hinweisen, ohne Baumgarten direkt zu zitieren. Er spricht dort, die extensive Klarheit umschreibend, von einer »fruchtbaren und ausgebreiteten Klarheit« (JubA V/1, 488). Allerdings kann er sich nicht zu Baumgartens Diktum, dass die klare und deutliche (menschenmögliche) Erkenntnis zumeist auf einer »armen« Abstraktion beruhe, durchringen. Dies mag mit seiner noch unzureichenden Kenntnis von Baumgartens Werk zu tun haben, die sich, wie erwähnt, erst in den 1760er Jahren vertieft. Wichtiger aber, schien Mendelssohn noch keinen Weg zu sehen, das Primat der Vervollkommnung als allseitiger klarer und deutlicher Durchdringung aller Bereiche (und damit Erreichung höchster »Realität«) argumentativ befriedigend und zureichend mit dem Eigenrecht der Sinnlichkeit zu verbinden.109 In einer ersten Annäherung bietet der 11. Brief eine Synthese beider Positionen, die alle Vorstellungsformen berücksichtigt. Es gibt demnach eine dreifache Quelle des Vergnügens: verständige Vollkommenheit, Schönheit und körperliche Lust.110 Eine Theorie über den Ursprung des Vergnügens ist, so Mendelssohn gegen Wolff und Sulzer (als Vertreter der jeweiligen Extrempositionen) unvollständig, wenn man nur eine dieser Quellen beachtet.111 109
Vgl. Pollok 2006, XXVIII f. und hier Kap. II.3. Auch die einschlägigen Rezensionen sprechen für diese Sichtweise, siehe Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste III.1 (1758), 130–38, JubA IV, 196–201 und IV.1, 438–56, JubA IV, 263–75. 110 »Lust« wird hier wiederum, im Gegensatz zur Skizze Von dem Vergnügen, als die allein körperliche Komponente des Vergnügens verstanden. Die Trias selbst speist sich, wie gezeigt wurde, aus der kritischen Auseinandersetzung mit Sulzers Untersuchung (vgl. Bamberger, JubA I, XXIX ff. und Altmann 1969, 92–110) und – hinsichtlich der sinnlichen Lust – in Anlehnung an Louis Jean Levesque de Pouilly (Bamberger, JubA I, XXXI; Altmann, 1969, 99 f.), sowie die »vernünftigen Ärzte« wie Stahl und Krüger. Es ist unverständlich, wieso Martino 1972, 92 diese Trias als »rein Wolffscher Herkunft« bezeichnet. Dagegen spricht neben den Befunden Bambergers und Altmanns ebenso die Analyse von Goldenbaum 2002, 286 ff., die den Einfluss Spinozas betont, die eigentliche Ausgestaltung der Theorie aber Mendelssohn selbst zuschreibt. 111 Die Ablehnung von Sulzers Theorie soll, so Altmann 1969, 93 ff., den Begriff des Vergnügens wieder – mit Wolff – an die deutliche Erkenntnis binden: besonders deutliche Empfindungen sind nach dieser Lesart mit der meisten Lust verbunden, da sie die höchste Qualität besitzen. Darüber hinaus würde damit auch, so M. Heinz 1994, 120 mit Verweis auf Altmann 1969, 105,
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Jedes Vergnügen, egal welchen Grad der Klarheit es aufweist, ist damit zugleich an ein allgemeines Vollkommenheitspostulat (vgl. 10. Brief )112 gebunden: Dieser Grad entscheidet auch über die Beschaffenheit der jeweiligen Vollkommenheit. Die wohldurchdachte und geordnete Harmonie aller Bestandteile eines Gegenstands ist in einer klaren und deutlichen Vorstellung erfassbar. Doch auch ein nicht im Einzelnen analysierbarer, verworrener Eindruck kann als eine in sich stimmig scheinende Einheit in die Sinne fallen und begeistern. In diesem Fall kann die wahrgenommene Vollkommenheit realiter durchaus unvollkommen sein – der Schwerpunkt liegt auf ihrem subjektiven Eindruck. Schließlich ist selbst die körperliche Lust eine dunkle Erkenntnis der körperlichen Vollkommenheit im Moment der Empfindung, indem alle Körperfunktionen sich in Aktivität und gleichzeitiger Harmonie befinden. In Hinsicht auf den letztgenannten Aspekt wendet sich Mendelssohn schon 1755 der später von Platner als eigentlich anthropologisch bezeichneten Frage des Zusammenspiels von Körper und Geist zu: eine angenehme Vorstellung oder Empfindung teilt sich, so sein Modell, auch dem Nervensystem mit und ergibt eine sprichwörtlich angenehme Stimmung der »gespannten Nervensaiten«113, die wiederum die Theorie der Lust in die umfassende der leibnizianischen Theodizee eingeordnet. Demzufolge müsste Mendelssohns Theorie des Vergnügens nicht auf sein anthropologisches, sondern sein metaphysisches Interesse verweisen. Das verkennt jedoch zweierlei: zum einen muss Mendelssohns Position nicht deshalb anti-anthropologisch sein, wenn sie den Ursprung des Vergnügens auf etwas anderes als menschliche »Schwachheit« zurückführen will. Zum anderen übersieht diese Interpretation die weiteren Ausführungen Mendelssohns, der das Vergnügen am ›nur‹ dunkel oder verworren Erkannten in seine Theorie integriert, ohne diese zu bloßen Vorstufen der klaren und deutlichen Erkenntnis zu degradieren. Mehr noch: erst mit der Berücksichtigung des Zusammenspiels aller Vergnügens- und damit auch Erkenntnismodi wird eine stimmige Theorie menschlich-affektiv wertenden Verhaltens entwickelt. Weder eine Ausklammerung der Körperlichkeit/Dunkelheit, noch ihre Degradierung lässt sich im gegebenen Zusammenhang belegen. 112 Vgl. Mendelssohns Brief an Karl Theodor Anton Maria Freiherrn von Dalberg vom 5. September 1777: »Ich halte dafür, Einheit sei von Einerleiheit wohl zu unterscheiden. Diese hebt den Unterschied des Mannigfaltigen auf, jene bringt es in Verbindung. Das Einerlei steht dem Mannigfaltigen entgegen; die Einheit aber ist desto größer, je mehr Mannigfaltiges und je inniger es verknüpft wird. Wenn diese Verknüpfung des Mannigfaltigen harmonisch geschieht, so geht die Einheit in Vollkommenheit über, mit welcher sich das Einerlei gar nicht verträgt. In der vollkommensten Einheit ist eine unendliche Mannigfaltigkeit auf das wesentlich unzertrennlichste höchst übereinstimmend verknüpft, und also der höchste Grad der Vollkommenheit.« (JubA XII/2, 94) Dies scheint keine Tendenz zu sein, alles einander anzugleichen, sondern eine »Einheit des Endzwecks« zu finden, eine »Tendenz zur Harmonie des Mannigfaltigen, oder zur Vollkommenheit«, die letztlich auch eine Art des intuitiven Erfassens der Komplexität verlangt. 113 Vgl. JubA I, 82, siehe auch den 12. Brief. Hier im Rückgriff auf Maupertuis, Systéme de la nature, § 14 (Oeuvres, II, Lyon 1756, 147): Tonus als »conatus«, »Konzeption einer Innenspannung oder Kohäsion, die eine Erscheinung als Körper überhaupt zusammenhält« (Proß 1987, 892, der auf die Wurzeln in der stoischen Tradition (Cicero) verweist). Ebenfalls spielt Mendelssohn damit auf die animistische Schule um Stahl an, in der das Nervensystem als ein System gespannter Saiten, nicht als mechanistisches Röhrensystem verstanden wurde. Siehe zu dieser letztgenannten
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
die Seele verworren wahrnimmt. Mit dieser Auffassung der Seele als Beobachterin körperlicher Vorgänge integriert Mendelssohn in ein metaphysisch-psychologisches Grundkonzept auch nervenphysiologische Betrachtungen, die er beispielsweise von Pouilly, Unzer, Krüger, Castel übernimmt.114 Dabei schließt er sich jedoch, auch nach eigenem Bekunden, nicht an eine feststehende Auffassung an. Er schien kaum an der wirklichen Durchdringung der Problematik und damit auch an den Unterschieden zwischen einzelnen Positionen interessiert, was seinen Wert als einen (unfreiwilligen) ›Popularisierer‹ dieser Denkschule wenig wahrscheinlich sein lässt. Zwar wird er einige einschlägige Werke zur Kenntnis genommen haben, doch sind seine diesbezüglichen Verweise in den Anmerkungen zu den Briefen allzu pauschal, um eine eindeutige Positionierung zu den unterschiedlichen Richtungen dieser Schulen feststellen zu können. Vielmehr ist ihm der Eigenwert rein physiologischer Fragestellungen von Beginn an fraglich. So hebt er in seiner Kritik an Charles Bonnet115
Richtung Hallers Schrift über die Nervenirritabilität De partibus corporis humani sensibilibus et irritabilibus (1752); vgl. Dürbeck 1998, 121. Die gesundheitsfördernde Wirkung des Vergnügens hat auch Addison in den Pleasures of the Imagination erwähnt: »Delightful Scenes, whether in Nature, Painting, or Poetry, have a kindly Influence on the Body, as well as the Mind, and not only serve to clear and brighten the Imagination, but are able to disperse Grief and Melancholy, and to set the Animal Spirits in pleasing and agreeable Motions.« (Nr. 411 vom 21. Juni 1712 des Spectator, zit. nach Ross 1982, 370) 114 Vgl. Nowitzki 2003, 372; zu den hier einschlägigen Werken in Mendelssohns Besitz siehe Kap. I.1, FN 26, wobei ersichtlich wird, dass er die unterschiedlichen Schulen recht sorglos miteinander ›vermischte‹. In dieser Hinsicht nähert er sich den nervenphysiologischen Forschungen in ähnlicher Weise wie Sulzer, der sie für seine Theorie der Glückseligkeit einsetzt und daher in seiner Einschätzung der Wirkungsweise der Nerven selbst undurchsichtig bleibt, vgl. Dürbeck 1998, 138 f. 115 U. a. erhalten in einer Rezensionsskizze zu Bonnets Essai de Psychologie (JubA II, 35–42). Geyer-Kordesch (1977, 180) wertet Mendelssohns Auseinandersetzung mit diesem als ein Zeichen der Übernahme der psychologischen Theorie der Hallenser Schule, v. a. Krüger, denen Mendelssohn unter den »vernünftigen Ärzten« die größte Vernunftaffinität zuzuschreiben schien und die ebenfalls die Zusammenwirkung der physiologischen Vorstellungsvermittlung und der dennoch gestalterischen Funktion der Seele ausgehen. Zu Mendelssohns Berücksichtigung der Nervenphysiologie allgemein vgl. Dies., 143–83. Insgesamt ist die Rezensionsskizze in einem fast ätzend arroganten Ton (mit nationalistischen Anklängen versehen; Mendelssohn hat sich nie enthalten können, Franzosen wie Engländern Seichtheit vorzuwerfen) verfasst; vielleicht auch ein Grund, weshalb sie über den Status einer Skizze nicht hinauskam. Eine differenziertere Bewertung von Bonnets Status zwischen Materialismus und Spiritualismus findet sich bei Riedel 1985, 113 ff. Bonnets Analytischer Versuch über die Seelenkräfte (1760, übers. 1770) findet allerdings in Mendelssohns Werk kaum einen expliziten Nachhall. Doch mag die Einsicht, dass Bonnet im nähersteht, als er zuerst annahm, Mendelssohns Erstaunen erklären, als er irrtümlich Bonnet den lavaterischen Bekehrungsversuch zuschrieb (siehe dazu Kap. IV.4). Es sei jedoch noch einmal betont, dass Mendelssohns Anleihen an der zeitgenössischen medizinisch-anthropologischen Forschung zu ungenau sind, um ihn als einen ›Schüler‹ einer bestimmten Denkrichtung zu verstehen. Vielmehr schien er deren Ergebnisse als Material für die eigenen Überlegungen zu verwenden.
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die Leistung der Empfindungen nicht als passiver, sondern als seelisch-aktiver Instanz hervor: ihm zufolge entstehen sie aus innerpsychischen, nicht -physiologischen Kräften. Die Farb- oder Tonwahrnehmung ist dabei, in Anlehnung an Leibniz, ein Paradefall für die dunkle »Vermengung« der Perzeptionen: dem Objekt der Wahrnehmung entspricht nicht das, was man wahrnimmt. »Wir sind uns niemals des Gegenstandes selbst bewußt, und wir empfinden nicht anders von ihm als die Art, wie er auf die Sinne wirkt[.]« (JubA II, 40) Die Seele mag sich damit, so Mendelssohn, tatsächlich vorstellen, was auf die Sinne wirkt, um dann »aus dieser kleinen Vorstellung« eine Erscheinung zu bilden, die wir Empfindung nennen (vgl. JubA II, 41). Damit sind jedoch die physiologische Reizaufnahme und deren psychische Verarbeitung unterschieden. Deutlich »trennt [Mendelssohn] hier Gegenstand und Wirkung« (Geyer-Kordesch 1977, 182), wie er es in der Folgezeit hinsichtlich seiner ästhetischen und psychologischen Überlegungen weiter ausführen wird. Insgesamt gehen Mendelssohns Ansichten zum Zusammenspiel von Nerven und Empfindungen »mit der Einbeziehung der ›deutlichen Erkenntnis‹ in den dynamischen Prozess der gefühlsmäßigen Erfahrung des Schönen und Vollkommenen« (ebd., 152) in eine andere Richtung als die Überlegungen früher Anthropologen wie der vernünftigen Ärzten der Hallenser Schule. Dennoch hat er die Rolle des Körpers reflektiert und dabei versucht, deren Erkenntnisse aufzunehmen. Die Vermittlung der Wahrnehmungen auch als Funktion körperlicher Organe zu betrachten erschien ihm fruchtbar, doch es geht ihm nie um die Analyse und Erklärung rein körperlicher Phänomene, sondern deren Integration in seine Theorie. Zwar spricht er in animistischer Manier von den »Schwingungen der Nervenfäserchen«; letztlich geht es ihm allein um die Erklärung der Teilnahme der Seele an diesen Vorgängen, wie die Modifikationen seiner Theorie in der Rhapsodie zeigen (vgl. JubA I, 392 ff.). So äußert er sich auch zustimmend zu Pouillys Théorie des sentimens agréables (1749): Jede »Beschäftigung der Nerven, die sie wirksam erhält, ohne sie zu ermüden«, ist angenehm (JubA I, 128). Doch geht er keineswegs auf die mechanistischen Prämissen von dessen Theorie ein, noch konfrontiert er sie mit der vorher vertretenen animistischen Sichtweise. Die Funktion einer Theorie des Vergnügens in Hinblick auf die Nervenphysiologie liegt demnach für ihn allein darin, die Grenzen der Nervenreizung auszuloten und die Bedingungen für ihre ›leichte‹ Beschäftigung aufzufinden. Mendelssohn setzt diese Grenzen in Korrespondenz zu seiner Vorstellungstheorie: dunkle Vorstellungen verwirren allzu sehr, klare und deutliche Vorstellungen sind zu ›starr‹, als dass der Nervensaft in Bewegung geriete bzw. die Nervenfasern in Schwingungen versetzt würden – aber im oszillierenden Zwischenbereich beider Pole ist eine ausgewogene Nervenerregung, gerade durch Kunst, möglich. Die Verbindung dieses Vergnügens mit der Vollkommenheit, die auch Pouilly angesprochen hatte, sieht Mendelssohn als seine Aufgabe an. Vollkommenheit als eine Aus-
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übung der Seelenfertigkeiten116 ist dabei ebenso wie deren Übersetzung in eine bloße Schwingung von Nervenfäserchen (animistisch) oder ungehemmte Strömung eines Nervensaftes (mechanistisch) allzu schematisch gedacht. Vielmehr soll die erwähnte Theorie der »dreifachen Quelle« des Vergnügens in körperlicher Lust, angenehmer Empfindung und reflexiver Durchdringung der Vollkommenheit diese Ansichten als dynamisch aufeinander bezogen erklärbar machen. Eine darüber hinausgehende Festlegung auf eine bestimmte physiologische Theorie erschien Mendelssohn schlicht unnötig.117 Die Auffächerung des Vollkommenheitsparadigmas soll dabei, wie im 11. Brief ersichtlich, nicht zu einer Aufspaltung der Erkenntnisfunktionen, sondern zur Begründung ihres Zusammenspiels dienen.118 Jedoch gelingt es nicht durchgehend, alle Einwürfe über das Vergnügen, die Euphranor im Briefwechsel vorbringt, gänzlich in eine »umfassendere Sicht« (Altmann 1969, 110 f.) einzuordnen. Zum einen muss Palemon in seiner Theorie weitaus mehr bedenken, als er anfangs siegesgewiss angenommen hatte: erst durch Euphranors Anstöße konnte er die Theorie des dreifachen Vergnügens zureichend entwickeln. Zum anderen zeigen gerade Euphranors Bemerkungen zu den Formen eines möglicherweise »bösen« Vergnügens (und hier knüpft Mendelssohn an die von Dubos eröffnete Problematik an), dass das Gleichgewicht von Palemons rationalistischen Optimismus empfindlich gestört werden kann. Festhalten lässt sich vorerst das Folgende: In seiner Theorie spaltet Mendelssohn den opak erscheinenden psychologischen Akt des Vergnügens in ein komplexes Ge116 So Pouilly bereits in den Réflexions sur les sentimens agréables, et sur le plaisir attaché à la vertu (1736), 194: keine Freude wird mehr bevorzugt als diejenige, »que fait naître dans l’âme l’idée de perfection«. 117 Eine treffende, allerdings zu spät erscheinende Kritik der Briefe lieferte Karl Wilhelm Jerusalem in den von Lessing 1776 herausgegebenen Philosophischen Aufsätzen, in denen er auch auf die Theorie von der körperlichen Quelle des Vergnügens eingeht. Er hebt diejenigen Vergnügungen hervor, die unmittelbar mit dem Bewusstsein einer verschlechterten Leibesbeschaffenheit verbunden sind, wie die Trunkenheit. Allerdings stört dies Mendelssohns Theorie nur, wenn er mit Jerusalem zugibt, dass jede dunkle Vorstellung von einer klaren Erkenntnis verdrängt wird. Dies ist aber laut Mendelssohn, im Anschluss an Sulzer, durchaus nicht immer der Fall. Den Einwand, dass die Seele die verbesserte Leibesbeschaffenheit gar nicht wahrnehmen könne, sondern nur das daraus resultierende Vergnügen – und dass deshalb die Ursache des Vergnügens nicht die Wahrnehmung, sondern das rein körperliche Gefühl des Angenehmen sei, hat Mendelssohn in der 1771er Fassung der Rhapsodie bereits ›beantwortet‹, indem er die harmonische Entsprechung sinnlichen Vergnügens und dunkler Erkenntnis der Seele davon stärker hervorhebt (vgl. JubA I, 393 ff. und auch Lessings Einschätzung, Werke 8, 154–65). Einschlägiger ist für das Folgende vielmehr Jerusalems Kritik an der Theorie der vermischten Empfindungen in den Briefen und der Rhapsodie nach der 1761er Fassung. Siehe dazu den folgenden Abschnitt. 118 »However, the potential for bodily as well as spiritual pleasure in aesthetic response only serves to integrate the aesthetic further into our general sources of value rather than to isolate it.« (Guyer 1993, 89)
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füge seelischer und körperlicher Vorgänge sowie ihr Verhältnis zueinander auf. Eine schlichte Lösung des Problems ästhetischen Wohlgefallens wird damit vermieden: Weder ein bloßes Vergnügen, noch allein verständige Vollkommenheit, sondern ihr dynamisches Zusammenspiel ist von entscheidender Bedeutung. Deshalb auch, so wird Mendelssohn in den Hauptgrundsätzen gegen Batteux’ Imitatio-Hypothese folgern, ist die bloße Imitation nicht der bedeutende Moment im ästhetischen Wohlgefallen119, noch das reine Gefühl, sondern beiderlei Zusammenspiel. Das gefühlte Vergnügen lässt sich letztlich auf eine jeweils spezifische Form der ›Wahrnehmung‹ von Vollkommenheit zurückführen, die nicht rein visueller Natur sein muss. Indem die Analyse jedes Vergnügens seine Struktur vergegenwärtigt, kann sie sie in ein umfassendes System einfügen, ohne dabei den jeweiligen Formen ihren Eigenwert zu nehmen. Das Vergnügen eines Konzertbesuchers ist immer dunkel, auch wenn gezeigt werden könnte, dass es sich letztlich auf ein unbewusstes Zählen stützt. Die Rolle der sinnlichen Empfindung wie des Körpers und der zugrundeliegenden ›dunklen Masse‹ der Perzeptionen ist irreduzibel und nur in unterschiedlichen Formen der Umwandlung – in ein Symbol oder eine durchdrungene und diskursivierte Erkenntnis – erfassbar. Selbst die Freude des Mathematikers an einer Beweiskette ist nicht im Modus der deutlichen Klarheit möglich, da diese die Erinnerungskraft des Einzelnen übersteigt. Vielmehr treten für das menschliche Empfinden zwei Zeitebenen nebeneinander. Auf der einen hat der Mathematiker Schritt für Schritt den Lösungsweg vollzogen und dabei viele klare und deutliche Erkenntnisse, aber wenig Vergnügen gehabt. Sie ist, in Termini von Leibniz’ Meditationes, adäquat, aber nicht intuitiv. Auf der zweiten Zeitebene versucht der Mathematiker den gesamten Weg in einer intuitiven Vorstellung zu überschauen. Dies geht zwar lediglich verworren, also inadäquat vonstatten, ist aber mit dem angenehmen Gefühl verbunden, dieser ganzen Kette Herr geworden zu sein und die in der Schau verwendeten, abkürzenden Symbole gegebenenfalls übersetzen zu können. Mit der hier skizzierten Methode der diskursiven ›Herstellung‹ einer intuitiven Erkenntnis durch deren Übersetzung in eine zeitliche Ordnung übergeht oder modifiziert er zwar das Spezifikum der Unmittelbarkeit der cognitio intuitiva, wie sie Leibniz intendiert hatte, macht sie aber dadurch handhabbar.120 Über das im Einzelnen zwar für den Moment inadäquate, 119 Zu recht hebt Wellbery (1984, 60 f.) diesbezüglich hervor, dass die bloße Imitationsleistung der Kunst die Begründung des ästhetischen Vergnügens nicht leisten kann, sondern das Problem schlicht verschiebt. 120 Zur Übersetzung in eine zeitliche Ordnung siehe auch Wolffs Psychologia Empirica, §§ 286 ff. Letztlich führt allerdings, so Adler 1992, 19, auch Wolffs Darlegung auf Leibniz’ Auffassung zurück, indem er der göttlichen Erkenntnis allein die Fähigkeit zuschreibt, auch ohne Analyse und Vergleich der Bestandteile zu einer intuitiven Welterkenntnis zu gelangen, siehe z. B. dessen Theologia naturalis, I.1, § 207. Vgl. zum Verhältnis des leibnizschen und wolffschen Systems allgemein Cassirer 1932, 36–45. Das ästhetische Vergnügen wird in Mendelssohns Sinne auch kaum
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aber intuitive Überblicken des Gedankengangs gewinnt der Mathematiker sinnliches wie reflexiv-anschauliches Vergnügen. Der Theorie der dreifachen Quelle zufolge ist schließlich in dieses Vergnügen auch der Körper mit inbegriffen, indem er von den vorherigen Anforderungen zurücktreten kann und entspannt, was wiederum die Seele als eine harmonischere Nerventätigkeit nach vorheriger Anspannung wahrnimmt. Die abgestuften Klarheitsgrade der Vorstellungen haben dabei den Zweck, die Mannigfaltigkeit einer Vollkommenheit zu erhöhen: der dreifach vergnügte Mensch nimmt mehr wahr als bloßes Gefühl oder reines Denken; seine Wahrnehmung erfasst sämtliche dem Menschen zugängliche Bereiche und beschäftigt und bewegt alle Erkenntnis- bzw. Vorstellungskräfte in einer ihm allein spezifischen und ihn auszeichnenden Weise. Wie weit kann man dieses Bild treiben? Mit Euphranors Beobachtungen des Vergnügens am offensichtlich moralisch Schlechten scheint Mendelssohn eine solche Grenze berührt zu haben. Seine Theorie der Abwechslung und Erweiterung durch Kontrast – die vermischten Empfindungen – zeigt jedoch, dass er auch diese Problematik unter Rückgriff auf die Natur menschlichen Vergnügens gemäß den beschriebenen Vorstellungstheorien zu lösen versucht. Es sind nun aber nicht die bloß ›reinen Empfindungen‹ die interessieren; vielmehr geht es um mögliche Formen des Zusammenspiels verschiedener Perzeptionsebenen und -qualitäten.
2. Vermischte Empfindungen121 Den Weg zu dieser Grenze des Vergnügens verdankte sich, wie bereits erwähnt, der Auseinandersetzung mit Dubos, der in seinen Réflexions critiques sur la poesie et sur la peinture (1719) das Gefallen an schrecklichen Gegenständen mit dem menschlichen Interesse an bloßer Unterhaltung und interessanter Beschäftigung begründet hatte. Die Seele sehnt sich demnach allein danach, bewegt zu werden, gleichgültig, welcher Qualität die bewegenden Affekte überhaupt sind; entscheidend ist allein ihre Stärke
mehr, wie Wellbery 1984, 59 nicht ganz klar zu sein scheint, als intuitives reformuliert werden können. Vielmehr scheint die Herstellung eines Intuitions-Äquivalents Mendelssohns Ziel zu sein. 121 Den Terminus der ›vermischten Empfindung‹ könnte Mendelssohn von Wolff (vgl. Deutsche Metaphysik, § 440; Psychologia Empirica, § 610: »Affectus mixti sunt, qui ex jucundis & molestis constant, seu in quibus voluptas ac taedium invicem permiscentur. Dari affectus mistus ex speciali pertractatione constabit.«) übernommen haben. Zwar ist ihm in dessen Werken keine prominente Stellung zugestanden worden, doch sind Wolff und Sulzer die einzigen, die die vermischten Empfindungen in Termini der Leibnizschen Philosophie darstellen, weshalb Wolff eine gewisse ›Urheberschaft‹ dieses Begriffs nicht abzusprechen ist. Wichtige weitere Stationen der Ausarbeitung benennt Geyer-Kordesch 1977, 163–66 mit Sulzer (1751) und Unzer (1753). Martino 1972, 95 f. bietet einen kurzen historischen Exkurs.
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und ihr Potential, Langeweile zu verhindern.122 Eine komplizierte Struktur besitzt das ästhetische Vergnügen in einer solchen Suche nach spontaner, möglichst intensiver und abwechselnder Emotion keineswegs, noch weniger weist es den Weg zu einem von Mendelssohn anvisierten Bild eines auf Vervollkommnung seiner selbst (und anderer) angelegten Menschen. In diesem Sinne fragt Euphranor in den Briefen, wieso nicht nur angenehme Dinge wie ein schönes Gemälde, sondern auch unangenehme wie der Anblick eines Schiffsuntergangs, Trauerspiele, lebensgefährliche akrobatische Kunststücke oder gar Hinrichtungen gefallen könnten, wenn sie doch offensichtlich nichts mit Vollkommenheit zu tun hätten, nach der allein doch die Seele der Auffassung Palemons gemäß strebe (vgl. den 4. Brief, JubA I, 56). Was also kann uns an diesen Gegenständen reizen, wenn es nicht das bloße Faktum der Unterhaltung ist? Palemon versucht seine Theorie zu retten, indem er die Struktur der angegebenen Vorstellungen differenziert und mithilfe des ihnen abgetrotzten positiven Aspekts dennoch das Gefallen an einer Vollkommenheit als bestimmendes Moment festhält. Im »Beschluss« nennt er die grundlegende Wertschätzung der vollkommenen Beherrschung einer gefährlichen Situation (des Artisten, der sein Vertrauen auf sein Können dadurch veranschaulicht, dass er über spitze Pfähle springt u.dgl.), sowie die Liebe zur bemitleideten Theaterfigur. Allerdings passt das Vergnügen am Schiffsuntergang, dem keine Phase irgendeiner Einfühlung in die beteiligten Akteure (oder auch: Opfer) vorausging und das auch kein irgend geartetes ›Können‹ verdeutlicht, nicht in dieses Schema. Auch ist nicht klar, warum das Gefallen an einer Vollkommenheit das bestimmende Moment sein soll, und nicht die – anscheinend das Vergnügen initiierende – Lust am Schrecken. Noch ›löst‹ Mendelssohn dieses Problem durch Ignoranz und erwähnt Euphranors Einwurf nicht, scheint aber, wie die Folgezeit zeigt, nicht mit Palemons Ausformulierung der Theorie zufrieden gewesen zu sein.123 In der Trauerspieldebatte 1756/57 mit Nicolai und Lessing entwickelt er daher eine differenziertere Ansicht, die auch den schrecklich, böse oder hässlich erscheinenden Gegenständen ihren Platz in der Theorie des Vergnügens zuweist. In diesen Briefen ringt er um die Möglichkeit einer Erklärung für die Transformation von ›negativen‹ Empfindungen (z. B. Trauer) auf der Bühne zu ›positiven‹ Empfindungen
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Vgl. ebd., 5. Laut Jacobs 2001, 42 f. fallen für Dubos letztlich »Tragödie und Ragout in dieselbe Kategorie« – der aufklärerische (antisystematische und die Erfahrung ernst nehmende) Impuls schlägt in einen totalen Sensualismus um, der die Vernunftgeltung in Geschmacksfragen generell ablehnt. »Der aufklärerische Wille zu vorurteilsloser Analyse und zur Beschränkung auf empirisch verifizierbare Erklärungen führt hier zu einer nivellierenden Betrachtungsweise, die der Erkenntnisbemühung nicht förderlich ist, sondern eher blockierend wirkt.« (ebd.) 123 Siehe dazu Zelle 1987, 326–30, der Mendelssohns ersten Versuch einer Theorie des Gefallens am Schrecklichen noch zurückhaltend als »brüchig« (329) bezeichnet und zugleich auf das eigentliche Interesse Mendelssohns, die Einbindung des Phänomens ins Vollkommenheitsparadigma, nur nebenbei zu sprechen kommt.
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(z. B. Freude) beim Zuschauer, ohne ein grundlegend positives Menschenbild aufgeben zu müssen. Dabei erweist sich eine Anregung Lessings als wegweisend: »Darinn sind wir doch wohl einig, liebster Freund, daß alle Leidenschaften entweder heftige Begierden oder heftige Verabscheuungen sind? Auch darinn: daß wir uns bey jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung, eines größern Grads unsrer Realität bewußt sind, und daß dieses Bewußtseyn nicht anders als angenehm seyn kann? Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm.« (Brief Lessings vom 2. Februar 1757, JubA XI, 105) Lessing übersetzt also Leidenschaft in einen »größern Grad unsrer Realität«124: erhöhte Vorstellungstätigkeit im Zuge des Verabscheuens eines Geschehens ist damit ein Ausdruck einer positiven Seelenleistung, nicht Schwäche. Indem zwischen dem Mitgerissenwerden durch die Verwicklungen auf der Bühne und der innerlichen Bewertung der Ereignisse als verabscheuungswürdig eine Grenze gezogen werden kann, gewinnt dieses Verabscheuen einen Eigenwert im Sinne einer in sich »positiven Kraft«. Das damit ebenfalls implizierte Festhalten am Vollkommenheitsbegriff scheint an dieser Stelle noch problematisch. Indem das Schreckliche als eine bloße Versicherung der eigenen »Realität« gewertet (und damit entwertet) wird, fällt es schwer, eine Differenz zwischen den Vorstellungsarten auszumachen und nicht alle Vorstellungen unterschiedslos als Beiträge zur Erhöhung eigener »Realität« anzunehmen. Guyer problematisiert die hier drohende Assimilierung von ästhetischen und allgemeinpsychologischen Fragestellungen (was die Differenzierung von bloßer Schaulust und ästhetischem Genuss erschwert), sowie die Beliebigkeit eines solchen Vollkommenheitsbegriffs: »Taken litterally, this argument implies that all representations are pleasing, those produced by works of art no more than any others. And, as ›affirmative realities‹, all real objects should be pleasing as well. This is precisely the kind of shoal on which the rationalist ontology always runs aground because of its description of properties as ›perfections‹.« (Guyer 1993, 136, Hervorhebung A.P.) Mit dem Hinweis auf die positive Kraft der Seele im Abscheu soll das Interesse an schrecklichen Gegenständen jedoch einer größeren psychischen Komplexität zugänglich werden125, indem mit den bloßen Merkmalen noch der Aspekt von deren Zusam124
Auch Leibniz spricht von einer »Lust« an den eigenen »Gemütskräften«, vgl. Von der Weisheit, in: Hauptschriften II, 652. 125 Neben dem Einfluss Lessings spielt sicherlich auch Krügers Versuch einer Experimental-Seelenlehre von 1756 eine Rolle. Dieser bezeichnet die Seele als ein »gewiße[s] intereßirte[s] Wesen« (S. 250), das alle Vorstellungen mit seinem Gefühl der Lust/Unlust in Beziehung setzt. »Diese Lust bzw. Unlust interpretiert Krüger zwar immer noch in rationalistischen Termini von Vollkommenheit und Unvollkommenheit des eigenen Zustandes; beides wird jedoch nicht mehr auf eine objektive Wahrheit der Vorstellungen bezogen, sondern nur auf die subjektive Beziehung, die wir zwischen unseren Vorstellungen und dem durch sie verhießenen Lustgewinn herstellen« (J. Heinz 1996, 77 f.). Es ist jedoch darüber hinaus zu beachten, dass sich Krüger in seiner Naturlehre (1740–49, 3 Bde., zweite Aufl. 1748–55, 4 Bde.) gegen »die Übertragung von metaphysischen
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menspiel mit dem Vorstellungsvermögen des Rezipienten verbunden wird. »But all that Mendelssohn [der Lessings Anregung übernimmt, A.P.] is really assuming is that there is potential for pleasure in the perception of an object as well as in the object perceived.« (ebd., Hervorhebung A.P ) Gemeint ist mit der dafür nötigen Unterscheidung zwischen Gegenstand und »Vorwurf« (Vorstellung vom Gegenstand) nicht der Unterschied zwischen externem Gegenstand und internem Bild (Vorstellung) davon, sondern Mendelssohn trennt – mit Baumgarten – zwischen einem Gegenstand und der Darstellung eines Gegenstands und löst die starke Objektbindung des Gefallens, indem er es auf letzteres bezieht. Nimmt man das Vergnügen an einem Schiffsuntergang für einen einfachen Vorgang, so zeigt er die menschliche Bosheit: sein Interesse für Ereignisse, die anderen Menschen schaden, sowie sein Gefallen am Sterben Unschuldiger. Anders nimmt sich dies aus, wenn der Untergang per se als eine »Darstellung« wahrgenommen wird. Diese Aufteilung eröffnet den Blick auf das Kunstwerk als einer spezifischen Form von Nachahmung der ›Realität‹; das gerade dadurch einen Eigenwert in Bezug auf die ›Realität‹ des Rezipienten erhält: »On this account, we can enjoy (1) the represented content or theme of the work; (2) the formal properties of the work of art by means of which it represents this object; (3) the skill or artistry which has gone into the production of this work; and (4) the internal representation of all of this as a state of the soul with pleasurable effects on the body as well.« (ebd., 141)126 Das Gefallen ist nicht mehr allein auf ein spezifisches Objekt und seine Bewertung zurückzuführen, sondern es gründet auf einer Gleichzeitigkeit von der Selbstversicherung der eigenen Vorstellungstätigkeit, die von einem auch schrecklich erscheinenden Gegenstand ins Spiel gesetzt wird, dem Gefallen an der innerlichen Zurückweisung des Schrecklichen und der zugleich als angenehm empfundenen leichten Beschäftigung mit einem Objekt, das in seiner Künstlichkeit und dem damit einhergehenden Verweisungscharakter das schreckliche Objekt aus dem aktuellen Wirkungskreis des Rezipienten entfernt. Das Vergnügen ist in sich eine Vollkommenheit, in die eine tragische Verflechtung einige reizvolle Bitternis gießt, nicht anders herum (vgl. Geyer-Kordesch 1977, 169 ff.). Gegen Dubos wird in dieser Hinsicht die notwendige Komponente der als angenehm empfundenen Abwehr des Schrecklichen in die Theorie integriert, damit aber auch die Geltung dieser Differenzierung allein auf die Kunst reduziert. Im Trauerspielbriefwechsel ist diese Gleichzeitigkeit allerdings noch nicht überzeugend herausgearbeitet.
Distinktionen in die Psychologie« ausgesprochen hatte (Proß 1987, 870). An diesen Grundsatz hat sich Mendelssohn nicht immer gehalten. 126 Vgl. damit auch die von Wellbery 1984, 43–47 als spezifischer »theory type« entwickelte Charakterisierung des »representationalism«. Als deren wichtigster Aspekt kann man m.E. deren Bezug zur menschlichen Natur insgesamt werten, der sich sowohl in der Ausrichtung als auch der paradigmatischen Standards zeigt.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
Dass Mendelssohn Lessings Anregung – mit einigen Abstrichen im Detail – in späteren Arbeitsschritten aufnimmt, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass sie seinen Ansichten, die er schon in den Briefen (siehe Anm. l (1755), JubA I, 118) vertreten hatte, entspricht oder ihnen zumindest sehr nahe kommt. In einem Brief an Friedrich Gabriel Resewitz vom 15. Mai 1756 setzt er selbst, wenngleich mit Bezug auf die Selbstmordproblematik, fest: »Wo Mängel sind, da müßen auch Realitäten anzutrefen seyn. Das Gefühl der Schmertzen selbst zeiget einen gewißen Grad der Realität […]. Nach meinen Begrifen, werden angenehme und unangenehme Empfindungen durch keine bestimmte Gräntzen getrennt, weil beide nichts als relative Begrife sind […].« (JubA XI, 48) Wie an den unterschiedlichen, in einem Zeitraum von 1755 bis 1771 veröffentlichten Versionen der hier einschlägigen Schriften ablesbar127, hat sich Mendelssohn der Integration dieses Theorieelements zögerlich und in relativ weit auseinander liegenden Schritten angenähert. Die 1771er Fassungen der großen Abhandlungen präsentieren schließlich das ausgereifteste und prägnanteste Bild der Empfindungstheorie. Die Gründe für die erst spät erfolgte Textredaktion sind nicht deutlich und vermutlich auch fachfremden Faktoren, wie der hohen zeitlichen Belastung durch Mendelssohns Tätigkeit in der Seidenmanufaktur geschuldet. Es lässt sich jedoch auch vermuten, dass ihm im Zuge der Bestimmungsdebatte eine genauere Explizierung der vermischten Empfindungen unabdingbar wird, nicht zuletzt, um einen fundamental egoistischen Zug des zugrundeliegenden Menschenbilds abzuweisen. Dazu erscheinen ihm womöglich die in der ersten Ausgabe der Rhapsodie eher en passant angeführten Überlegungen nicht ausreichend.128 Es wird im Vergleich zwi127
Ich beziehe mich v. a. auf die in den Philosophischen Schriften, zuerst 1761, in einer umfassend revidierten Form 1771 in zweiter Auflage erschienen (die Fassung von 1777 ist lediglich ein geringfügig überarbeiteter Nachdruck). Zur Druckgeschichte siehe Pollok 2006, XV–XIX. 128 In einem Schreiben vom 4. Juli 1762, also noch vor der Diskussion über die Bestimmung des Menschen, bittet er Thomas Abbt, der für die Briefe, die neueste Litteratur betreffend eine Rezension der Philosophischen Schriften verfassen soll, um ein »philosophisches Urteil« vor allem über diese Rhapsodie (vgl. JubA XI, 348). Die Rezension Abbts erscheint im LB 333: 20. und 27. Juni 1765, JubA V/1, 670–73. Zu den Briefen über die Empfindungen hat Abbt lediglich zu bemerken, dass Palemons Voraussetzung, das Überdenken der Teile erhöhe das Vergnügen am Schönen, eigentlich nur für hinreichend komplexe Vorstellungen gelten müsste (672). Seine Meinung zur Rhapsodie »geht immer dahin: es wird uns beständig unbekannt bleiben, wie eigentlich eine Vorstellung auf den Willen würke, oder wie das Denken zum Begehren werde: aber wie stark und wie groß das seyn müsse, was vorher gehet, hat bisher noch die Hypothese unsers Autors am besten gezeigt.« (ebd., 673) Zur Wahrscheinlichkeit, über die Mendelssohn ebenfalls ein spezielles Urteil erbat, ebd.: Der Aufsatz sei »zu kurz und ein bisschen zu schwer [..]. Mir deucht, bey der wahrscheinlichen Erkenntniß ist immer der Glaube sehr stark mit einverleibet, und die schnelle Würkung des Glaubens thut mehr als die Würkung des Rechnens. Wenn der Verf. erst mehr über die Materie sagen wird: so will ich auch mehr sagen; oder eigentlich mehr von ihm lernen.« Mendelssohn hat sich diesem Komplex unter dem Stichpunkt der »Gewöhnung« eingehender zugewandt; siehe dazu Kap. III.2, Abschnitt 2 a).
II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«
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schen den beiden Fassungen der Rhapsodie ebenfalls offensichtlich, dass ihn nicht alle Anregungen bereits 1761 überzeugt hatten. Seine diesbezügliche Zurückhaltung zeigt beispielsweise eine 1771 eingefügte Fußnote, in der sich Mendelssohn skeptisch zu Lessings Theorie des Mitleids äußert (vgl. Kap. II.1, Abschnitt 2, S. 151). Obwohl er den Anregungen also keinesfalls unkritisch begegnete, nannte er seine eigenen Gedanken auch in einem Brief an Lessing vom 29. Mai 1761 »Embryonen« (JubA XI, 208), die noch zu entwickeln seien. Zwar sind diese Embryonen schon 1761 sichtbar, doch war Mendelssohn erst um 1770 der Belastbarkeit seiner eigenen Position sicher genug, um diesen Modifikationen einen prominenten Platz einzuräumen. Als ein »Embryon« können auch die 1758 entstandenen Anmerkungen zu Burke gelten, in denen die Zielrichtung der von Lessing angeregten Modifikation offengelegt wird: »Die Vorstellung der Unvollkommenheiten scheint, in so weit sie eine Erkenntnis der Schranken ist und in so weit sie die Fähigkeit der Seele Unvollkommenheiten zu verabscheuen, beschäftigt, eine Vollkommenheit des Geistes zu sein.« (JubA III/1, 239) Hier ist die Anknüpfung an Lessing mit Händen zu greifen – und Mendelssohn bittet, noch unsicher ob der eigenen, modifizierten Theorie, darum, diese Gedanken »reiflich zu erwägen« (ebd., 240). Den Ansatz, zwischen dem Objekt der Wahrnehmung und der Wahrnehmung an sich, sowie deren Vollkommenheitspotentialen zu unterscheiden, formuliert er auch, weitaus ambivalenter und vorsichtiger, in seiner Besprechung von Lowth’ De sacra poesi Hebraeorum. Dort betont er mit Nachdruck die angeborene Neigung zum Anderen als ein selbständiges Gefühl. Es ist auffällig, wie stark er hier die Verbindung zwischen Kunst und Sittlichkeit macht; denn erstere ist es, die den Rezipienten dazu veranlassen soll, sittliche Grundsätze anzunehmen. Künste, so Mendelssohn, »können nützlich seyn, wenn sie von der Beschaffenheit sind, daß sie mit der Natur und mit der Wahrheit übereinstimmen, das ist, wenn sie uns das Gute zu lieben, und das Böse zu verabscheuen antreiben. Ein Dichter, der wider diese Vorschrift handelt, misbrauchet seine Kunst auf eine sehr schimpfliche Weise.« (Bibliothek I.1 (1757); zit. nach JubA IV, 41) Jedoch ist die Erregung von Leidenschaften, die zu diesem Zweck dienen, nicht als eine eindimensionale Moralisierung zu verstehen. Vielmehr: »Allein die durch die Kunst erregten Affekten sind auch überaus angenehm. Selbst solche Gemüthsbewegungen, die ihrer Natur nach unangenehm sind, werden in der Nachahmung von einem ungemeinen Vergnügen begleitet, welches theils von der Nachahmung selbst, theils von der Vergleichung herrührt, die wir zwischen unserer Glückseligkeit und anderer Elend anstellen. Größtenteils aber entspringt dieses Vergnügen aus einem innerlichen moralischen Gefühle. Es ist dem Menschen eine gewisse natürliche Großmuth angebohren, die seine Eigenliebe einschränkt, und ihn antreibt an dem Schicksal anderer Menschen Theil zu nehmen. Es ist billig, anständig und dabey angenehm, sich über anderer Wohlergehen zu erfreuen, und sich über Elend zu betrüben, Gütigkeit und Großmuth zu lieben, und Grausamkeit und Unmenschlichkeit
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
zu verabscheuen.« (ebd.) Es ist auffällig, wie schwer Mendelssohn eine Ausschließung der Schadenfreude fällt. Sie drängt sich zu Beginn der Ausführungen kurz hervor, bevor er sie mit dem Hinweis auf eine angeborene »natürliche Großmuth« – wenig überzeugend – überstimmt.129 Diese Unentschlossenheit ist kennzeichnend für Mendelssohns Überlegungen der 1750er und 60er Jahre; es scheint jedoch am Einfluss skeptischer Einwürfe wie derjenigen Abbts und Herders zu liegen, dass er sich, aus Sorge um die Folgen der von beiden vertretenen Theorien, mehr und mehr auf die Seite eines stark moralisch aufgeladenen Menschenbildes schlägt und dabei eine im zitierten Aufsatz aus der Bibliothek angelegte Ambivalenz in der menschlichen Natur schließlich gänzlich unterschlägt. Doch bevor diese Frage entschieden werden kann (s. Kap. V), ist eine differenziertere Sicht auf Mendelssohns psychologische und ästhetische Auffassungen nötig. Denn das zu beobachtenden Schwanken ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass dieser von Lessing so genannte Gewinn an »Realität«, wie auch Guyer festhielt, gefährlich blind auf einem Auge ist: eine bloße Ansammlung an Eindrücken führt nur allzu schnell zu einer Empfindungstheorie Dubos’scher Prägung, in der Bewegtheit und Unterhaltung allein anvisiert sind. Eine weitere Gefahr dabei ist eine totale Loslösung vom Objekt des Gefallens, was wiederum einer Ästhetisierung der Welt gleichkäme, die das Vollkommenheitsideal nur noch in solipsistischer Lesart erlaubt. Dagegen setzt sich Mendelssohn vehement zur Wehr. Und auch die weitere Ausarbeitung des Theorems der vermischten Empfindungen spricht für sein Bestreben, der reinen Motion durch Leidenschaften eine strukturelle Verbindung zwischen sinnlicher und sittlicher Vervollkommnung des Menschen beizufügen (vgl. dazu Kap. III.2). Erste Ansätze dieses Bestrebens lassen sich schon in der ersten Fassung der Rhapsodie von 1761 verorten. Anders als Zelle130 129
Vgl. auch Zelle 1987, 340, der jedoch nicht auf Mendelssohns Auseinandersetzung mit Rousseau, sondern allein auf die Tendenz der »Empfindsamkeit«, die sich hier zeige, eingeht. 130 Vgl. Zelle 1987 Kapitel IV, 3, hier S. 348 (FN 108) und 319, 340 ff, sowie daran anschließend Bergengruen 2001, 49. Die Ansätze werden ebenfalls (Zelle 316) erwähnt; dennoch fragt er nach der »rätselhaften Ungleichzeitigkeit« (ebd., 318) von Entdeckung und erst spät erfolgter Ausformulierung (vgl. ebd., 347–53). Allerdings geht Zelle in seiner Diskussion der 1761er Rhapsodie nicht auf eine Passage ein, in der sich die Anregung Lessings bereits findet. Letztlich plädiere ich mit meiner Interpretation der 1761er Rhapsodie dafür, den »Bruch« zwischen 1761 und 1771 vorsichtiger zu behandeln: Die Ausformulierung der Theorie der vermischten Empfindungen ist erst 1771 befriedigend geleistet; dies soll jedoch nicht heißen, dass die Version 1761 keine diesbezüglichen Anhaltspunkte bietet. Damit ist die Beweislast, weshalb Mendelssohn die entscheidenden Anregungen »erst 1771 aufnahm«, gemindert zu der Frage: warum er sie erst 1771 derart stark ausarbeitete. Ein Faktor hierfür ist möglicherweise die bereits erwähnte Kritik Jerusalems gewesen, der eine bessere Differenzierung zwischen subjektiver und objektiver Sphäre der Betroffenheit bei vermischten Empfindungen gefordert hatte (vgl. Lessing, Werke 8, 160). Wie auch Lessing in seinen Nachbemerkungen anfügt, ist dieser Kritik mit der 1771er Version Genüge getan (ebd. 169). Jerusalems Einwürfe erinnern im Übrigen stark an Mendelssohn selbst, bspw. die Gedanken zur »Idealschönheit« im LB 66: 8. November 1759, JubA V/1, 98–101.
II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«
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in seiner Analyse der einzelnen Fassungen der Rhapsodie betont, findet sich bereits dort eine auch auf Lessings Einwurf bezogene Passage: Um die Faszination des durch ein grauenhaftes Schlachtfeld »watenden« Weltweisen zu erläutern, führt Mendelssohn aus: »Was man bey einem solchen Anblick fühlet, beweiset zur Genüge die Gegenwart einer vermischten Empfindung; die […] zwar nicht so angenehm, aber mit unaussprechlichen Reitz verknüpft ist. So bald wir das Böse nicht mehr als den Gegenstand unserer Wahl betrachten; so kommen unzehliche Bewegungsgründe zusammen, die uns reitzen, es anzuschauen. Es ist nicht nur an sich selbst mit vielem Guten untermengt, sondern unsere Einbildungskraft kann durch den Gegensatz auf tausend ergötzende Vorstellungen kommen, und wenn auch beides nicht wäre; so ist die Kenntnis des Bösen selbst, und der lebhafte Abscheu für dasselbe, eine Vollkommenheit des Menschen, und muß ihm nothwendig Vergnügen gewähren.« (JubA I, 571, Hervorhebung A.P.) Die Verabscheuung des Bösen wird hier als eine Ausübung der Seelenfähigkeit reformuliert, die mit Vergnügen begleitet ist, selbst wenn das Gefühl an sich unangenehm erscheint. Dementsprechend heißt es in den um 1770 entstandenen131 Bemerkungen zu den »Philosophischen Schriften«,[von]1761 zu der Aussage der Briefe, dass die Seele generell die Vorstellung einer Vollkommenheit der einer Unvollkommenheit vorzöge, nur noch kurz und bündig: »Falsch! Die Abneigung geht nicht immer auf das Nichthaben der Vorstellung, sondern zuweilen auf die Mißbilligung des Objekts.« (JubA I, 225; vgl. Zelle 1987, 349) Um dies stärker hervorzuheben, wird Mendelssohn seine Theorie der vermischten Empfindungen 1771 sogleich an den Beginn seiner Ausführungen in der Rhapsodie gestellt haben. Indem er mithilfe einer »feinen Betrachtung« Lessings (Brief Mendelssohns vom 2. März 1757, JubA XI, 108) eine »kleine Unrichtigkeit« (so die Fassung 1771, JubA I, 382) zu korrigieren vorgibt, verfeinert er – und zwar schon 1761 – die Bestimmung des Verhältnisses zwischen angenehmen und unangenehmen Empfindungen und formuliert sie in Anlehnung an die erforderliche Differenzierung zwischen dem Objekt und dem Subjekt der Wahrnehmung folgendermaßen: Eine angenehme Vorstellung, also die Wahrnehmung eines an sich positiv bestimmten Gegenstands wollen wir in zweierlei Hinsichten lieber haben als nicht haben. Wir finden nicht nur die Vorstellung selbst angenehm – auch der Gegenstand, den wir vorstellen, gefällt uns. Zu viele angenehme Vorstellungen können allerdings Langeweile, ja »Eckel« hervorrufen (JubA I, 396). In dieser Hinsicht bewegt sich Mendelssohn nah an der Vorlage Dubos’, aber auch Abbt hatte im Zweifel eine ähnliche Ansicht formuliert: »Mir deucht, diese Begierde [nach sinnlicher Lust] könne eben so gut darauf abzielen, der Seele eine Veränderung ihres Zustandes zu verschaffen. Sobald sie an einen Körper gebunden ist, dessen Nervensystem, in einem gewissen Grade erschüttert, ihr entweder angenehme oder schmerzhafte Empfindungen geben muß; so ist jede 131
Siehe die Angaben zur möglichen Abfassung in JubA I, 605.
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Begierde nach einer solchen unschmerzhaften Erschütterung, so lange diese für den Körper nicht zerstörbar ist, in der Existenz der Seele gegründet, und kann auch auf sie selbst zunächst und unmittelbar sich beziehen.« (JubA VI/1, 14, Hervorhebung A.P.)132 Mendelssohn würdigt diese Aussage in den 1781/82 entstandenen Anmerkungen in Anbetracht seiner eigenen Ausführungen mit einem ebenfalls knappen »Richtig!« (JubA VI/1, 39). Im Phädon betont er, vermutlich um den Folgerungen eines Dubos’schen Sensualismus zu entgehen, dass die Einförmigkeit im Sinne eines Fehlens aller Veränderung zugleich die Vernichtung jeglichen Lebens sei. Zur Aufrechterhaltung der Tätigkeit der Monade ist der Wechsel von »Unordnung und Regelmäßigkeit, Harmonie und Mißstimmung, Angenehme[m] und Widrige[m], Gute[m] und Böse[m]« (Phädon, JubA III/1, 108) als Zeichen des Lebens zu bejahen und notwendig. Deshalb auch das Interesse an den nicht nur angenehmen Vorstellungen, die der Langeweile entgegenwirken können. Bei ihnen (Schiffsuntergängen, Gladiatorenkämpfen etc.) stellt sich das Verhältnis zwischen Vorstellung und Gegenstand der Vorstellung komplizierter dar und verspricht also eine größere Reichhaltigkeit der Erfahrung, mehrere Anstöße zur eigenen Bewertung dieser und der damit erfolgenden Veränderung der eigenen Position bzw. deren Bereicherung. Den Gegenstand einer solchen Vorstellung empfinden wir sicherlich nicht als angenehm – die Vorstellung selbst allerdings unter Umständen sehr wohl. Nur wenn subjektive und objektive Seite der unangenehmen Vorstellung ineins fallen wie bspw. beim akuten körperlichen Schmerz, finden wir keinerlei Vergnügen an der Vorstellung. Besteht demgegenüber eine Differenz zwischen dem Gegenstand der Vorstellung und dessen Wahrnehmung, so kann sich ein Spiel zwischen angenehmer und unangenehmer Empfindung, Freude an der Vorstellung und Abscheu gegenüber dem Objekt der Vorstellung entspinnen. Die Intensität dieser vermischten Empfindung richtet sich dabei auch nach der jeweiligen Gemütsverfassung und Erziehung des Rezipienten, sowie seinem Verhältnis zum wahrgenommenen Objekt: »Das Böse […] ist unangenehm von Seiten des Gegenstandes, als Urbild außer uns betrachtet, indem es, in dieser Beziehung, in einem Mangel, in einer Verneinung etwas Sachlichen bestehet; aber als Vorstellung, als Bild in uns selbst betrachtet, das die Erkenntnis- und Begehrungskräfte der Seele beschäftiget, wird die Vorstellung des Bösen selbst ein Element der Vollkommenheit, und führet etwas angenehmes mit sich […].« (Rhapsodie, JubA I, 386) Solange das Böse also tatsächlich nur als »Bild« existiert, muss es uns nicht direkt betreffen, sondern kann sich sogar angenehm auf die Vorstellungstätigkeit auswirken. Damit artikuliert Mendelssohn den Grundgedanken der Re132
Ähnlich formuliert er es im kurzen Aufsatz Einrichtung der ersten Studien eines jungen Herrn von Stande (zuerst 1767, 21780 in Abbt Werke 5, 65): »Unsere Seele ist so beschaffen, daß nur dasjenige einen starken Eindruck und folglich einen dauerhaften bey ihr macht, was sie mit Vergnügen, oder mit Schrecken, sich vorgestellet hat.«
II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«
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zeptionsästhetik: das ästhetisch Gelungene kann »nicht immer in dem Gegenstande außer uns […] gesucht werden.« (Ebd., 389)133 Zugleich jedoch hat er damit das Empfinden für den Anderen in eine Ferne gerückt, die sein Leiden gleichfalls als ein für uns relevantes ästhetisches Erlebnis erscheinen ließe. Mendelssohn versucht dieser Folgerung entgehen, indem er die Wirkung der vermischten Empfindungen eng mit der Wirkung der Kunst koppelt und damit das Vergnügen am Schrecklichen auf den Bereich des Imaginären eingrenzt. Im Falle des über die Schlachtfelder »watenden« Weltweisen muss allerdings zu dieser Bestimmung ein weiterer Aspekt hinzukommen, der erst im Anschluss an eine umfassende Betrachtung der Rolle von Empfindungen für menschliches Handeln und Erkennen reformuliert werden kann (s. Kap. III.3). Vorerst lässt sich festhalten: Das ästhetische Vergnügen konstituiert sich nach Mendelssohn nicht über das bloße Wahrnehmen eines Gegenstands, sondern über eine spezifische Art der Wahrnehmung, die mit der Theorie der vermischten Empfindungen beschrieben werden soll. Der Gegenstand fordert damit sogar, sich evaluativ zu ihm zu verhalten. Die genauere Bestimmung dieser Doppelstruktur aus Genuss und Reflexion kann nun die Grundbedingungen eines »schönen« Gegenstands – und damit die Hauptgrundsätze der ästhetischen Wirksamkeit aufdecken. Wie noch zu zeigen sein wird, stellt sich Mendelssohn diese ästhetische Wirksamkeit als einen paradigmatischen Fall menschlichen Weltverhaltens vor, dessen Grundkonstituenten sich über die ästhetische Theorie auch für andere Gebiete erschlössen. Um jedoch die Besonderheit der Kunstbetrachtung zu verstehen, ist als weiterer Aspekt Mendelssohns Theorie der Illusion näher zu untersuchen, die die weiteren Schritte zur Lösung von der Objektbindung des ästhetischen Erlebens begründen soll (siehe Kap. II.3). Vor der Hand scheint die Theorie der vermischten Empfindungen eine rein explikative Funktion einzunehmen: sie ist eine differenzierte Analyse menschlichen Vergnügens, ohne zugleich dessen Rechtfertigung innerhalb des Perfektibilitätsparadigmas leisten zu können. Das mit ihr benennbare Phänomen hat auch Platon in gewisser Weise schon in der Betrachtung des gleitenden Übergangs zwischen Lust 133
Auch hier ließe sich ein tiefgreifender Unterschied zur (auch vorkritischen) Auffassung Kants ausmachen. In der Anthropologie-Pillau (WS 1777/78), AA XXV, 789 trennt Kant ebenfalls zwischen dem objektiven und subjektiven Aspekt einer Vorstellung. Er betont jedoch nicht deren Bezug auf eine Vollkommenheit oder gar ein Vergnügen (das er als ein bloß den »privat Sinn« angehendes Ereignis qualifiziert, vgl. ebd., 788), sondern vielmehr den Zusammenhang mit einem Urteil: »Die Unannehmlichkeit ist nicht allein in den Sinnen, sondern auch oft noch mehr im Urtheil. z. E. Der Schmutz liegt nicht in den Sinnen, denn er rührt uns gar nicht an, und doch ist es uns unangenehm, wenn wir in ein schmutziges Zimmer kommen.« Dieses Gefühl scheint, nach Kants weiterer Beschreibung, durch die Erziehung zustande zu kommen. Wichtig ist aber vielmehr der Abstand zwischen Ereignis und Urteil: »Unglück ist nicht das Ubel, so wie es selbst ist; sondern was wir von ihm dencken.« (789)
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
und Schmerz reflektiert. Im dritten Abschnitt des Phaidon lässt er Sokrates ausrufen: »Wie seltsam, meine Freunde, scheint es sich doch mit dem zu verhalten, was die Leute Lust nennen. In wie sonderbarem Verhältnis steht sie zu dem, was man als ihr Gegenteil ansieht, zu der Unlust. Zusammen mögen sie beide nicht zum Menschen kommen; wenn man aber dem einen nachjagt und es ergreift, so kann man kaum anders als auch das andere mit zu ergreifen: es sind gleichsam zwei verschiedene Wesen, aber mit gemeinsamem Scheitelpunkt.« (60 A) Mendelssohn reformuliert diese Passage in seiner ›Übersetzung‹, etwas pathetischer, folgendermaßen: »O meine Freunde! welch ein seltsames Ding scheinet das zu seyn, was man Vergnügen nennet! Wie wunderbar! Dem ersten Augenblicke nach ist es den Schmerzen entgegen gesetzt, indem kein Mensch zu gleicher Zeit aus einer Sache Schmerz und Vergnügen schöpfen kann; und dennoch kann niemand eine von diesen Empfindungen haben, ohne unmittelbar darauf die entgegengesetzte zu fühlen, als wenn sie an beiden Enden aneinander befestiget wären.« (Phädon, JubA III/1, 43) Damit scheint er noch einmal die eigene Empfindungstheorie betonen und – durch den Mund Sokrates’ – metaphysisch legitimieren zu wollen. Die Nähe zwischen Schmerz und Vergnügen erscheint im Lichte der vermischten Empfindungen tatsächlich den besonderen Wert dieser sensitiven Grenzerfahrungen zu erklären. Dem schlichten Vergnügen hatte sich Mendelssohn schon in den Briefen entgegengestellt: die »Leichtigkeit« in der Entwicklung einer Idee kann, so formuliert er dort gegen Sulzer, nicht allein ihren ästhetischen Wert ausmachen. Vielmehr entwickelt er zum einen durch das Zusammenspiel von rationaler Analyse und übergreifender, aber lediglich verworrener Gesamtschau einen komplexeren Begriff des Vergnügens, dem schließlich mit der Theorie des Genusses an schrecklichen Gegenständen ein wichtiger Aspekt hinzugefügt wird. Es kann nicht allein um die Lust an irgend einer Form der Leichtigkeit gehen, sondern auch um das Vergnügen an der ganzen Palette menschlicher Empfindungsmöglichkeiten, die Schmerz, Grauen und Schrecken ebenso umfasst wie Mitleid, Liebe und Güte. Allerdings sollen diese genannten Pole menschlicher Empfindungsweisen im Begriff der Vollkommenheit, oder genauer: der eigenen wie nach außen gerichteten Vervollkommnung aneinander gebunden werden. In einem Brief an Ludwig Eugen Herzog von Württemberg vom 17. Juli 1767 formuliert es Mendelssohn – in enger zeitlicher Nähe zum Phädon – schließlich so: »Sinnliches Vergnügen und sinnlicher Schmerz entspringen beyde aus einer Quelle, nur daß die Stärke des Eindruks in die Gliedmaßen verschieden ist. Eine gelinde Anstrengung der Nerven verursacht angenehme, eine heftige unang[enehme] Empfindungen; daher können sie gar leicht in einander übergehen. Es wechseln auch bey allen sinnlichen Empfindungen Verlangen und Genuß, Besitz und Beraubung so unaufhörlich mit einander ab, daß Vergnügen und Schmerz nothwendig an einander gränzen müssen.« (JubA XII/1, 136, vgl. auch Phädon, JubA III/1, 81 f.)
II.2 Die Natur des Vergnügens und der »vermischten Empfindungen«
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Diese ewig wechselnde Verbindung erhält das menschliche Leben, das Mendelssohn nicht mit ruhigem Genuss, sondern mit einer vorantreibenden Kraftäußerung im Wechsel der Seelenzustände verbindet. Damit steht er, wie die einleitenden Ausführungen zu den post-leibnizianischen Theorien zum Vergnügen zeigen, nicht allein. Und auch Locke hat in seinem Essay Concerning Human Understanding die Antriebskraft der »Uneasiness« betont und ihr daneben das Gefühl des »delight« an die Seite gestellt.134 Die Ansicht, dass der Schmerz bzw. die unangenehmen Empfindung im weitesten Sinne als eine notwendige Zutat des Lebens fungiere, hat in dieser Tradition – und Mendelssohns Ansicht mag nicht zuletzt aufgrund ihrer Prominenz bis in die 1780er Jahre als ihr Katalysator gewirkt haben – eine spürbare Auswirkung auf die späteren anthropologischen Theorien gezeitigt. Die Ansicht, dass auch das wahre Vergnügen letztlich auf diesem Mechanismus aufbaue, findet sich so u. a. in Pietro Verris Gedanken über die Natur des Vergnügens, das 1777 von Christoph Meiners übersetzt und anonym herausgegeben wurde, aber auch in Kants Anthropologie (1798): »Zufriedenheit (acquiescientia) während dem Leben […] ist dem Menschen unerreichbar: weder in moralischer (mit sich selbst im Wohlverhalten zufrieden zu sein) noch in pragmatischer Hinsicht (mit seinem Wohlbefinden, was er sich durch Geschicklichkeit und Klugheit zu verschaffen denkt). Die Natur hat den Schmerz zum Stachel der Thätigkeit in ihn gelegt, dem er nicht entgehen kann, um immer zum Bessern fortzuschreiten […].« (AA VII, 234 f., Hervorhebung A.P.) Dieser »Stachel« steckt auch in Mendelssohns Äußerungen zu Sinnlichkeit und ›schlechten‹ Empfindungen, also dem Reiz des Bösen. Sinnlichkeit ist keine Defizienzerscheinung des Menschen, sondern wird vielmehr von ihm als »Blume [der] Vollkommenheit« der menschlichen Natur bezeichnet. Er würde, wie er in einem Brief an Herder vom 2. Mai 1769 (JubA XII/1, 183)135 formuliert, »untröstlich seyn«, wenn ihm ein Philosoph (und hier meint er wohl v. a. die Rationalisten) demonstrierte, dass die Sinnlichkeit jemals vollständig überwunden werden könnte. In der Begeisterung für schreckliche Gegenstände sieht er eben nicht eine böse menschliche Natur, sondern die Äußerung von an sich reinen Empfindungen in einem reizvollen Zusammenspiel. So schreibt er in der bereits erwähnten Passage in der Rhapsodie von 1761: »Ich finde hier nichts als den mächtigen Reiz der vermischten Empfindungen, der zwar durch eine böse Gewohnheit, zu verdorbenen Neigungen Anlaß geben 134
Vgl. Locke, Essay II, 7. Siehe auch Platon, Philebos, auf dessen Nähe zu Locke Proß 1987, 1195 hinweist. Verwandt ist Mendelssohns »Behaglichkeit« auch mit Leibniz’ Begriff des appetitus (Proß 1987, 1191), wenn dieser als affektiv neutral betrachtet wird. Auch in Spinozas Überlegungen ist die Betonung des appetitus zu verzeichnen, vgl. dazu Goetschel 2004, 50 f. 135 Herder selbst verwendet diesen Ausdruck, die Sinnlichkeit als »Blume unserer Vollkommenheit« im vierten Kritischen Wäldchen (entst. 1769, ersch. 1846), siehe Werke 2, 273; vgl. Kap. V.2.
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kann, an sich selbst aber so unschuldig ist, wie jeder Trieb, mit welchem uns die Natur hat gebohren werden lassen.« (JubA I, 572, Hervorhebung A.P.) Schließlich verbindet er im § 79 seiner Leibniz-›Übersetzung‹ Sache Gottes (entstanden um 1784/85) diese Ansicht mit den nervenphysiologischen Überlegungen seines Frühwerks: »Der Schmerz ist eine so heftige Empfindung des Gefühls, daß wir dadurch in unsern gewöhnlichen Vorstellungen gehemmt werden. In dem Sinnengliede ist es allezeit eine wirkliche oder bedrohte Trennung des Stetigen im Nervengebäude, und in der Seele wird diese unmittelbare Empfindung unangenehm, weil sie Unvollkommenheit zum Objecte hat, und durch ihre Heftigkeit Hemmung des Ideenlaufs und also auch subjective Unvollkommenheit zur Folge hat.« (JubA III/2, 252) Dieses Übel beruht also auf einer durchgehenden Einschränkung, hat etwas »bloß Negatives« als Quelle (ebd. § 80). Betrachtet man allerdings die Auflösung der körperlichen Natur, die im Schmerz sich darstellt, aus objektiver Perspektive, so zeigt diese Auflösung nicht reine Zerstörung, sondern einen Übergang zu neuer Organisation an (vgl. § 75). »Alles, was die Kräfte des Leibes und der Seele bei Hervorbringung und Empfindung desselben [des Schmerzes] thun, ist wirklich gut. Jede Kraftäußerung ist eine Realität […]«. Doch Mendelssohn bleibt an dieser Stelle, die geeignet scheint, das Strebensmoment einer ausgerechnet durch Schmerz angetriebenen Seele zu verabsolutieren, nicht stehen, sondern fügt hinzu: »aber das Unvermögen, die Hemmung und Einschränkung unserer Kräfte, die dabei mit unterlaufen, machen den Schmerz zum Uebel.« (JubA III/2, 253) Auch deshalb ist eine Theorie des Übergangs zwischen Vergnügen und Schmerz eher geeignet, die menschliche Empfindungs- und Bewertungstätigkeit zu erfassen. Das Hinübergleiten in die ›objektive‹ Perspektive der gottähnlichen (und gottgebundenen) Weltbetrachtung, die wiederum die Realität des Schmerzes als eines persönlichen, reinen Übels anzunehmen erlaubt, zeigt allerdings, wie schnell Mendelssohn bereit schien, den Beweis der Güte aller menschlicher Regungen und ihre Einpassung ins Vollkommenheitsparadigma aus der Metaphysik zu entlehnen. Eine ›subjektive Theodizee‹, die Erklärung des Übels, oder des menschlichen Gefallens am Übel auf der Basis eines sich und seine Umwelt vervollkommnenden Individuums ist solcherart noch nicht erreicht.
II. Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie »Nunmehr ist es Zeit die Grentzen der Vollkommenheit und der Schönheit zu trennen, und beide in ihrer wahren Gestalt zu zeigen.« Mendelssohn, Briefe über die Empfindungen, JubA I, 58
Wie aus dem vorangegangenen Teilkapitel hervorgehen sollte, münden Mendelssohns Überlegungen zur Theorie des Vergnügens als einer Form der Wahrnehmung von Vollkommenheit – oder einer vollkommenen Wahrnehmung – in eine Diskussion über die Theorie des Vergnügens an Gegenständen, die nach ›objektiven‹ oder moralischen/sittlichen Gesichtspunkten eher Missbilligung verdienten. Die Formen ästhetischer Welterschließung erstrecken sich dabei auch, wie die vermischten Empfindungen zeigen, auf ›hässliche‹ oder ›unvollkommene‹ Gegenstände, ja, können darüber hinaus in diesem Bereich sogar eindrücklicher sein. Damit versucht Mendelssohn, der Reichhaltigkeit und gleichzeitigen Ambivalenz menschlicher ästhetischer Welterfassung gerecht zu werden, ohne eine grundlegende Bindung an das Vollkommenheitstheorem aufgeben zu müssen. Hinzu kommt eine Diversifizierung der Anwendungsbereiche des Vollkommenheitsparadigmas in Bezug auf seine Wirksamkeit. Vollkommenheit lässt sich in einer vollkommenen Verfasstheit des Werks, in einer vollkommenen Beschäftigung des Rezipienten, oder in dem Verweis des Werks auf seinen vollkommenen Schöpfer darstellen bzw. erreichen. »Einem jedem endlichen Dinge kömt eine dreyfache Form zu. Eine in dem Geiste des Künstlers, der es hervorbringen will, die zwote in der Natur der Dinge, allwo sie mit der Materie verbunden ist, und die Letzte in dem Geiste des Betrachtenden.« (Zu einem Laokoon-Entwurf Lessings, JubA II, 255, entstanden ca. 1762/63) Diese Dreiteilung der ästhetischen Wirkung, die umfassender für alle Bereiche menschlicher Wahrnehmung gelten kann136, ist für das Verständnis von Mendelssohns Version einer Anthropologie von großer Bedeutung. Im Folgenden soll deshalb seine Auffassung von Kunstwirkung und Kunstrezeption (1), sowie die Bedeutung des Genie-Gedankens (2) herausgearbeitet werden. Die Übersteigerung der Vollkommenheit im Konzept des Erhabenen (3) schließt diese Überlegungen zu einer anthropologisch fundierten Ästhetik ab. Die Diskussion über die Kunst und ihren ›Nutzen‹ war im 18. Jahrhundert ein überaus beliebtes und hart umkämpftes Feld. Hier standen sich nicht nur unterschiedliche Hintergrundmetaphysiken gegenüber, sondern auch divergierende Auf136
Denn auch die Erschließung der Welt erfordert ein Bewusstsein von einem ›Außer-mir‹, das Mendelssohn wie viele andere Zeitgenossen als eine Wahrnehmung der göttlichen Schöpfung auffasste.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
fassungen von Definition und Determination des Menschen137, die sich letztlich bis in die politischen und gesellschaftstheoretischen Positionen der Teilnehmer dieses Streits niederschlugen. Wiederum sind auch das Erstarken der Psychologie sowie der medizinisch-anthropologischen Physiologie für die Erschließung dieses Kampfplatzes von Bedeutung. Die Neubegründung von Gesellschaft und der damit einhergehenden Frage nach der Rolle der Bürger in ihr, sowie die physiologische Neuentdeckung des Menschen und seiner Motivationsstruktur waren damit zwei Motivationen, sich mit der Rolle der Kunst erneut auseinander zu setzen (vgl. Geyer-Kordesch 1977, 5). Eine ästhetische Anthropologie musste demnach zwei unterschiedliche Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Menschen finden. Mendelssohn war sich dieses prekären Zusammenhangs der Fragestellungen – bzw. ihrer Konkurrenz – durchaus bewusst. Auch seine tiefsitzende Abneigung gegen Formen der Instrumentalisierung wird ihn in dieser Hinsicht motiviert haben, den Streit zwischen naturrechtlich-normativen und physiologisch orientierten Menschenbildern auf seine Art zu beantworten. Programmatisch sind in diesem Sinne die einleitenden Bemerkungen der Hauptgrundsätze zu verstehen, die den Nutzen der Ästhetik für die Lehre vom Menschen und eine positive Nutzung dieser Erkenntnisse explizieren. Mehr noch, bietet die ästhetische Erfahrung, wie im vorangegangenen Teilkapitel bereits anklang, eine exklusive Möglichkeit zur Einsicht in die menschliche Natur: »Die schönen Künste und Wissenschaften sind für den Virtuosen eine Beschäftigung, für den Liebhaber eine Quelle des Vergnügens, und für den Weltweisen eine Schule des Unterrichts. In den Regeln der Schönheit, die das Genie des Künstlers empfindet, und der Kunstrichter in Vernunftschlüsse auflöset, liegen die tiefsten Geheimnisse unserer Seele verborgen. Jede Regel der Schönheit ist zugleich eine Entdeckung in der Seelenlehre. Denn da sie eine Vorschrift enthält, unter welchen Bedingungen ein schöner Gegenstand die beste Wirkung in unser Gemüt tun kann; so muß sie auf die Natur des menschlichen Geistes zurückgeführt, und aus dessen Eigenschaften erklärt werden können. Wenn also der Weltweise die Spuren der Empfindungen auf ihrem dunkeln Wege verfolgt; so müssen sich ihm neue Aussichten in der Seelenlehre auftun, die er sonst durch Vernunftschlüsse und Erfahrungen nie entdeckt haben würde. Die menschliche Seele ist so unerschöpflich als die Natur; das bloße Nachdenken kann unmöglich alles ergründen, was ihr zukommt, und die alltägliche Erfahrung pflegt selten entscheidend zu sein. Die glücklichen Augenblicke, in welchen wir die Natur gleichsam auf der Tat ertappen, entwischen uns niemals so leicht, als wenn wir uns selbst beobachten
137
Vgl. zur Gleichursprünglichkeit von Ästhetik und Anthropologie Kap. I.1, 52 f., FN 52.
II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie
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wollen; und wenn sie da sind, so ist die Seele allzu sehr mit andern Angelegenheiten beschäftiget, als daß sie wahrnehmen könnte, was in ihr selbst vorgehet. Man wird also die Erscheinungen, bei welchen die Triebfedern unsrer Seele in der größten Bewegung sind, sorgfältig zergliedern, und mit der Theorie vergleichen müssen, um auf diese ein neues Licht zu verbreiten, und ihre Grenzen durch neue Entdeckungen zu erweitern. Bei welchen Erscheinungen sind aber wohl alle Triebfedern der menschlichen Seele mehr in Bewegung, als bei den Wirkungen der schönen Künste?« (JubA I, 427 f.. Hervorhebung A.P.) Demnach bietet also die Erfahrung und Untersuchung des Schönen Kenntnisse über den Menschen, die einer auf anderen, abstrakteren Wegen verfahrende Seelenlehre nicht erreichen kann. En passant erteilt Mendelssohn darüber hinaus der Superiorität der »psychologia rationalis« eine Absage. Letztlich zielt seine Untersuchung der Ästhetik auf eine Erhebung des Menschen ab; seine Überlegungen zum Erhabenen werden dies besonders deutlich hervortreten lassen. Es ist allerdings, nimmt man seine als ästhetischen Schriften bezeichneten Werke zur alleinigen Grundlage, unklar, welcher Art der hier anvisierte Mensch sein soll; das vorliegende Kapitel wird dieses Bild näher umreißen. Es geht Mendelssohn im Hinblick auf das Schöne um ein komplexes Phänomen, das sich aus der Konstitution und (Re-)Präsentation138 des Gegenstands, seiner Wirkung und der Art seiner Wahrnehmung in spezifischen Umständen ergibt und für das er auf die Theorie der vermischten Empfindungen zurückgreift, die eine Differenzierung von Konstitution des Gegenstands, Art seiner Hervorbringung und seiner Wirkung auf den Betrachter zulässt. Im vorliegenden Teilkapitel soll die Entwicklung dieses Gedankens in Mendelssohns Werk, sowie in Auseinandersetzung mit benachbarten Ansichten nachvollzogen werden. Wie bereits in Kap. II.2 erwähnt, wird sich eine einheitliche, gar systematische Theorie der Ästhetik in einem bestimmten Werk Mendelssohns kaum finden. Vielmehr lässt sich der Reichtum an Themen und Aspekten, die er immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln zum Gegenstand der Analyse macht, letztlich unter die Frage subsumieren, was das ästhetische Erleben für den Menschen bedeutet. Es geht um Wirkungsmechanismen, um das Zusammenwirken von Emotion und Ra-
138
Es sei an dieser Stelle auf die ausgezeichnete Analyse von Wellbery 1984 verwiesen. Dieser hat die Grundstrukturen einer repräsentationalistischen Ästhetik als eines Paradigmas aufklärerischer Kunstphilosophie auch am Beispiel Mendelssohns herausgearbeitet. Interessant im gegebenen Zusammenhang scheint mir, dass er (ebd., 46) implizit auf den Wert einer semiotisch ausgerichteten Theorie für einen anthropologischen Ansatz hinweist. Ihm zufolge bildet die menschliche Gemeinschaft (»human community«) als eine idealisierte (!) Gruppe (»idealized group«) die Grundlage für das Basistheorem, der Darstellung der Welt durch die Sinnlichkeit, der sich Künstler wie Rezipient bedienen.
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tio, und schließlich um die freie Form der Welterfassung, die der ästhetische Abstand zu bieten vermag. Die Anbindung an die Vollkommenheitsphilosophie ist dabei bei weitem nicht so eindimensional wie man denken möchte. So vermerkt Mendelssohn entschieden in seinen Anmerkungen zu Sulzers Essai sur le bonheur des êtres intelligens: »Was gehen uns, in so weit wir nur die sinnlichen Vergnügungen betrachten, die Regeln der Ordnung und der Schönheit des Gantzen an?«139 Diese Scheidung der Schönheit von der universellen Vollkommenheit findet sich auch im Diktum der Briefe über die Empfindungen. Demnach musste sich Gott bei der Weltschöpfung durchaus nicht den menschlichen Begriffen der Schönheit anbequemen – vielmehr steht die Welt unter einem umfassenderen Gesetz der Zweckmäßigkeit, in dem die Schönheit ihr begründbares Eigenrecht besitzt (vgl. den fünften Brief, JubA I, 58– 62). Zum einen löst dies die Kunst aus der Bindung eines eindimensionalen Vollkommenheitsparadigmas, das eine Theorie der Kunst auf eine Theorie des Schönen als einer direkten und genauen Abbildung des Vollkommenen (vgl. Wolff, Deutsche Metaphysik §§ 18, 152, 751, 822) festlegt; zum anderen setzt dies den Blick auf die Vielfalt an Formen der Zweckmäßigkeit, die dem Menschen mehr oder weniger klar zugänglich sind, frei.140 Am deutlichsten hat Ernst Cassirer die Stoßrichtung dieser Ästhetik herausgehoben: »Nach der Seite der Metaphysik hin schließt Mendelssohns Begriffsbestimmung der Schönheit die Folgerung in sich, daß die Anschauung der Schönheit dem Menschen allein vorbehalten sei, ja daß sie es ist, die das eigentlich Charakteristische, das Spezifische der menschlichen Erkenntnisweise und Erkenntnisform ausmacht. Mit diesem Gedanken ist Mendelssohn zu einem der Hauptbegründer jenes ästhetischen Humanismus geworden, der für die deutsche Ästhetik des 18. Jahrhunderts kennzeichnend ist und der seine methodische Rechtfertigung und seinen klassischen Abschluß in Schillers ›Briefen über die ästhetische Erziehung‹ gefunden hat.« (Ders. 1929, 60 f.) Unter Rückgriff auf die angeführte Passage in den Briefen betont auch Cassirer die besondere Position des Schönen für Mendelssohn. Denn bedeutet ihr 139
JubA II, 29. Diese Notizen entstanden um 1755 (vgl. Altmann 1969, 108 f.). Lessings wie Mendelssohns von theologischen Implikaten weitgehend freie »Kunsttheorien zeigen, dass die Differenzen zwischen Kunst und Rationalität nicht zu einer antirationalistischen Ästhetik führen müssen. In diesem Zusammenhang ist auch Mendelssohns These zu sehen, dass der Schöpfer die Welt nicht nach Gesetzen der Schönheit geschaffen habe. Die sinnliche, äußere Schönheit, unter der sich grässliche Gestalten verbergen können, sei nur die anthropozentrische Perspektive, die göttliche könne nur durch Vernunft erfasst werden. Mit dieser Anthropomorphisierung des Schönheitsbegriffs beginnt dessen Emanzipation von der Vollkommenheit.« (Müller 2004, 75) Es sei hier allerdings betont, dass bei Mendelssohn selbst nicht von einer solchen »Emanzipation« gesprochen werden kann, sondern dass vielmehr die Umformulierung des Ästhetik-Paradigmas als schöne Nachahmung (und nicht mehr: Nachahmung des Schönen) samt ihrer emotivpsychologischen Wurzeln in einer dynamischen Lesart der Vollkommenheit als Vervollkommnung wurzelt, vgl. Kap. I und II.1. 140
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eingängiges »Einerley des Mannigfaltigen« (JubA I, 58) prima facie einen niedrigeren ontologischen Status als die vollkommene Einheit der Mannigfaltigkeit der Welt, so ist ihr Wert für die menschliche Erkenntnis, die sich im Erleben des Schönen der intuitiven Erkenntnis Gottes nähert, umso größer. »Aber was im absoluten Sinne als Schranke des Menschen angesehen werden muß, das bedeutet andererseits im relativen Sinne erst seine eigene Selbstvollendung.« (ebd., 61) Mendelssohn interessiert der ›menschliche‹ Aspekt des Schönen – ja, mehr noch, ist doch eigentlich das Schöne allein für den Menschen ein Modus sinnlichen Erlebens. Mendelssohns Theorie der Ästhetik ist deshalb, das sei vorab betont, keine Poetik im engeren Sinne. Poetologische Techniken interessierten ihn nur am Rande, abgesehen von einschlägigen Passagen in den von ihm mitherausgegebenen Zeitschriften. Eine Technik hat bei ihm immer einen über sich selbst und ihre bloß affektive Wirkung hinausweisenden Zweck; sie bestimmte niemals in Gänze den Produktionsprozess eines Kunstwerks, den Mendelssohn vielmehr unter Rückgriff auf einen an Shakespeare orientierten Genie-Gedanken und auf die stärkere Betonung des Rezeptionsaspekts reformuliert. Hinsichtlich dieses Schwerpunkts ist es darüber hinaus eher die Kunst, Techniken zu verstecken oder zu überspielen – um sie an geeigneter Stelle in Szene zu setzen und somit wiederum eine psychologisch erklärbare Brechung der völlig blinden, weil der Illusion verfallenden Rezeption zu erreichen, die seine Überlegungen des Produktionsaspekts bestimmten. Techniken dienen als Hinweis auf den Werk-Charakter der Kunst; das wirkliche ästhetische Potential geht aber klar über eine regelgemäße Anwendung spezifischer Techniken hinaus und erschließt sich erst über die Wahrnehmung des ›Schönen‹.141 Um Mendelssohns Überlegungen zur Ästhetik angemessen zu konturieren, ist das Moment der Entwicklung seiner Philosophie von entscheidender Bedeutung (vgl. Pollok 2006, XIV). Er scheint sich zunehmend der besonderen Stellung der Ästhetik, bzw. ihrem differenzierten Verhältnis zur Vollkommenheit und auch zur Vervollkommnung klarer geworden zu sein. Dabei spielen die in Kap. II.2 erwähnten Überlegungen Sulzers, Dubos’, Lessings, aber auch der englischen Empiristen und unter ihnen vor allem Burke eine entscheidende Rolle (vgl. den vorangegangenen Abschnitt in Kap. II.2, S. 183). So ist die Vorarbeit zu einer Rezension von Burkes Philosophical Enquriy into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757), in deren »Beschluß« Mendelssohn skizziert, wie er nach dieser Lektüre die Problematik des Erhabenen abzuhandeln gedenke, von besonderem
141
Hier von einer »Wahrnehmung des Ästhetischen bzw. des ästhetisch Relevanten« zu sprechen, wird aus dem naheliegenden Grund, bloße Tautologien zu produzieren, unterlassen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass das »Schöne« in Mendelssohns Theorie tatsächlich die Grenzen eines auf das Hübsche, Angenehme und in sich Vollkommene gerichteten Schönheitsbegriffs überschreitet.
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Interesse.142 Die dort entwickelten Gedanken übernimmt Mendelssohn später in die modifizierten Ausgaben der größeren Abhandlungen, die man als die konzentrierteste Fassung seiner Ästhetik werten kann. Dabei sind die Fragen nach der Kunstwirkung (im Modus der Illusion), ihrer künstlerischen Erschaffung sowie der Rezeptionsmechanismen des Komplexes Kunstwerk-Künstler von herausragender Bedeutung. Alle genannten Bereiche erfuhren in den Jahren zwischen 1755 und 1771 entscheidende Veränderungen, die sich nicht zuletzt auf die immer schärfere Konturierung von Mendelssohns Menschenbild zurückführen lassen. Indem der Mensch als ein prinzipiell ›unfertiges‹ Wesen verstanden wird, dem die Vereinbarung der einander diametral entgegengesetzt erscheinenden Forderungen von Sinnlichkeit und Verstand obliegt, erhält auch der Prozess der Vervollkommnung vielfältige Dimensionen. Die Art und Weise seines Ablaufs, wie ihn Mendelssohn in der Bestimmungsdebatte nur unzureichend konturierte, kann mit Blick auf die Ästhetik näher beschrieben werden.
1. Das Illusionspostulat In einer ersten Annäherung an Mendelssohns an die Theorie der vermischten Empfindungen anschließende Kunstphilosophie sind die 1757 erschienenen Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften – sie werden 1761 und 1771 überarbeitet und unter dem Titel Ueber die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften in die Philosophischen Schriften aufgenommen – von Bedeutung. In Anlehnung an Batteux’ Intention, einen einzigen Grundsatz der Kunst festzusetzen, befasst sich dieser Text mit der Frage, was die »Hauptgrundsätze« der Kunst sein können. Eine Antwort darauf hängt vornehmlich davon ab, welche Absichten mit einer Theorie der Kunst verfolgt werden. Mendelssohn formuliert seine Grundrichtung, indem er nach den Wirkmechanismen der Kunst fragt und damit zugleich die Perspektive auf den Menschen zurücklenkt, wie die zitierten Eingangsbemerkungen bereits andeuten. Was gefällt in der Kunst und warum? Wie nehmen wir Kunstwerke wahr und wie beurteilen wir ihre ästhetische Qualität? Und welche Rückschlüsse lassen die Art und der Gegenstand des Gefallens auf die Bestimmung des Menschen zu? In Anlehnung an die Argumentation der Briefe über die Empfindungen und die Trauerspieldebatte ließe sich hier zuerst feststellen: Kunst soll Leidenschaften erregen (vgl. Kap. II.1 und 2). Fraglich ist allerdings, wodurch Kunst dies leistet und ob sich hierfür ein universales Prinzip benennen lässt. Dabei greift Mendelssohn auf die in 142
Eine sehr viel ›diplomatischer‹ gehaltene Rezension erschien im selben Jahr in der Bibliothek, Bd. III, 2; vgl. JubA IV, 216–36.
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II.2 erwähnte rationalistische Vorstellungstheorie zurück: Eines der Grundvermögen der Seele sei es, Vorstellungen nicht nur einfach zu haben, sondern diese mit »einem bestimmten Grade des Wohlgefallens, oder Mißfallens« zu begleiten (JubA I, 428). In der Vorstellungstätigkeit selbst findet sich also immer das bereits erwähnte evaluative Moment, das als eine Vorstellung »lieben« oder »verabscheuen« empfunden wird und das für den Grundsatz der schönen Künste fruchtbar gemacht werden soll. Zuerst knüpft Mendelssohn 1757 an seine Theorie des Vergnügens an, die er in den Briefen entwickelt hatte: Vergnügen gewinnt die Seele durch einen Eindruck »der Vollkommenheit, der Uebereinstimmung, und des Unfehlerhaften« (JubA I, 430). Eine Vollkommenheit in den schönen Künsten muss ein in die Sinne fallendes, mannigfaltige Teile enthaltendes, aber in sich übereinstimmendes Ganzes sein. Ist diese vollkommene Vorstellung klar und verworren, handelt es sich um eine »anschauende« Erkenntnis, die wir von einem Gegenstand direkt (schöne Natur), oder indirekt vermittelst eines »Zeichens« von dem Gegenstand (nachgeahmte Natur) gewinnen können. Gegen Batteux und auch Gottsched143 plädiert Mendelssohn aber für mehr als eine bloß vollkommen scheinende Naturnachahmung. Ihm geht es vielmehr um eine strukturelle, nicht abmalende Mimesis. Damit stellt er sich auch der Wolffschen Ansicht des ästhetischen Vergnügens als einem Wohlgefallen an der Übereinstimmung zwischen Ur- und Abbild entgegen. Außerhalb des Rezipienten gelegene Erklärungsmomente interessieren ihn dabei wenig, worauf auch seine sich verstärkende Anleihe an Baumgarten hindeutet. Für Mendelssohn ist es das Wesen der schönen Künste, dass sie durch einen »sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit« (JubA I, 170), wie er es 1757 formuliert, Vergnügen bereiten. Die späteren Fassungen zeigen, dass er die hier nur angedeutete Reminiszenz an die Definition Baumgartens vom Gedicht als einer »sinnlich-vollkommene[n] Rede«144 stärker in den Vordergrund rückt. So spezifiziert er in der 1761er Fassung
143
Siehe dessen Versuch einer Critischen Dichtkunst (1729), 132: »Die Schönheit eines künstlichen Werks, beruht nicht auf einem leeren Dünkel; sondern sie hat ihren festen und nothwendigen Grund in der Natur der Dinge. Gott hat alles nach Zahl, Maaß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst auch was schönes hervorbringen will, so muß sie dem Muster der Natur nachahmen.« Mendelssohn fügt dem die »Grundsätze der Seelenlehre« hinzu, um damit eine rezeptionsästhetisch gestützte Kunstbetrachtung näher zu bestimmen. 144 Baumgarten, Meditationes, § 9: »Oratio sensitiva perfecta est POEMA.« Siehe auch Mendelssohns Besprechung von J. A. Schlegels Abhandlung Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie (11751, 21759) im 87. LB vom 28. Februar 1760 (JubA V/1, 147–51). Letztendlich habe alle Differenzierungsarbeit Schlegels, bei rechtem Lichte betrachtet, wenig ausgerichtet. Auch wenn man das poetisch Gute (vgl. S. 150) als einzigen Gegenstand will gelten lassen, wird man diesen wieder als vollkommen sinnlich beschreiben müssen. »Sehen Sie, wie mislich das Unternehmen ist, eine kurze wohlgefügte Erklärung auszudehnen? Man will das Gemälde aufheitern, und giebt ihm ein falsches Licht.« (151)
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der Hauptgrundsätze: »Das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in einer künstlichen sinnlich-vollkommenen Vorstellung, oder in einer durch die Kunst vorgestellten sinnlichen Vollkommenheit« (JubA I, 431) Es ist im Folgenden zu klären, was diese Verschiebung im Hauptgrundsatz, die Berücksichtigung einerseits der Vollkommenheit der Vorstellung selbst sowie andererseits der künstlerischen Darstellung einer Vollkommenheit, bedeutet.145 In der Fassung von 1757 betont Mendelssohn, dass dieser »sinnliche Ausdruck« in der Nachahmung von etwas Vollkommenem liegt. Doch auch die Nachbildung selbst soll vollkommen sein, also »alle Theile des Gegenstandes getreu« (JubA I, 170) abbilden. ›Schön‹ wird der Gegenstand also einerseits durch die Wahl eines schon in der Natur schönen Sujets und andererseits durch seine vollkommenen Darstellung. Allerdings lassen sich die Nachahmungen untereinander noch differenzieren, denn die schlichte Ähnlichkeit mit dem Urbild ist nur eine einfache Vollkommenheit. »Wir finden mehr zu bewundern an einer Rose eines Huysum, als an dem Bilde, das uns jener Fluß, von dieser Königinn der Blumen vorspiegelt« (ebd.). Das heißt, dass eine künstlerische Nachahmung einer bloß künstlichen Spiegelung vorgezogen wird. Vergnügen bereitet die Natur selbst, oder die durch den Künstler hergestellte Schönheit. Bei letzterer bewundern wir nicht nur die reine Ähnlichkeit, sondern auch die Vollkommenheit des Künstlers, der die Nachahmung hergestellt hat. Der Bezug zur Vollkommenheit erweist sich damit als mehrschichtig und reflektiert in der künstlerischen Nachahmung den göttlichen Schöpferbezug. In verschiedenen Anmerkungen der Folgezeit – und parallel zur Ausformulierung der Theorie der vermischten Empfindungen – hat Mendelssohn diesem Tableau ein weiteres Moment hinzugefügt und nimmt damit die Konstitution des Schönen selbst in Hinblick auf ihren emotionalen Effekt in den Blick. In einer später auf Anregung Johann Jacob Engels entstandenen Skizze Von der lyrischen Poesie (um 1778) festigt sich diese Perspektive: »In keiner Dichtungsart kömmt die Natur der Kunst so nahe, als in der lyrischen. Denn wenn der Dichter wirklich in dem besungenen Gemüthszustande sich befindet, so ist er sich selbst Gegenstand, also causa objectiva und causa efficiens zugleich.«146 Die Naturnachahmung geht in ihrer höchsten Form
145
Guyer betont in dieser Hinsicht Mendelssohns Rückgriff auf Baumgarten wie Wolff als unterschiedliche Quellen des Vergnügens. Mendelssohn »took up Baumgarten’s tripartite analysis of artistic beauty, with its emphasis on the pleasurable potential of the sign as well as object, but used Wolff’s definition of pleasure an Baumgarten’s definition of beauty interchangeably.« (Guyer 1993, 86; vgl. hier S. 181) Es soll hier gezeigt werden, dass Mendelssohn beide Begriffe nicht nur abwechselnd benutzte, sondern sie zur Spezifizierung bestimmter Kontexte verwendete: er unterscheidet mit ihnen die Vollkommenheit des Gegenstandes von der des Künstlers. 146 Von der lyrischen Poesie. JubA III/1, 337; An diesem Fragment wird, ebenso wie bzgl. der Hauptgrundsätze, Mendelssohns grundsätzliches Interesse an der Verknüpfung von Psychologie und Ästhetik sichtbar. Nicht nur, dass er auch in einer Untersuchung über lyrische Poesie einige
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also gar nicht mehr nach außen, sondern nach innen; geschieht nicht als Abbildung, sondern aus einem Prinzip. Nachahmung ist dann Darstellung und Erweckung eines Affekts. In eben diese Richtung weist schon eine Anmerkung im LB 62 vom 18. Oktober 1759. Sulzer, so heißt es dort, definiert die »Theorie der Malerkunst« als eine Lehre, »wie das Schöne in sichtbaren Gegenständen durch die Zeichnung und Farben auf einen flachen Grund vorzustellen sey« (JubA V/1, 96). Mendelssohn hält dagegen, dass die »in der Natur« nicht schönen, ja, sogar ekelhaften Gegenstände ebenfalls ein mögliches Sujet der Malerei sind. Seine Modifikation der Definition lautet entsprechend: »Die Theorie der Malerkunst lehret, wie die sichtbaren Gegenstände u. s. w. schön vorzustellen sind.«147 Damit wird nicht nur der Rückgriff auf die vermischten Empfindungen, sondern wiederum die stärkere Anbindung an Baumgarten deutlicher: Die Aufnahme der auch schrecklichen Affekte in die Dichtung befürwortet dieser bereits in den Meditationes (vgl. §§ 24–27). Affekte zu erregen, so Baumgarten dort, ist in dem Sinne »poetisch«, als dass eine Fülle an Merkmalen eines Gegenstandes verworren vorgestellt werden und er damit als »extensiv klar« (§ 16) erscheint. Die verworrene Vorstellung von etwas »für uns Gutes oder Schlechtes« ist affektiv (§ 25), und was derart vorgestellt wird, »darin wird für uns mehr vorgestellt, als wenn dies nicht so vorgestellt würde« (§ 26). Wichtig ist hier zweierlei: Zum einen ist ein Affekt in diesem Sinne keine dunkle, sondern eine verworrene Empfindung, die eine diskursive Durchdringung ihrer Komplexität virtuell erlaubt, wenngleich nicht erfordert. Zum anderen ist Baumgarten hier tatsächlich nicht an einer moralisierenden Wirkung des »Gedichts« interessiert, sondern an seinen Konstitutionsbedingungen und dessen ›psychologisch‹ begründbaren Effekten. Die schöne Vorstellung im Sinne von Baumgarten und auch Mendelssohn soll damit v. a. bewegen – und wenn auch in den poetischen Darstellungen prima facie Unvollkommenes enthalten ist. Schön heißt also nun: auf eine spezifische Weise vollkommen. In der Fassung von 1761 hat Mendelssohn den Grundsatz, dass das Wesen der schönen Künste der sinnliche Ausdruck der Vollkommenheit sei, folgendermaßen erweitert: »Die Gegenstände können entweder in der Natur anzutreffen, oder erdichtet seyn. In beiden Fällen muß der Ausdruck, dessen sich die Kunst bedienet, unsere Sinne täuschen. Das heißt, wir müssen eine solche Menge von Merkmapsychologische Betrachtungen voranschickt (ebd., 335 ff.), sondern auch, dass die Gattungseinteilung eben an den Kriterien der Psychologie vollzogen wird. 147 Ebd. Neben diesem Aspekt, der die Wahl des Gegenstandes, aber auch die spezifische Unterscheidung zwischen Gegenstand in der ›Natur‹ und der Kunst (differenziert als »Gegenstand« und »Vorwurf«) beinhaltet, vermisst Mendelssohn auch einen rezeptionsästhetischen Aspekt: den der »Rührung«, der durch das Zusammenspiel von Illusion und vermischten Empfindungen erreicht werden soll. Ich komme im Folgenden darauf zurück.
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len auf einmal wahrnehmen, daß wir die Sache selbst uns lebhafter vorstellen, als die ausdrückenden Zeichen; und zwar um so viel lebhafter, daß unsere Sinne wenigstens einen Augenblick, die Sachen selbst vor sich zu sehen glauben. Dieses ist der höchste Grad der anschauenden Erkenntnis, die man die ästhetische Illusion nennt.« (JubA I, 576 f.; vgl. Von der Herrschaft über die Neigungen, JubA II, 154 f.) Die Zuspitzung ist augenfällig: Kunst ist demnach nicht nur Nachahmung, sondern auch Täuschung, indem das in ihr Dargestellte nicht nur als Natur vorgestellt wird, sondern mit ihr wirkungsäquivalent sein soll. Problematisch bleibt, worauf Lessing Mendelssohn schon im Briefwechsel aufmerksam gemacht hatte, nämlich dass die Durchbrechung der Sinnestäuschung immer einen psychologisch negativen Effekt haben müsste. Lessing formuliert dies augenzwinkernd mit der folgenden Szene (Brief vom 2. Februar 1757, JubA XI, 106): wer das Bildnis einer schönen Frau genießt, sich dann aber der Sinnestäuschung bewusst wird, wird missmutig. Der Liebhaber des Schönen zöge demnach nicht nur immer die ›echte‹ Frau der gemalten vor. Er würde demnach auch keinen Grund haben, schöne Kunstwerke zu betrachten. Gleichzeitig könnte auch die Nachahmung des Hässlichen nicht gefallen, da sie nichts Vollkommenes vorstellt – es gibt allerdings genügend Beispiele an sich hässlicher Gegenstände, die lohnenswerte Sujets der Kunst sind, namentlich in der bildenden Kunst und im Drama. Letztlich sei, so Lessings Fazit, Mendelssohns Erklärung des Gefallens an Kunst noch unzureichend. Aus der Perspektive von dessen anthropologischem Interesse betrachtet scheint es allerdings vielmehr der Fall zu sein, dass Mendelssohns Auffassung auf eine andere Frage antwortet als diejenige seines Freundes. Letzterer hatte sich, zumindest in den frühen 1760er Jahren, für das Postulat der totalen Illusion zur Besserung des Schaubühnenbesuchers ausgesprochen (vgl. Zelle 1987, 332 f.). Mendelssohn hingegen zielt auf ein kompliziertes Zusammenspiel von Täuschung und Illusionsbrechung zur Versicherung eines rein ästhetischen Effekts, der, so paradox dies klingen mag, gerade wegen seiner moralischen Uninteressiertheit umso eingehender zu wirken vermag und den ganzen Menschen erfasst. Mit der Fassung der Hauptgrundsätze von 1761 hat er jedoch nicht nur der Ansicht Lessings, sondern sogar seinem eigenen, in der Abhandlung Von der Herrschaft über die Neigungen vertretenen Grundsatz widersprochen. Bereits dort hatte er nämlich die Ungleichheit von Kunst und Natur betont: Kunst müsse eine Nachahmung der Natur sein, nicht aber diese selbst (JubA II, 155). Soll aber schöne Kunst gefallen, indem sie qua Sinnestäuschung wie Natur erscheint, so verschwimmt dieser Unterschied. In der Fassung von 1771 wird seine Intention schließlich deutlicher, indem er hier das Primat des Wirkungsaspekts stärker hervorgehebt. Damit verschiebt sich die Perspektive: Kunst soll zwar in der Wirkung derjenigen der Natur gleichkommen, die Mittel dazu ergeben sich allerdings auf andere Weise. Denn die Zeichen, mit denen Kunst Leidenschaften hervorrufen will, sind nicht abbildend, sondern eben
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wirkungsäquivalent.148 Was diese Forderung besagen soll, muss unter Berücksichtigung der Rolle der vermischten Empfindungen für die Theorie der Illusion erläutert werden. Weder 1757 noch 1761 erwähnt Mendelssohn die unangenehmen Empfindungen bzw. die Nachahmung des Nicht-Schönen in seiner Theorie der schönen Künste. Erst in der Vorrede zur zweiten Auflage der Philosophischen Schriften von 1771 expliziert er sie als eine wichtige Neuerung und kommt dabei auch auf die Rolle der Illusionswirkung in der Kunst zu sprechen: »Einige Gründe von den Grenzen der ästhetischen Täuschung, die bey dieser Gelegenheit vorkommen, können in der Theorie der schönen Künste und Wissenschaften von nicht geringem Nutzen seyn. Man scheinet noch nicht untersucht zu haben, wie weit der Künstler seine Illusion treiben könne; da es doch offenbar Gränzen geben muß, wo sie aufhört angenehm zu seyn, wo die Nachahmung, wie man zu sagen pflegt, gar zu natürlich wird. Ich schmeichle mir, einige Gründe angegeben zu haben, wodurch diese Grenzen, zum Gebrauche der Kunst, mit einiger Richtigkeit bestimmt werden können.«
148
So auch Baumgarten in den Meditationes, § 12, Scholium: Es geht um das, was der »Sprechende mitzuteilen beabsichtigt. Hier wird also gefragt, welche Vorstellungen der Dichter in einem Gedicht zu verstehen geben möchte«, bzw. »… dass unter Malerei nicht Kunst, sondern Wirkung zu verstehen ist« (§ 39, Schol.). In § 109 fährt Baumgarten demenstprechend fort: »Wenn man sagt, ein Gedicht sei eine Nachahmung der Natur oder der Handlungen, dann muss die Wirkung dem von der Natur Hervorgebrachtem ähnlich sein«. (vgl. §§ 108, 110) Auch in § 68, Scholium und § 71, Scholium betont er, dass Dichtung und Realität analog (nicht: gleich) seien (vgl. Paetzold 1983, XXXIX). Auf die grundlegende Zweideutigkeit des Begriffs Schönheit in Baumgartens Aesthetica (1750/58) und Metaphysica (1739) weist ebenfalls Paetzold 1983, XLVI f. hin: zum einen bezieht sich der Begriff der Schönheit auf die Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung der Sinne, ist also auf die Rezeption(sweise) konzentriert (vgl. Aesthetica, § 14: »Aesthetices finis est perfectio cognitiones sensitivae, qua talis. Haec autem est pulcritudo.«). Zum anderen jedoch meint Schönheit eine Qualität in der Welt, die durch die sensitive Erkenntnis erlebt/aufgefasst wird (vgl. Metaphysica, § 662: »Perfectio phaenomenon seu gustui latius dicto observabilis, est PULCRITUDO.« Die Vollkommenheit, sofern sie als Erscheinung dem Geschmack im weiteren Sinne beobachtbar ist, ist SCHÖNHEIT. (Übers. Paetzold)). »Auf der Basis einer solchen ›kosmologischen Ästhetik‹ hat die Kunst eine systematisch nicht auszuzeichnende Funktion. Sie stellt nur die an sich bestehende harmonische Weltordnung sinnenfällig vor Augen. Die Harmonie der Welt ist aber unabhängig von ihrer Vergegenwärtigung durch die Kunst.« (Paetzold 1983, XLVII) Allerdings übersieht Paetzold dabei zum einen, dass die Kunst auch bei Baumgarten nicht die einzige Domäne der Schönheit ist, sondern auch die vollkommen geordnete Natur eben als ihr Vorbild hinzukommt (wobei nicht unterschlagen werden soll, dass es Baumgarten tatsächlich vielmehr auf den Werkcharakter der Kunst ankommt, wobei die Natur lediglich den Fall des vollkommenen Vorbilds, nicht aber einen Ersatz darstellt). Zum zweiten aber ist wichtig, die unterschiedliche Perspektive der beiden Schriften zu beachten – die Aesthetica übernimmt es ja gerade, die Vollkommenheit und die Art ihrer Gegebenheit aus dem Blickwinkel der sensitiven Erkenntnis zu untersuchen. Zielpunkt der Metaphysica ist dies nicht, hier ist die sensitive Erkenntnis nur ein möglicher Fall, der sich aber nicht in Bezug auf die Erklärung der Weltkonstitution von der rationalen Erkenntnis unterscheidet.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
(JubA I, 231) Dabei geht es ihm nicht nur um die Grenzen der Rezeptionswirkung in ästhetischer, sondern auch praktischer Hinsicht. Dies verkompliziert die Lage, muss allerdings, um seine Ansicht angemessen zu berücksichtigen, in die Betrachtung mit aufgenommen werden. Es wird sich zeigen, dass mithilfe der Theorie der vermischten Empfindungen und des Illusionspostulats in der Kunst ein spezifischer Abstand zu einer augenfälligen Sittlichkeit, und zugleich damit eine Verbindung zwischen vermischter Empfindung und sittlicher Wirkung begründet werden. Bereits 1761 war Mendelssohn, allerdings nur am Rande der Rhapsodie, auf die in der Vorrede benannte Beziehung und Begrenzung eingegangen; wie bereits erwähnt (Kap. II.2, 182–85) stellen die in der Version von 1771 dem älteren Text vorangestellten Überlegungen eher eine Vertiefung, denn eine absolute Neuerung dar. Dass diese Differenzierung zur Zeit der ersten Auflage der Philosophischen Schriften vorlag, zeigen auch die Litteraturbriefe 82–84 von 1760 (JubA V/1, 130–137) und zwar unter Rückgriff auf Aussagen Batteux’149 selbst: »Batteux redet von den Vorstellungen, die in der Natur unangenehm sind, und dennoch in der Nachahmung den höchsten Grad von Wohlgefallen erregen« (JubA V/1, 130). Denn immer würde in der Kunst etwas darauf hindeuten, dass es sich hier um einen nachgeahmten Gegenstand handele.150 Batteux nun bezeichnet die »nachgeahmten Leidenschaften« als Leidenschaften anderer Art, die dem Zuschauer auch als solche erschienen. Er spricht in diesem Zusammenhang von »sentiments factices«, Dubos von einer »copie d’une passion«151. Die Abschwächung der Leidenschaften durch deren Auffassung als einer Art »Kopie« hat Mendelssohn nun nicht überzeugt, wohl aber lag die Zuwendung zu den von der Kunst schön nachgeahmten unangenehmen Gegenständen – in Verbindung mit anderen Theorieelementen, die in II.2 benannt worden sind – auch in seinem Interesse. Dabei sollten aber die künstlerisch erregten Gefühle ebenso ›echt‹ erscheinen wie diejenigen angesichts einer realen Situation. Mendelssohn argumentiert also nicht für eine Entschärfung der Kunst über das Festhalten an ihrem Verweisungscharakter. Sondern er versucht, das ebenso eindrückliche, künstlerisch gewonnene Gefühl über eine spezifische Brechung zu erklären. Dies bedeutet prima facie, auch negative Empfindungen auf der Bühne zuzulassen. Scheinbar im Widerspruch dazu betont er jedoch sowohl in den Briefen über die Empfindungen und im Trauerspielbriefwechsel, dass allzu starke Eindrücke negativer Art, zu denen er allein offensichtliche Verstöße gegen die Sittlichkeit zählt, gut zu verstecken seien,152 denn 149
Vgl. zur Rolle Batteux’ auch Geyer-Kordesch 1977, 15, die seine Bedeutung »nicht als Initiator neuer Thesen, sondern als Stütze in einer bereits laufenden deutschen Diskussion« hervorhebt. 150 Vgl. JubA V/1, 130. Mendelssohn glaubt darüber hinaus, Batteux’ Ansicht schon bei Aristoteles gelesen zu haben, vgl. ebd. Einschlägig ist hier aber auch Dubos. 151 Vgl. Schillemeit 1984, 91. 152 Expliziter noch findet sich dieser Hinweis bei Nicolai. Martino (1972, 137 f.) geht allerdings mit seiner Folgerung zu weit, dass es sich bei Nicolais Reformulierung der Mendelsohn’schen
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ansonsten zerstöre man den Genuss der Zuschauer, die sich nicht mehr mitreißen ließen, sondern, in Nicolais Formulierung, »sich beständig wider ihn [den Dichter, A.P.] empören, und an den Handlungen die wider die Grundsätze, welche ihnen von der Natur eingepflanzt sind, stritten, keinen Anteil nehmen würden« (Nicolai, Abhandlung, 11 f.). Dies ist aber ein technisches Argument, kein sittliches. Wenn man den Genuss des Zuschauers am Dargestellten dadurch stört, dass man seinen moralischen Intuitionen (denn von ihnen scheint Nicolai zu sprechen) widerspricht, ist das nicht in erster Linie moralisch verwerflich, sondern poetologisch betrachtet sinnlos, da man so den Zweck der Leidenschaftserregung nicht erreichen kann. Hat man dahingegen eine tragfähige Illusion auf der Bühne geschaffen – und sich die Zuschauer geschickt ›gefügig‹ gemacht –, so braucht man sich auch nicht um moralische Implikationen zu kümmern.153 Denn mit Lessing spricht sich Mendelssohn durchaus für eine Trennung zwischen dem moralisch und poetisch Bösen aus, die keinesfalls, so hält auch Zelle (1987, 323) fest, parallel zu poetologisch wertvoll und wertlos verläuft. In Anknüpfung an diese Überlegungen betont Mendelssohn in den Hauptgrundsätzen von 1771 – und erst hier stimmen die Ergebnisse der Rhapsodie mit den vorangegangenen Überlegungen völlig überein –, dass der Gegenstand der Nachahmung in der Illusion eine Vollkommenheit ausmachen könne, ganz gleich ob er realiter als gut oder schlecht bewertet werde: »So oft also die Werke der Kunst ein Vorbild in der Natur haben, das sie nachahmen; so wird dieses Vorbild selbst an und für sich so wohl unangenehm, als angenehm seyn, und in beiden Fällen in der Nachahmung Wohlgefallen erregen können.« (JubA I, 432)
Noch ein paar Worte zu beiden genannten Fällen. a) Das Schöne Ist der Gegenstand der Nachahmung »an und für sich« schön, so bedürfe es, wie Mendelssohn betont, einer immerwährenden, perfekten Nachahmung, da andernfalls bei erkannter Täuschung die besagte Ernüchterung eintrete (vgl. JubA I, 431 f.). Allerdings ist diese Forderung illusorisch, denn die künstlerische Darstellung des Schönen beinhaltet immer irgendwelche Nebenumstände, die an ihren »Betrug« erTheorie um eine Zurückweisung von Mendelssohns »Rigorismus« (hinsichtlich einer absoluten moralischen Freiheit der Bühne) handele. Vielmehr hat gerade Mendelssohn selbst in der betreffenden Passage in den Briefen die Einschränkung, dass die Verstöße wider die Sittlichkeit nicht allzu offensichtlich sein sollten, gemacht. 153 Damit gegen die Auffassung bei Nolte 1931, 318 und Michelsen 1966, 557, dass Mendelssohn die Amoralität der Bühne »verstecken« wolle. Vgl. dazu auch Albrecht 1983, 124, sowie Pollok 2008.
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innern (vgl. JubA I, 391).154 Beim Trauerspiel ist es die Bühne, bei der Musik sind es die Töne, die uns, so sehr sie auch mitreißen, doch immer Zeichen für Gefühle, Stimmungen und Leidenschaften sind, nicht diese selbst. Man mag zwar die bezeichnete Sache stärker als das Bezeichnende empfinden, doch völlig vergessen werden kann das Zeichenhafte an sich in der Kunst nicht – am ehesten erfüllt noch die abstrakteste Kunstform, die sich sprachlicher (und damit »unsichtbarer«) Zeichen bedient und damit an die Imaginationskraft des Rezipienten, nicht an ein tatsächliches Objekt gebunden ist (vgl. Wellbery 1984, 68), paradoxerweise diese Forderung. In diesem Sinne hat sich Mendelssohn Lessings Einwurf angeschlossen, dass die Illusion des Naturschönen in der Kunst, die »Erinnerung, dass wir Kunst und nicht Natur sehen« (JubA I, 432), möglicherweise unangenehme Empfindungen hervorrufen kann. Seine Pointe liegt nun darin, dass gerade diese Brechung, die reale Ent-täuschung bzw. das Durchschauen der Illusion155 in Korrelation zur ästhetischen Qualität des Kunstwerks steht: Ästhetischen Wert gewinnt die schöne Illusion nicht allein durch die angenehme Beschäftigung der Leidenschaften, sondern auch dadurch, dass der Rezipient anhand dieser Art der Täuschung Hochachtung vor dem Können des Künstlers empfindet. In diesem Zusammenhang verwendet Mendelssohn nun, ent154
Dass Mendelssohn hier im Anschluss an Dubos argumentiert, betonen Strube 1971, 62 und Zelle 1987, 146. Von Dubos unterscheidet ihn allerdings, dass er die durch die Illusion erregten Empfindungen nicht als bloße »Abbilder« der wirklichen Empfindungen auffasst und darüber hinaus sich nicht an dessen materialistische Auffassung, einer »›naturalistischen‹ Kausaltheorie« der Einprägung materieller Ideen (vgl. Strube 1971, 64) anschließt. Zelle (1987, 141) spricht zwar in Hinblick auf Dubos’ Analyse des Schrecklichen gerade von einer Nivellierung zwischen Kunst und Wirklichkeit, derart, dass in den Réflexions die realen schrecklichen Empfindungen einen breiten Raum einnehmen. Dementsprechend erwähnt Zelle (ebd., 146) die »passions artificielles«, die allerdings nur »graduell« von den »vitalen lebenspraktischen Empfindungen« unterschieden seien, um anschließend jedoch übereinstimmend mit Strube zu betonen, dass Dubos gerade in diesem graduellen Unterschied das Interesse an den künstlich erregten Leidenschaften begründet. Wichtig ist hier im Gegensatz zu vorangegangenen Theorien (Zelle nennt Boileaus Übernahme der aristotelischen Mimesiskonzeption, siehe ebd. 147 f.), dass Dubos die »Kunstdifferenz einerseits und wirkungspoetisch pointierte affektive Urbild-Abbild-Referenz andererseits« zusammendenkt, um damit das Sujet des Schrecklichen in der Kunst emporzuheben, ja, es als das beste Mittel der Unterhaltung zu verabsolutieren (Zelle 1987, 148). Dass Mendelssohn mit diesem Zug Probleme bekommt, liegt auf der Hand. In der Analyse von Gleissner 1988, 34–38 ist in Bezug auf Lessings Illusionstheorie kein Hinweis auf die sich für Lessing ergebende Schwierigkeit zu finden, dass sich die totale Illusion tatsächlich kaum über den Zeitraum eines abendfüllenden Theaterstücks aufrecht erhalten lässt. 155 Das Durchschauen meint nicht zwingend auch die Zerstörung der Illusionswirkung. Vgl. damit Kants Ansichten zum Unterschied von Schein und Illusion in den Nachschriften zur Anthropologie (vgl. Brandt/Stark 1997, XXXVII ff.): Illusion bleibt, auch wenn sie erkannt wird. Sie ist nicht durchweg negativ zu bewerten – allerdings ist ein Wissen um ihre Wirkung nötig, um sie nicht dennoch für Realität zu halten (so auch KrV A 195–98). Gesellschaftliche Illusion ist sogar kulturfördernd, da sie alle Menschen dazu Anreize gibt, diese eines Tages tatsächlich durch einen realen freundlichen gegenseitigen Umgang zu ersetzen.
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gegen den früheren Fassungen seiner Abhandlung, seine Theorie der vermischten Empfindungen dazu, den ästhetisch relevanten Unterschied zwischen dem Gegenstand selbst und der Vorstellung des Gegenstands zu erklären. Bei der Betrachtung des Kunstschönen finden demnach zwei Regungen der Seele statt: Unlust aufgrund der durchschauten Täuschung, Lust an der illusionistischen Kraft des Künstlers.156 Damit ist es für den Genuss eines Kunstwerks sogar notwendig, dass dessen Nachahmungsleistung bemerkbar bleibt. Eine perfekte Abbildung wie beispielsweise in Form lebensechter Wachspuppen (vgl. Rhapsodie, JubA I, 391 f.; Über die Mischung der Schönheiten, JubA III/1, 265 f.) ist nicht erstrebenswert. In diesem Fall werde der Mangel an Leben dem Betrachter unangenehm auffallen, weshalb die künstlerische Darstellung paradoxerweise gerade wegen ihres hohen Grads an Vollkommenheit defizitär erscheine. Es kann beispielsweise nicht der Zweck des Bildhauers sein, mit seinen Statuen das Leben zu ersetzen, denn daran wird er (so er nicht Pygmalion ist) scheitern. Damit bestätigt Mendelssohn den Grundsatz, dass Kunst gerade nicht Natur ist und sein soll, sondern einen eigenständigen Bereich bezeichnet. Gleichfalls stellt er sich gegen Wolffs Ideal der schönen Kunst als der vollkommenen Ähnlichkeit, indem er, diese Forderung durch den Extremfall der Wachspuppen übersteigernd, ihre Schwächen zeigt. Jede gelungene Illusion des Schönen ist demgegenüber immer mit einem Wissen um das Genie des Künstlers verbunden. Erst dann kann der Genuss am Schönen nicht durch Desillusionierung zerstört werden – denn die Illusion ist bereits reflektiert und insofern gebrochen. Die »Rose eines Huysum« (JubA I, 433) gefällt zum einen, weil sie einen schönen Gegenstand nachahmt, und zum anderen, weil sie diesen Gegenstand schön nachahmt. Sie zeigt nicht allein sich selbst, sondern auch die Größe menschlicher Schaffenskraft. Ich komme in Abschnitt 3 auf die Bedeutung des Werkcharakters zurück.
b) Das Hässliche Nicht die Nachahmung des an sich schönen, sondern des an sich hässlichen Gegenstands wird 1771 ins Zentrum der Überlegungen gerückt, denn er gewähre eine »weit vermischtere Empfindung« (JubA I, 432). Nach Mendelssohns Theorie kann er nicht als Gegenstand an sich, aber als angeschaute Illusion Vergnügen bereiten. Dies lässt 156
Einen wenngleich geringen Grad der Lust an dem schönen Gegenstand selbst berücksichtigt Mendelssohn zwar auch; er spielt jedoch eine immer geringere Rolle in seinen Überlegungen. Die Berücksichtung der Nachahmung des »Naturschönen« noch 1771 zeigt darüber hinaus (gegen Zelle 1987, 334), dass Mendelssohn nach Lessings Einwurf des Selbstgenügens der höheren Realität durch Abscheu mitnichten auf seine »Oszillationstheorie« verzichtet hat. Der Wechsel zwischen Wohlgefallen und Irritation ist demgegenüber stärker geworden.
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sich unter Rückgriff auf die oben erwähnten Litteraturbriefe 82–84 und der in ihnen thematisierten Zurückweisung des Ekels als mögliche ästhetische Kategorie durch J. A. Schlegel157, den Mendelssohn ihm Licht seiner vermischten Empfindungen modifiziert, illustrieren. Mendelssohn fragt dort, auf welche Sinne und auf welche Weise eine ekelhafte Vorstellung überhaupt wirkt. Bezüglich des Geschmacks und Geruchs wird Ekel durch eine übermäßige Süßigkeit, über das Gefühl durch eine übermäßige Weichheit und Nachgebigkeit erregt. Durch »Association der Begriffe« werden diese Dinge auch für den Gesichtssinn ekelhaft – »[e]igentlich zu reden aber, giebt es keine Gegenstände des Eckels für das Gesicht.« (JubA V/1, 131) Dennoch stimmt Mendelssohn zu, dass er schon allein aufgrund dieser Assoziationskette auch für die bildende Kunst, die den Gesichtsinn anspricht, auszuschließen ist. Er begründet dies unter Bezugnahme auf die Reflexionsweise der vermischten Empfindungen. Demgemäß spreche der Ekel aufgrund seines hier dargelegten Ursprungs die »allerdunkelsten Sinne« an, die »überhaupt nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste« hätten (JubA V/1, 131). Der pure Ekel, der auf den Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn begrenzt ist, fällt also naturgemäß aus den Künsten heraus, da er in der Wahrnehmung keine Unterscheidung zwischen wirklichem und nachgeahmten Gegenstand zulässt, sondern allein für sich wirksam ist: »Die Vorstellung der Furcht, der Traurigkeit[,] des Schreckens, des Mitleides u. s. w. können nur Unlust erregen, in so weit wir das Uebel für würklich halten. Diese können also durch die Erinnerung, daß es ein künstlicher Betrug sey, in angenehme Empfindungen aufgelöset werden. Die widrige Empfindung des Eckels aber erfolgt, vermöge des Gesetzes der Einbildungskraft auf die blosse Vorstellung in der Seele, der Gegenstand mag für würklich gehalten werden, oder nicht. Was hilfts dem beleidigten Gemüthe also, wenn sich die Kunst der Nachahmung noch so sehr verräth? Ihre Unlust entsprang nicht aus der Voraussetzung, daß das Uebel wirklich sey, sondern aus der blossen Vorstellung desselben, und diese ist wirklich da. Die Empfindungen des Eckels sind also allezeit Natur, niemals Nachahmung.« (JubA V/1, 131, Hervorhebung A.P.) Im Umkehrschluss bedeutet dies natürlich, dass im Falle der vermischten Empfindung eine andere Wirkung eintritt. Die weiteren aufgezählten unangenehmen Empfindungen sind zwar, solange die Illusionswirkung herrscht, ebenfalls unangenehm. Sobald diese in der Rezeption als ein Kunstwerk durchbrochen wird, gesellt sich das positive Gefühl der Erleichterung hinzu, dass der geliebte Gegenstand doch nicht ›wirklich‹ in Gefahr ist. Solcherart vermischte Empfindungen sind immer auch mit positiven Empfindungen wie Hoffnung oder Liebe durchsetzt. Wichtig ist aber, bevor man eine einseitige Herrschaft des rationalen, oberen Erkenntnisvermö157
Johann Adolf Schlegel, Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie (11751, 21759). Der Eindruck des Ekels sei, so fasst der Rezensent zusammen »zu gewaltsam« (JubA V/1, 130) und müsse deshalb vom Gebiet der Kunst ausgeschlossen werden.
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gens vermutet, folgende Anmerkung: »Die Seele hat die Freyheit sich bald bey dem vergnüglichen, bald bey dem widrigen Theile einer Leidenschaft zu verweilen, und sich eine Vermischung von Lust und Unlust selbst zu schaffen, die reizender ist, als das lauterste Vergnügen.« (JubA V/1, 131) Die »Freyheit« der Wahl zwischen der schrecklichen Vorstellung und seiner vollkommenen Darstellung scheint vor allem darauf abzuzwecken, den Gegenstand in eine ›sichere‹ Entfernung zu rücken. Wird damit der Aspekt des Eigenwerts des Ekels oder auch des Schreckens überhaupt angemessen erfasst? Pauen (2006, 219 f.) spricht in dieser Hinsicht von einer auch bei Mendelssohn noch vorherrschenden und das an sich Hässliche ausgrenzenden ästhetischen Theorie, wobei die Bewertung der vermischten Empfindungen auf den Kategorien, an denen das Schöne gemessen wird, basiere und deshalb immer defizitär erscheinen müsse. Eine solche Einordnung der vermischten Empfindungen verweist vornehmlich auf eine Art »ästhetische Distanz«, die es erlaubt, das Hässliche zu messen, zu beurteilen und ästhetisch zu schätzen, es aber zugleich emotional einzugrenzen. Letztlich wird so »offenbar vor allem [eine] Abschwächung der aversiven Kraft des Häßlichen« (ebd., 220) erreicht, nicht aber eine eigenwertige Theorie der Hässlichkeit. Man könnte es sogar härter formulieren mit der Folgerung, dass Mendelssohn die Gesamtheit ästhetischer Phänomene mit seiner Theorie gar nicht in den Blick bekommt. Nimmt man allerdings als sein grundlegendes Interesse, wie es sich in den Briefen und den Hauptgrundsätzen darstellt, nicht eine Kategorisierung des Ästhetischen, sondern eine Theorie der ästhetischen Hinwendung des Menschen an die Welt an, so verschiebt sich das Bild: es geht nicht um die Erklärung und Begründung der ästhetischen Darstellbarkeit (und des Genusses) eines als in sich hässlich vorausgesetzten Gegenstands, sondern es geht um die Durchdringung der beim ästhetischen Genuss beteiligten anthropologischen Kategorien. Die Reformulierung Wellberys, dass in der Darstellung des Gegenstandes (das hier angemessener mit dem englischen »representation« gleichzusetzen wäre) das abwesende Objekt als ein anwesendes vorgestellt wird158, trifft den Sachverhalt in diesem Sinne genauer: zwar besteht eine Distanz, indem das Objekt tatsächlich nicht direkt in die Sphäre des Rezipien-
158
»[…] it renders an absent object as present.« Wellbery 1984, 67, vgl. auch sein Ergebnis bzgl. des Paradigmenwechsels von der Rhetorik zur Mimesis, der Darstellenden zur Repräsentierenden Kunstauffassung: »Poetry is no longer art in language, but language that transcends art in order to reapproach nature.« (ebd. 71 f.) Sprache ist und bleibt damit ein Angelpunkt ästhetischer Darstellung, aber sie wird gerade verwendet, um sich selbst vergessen zu machen (vgl. JubA I, 491; Wellbery (ebd.) nennt dies treffend »the principle of transparency«). Dementsprechend hält auch Mendelssohn fest, dass die (sprachliche) Darstellung die Beste sei, bei der man die Zeichen als solche nicht wahrnimmt, sondern sofort affektiv zum Kern der Sache getragen wird. Dies ist nicht per se Irrationalität (vgl. Haimberger 1975, 37), sondern ein Paradigmenwechsel des Rationalen zum umfassend Anthropologischen.
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ten eingreift – und dennoch ist der Aspekt der (scheinbaren) Unmittelbarkeit des Eindrucks bestimmend. Dies könnte erklären, warum Mendelssohn nicht von einer Schwächung des reinen Affekts spricht, die sich bei der Übertragung des Eindrucks auf ein Artefakt vollzöge, sondern von einem Wechselverhältnis zwischen Affekt und Selbstbezug, der durch ein Werk nur veranlasst wird und letztlich alle ästhetischen Qualitäten eines Gegenstands betrifft. Jede ästhetische Vorstellung lässt sich als Abschwächung reformulieren, wenn betont wird, dass sie in einem Artefakt etwas darstellt und dieses folgerichtig nicht selbst ist. Ein Hinweis auf eine so zu verstehende ästhetische ›Abschwächung‹ qua Darstellung macht Mendelssohns Theorie aber noch nicht unzureichend. Der Affekt und das Interesse an ihm soll in der Reformulierung als vermischte Empfindung gar nicht geschwächt, sondern transformiert werden. Gerade seine prima facie ›naturhafte‹ Wirksamkeit ist vielmehr angestrebt, um das Spiel der Empfindungen einzuleiten. Wenn ich, bildlich gesprochen, vor der gemalten Schlange erst gar nicht erschrecke, so wird sich auch keine vermischte Empfindung, die von diesem ersten schreckhaften Erlebnis abzuhängen scheint, entwickeln. Die Transformation eines Eindrucks in die vermischte Empfindung muss also ihren Ausgangspunkt aus einem als unmittelbar erlebten Eindruck nehmen, der sich in die ästhetische Distanz rücken lässt, ohne dass diese wiederum den Eindruck zerstört. Das Illusionspostulat Mendelssohns lässt sich in zwei Richtungen lesen: zuerst wird die als total erlebte Illusion im ästhetischen Empfinden durch rationale Durchdringung transformiert, die jedoch den Eigenwert des sinnlichen Eindrucks nicht gänzlich aufhebt, sondern ein Zurückgleiten in die sinnliche Involviertheit erlaubt, ja, erfordert. Wie der Mathematiker, der zwischen klarer Erkenntnis einzelner Ergebnisse und verworrener Empfindung des Gesamteindrucks wechselt, hat diese »Freyheit« auch der Tragödienbesucher. Mendelssohns Forderung, dass »die obern Seelenkräfte« überzeugt sein müssen, »daß es eine Nachahmung, und nicht die Natur selbst sey« (Von der Herrschaft über die Neigungen, um 1756, JubA II, 154), besagt nicht, dass auch das Gefühl diese »Überzeugung« teilen muss. Vielmehr stärken und beleben sich sinnliches Erschrecken und rationales Beruhigen gegenseitig. Illusion ist in Bezug auf Mendelssohns Ästhetik nicht ein Bestandteil einer Poetik, sondern eine psychologisch-anthropologische159 Erklärung von der Wirkungsweise von Kunst (weniger für Gesetze ihrer Konstitution) geworden. Was seine Theorie damit leistet, ist der Ansatz zu einer Reformulierung des ›Schönen‹ zum ›ästhetisch Relevanten‹160 in anthropologischen Kategorien des sinnlichen Gefallens und der
159
Vgl. dazu auch die Ausführungen von Gombrich 2002, 29–78 (»Die Grenzen der Ähnlichkeit«); Gombrich argumentiert zwar nicht philosophisch, sondern genetisch-psychologisch, bietet jedoch gute, auch philosophisch relevante Gründe, um vom Vorurteil der Naturabbildung abzurücken. 160 Ein Ansatz, der auch mit Bezug auf Kant weiterhin zu verfolgen wäre; dort allerdings mit
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verständigen Durchdringung in ihrer Durchmischung, entsprechend dem Postulat vom vermischten Wesen Mensch. Das Defizit von Mendelssohns Theorie liegt dennoch in der Nähe des von Pauen genannten Aspekts der Distanzierung und dem damit einhergehenden Versuch der ›Rettung‹ menschlicher Moralität. Das Vergnügen an schrecklichen Gegenständen ist gemäß der Theorie der vermischten Empfindungen nicht nur ästhetisch wertvoll, weil ein solcher ›Gegenstand‹ wie das Kunstschöne als gelungene Kunst wahrgenommen werden kann, sondern weil er die Vorstellungstätigkeit nachdrücklich beschäftigt. Bei hässlichen oder erschreckenden, gar bösen ›Gegenständen‹ erzeugt die Durchbrechung der Illusion keine Enttäuschung, sondern eine Beruhigung. Dennoch kehrt der Rezipient zu diesem Gefühl zurück, und, mehr noch, hat dieser Eindruck ihn allererst zur Hinwendung an dieses Kunstwerk bewogen. Also interessiert auch die Vorstellung des Schrecklichen an sich – sonst wendete man sich freiwillig keinem Schlachtenbild etc. zu, das das Spiel der Empfindungen erst in Gang setzt. Die oben bereits erwähnt Freiheit, zwischen der Hingabe an den »delightful horror«161 und der Versicherung von dessen Künstlichkeit hin- und her zu wechseln, macht hier das besondere Vergnügen aus. Doch Mendelssohn zufolge soll das Schreckliche oder Hässliche nicht der Initiator der Hinwendung zu einer solchen Kunst sein, denn dies stellte die gegen Rousseau verteidigte, grundsätzlich positive Ausrichtung menschlichen Interesses an der Vollkommenheit infrage. Gerade dies ist jedoch in Hinblick auf die Struktur der Illusionswirkung zu vermuten. Mendelssohns Theorie kann die Folgen der vermischten Empfindungen und das Gefallen daran in sein Modell integrieren: die stärkere Erregung der Leidenschaften durch die kontrastreiche Wirkung verschiedener Empfindungen bereitet Vergnügen.162 Dennoch bleibt die Kritik Zelles (1987, 330) bestehen: warum das Schreckliche den Menschen anzieht, hat Mendelssohn damit nicht befriedigend erklären, noch überzeugend zurückweisen können. anderen normativen Grundlagen, die sich eben nicht in der Konstitution des Menschen, sondern derjenigen des ästhetischen Urteils finden lassen müssten. 161 Vgl. Zelle 1987, Kap. II, der die unterschiedlichen Bezeichnungsarten auflistet. Er nennt u. a. Dennis: »delightful horror«; Addison: »agreeable kind of horror«; Fontenelle: »doleur agréable«; Batteux: »terreur agréable«. 162 Dabei hebt Mendelssohn hervor, dass die Entgegensetzung nicht total sein darf; in den Briefen über die Empfindungen, JubA I, 110 spricht er von einer reizvollen Mischung von Süße und Bitternis. Er warnt zugleich, wie in einem Kollektaneeneintrag (JubA III/1, 283) vor einer Vermischung einander »schnurstraks« entgegengesetzten Empfindungen. Damit ist letztlich allein die Vermischung einander immerhin ähnlicher, nicht völlig heterogener Empfindungen angesprochen (vgl. JubA III/1, 283): Mitleid ist Trauer und Liebe zugleich, bzw. es ist Trauer aus Liebe. Aus diesem Grund ist wiederum das Illusionspostulat von großer Bedeutung: denn ohne Identifikation entstehen keine homogen erscheinenden, sondern störend heterogene Empfindungen. Mendelssohns Ausführungen zeigen, dass Empfindungen kontextsensibel sind: über ihre Vereinbarkeit entscheidet ihre Auffassung im Rezipienten.
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Kommen wir vorerst auf das Illusionspostulat zurück. Von dem Konzept einer vollkommenen Täuschung, wie er 1761 gefordert hatte, ist Mendelssohn zehn Jahre später mit Bezug auf die vermischten Empfindungen deutlich abgerückt. Der ästhetisch relevante Status der Illusion liegt gerade in ihrer Transparenz. Trotzdem ist die Illusion für den ästhetischen Genuss unverzichtbar, denn die angenehme Empfindung des Schönen oder das mitreißende Gefühl des Schrecklichen spricht den Menschen eindringlicher (weil auch sinnlicher) an, als es eine philosophische Abhandlung, die ja ebenfalls auf eine Form menschlicher Schaffenskraft verweist, vermag. Damit stellt Mendelssohn sich – noch einmal – gegen Lessing, der in der Trauerspieldebatte vielmehr eine Stärkung des Illusionspostulats als Täuschung gefordert hatte und damit den Aspekt der Durchdringung vernachlässigt wissen wollte.163 Lessings mitleidigster Mensch ist nur dann der beste Mensch, wenn er seine Gefühle nicht rationalisiert, sondern wenn er ›empfindlicher‹ geworden ist, sich also von den ›richtigen‹ Empfindungen umso stärker ansprechen lässt. Mit Schillemeit (1984, 90) kann man bezüglich des Trauerspielbriefwechsels von einem Dissens über »die Natur der ästhetischen Wirkung überhaupt« sprechen, der sich vor allem am Illusionsstatus des Zuschauers ausmachen lässt: »Der Tragödienzuschauer, den Lessing sich denkt, ist offenbar ein anderer als der bei Mendelssohn (und nicht nur bei ihm) vorausgesetzte: es ist der schlechthin illusionierte, gleichsam ›mit‹ den Figuren des Stücks lebende Zuschauer […].« (ebd.) Mendelssohn denkt an den aufgeklärten, nicht allein mit seinen Leidenschaften, sondern auch seinem Denkvermögen vertrauten Zuschauer – dem es laut Schillemeit unmöglich sei, angesichts von Bühnenwerk, Vorhang und Schminke an das ›echte‹ Leben dort auf den Brettern zu glauben. Dies hat zum einen seine Richtigkeit, wie bereits in Bezug auf die Nachahmung des Schönen ausgeführt wurde. Dabei unterschlägt Schillemeit zum anderen jedoch, dass sich auch Mendelssohns Zuschauer ›wirklich‹ erschrecken kann und soll. Dieser Schrecken ist zwar eingebunden in das oben beschriebene Spiel ästhetischer Illusion als eines Wechsels zwischen Täuschung und deren Durchdringung. Der Schrecken bleibt damit ästhetisch von Belang, indem seine ›Reibung‹ mit der Durchbrechung der Illusionswirkung den Affekt nur verstärkt. Sein Eigenwert als Empfindung soll also auch in Mendelssohns Theorie erhalten bleiben. In einem anderen, ebenfalls wichtigen Aspekt kamen die Freunde überein: für beide bedeutet die Fertigkeit zur Schaffung schöner Illusion auch das Vermögen, einen Ausschnitt der Wirklichkeit ›schön‹ darzustellen. In Über die Mischung der Schönheiten (1776) reflektiert Mendelssohn darüber, was der Begriff der Schönheit eigentlich umfasse. »Nehmen wir aber einmal einen Teil des Charakters der Seele 163
Schillemeit bezeichnet gar die Überlegungen zum Illusionsbegriff als zweite Säule dieser Diskussion, womit die Differenz dieser beiden Denker noch einmal in ein schärferes Licht gerückt wird; vgl. Schillemeit 1984, 87–92.
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mit zum Begriff der Schönheit, so ist keine Grenze mehr, wo wir aufhören müßten.« (JubA III/1, 260)164 Trennt man aber Schönheit von Tugend, wie er es vornimmt, ergeben sich andere Forderungen an die Schönheit, als sie an die Tugend gestellt würden. Für einen ästhetisch guten bzw. schönen Gegenstand ist moralische Güte also nicht erforderlich, sondern vielmehr konzentrierte Totalität. Der Künstler muss das Kunstwerk als ein ›Ganzes‹ konzipieren, in ihm müssen alle Teile zu einem gemeinsamen Zweck übereinstimmen und, um als schön wahrgenommen zu werden, als eine Einheit »in die Sinne fallen«. Was ›schön‹ ist, oder ästhetisch wahrgenommen wird, muss nicht durch Nachgrübeln entdeckt werden, sondern offenbart sich auf einen Blick. Dieser Ansicht sind sowohl Mendelssohn wie auch Lessing in ihrem Briefwechsel, in dem beide die Einheit des Charakters, sowie auch des Kunstwerks fordern (siehe Mendelssohn im Dezember 1756; Lessing am 18. Dezember 1756, JubA XI, 83 bzw. 95 f.). Im 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie hat Lessing dies dann so ausgedrückt: »Aus diesen wenigen Gliedern sollte er [der Künstler; A.P.] ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein […].« (Werke 6, 577, Hervorhebung A.P.) Damit wird von Lessing und Mendelssohn ein organischer Werkbegriff 165 ins Spiel gebracht, der das in den Briefen genannte »Einerley im Mannigfaltigen« in eine Auffassung (und damit auch Aufwertung) der Kunst als ein organisiertes Ganzes transformiert. Schönheit ist konzentrierte Darstellung der Welt. Dies bedeutet auch, dass, um menschenmögliche Vollkommenheit in der Darstellung zu erreichen, der Künstler das Werk so entwirft, als sei es allein der Zielpunkt der Schöpfung gewesen – 164
Seiner eigenen Angabe zufolge zitiert er hier eine Auffassung Christian Garves. Allerdings hat er den Passus allem Anschein nach nicht richtig erinnert; zumindest findet er sich weder in der Neuen Bibliothek, noch in Garves sonstigen Werken (vgl. JubA III/1, 444). Sei es, dass sich dieser doch irgendwie auffinden lasse, sei es, dass Mendelssohn seine Meinung in der Erinnerung in Garves Artikel hineingedeutet hat: deutlich wird hier, dass das Autonomieverständnis der Ästhetik für Mendelssohn virulent war. 165 Vgl. Fischer 1990, 494 ff.: Ganzheit bei Mendelssohn meint, so argumentiert Fischer auf Grundlage der Briefe und der Hauptgrundsätze, »eine abgeschlossene Ökonomie, an der alle Teile teilhaben«. Die »innere Form« ist ohne die Reflexion des Betrachters allerdings nicht denkbar (ebd., 499). Vgl. als Grundlage die Ansicht Shaftesburys: »Und wenn uns erst einmal die Lust erfaßt, diese bildenden Künste zu pflegen, so wird unser Genius, davon bin ich überzeugt, uns ganz natürlich über die seichteren Vergnügungen hinweggeleiten und uns zu jenem höheren, ernsthafteren und edleren Bereich der Nachahmung führen, der sich auf die Geschichte, die menschliche Natur und die höchste Stufe oder Ordnung der Schönheit bezieht, ich meine jene des vernünftigen Lebens, das sich vom bloß vegetabilen und sinnlichen, wie in Tieren und Pflanzen, unterscheidet, entsprechend jenen verschiedenen Rangstufen und Ordnungen der Malerei […]« (»Ein Brief über das Gestalten«, Stand. Ed. I, 5; 2001, 45ff.)
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und damit die Richtung der Vollkommenheit auf die Einheit der dargestellten Welt, eine künstliche und künstlerische Vollkommenheit, verschiebt. ›Wahre‹ Vollkommenheit ist stets die geordnete Einheit von Teilen unter einem Prinzip, doch ist allein das von Gott geschaffene Naturganze absolute Vollkommenheit, die schlechthin alles umfasst. Dies übersteigt das menschliche, ästhetische Fassungsvermögen. Der Künstler muss daher mit einem Ausschnitt, einem begrenzten Bereich vorliebnehmen, dem er eine in sich vollständige Ordnung gibt. Mendelssohn betont in seiner Konzeption gerade die Grenzen zwischen dem Naturschönen, das Gott, und dem Kunstschönen, das den Menschen zum Schöpfer hat. Im 66. Literaturbrief umschreibt er die Tätigkeit des Künstlers als Idealisierung (JubA V/1, 98–101)166. Auf dieses Konzept greift deutlich sichtbar auch Lessing im 70. Stück der Hamburgischen Dramaturgie zurück: »In der Natur ist alles mit allem verbunden, alles durchkreuzt sich, alles wechselt mit allem […]. Aber nach dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern, und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können.« (Werke 6, 533 f.) Der Auffassung des Genies als genuiner Schöpfer ist damit zumindest der Weg geebnet; der auswählende und darstellende Mensch als das Kernstück der Ästhetik festgeschrieben.
Ästhetische Semiotik Neben dem Illusionspostulat ist es auch Mendelssohns Zeichenlehre, die seine Einsichten in die Prozesse ästhetischer Wirksamkeit zeigt und Mittel der geforderten »konzentrierten Totalität« an die Hand gibt. Der hier interessierende Aspekt dieser Lehre bezieht sich auf das Zusammenspiel zwischen Sinnlichkeit (gegeben v. a. mit den »natürlichen Zeichen«) und Ratio (»willkürliche Zeichen«). Im Sendschreiben an Lessing von 1756, in dem sich Mendelssohn hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Rousseau auch mit dessen Sprachtheorie beschäftigt hatte, 166 Mit Idealisierung ist auch die Verschönerung einzelner Wesenszüge für spezifische Darstellungsarten gemeint. Am Beispiel des Schäfergedichts, das Mendelssohn in den LB 85–86 vom 28. Februar 1760 (JubA V/1, 138–47) bespricht, zeigt er die Grenzen der Idealisierung, die im Sujet selbst liegen: »Man hat sie [die Landmenschen] verschönert, dem Ideal näher gebracht, doch so, daß sie ihre Natur nicht ablegen, das heißt, daß sie in ihrer vollkommensten Veredelung noch mit den übrigen Eigenschaften eines Landmannes bestehen können.« (ebd., 146) Im LB 170 vom 18. Juni 1761 (JubA V/1, 382 f.) macht er die Probe aufs Exempel: Rousseaus Nouvelle Héloïse ist zu tugendhaft und wird darum unglaubwürdig – »So gehets mit den übermäßigen Verschönerungen des Ideals. Man will die Bewunderung höher treiben, und wird unglaubhaft.«
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entwickelt er in Anlehnung an Wolff und Locke eine Theorie der natürlichen und willkürlichen (arbiträren) Zeichen, die die Anforderungen der vermischten Empfindungen und die Illusion für eine Einteilung der Künste167, für die Charakterisierung ihres Wirkungspotentials sowie auch für ihren Bezug auf die Realität fruchtbar gemacht werden kann. Mit seiner an dieser Zeichentheorie orientierten Einteilung der schönen Künste in ihre besonderen Klassen wendet Mendelssohn die semiotische Theorie des 18. Jahrhunderts an, um das Wesen der jeweiligen Künste zu beschreiben.168 Ihmzufolge sind natürliche Zeichen gegeben, »wenn die Verbindung des Zeichens mit der bezeichneten Sache in den Eigenschaften des Bezeichneten selbst gegründet ist« (JubA I, 438). Ihr Vorteil ist ihre Unkonventionalität; Grimm (1999, 168) bezeichnet sie sogar als »anthropologische Konstanten menschlichen Ausdrucksverhaltens«, die also gemäß Mendelssohns Ansicht stets gleichbedeutend und universal verständlich sind. Ihre Aufnahme setzt keine hohe Bildung, sondern allein »gesunden Menschenverstand« voraus. Durch ihre Direktheit sind sie unmittelbar-intuitiv, also emotional hoch wirksam. »Der Vorteil der natürlichen Sprache der Gesten, der Mimik und der expressiven, unartikulierten Töne lag für die Gefühlsästhetik der Aufklärung also in der Möglichkeit ihres unmittelbar-intuitiven und emotional betonten Verständnisses gegenüber der mehr rational-begrifflich vermittelten Sprache der willkürlichen Zeichen.« (ebd.) Deshalb auch eignen sich die natürlichen Zeichen so gut zur Illusionierung – sie rufen durch ihre intuitive Eingänglichkeit leicht Emotionen hervor und initiieren den oben beschriebenen Prozess. »Hingegen werden diejenigen Zeichen willkürlich genannt, die vermöge ihrer Natur mit der bezeichneten Sache nichts gemein haben, aber doch willkürlich dafür angenommen worden sind.« (JubA I, 437 f.) Willkürliche Zeichen, die sich mit dem bezeichneten Gegenstand über arbiträre Festlegungen verbinden, vermitteln Inhalte rational-begrifflich oder über die Gewohnheit, einer unbewusst ablaufenden Verknüpfung von Zeichen und Bezeichnetem. Sie sind damit Konventionen unterlegen; ihr Vorteil aber ist ihre Unerschöpflichkeit. Alles kann durch willkürliche Zeichen ausgedrückt werden, wohingegen der Umfang der natürlichen Zeichen begrenzt 167
»Wenn der Sprachgebrauch hier ja schöne Künste und schöne Wissenschaften unterscheidet; so nimmt er vielmehr das Wort Wissenschaft vielmehr [sic] in uneigentlicher Bedeutung. Der Franzose spricht, belles lettres, aber nicht belles sciences. – Die belles lettres verhalten sich zu den beaux arts nicht, wie Wissenschaften zu Künsten; sondern wie Künste, die sich willkührlicher Zeichen, zu Künsten, die sich natürlicher Zeichen bedienen.« (LB 137: 18. Dezember 1760, JubA V/1, 315) 168 Vgl. Wellbery 1984, 62–68. Mendelssohn referiert an oben genannter Stelle auch auf Batteux; dieser hatte die Unterscheidung zwischen einer Sprache der Vernunft und einer Sprache der Leidenschaften betont und nebenbei auch die Musik als eine herausragende Kunst zur Artikulation des Gefühls betont; siehe die Übersetzung Einschränkung der schönen Künste auf einen Einzigen Grundsatz, Leipzig 1751, 224–64 (»Von der Musik und Tanzkunst«); vgl. Riedel 1994b, 432 ff. und Grimm 1999, 167 f.
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ist.169 Natürliche Zeichen entfalten also, so Mendelssohn, durch ihre direkte Vermittlungsfunktion unmittelbarer Empfindungen im Rezipienten, als es die in rationaler Überformung des allein Abbildenden entstandenen willkürlichen Zeichen, die den »Umweg der Reflexion« nehmen müssen. Demgemäß ordnet er den »schönen Künsten« (Malerei, Bildhauerkunst, Musik und Tanzkunst170) die natürlichen171, den »schönen Wissenschaften« (Dichtkunst und Beredsamkeit) die willkürlichen Zeichen zu. Darüber hinaus kann ein »zugleichseiender« bzw. »aufeinanderfolgender« Zeichengebrauch das Ausdruckspotential (Handlungen, Mimik, Gestik etc) und die Ausdrucksintensität der jeweiligen Kunstgattung bestimmen.172 Hier ist der Rezeptionsaspekt entscheidend. So besteht der Tanz aus einer zeitlich geordneten Zeichenabfolge, wohingegen Malerei und Skulptur zwar zugleichseiende Zeichen (in einem Bild, einer Skulptur) bieten, die jedoch ebenfalls in einer zeitlichen Abfolge rezipiert werden müssen. Musik schließlich ist die Königsdisziplin, in der beide Aspekte zusammenkommen. Zeitliche Aufeinanderfolge (Melodik) sowie Zugleichsein der Töne (Harmonik) machen ihren Reiz aus.173 Es herrscht ein »Gleichgewicht verschiedener Wahrnehmungsebenen«, das auch den »Widerspruch zwischen sinnlichem Vergnügen und rationalen Grundlagen« in der Musik auflösen kann (Lütteken 2000, 167). Hierin liegt nach Lütteken der originelle Aspekt von Mendelssohns musiktheoretischen Überlegungen: Es ging ihm nicht nur darum, Musik als Körper und Geist gleichzeitig und gleichberechtigt affizierenden Kunst zu charakterisieren, sondern auch, »das Wesen der Musik gerade als Abfolge von Konsonanz und Dis169 Auf die Frage, wie ein natürliches Zeichen »objektive« Bedeutung erhalten kann, d. h. einen Gehalt, der über die Bekundung subjektiver Befindlichkeiten hinausgeht, hat sich Mendelssohn bereits in der Auseinandersetzung mit Rousseau im Sendschreiben und auch in später niedergeschriebenen Skizzen zu einer Sprachphilosophie auseinandergesetzt; vgl. Kap. IV.1, sowie Pollok 2009. 170 Laut Wellbery (1984, 31) liegt die Wurzel für Mendelssohns Auffassung des Tanzes als eines natürlichen Ausdrucksmediums zweifellos bei Wolff, wobei dieser diesbezüglich auf die einschlägigen Arbeiten Raoul Anger Feuillets (1653–1709; 1700 erschien sein Hauptwerk Choréographie, ou l’art de d’écrire la danse) zurückgreift. 171 Und nur in diesem Sinne kann Mendelssohn hier auch dem Konzept von Baumgartens Definition der Ästhetik aus der Metaphysica folgen, dass die Schönheit zugleich die sinnliche Erkenntnis wie die Darstellung betreffe (vgl. ebd., § 533 im Gegensatz zu Aesthetica, § 1; vgl. Proß 1987, 866 f.): mit natürlichen Zeichen dargestellt, sei – so die Hypothese – Darstellung und Wirkung einander gleich. 172 Desweiteren nennt Mendelssohn noch in den Notizen zum Ursprung der Sprache die »nachahmenden«, in den Anmerkungen zum Laokoon-Entwurf »täuschende« und »nichttäuschende« Zeichen, deren Erklärungspotential allerdings nicht über die oben erwähnten Zeichenarten hinausgeht, sondern einen bereits mit der Illusionstheorie (im rudimentären Sinne, immerhin hatte sie Mendelssohn zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Skizzen noch nicht gänzlich ausgearbeitet) zusammengesetzten Komplex bildet. Vgl. zu Lessings Überlegungen des künstlerischen Zeichengebrauchs Laokoon I, XVI f. (Werke 5/2, 116–29) und die Paralipomena, ebd., 219, 312–17. 173 Haimberger 1975, 41 ff. reformuliert dies so: die Musik bringe Emotionen hervor, ahme aber nicht nach. Mendelssohns Lesart ist dies allerdings nicht, wie das Folgende zeigen soll.
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sonanz zu bestimmen« (ebd., 168). Dies hebt wiederum den dynamischen Aspekt seiner Wahrnehmungs- und Genusslehre hervor, denn das Ineins von intellektuellem und sinnlichem Genuss gelingt in der Musik durch das Zusammenspiel von Spannung und Entspannung, Erwartung und Erfüllung. »Erstmals waren die ›schöne‹ Konsonanz und die ›nicht mehr schöne‹ Dissonanz als gleichgewichtige Bestandteile der Musik produktiv anerkannt.« (ebd.) In der Ästhetik des 18. Jahrhunderts galt Musik generell als das dominierende Medium des Gefühlsausdrucks (so Riedel 1994b, 431), was sie zum idealen Kandidaten zur Exemplifizierung der Theorie der vermischten Empfindungen und von Mendelssohns Zeichentheorie macht. Dabei war das theoretische Niveau beispielsweise der Artikel in Sulzers Allgemeiner Theorie sehr hoch; waren sie doch vornehmlich von führenden Musikern des Berliner Komponistenkreises wie Johann Philipp Kirnberger, Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Abraham Peter Schulz verfasst.174 Grundlegende Frage war, wie eine Theorie der affektiven Effekte der Musik »im Rahmen eines rationalen Ansatzes« bewältigt werden könnte (Lütteken 2000, 168). Mendelssohn nahm das Ausdruckspotential der Musik als außerordentlich weit an, da sich hier nicht nur der freie Zeichengebrauch, sondern auch ein Spiel mit den Zeitebenen der Rezeption anbietet. Musik zeigt mögliche Beziehungen einzelner Töne nacheinander und gleichzeitig untereinander an; sie ist die »Übereinstimmung der einzelnen Töne zum Ganzen« und die »wechselweise Beziehung der Theile aufeinander«, die Einheit des Mannigfaltigen in seiner temporären und abwechslungsreichen Folge. Das Widersinnigste kann in der Musik als verbunden und verbindbar erfahren werden – das ist ihr großes Plus vor Malerei und Plastik. Selbst das Potential des Erhabenen ist in der Musik vollkommen ausgedrückt: Man bewundert die Schönheit der Linienführung, ist überrascht von der Erhabenheit des Genies, das diese Verbindungen schaffen konnte und wird mitgerissen durch einen überwältigenden harmonischen Eindruck. Interessant an dieser Bemerkung ist, dass hier wiederum enge Verbindungen mit der Rhetorik möglich sind, die Mendelssohn eigentlich dem anderen Gegenstandsbereich der Kunst, den schönen Wissenschaften, und damit einem anderen Zeichensystem zugeordnet hatte. Allerdings ermöglicht seine Einteilung auch eine Kombination aus verschiedenen Modellen. Die Musik wirkt subtiler als die Rhetorik, weil sie durch den (emotional betonten) Gebrauch 174
Vgl. Riedel 1994b, 432 f. Riedel zufolge berufen sich dabei alle auf Batteux, sowie Rousseaus Überlegungen zur Sprachphilosophie. Der von ihm genannte Essai sur l’origine des langues erschien allerdings erst postum 1782. Es liegt viel näher, auch einen Einfluss von Mendelssohns Schriften zu vermuten; schließlich galt Mendelssohn seit seiner Skizze Versuch, eine vollkommen gleichschwebende Temperatur durch die Construction zu finden (anonym von Friedrich Wilhelm Marpurg in den Historisch-Kritischen Beyträgen zur Aufnahme der Musik 5.2, Berlin 1761 veröffentlicht; abgedr. in JubA II, 187–96) als ein anerkannter Musiktheoretiker und war darüber hinaus mit den wichtigsten Berliner Komponisten persönlich bekannt; vgl. dazu Lütteken 2000, 160 f. und 169 f.
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der natürlichen Zeichen stärker den Aspekt des sinnlichen Vergnügens nutzt und diesen mit den Wirkungen der willkürlichen Zeichen auf den Verstand kombiniert. Dieses Zusammenspiel soll im Folgenden interessieren, um den Anschluss der Zeichenlehre an Mendelssohns Theorie des Vergnügens zu verdeutlichen. In den Briefen über die Empfindungen hatte Mendelssohn die Instrumentalmusik gefeiert; in der folgenden, um 1757/58 entstandenen Skizze Briefe über Kunst jedoch die Anbindung der Musik an einen Text – und damit auch an willkürliche Zeichen – gefordert. So ließe sich mit Lütteken (1999, 149) »Mendelssohns Ablehnung […] auch verstehen als Rückzug vor einer musikalischen Sprache, die eben nur noch die Sinne anspricht – und die demnach nur ein unvollständiges […] Vergnügen bereitet.« Grimm (1999, 168) hat hier eingewandt, dass diese Kritik vielleicht eher als direkte Schelte des »liebliche[n] Geklingel[s]« zeitgenössischer »Liebhabermusik« gemeint sei, aber nicht generell die Musik unter die Fuchtel der Vernunft zu stellen beabsichtigte. Zwar sprechen für Mendelssohns Wertschätzung der nicht-nur-sinnlichen Musik die interessanten Arbeiten, die aus der Zusammenarbeit von Mendelssohn und Kirnberger erwuchsen175, sowie seine in den Hauptgrundsätzen vertretene Theorie der vermischten Künste wie der Oper; doch rechtfertigt dies allein nicht, von einer generellen Zurücknahme der in den Briefen über die Empfindungen geäußerten Begeisterung für die Instrumentalmusik zu sprechen. Schon die Theorie der vermischten Empfindungen weist darauf hin, dass Mendelssohns Auffassung der Musik nicht an einer moralistischen, abbildzentrierten Ästhetik orientiert war. Die Grundlagen der Schönheit in der Musik liegen in ihrer »Syntax«, also in ihrer der Sprachstruktur verwandten Form: »Die geregelte Syntax ist also nicht das Ziel, sondern der Anfang aller Musik.« (Lütteken 1999, 149) Ihr angenehmer Eindruck beruht aber nicht allein auf Regelhaftigkeit, denn dieses wäre ein allzu leicht zu durchschauendes »Einerley«. Vielmehr muss sie die Seelenkräfte angenehm beschäftigen, indem sie sie aktiviert: beim Musikhören ist die Seele durch »Zweifeln, Vermuthen und Vorhersehen«176 angenehm beschäftigt. Wie die Briefe über Kunst (insbesondere JubA II, 170) zeigen, soll dies jedoch nicht nur durch die Musik allein, sondern auch durch ihre »affektive Ausrichtung am Text« (Lütteken 1999, 157, FN 84) erreicht werden. Fraglich ist allerdings, ob Musik auch absolut, also für sich gilt, oder notwendig in der Verbindung zum Text gesehen werden muss. Vernunft scheint hier ein wichtiges Korrektiv; aber ist die Textgebundenheit dazu das einzige Mittel? Meines Erachtens 175
Lütteken 1999, 153–61 betont die intensive Zusammenarbeit der beiden in den 1770er Jahren, z. B. anlässlich der Psalmenübersetzung und -vertonung. »Die Wahl der Texte, vor allem des 137. Psalms, verrät ein massives [?] Interesse auch an der Darstellung des Schreckens.« (160 f.) 176 Vgl. Lütteken 1999, 149; die Begriffsverwendung erinnert an Baumgartens Ausführungen zum »Vermögen der Voraussicht« in Metaphysica, §§ 595–605 (8. Abschnitt). Allerdings liefert Baumgarten keine Erklärung eines Vergnügens an einer solchen Empfindung.
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ist diese Aussage hinsichtlich von Mendelssohns veröffentlichten Arbeiten zu unsicher, stützt sie sich doch vornehmlich auf die um 1758 entstandenen Briefe über Kunst, die dieser nie fertigstellte. Vielleicht lässt sich mit den folgenden Hinweisen eine Alternative formulieren: Bloße Nachahmung genügt nicht, da sie den Menschen als Vernunftwesen nicht zufriedenstellt. Kunst soll vielmehr auch ein Sinnbild seiner umfassenderen Welterkenntnis sein. Dies ist nur möglich, indem die Kunst ihren künstlichen Charakter wahrnehmbar macht. Sie ist keine Abbildung der Welt, sondern sie idealisiert bestimmte Teile von ihr: sie ist die Darstellung künstlerischer Bewältigung von Welterkenntnis. Dazu solle Musik nicht allein natürliche Lautmuster nachahmen, sondern müsse sich – idealisierend – »über die gemeine Natur erheben« (JubA I, 435; Hervorhebung nur in erster Fassung von 1757, ebd., 171). Denn Schönheit in der Natur liegt letztlich nur in ihrem Gesamtzusammenhang, während der Künstler mit einem begrenzten Bereich Vorlieb nehmen muss. »Die Töne der Natur sind zwar ausdrückend, aber selten melodisch, und der Künstler muß sie verschönern, wenn er gefallen will.« (JubA I, 436) Verschönern bedeutet dabei auch konzentrieren. Ein Teil der Natur als ein in sich vollendetes Ganzes darzustellen ist keine Abbildung, sondern ein künstlerischer Prozess. Musik ahmt Affekte nach, wenn sie ähnliche Affekte hervorruft. Wie das klingt, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt. Festzuhalten ist, dass Mendelssohn Musik als ein Extrakt der Affekte verstand, nicht als einen Affekt selbst. So behauptet er in den Thesen Nr. 4–6, 8, 10 in der Skizze Briefe über Kunst, dass der nachzuahmende Gegenstand der Künste nicht schön, sondern dass vielmehr der Geschmack in ihr veränderlich sei, bisweilen bloß auf Wahrscheinlichkeiten beruhe und dass ihre Schönheit in der »Ordnung« bestehe. Alles spricht dafür, dass er hier geneigt scheint, die Musik nicht mehr den schönen Künsten, sondern vielmehr den schönen Wissenschaften zuzuordnen, und damit ihren »Sprachschatz« um den der willkürlichen Zeichen zu erweitern. Wird der Text in die Musik eingebunden, so war dies für Mendelssohn wohl weniger ein Korrektiv, als eine natürliche Erweiterung. Den kalten sprachlichen Symbolen wird eine anschauende Bedeutung beigelegt und modifiziert so deren Richtung. Mendelssohn schien bestrebt zu sein, die »produktive Verbindung« von Konsonanz und Dissonanz durch die Verbindung von Ton und Wort zu erweitern177, nicht rationalistisch einzuengen. 177
Vgl. Lütteken 2000, 182. Die starke Intellektualisierung des Modells einer sprachgebundenen Musik betont Lütteken in Hinblick auf die Anbindung an Kirnbergers Lehre vom »reinen Satz« (Johann Philipp Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, aus sicheren Grundsätzen hergeleitet und mit deutlichen Beyspielen erläutert. Zwei Teile, Berlin, Königsberg 1771 (1), 1776, 1777, 1779 (2)). Dieser verfolgte die Idee einer musikalischen Syntax in Form eines vierstimmigen Choralsatzes, wobei jede Stimme gleichberechtigt und gleichwertig ist (vgl. ebd., 171). Diese Lehre fand ihre erste Umsetzung in einem Choralsatz, der sich einer Übersetzung der Psalmen von Mendelssohn bedient und damit deren erste Veröffentlichung darstellt (ebd., 174). Das beson-
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Dieser Versuch einer gleichberechtigten Kombination aus Text und Affekt als eine subtile Steuerung der Leidenschaften zeigt sich auch in seinen weiteren Überlegungen zum Thema. Er scheint sich sehr wohl der überwältigenden und damit eventuell verfälschenden bzw. zu Agitationszwecken einsetzbaren Wirkung der natürlichen Zeichen in der Kunst bewusst zu sein. Dennoch sind sie ihm zur Erregung der Leidenschaften unverzichtbar. Dementsprechend will er mit seiner Theorie der reflexiven Durchbrechung der Leidenschaften keineswegs letztere zähmen, oder gar von der Bühne verdammen, sondern vielmehr ihre ästhetische Wirksamkeit erhalten. Die »ästhetische Distanz« (Pauen) soll in dieser Hinsicht tatsächlich schützen. Dieser ästhetische Genuss, der Leidenschaften (und nicht ihre Restriktion) erfordert, ist nur möglich, wenn dem Rezipienten ein ästhetischer Freiraum bleibt, der die Miteinbeziehung der (rationalen) Durchbrechung der Illusion bei gleichzeitiger Erhaltung der emotionalen Involviertheit realisiert.178 Mendelssohns Zeichentheorie zielt aus diesem Grund von vornherein an einer reinen Abbildung der Gegenstände vorbei, indem er vielmehr verlangt, dass sie »ästhetisch illudiren« können. Besonders deutlich wird diese Forderung bezüglich der mit willkürlichen Zeichen arbeitenden Künste, also vor allem der Dichtkunst. Sie kann unmöglich intuitiv für Natur gehalten werden. Dennoch besitzt sie eine Illusionswirkung, wenn sie durch die Sprachverwendung die Emotionen der Zuhörer (oder Leser) derart anspricht, dass er eine anschauende Erkenntnis des in willkürlichen Zeichen dargebotenen Gehalts bekommt. Möglich wird dies durch Mendelssohns Annahme einer (stabilen und weithin geteilten) Assoziationskette zwischen Zeichen und Gefühlen. Nachahmung ist damit keine Abbildung, sondern ein psychologisches Spiel der Erinnerung179 – bestimmte Zeichen werden mit bestimmten Inhalten verbunden, auch wenn sie ganz anders ›aussehen‹ als der Gegenstand dieser Erinnerung. Eine gute Nachahmung ist in allen Künsten diejenige, die adäquate Leidenschaften hervorrufen kann, sei es über natürliche oder willkürliche Zeichen. Damit trägt auch die Zeichentheorie zu dem Versuch bei, die Kunst vom Bereich des Rezipienten aus bestimmbar zu machen. Nicht die äußerliche Ähnlichkeit, sondern die Wirkungsäquivalenz ist es, die ästhetisch überzeugt – und dies erreicht die Kunst dere dieses vierstimmigen Satzes ist die starke Verdichtung und Verknüpfung aller, auch dissonant erscheinender Teile: »Die Selbständigkeit der Stimmen garantierte einen Zusammenhang in der Horizontalen auch in dem Augenblick, in dem er in der Vertikalen gleichsam in Frage gestellt war.« (ebd., 172) Hier vermischen sich rationale und emotionale Momente in einer Zeitabfolge und in ihrer (intellektuellen) Zusammenschau. Dass diese Kategorie den Anspruch eines sinnlich-intellektuellen Vergnügens zu erfüllen vermag, darf bezweifelt werden. 178 Duncan 2003, 60 versteht dies vornehmlich produktionsästhetisch: der Künstler soll keine Leidenschaften haben, sondern sie darstellen. Ebenso lässt sich das Konzept jedoch auf den Zuschauer erweitern: er soll leidenschaftlich entflammt, aber nicht unvernünftig werden. 179 Vgl. damit die erwähnte Fußnote in der Rhapsodie, in der Mendelssohn seinen Mitleidsbegriff begründet; siehe hier Abschnitt 3.
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eben mit der Durchbrechung der Natur, bzw. durch ihre ›Konzentration‹ im Zeichen bzw. Kunstwerk. Der Illusionstheorie entsprechend, argumentiert Mendelssohn in diesem Sinne auch nicht für einen uneingeschränkten oder privilegierten Gebrauch der natürlichen Zeichen, sondern verlangt ein Zusammenspiel beider (das sich in ›gemischten‹ Kunstformen besonders deutlich äußert), um den spezifischen Verweisungscharakter der Kunst zu erhalten. Ein klares Plädoyer für das Primat eines durchschlagenden Rationalismus ist dies nicht. Vor dem Hintergrund der Theorie der vermischten Empfindungen, des Illusionspostulats und der Zeichentheorie schließt sich Mendelssohn an die Auffassung Baumgartens von Schönheit als einer »Schönheit der Darstellung« an.180 »This […] category was certainly meant to indicate that works of art contained sources of merit and pleasure independent of other values inherent in the objective world signified by the content of works of art.« (Guyer 1993, 85) Dies macht Kunst und ihren Genuss (oder ihre Beurteilung) jedoch nicht zu einer rein subjektiven Angelegenheit. Die Anforderungen an die Kunstschönheit als Verweisung auf ihre Operation selbst als »Schönheit der Darstellung« und damit die verwendeten Zeichen verleihen dem ästhetischen Objekt einen grundlegend verweisenden Charakter. Kunst ist damit kein subjektiver Ausdruck, sondern der Ausdruck einer spezifischen Form der Vollkommenheit, indem das Artefakt durch seine Konstitution auf ein darüberliegendes geistiges Substrat – und die Art seiner Herstellung – verweist. In diesem Sinne ist die Kunst gebunden an eine über – oder hinter – ihr liegende Vollkommenheit. Guyer (1993, 85) hat dies als eine Gebundenheit der Kunst »to the ontological and moral perfection of the world it represents« bezeichnet. »[A]lthough art has additional sources of value in the formal merits of a special form of cognition«, ist ihre eigentliche Quelle, so Guyer weiter, die objektive Vollkommenheit des Weltganzen. Dies scheint mir jedoch im Lichte von Mendelssohns Empfindungstheorie nicht ganz zutreffend zu sein, denn der Bezugswert ist nicht eine Weltordnung, sondern der Bezug auf einen Menschen – sei es als Schöpfer oder als Rezipient der Kunst. Nun ist es allerdings problematisch, ohne Rückgriff auf eine leibnizianisch objektive Weltordnung die Gleichwertigkeit dieser einzelnen ›subjektiven‹ Vollkommenheiten zu erweisen – und dies ist ein Problem, das Mendelssohns Anthropologie immer begleitet. Jedoch impliziert Guyers Reformulierung eine direktere und unproblematischere Verbindung, als sie sich in Mendelssohns Werk tatsächlich findet.
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In diesem Sinne ist auch Grimm 1983, 747 zuzustimmen, der in dieser Hinsicht bei Mendelssohn von einer Befreiung der »inventio von einer rigid-rationalistischen Mimesis« spricht. Zugleich schränkt Mendelssohn die ebenfalls von Baumgarten vertretenen Formen der Schönheit als 1. Schönheit der nachgeahmten Objekte und 2. Schönheit als generelle metaphysische Kategorie: »Schönheit der Ordnung« ein, wie das Vorangegangene zeigen sollte.
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Bislang blieb der hier angedeutete Aspekt dieser ›Verweisungsästhetik‹ ungenügend umrissen. Es ist die Rolle des Kunstschaffenden (und die Wahrnehmung dieses Schöpfers im Kunstwerk), die laut Mendelssohn die ästhetische Rezeption über das allein ›Schöne‹ hinausführt und zusätzlich dem Wert des Menschen in der Kunst ein zusätzliches Gewicht gibt, bzw. einen Wert, der sich als unabhängig von der ›objektiven‹ Weltordnung erweist. Was ist und welche Rolle spielt der Schaffende, das Genie in Mendelssohns Kunstauffassung? Inwiefern ist es eine exzeptionelle Erscheinung, inwiefern lassen sich an ihm dennoch grundlegende, also allen Menschen gemeine (oder: in Mendelssohns Menschenbild enthaltene) Charakteristika aufzeigen?
2. Das Genie Mit der Einbeziehung hässlicher oder schrecklicher Gegenstände erweitert Mendelssohn sein Konzept einer Durchbrechung der Illusion als eines eigenständigen – und konstitutiven – Moments der Ästhetik um das psychologische Theorem der vermischten Empfindungen. Diese sind in zweifacher Hinsicht durch einen Widerstreit gekennzeichnet: zum einen stehen sich unterschiedliche Empfindungsqualitäten gegenüber – das Erschrecken vor dem Gegenstand und das positive Gefühl erhöhter »Vorstellungstätigkeit« (bzw. »Realität«, wie Lessing es nennt). Zum anderen entsteht eine Gleichzeitigkeit eines realen Gefühls durch die Illusion (z B. Erschrecken vor der Schlange) sowie dem – die oberen Erkenntniskräfte ansprechenden – Verweis auf das Genie des Künstlers, das dies ermöglichte. Diesen letzteren Aspekt hat Mendelssohn vor allem im Hinblick auf die Nachahmung des Naturschönen im Kunstschönen herausgearbeitet; er ist jedoch auch im ästhetischen Genuss schrecklicher Gegenstände gegenwärtig. Der Eindruck einer Unvollkommenheit bezüglich des Gegenstands ruft damit den subjektiven Eindruck einer höheren Vollkommenheit hervor, die nicht nur aus der ästhetischen Qualität der Sache in der eigenen Empfindung, sondern auch aus der Wahrnehmung einer schöpferischen Kraft hinter dem Kunstwerk besteht. Mendelssohn fügt seiner Erklärung vom Grund des Vergnügens an ästhetischen Gegenständen damit einen weiteren Aspekt hinzu: Vergnügen bereitet nicht allein das Dargestellte, sondern auch eine sich darin artikulierende geniale Schaffenskraft (sei es Gott, sei es ein Künstler). Kunstgenuss ist dementsprechend nicht nur Selbstempfindung, sondern beinhaltet zusätzlich den Hinweis auf einen, wie auch immer gearteten Schöpfer. Der Künstler erhält so – mit Shaftesbury – den Status eines »second maker under jove«181, der imstande ist, die Vollkommenheit des Weltganzen 181
»Such a Poet is indeed a second Maker; a just PROMETHEUS under JOVE.« In Soliloquy: Or, Advice to an Author, in: Characteristicks, Bd. 1, Treatise III, 136 [vgl. hier Kap. I.1, FN 30]. Für
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im Kleinen darzustellen und damit dem schrankenlos agierenden Schöpfer nachzueifern. Im schöpferischen Akt der Weltkonzentration zeigt sich noch einmal das Vollkommenheitspostulat: der Künstler muss der Natur einen »fruchtbaren Augenblick«182 abtrotzen und diesen dann entsprechend seiner Wirkungsweise darstellen können. Wichtig ist dabei als ein Aspekt der ästhetischen Produktion (und auch ihrer Beurteilung) nicht die verständige Regelkenntnis, sondern das Zusammenspiel zwischen dem ungebundenen Genie und dessen Geschmack. Beide Begriffe sind bei Mendelssohn schwankend, auch innerhalb eines Werks.183 Insgesamt zielt er auf eine Verbindung von rationalem Urteilsvermögen und genialer, intuitiver Einsicht in Zusammenhänge, die für den Normalsterblichen nicht erfassbar sind und geht damit in spezifischer Kombination auf Leibniz’ Auffassung der anschauenden/intuitiven Erkenntnis zurück.184 Ein solcherart geschmackvolles und geniales Werk bietet nicht einen Weltabdruck, was auch dem Illusionspostulat widerspräche, sondern ihren Ausdruck, der dem Dargestellten das verbindende Element eines es durchdringenden Geistes gibt.185 In den Litteraturbriefen zum Geniegedanken setzt sich Mendelssohn mit diesem Gebiet eingehender auseinander und versucht, die Pole des Genies und des Geschmacks zusammenzuführen. Worauf er hinauswill, so wird im Zuge seiner Abgrenzung zu Gottsched deutlich, ist nicht eine einheitliche, nach erkenntnislogischen Prinzipien arbeitende Urteilsinstanz, sondern vielmehr eine nur intuitiv leitende, letztlich verworrene Vorstellung des Werkganzen, die sowohl die Erschaffung als auch Rezeption eines Kunstwerks bestimmen soll. Regeln sind damit nicht direkt normativ geltend und auch nicht rational ableitbar – was der Idee eines schrankenlos agierenden Genies widerspräche –, sondern ermöglichen durch eine instinktartige Befolgung die Herstellung eines organischen Zusammenhangs, der den Kunstpro-
Shaftesbury ist dieser Poet zugleich ein »Moral Artist« (ebd.; auch S. 180, ein »moral genius«), der gottgleich Einsicht hat in die »innere Gestalt« und das »innere Gefüge« aller Dinge und Wesen. Mendelssohn nimmt diesen Enthusiasmus zurück, indem er den Dichter auf einen kleineren Ausschnitt der Realität, den dieser zu fassen vermag, verweist. Vgl. zum Dichter als Schöpfer auch Baumgarten, Meditationes, §§ 68, 71, sowie Mendelssohn im LB 123: 21. August 1760, JubA V/1, 243–49 und LB 145: 19. Februar 1761, JubA V/1, 344–47. 182 Vgl. Wellbery 1984, 90: zwar wird immer angegeben, dass Lessing diese Forderung als erster erhob, doch lässt sich hier zeigen, dass Mendelssohn sie vorher formulierte. Jedoch verlieh Lessing ihm eine deutlichere systematische Position. 183 Siehe z. B. in den Briefen über die Empfindungen, JubA I, 86 und 107. 184 Dies wird besonders in einem Brief an Lessing vom Dezember 1756 deutlich; vgl. JubA XI, 84. 185 Die Parallele zum »moralischen« Arzt, wie ihn Marcus Herz und Carl Philipp Moritz propagieren werden, ist hier schon angelegt; nicht umsonst hat Mendelssohn die Ideen beider protegiert und mit beeinflusst. Vgl. Kap. I.1, 42 f.
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dukten als ein menschengemachtes Analogon zur Welt innewohnen soll.186 Sie sind damit zum einen erst ex post formulierbar – und zum anderen hochgradig kontextsensibel. Was für ein Werk die Regel gibt, muss ein weiteres nicht unbedingt verschönern. Die Quellen von Mendelssohns Genie-Begriff sind nicht klar umrissen; es lassen sich Anknüpfungspunkte bei Baumgarten, Batteux, Wieland und Sulzer, sowie dem strahlenden Vorbild Shakespeare feststellen.187 Im § 68 der Meditationes hatte auch Baumgarten vom Dichter als einem Schaffenden bzw. Schöpfer, wie auch von dem Prinzip der Dichtung als »Nachahmung« der Schöpfung gesprochen. Aufgabe der Ästhetik sei es, das schöpferische Prinzip sichtbar und fühlbar machen. Allerdings grenzt die Gebundenheit der Dichtung an dieselbe Quelle wie das höhere Erkenntnisvermögen die geniale Schöpfung wieder ein: das Genie handelt gemäß des analogon rationis, also letztlich auch, wenngleich verworren, innerhalb einer rational geordneten Welt. Das Genie steht nicht außerhalb der Vernunft, sondern ist eine spezifische Form in ihr, die mehr die Vernunft des Gefühls darstellt als Verstandesrechnerei. Auch Batteux hatte sich, und dies mag Mendelssohn nicht angemessen gewürdigt haben, da er dessen Grundsatz der Künste allzu einseitig gelesen hat188, mit der Rolle des Genies beschäftigt. Dabei kommt dem Geschmack (goût) des Künstlers besondere Aufmerksamkeit zu und wird von Batteux als »un amour habituel de l’ordre« (Batteux, 129 f.) ebenfalls der Vernunft nicht entgegengesetzt, sondern als ihre besondere Ausformung verstanden. Ein wichtiger Rezipient Batteux’ war Sulzer, auf dessen Einfluss auf Mendelssohns Werk bereits hingewiesen wurde (vgl. Kap. II.2) und der hier zum Tragen kommt. Dieser will allerdings den Begriff vom Genie nicht als ein lediglich ordnendes Vernunftprinzip, sondern »als Folgeerscheinung einer Kraft« verstanden wissen (vgl. Tubach 1963, 271 ff., Zitat S. 271). Kunst soll Empfindungen 186
Vgl. auch Mendelssohns »Bemerkungen zu den Briefen über die Empfindungen und zu den Philosophischen Gesprächen« (undatiert, wahrscheinlich um 1770) JubA I, 221 f. 187 Ebenfalls ließen sich Alexander Gerards Essay on Taste (zuerst 1759, deutsche Übersetzung 1766) und Essay on Genius (1774, deutsch 1776) als mögliche Quelle anführen; beide Werke waren Mendelssohn sicherlich bekannt, obwohl er sich nicht explizit an sie anlehnt. Die Darstellung zur Geschichte des Genie-Begriffs von Jochen Schmidt (3. Verb. Aufl. Heidelberg 2004) kommt ohne fundierte Hinweise auf Mendelssohn aus; eingehendere Darstellungen legte v. a. Engel 1994, 141–56 und 213–22, mit einem Schwerpunkt auf Mendelssohns Shakespeare-Rezeption vor. 188 Zu diesem Ergebnis kommt, soweit ich sehe überzeugend, Tubach 1963, 274 f. Letztlich diente Batteux Mendelssohn als bloße Kontrastfigur, die zur schärferen Konturierung der eigenen Ansicht entsprechend überzeichnet wurde. Allerdings ist der Einschätzung Tubachs, dass bei Batteux »überhaupt die Eigenschaften des Künstlers und ihre Harmonie untereinander eine größere Rolle [spielen] als bei Mendelssohn, der mehr Nachdruck auf den Zweck der schönen Künste legt« (Tubach 1963, 276) nicht ganz zutreffend. Mit seinen Überlegungen zum Genie versucht auch Mendelssohn, den Konstitutionsbedingungen durch den Künstler gerecht zu werden; letztlich ruht sein Konzept des Erhabenen entscheidend auf dieser Theorie auf. Allerdings liegt der Schwerpunkt seiner Theorie auf der Rezeption, nicht der Produktion von Kunst.
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hervorrufen, nicht eine ästhetisch-idealisierte Vorstellung von der Symmetrie und Einheit in der schönen Natur, wie es Batteux »streng rationalistisch« (ebd.) gefordert habe. Sulzer interessiert sich weniger für in einer Natur vorfindliche Vernunftprinzipien, als für deren psychologische Ausformulierung in den Gesetzmäßigkeiten von Emotionen und Vorstellungskraft, was ihre Begründung in der Vernunft nicht automatisch gänzlich aufhebt. Der Fokus seiner frühen Aufsätze zu psychologischen Fragen liegt, ähnlich demjenigen Mendelssohns, mehr auf dem Darstellungsprinzip der Kunst als in einer Abbildtheorie. In Anlehnung an seinen Aufsatz Analyse du génie189 lässt sich Genie verstehen als ein »Temperament der Seele« in analogem Verständnis zu den Temperamenten, die Sulzer auf das Begehrungsvermögen bezieht. Es ist damit eine spezifische innerseelische Struktur des Erkenntnisvermögens190; ein »Geschenk der Natur« (Sulzer, Genie, 319), das nicht durch Übung erworben werden kann.191 Mendelssohn nun – in den ihm zugeschriebenen Litteraturbriefen – nimmt diese Ansichten dankbar auf und fügt sie in seine Theorie ein.192 Zustimmend werden in der Rezension Sulzers die Fertigkeiten genannt, die einen genialen Künstler auszeichnen: auf der Grundlage der vivida vis animi (Lukrez, De rerum natura I, Z. 72), also der »lebhaften Würksamkeit des Geistes« (92. LB: 3. April 1760, JubA V/I, 168) sind »Witz« und »Urteilskraft«, aber auch »Besonnen-
189 Erschienen in den Histoires de l’Académie (1757) Bd. XIII, 392–404; deutsch 1773 mit dem Titel Entwickelung des Begriffs vom Genie. Nowitzki 2003, 380 weist in seiner Besprechung nicht darauf hin, dass dieses Werk den Zeitgenossen gut 16 Jahre früher bereits zugänglich war. 190 Vgl. die diesbezügliche Diskussion bei Nowitzki 2003, 380 mit Verweis auf Sulzer 1773, 308–11. 191 Sulzer geht sogar noch weiter. Der »innere Grad der thätigen Kraft der Seele, der dem Genie zur Grundlage dient«, hängt »größtentheils von der Beschaffenheit des Körpers ab« (Genie, 319). Diesen für die Anthropologie Platnerscher Prägung wichtigen Aspekt hat Mendelssohn so nicht aufgenommen. 192 Auch wenn also eine sichere Zuweisung der Urheberschaft der einzelnen Briefe nicht möglich ist, sollen im gegebenen Zusammenhang auf einige dort angesprochene Aspekte, die zumindest in Mendelssohns Gesichtsfeld als eines Herausgebers der Litteraturbriefe erscheinen mussten, angesprochen werden. Zammito (2002, 239 f.) sieht in ihnen eine stärkere Hinwendung zu empirischen und psychologischen Untersuchungen, weg von Baumgartens »cognitive approach to beauty«, den er in den Quellen und Verbindungen (dem 1757er Vorgängertext der Hauptgrundsätze) als Referenzautor benennt. Allerdings ist gegen diese Ansicht zu sagen, dass Mendelssohn zwar Batteux, Dubos, Hutcheson, Kames etc. diskutiert, aber immer kritisch reserviert bleibt. Mehr noch, in Bezug auf den vernünftigen Nutzen der Künste ist eher eine verstärkte Hinwendung zu rationalistischen Positionen zu beobachten. Dass er in seinen Rezensionen also immer »offener« oder »fortschrittlicher« gewesen sei, als in seinen veröffentlichten Schriften, entbehrt noch einer ausreichenden Begründung. Auch Meier 1978 (siehe Diskussion bei Albrecht 1982) ist durch seine auf Kant ausgerichtete Lesart nur begrenzt verlässlich. Die Jubiläumsausgabe bietet zwar eine Fülle an Litteraturbriefen, die Mendelssohn zugeschrieben werden und auch einen eingehenden Anmerkungsapparat; jedoch erscheinen einige Entscheidungen parteiisch, wie die umstrittene Zuordnung der Kant-Rezensionen, die auch Resewitz als Verfasser wahrscheinlich scheinen lassen.
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heit« erforderlich. Das Genie muss begeistert und lustvoll agieren, aber zugleich auch die Herrschaft über sich behalten – ohne dass diese Mäßigung zur »kritischen Feile« (ebd. 171) verkommt, mit der der Künstler am Werk glättend Hand anlegt. Mendelssohn führt das Genie auf dessen spezifische Natur zurück, das seine Regeln nicht vom Kunstrichter, sondern aus sich selbst schöpft. Dem Künstler müssen die Regeln gleichsam zur zweiten Natur geworden sein und nehmen so bei ihm die Form des ›nicht-anders-Könnens‹ an. Anders herum, kann damit auf das Genie zur Erschaffung des Kunstwerks nicht verzichtet werden; Regeln hingegen sind nur bedingt wichtig: »Das Genie kann den Mangel der Exempel ersetzen, aber der Mangel des Genies ist unersetzlich.« (60. LB: 11. Oktober 1759, JubA V/1, 89) Das Primat der genialen vor der regelkonformen Schöpfung betont auch der 84. Litteraturbrief in Bezug auf Shakespeare193 (LB 84: 14. Februar 1760, JubA V/1, 136 f.). Ein Genie kann es sich erlauben, Regeln zu übertreten und beispielsweise Geister auftreten lassen oder an sich unglaubliche Aktionen imaginieren. Man kann aus dem Abstand des Kunstkritikers diese Aktionen tadeln; dem positiven ästhetischen Urteil tut dies keinen Abbruch: »Wer das Gemüth so zu erhitzen, und in einen solchen Taumel von Leidenschaften zu stürzen weis, als Shakespear, der hat die Achtsamkeit seines Zuschauers gleichsam gefesselt, und kann es wagen, vor dessen geblendeten Augen die abentheuerlichsten Handlungen vorgehen zu lassen, ohne zu befahren, daß solches den Betrug stöhren werde.« (JubA V/1, 137)194 Genial meint dabei nicht ein bloß über-menschliches Können in einer einzigen Sache, denn sonst wäre es monströs, sondern eine besondere Zusammenstimmung sämtlicher Seelenvermögen. Damit folgt Mendelssohn Baumgartens Bestimmung des Genies, die dieser im § 648 der Metaphysica »mit der ihm [Baumgarten] gewöhnlichen Kürze« (JubA V/1, 166) dargelegt habe195: »Das, was man vorzugsweise Genie 193
Hier ist die Autorschaft Mendelssohns mit größerer Sicherheit anzunehmen, da er sich schon früh dem Werk Shakespeares zuwandte und es als erster in freien Rhythmen, dem Ausdruck des Originals angemessener, übersetzte. Vgl. dazu Rhapsodie, JubA I, 407 f., Ueber das Erhabene und Naive, JubA I, 468 f., sowie die Aufsätze von Engel 1994. 194 So auch in der Auseinandersetzung über den künstlerischen Wert von Rousseaus Nouvelle Héloïse, die Mendelssohn nicht überzeugt hatte: »Sehen Sie, mein Freund! was der Kunstrichter vor dem Autor voraus hat? Auch jener will Empfindungen erregen, aber gemeine, keine Wunder, keine Zauberwerke.« und kurz davor, auf den »Zauberer«, den Autor gemünzt: »Wenn der ästhetische Zauberer mit seine Wunder zeigen will; so muß sein erstes Wunder seyn, meinen Glauben zu fangen, und ihm die Augen auszustechen, um nach belieben seinen Spott mit ihm treiben zu können. Als Kunstrichter habe ich ein Recht den starken Geist zu spielen, und in seine geheimnißvolle Künste ein Mistrauen zu setzen. Er muß entweder meine Empfindungen bezaubern, oder ich bin ungläubig. Er mag immer schämen und rufen: ich sehe Erscheinungen von der Erde aufsteigen! Ich muß sie selbst sehen, oder ich glaube, es geht in seinem Gehirne um.« (LB 192: 29. Oktober 1761, JubA V/1, 451), vgl. hier S. 202 f. 195 Im Vorangehenden weist Mendelssohn darauf hin, dass ihm Baumgartens ausufernde Distinktionen oft zu spitzfindig sind. Nun wisse er aber, dass Baumgarten in seinen Vorlesungen
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nennet, könnte nach dieser Erklärung heissen, eine solche Proportion der erkennenden Seelenvermögen, die dazu übereinstimmen, den Menschen, der sie besitzet, zu gewissen Verrichtungen in ausnehmenden Grade geschickt zu machen. […] Mit einem Worte, das Genie muß Meister über seine Begeisterung seyn, die Vernunft muß in dem Temperamente seiner Fähigkeiten, oben an sitzen, und im Sturme der Leidenschaften selbst, das Steuer nicht verlieren.«196 (LB 92: 3. April 1760, JubA V/1, 167 f. und 170) Damit gesellt sich dem Genie die komplementäre, ästhetisch notwendige Fähigkeit des Geschmacks197 hinzu. Dass Mendelssohn hier implizit die Perspektive wechselt, von der Introspektion in das Wesen des erhabenen Geistes zur weniger exhaltierten Bewertung durch einen Rezipienten (Engel, Kind, oder der mündige Theaterbesucher), verkompliziert die Anlage dieser Theorie freilich. Aufgabe des geschmackvollen Genies ist es, »[d]as Mittel zwischen beiden Extremitäten [sic. Gemeint sind wohl Extreme wie Weitschweifigkeit und Dunkelheit, A.P.] zu finden, und zu halten« (JubA V/1, 558). Diese Tätigkeit der Ausbalancierung wird hier ausdrücklich nicht der genialen Schaffenskraft, sondern dem Geschmack als einem komplementären Vermögen zugewiesen. Diese Aufspaltung, noch dazu sie im Gefolge der Shakespeare-Rezeption auftritt, scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, dass die Vernunftaffinität im Geschmack diesen zunehmend als ein Vermögen der Wahl verortet, wogegen mit der Konzeption des Genies der Part des unbewussten Handelns betont wird. Sinnvoll erscheint diese Aufteilung, um die erhabene Größe des Genies als eines Menschen, der normalmenschliche Vorstellungskraft sprengt, seinen Hörern »den Nutzen und die Wichtigkeit seiner subtilsten Eintheilungen« (JubA V/1, 311) mitteilt und nimmt deshalb die verknappten Distinktionen als »notiones directrices, die auf wichtige Warheiten leiten« (ebd.). Es fällt auf, dass Mendelssohn in den Litteraturbriefen häufig auf Baumgartens Metaphysica, nicht die Aesthetica zurückkommt; die dort gemachten Bestimmungen erschienen ihm anscheinend anschlussfähiger. Dass er auch die Aesthetica kennt, zeigen jedoch Erwähnungen in LB 135. Siehe desweiteren den darauf folgenden Brief vom 18. Dezember 1760, JubA V/1, 311: Durch einen Freund hat Mendelssohn einige Mitschriften von Baumgartens Vorlesungen erhalten; laut Anmerkung (JubA V/1, 312) ist eines dieser Manuskripte zur Vorlesung Sciographia encyclopaediae philosophicae, ein enzyklopädisch angelegter Versuch der Einteilung aller Wissenschaften. Mendelssohn schien bemüht, sich ein möglichst umfassendes Bild von Baumgartens Denken zu machen. 196 Vgl. LB 275: 8. März 1764, JubA V/1, 587 – hier setzt Mendelssohn die Vorgehensweise im Verfassen einer Ode fest. Der Plan zu einem Gedicht müsse auch mit Vernunft und Bedacht, nicht nur mit bloßer Begeisterung aufgesetzt werden, denn sonst seien zwar gute Stellen darin, aber alles zusammen machte kein »Ganzes« aus. »Alsdenn [wenn der Plan mit Vernunft festgelegt ist] eilet der Strom der Gedanken seinen Weg unaufhaltsam und sicher, und die blosse Natur erfüllet alle Bedürfnisse der Kunst.« 197 Vgl. LB 236: 27. Mai 1762, JubA V/1, 530 und LB 254: 9. September 1762, JubA V/1, 558 – Es ist zu beachten, dass diese Briefe nach der ersten Auflage der Philosophischen Schriften erschienen; Mendelssohn schien also noch nicht ganz mit seinen dort unternommenen Bestimmungen zufrieden.
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stärker hervorzuheben. Ein geniales und zugleich goutierbares Kunstwerk allerdings entsteht erst durch das Zusammenspiel beider Vermögen, die sich nicht zwingend in einer Person vereinigen müssen. Kurz gesagt, schreibt ein Genie nicht immer für seine Mitmenschen, sondern bisweilen für Engel, oder auch für Kinder (vgl. JubA V/1, 558); es ist sich selbst Regel und Maßstab. Die Auswahl nach Geschmack jedoch soll die genialen Werke einem Publikum zugänglich machen. »Hingegen lehret uns der Geschmack unser Absehen allezeit auf eine gewisse Reihe von Lesern zu richten, durch Beobachtung und Nachdenken der höchsten und niedrigsten Stufen von Einsichten zu erfahren, die man ihnen zutrauen kann, und endlich im Durchschnitt denjenigen Ausdruck zu wählen, bey welchem der Geringste aus dieser Reihe nicht weniger, der Aufgeklärteste aber weit mehr denkt, als geschrieben stehet.« (JubA VI/1, 558) Zusammengefasst gesagt, ist das solcherart ausgewogene Genie die höchste und vollendetste Form des Menschen, der eines umfassenden und ansprechenden Ausdrucks fähig ist. Mit der Kenntnis der »inneren Form« der Dinge – diesen Gedanken übernimmt Mendelssohn von Shaftesbury – hat es Zugang zur Erkenntnis des ganzen Menschen. Am bestimmtesten fasst er dies im LB 208: 7. Januar 1762: »[D]as Wesen des Genies [ist] durchaus in keine Fähigkeit der Seele allein und ausschließungsweise zu setzen […], sondern, daß alle Vermögen und Fähigkeiten der Seele in einem vorzüglichen Grade zu einem grossen Endzwecke übereinstimmen müssen, wenn sie den Ehrennamen des Genies verdienen sollen.« (JubA V/1, 484) Diese Erkenntnis ist wiederum menschlich, also nicht vollständig klar und deutlich, sondern drückt sich gerade in der Überschreitung der armen Abstraktion (Baumgarten) in der fruchtbaren Fülle der umfassenden, und das heißt: poetischen Gedanken aus. Daneben betont Mendelssohn hier, wie erwähnt, den Rezeptionsaspekt. Die Konzentration dabei auf das menschliche Maß des Geschmacks und dessen Rolle für die individuelle Vervollkommnung zeigt sich am deutlichsten in seinen Notizen zu Riedels Ueber das Publikum, (JubA III/1, 285–89, hier 288 f.).198 Dort hält er scheinbar gegen Riedel das Ideal eines ›objektiven‹ Geschmacks hoch. In Anlehnung an die normative Reglementierung des Willens, der nicht wollen soll, was ihm prima facie
198 Weder Einleitung noch Kommentar der Herausgeber in JubA enthält eine exakte Datumsangabe. Mendelssohns Kommentare können frühestens 1768 bei Erscheinen des betreffenden Werks entstanden sein. Da der Text einige direkte Anredeteile enthält, vermuten die Herausgeber (ebd., XLVI), dass Riedel sein Buch an Mendelssohn mit der Bitte um Kritik selbst geschickt haben könnte und entsprechend die abgedruckten Notizen der Entwurf einer schriftlichen Antwort darstellen. In jedem Falle zeigt sich Mendelssohn nicht bereit, den unbekümmerten Subjektivismus Riedels zu folgen; die Reaktion auf Schönheit als eine mögliche Form des Vergnügens sei zwar von »den Winkeln und Falten der Seele« (ebd., 287) abhängig, könne jedoch keinesfalls allein aus ihnen – also der individuellen Prägung und Gewohnheit – abgeleitet werden.
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gut erscheint, sondern was gut ist199, verbindet auch die Ästhetik zur Ausbildung eines Geschmacks, der dem Menschen zuträglich ist. Kriterien dieses Gefallens sind die erwähnten Arten des Vergnügens, die sich in einem ausgewogenen Verhältnis befinden müssen, um nicht nur sinnlich zu befriedigen, sondern auch zu »verbessern«. Uns »gefällt, was irgend eine natürliche Fähigkeit unseres Leibes, oder unserer Seele, oder beider zugleich, in einer ihnen zuträglichen Uebung und Beschäftigung erhält das heißt, verbessert [oder vervollkommnet; A.P.]. Was diese befördert, jene in ihrer Wirksamkeit hindert, kan gefallen und auch misfallen, nachdem die eine, oder die andere Seite daran hervorsticht, und sich unsers Gefühls bemächtiget. Hieraus läßt sich erklären, was in der Unbeständigkeit des Geschmaks subjektiv ist. Allein wir sind verbunden alle unsere angebohrne Fähigkeit, in einer [sic] unserer Vollkomenheit zuträglichen Verhältnis, zu üben und in Wirksamkeit zu erhalten. Daher giebt es in der Schönheit wirklich ein Maximum, ein Ideal, und wir verbessern unsern Geschmak, je fähiger wir uns selbst machen, dieses Ideal alle[n] geringern Schönheiten vorzuziehen. Richtig ist unser Geschmak, wenn wir einen Gegenstand desto schöner finden, je mehr er unsere mannigfaltigen Vermögen und Kräfte, in einer unserer Vollkommenheit zuträglichen Verhältnis, beschäftiget, und je weniger derselben er in ihren Verrichtungen stöhret.« (JubA III/1, 288 f.) Es muss also, aller subjektiven Färbung zum Trotz, einen Geschmack geben, der objektiv der Vollkommenheit bzw. Vervollkommnung der Menschen »zuträglicher« ist. Wie dieser Geschmack aussieht, lässt Mendelssohn offen. Dennoch ist seine Polemik gegen Riedel deutlich: einen anderen Geschmack herbeizuwünschen erfordert immer, sich dessen weitreichender Konsequenzen gewärtig zu sein: »Der Lohnsteinsche Geschmak war zu seiner Zeit gut, der unserige ist auch gut, aber für unsere Zeiten. – Es kan seyn! – Allein die Frage ist, Sollen wir uns bemühen jene Zeiten wieder hervor zu bringen, in welchen der Lohnsteinsche Geschmak gut war? Welcher Geschmak ist der Vollkomenheit des Menschen zuträglicher [?]« (JubA III/1, 389) Letztlich behilft sich Mendelssohn in dieser Skizze einer formalen Zusammenfassung, wo er den »wahren« Geschmack vermutet: »Wer sich von einem ekelhaften oder lächerlichen Nebenbegriff nicht abhalten läßt, das Schrekliche, Kühne oder Erhabene in seiner ganzen Stärke zu fühlen, bey andern Gelegenheiten aber wo die Collision vermeindlich ist, sich am Feinen und Anständigen zu ergötzen geübt hat, dessen Geschmak ist richtiger.« (ebd.) Die universelle Dimension des Geschmacks in seinem Dienst zur Vervollkommnung des Einzelnen spielt für Mendelssohn also eine so bedeutende Rolle, dass er die Subjektivität eines Geschmacksurteils in den Hintergrund drängt. Es mag die übertriebene Position Riedels sein, die seine Absage an ein individuelles Maß derart scharf werden ließ. Sein Bemühen darum, einen objektiven Maßstab zu erhalten, 199
Wie auch immer Einsicht darin zu erhalten ist: »[…] gut ist, was ich wollen soll […]«, JubA III/1, 288.
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ist jedoch unübersehbar.200 In seiner Verbindung von Genie und Geschmack, inspirierter Fülle und ordnender Einsicht, hat er diesem Ziel ein spezifisches Gesicht gegeben. So findet sich bei ihm die Betonung der Ungebundenheit, ja Wildheit des Genies, wie sie in Stellen des Spectator, als einem Organ der britischen ästhetischen Theorie, zum Ausdruck kommt, in seinen Ausführungen nicht.201 Es ging ihm vielmehr – ähnlich Lessing – darum, die besondere Kraft des Genies aus den Gesetzmäßigkeiten von Vernunft und Emotion allgemein zu entwickeln, um zugleich auch die Strukturgleichheit von Welt und genialer Schöpfung zu betonen und dennoch soweit möglich die Unverzichtbarkeit der individuellen Perspektive zu erhalten. Damit versucht er, Genie und Geschmacksregeln nicht entgegenzusetzen, sondern beide auf eine Quelle in den Gesetzen der Empfindungen und ihrer Rezeptionsarten zurückzuführen, die das Genie lediglich unbewusst – aber regelkonform – befolgt. Das Genie folgt demnach schlicht seiner eigenen, in diesem Falle perfekt harmonisch geordneten Natur.202 Es ist der Paradefall des ganzen Menschen, der es geschafft hat, sich allgemein mitzuteilen. – Dieses Genie ist dann auch fähig, das Erhabene auszuhalten und selber – unbewusst203 – hervorzubringen.
3. Das Erhabene und Naive Fassen wir das Bisherige zusammen. Konstitutiv für das ästhetische Erleben eines Kunstwerks, sei es schrecklich oder schön, ist ein bestimmtes Verhältnis zwischen Künstler und Rezipienten: die »Fußtapfen« (JubA I, 479) des Genies müssen für letzteren sichtbar bleiben.204 Das Genie, das nur »für Engel« schafft, ist dahinge-
200
Bamberger hält in der Einleitung zu JubA III/1, XLVI f. fest, dass dieser Maßstab, angelegt an den leibnizschen Monadenbegriff, nicht sonderlich sicher ist, sondern vielmehr das gespannte Verhältnis zwischen Objektivität und Subjektivität betont. Die »persönliche Vollkommenheit und ihre Bedürfnisse« führen, gelten sie als objektiver Maßstab, ins Subjektive zurück. 201 Vgl. dazu Jacobs 2001, 112 ff: Genie als das Wilde, Undisziplinierte, der »Gott in uns« (Young); »never disciplined and broken by rules of art« (Addison). Die Idee des »unschooled« im Gegensatz zum »learned genius« wurde v. a. durch Addisons Aufsatz im Spectator 160 (1711, übersetzt 1745) fundiert. 202 Kant hat dies im § 46 der KdU weitaus deutlicher ausgedrückt; insgesamt soll hier aber keine Annäherung des Mendelsohn’schen an den kantischen Urteils- und Geschmacksbegriff erfolgen. 203 So auch in einer griffigen Formulierung in den Morgenstunden: »Der gesunde Menschenverstand, welcher beym Genuß des Schönen allein zu würken scheint, setzt Operationen der Vernunft voraus, die ohne Bewußtseyn in uns vorgehn müssen.« (Morgenstunden, JubA III/2, 33) 204 Dies betonte auch Spalding in der 1763er Auflage seiner Bestimmung des Menschen: »Die Kunst, welche freylich keinen wahren Zusatz zu den Vortrefflichkeiten der Natur machen kann, da sie nur etwas von dem Schönen, was in dieser unerschöpflich ist, nachahmet, die macht doch in so weit einen Zusatz zu meinen Ergetzungen, da sie mir Gelegenheit giebt, die Geschicklichkeit
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gen für dieses rezeptionsorientierte Zusammenspiel ungeeignet. Die Wirkung ergibt sich nicht daraus, dass der Zuschauer, unbeteiligt am Dargestellten, die geschickten Kunstgriffe des Künstlers bewundert. Vielmehr weist ihn die in ihm erregte Leidenschaft, der überwältigende Eindruck des Werks und die zugleich gegebene Möglichkeit, diese Größe wahrzunehmen, auf das Genie des Künstlers als des Schöpfers dieses Werks. Die Eigenschaften des Schönen lassen sich für Mendelssohn also insbesondere über dessen Wirkung erklären. Erst die Wahrnehmung des Schönen verwandelt einen Gegenstand in einen schönen Gegenstand. Auf der Bühne beispielsweise ist nicht das ästhetisch relevant, was nach unpersönlichen Maßstäben vollkommen ist, sondern was zur Vollkommenheit der Befindlichkeit des Zuschauers beiträgt. Dies ergibt sich – wie die Ausführungen unter Abschnitt 1 zeigen sollten – nicht nur durch Wahrnehmung einer Idealperson, sondern auch über die affektive Wirkung unvollkommener Charaktere oder Umstände sowie durch den die Kunst als Kunst auszeichnenden grundsätzlichen Verweisungscharakter. Sie referiert durch den in ihr kondensierten Ausdruck künstlerischen Schaffens als idealische Schönheit auf das Genie des Künstlers. Erst aufgrund dieses Aspekts wird ein Kunstwerk wahrhaft vollkommen (so auch Bamberger, JubA I, XXXVI). Indem der ästhetische Gegenstand wesentlich auf das Selbstgefühl des Betrachters sowie auf das Genie seines Schöpfers als seine notwendigen Bedingungen verweist, tritt die objektive Natur des Gegenstands selbst und dessen Bewertung in den Hintergrund. Zugleich wird die subjektive Ebene der Rezeption zum verobjektivierbaren Maßstab, indem sie als eine dynamische Variante des Perfektibilitätspostulats vorgestellt wird. Auch das Hässliche, das Unermessliche und das Schmucklos-Einfache können damit Gegenstände ästhetischer Wahrnehmung sein, die letztlich ›verbessern‹. Mit seiner Theorie der vermischten Empfindungen und des Genies versucht Mendelssohn nun auch den ästhetischen Sonderfall des Erhabenen zu erklären. Dieses ist Thema der an die Hauptgrundsätze anschließenden Schrift Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften und soll hier kurz angerissen werden. Zum einen dient es der Komplettierung der Darstellung von Mendelssohns ästhetischem Interesse. Zum anderen jedoch zeigt es, wie die Würde des Menschen ihren Platz in Mendelssohns ästhetischer Anthropologie behauptet.
der Hand, oder die Stärke des Witzes zu bewundern, die auch den Menschen in seinem Maaße zu einem Schöpfer machen.« (Spalding 7/1763, 14 f.) Augenscheinlich gehen hier Spalding wie auch Mendelssohn auf die Auffassung Shaftesburys zurück; vgl. Schwaiger 1999, 8 ff.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
»… bloß dem Grade nach von Schönheit unterschieden …« Das Konzept von 1758 Der Grundsatz, dass das Wesen der schönen Künste im »sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit« (JubA I, 193) bestehe, soll in der 1758 erschienenen Schrift Betrachtungen über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften (Bibliothek II, 2. Leipzig 1758, 229–67) auch auf diese neue Kategorie angewandt werden. Es verwundert kaum, dass Mendelssohn hier noch weitaus stärker mit dem herkömmlichen Vollkommenheitsbegriff operiert, als er es in Anbindung an seine Theorie der vermischten Empfindungen in der Folgezeit tat. Erhaben heißt 1758 dementsprechend dasjenige, was durch einen sich unvermutet zeigenden »außerordentlichen Grad der Vollkommenheit Bewunderung« (JubA I, 193) erregt. Zu differenzieren sind dabei zwei Arten der Bewunderung: zum einen die Vollkommenheit des »vorzustellende[n] Gegenstand[s]« und zum anderen die »ungemeinen Talente des Künstlers, seinen Witz, sein Genie, seine Einbildungskraft« (JubA I, 194, auch 206). Diese grobe Einteilung behält er bis zu den Anmerkungen zu Abbts freundschaftlicher Correspondenz (1782), in deren ersten Noten er sich zu Abbts Einwürfen zur Theorie des Erhabenen auseinandersetzt, bei (vgl. JubA VI/1, 32). Für die Charakterisierung des Erhabenen der ersten Art, also der außerordentlichen Vollkommenheit des Gegenstands, greift er dabei auf seine Auffassung der »Bewunderung« zurück, die er im Briefwechsel mit Lessing und Nicolai als konstitutives Moment des Trauerspiels verteidigt hatte.205 Die Empfindung des Erhabenen wird erst hervorgerufen, wenn eine bewundernswürdige Eigenschaft des Protagonisten den Rezipienten überrascht. Letzterer hat weder damit gerechnet, diese Eigenschaft bei dieser speziellen Person, noch in diesem Ausmaß anzutreffen. Das Gefühl der Bewunderung entsteht also, nach Mendelssohn, durch eine unvorhergesehene Wendung – und zwar zum Guten – des Geschehens beziehungsweise des betreffenden Charakters. Zur Charakterisierung des Erhabenen der zweiten Art konzentriert sich Mendelssohn auf den Produktionsaspekt.206 Eine Darstellung erregt auch abgesehen von 205 Vgl. zu den Grenzen der Bewunderung LB 123: 21. August 1760, JubA V/1, 248: »Ich weiß nur Einen Fall, da die vollkommenen Charaktere auf der Bühne erträglich sind. Dieser ist, wenn die tugendhafte Personen [sic] unglücklich werden, wenn sie durch ihre Tugend selbst Raub des Neides und der Verfolgung abgeben, und mit ihrem Schicksale in einem beständigen Kampfe leben müssen. Alsdenn erregen sie unser Mitleid, und schlagen desto tiefere Wunden in unser Gemüth, je mehr Liebe, Hochachtung und Bewunderung sie sich durch ihre moralische Vollkommenheit erworben. So bald der Tugendhafte aber das Unglück überkömmt; so wird er [uns] gleichgültig. Bewunderung ohne Mitleiden, ohne Schrecken, ist für die Dichtkunst überhaupt, und um so viel mehr fürs Theater, ein gar zu kalter Affect.« Hier zeigt sich deutlich, dass der im Trauerspielbriefwechsel angesprochene Koordinierungsversuch von Mitleid und Bewunderung auch Mendelssohns Begriff des letzteren tiefgreifend beeinflusste; vgl. Kap. II.1. 206 Dabei ist die hier angewandte Dichotomisierung nicht die zwischen Inhalt und Form (siehe
II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie
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ihrem spezifischen Gehalt Bewunderung, wenn sie das Genie erkennen lässt, das sie schuf. Die Empfindung resultiert also aus dem Genuss der Darstellung, die uns in ihrer herausragenden Gestaltung überrascht. Letztlich ist sie, so Mendelssohn 1758, »nur dem Grade nach von der blossen Schönheit unterschieden« (JubA I, 210, so auch noch 1761, JubA I, 591). An sich schreckliche oder hässliche Gegenstände behandelt er hier nicht. Eine Trennung zwischen Gegenstand und Art der Darstellung, wie sie die Theorie der vermischten Empfindungen kennzeichnet, ist damit noch nicht vollzogen, was kaum verwundert, denn die Integration dieser Theorie setzt die Ausarbeitung der Illusionstheorie voraus. Diese erfolgt jedoch, wie in Abschnitt 1 dargelegt, erst in den 1760er Jahren. Das Naive207 behandelt Mendelssohn 1758 als eine Sonderform des Erhabenen der ersten Art, also der außerordentlichen Vollkommenheit des Gegenstands. Ein großer Gedanke wird in einer einfachen ›Verkleidung‹ ausgesprochen, so dass der Zuschauer die Größe der Gesinnung umso erstaunter zur Kenntnis nehmen muss: »Wenn ein Gegenstand edel, schön oder mit seinen wichtigen Folgen gedacht, und durch ein einfältiges Zeichen angedeutet wird; so heißt das Zeichen naiv.« (Ueber das Erhabene, nach der Fassung von 1758 in JubA I, 215) Das durch die schlichte, ungesuchte Darstellung eines kindlichen, aber doch (moralisch) erhabenen Gemüts hervorgerufene Gefühl der Bewunderung illustriert Mendelssohn 1758 mit einer Fülle an Beispielen, begründet es jedoch nur unzureichend. Sein Begriff des Naiven ist aber schon hier als ein Konzept, das sich der Auseinandersetzung mit Rousseau verdankt, erkennbar.208 Mendelssohn stimmt Rousseau darin zu, dass Natürlichkeit und Güte auch Tills (2006, 352 f.) Kritik an Segreff 1984, 38 f.), sondern zwischen dem Fokus auf der Gegenstandsseite und dem Produktionsaspekt. Das Erhabene der ersten Gattung kann dementsprechend auch ein natürlicher Gegenstand sein, was beim Erhabenen der zweiten Gattung auszuschließen ist. 207 Zur historischen Entwicklung dieses Begriffs siehe Till 2006. Im abschließenden Kapitel erwähnt Till auch Mendelssohn, den er der Spätaufklärung zuweist, sowie die Rezeption seiner einschlägigen Texte (vgl. ebd., 347–62, hier 357): »Mendelssohns begriffliche Differenzierung des ›doppelten Erhabenen‹ in ein ›Naives‹ und ein ›Erhabenes‹ setzte sich in der Spätaufklärung allgemein durch.«; Till nennt u. a. Friedrich Justus Riedels Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1767), Franz Jacob von Cramm Ueber das Naive, Natürliche, Gesuchte und Gezwungene in den schönen Wissenschaften (1770), Johann Joachim Eschenburg Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1783), Philipp Gäng Aesthetik oder allgemeine Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1785). 208 Die anderen Vorbilder des aus der französischen Tradition entlehnten Begriffs sind Dominique Bouhours: La Manière de bien penser dans les Ouvrages d’esprit (1687, 21688), Nicolas Boileau-Despréaux: L’art poétique (1669–74), und den bereits im vorangegangenen erwähnten Charles Batteux: Cours de belles lettres (1747/48). Boileau hatte Longin 1674 übersetzt; Batteux griff auf die dortigen Bestimmungen zurück und übertrug sie auf das Naive (vgl. Carlos Rincón: Naiv/Naivität, in: ÄGB 4 (2000), 347–77, 359); ebenso, wie Mendelssohn dies in seiner Schrift vornimmt. Batteux legte allerdings den Schwerpunkt seiner Betrachtungen auf den rhetorischen Aspekt der Naivität und reformulierte es dementsprechend v. a. als eine Vermeidung des inflationären Einsat-
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Anerkennung (bzw. Wohlgefallen) abfordert. Ebenfalls bekräftigt er, dass die Qualität der Naivität gerade durch das Bewusstwerden vom Blick des Anderen (also dem Rousseauischen Begriff der Gesellschaft) zerstört wird. Folgerichtig – und dieses Mal einem teleologischen Geschichtsverständnis folgend – setzt er die Möglichkeit des Naiven in den frühen Stadien der Entwicklung – allgemein auf der Ebene der antiken Kunst, individuell in der Kindheit – an. Zugleich zeigt er in der Einordnung des Naiven allerdings, dass es sich hier um eine Möglichkeit der Veranschaulichung des Erhabenen handelt. Daneben steht den Menschen immer noch die Erhabenheit der sich vervollkommnenden Vernunft offen.
Was hat das Erhabene mit dem Schrecken zu tun? Erste Überarbeitungen Mendelssohn selbst hat die Defizite seiner Abhandlung Ueber das Erhabene bald bemerkt, wofür nicht erst deren Modifizierungen von 1761 und 1771 sprechen. Es lassen sich weitere Stationen dieser Umarbeitung ausmachen, und zwar in der Rhapsodie, den Hauptgrundsätzen und bereits in den Anmerkungen zu Burke, die wie die Schrift Ueber das Erhabene von 1758 datieren, so wie einigen Mendelssohn zuschreibbaren Litteraturbriefen.209 Insgesamt wird er in diesen Überarbeitungen den Aspekt des angenehmen Schreckens stärker ausarbeiten, aber auch das Spiel der Illusion zwischen Durchbrechung und Genuss zur Reformulierung des Erhabenen anwenden.
zes rhetorischer Kunstgriffe (vgl. Till 2006, 349 f.); dies hat Mendelssohn für beide Bereiche des Erhabenen und Naiven reflektiert. Der erste Deutsche, der den Begriff, ebenfalls in Anlehnung an die französische Literatur, verwendete, war laut Till 2006, 348 (FN 2) Ludwig Friedrich Hudemann in einer 1732 in Hamburg veröffentlichten Sammlung vornehmlich aus dem Französischen übersetzter Gedichte. 209 Hierbei ist anzumerken, dass eine wichtige Rezension höchstwahrscheinlich auch der Burke-Lektüre voranging. Es handelt sich um Mendelssohns Besprechung von Robert Lowths erfolgreicher Vorlesungsreihe De sacra Poesi Hebraeorum (1753), die 1757 in der Bibliothek erschien (JubA IV, 20–62). An Lowth schätzt Mendelssohn besonders, dass dieser die Sprache des Tanach als ein ästhetisch wertvolles und beachtenswertes Phänomen ins Bewusstsein zurückholte und sich damit von der bislang üblichen Geringschätzung dieses angeblich allzu grobschlächtigen Mediums absetzte. Allein die »Stärke der Komposition«, die sich über ihre Wirkung auf den Betrachter erwies, sollte ihm zufolge als Kriterium des Erhabenen dienen, nicht ihre Orientierung an rhetorischen Normen. Vgl. dazu Schorch 2003, 77 f. Allerdings soll Mendelssohns Interesse, »die Legitimierung der jüdischen Texttradition in der aufklärerischen Gesellschaft« (ebd., 80) hier nur sekundär interessieren. Es ist immerhin beachtenswert, dass Mendelssohn einmal mehr den ›Umweg‹ über die Ästhetik geht, um althergebrachte Vorurteile von immenser politischer und gesellschaftlicher Relevanz zu hinterfragen.
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Noch im »Beschluß« der Anmerkungen, in denen er in Bezug auf Burke festhält wie nun eine Abhandlung über das Erhabene zu schreiben sei, wird der nackte Schrecken ausgegrenzt. Jedoch: »Ich würde vorläufig bemerken, daß der Schrecken und die Bewunderung eine Bestimmung mit einander gemein hätten, in einer andern hingegen von einander abgingen. Jene ist das Plötzliche und Unvermutete; diese hingegen die Vollkommenheit oder die Unvollkommenheit des Gegenstandes unserer Vorstellung.« (JubA III/1, 251) Der Schwerpunkt der Überlegungen verlagert sich nun deutlich auf das spezifische Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt der Vorstellung gemäß der Theorie der vermischten Empfindungen. Zum einen wird die Kategorie der reinen Bewunderung aus der Kategorie des Erhabenen immer weiter ausgegliedert bzw. in einen komplexeren Rahmen gestellt; zum anderen erlaubt die mit der Illusionstheorie erweiterte Beschreibung ästhetischer Aufnahme, negative Empfindungsaspekte dennoch einzugliedern. Das »ursprünglich« Erhabene erscheint in den Anmerkungen zu Burke noch als mit der ersten Gattung des Erhabenen von 1758 identisch: es ist die uns plötzlich überfallende Bewunderung einer außerordentlichen Vollkommenheit. Dementsprechend würde Mendelssohn »[d]as ursprünglich Erhabene […] bloß in der Bewunderung suchen.« (JubA III/1, 252), deren herausragendstes Merkmal jedoch nicht allein die wahrgenommene Größe, sondern der zeitliche Aspekt dabei, also die überraschend wahrgenommene Größe ist. Im 146. Litteraturbrief (19. Februar 1761, JubA V/1, 347) setzt er dieses poetisch Erhabene dem real Erhabenen entgegen. Ersteres muss sich immer in den Grenzen des Gefallens halten und dabei »die mehresten Seelenkräfte am sinnlichsten und angenehmsten beschäftigen«. Ein Referenztext Mendelssohns ist dabei Curtius’ Abhandlung vom Erhabenen in der Dichtkunst 210, dessen Definition er den eigenen Ausführungen zugrunde legt: »wir nennen dasjenige Erhaben, was die gewöhnlichen Begriffe übersteigt, und das menschliche Gemüth mit Bewunderung erfüllet.« (JubA V/1, 348) In Bezug auf die Dichtung, so schränkt Mendelssohn nun ein, müsse diese Definition noch spezifiziert werden, denn auch wenn alltägliche Menschen aus guten Absichten Leidenschaften besiegten und wir sie dafür bewunderten, so würde uns derselbe Umstand auf der Bühne nicht begeistern können. Demnach gilt: »In der Dichtkunst ist derjenige Gegenstand Erhaben, welcher fähig ist, durch die vollkommenste sinnliche Rede das Gemüth mit Bewunderung zu erfüllen.« (JubA V/1, 348) Wiederum sind der Einfluss Baumgartens und die verschärfte Trennung zwischen »Vorwurf« und Gegenstand auffällig. Der Schwerpunkt von Mendelssohns Betrachtung liegt, und damit folgt auch dieser Text der generellen Verschiebung seines Interesses in den 1760er Jahren, auf Darstellung und Rezeption. Das poetisch Erhabene 210
Auf Curtius’ Aristoteles-Übersetzung seien, so Geyer-Kordesch 1977, 151, mehrere Passagen der Briefe zurückzuführen.
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müsse Bewunderung erregen, »höchst sinnlich« und »vollkommen ausgedruckt seyn« (JubA V/1, 348), damit es für Menschen mit »gesunder Vernunft« leicht zu erfassen, und trotzdem bewunderungswürdig in Gehalt und Ausdruck sei.211 Daneben muss es aber auch auf der Schaubühne den Zuschauer ansprechen. Dies gelingt ihm nicht über eine ausgewogene, ruhige Erzählung, sondern über den theatralischen Schrekken, der den Zuschauer (in diesem Falle: angenehm) von der im Stück behandelten menschlichen Größe überzeugt. Von einer zweiten Form des Erhabenen mit Bezug auf das Schreckliche ist im LB 146, im Gegensatz zu den Anmerkungen, keine Rede, und auch die Anmerkungen selbst setzen allenfalls zur Formulierung an, ohne zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen. Mendelssohn kritisiert Burke zwar dafür, dass er nur »Schmerz und Gefahr« (Brief an Lessing vom 27. Februar 1758; JubA XI, 182) als Quellen des Erhabenen genannt habe212, unternimmt es aber selbst, dieses Konzept für die zweite Art des Erhabenen fruchtbar zu machen: Es ist bestimmt durch vermischte Empfindungen, die auf eine »plötzliche« und »heftige« Weise negative Empfindungen wie das »Schauern« im Vorstellenden verursachen. Allerdings müssten die Grundsätze für dieses »Beförderungsmittel des Erhabenen« noch formuliert werden (JubA III/1, 252), was Mendelssohn 1761 bzw. 1771 in den Revisionen der Abhandlung Ueber das Erhabene unternimmt. Im Gegensatz zur ursprünglichen Fassung von 1758 hebt er schließlich die heftigen Gemütsbewegungen stärker hervor und bindet sie in die Struktur der vermischten Empfindungen ein, wie sie sich in den Anmerkungen zu Burke und der Fassung von 1761 des Aufsatzes in den Philosophischen Schriften andeutet. Eine solche Frühform des erhabenen Schreckens zeigt sich auch in den Litteraturbriefen 82–84 (14. Februar 1760, JubA V/1, 130–37, v. a. ab 133). Dort argu-
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Dies führt Mendelssohn auf die Definition von Longin zurück (vgl. JubA V/1, 348 f.) »Whatever is fitted in any sort to excite the ideas of pain, and danger, that is to say, whatever is in any sort terrible, or is conversant about terrible objects, or operates in a manner analogous to terror, is a source of the sublime; that is, it is productive of the strongest emotion which the mind is capable of feeling.« (Burke, Enquiry, I/7, 39) Mendelssohns Kritik mag auch darin begründet sein, dass Burke vornehmlich physiologisch-materialistisch argumentiert (vgl. Strube 1995, 285, Till 2006, 363 f.): er trennt das Erhabene kategorisch vom Schönen und beschreibt ihre Wirkungen in seunsualistischen Termini. Das Erhabene fordert den menschlichen Selbsterhaltungstrieb (self-preservation) und erhält seine Wirksamkeit durch das Evozieren von Angst und Schrecken, Schmerz und Gefahr; das Schöne den Geselligkeitstrieb (society). Ein schönes Objekt wird demgemäß als klein, glatt, ruhig, von gedeckter Farbe und rundlicher Form (worüber sich Mendelssohn in Ueber die Mischung der Schönheiten (entstanden 1776, JubA III/1, 259–67) beklagen wird) vorgestellt, das beruhigend bis erschlaffend auf das Nervensystem wirkt; das Erhabene dagegen ist groß, schroff, kantig und grell – und bewirkt eine starke nervliche Anspannung und Erschütterung. Der Lust am Schönen steht das Vergnügen (»delight«) am Erhabenen gegenüber. Doch mit einer Form von Vollkommenheit hat laut Burke keine der beiden Empfindungen (noch die sie auslösenden Gegenstände) etwas zu tun. 212
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mentiert Mendelssohn in dieser Hinsicht gegen J. A. Schlegel, dass das Entsetzliche in den Schilderungen des Dichters sehr wohl Lob verdient, indem es dort erhabenen Schauer erregt. »Das Entsetzliche aber kann der Dichter in seinen Schilderungen so weit treiben als er immer will, und er wird unser Lob verdienen, denn er wird desto erhabener, je heftiger er uns erschüttert.« (JubA V/1, 133) Allein bei der »körperlichen Vorstellung« des Sterbens dürfe die Schaubühne die Realitätsnähe nicht übertreiben. Auch unter Rückgriff auf Longin213 schließt Mendelssohn in dieser Hinsicht: »Der höchste Grad des Entsetzlichen misfällt also blos in der äussern Vorstellung, in dem pantomimischen Theile des Trauerspiels.« (JubA V/1, 134) So will Longin die Furien nicht in persona auf der Bühne sehen, sondern über Beschreibung bzw. als »facundiam praesentiem, wie sie Horaz nennet«,214 in die Erinnerung der Zuschauer wachrufen: »Der Dichter, sagt abermals Longin, siehet die Plagegeister selbst, und nöthiget den Zuhörer dessen Einbildungen gleichfalls mit Augen zu sehen.« (JubA V/1, 134) Allerdings spricht er hier gegen Horazens These, dass das äußerste Entsetzen auf der Schaubühne deshalb missfalle, weil man die Illusion nie so weit treiben könne, dass man das Geschehen selber vor Augen zu haben glaube. Mendelssohn hält dem vielmehr entgegen, dass solche Illusion zwar möglich, aber nicht zweckdienlich sei, da eine Pantomime, die dieses ›echte‹ Entsetzen herstellen soll, auf der Bühne nur eine »Hilfskunst«215 sein könne, die hinter der Poesie zurückstehen muss, sonst »stöhret [sie] den angenehmen Betrug mehr, als sie ihn befördern hilft« (JubA
213 Mendelssohn besaß zwei deutsche Übersetzung von Longins Werk, einmal von Heineken [das Verzeichnis liest: Hemekken], Dresden 1737, und von Johann Georg Schlosser [Schlösser], Leipzig 1781) sowie Dionysius Longinus de sublimitate ex recensione Pearchii, versione Mori (1769) (vgl. Bücherverzeichnis 45/21, 264/32 und 49/21). Die Schlosser-Übersetzung erschien zu spät, um Mendelssohns Überlegungen zum Erhabenen noch zu beeinflussen; sie ist jedoch gerade vor dem Hintergrund der Burke-Rezeption von Interesse, da sie Longin vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Psychologie, nicht in der gelehrten Philologen-Tradition (wie Heineken; vgl. Till 2006, 367) interpretiert. Schlossers Einleitung liest sich dabei wie Mendelssohns Anfangssätze der Hauptgrundsätze: »Es ist nun wohl kein Zweifel mehr, daß die Psychologie der Schlüssel zu allen schönen Künsten und Wissenschaften seyn muß. Die Kenntniß der Wege der Einbildung, und ihr und aller unserer Sinnen und unserer Seelenkräfte Einfluß auf unsere Empfindung, enthält das Geheimniß des Dichters, des Redners, des Künstlers. Auch kann nichts das Schiefe, das Halbwahre und das Wahre der Theorienschreiber besser sichten, als die Zusammenhaltung ihrer Grundsätze, auch nur mit dem Wenigen, was wir von der Psychologie wissen.« (S. XIV f., zit. nach Till 2006, 367, vgl. hier S. 192 f.) Schlosser beruft sich sogar ausdrücklich auf Mendelssohn, siehe dessen Edition, S. 273. Auch die von ihm gewählten Beispiele machen die Anlehnung an Mendelssohns Arbeiten überdeutlich: Shakespeare, Ossian, Klopstock, Homer, Luther (worauf Till 2006, 368 nicht hinweist). 214 Später mit Rammlers Übersetzung: die »lebhaft gerührten Augenzeugen« (vgl. Kommentar in JubA V/3b, 652). 215 Zu diesem Zusammenhang äußert sich Mendelssohn auch in den Hauptgrundsätzen. In gemischten Kunstformen ergibt sich die Ausformung der beteiligten Gattungen daran, welcher Form die Hauptfunktion zukommen soll, vgl. JubA I, 444 f.
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V/1, 135). Wenn die Einbildungskraft ›Leerstellen‹ der Darstellung selbst auffüllen muss, kann sie das Gefühl eindrücklicher mitreißen: Mendelssohn empfiehlt deshalb keine effektvolle und aufwendige Darstellung des Sterbens, sondern dessen Symbolisierung: wenn der Sterbende nicht affektiert röchelt, sondern sein Haupt neigt, ist die Wirkung des Erhabenen viel eher erreicht.216 Es ist also scheinbar paradoxerweise das, was man weder sieht noch hört, das die ästhetische Rezeption entscheidend bedingt. Deutlich ist in beiden Formen des Erhabenen das Bestreben, die Beobachtungen Burkes in ihrer Reformulierung an ein Vollkommenheitsmodell zu binden.217 In der überarbeiteten Version von Ueber das Erhabene und Naive von 1761 sind dabei die Schlüsselstellen noch zu wenig ausgeführt. So ist der gesamte Eröffnungspassus, der das Erhabene als ein Sinnenübersteigendes charakterisiert, noch nicht enthalten (vgl. JubA I, 584). Ebenso ist der Begriff des Genies noch unzureichend bestimmt (vgl. JubA I, 460 und 485); gleiches gilt für das Konzept des Naiven (vgl. JubA I, 492–94 und 594 f.). Insgesamt muss jedoch auch für die spätere Version von 1771 festgehalten werden, dass ein Großteil der Änderungen lediglich die gewählten Beispiele betrifft, wie überhaupt die Abhandlung weitaus mehr Anschauungsmaterial, als befriedigende Erklärungen liefert. Erst im Gesamtzusammenhang der Philosophischen Schriften werden diese deutlicher.
Schreckliche Vollkommenheit, großes Genie: die letzte Fassung von 1771 In der Abhandlung von 1771 rekonstruiert Mendelssohn die erste Form des Erhabenen, also diejenige, die sich aus der Vollkommenheit des Gegenstands ergibt, als eine Übersteigerung des sinnlich Vorstellbaren in quantitativer oder qualitativer Hinsicht. In einer so übersteigerten Darstellung lösen die Gegenstände im Betrachter das Gefühl des Erhabenen aus.218 So gibt es das schlechthin Große, das als ein 216
Mendelssohn bezeichnet gar das affektierte Bühnen-Sterben als eine »Zerstreuung« (JubA V/1, 136). Es ist hier allerdings in Rückgriff auf Wellbery 1984, 94 f. zu betonen, dass eine solche Symbolisierung nicht das Geschehen in einen kodierten Text verwandeln darf, denn dann wäre das Rezeptionsverhalten ein fundamental anderes, insbesondere nicht intuitiv. Instead, »[…] the object [must] present itself as a transparency through which the object is seen as if for the first time« (ebd., 95). 217 Aus diesem Grund teile ich Schorchs Einschätzung, Mendelssohn habe hier die allumfassende Geltung der Vernunft angezweifelt, nicht (vgl. dies., 84). Vielmehr zeigt seine Theorie immer das Bemühen, die von Abbt befürchtete Sinnlosigkeit menschlichen Leidens eben doch in eine übergeordnete Rationalitätsstruktur eingewoben zu beschreiben. 218 Strube 1995, 288 f. qualifiziert das Gefühl des Erhabenen als ein Sinnlichunermessliches, das die Aufmerksamkeit fesselt, indem es Schauer erregt; das Intensiv-Erhabene dagegen erweckt durch die mannigfaltige und dauernde Unterhaltung Bewunderung. Die Vollkommenheit der Vor-
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»Sinnlichunermeßliches« nicht mehr, wie die Schönheit, auf ein Mal in die Sinne fällt, sondern den menschlichen Wahrnehmungsapparat buchstäblich überfordert und durch seine schiere Quantität das scheinbar paradoxe Gefühl eines angenehmen Unwohlseins erregen kann. Alle Eigenschaften eines Gegenstands ließen sich so ins Erhabene steigern, wenn sie in einer Größe dargestellt würden, die die Vorstellungskraft überstiege. Die Nähe zur überwältigenden Darstellung der Naturschönheit, wie sie auch Joseph Addison beschreibt, ist auffällig.219 Dieser Form des Erhabenen als einer extensiven Unermesslichkeit steht 1771 das Erhabene als intensive Größe gegenüber, das der ersten Art des Erhabenen, wie Mendelssohn es 1758 und 1761 beschreibt, entspricht: das vollkommen Schöne wird in übersteigerter Form dargestellt und löst so ein angenehmes Erschauern aus. Das Staunen über die Diskrepanz zwischen einfacher äußerlicher Erscheinung und der dahinter verborgenen erhabenen Gesinnung ist es auch, was das Naive ausmacht, dessen Nähe zum Erhabenen Mendelssohn hier mit einer Theorie des ›Umschlags‹ vom Naiven ins entweder Lächerliche oder Erhabene (der zweiten Form) umreißt.220 Es fesselt die Aufmerksamkeit gerade dadurch, dass sich hinter seiner äußerlich schlichten Erscheinung weitaus mehr verbirgt, als der Rezipient nach dem ersten Augenschein erwartet hätte. So entsteht das Bewusstsein eines Kontrasts zwischen der geringen Erwartungshaltung aufgrund des ersten Eindrucks und der stärker wirkenden Empfindung der eigentlichen Größe, die hinter dieser Schlichtheit steht.221 Kennzeichen einer naiven Ausdrucksweise ist allerdings, dass dem Betrachter augenfällig wird, dass die Person sich ihrer Wirkung auf den Betrachter nicht bewusst zeigt: Naivität ist keine Gerissenheit, sondern erfordert den wahrhaftigen Ausdruck. Diesen Aspekt hatte Mendelssohn schon 1758 betont; die Schwierigkeit dabei war freilich, dass damit die Natur auf die Bühne geholt wird, da der naive Ausdruck eben keine Kunst sein darf (vgl. Till 2006, 355). Das Genie, so lässt sich
stellungsart schließlich löst Bewunderung für die Kraft des »menschlichen Geistes« aus. Strube kommt allerdings über eine bloße Aufzählung der unterschiedlichen Formen des Erhabenen nicht hinaus. 219 Addison, On the Pleasures of the Imagination, Nr. 412 vom 23. Juni1712 des Spectator: mit Bezug auf einer Art des Vergnügens, desjenigen an der Größe, bzw. »Greatness« nennt Addison die überwältigende Anschauung »of that rude kind of Magnificience which appears in many of these stupendous Works of Nature« (zit. nach Ross 1982, 371). 220 Die Untersuchung Ueber das Naive, Natürliche, Gesuchte und Gezwungene in den schönen Wissenschaften von [Franz Jacob von] Cramm. Braunschweig 1770, die eine ähnliche Differenzierung vornimmt, hat Mendelssohn besessen (siehe Bücherverzeichnis 237/31); es ist jedoch eher davon auszugehen, dass Cramm von Mendelssohn beeinflusst wurde (bis in die Wahl der Beispiele, vgl. Till 2006, 359 f.). Eventuell half Mendelssohn diese Anknüpfung an seine eigenen Ideen, sein Konzept des »doppelten Erhabenen« besser zu ordnen. 221 Siehe auch Mendelssohns daran andeutende Überlegungen zum Kontrast in der Ausgabe von 1761 (JubA I, 594 f.).
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unter Rückgriff auf die Entwicklung von Mendelssohns Genie-Konzept argumentieren, kann diese Ungekünsteltheit dennoch als einen Bestandteil eines Kunstwerks in Kunst umsetzen. Dabei ist der Effekt zumeist die von Mendelssohn beschriebene »Beschämung« des Überkultivierten, Durchtriebenen und Manipulierenden durch das naive Geschöpf.222 Im Naiven ist damit – so kann man Mendelssohns Theorie auch lesen – allein durch die Kunst auch die menschliche, gute Natur auf die Bühne gekommen und erhält die Bewunderung, die ihr gebührt. Wirkt diese Größe überwältigend, so ist es nicht Freude, die in einem Lachen Ausdruck finden kann, sondern das Gefühl des Erhabenen, das den Zuschauer für das Werk bzw. die Szene einnimmt. Welche Effekte das Naive zeitigt, ob es lächerlich, tragisch oder erhaben wirkt, entscheiden die Folgen, die das naive Betragen mit sich bringt. Mendelssohn wehrt die Forderung ab, dass das Naive nur im Schäfergedicht oder der Komödie zur Anwendung kommen könne. Als eine Form des Erhabenen und ein spezifischer Ausdruck einer vermischten Empfindung hat es durchaus in allen Kunstgattungen seinen Platz. Prominentestes Beispiel eines derartigen »Ungesuchten« im Ausdruck ist wahrscheinlich die später von Schiller weiter ausgearbeitete, aber schon von Mendelssohn so charakterisierte »Grazie, oder die hohe Schönheit in der Bewegung« (JubA I, 488), wobei die Haltung des Naiven in die bloße Form eines ästhetischen Gegenstandes überführt wird.223 Bewunderung erregt aber nicht nur die Darstellung des Vollkommenen, sondern auch – man denke an die Hauptgrundsätze – die vollkommene Darstellung. Um den 222 Kant fasst dies schließlich kurz und bündig zusammen: »Eine Kunst, naiv zu sein, ist daher ein Widerspruch.« (KdU § 54, V 335); er schließt jedoch zugleich an: »allein die Naivität in einer erdichteten Person vorzustellen, ist wohl möglich und schöne, obzwar auch seltene Kunst.« 223 Der zur gleichen Zeit an dem Artikel »Naiv« für Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste arbeitende Wieland hat sich übrigens gegen die bloß stilistische Ebene des Naiven als Form des einfachen, ungesuchten Ausdrucks ausgesprochen und ihm darüber hinaus eine kritische Ebene beigefügt. In stärkerer Anlehnung an Rousseau reformuliert er das Naive als den Ausdruck des ersten, von der Dekandenz einer falschen Kultur noch unberührten Menschen. Diesen Begriff des Naiven als Urform des Menschen schien Mendelssohn – in Anbetracht seiner Abneigung zu Rousseaus Kulturkritik – nicht vollständig übernehmen zu wollen. Vielmehr betonte er den Aspekt der »Unverstelltheit« und »Ehrlichkeit« (so auch Kant, siehe KdU § 54, AA V, 335). Beide Aspekte, nicht nur Wielands Naivitätsbegriff (so Till 2006, 357), fanden Eingang in Schillers Konzept. Auch der dem Naiven nah verwandte Begriff der Grazie bei Schiller (in den Kallias-Briefen, sowie der Ästhetischen Erziehung als »Freiheit in der Erscheinung«, NA 26, 200 u. ö.) weist auf einen Rückgriff auf Mendelssohn hin. Eine andere mögliche Quelle, auch für Mendelssohn selbst, ist daneben der Artikel »Grâce« von Claude-Henri Watelet in der Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (1751–80), Bd. VIII, 805 f.: »In der Bewegung, Stellung und Haltung des Körpers unterscheidet man vornehmlich diesen Reitz, der so sehr bezaubert. Wenn die Glieder zu diesem Gebrauche das gehörige Maas haben, wenn sich ihrer Entwickelung nichts widersetzet, wenn die Gelenke und Einfügungen so vollkommen sind, daß das Verlangen sich zu bewegen keine Hindernisse findet, und die Bewegungen selbst sanft und in der lieblichsten Ordnung aufeinander hinweg gleiten; so entstehet in uns die Idee, die wir durch das Wort Reitz ausdrücken.«
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Effekt des Erhabenen in dieser Hinsicht, die schon 1758 anklingt, theoretisch zu fundieren, greift Mendelssohn auch hier auf das Potential der vermischten Empfindungen zurück. Die natürlich-unangenehmen Gegenstände entfalten ihre Wirkung in der Spannung zwischen Abscheu (oder Angst) vor dem vorgestellten Gegenstand, dem Interesse daran und dem Können des Künstlers, der diese Gegenstände ästhetisch darzustellen vermag (dieser Zug ist 1771 stärker als 1761). Mendelssohn nennt als Beispiele den Sterbenden auf dem Schlachtfeld und sogar den Gotteslästerer. »Alle dergleichen Gegenstände, als der Tod, ein Schlachtfeld, die Verzweifelung, sind nun zwar an und für sich nicht bewundernswürdig, und werden es bloß in der Nachahmung, durch das Genie des Künstlers; allein sie sind ihrer Natur nach fürchterlich, grausenvoll, und unterstützen durch das ihnen beywohnende Sinnlichunermeßliche die Empfindung des Erhabenen; daher sie auch von den Künstlern vorzüglich gewählt zu werden pflegen.« (JubA I, 474 f.; dieser Passus fehlt 1761 noch, s. ebd., 590). Aber auch die Darstellung von Alltäglichkeiten oder die besonders gelungene Nachahmung des Trübsinnigen kann vom Genie des Künstlers zeugen und eine Empfindung des Erhabenen hervorrufen. Wiederum kann auch das Naive diese Art der Vollkommenheit aufzeigen, denn es gewährt, wenn das einfache Zeichen auf eine höhere, dahinter verborgene Eigenschaft verweist, eine »anschauende Erkenntniß«, die das Merkmal einer »sinnlich-vollkommenen«, also wahrhaft schönen Rede oder Geste ist – die nur ein Genie erschaffen kann. Hier führt Mendelssohn die Ergebnisse der Hauptgrundsätze und seiner Theorie des Erhabenen und Naiven letztendlich zusammen. Allerdings – und dies hat auch Zelle (1987, 357 f.) zu Recht betont – grenzt er dabei den Schrecken als ein Gefühl mit Eigenwert stärker aus, als er es in der Rhapsodie oder den Hauptgrundsätzen getan hatte. Erhaben ist er nur in der sicheren Distanz; und auch dies ist es nur durch den Dichter, der durch seinen Gebrauch die vermischten Empfindungen auslöst. Vom Effekt her betrachtet, erregt das Schöne eine angenehme Empfindung, das Erhabene hingegen Bewunderung, das sich aus Erschauern, Faszination und Wohlgefallen zusammensetzt.224 Mit der Theorie des Erhabenen verstärkt sich die Tendenz, nicht mehr ›nur schöne‹ Gegenstände als ästhetisch relevant zu betrachten, sondern auch schreckliche Situationen sowie das Unvermögen des Menschen, den Bau der Welt als ein Ganzes zu erfassen, mit in die Betrachtung der ästhetischen Welterfassung aufzunehmen. Dieses menschliche Defizit hatte Mendelssohn schon 224
Vgl. Strube 1995, 288 f. Dieser erwähnt nicht die einschlägigen, klärenden Bemerkungen Mendelssohns in den Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz (1782) c-f (JubA VI/1, 32 f.): hier betont Mendelssohn das »Erschauern« angesichts des sinnlichen Eindrucks des überwundenen Widerstands, was eine wahrhaft erhabene Persönlichkeit auszeichne. »Vollkommen tugendhafte Charaktere«, die ohne diesen Eindruck dargestellt würden, seien demgegenüber wenig glaubhaft, denn »je heftiger die Leidenschaft, und je vollkommener der Sieg, desto erhabener die Tugend.« (ebd.)
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
in den Briefen angesprochen: es ist unmöglich, die Ordnung der Welt auf ein Mal zu erkennen oder klar und deutlich wahrzunehmen. Mit der Theorie des Erhabenen soll diese Unmöglichkeit in ein unangenehm-angenehmes Gefühl übersetzt werden, weshalb die Erkenntnisfähigkeiten und –gesetzmäßigkeiten des Menschen in Mendelssohns Theorie des Erhabenen 1771 die wichtigste Rolle einnehmen. Die Theorie des Erhabenen lässt sich als eine Theorie des scharfen und unmittelbar spürbaren Kontrasts unterschiedlichster Empfindungsaspekte lesen, die den Zuschauer für den Gegenstand selbst oder für das Genie des Künstlers einnehmen, ihn zugleich aber auch seiner eigenen reflexiv-sinnlichen Kompetenz bewusst halten. Die Theorie ist damit eindeutig auf den Menschen und seine komplexen Wahrnehmungs- und Bewertungsfähigkeiten zentriert. Zugleich ist ihr immer Mendelssohns Bestreben abzulesen, die prima facie unerkennbare Sinnhaftigkeit auch der abgründigen menschlichen Erlebnisformen in eine verständliche, durchdringbare Form zu fassen.225
Schluss Mit der ästhetischen Theorie der vermischten Empfindungen hat Mendelssohn das Perfektibilitätskonzept und seine psychologischen Gesetzmäßigkeiten zu einem bestimmenden Gebiet rationalistischer Anthropologie gemacht. Im Anschluss an die Untersuchungen von Martino ist der Wandel in Mendelssohn Auffassung auf eine Umgewichtung von der »statisch-intellektuellen« auf die »dynamisch-emotionale« Theorie der Lust zurückzuführen.226 Das erstere Konzept verankert jede Lust letztlich in einer Erkenntnis der vorstellenden Instanz; gemäß der zweitgenannten Ansicht haben nicht Erkenntnisse, sondern Empfindungen mehr Gewalt über die Seele. »Die Lust ist nicht mehr, wie bei Wolff, bloß die Erkenntnis einer Vollkommenheit, sondern die Stillung des Hungers nach Tätigkeit oder zumindest die Aussicht, Ideen mit Leichtigkeit zu entwickeln.« (Altmann 1969, 101) Welche Art Vorstellungen damit »vollkommen« zu nennen sind, entscheidet sich bei der letztgenannten Auffassung nicht an der Konstitution des Gegenstandes, sondern durch den Grad an Vorstellungstätigkeit, den er vermittelt. Auf diesen Umstand geht Mendelssohns Ästhetik ein: angenehme Beschäftigung gewähren auch (künstliche,) unvollkommene Gegenstände, indem sie die Vorstellungskraft der Seele in Bewegung und damit in ein 225
In diesem Sinne stimme ich nicht mit dem Ergebnis Schorchs überein, dass Mendelssohn mit dem Erhabenen die Darstellbarkeit von Leid, Unglück und Schmerz propagiert, die nicht »in eine – wie auch immer gestaltete – harmonische Ordnung des Ganzen kausal und final eingewoben« sind (dies. 2003, 84). Vielmehr hält Mendelssohn auch hier am Postulat der grundsätzlichen »Lesbarkeit der Welt« (vgl. Kap. I.2, 113, FN 163) fest. Freilich hat diese Sichtweise nicht viel mit der holistischen Herders zu tun, die Schorch im folgenden Abschnitt vorstellt. 226 Vgl. hier Einleitung, 14, FN 17.
II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie
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als angenehm empfundenes Spiel von Anziehung und Zurückweisung227 versetzen. Beide Konzeptionen sind unterschiedliche Spielarten einer leibnizianischen Metaphysik, wobei die dynamische Version den Schwerpunkt auf die Vorstellungstätigkeit und den Appetitus und der daraus resultierenden, ›lustvollen‹ Vorstellungstätigkeit der Monaden legt. Man kann die Differenz der Theorien also innerhalb des Rationalismus selbst, und zwar innerhalb seines Herzstücks von der Vorstellungstätigkeit in Zusammenhang mit dem Vollkommenheitsbegriff verorten. Ebenso verlaufen die Modifikationen von Mendelssohns Theorie an dieser Linie. So vertritt er vor allem in den Quellen und Verbindungen eine statische Lesart der Schönheit228, die er durch die Verortung der Vollkommenheit in der Tätigkeit des Subjekts selbst und der Dynamik der Kontrastierung unterschiedlicher Empfindungsqualitäten und Bewertungszustände an die dynamische Theorie annähert. ›Schönheit‹ bedeutet Vervollkommnung, die nicht allein von in sich vollkommenen Gegenständen hervorgerufen wird, sondern den Rezipienten durch Widerständigkeit reizt. Blickt man auf die Entwicklung der jungen Disziplin Ästhetik, so zeigt sich, dass der scheinbar vergessene Mendelssohn Mitverursacher vielfältiger Entwicklungen war und sozusagen ›anonym‹ oder unbewusst rezipiert wurde.229 Sein Einfluss auf die Entstehung von Lessings Laokoon (1766) ist unbestreitbar, wie nicht nur der Briefwechsel, sondern auch die Anmerkungen Mendelssohns zu Lessings Vorarbeiten zeigen (vgl. JubA II, 231–58). Rezipiert wurden seine Schriften auch von Friedrich Schiller, der dessen Konzept des Naiven weiter ausarbeitete, sich aber auch in seiner Forderung einer ganzheitlichen Bildung des Menschen an die von Mendelssohn vertretenen Ideen anschloss.230 227
Auch dieses Konzept taucht in etwas modifizierter, und aufgrund eines unglücklichen Beispiels nicht sehr überzeugender Form in Schillers Ästhetischer Erziehung wieder auf: dieser spricht von dem angenehmen Schwanken zwischen Angezogen- und Zurückgestoßensein von der Schönheit und gleichzeitigen Strenge einer Büste der Juno (vgl. NA 20, 359 f.). Wenig überzeugend ist sein Beispiel v. a. wegen der gigantomanischen Ausmaße der Büste, die die Vorstellung einer Attraktion einigermaßen erschweren (dazu Janz 1998, 616 f.). Der entscheidende Unterschied beider Konzeptionen ist Schillers an Kant angelehnte Betonung der Freiheit dieses Spiels, das bei Mendelssohn keineswegs an einen kantischen Freiheitsbegriff als Teilhabe an einer noumenalen Sphäre, sondern an die menschliche Konstitution als Zusammenspiel zwischen Geist und Körper gebunden ist. 228 Altmann 1969, 94 und 122 f. weist auf deren Nähe zu Wolffs Psychologia Empirica, § 517 hin. 229 Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen als eine ästhetische Theorie wurde »zum Allgemeingut späterer Handbücher« (Ebeling/Zelle 1992, 150; dort Hinweis auf: Johann Gebhard Ehrenreich Maaß: Versuch über die Leidenschaften. Theoretisch und practisch. 2 Bde. Halle, Leipzig 1805/07); zur impliziten »Paradigmatisierung« auch Goetschel 2004, 85. 230 Schon den jungen Schiller um 1779 beeinflussten Mendelssohns Briefe; vgl. Alt 2000/I, 106, 115. Zum Laokoon siehe Wellbery 1984. Kap. 3.
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
Auch setzt Schiller mit seiner poetologischen Einleitung zur Braut von Messina, in dem kurzen Essay »Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie« (1803) zum Streit gegen die »Naturalisten«, wie er die Naturnachahmer bezeichnet, in einer ähnlichen Weise wie Mendelssohn an. In der Kunst soll das Dargestellte nicht »armseliger Gauklerbetrug« (NA 10, 10) sein, der uns für die Dauer der Betrachtung davon überredet, Wirklichkeit zu sein, um sich nach vollendeter Vorstellung in ein bloßes Nichts zu verwandeln; sondern die Darstellung soll von vornherein als »Symbol des Wirklichen« (NA 10, 10) verstanden werden. Was macht nun dieses Symbol aus? Es setzt in die Freiheit, sich mit allen seinen Erkenntniskräften in ein Spiel zu begeben, das letztlich zu einer Veredlung dieser Kräfte führt. Damit will Schiller die Kunst rechtfertigen und nobilitieren. Das Spiel der Erkenntniskräfte findet sich nun in dieser Form nicht bei Mendelssohn, sondern bekanntermaßen bei Kant. Jedoch ist der Aspekt der harmonischen Beschäftigung der Vermögen der Grundsatz, aus dem ersterer seine Illusionstheorie ableitet und das seinen Geniebegriff begrenzt.231 Eine Harmonisierung meint für ihn nicht, und damit komme ich noch einmal auf sein Diktum der Leidenschaftserregung (nicht -mäßigung) zurück, dass die Empfindungen aufgeklärt und damit in den Status von Erkenntnissen überführt werden. Harmonisierung meint vielmehr, dass die Empfindungen und die Erkenntnisse in Übereinstimmung kommen, obwohl jeder Bereich seine Eigenständigkeit behält. Deshalb soll die Kunst ästhetisch illudiren, d. h. zugleich Leidenschaften wecken und diese in einen spezifischen Bezug zum Betrachter und zum Kunstgegenstand setzen. Leidenschaften und Erkenntnisse harmonisieren heißt dann weder, die Empfindungen zu erkälten, noch das Denken zu überrumpeln, sondern beide in einem Wechselspiel zu halten. Genau das hat auch Schiller mit dem Gebrauch des Chors erreichen wollen: zwar sollen die Geschehnisse auf der Bühne den Zuschauer mitreißen, er solle aber zugleich mit dem Chor dieselben reflektieren und auf ihren Sinn hin befragen. Das evaluative Moment, das Schiller in den Chor versetzt, hat Mendelssohn im Zuschauer selbst situiert. Gut aufklärerisch – und mit seiner Theorie der Illusion untermauert –, hat er dem Tragödienbesucher das Selbst-Denken zugetraut. Mendelssohns Theorie der vermischten Empfindungen fand – verstärkt durch Lessings Bezugnahme auf sie in der Hamburgischen Dramaturgie (vgl. Werke 6, 554 ff.) – schnell Eingang in die Kompendien und damit in die wissenschaftliche Debatte um eine ästhetische Theorie. Die Tragödientheorie als ein besonderer Typus der ästhetischen Erscheinung der Humanität war dabei von großer Bedeutung.232 231
Die Forderung nach Harmonisierung, die also nicht nur für das Genie, sondern für den »ganzen Menschen« erforderlich wird, findet sich u. a. bei Sulzer, Mendelssohn, Garve, Abbt und Schillers Lehrer Jakob Friedrich Abel (»Rede über das Genie«, Stuttgart 1776; Neudruck mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel, Marbach 1955, 21 u. ö.). 232 Auch Martino 1972, 47 ist der Auffassung, dass sich die Entstehung der, wie er es nennt, »emotionalen Kunsttheorie« u. a. der Tragödientheorie verdankt. Die Erfahrungen der theatrali-
II.3 Göttlicher Schöpfer Mensch! Mendelssohns Kunstphilosophie
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Mendelssohn zeigt sich in seinen Ideen zu einer Ästhetik als Anthropologe, indem er die beiden Sphären des Menschen – Vernunft und Sinnlichkeit, Kopf und Körper – und ihr Zusammenspiel für die Theorie des Schönen fruchtbar zu machen sucht. Seine Ästhetik ist nicht nur ein bloßes ›Brückenphänomen‹ zwischen, vereinfacht formuliert, Rationalismus und Empirismus, eine Erscheinungsform der Empfindsamkeit oder eine bloße Kontrastfolie der historisch folgenden Positionen Sturm und Drang, Idealismus und Romantik. Vielmehr zeigt sein Interesse an der Natur der Empfindungen sowie der Forderungen, die sich daraus – nicht nur für die Kunst – ergeben, dass seine Philosophie ein eigenständiger Beitrag zu einer metaphysisch fundierten, zugleich aber sensualistisch und empiristisch beeinflussten Philosophie vom ganzen Menschen ist. Darin hat auch seine Ästhetik ihren Einheitspunkt. Mendelssohn betrachtet mit seiner Theorie des Schönen den Menschen in seiner spezifischen Verfasstheit als Verstandes- und Gefühlswesen. Die Wissenschaft von den Empfindungen ist ihm bei Wolff und auch bei Sulzer zu einseitig rational, bei Dubos und Burke dagegen zu ›gefühlsbetont‹, d. h. zu wenig systematisch und philosophisch fruchtbar. Seine eigene Theorie der Empfindungen, ihrer Konstitution und Lenkbarkeit in der Ästhetik, und die Vereinbarkeit von Sinnen und Kopf ist der Kernpunkt einer anthropologischen Betrachtung, die das Schillersche Modell der Balance vorwegnimmt und damit dem von Cassirer (1929, 60 f.) angesprochenen »ästhetischen Humanismus« verpflichtet ist. Anders formuliert, erscheint das ›Schöne‹, oder, wie man es angemessener nennen sollte, das ästhetisch Relevante allererst durch den Blick auf die spezifisch menschliche Erfassung und Darstellung seiner Welt. Dabei legt Mendelssohn den Schwerpunkt auf die Kunstrezeption, die er aus den spezifisch menschlichen Anlagen heraus zu erklären versucht. Das Streben nach Vollkommenheit wird dabei auch als ein – in sich komplexes – Streben nach Schönheit und Erhabenheit dargestellt. Im Phädon lässt er seinen Sokrates formulieren: »Die Empfindung der Schönheit suchet das Unendliche; das Erhabene reizet uns bloß durch das Unergründliche, das ihm anhänget: die Wollust ekelt uns, so bald sie die Grenzen der Sättigung berühret. Wo wir Schranken sehen, die nicht zu übersteigen sind, da fühlet sich unsere Einbildungskraft wie in Fessel geschmiedet, und die Himmel selbst scheinen unser Daseyn in gar zu enge Räume einzuschließen: daher wir unsrer Einbildungskraft so gern den freyen Lauf lassen, und die Grenzen des Raumes ins unendliche hinaus setzen.« (JubA III/1, 113 f.) Der Mensch ist von innen heraus getrieben, sich der Welt auch ästhetisch zuzuwenden. Seine Verstandeskraft ist zu begrenzt, um sie in ihrer Totalität zu erfassen. schen Leidenschaften sind ein Untersuchungsgebiet derjenigen Philosophen, die sich bemühten, die ästhetische Erfahrung psychologisch und damit rezeptionsorientiert, wenn aus einem rationalistischen Modell folgend, zu verstehen. Mendelssohn steht dabei zwischen der Rezeptions- und der Vollkommenheitsästhetik (vgl. Pollok 2006, XLVII).
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Kapitel II · Theorie der Sinnlichkeit
So kompensiert er dieses Defizit des »oberen Erkenntnisvermögens« mit der Macht des »unteren«. Der im Kunstwerk als ein organisches Ganzes erscheinende Weltausschnitt versichert den Menschen seines erhabenen Standpunkts in ihr, wie sie Gott in der natürlichen Welt – so die Annahme – einnimmt; das analogon rationis weist damit auch auf ein analogon divinitatis des ästhetisch genießenden und des Kunst schaffenden Menschen.
KAPITEL III Erkennen und Handeln
III. Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns »Denn auch die Wahrscheinlichkeiten unterliegen der Berechnung und dem Beweise, da man stets abschätzen kann, welcher Fall aus den gegebenen Umständen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.« Leibniz, Zur Characteristica Universalis, Hauptschriften I, 22
Parallel seiner Überlegungen bezüglich der Bedingungen menschenmöglicher Wahrnehmungsmodi und ihrer Verbindung zur menschlichen Glückseligkeit, insbesondere in ihrer sinnlich-intellektuellen Sonderform des ›Vergnügens‹, hat sich Mendelssohn auch mit den Bedingungen menschenmöglichen und -notwendigen Wissens beschäftigt. In seiner Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der wolffschen Erkenntnis- und Handlungstheorie und den Überlegungen Sulzers spielt nicht allein die anschauende Erkenntnis des Angenehmen, Schönen oder Erhabenen, sondern auch die des Wahren eine entscheidende Rolle. Inwiefern ist eine klare und deutliche, also verständige Erkenntnis der innerweltlichen Gesetzmäßigkeiten möglich, inwiefern ist sie notwendig, um den Menschen in seiner Vervollkommnung zu stützen? Und wie ist darüber hinaus rationales Wissen verlässlich und handhabbar zu erlangen? Alle diese Fragen fokussieren den Blick auf die Rechtfertigung epistemologischer Standards in einer ›rationalistischen Anthropologie‹. Dementsprechend hat Mendelssohn die Grenzen des Wissens unter Berücksichtigung der psychologischen Bedingungen menschlicher Wahrnehmung behandelt, also aus dem Standpunkt einer eingegrenzten Menschennatur heraus. Selbst die preisgekrönte metaphysische Abhandlung von der Evidenz (erschienen 1764, im Folgenden: Evidenzschrift) befasst sich, der Fragestellung angemessen, mit der Einsichtsmöglichkeit und der ›Zustimmungserfahrung‹, die eine rationale Erkenntnis wie die der Mathematik oder gar der Metaphysik erfordert, um praktikables Wissen zu ergeben. Dabei spielt auch die Methode der Wissenserlangung und ihrer Weitergabe eine entscheidende Rolle. Mendelssohn war, wie sich leicht zeigen ließe, von der Wahrheit der Metaphysik Leibniz’, Baumgartens und Wolffs überzeugt.1 Für ihn 1
Ich verweise in dieser Hinsicht auf Altmann 1969; Ziel seiner Abhandlung ist es, so Altmann in der Vorrede, den Metaphysiker Mendelssohn und dessen Quellen einsichtig zu machen.
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Kapitel III · Erkennen und Handeln
gab es in dieser Hinsicht kein Legitimationsproblem, wie man vielleicht unter Hinweis auf die vielzitierte »Krise der Philosophie« der Aufklärungszeit meinen könnte (siehe Kap. II.1, 117, FN 1), sondern vielmehr ein Kommunikationsproblem: die Wahrheit ist – versteckt in einem strengen metaphysischen System – zu wenig anschaulich. Mendelssohn sah es als seine Aufgabe an, die möglichen Wissensformen des Menschen und ihre Überzeugungsstruktur herauszuarbeiten. In dieser Hinsicht ist er als ein ›Popularphilosoph‹ zu bezeichnen, dem es jedoch nicht allein um die verständliche Fassung der Inhalte, sondern um eine besondere Perspektive auf diese ging. Die Zentrierung auf den Menschen verlangt in erster Annäherung an dessen epistemologische Standards eine Beantwortung der Frage, welche Gebiete sich menschlichem Wissen überhaupt und in welcher Qualität erschließen lassen, um im Anschluss daran zu untersuchen, mit welchem Grad der Überzeugung diese Gebiete verbunden sind – und wie dieser Grad gesteigert werden kann. Mendelssohns anthropologische Bestimmung meint damit nicht nur (siehe III.2 und 3) die Bestimmung der praktischen Dimension des Wissens, also die Bezugnahme auf eine Realisierung menschlicher Glückseligkeit durch richtiges Handeln, sondern auch die Reflexion auf die menschlichen Bedingungen des Wissenserwerbs und der Wissensbegründung. Mendelssohns Philosophie lässt sich schon aus diesem Grund nicht, wie Vogt meint, als eine »Prüfung«2 rationalistischer Theoreme in Bezug auf die menschliche
In diesem Zusammenhang erscheint es plausibel, warum es bei Mendelssohn kaum ein Bewusstsein der Unterschiede und Unvereinbarkeiten zwischen den genannten Positionen gibt; für ihn stellten sich diese Lehren als einheitliche Metaphysik dar, vor deren Hintergrund er seine eigene Philosophie entwickelt. Hinsichtlich der Einschätzung, dass sich seine Auffassung der Metaphysik in den 1770er und 80er Jahren in den Grundlinien nicht mehr verändert, ist Altmann sicherlich zuzustimmen – nimmt man allerdings den ›Anthropologen‹ Mendelssohn in den Blick, so lässt sich zeigen, dass seine Auseinandersetzung mit Abbt in der Bestimmungsdebatte ihn dazu veranlasste, sich weiterhin mit den Bedingungen eines rationalistischen Menschenbildes und dessen metaphysischer Begründung auseinanderzusetzen. Diese müssen nicht nur hinsichtlich der Wahrnehmungsund Vergnügenstheorie oder der Erkenntnislehre (als vornehmliche Untersuchungsgegenstände der Philosophischen Schriften), sondern auch der praktischen Philosophie, der Geschichts- und Gesellschaftstheorie ausgearbeitet werden – Oberbegriffe, mit denen sich die Arbeiten der 1770er und 80er Jahre charakterisieren lassen. 2 Vogt 2005. Vogts Arbeit krankt hinaus an einem weiteren Aspekt: wenn Mendelssohns Interesse an der menschlichen Psychologie und seinen Erkenntnisarten derart in den Vordergrund gerückt wird, so ist es mindestens lückenhaft, mit keinem Wort auf die Debatte um die Bestimmung des Menschen einzugehen. Für Vogts Vorgehen spricht zwar, dass Mendelssohn sein Interesse selber als primär auf die Metaphysik gerichtet verstand, und sich in der ersten Veröffentlichung mit ihr, danach erst (und angeblich widerstrebend) mit der Ästhetik und anderen Feldern auseinandersetzte. Bei genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch ein gegenläufiges Moment: denn Mendelssohns Auseinandersetzung mit der Metaphysik ist in seiner Grundrichtung vielmehr auf den Menschen ausgerichtet; weniger an dem allerdings, was der Mensch erkennen konnte, als daran, wie er zu einer Erkenntnis kommen und sie praktisch umsetzen kann. Der so bemühten Krise der Metaphysik (Vogt 2005, 16, auch 55) begegnet Mendelssohn meiner Ansicht nach eher mit einer Refor-
III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns
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Erkenntnisfähigkeit reformulieren. Trotzdem hat seine Betonung der »Wirklichkeit menschlichen Erkennens« – so der Titel von Vogts Untersuchung – ihr Wahres. Mendelssohns Gedanken zur Epistemologie fragen tatsächlich nach einer Nutzbarmachung metaphysischer Wahrheiten im menschlichen Wissen – jedoch erscheint dies auf eine Verbesserung der Praktikabilität der Theoreme angelegt zu sein, nicht die Revision oder Korrektur leibnizscher Philosophie unter der Herrschaft der Psychologie. Vielmehr baut Mendelssohns Psychologie auf bestimmten Theoremen seiner Vorgänger auf, um vor diesem Hintergrund ihre bislang vernachlässigte anthropologische Dimension herauszuarbeiten. Der Zielpunkt seines Interesse lässt sich, so die These dieses Teilkapitels, folgendermaßen formulieren: Mendelssohn veranstaltet keine groß angelegte Prüfung, sondern er betrachtet die rationalistischen Grundsätze unter der Perspektive des nicht nur logisch-rationalen, sondern auch psychologisch-begrenzten Menschen, um den spezifischen Wert dieser Theorien zur Vervollkommnung des Menschen herausarbeiten und begründen zu können. Damit soll auch eine gängige Ansicht3, dass das
mulierung und Fokussierung auf den Menschen, als mit einer umfassenden Kritik. Ästhetische Überlegungen, Gesellschafts- (Aufklärungsaufsatz) und Geschichtsphilosophie (Jerusalem), Haskala-Engagement, »praktische Ästhetik« in den Zeitschriften und nicht zuletzt die Bestimmung des Menschen – alle diese wichtigen Aspekte in Mendelssohns Werk enthalten weniger »überprüfte«, als von seinen Vorgängern übernommene, aber spezifisch ›gewendete‹ Elemente. Sicherlich ging dieser Aufnahme eine Art Prüfung voraus, ob sie sich dem vorgegebenen Problemrahmen überhaupt einverleiben ließen. Warum aber hatte Mendelssohn dann Ideen übernommen und harsch gegen Kritik und auch jegliche Infragestellung und Relativierung verteidigt, die nicht die menschliche Erkenntnisfähigkeit direkt betreffen, sondern vielmehr die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt und den Bedingungen seiner Vervollkommnung? 3 Siehe paradigmatisch die Einleitung zu Zelle 1987, der von einer Ein- und Unterordnung der Empirie unter das rationalistische Dogma spricht. Als ein Beispiel einer ›Zwischenstufe‹ erwähne ich im gegebenen Zusammenhang lediglich Kuehn 1995, 200 f. Ihm zufolge hat Mendelssohn bald gesehen, dass die Britischen Empiristen der deutschen Philosophie einiges zu bieten hatten, was einer befriedigenden Lösung harrte. »The works of Locke, Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Smith, Ferguson, and almost every other British philosopher of note were full of problems that needed solution and observations that needed to be explained, if German philosophy of the traditional sort [Kuehn meint den Wolffianismus; A.P.] was to succeed, and most of these problems seemed to have to do with the analysis of sensation in theoretical, moral, and aesthetic contexts. […] [For Mendelssohn,] it had to be shown that the phenomena observed by British philosophers and traced by them to a special sense are really rational. […] Though both [moral and common sense] may appear to be independent faculties of the mind, they must be reduced to reason.« Allerdings versuchte Mendelssohn auch, so Kuehn weiter, diese rationale Grundlage für die moralischen Gefühle darzulegen, die prima facie nichts mit Rationalität zu tun zu haben scheinen («how the rational principles are related to what appear to be completely different moral sentiments«). Ob daher mit »Reduktion« tatsächlich auch ein Verlust (im Sinne einer nicht vollständigen Erfassung menschlicher Wirklichkeit) einhergehen muss, lässt Kuehn hier offen. Differenzierter äußert er sich 1987, 39 f., indem er die Bedingungen dieser »Synthese« aus Rationalismus und Empirismus beschreibt.
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Kapitel III · Erkennen und Handeln
Bestreben Mendelssohn in einer Reduktion der empiristischen Beobachtungen auf die Prämissen einer rationalistischen Philosophie und damit letztlich in ihre Vernunftgegründetheit bestand, erweitert werden: Eine solche Reduktion sollte nicht einer Verneinung des Eigenwerts der Sinnlichkeit gleichkommen, sondern deren Stellenwert begründen und sichern. Dabei sah sich Mendelssohn schon zu Beginn seiner philosophischen Karriere mit einer Sichtweise konfrontiert, die ihm wie eine schiere Provokation erscheinen musste. David Humes Enquiry concerning human understanding, 1755 ins deutsche übersetzt und von Sulzer mit Anmerkungen versehen herausgegeben4, untergrub mit seinen »skeptischen Zweifeln« das Fundament, das Mendelssohn zu festigen gewillt war. Was empörte ihn so an den Thesen des schottischen Philosophen?
1. Mendelssohns Auseinandersetzung mit »Hume’s problem« 1756, gerade ein Jahr nach Erscheinen der Übersetzung des Enquiry, gab Mendelssohn erstmals seine Gedanken von der Wahrscheinlichkeit 5, in denen er sich u. a. mit den Thesen Humes befasst, heraus. Er versucht hier, die ebenfalls auf ästhetischem und epistemologischen Gebiet relevanten Überlegungen zu einer Theorie des sicheren Handelns zu verbinden, das sich auf die durchgängige, aber auch im verworrenen 4
Sulzer ist nicht der Übersetzer, siehe JubA 1, 638 und Klemme 2000, VI; der Einfachheit halber dennoch im Folgenden zitiert als Hume/Sulzer 1755, S. Zitate aus der Originalversion erfolgen unter Angabe des Abschnitts (Sect., Part) sowie des betreffenden Absatzes nach der Edition von Selby-Bigge/Nidditch, Oxford 1975. 5 Zuerst erschienen in den Vermischten Abhandlungen und Urtheilen über das Neueste aus der Gelehrsamkeit, 3. Stück, 1. Jg. 1756; zit. nach JubA I, 147–164. Mendelssohn hat diese Abhandlung in seine Philosophischen Schriften unter dem Titel Ueber die Wahrscheinlichkeit weitgehend unverändert übernommen. Er wird die Dringlichkeit einer Diskussion von Humes Thesen auch deshalb verspürt haben, weil die Übersetzung von den Mitgliedern des Gelehrten Kaffeehauses, eine wichtige Institution des (privaten) intellektuellen Lebens in Berlin seit 1755, gelesen und diskutiert wurde (vgl. Kuehn 1995, 202). Aus diesem Grund sprach er in der Schrift selbst davon, dass Humes Enquiry nun »in aller Händen« sei (JubA I, 156) und eine eingehende Diskussion benötige. Mit einer eigenen Stellungnahme konnte Mendelssohn so auch sein intellektuelles Profil innerhalb der Berliner Gesellschaft schärfen. Erste Gedanken zur Geltung der Wahrscheinlichkeit finden sich auch in der Skizze Von den ohngefähren Zufällen (1753, JubA II, 3–5), den ersten erhaltenen Notizen des jungen Philosophen. Im LB 135: 11. Dezember 1760, einer Rezension von C. F. Flögels Einleitung in die Erfindungskunst (1760), hebt Mendelssohn die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für die Logik hervor, kämen doch »die Erfinder mehrenteils durch wahrscheinliche Schlüsse zuerst auf ihre Erfindung« (JubA V/1, 309). Vgl. dazu Altmann 1969, 217–26. Eine weitere Quelle für die Konzentration auf die Wahrscheinlichkeit als ein menschenmöglicher Modus möglichst sicherer Erkenntnis ist sicherlich neben Leibniz und Wolff auch Locke, vgl. Essay IV, 11 (§ 9), 12 und insbesondere 15.
III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns
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oder gar dunklen Modus wirksame und dennoch legitimierte Kenntnis einer Sache stützt. Damit verfolgt er zugleich die von Altmann (1969, 251) als »bahnbrechend« bezeichnete Absicht, die Frage nach der Gültigkeit der Induktionsschlüsse in diejenige nach der Sicherung der Wahrscheinlichkeitsschlüsse zu übersetzen. Beide Intentionen verdanken sich klar Mendelssohns Lektüre des Enquiry. So formuliert er in der Vorrede zur ersten Auflage der Philosophischen Schriften 1761: Er wolle »die Richtigkeit aller unsrer Experimentalschlüsse, wider die Einwürfe des englischen Weltweisen David Hume […] vertheidigen« (JubA I, 230); und dieser selbst hatte im vierten Abschnitt des Enquirys die Frage nach den Induktionsschlüssen und ihrer Berechtigung angeschnitten. Auf den ersten Blick erstaunt dieses Vorhaben, denn Hume hatte v. a. im fünften Abschnitt, der sich explizit mit der »Auflösung« der vorher aufgeworfenen skeptischen Zweifel bezieht6, die Richtigkeit und Verlässlichkeit von Experimentalschlüssen gar nicht explizit in Abrede, sondern vielmehr ihre Legitimation auf ein neues Fundament gestellt. Jedoch gerade dieses neue Fundament musste Mendelssohns Widerstand wecken. Dass Hume infolge seiner Theorie auch den Zuständigkeitsbereich menschlicher Vernunft modifizierte, ist ihm dabei gar nicht angemessen klar geworden. Denn, so Hume, wenn die spekulative Vernunft notwendig in Skepsis münde, so gilt dies nicht für die sich den praktischen Wissenschaften zuwendende Vernunft: hier ist das wahre und fruchtbare Forschungsgebiet des menschlichen Geistes.7 Mendelssohn zitiert zur Illustration seiner Interpretation eine Passage aus dem vierten Versuch, in dem sich Hume mit den »Wirkungen des Verstandes« im Allgemeinen und möglichen »skeptischen« Einwürfen wider ihn auseinandersetzt. Dort heißt es, in Mendelssohns Paraphrase: »Man gestehet durchgehends, daß keine Verknüpfung zwischen den sinnlichen Eigenschaften und den geheimen Kräften bekannt sey. Unsere Vernunft kann also den Schluß à priori nicht gemacht haben. Und was die Erfahrung betrift; so begreife ich eben nicht, wie sie auf künftige Zeiten und andere Gegenstände ausgedehnt werden könnte, von welchen wir noch keine Erfahrung haben.« (JubA I, 157, Hervorhebung A.P.)8 Hume trieb bekanntermaßen 6
Ebenfalls im zehnten Abschnitt, »On Miracles« (vgl. De Pierris 2001, 351). Vgl. von der Lühe 2000, 145 f. Mit De Pierris 2001, 364 ff. ist jedoch festzuhalten, dass laut Hume die Stärke der Pyrrhonischen Skepsis in theoretischer Hinsicht bleibt und der wahre Philosoph letztlich das Existenzrecht der beiden Sphären des theoretischen Nichtwissens und des lebenspraktischen Wissens bejahen muss. In diesem Sinne hat Hume, so ließe sich De Pierris’ Aufsatz zusammenfassen, die grundlegende Dialektik (im kantischen Sinne) des menschlichen Forschens aufgedeckt: »[…] if we engage in philosophical reflection about the general grounding of our most fundamental beliefs we are left with radical Pyrrhonian skepticism as an unavoidable and permanently open possibility« (ebd., 366) Das Bewusstsein der menschlichen Fallibilität ist in praktischer Hinsicht heilsam: »[…] it prepares the mind to adopt an attitude of cautious reflection in common life.« (ebd., 369) 8 Mendelssohns Zitat des mittleren Satzes ist allerdings nicht nur bloß eine stilistische Umstel7
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die Frage um, wie eine »nothwendige Verknüpfung« zweier Gegenstände, wenn sie niemals direkt beobachtet werden kann, etabliert wird. Die Quelle unserer Idee einer kausalen Verknüpfung erschließt sich offensichtlich nicht der direkten Beobachtung und kann schon gar nicht in einem isolierten und auf die Gegenstände der Erfahrung konzentrierten Vorgang entdeckt werden (vgl. Hume/Sulzer 1755, 180 f.). Er muss entsprechend »von demjenigen Umstande entstehen, in welchem die Menge der Beyspiele von einem jedem einzeln Beyspiele unterschieden ist« (ebd.). Dies ist allein die Gewohnheit. Mit der Zurückweisung der Beobachtbarkeit ebenso wie der vernunftorientierten Erschließung des Kausalitätsprinzips (oder ihres Beweises a priori) geht Humes Kritik bis an die Fundamente rationalistischer Welterschließung. Ein Induktionsschluss, der eben nicht aus einem wahren Sachverhalt deduziert, sondern Tatsachen zu einer Schlusskette verbindet, greift auf das Prinzip der Verursachung im Sinne eines ursächlichen und damit begründenden Zusammenhangs der Schlussglieder zurück. Nach Hume wäre es sowohl ein Fehler, die apodiktische Gewissheit dieser Schlusskette in der Vernunft zu suchen, als auch, sie auf eine einzige Erfahrung zu gründen. Den ›revolutionären‹ Aspekt dieses Gedankens fasst Cassirer wie folgt zusammen: »Alles rationale Erkennen führt sich auf den einen Schluß von der Wirkung auf die Ursache zurück; eben dieser Schluß aber ist in sich haltlos und auf rein logischem Wege unbegründbar. Es gibt für ihn nur eine mittelbare Begründung, die darin besteht, daß wir seinen psychologischen Ursprung aufdecken; daß wir den Glauben an die Gültigkeit des Kausalprinzips bis zu seiner Quelle zurückverfolgen. Dann aber zeigt sich, daß dieser ›Glaube‹ nicht in bestimmten allgemeingültigen und notwendigen Vernunftprinzipien gegründet ist, sondern daß er einem bloßen ›Instinkt‹, einem Urtrieb der menschlichen Natur entstammt. Dieser Trieb ist an sich blind; aber eben in dieser Blindheit besteht seine wesentliche Stärke […].« (Ders. 1932, 141 f.) Diese angebliche Stärke kann Mendelssohn nicht zugeben, denn sie würde die Aufgabe lung, wie die Anmerkungen zur JubA I, 638 verzeichnen, sondern lautet in Sulzers Übersetzung: »… und folglich, daß das Gemüth durch kein einziges Ding, so es von ihrer Natur weiß, angeleitet wird, einen solchen Schluß in Ansehung ihrer beständigen und regelmäßigen Vereinigung zu machen.« (Hume/Sulzer 1755, 79 f.) Der von Mendelssohn angeführte Satz scheint eher eine eigene Zusammenfassung zu sein, die sich im Begriffsgebrauch bereits auf S. 68 (»… daß diese Erkenntniß der Ursache und Wirkung in keinem einzigen Beyspiele, durch Vernunftschlüsse a priori erlanget werde…«; vgl. im Original IV.1, 23: »… that the knowledge of this relation is not, in any instance, attained by reasonings a priori….«) und den Anmerkungen Sulzers zum siebten Abschnitt wiederfindet (vgl. Hume/Sulzer, 187 f.). Ein Umstand, der Kuehn 1995, 206 entgangen zu sein scheint, weshalb seine Aussage, diese Formulierung sei »clearly a distortion […but] to a Leibniz-Wolffian it would have appeared as a matter of emphasis. Inferences a priori are just those kinds of mental operations that give us knowledge of the true nature of things. But however that may be, it is interesting that Hume, translated into the Wolffian idiom, sounds like Kant without any help from Kant himself« (Kuehn 1995, 206) neu zu überdenken wäre.
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seiner metaphysischen Grundposition einer auch vom Menschen zu leistenden rationalen Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten des Denkens und Erkennens verlangen. Er muss vielmehr mit Sulzer annehmen, dass Hume den Begriff der Kausalität »für einen leeren Ton […] erklären« (Hume/Sulzer 1755, 183) wolle und damit sämtliche Sicherheit in philosophischen wie alltäglichen Schlussfolgerungen aufhebe, oder dass Humes Beobachtung bloß psychologischer, nicht metaphysisch begründender Natur ist.9 Dass Cassirer hier Humes Begriff der Gewohnheit mit »Trieb« paraphrasiert, ist allerdings problematisch, denn nach Humes Intention ist es nicht notwendig, die Möglichkeit der Wissenschaften und des als sicher geltenden Wissens bloß in eine Folge aus »dunklen Mächten« oder »Begehrungen« aufzulösen. Er spricht vielmehr, etwas neutraler, sondern einem angeborenen Instinkt.10 Vielleicht ist die Wortwahl in der Hume-Übersetzung, die Sulzer herausgab, für eine Psychologisierung seiner Gedanken verantwortlich. Mendelssohns Interpretation von Humes Intention weist jedenfalls in eben diese Richtung. Mendelssohn geht gegen das ›Problem Hume‹ auf verschiedenen Ebenen vor. Zum einen versucht er zu zeigen, dass Humes Ansatz metaphysische Theoreme gar nicht angreife. Darüber hinaus unternimmt er es zum anderen, einen rationalen Beweis der Gültigkeit von »Experimentalschlüssen« vorzulegen, der sich dennoch mit der Tatsache, dass der Mensch mit seinem eingeschränkten Verstand in Hinblick auf Tatsachenwahrheiten nicht a priori allein zu folgern in der Lage und demnach auf eine bestimmte Art der Induktionsschlüsse angewiesen ist, verträgt. Dies bedeutet meines Erachtens auch, dass Mendelssohn Hume dennoch als Philosophen ernst nahm11; wenngleich auch nur im Sinne einer philosophischen Position, die, sind ihre 9
Eine Remineszenz an Wolff: »einer, der die Weltweisheit nicht verstehet, kann wohl auch aus der Erfahrung vieles lernen, was möglich ist: allein er weiß nicht den Grund anzuzeigen, warum es seyn kann. Z. E. er lernet aus der Erfahrung, daß es regnen könne, kann aber nicht sagen, wie es zugehet, daß es regnet, noch die Ursachen zeigen, warum es regnet« (Vorbericht zur Deutschen Logik, § 6) Um die tatsächlichen Ursachen aufzusuchen, so Wolff, sind klare und deutliche Begriffe nötig, die sich auch aus einer oft wiederholten Erfahrung ergeben können (Deutsche Metaphysik, §§ 330 ff.; vgl. Euler 2004, 16 f.); die Grundlage dieser Erkenntnisse liegt jedoch in letzter Konsequenz in Vernunftschlüssen, die nicht auf einer Erfahrung beruhen. 10 Vgl. Enquiry, V.2, 39 f.: »It follows, therefore, that the difference between fiction and belief lies in some sentiment or feeling, which is annexed to the latter, not to the former, and which depends not on the will, nor can be commanded at pleasure. […] belief is nothing but a more vivid, lively, forcible, firm, steady conception of an object than fiction. […] And in philosophy, we can go no farther than assert, that belief is something felt by the mind, which distinguishes the ideas of the judgment from the fictions of the imagination.« (Hervorhebung A.P.). Dass das Urteil nicht mit der Imaginationskraft ineins gesetzt wird, sollte zumindest verhindern, von Hume als einem dunklen Willens- oder Sinnlichkeitsapologeten zu sprechen. 11 Kuehn 1995, 198 spricht etwas missverständlich davon, dass Mendelssohn Hume nicht ernst nahm; dann allerdings hätte sich eine Auseinandersetzung mit ihm von vornherein erledigt.
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Fundamente einmal ausgemacht, nicht mehr gegen diejenige Leibniz’ in Anschlag zu bringen ist, sondern sie lediglich erweitert. Betrachten wir zuerst seinen Ausgangspunkt. Gegenüber Lessing reformuliert er Humes Position in einem Brief vom 19. November 1755: Dieser sage, »man könne nicht beweisen, daß irgend eine Begebenheit in der Welt eine wirkende Ursache hätte.« Er, Mendelssohn »halte diesen Zweifel gar nicht für neu, sondern glaube: es sey das System der allgemeinen Harmonisten.« (JubA XI, 21) Die einzig möglichen Arten, Kausalität zu begründen, sind für Mendelssohn, wie aus seinen Ausführungen deutlich wird, die drei metaphysischen Versuche des Influxus, des Okkasionalismus und der prästabilierten Harmonie. »Da Hume sowohl den Occasionalismus wie, ohne ihn so zu nennen, den Influxismus ablehnte, sah sich Mendelssohn von seinen Denkvoraussetzungen her gewissermaßen gezwungen, in Hume einen verkappten Harmonisten zu vermuten.« (Altmann 1969, 229) Er fasst demzufolge Humes Leugnung der Kausalität als einen Abweis des influxus realis auf – und nimmt an, dass dies eine Bestätigung des influxus idealis zur Folge haben muss und somit Hume gerade keinen neuen Lösungsansatz zu einer altbekannten Frage lieferte. Dabei übersieht Mendelssohn allerdings, dass Hume zwar von einer Art »pre-established harmony« (Enquiry, V.2, 44) zwischen unserer Erfahrung und der Ordnung der Dinge spricht, damit aber nicht ein einheitsstiftendes (›objektives‹) Prinzip, sondern die (›subjektive‹) Macht der Gewohnheit meint. Auch verbindet Hume mit dieser Gewohnheit nicht die bloß psychologische Seite des metaphysischen Zusammenhangs der Dinge (vgl. Kuehn 1995, 212). Dennoch hat Mendelssohn die Provokation der ›blinden‹ Gewohnheit (wie ›blind‹ sie auf dem rationalen Auge ist, wäre zu untersuchen) anscheinend bemerkt, denn ihm schien ein weiterer Argumentationsschritt erforderlich zu sein.12 Es wird in den Gedanken über die Wahrscheinlichkeit deutlich, dass er durchaus nicht mit dem bloßen Hinweis auf die nicht angetasteten metaphysischen Grundlagen auf eine Zurückweisung von Humes Position glaubt verzichten zu können. Vielmehr will er dessen Auffassung widerlegen, dass unsere Erwartung, bei gleichen Geschehnissen gleiche Folgen zu beobachten, nicht rational erklärbar sei, sondern sich der Gewohnheit verdanke13, indem er auf die Argumentationslinie Humes eingeht. Wenngleich Mendelssohns Bestreben ging vielmehr dahin zu zeigen, weshalb man Humes Position nicht als eine eigenständige philosophische ernst nehmen müsse. 12 Dies vermutlich auch in Anschluss an Locke, Essay II, 33, der betonte, dass ein subjektives Gefühl allzu oft Quelle des Irrtums gewesen sei; vgl. von der Lühe 2000, 149. 13 Kuehn 1995, 208. Siehe auch Klemme 2000, X: »The reader of this preface [Mendelssohns Vorrede zu den Philosophischen Schriften, 1761] is left with the impression that Hume was determined to leave the validity of particular causal judgements entirely unjustified.« Die skeptisch geprägte Unterscheidung zwischen wahr und sicher bzw. »verum« und »certum« war auch bei Giambattista Vico 1710 bereits angeklungen, vgl. Proß 1987, 911.
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er ihn also als einen »verkappten Harmonisten« gesehen haben will und seine Zweifel allein im Gebiet der Psychologie gelten ließ, so ist doch sein Wahrscheinlichkeitsaufsatz der Beweis dafür, dass die Gewissheit metaphysischer Wahrheiten auch gegen Einwürfe solcher Art verteidigt werden muss. Um die Gegenposition deutlicher zu machen, sei noch einmal auf eine Bemerkung Humes aus dem vierten Versuch zurückgegriffen: »In a Word, then, every effect is a distinct event from its cause. It could not, therefore, be discovered in the cause, and the first invention or conception of it, a priori, must be entirely arbitrary.« (IV.1, 25)14 Und, wie er im Anschluss daran im fünften Abschnitt resumiert, der Grund für die Sicherheit dieser Gewohnheit liegt in einer »Geneigtheit« (propensity) der menschlichen Natur (vgl. Hume/Sulzer 1755, 107, Enquiry V.1, 36); wann immer etwas geschieht, das wir als Ursache ansehen, erwarten wir die entsprechende Wirkung. Diese Erwartung ist jedoch stärker als eine Erwartung, die an bloße Vermutungen im alltäglichen Wortsinn geknüpft ist. Die Erwartung kausaler Ereignisse ist von diesem bloß psychologischen Moment (so kann man Hume zumindest verstehen) grundlegend unterschieden: »This transition of thought from the cause to the effect proceeds not from reason. It derives its origin altogether from custom and experience. And as it first begins from an object, present to the senses, it renders
14 Vgl. Hume/Sulzer 1755, 73. Die Meinungen darüber, inwiefern Humes Positionen im Treatise und Enquiry übereinstimmen, sind geteilt. Kuehn 2004, 233 ff. spricht von einer Tendenz Humes im Treatise, die Grundlage der »notwendigen Verknüpfung« in der subjektiven Gewohnheit zu sehen, während der Enquiry stärker auf das auch geltende Band zwischen den Dingen verweist, das aber nicht erfahren werden kann. »In der Untersuchung konnte es so aussehen, als beruhe die Kausalbeziehung, wenngleich selbst nicht objektiv, irgendwie auf den Gegenständen selbst.« (Kuehn 2004, 234) Kuehn weist im Folgenden auf eine Teilübersetzung des Treatise durch Hamann (1771 anonym unter dem Titel »Nachtgedanken eines Skeptikers« veröffentlicht) hin, die den Einfluss Humes auf Kant entscheidend prägte. In dieser Übersetzung schließt das erste Buch des Treatise mit einem klaren Hinweis auf die subjektiven Fundamente der Kausalwirkungen. Die Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung liege »nur in uns selbst« und sei nichts als eine »psychische Nötigung«. Einen ersten, alles verursachenden Grund, die »Erkenntnis des ursprünglichen und letzten Prinzips« könnten wir also niemals erreichen. »Hier wird die Frage nach der bloßen Möglichkeit von Metaphysik im Kontext der Erörterung des Kausalprinzips gestellt, und das muß Kant sogleich klar geworden sein […].« (Kuehn 2004, 234) Anhand des hier ausgewählten Zitats lässt sich jedoch zeigen, dass die Hinweise auf eine »bloß« subjektive Gültigkeit des Kausalitätsprinzips im Enquiry stark genug waren, um Denker wie Mendelssohn aufzurütteln. Und dass Mendelssohn für seinen Widerstand einzelne Passagen Humes genügten, wird aus seiner Textauswahl deutlich (er zitiert allein aus dem vierten Versuch, siehe JubA I, 156 f./505 f.). Dabei sei zu beachten, dass seine anschließenden Überlegungen zur Geltung eines einzigen Prinzips hinter allen Erscheinungen und der Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie auf die moralischen Handlungen und die Erwartung der Handlungsweise Anderer aufgrund der Kenntnis ihres Charakters (die eine bestimmte Handlung erwartbar machen) auf seine, wenngleich vielleicht nur oberflächliche, Lektüre des gesamten Enquiry hinweisen. Dass Mendelssohn zwischen dem Treatise und dem Enquiry unterschieden hätte, wird nirgendwo deutlich.
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the idea or conception of flame [when you throw a piece of dry wood into a fire] more strong and lively than any loose, floating reverie of the imagination. That idea arises immediately. The thought moves instantly towards it, and conveys to it all that force of conception, which is derived from the impression present to the senses.« (Enquiry, V.2, 44) Die Erwartung von Kausalität ist also mit der Eindrücklichkeit eines sinnlichen Eindrucks verwandt. In diesem Sinne ist der »Glaube« daran keine Angelegenheit subjektiver Entscheidung, sondern eine Gesetzmäßigkeit, ein unsere Weltwahrnehmung leitendes Naturgesetz. »All these operations are a species of natural instincts [»eine Art des natürlichen Triebes und Instincts«; Hume/Sulzer 1755, 155], which no reasoning or process of the thought and understanding is able, either to produce, or to prevent.« (Enquiry, V.1, 38) Mendelssohn will die von Humes Ansicht etablierte Reihenfolge umkehren: ihmzufolge ist es immer ein Vernunftschluss, der durch die oftmals wiederholte, gleichförmige Erfahrung mit dem rationalen Instrument der Wahrscheinlichkeitstheorie nur bestärkt wird. In der Erfahrung von Begebenheiten, in denen der Grund des Zusammenhangs nicht eingesehen werden kann – wenn sich die Erfahrung als eine Tatsache zeigt, deren Gegenteil als nicht widersprüchlich erscheint – muss, so Mendelssohn, die Vermutung nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit, also nach gerichteter Wiederholung derselben Erfahrung, die Rolle des zureichenden Grundes übernehmen (vgl. JubA I, 158/506). Die Wahrscheinlichkeit der Vermutung erhöht sich von Beobachtung zu Beobachtung, bis sie zur Sicherheit wird. Geht die Anzahl der Wiederholungen ins unendliche, kann daraus sogar, kontrafaktisch gesprochen, Apodiktizität werden.15 Dieser für den Menschen nur virtuelle Zusammenhang zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit ist nur zu erfüllen, wenn von einer durchgängig bestimmten und, von einer allwissenden Perspektive aus, auch nach Gründen bestimmbaren Wirklichkeit ausgegangen wird. Dafür aber muss die Verbindung zwischen Erfahrung und Wissen eine andere sein, als dies bei Hume der Fall ist und bei diesem letztlich zu einem Abweis der ›reinen‹ Vernunftschlüsse bezüglich kausaler Ereignisse führt, weil sie nicht beobachtbar sind. Mendelssohns Weg, die Kausalität über die Wahrscheinlichkeitstheorie zu erklären, muss also über die bloß psychologisch erklärbare oder allein im Subjekt zu konstatierende willkürliche Setzung des Kausalitätsprinzips hinausgehen und greift damit auf metaphysische (ontologische) Prinzipien zurück. Damit ist der Dissens in seiner ganzen Tiefe deutlich: Ebenso wie Sulzer ging Mendelssohn mit Leibniz davon aus, dass die Nichtwahrnehmbarkeit der Kausalwirkung kein Argument gegen seine reale Gültigkeit sein könne, weil als letztbegründetes Prinzip ein metaphysisches Postulat, keine Erfahrungstatsache gelte. 15
In diesem Sinne schließt sich Mendelssohn nur in pragmatischer Hinsicht an die (im Prinzip endlichen) zureichenden Gründe nach Wolffs Auffassung an; Kuehn 1995, 204 sieht hier eine größere Übereinstimmung.
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So sind zwar weite Gebiete menschlichen Wissens lediglich durch die Geltung des Wahrscheinlichkeitskalküls gedeckt, ihre Letztbegründung geschieht jedoch nicht durch subjektive Evidenz, sondern unter Rückgriff auf metaphysische Prinzipien. In einer Mendelssohn zugeschriebenen Rezension zu Garves Ferguson-Übersetzung16, äußert sich der Verfasser (also eventuell Mendelssohn) ebenfalls zum Kausalitätsgesetz und seinen objektiven Grundlagen. Die Stoßrichtung ist dieselbe wie im Wahrscheinlichkeitsaufsatz. Zwar ist die Kausalität bloß beobachtbar; aber ihr wiederholtes Auftreten in Verbindung mit bestimmten »Subjekten«, also den beobachteten Entitäten, lässt einen Schluss auf ihre ursprüngliche Verbindung zu. »Die Natur bietet uns kein Factum dar, ohne daß wir uns dabey ein Subjekt vorstellen, das dasselbe hervorbringt, geschiehet es nun zum wiederholtenmalen, daß wir das Factum, mag es auch ein einfaches seyn, mit dem Subjekt beysammen antreffen, so ist es unbegreiflich, warum nicht von dem Subjekte solte gesagt werden können, daß es dem Gesetze unterworfen sey, dieses Factum hervorzubringen?« (JubA V/2, 160) Gerade dies hatte Hume jedoch infrage gestellt. Wie sieht also die Differenz zwischen Mendelssohn und Hume im Einzelnen aus? Offenbar stimmen beide in folgenden Grundsätzen überein: (1) Wann immer wir einen Fall beobachten, der uns in ähnlicher Form bereits bekannt ist, erwarten wir, dass der aktuelle Fall dieselben Folgen nach sich zieht wie die bereits beobachteten. (2) In der Erfahrung können wir kausale Ereignisse zwar wahrnehmen, nicht aber die Kausalität selbst. Das sich ergebende Paradoxon: ›wir erwarten ein Ereignis, das wir noch nie gesehen haben‹ löst Hume auf mit dem Hinweis auf die Gewohnheit, die allererst eine solche Erwartungshaltung erweckt und schließlich auch (gesetzt, die Erwartungshaltung wird hinreichend oft erfüllt) bestätigt. Er folgert also aus den vorangegangenen Prämissen: (3) Rein aus der Vernunft können wir keine Idee der Kausalität erhalten. (4) Wenn es nämlich aus der Vernunft allein erklärt werden könnte, würden wir keine wiederholte Erfahrung benötigen. (5) Wie aber die Aussagen 1, 2, 3 besagen, benötigen wir gerade eine wiederholte Erfahrung. Also kann Gewohnheit kein Vernunftprinzip, unabhängig von jeglicher Erfahrung, sein.17 Mendelssohn hält dagegen, dass zwar die empirische Rechtfertigung unserer entsprechenden Erwartungshaltung an ein kausales Ereignis (eine Tatsachenwahrheit) tatsächlich von einem Wahrscheinlichkeitskalkül abhängig ist und damit in seinem 16
Erschienen in der Allgemeinen deutschen Bibliothek Bd. 17.2, 1771(unsigniert); zit. nach JubA V/2, 156–73. 17 Diese Argumentationsfolge übernehme ich von Kuehn 1995, 207.
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Ergebnis vom Menschen nicht rein aus der Vernunft vorweggenommen werden kann. Es ist aber – und dies zeige gerade die Möglichkeit, hier ein Wahrscheinlichkeitskalkül zu etablieren – rational begründbar. Wir brauchen wiederholte Erfahrung nicht, um eine Vorstellung der notwendigen Verknüpfung zu gewinnen, sondern um ihre jeweilige Sicherheit zu steigern. Damit reagiert er, wie auch Kuehn (1995, 208) festhält, gegen die von Hume gemachte Folgerung (5): Eine möglichst oft wiederholte Erfahrung soll die Sicherheit des Schlusses stärken, nicht die Art der Verknüpfung (als »Kausalität«) überhaupt erst etablieren. Dies bedeutet aber darüber hinaus auch, und das hat Kuehn so nicht betont, dass die Differenz schon in Prämisse (2) versteckt ist: laut Hume können wir über Kausalität nichts wissen, weil sie nicht direkt, sondern nur über die Gewohnheit, erfahren werden kann. Mehr noch, wie der Schluss von Abschnitt 5 des Enquiry zeigt: es ist gerade vorteilhaft, dass die Vernunft – als eine derart wankende und für Fehlurteile anfällige Instanz – in der Sicherung der Induktionsschlüsse nichts verloren hat; denn diese natürliche Kraft des »Schließens«, oder »Erwartens« von Wirkungen aufgrund der Wahrnehmung einer Ursache und der Gewohnheit ist weitaus sicherer: »As nature has taught us the use of our limbs, without giving us the knowledge of the muscles and nerves, by which they are attracted; so has she implanted in us an instinct, which carries forward the thought in a correspondent course to that which she has established among external objects; though we are ignorant of those powers and forces, on which this regular course and succession of objects totally depends.« (V.2, 45, Hervorhebung A.P.) Mendelssohn lässt die Folgerung: wir können Kausalität nicht direkt erfahren18, also wissen wir nichts von ihr, nicht gelten. Vielmehr fällt für ihn Wissen und Beobachtung auseinander; es ist für ihn legitim, für die letztgültige Absicherung dieses Wissens über das Beobachtbare hinaus- und auf Leibniz’ grundlegende Prämissen, v. a. das Postulat der durchgängigen Bestimmung, zurückzugehen. Die Sicherheit, dass diese spezifische Verbindung zweier disparater Ereignisse gültig ist, darf dann der Erfahrung überlassen werden. Eine ähnliche Position nimmt auch Sulzer in seinen Anmerkungen zur HumeÜbersetzung ein19: Hume übersieht ihm zufolge ein (notwendiges) metaphysisches Moment, was bei der Verbindung der Erfahrungen zu einem allgemeinen Satz vorausgesetzt wird. Mendelssohn hat sich offensichtlich dieser Anmerkung Sulzers zum vierten Versucht des Enquiry angeschlossen: »Es scheint seltsam, daß ein scharfsin18
»In a word, if we proceed not upon some fact, present to the memory or the senses, our reasonings would be merely hypothetical; and however the particular links might be connected to each other, the whole chain of inferences would have nothing to support it, nor could we ever, by its means, arrive at the knowledge of any real existence.« (Enquiry, V.1, 39) 19 Vgl. Hume/Sulzer 1755, 67, Anm. 101. Mendelssohn hatte sich 1776 Hennings gegenüber lobend über Sulzers Hume-Interpretation ausgesprochen, selbst wenn er ihr seine eigenen Gedanken hinzuzufügen müssen glaubte; vgl. Kuehn 1995, 216 f.
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niger Mann, wie Herr Hume, sich diese Frage nicht selbst hat beantworten können. Denn es ist offenbar, daß der Geist im angeführten Falle sich nach den genauesten Regeln der Vernunft richtet. Er bauet alle seine Erwartungen auf den Satz, daß gleiche Ursachen auch gleiche Wirkungen haben müssen; ein Satz der immer im strengsten Sinne wahr bleibt, wenn wir gleich keine einzige Art der Wirkung jemals deutlich einsehen sollten.« (Hume/Sulzer 1755, 99; Hervorhebung A.P.) Wir können die notwendige Verknüpfung nie sehen, doch sie ist qua Vernunftgegebenheit jedem sogleich einsichtig und erweckt allererst das Bedürfnis nach einem Wahrscheinlichkeitskalkül, um diese Vernunftforderung abzusichern. Sollte sich herausstellen, dass die Ereignisse A und B tatsächlich nur zufällig zusammengefallen bzw. aufeinander gefolgt sind, so heißt dies nicht mehr, als dass unsere anfängliche ›Intuition‹ getäuscht hat. Woher kommt aber diese Intuition? »Folgen wir der Darstellung Mendelssohns (und Sulzers), dann scheitert Humes Kausalanalyse mit Notwendigkeit, weil unsere ›Experimentalschlüsse‹ ohne ein rationales oder vernünftiges Moment nicht zu begründen sind. Damit ist aber im Grundsätzlichen das Problem benannt, mit dem sich Kant Anfang der siebziger Jahre auseinandergesetzt hat: Wie sind Verstandesbegriffe auf die Sinnlichkeit in einer Art und Weise zu beziehen, die Erfahrung möglich macht?« (Klemme 1999, 523) Dies war gerade die Frage, die Kant aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt haben soll.20 Mendelssohn war jedoch auf diesem Ohr nahezu taub. Ihm geht es vielmehr darum, die leibnizianischen Prämissen in eine angemessene, die Erfahrungswirklichkeit des Menschen berücksichtigende Form zu bringen. Er versucht deshalb, mit seinem Wahrscheinlichkeitskalkül den psychologischen Mechanismus der Sicherung menschlicher Vorvermutungen zu formalisieren21 und damit die Gültigkeit der Induktionsschlüsse zu sichern, die Hume direkt gar nicht angegriffen, sondern auf ihr epistemologisches Fundament hin befragt hatte. Damit hat Mendelssohn die Frage allerdings in eine bestimmte Richtung gewendet: Ihm geht es zum einen darum, die rationale Basis der Induktionsschlüsse herauszustellen, und zugleich die Sicherheit dieser Induktionsschlüsse über die Wahrscheinlichkeitstheorie zu bekräftigen.
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Die Erweckung aus dem dogmatischen Schlummer ist tatsächlich ein Bild, das Sulzer der Hume-Übersetzung voranstellt (siehe Hume/Sulzer 1755, Vorrede Sulzers, unpag.). Siehe zur Bedeutung Humes für Kants die kritische Wende angeblich initiierendes »großes Licht« Lorne Falkenstein: »The Great Light of 1769 – A Humeian Awakening?«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 77 (1995), 63–79 und Kuehn 2004, 233 ff. 21 Es ist erstaunlich, dass Altmann diesen Lösungsweg, der zwar mit mathematischen Mitteln operiert, jedoch nicht die grundsätzlichen Annahmen der Schulphilosophie leugnet, als »moderner« bezeichnet als Kants. (Altmann 1969, 236) Vielmehr versucht Mendelssohn hier, die kategorische Unterscheidung zwischen Gewissheit und Überzeugung durch Quantifizierung zu vermitteln (vgl. von der Lühe 2000, 151). Nur so ist auch die prinzipielle Gleichsetzung von Vernunft und »gemeinem Menschenverstand« möglich (vgl. JubA III/2, 33 f., 50).
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Kuehn kommt in seinem Essay zu Hume und Mendelssohn zu einem ähnlichen Ergebnis: »[…] I think he viewed Hume primarily as denying that inductive inferences could be rationally justified. To use somewhat anachronistic terminology, he viewed Hume as a skeptic about philosophical justification. He [Mendelssohn] never tried to show that induction is possible, but only how it can be explained by reason.«22 Damit verortet Mendelssohn zum einen Humes Zurückweisung des Kausalitätsprinzips allein auf der psychologischen Ebene. In metaphysischer Hinsicht könne Humes Begriff der Gewohnheit nichts austragen, da er die Relevanz der rationalen Rechtfertigung falsch einschätzt. Zum anderen versucht Mendelssohn zu zeigen, dass eine vernünftige Induktion (im Gegensatz zu einer instinktiven) möglich ist. In seiner Sicht musste allein die Prämisse, dass aus der Vernunft allein sich niemals eine Erkenntnis (hier: der Kausalität) ergeben kann, wenn es an einer entsprechenden Erfahrung (im Sinne einer Beobachtung) fehlt, als eine Zurückweisung sämtlicher vernünftiger Prinzipien gelten, auf die sich die rationale Herleitung von Kausalität stützt. Induktionsschlüsse, in denen prima facie kein Grund für eine notwendige Verknüpfung einzusehen ist, können eine (nahezu) notwendige Geltung nur erlangen, wenn zumindest die Gesetzmäßigkeiten der Schlussfolgerungen a priori gesichert sind. Ansonsten wäre, so Mendelssohns Befürchtung, der Mensch tatsächlich auf den ›blinden‹ Beweis durch Gewohnheit allein angewiesen. Dass viele Vernunftschlüsse falsch sein können, sieht er dabei ebenfalls ein. Dies ist jedoch für ihn kein Argument gegen die Vernunft, sondern gegen die menschlichen Schranken beim vernünftigen Folgern. Letztlich also scheint ihm die Quelle des Notwendigkeitsbegriffs zur Strukturierung menschlicher Wahrnehmung nicht fraglich: Sie liegt nicht in der Erfahrung, sondern ist über die Postulate der durchgehenden Verknüpfung aller Tatsachenwahrheiten nach dem Satz vom zureichenden Grunde bzw. aller Vernunftwahrheiten durch den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch in der Vernunft auszumachen. Die Geltung der Induktionsschlüsse wird durch die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht etabliert, sondern abgesichert. Diese Absicherung ist nur nach menschlichen Gesichtspunkten notwendig und betont so den Zugriff, den Mendelssohn über die Fokussierung auf den Menschen auf die metaphysischen Grundsätze Leibniz’ hat. Mit der Anwendung der Wahrscheinlichkeitsformel w = 1 / n + 1 (wenn n gegen unendlich, dann wird die Wahrscheinlichkeit zur Notwendigkeit23) will Men22
Kuehn 1995, 208. In eine ähnliche Richtung geht auch Bamberger, JubA I, XXV: »Er [Mendelssohn] beachtet dabei ausschließlich die Wendungen Humes, die den Anschein erwecken, daß sich seine Kritik nur gegen die Erkennbarkeit der konkreten Erfahrungszusammenhänge richtet und übersieht, daß ihr eigentlicher Gegenstand die Begründbarkeit des Kausalprinzips als der Grundlage aller Erfahrungserkenntnis ist.« 23 »Denn da nach dem wahren Begrife, den uns die neuren Weltweisen, von einem eintzelnen Dinge geben, ein individuum von allen Seiten vollkommen bestimt seyn muß, und da die Bestim-
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delssohn zeigen, dass die Wiederholung der Erfahrung die Sicherheit einer kausalen Verknüpfung immer wahrscheinlicher macht: »Je öfter wir also die Erfahrung angestellet, desto näher kömmt unsere Erwartung zur Gewißheit, und wenn n unendlich wäre; so wären wir vollkommen überzeugt. Unsere Experimentalschlüsse haben also einen sichern Grund darauf sie sich stützen. Wir kommen durch öfters wiederholte Erfahrungen, und durch das glaubwürdige Zeugniß anderer, die eben diese Erfahrungen angestellt haben, der mathematischen Evidenz immer näher, ob es gleich ausgemacht ist, daß wir sie selbst[…] niemals vermittelst der Erfahrung erreichen können.« (JubA I, 160, Hervorhebung A.P.24) Mendelssohn gründet mit diesem Modell einer Annäherung an göttliches Wissen die Gültigkeit des Wahrscheinlichkeitskalküls für die Sicherung menschlichen Wissens auf Prämissen, die Hume gerade bezweifelt.25
mung des gantzen aus der Bestimmung aller seiner Theile besteht; So müßen nothwendig alle Theile eines individuvi von allen Seiten vollkommen determiniert seyn, und so lange das mindeste in ihnen noch unbestimt ist; so lange gehört das gantze noch zu einem Geschlechte, und kan also noch nirgend als in unsern Begrifen wirklich seyn.« (Bemerkungen zu »Über die Empfindungen« und zu den »Philosophischen Gesprächen«, JubA I, 222) Mendelssohn liegt mit dieser Formel – allerdings ohne mathematisch validen Beweis – nah an der sogenannten »Bayes-Laplaceschen Lösung« von 1763: n + 1 / n + 2 (vgl. Lausch 2000, 133 f. m.w.Vw.) 24 Ebenso ist, so Mendelssohn, durch die Erfahrung nicht zu ermitteln, welches metaphysische System zur Begründung der Kausalität wirklich zutrifft; wahrscheinlich sei jedoch, für alle Geschehnisse letztlich einen einzigen Grund anzunehmen. Mendelssohns Übertragung der Wahrscheinlichkeitstheorie in die Metaphysik ist jedoch wenig überzeugend (vgl. JubA II, 160 ff.) und stellt strenggenommen einen Kategorienfehler dar. Der Grund, weshalb er im Zuge der Wahrscheinlichkeitstheorie auf diese Frage zu sprechen kommt, liegt wiederum in seiner Hume-Lektüre begründet, der im VII. Versuch auch diejenigen »Weltweisen« angreift, die sich irgendwelche Schlüsse auf die göttliche Wirkungsweise erlauben. Mendelssohn meint hier, den Occasionalism als Gegner ausgemacht zu haben (siehe oben); scheint aber zugleich auch zu bemerken, dass Humes Angriff generell gegen die Erklärungsversuche göttlicher Weltordnung gehen (siehe Hume/Sulzer 1755, 167–71). 25 »Though Mendelssohn did not reject Hume on a simple misunderstanding, he does ignore Hume’s own reasons for particular causal judgements as developed in later sections of the Philosophical Essays, and therefore bases some of his arguments on premises that Hume found most questionable.« (Klemme 2000, X) Eine solche fragwürdige Prämisse benennt Kuehn 1995, 213 (dort mit Rückgriff auf Humes Äußerungen im Treatise, aber eine ähnliche Passage findet sich auch im Abschnitt 11 des Enquiry), denn Hume betont, dass es keine überzeugenden Gründe für die Annahme einer individuellen Substanz als Grundlage rationaler Gesetzmäßigkeiten gibt. Im siebten Abschnitt heißt es über die Vorstellungen der Verbindung von Seele und Körper bzw. Erkennen und Wollen: »It appears, that, in single instances of the operation of bodies, we never can, by our outmost scrutiny, discover any thing but one event following another; without being able to comprehend any force or power, by which the cause operates, or any connexion between it and its supposed effect. The same difficulty occurs in contemplating the operations of mind on body; where we observe the motion of the latter to follow upon the volition of the former; but are not able to observe or conceive the tye, which binds together the motion and volition, or the energy by which the mind produces this effect. The authority of the will over its own faculties and
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In der Folgezeit wurde Mendelssohns Hume-Interpretation durchaus nicht unbeachtet gelassen. Noch 1771 griff Marcus Herz in seinen Betrachtungen aus der speculativen Weltweisheit auf sie zurück, und zwar unter Hinweis auf den Beweis der Gültigkeit des Satzes vom zureichenden Grunde. Dieser sei nämlich nur mithilfe der Erfahrung aufzufinden, was nicht bedeute, dass er deshalb keine Fundierung in der Vernunft habe: »Wenn ich aber auch, nachdem der Begriff eines Grundes einmal gegeben ist, den Satz, daß nichts ohne zureichenden Grund sei, als eine ewige Wahrheit zugebe, so muß ich doch gestehen, sobald ich die Art bedenke, auf welche wir zu diesem Begriff gelangen, daß die Erfahrung mit der einzige Weg zu sein scheint, welcher uns zu demselben führt.« (Herz 1771, 72) Dass diese durch die Erfahrung aufgefundene Wahrheit dennoch »ewig« sei, dazu sei er, Herz, »durch die weit philosophischeren Gründe eines Mendelssohn völlig in Sicherheit gesetzt« (ebd.). Es ist schließlich Kant, der die Argumentation Mendelssohns nicht mehr gelten lassen will, sich jedoch letztlich ebenso wenig als Humeaner bekennt. Doch dessen Hume-Interpretation konnte Mendelssohn, der sich mit seiner Zurückweisung Humes im Wahrscheinlichkeitsaufsatz offensichtlich zufrieden gab, nicht mehr nachvollziehen. Der Beweis der Richtigkeit unserer Experimentalschlüsse war auch deshalb nötig, um damit zugleich, wie sich auch in der Evidenzschrift zeigt, die »moralische Notwendigkeit« zu retten.26 In dieser Hinsicht richtet sich Mendelssohn in seinem ideas is not a whit more comprehensible: So that, upon the whole, there appears not, throughout all nature, any one instance of connexion, which is conceivable by us.« (Enquiry, VII.2, 58) Gerade den letzteren Beweis »concerning the weakness and narrow limits of human reason and capacity« (ebd., 59) hat Mendelssohn mit Leibniz schlicht zurückgewiesen, da Hume auch die Idee der Kraft (siehe die dort eingefügte Fußnote, 59) aus den angegebenen Gründen auf eine »customary connexion« reformuliert. Mendelssohn scheint jedoch, wie bereits erwähnt, den Treatise und vielleicht sogar den Enquiry nicht in Gänze gelesen zu haben und sah auch in den späteren Auflagen der Wahrscheinlichkeitsschrift in den Philosophischen Schriften keinen Grund für eine Revision seiner Position. 26 Kuehn 1995, 203 vermutet allein psychologische Gründe, weshalb Mendelssohn zwei so disparate Themen wie das Kausalitätsproblem und die Willensfreiheit in einem Aufsatz zu behandeln: er wollte damit wohl Hume und Leibniz als wichtige Positionen der Zeit erfassen. Nun ist natürlich klar, dass Mendelssohn sich nicht an Humes Handlungs- und Motivationstheorie, wie er sie bspw. im achten Versuch des Enquiry anspricht, anschließen konnte, da dieser allein Leidenschaften als handlungsauslösende Momente gelten lässt (Hume/Sulzer 1755, 196 f.). Allein die Verbindung zwischen der kausalen Verknüpfung physischer Ereignisse und der Verknüpfung der psychischen Ereignisse durch ein Band der Gewohnheit mussten Mendelssohn auffordern, sich ebenfalls im gegebenen Rahmen zu diesem Bereich zu äußern. Interessant ist die Verbindung von Freiheit und Notwendigkeit in der Zuschauerperspektive: Jemand fühlt sich frei (jedoch ist seine Handlung allzu oft von der bloßen Leidenschaft, sich als frei zu erweisen, gespeist), doch der Beobachter kann seine Handlungen auf seine Charaktereigenschaften, Gewohnheiten etc. zurückführen (Fußnote im achten Versucht, Hume/Sulzer 1755, 215 ff.). Die Macht der Gewohnheit nimmt bei Hume die Stelle ein, die Mendelssohn mit der Macht des Grundes besetzen möchte, und dabei allerdings
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Aufsatz auch gegen Baumgarten und dessen Auffassung der Willensfreiheit, wobei er – interessanterweise nahe an Hume (siehe dessen achten Versuch, der Freiheit und Notwendigkeit miteinander verbindet) – wiederum mithilfe seiner Wahrscheinlichkeitstheorie operiert. Leider ist zu dieser Streitigkeit wenig Material vorhanden. Zwar wurde sie brieflich ausgetragen, doch die meisten diesbezüglichen Schreiben sind verschollen.27 Mendelssohns Ansicht von der Determiniertheit der sogenannten »freywilligen Entschliessungen« werde ich mich im Teilkapitel III.2 zuwenden. Um die Sicherheit menschenmöglichen Wissens genauer zu umreißen, war allerdings auch eine Spezifizierung der Teilbereiche und der in ihnen anwendbaren Methoden vonnöten. Dies unternahm Mendelssohn in seiner Evidenzschrift, die das Projekt einer Ermittlung und Verbesserung der Praktikabilität und Eingängigkeit theoretischer Gehalte abschließen sollte.
2. Krise des Wissens? Mit der in den Gedanken über die Wahrscheinlichkeit formulierten Rettung der Vernunft vor dem ›Skeptiker‹ Hume hatte Mendelssohn den Verfall des Ansehens der rationalistischen Metaphysik nicht nachhaltig aufhalten können, wie er im 20. LB vom 1. März 1759 (JubA V/1, 11 ff.) beklagt. Die Königin der Wissenschaften sei »zu den niedrigsten Mägden« heruntergestoßen und verächtlich geworden; bald würden gar so modische Philosophen wie Crusius28 allein den Ton angeben. Dennoch ist sich Mendelssohn einer Problematik der Schulphilosophie bewusst: die Anwendung der »mathematischen«29 Methode in der Philosophie war in Verzwischen psychologischen Tatsachen (dass die Gestalt des Grundes auf seine motivationale Kraft Einfluss nimmt) und metaphysischen Prämissen (eine Handlung, für die ich keinen guten Grund anführen kann, ist nicht freiwillig) unterscheiden muss. Siehe dazu Kap. III.2. 27 Allerdings scheint sich die Thematik deutlich von der Erkenntnistheorie in die Theologie verschoben zu haben. »Mendelssohn hatte mit Entsetzen erkennen müssen, daß ihm in Baumgarten nicht der Philosoph, wie er erwartet hatte, sondern ein orthodoxer Theologe entgegentrat.« (Bamberger, JubA I, XXVI) Dies entspricht auch seiner Einschätzung von Baumgarten (und Leibniz, wie Mendelssohn in seiner Sache Gottes festhält; vgl. Kap. V.1) als einem Verteidiger des Christentums mit der »allersubtilsten Metaphysik«; vgl. seinen Brief an Bonnet vom 9. Februar 1770, JubA VII, 319. 28 Siehe dessen Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis (Leipzig 1747, 21762); Damit verfolgte er das Programm seines Lehrers Adolf Friedrich Hoffmann. In dessen Vernunftlehre (Leipzig 1737) ging dieser mit den §§ 13–21 bereits gegen Wolffs »Mathematizismus in der Metaphysik« (Altmann 1969, 253) vor. Mendelssohn besaß Crusius’ Entwurf der nothwendigen Vernunftwahrheiten, wofern sie den zufälligen entgegengesetzt werden, Leipzig 1766 (Bücherverzeichnis 244/31), äußert sich aber ansonsten kaum zu ihm. 29 Beziehungsweise der Abhandlungsmethode more geometrico oder schlicht scientifica; vgl. die Titelwahl der lateinischen Schriften Wolffs.
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ruf geraten. Seine Evidenzschrift ist vor diesem Hintergrund als eine Verteidigung eben dieser ›Schulphilosophie‹, aber auch deren leibnizianischer Grundlage zu lesen. Leibniz hat die rationalen Prinzipien als die Grundlage der Philosophie und der Welterklärung in einer holistischen Theorie des Wissens begründet. Dies erlaubt es, die philosophische Methode als analytisch zu kennzeichnen30, sogar so weit, dass sich die Analysis aus dem Begriffspaar Analysis-Synthesis für einige Jahre der Aufklärungsepoche derart verselbständigte, dass von Analyse im Sinne einer Aufklärung und Entwicklung der Begriffe gesprochen, jedoch nicht mehr nach ihrer Zusammenführung und deren Gesetzmäßigkeiten gefragt wurde. Unter Rückgriff auf Leibniz und der Berücksichtigung des Vorangegangenen ist zumindest in Bezug auf Mendelssohn davon auszugehen, dass der Analyse durchaus ein sinnstiftendes Bild des Ganzen voranging. Die Analyse ent-wickelt lediglich das, was das metaphysische Denkmodell einer durchgängig bestimmten Welt voraussetzte. Die Richtung von Mendelssohns analytischem Blick ergibt sich vor diesem Hintergrund aus der Konzentration auf den Menschen und die ihm angemessenen Modi des Wissens. Wie verhält sich ein begrenztes und unvollkommenes Wesen zur Weltharmonie, wie klärt es seinen eigenen Standpunkt auf, wie weit kann es zur (theoretischen und praktischen) Bestimmung seiner selbst gelangen?31 Zur Beantwortung dieser Fragen geht Mendelssohn in seiner Evidenzschrift also – zumindest indirekt – auf die grundlegenden Prinzipien von Leibniz’ analytischer Urteilstheorie32 zurück: das Prinzip des ausgeschlossenen Widerspruchs, das in sich
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Vgl. Engfer 1982, 27 f. und Arndts Einleitung in Wolffs Deutsche Logik, 68 f., der dies in Rekurs auf das leibnizianische in-esse-Prinzip reformuliert: die synthetische Einheit ergibt sich erst, wenn eine synthetische Beziehung »zwischen dem Einfacheren (Prädikatsbegriff) und dem daraus Zusammengesetzten (Subjektsbegriff)« angenommen wird. Die analytische Tradition der Aufklärungszeit erklärt sich damit nicht (oder nicht allein) als Bezugnahme auf die empiristischen Strömungen, sondern ebenfalls durch analytische Ansätze bei Descartes, Leibniz und Wolff (vgl. ebd. 15). 31 Der Terminus der Selbstbestimmung, der sich hier anböte, wird wegen der in der philosophischen Debatte eindeutig an Kants praktische Philosophie angeschlossene Bedeutung vermieden. 32 Zur Entwicklung der Leibnizschen Auffassung der Einheit, die durch den SvG repräsentiert wird vgl. Engfer 1982, 176–79 und 209–18. Das nicht-aggregative Verständnis der Monade, in deren Begriff vielmehr auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthalten sind, ist ihm zufolge eine Errungenschaft der späteren Schriften um die Monadologie. Die Voraussetzung für die befriedigende Anwendung der Analyse ist also der metaphysische Punkt des »unum per se«: die vollständige Bestimmung einer Sache, ihre Realität, ist die Entfaltung aller ihr zukommenden Attribute. Damit ist die Verbindung zwischen Mathematik und Metaphysik vollständig. Das Weltgesetz, »nach dem die Veränderungen der Perzeptionen der Monade auseinander folgen, aber ist für den Menschen nicht erfaßbar: er hat von sich selbst keinen vollkommenen Begriff, denn dies schlösse ein, daß er das ganze Universum vollkommen erkennen würde, was nur Gott kann. Das menschliche Erkennen ist vielmehr auf das Konstatieren der einzelnen Zustände angewiesen,
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zugleich das Prinzip der Identität und das des ausgeschlossenen Dritten enthält (vgl. Engfer 1982, 184 f.), und das Prinzip des zureichenden Grundes. »Die Natur des wahren Satzes besteht […] in der formalen Identität von Subjekt und Prädikat« (ebd., 185) und – gemäß dem Grundsatz »nihil est sine ratione« – in der Begründung dieser Verbindung. Die Analytizität des Urteils gilt, zumindest gemäß Leibniz’ Monadenkonzeption, nicht nur für die notwendigen, sondern auch kontingenten Wahrheiten; jedes Individuum ist in allen seinen Attributen vollständig bestimmt (in-esse). Dass wir dies nicht vollständig sehen, liegt nicht am Urteil, sondern dem Urteilenden.33 Die Analyse der Tatsachenwahrheiten geht also nach denselben Prinzipien geordnet ins Unendliche, und ist deshalb generell nicht fassbar. Auch Gott kann die Tatsachenwahrheiten nicht in dem Sinne »erkennen«, wie die nach dem SvW geordneten, notwendigen Wahrheiten (Vernunftwahrheiten), sondern er kann durch die die Monade in der Vergangenheit und Gegenwart bestimmt war oder ist, ohne genau zu wissen, wie und aufgrund welcher Gesetzlichkeit der eine Zustand auf den anderen folgt.« (Engfer 1982, 217) Es ist jedoch nicht recht ersichtlich, weshalb der Mensch nicht zumindest von grundlegenden logischen Prinzipien ausgehen können sollte; Engfer schränkt diese menschliche Schwäche im Folgenden jedoch auf die Unkenntnis »genetischer Definitionen« ein, die der Mensch allein in der Geometrie hätte. Mendelssohn wählte allerdings in seinem Werk die grundlegenden logischen Prinzipien als Ausgangsbasis für jegliche menschliche Erkenntnis. 33 Vgl. Engfer 1982, 185 f. Zum in-esse-Prinzip siehe bspw. Abschnitt 8 des Discours de métaphysique (1686), Hauptschriften II, 350 (vgl. Einleitung Cassirers im Bd. I, LXXIV und Arndts Einleitung in Wolff, Deutsche Logik, 67): Der Subjektsbegriff kann nicht gedacht werden, ohne nicht zugleich auch seine Prädikate mitzudenken, was natürlich zumeist im verworrenen, oder gar dunklen Modus geschieht. Zur Geltung des in-esse-Prinzips (als einer grundlegenden Funktion der Monadenkonzeption) siehe Winfried Lenders: »The Analytic Logic of G.W.Leibniz and Christian Wolff: A Problem in Kant Research«, in: Synthese 23 (1971), 147–53; Hans Werner Arndt: »Einführung in Wolffs Deutsche Logik«, in: Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes. Hg. von Hans Werner Arndt. Hildesheim 1965, 7–102; Ders.: »Rationalismus und Empirismus in der Erkenntnislehre Christian Wolffs«, in: Christian Wolff, 1679–1754. Studien zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hg. von Werner Schneiders. Hamburg 1983, 31–47; Ders.: »Die Logik von Reimarus im Verhältnis zum Rationalismus der Aufklärungsphilosophie«, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus. Hg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski. Göttingen 1980, 59–74; Hans-Jürgen Engfer: »Die Urteilstheorie von H. S. Reimarus und die Stellung seiner Vernunftlehre zwischen Wolff und Kant«, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung, 33–58. Wie stark sich die Ansichten Leibniz’ und Wolffs unterscheiden, ist umstritten; vgl. Cassirer 1932, 36–45, bes. 44: Mendelssohn folgte Wolffs Bestreben, den Satz vom zureichenden Grund in den des Widerspruchs aufzulösen, nicht (v. a. um die Möglichkeit einer freien Wahl nach zureichenden Gründen, also gemäß des Wohlwollens, und nicht gemäß der logischen Anforderung nach Vermeidung von Widersprüchen zu erhalten), sondern blieb (oder wurde) in seiner Präverenz Leibnizianer. Zumeist ist jedoch festzuhalten, dass ihm tiefgreifende Unterschiede der beiden Denker kaum bewusst waren, er sie aber auch nicht als eine starr zusammengehörige »Schule« begriff. Ich werde im gegebenen Kontext auf die Möglichkeit, Mendelssohns Ansicht eher der einen oder anderen Auffassung zuzuordnen, kennzeichnen, an anderer Stelle jedoch pauschal auf beide als mögliche Quellen von Mendelssohns Ansichten verweisen.
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sie »schauen«.34 Sie ergeben sich aus der Natur der Dinge nur, wenn diese als generell nach dem SvG geordnet gedacht werden. Für den Menschen dagegen – und dies hat Baumgarten ausformuliert – gewinnt die möglichst umfassende Erkenntnis des Kontingenten eine ästhetische Qualität.35 Man kann es in Hinblick auf Mendelssohn auch so formulieren: zwischen den Bereichen des metaphysischen und empirischen Wissens bezüglich der Vernunft- und der Tatsachenwahrheiten steht letztlich eine anthropologische Schranke. Der interne Zusammenhang der Welt der Tatsachenwahrheiten ist nicht anders zu beschreiben als durch den Satz vom zureichenden Grund. Von einer göttlichen Perspektive aus, in der sich die unendliche Kette der begründenden Glieder einer Tatsachenwahrheit durchaus erschließen, fällt in der Welt das Zufällige und das Notwendige zusammen: jedes Ereignis in der Welt ist zureichend bestimmt, sein Gegenteil widerspräche einer vernünftigen (›besten‹) Welteinrichtung. Dabei bleibt die Trennung zwischen Vernunft- und Tatsachenwahrheiten dennoch erhalten, da die Geltung der Tatsachenwahrheiten der moralischen, diejenigen der Vernunftwahrheiten der geometrischen Notwendigkeit folgt (vgl. Leibniz, Theodicée, Discours préliminaire, 34). Aber: für die menschliche Erkenntnis gilt diese göttliche Perspektive nicht; sie ist in Anbetracht der Tatsachenwahrheiten auf eine (möglichst zureichende) Akkumulation von Gründen beschränkt. Göttliches Wissen kann ein begrenzter Geist nicht haben, und doch beruft er sich auf es in der Absicherung der Prinzipien seines Wissens. Eine Begründung dieses Prinzips ist nur metaphysisch, nicht anthropologisch zu haben und fällt deshalb aus dem gegebenen Untersu34 Siehe Leibniz, De Libertate, in: Hauptschriften II, 659: »Gottes Schauen darf man sich aber nicht als eine Art Erfahrungswissen vorstellen, wie wenn er in äußeren, von ihm selbst verschiedenen Dingen etwas ›erschaute‹, sondern als eine Erkenntnis a priori, die die Gründe der Wahrheiten erfasst. Denn er erblickt die Dinge, soweit seine Natur in Betracht kommt, in ihrer reinen Möglichkeit; wirklich aber werden sie durch einen hinzutretenden Akt seines freien Willens und seiner Beschlüsse, deren erster dahin geht, alles in der besten Weise und mit der höchsten Vernunft zu tun.« 35 Baumgarten, Kollegnachschrift, § 478 »Man lernet sehr oft nicht einmal, was wahr ist, und fordert es doch immer von andern, ohne es selbst zu wissen. Wir erkennen etwas als wahr, wann wir es demonstrieren können; dies Reich ist aber sehr enge und erstreckt sich nur auf die allgemeinen Wahrheiten, […] Das andere, was wir als wahr erkennen, sind Erfahrungen; aber man denke wieder, wie schlecht Erfahrungen beobachtet werden, sie sind nicht genau wahr. […] im schönen Denken habe ich immer allgemeine Sätze nötig, aber es sind solche, wo die wissenschaftliche Demonstration schon lange aufgehört hat. […] Wir können also nicht allein wahr nennen, was demonstriert ist; es sind noch mehr Dinge, die man nicht überzeugend erkennet, die aber der schöne Geist demnach setzen muß. Hieraus fließet, daß er wahrscheinlich denken muß: das ist, daß er Dinge setzen muß, darin ein gewisser Grad der Wahrheit ist, welche aber doch nicht gewiß wahr sind, sondern ohne merklichen Widerspruch wahr scheinen.« Dieses Menschenbild des »felix aestheticus« betont den sinnlichen Zugang des Menschen zur Welt; daran schien Baumgarten ein größeres Interesse zu nehmen als an Fragen der Ontologie. Dementsprechend beschreibt er laut Groß 2001, 168 in der Aesthetica »Prozesse der Sinnbildung, die sich zwischen den Menschen und ihren Umgebungen vollziehen und gestalten.« Mendelssohn hat diesen Faden aufgenommen.
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chungsrahmen heraus, ohne dass Mendelssohn es als grundlegendes Prinzips seiner Philosophie aufgegeben hätte. Es ist vielmehr im Hinblick auf die Bestimmung des Menschen wichtig, »das Maas der menschlichen Kräfte [zu] kennen« (an Lessing, 29. November 1770, JubA XII/1, 238), wie er es in Anschluss an Lockes Essay (IV, Kap. III, 22) formuliert, und also die Vernunftprinzipien auf die menschlich erfassbaren Inhalte anzuwenden. Mit etwas anderen Vorzeichen war in dieser Hinsicht Wolffs Ansicht zum menschlichen Wissen belegt. Ihm ging es nicht um eine bloße Popularisierung Leibniz’, sondern um »eine streng an der Erfahrung ausweisbare, methodisch abgesicherte Neubegründung der Philosophie« (Schwaiger 2000, 49). Diese suchte er auf dem Weg zu einer verbesserten philosophischen Methode zu erreichen: das logischmathematische Vorgehen sollte auch die Religion und Moral zur Gewissheit und Evidenz bringen.36 Auch er orientierte sich an Locke: wenn etwas ›schon immer‹ unbekannt war, so heißt dies nicht, dass es prinzipiell unerkennbar sein muss. Deshalb muss Philosophie die Grenzen festsetzen zwischen dem, was möglich, und dem was unmöglich zu erfahren ist. Dementsprechend definierte Wolff Philosophie als »Wissenschaft von allen möglichen Dingen als solchen« (»Philosophiam ego definire soleo per rerum omnium possibilium, qua talium, scientiam.«; so in der Vorrede zu Aerometriae elementa (1709), unpag. (erste Seite); auch in der Deutschen Logik 1713 u. ö.): der Bezugsrahmen ist der Nachweis dessen, was möglich ist. Dabei zeige sich in der Annäherung an ein möglichst vollständiges Wissen – und hier begegnet uns eine Quelle von Mendelssohns Auffassung – die menschliche Vollkommenheit durch ihr unaufhörliches Bemühen um eine immer deutlichere Einsicht, also durch ihr Bestreben, sich zu vervollkommnen. Die Wissenschaft definiert Wolff als die Fähigkeit, das Mögliche als solches erklären und beweisen zu können: sie ist »eine Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun.«37 Dabei verfolgt er in allen Bereichen ein an der Logik des Zusammenspiels von Begriff – Urteil – Schluss (notio/idea – judicio – ratiocinatio) orientiertes Vorgehen auf drei Ebe36 »Die Art und Weise, aus den gesetzten Gründen zu schliessen, ist keine andere, als die längst in allen Büchern von der Logica oder Vernunft-Kunst beschrieben worden. Es sind die Beweise oder Demonstrationes der Mathematicorum nichts anders, als ein Haufen nach der Regeln der VernunftKunst zusammengesetzter Schlüsse.« (Wolff, Kurtzer Unterricht von der Mathematischen Lehrart (1710), § 45). Mit der Zurückführung aller Erkenntnis auf die Prinzipien der Logik lässt sich schließlich auch die Moral ohne Offenbarung erweisen (1721 »Rede über die praktische Philosophie der Chinesen«), eine Ansicht, die Wolff in größte Schwierigkeiten brachte. Siehe zur mathematischen Methode und ihrer Bedeutung für das Verständnis der Philosophie Wolffs die Einleitung zu I. Abt., 9 Bd. Wolffs Gesammelter Werke von Hans Werner Arndt, Hildesheim u. a. 1973, VI, sowie ebd., VII zur Debatte über die Prorektoratsrede (dazu auch Buschmann 1989b, 78 f.). 37 Wolff, Deutsche Logik Vorbericht, § 2. Im Discursus praeliminaris, § 30 als eine »Fertigkeit, seine Behauptungen zu beweisen« (»habitus asserta demonstrandi«) beschrieben.
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nen: Definition, Demonstration, Deduktion. »Bündig zusammengefasst erfordert das methodische Vorgehen der Wissenschaft, alles deutlich zu erklären, gründlich zu erweisen und ordentlich miteinander zu verknüpfen.«38 Die Sicherheit gewinnt sein System nicht zuletzt dadurch, dass Wolff die leibnizsche Gleichwertigkeit primärer und sekundärer Qualitäten aufgibt39, und hinsichtlich der logischen Anwendung des Prinzips vom zureichenden Grund, mit Leibniz, dessen bloß eingeschränkte Funktion betont: nicht die durchgängige Bestimmtheit aller Dinge ist anzuzeigen, sondern es muss darzulegen sein, welche Prädikate zureichen, um die essentialia eines Gegenstands (bzw. Sachverhalts) zu erfassen. Zugleich spricht aus dieser Entscheidung auch eine Einschränkung der Metaphysik: mit ihr ist die Realität nicht mehr vollständig individuell erfassbar, sondern allein die der Typen und Arten.40 Virtualiter ist eine völlige Bestimmtheit aller Erfahrungsaspekte möglich; realiter allerdings genügt die zureichende Evidenz des Wahrscheinlichen. Mendelssohns Wahrscheinlichkeitstheorie geht auf diesen Aspekt zurück. Wolffs Ansicht einer, vereinfacht gesprochen, Mathematisierbarkeit des Erkennens nimmt jedoch wenig Rücksicht auf den psychologischen Aspekt der Evidenz: Wahrheit muss aber, so Mendelssohn, nicht nur erwiesen sein, sondern auch überzeugen; sonst gerät sie in die Probleme, der sich die wolffische Philosophie in der Mitte des 18. Jahrhunderts ausgesetzt sah und die zur Formulierung der Preisfrage von 1761 führten.41 Für Mendelssohn kam die Problematik der Erfassbarkeit des Individuums und seiner Leidenschaften als des Protagonisten der (auch verständigen) Vervollkommnung erschwerend hinzu. Dieser letztgenannten Problematik sind alle drei Teilkapitel III. gewidmet. 38
Schwaiger 2000, 57, vgl. Engfer 1982, 237. Beide unter Rückgriff auf Wolff, Deutsche Logik
§ 20. 39
Vgl. Logica §§ 60, 64 ff.; am explizitesten in der Deutschen Logik § 48: »Mit dem Veränderlichen haben wir bey den Erklärungen nichts zu thun, sondern es kommet hier bloß auf das Beständige an.« Vgl. Engfer 1982, 248 f. 40 Vgl. Ontologia § 143, Logica § 70, sowie Deutsche Metaphysik § 33: das »Wesen« eines Dinges ist dasjenige, »wodurch es in seiner Art determiniret wird.« In den Meditationes hat auch Leibniz den Ausdruck »zureichend« in diesem Sinne verwendet: dort ist eine zureichende Nominaldefinition diejenige, die die Merkmale benennt, die hinreichen, einen Gegenstand von einem ähnlichen zu unterscheiden (vgl. Hauptschriften I, 10) Vgl. zu den unterschiedlichen Konzepten des Zureichenden bei Leibniz und Wolff Engfer 1982, 249. Dass mit Wolffs Auffassung auch tiefgreifende Unterschiede im Konzept der Monade (und der prästabilierten Harmonie) einhergehen, sei ebenfalls erwähnt. Wolff hat sich für diese Aspekte jedoch nicht vordringlich interessiert. 41 Die Frage vom 28. Mai 1761 (für 1763) der Akademie lautete: »Man will wissen: Ob die metaphysischen Wahrheiten überhaupt, und besonders die ersten Grundsätze der Theologiae naturalis, und der Moral, eben der deutlichen Beweise fähig sind, als die geometrischen Wahrheiten, und welches, wenn sie besagter Beweise nicht fähig sind, die eigentliche Natur ihrer Gewissheit ist, zu was vor einem Grade man gemeldete Gewissheit bringen kann, und ob dieser Grad zur völligen Ueberzeugung zureichend ist.« vgl. Adolf Harnack: Geschichte der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. 2. Berlin 1900, 231 f.
III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns
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In einigen ihm zugeschriebenen Litteraturbriefen, die sich so als Vorarbeiten zur Preisschrift werten lassen, hat sich Mendelssohn zu der Problematik der Eingängigkeit der Metaphysik geäußert.42 »Unser Verstand ist zu eingeschränkt von allen Eigenschaften der Körper zugleich ohne Verwirrung zu philosophieren.« (JubA V/1, 18) Deshalb trennen die Wissenschaften zusammenhängende Eigenschaftskomplexe auf, um sich mit abstrahierten Einzelheiten, die aber so immerhin klar und deutlich erkannt werden können, zu beschäftigen. Es ist aber wichtig (siehe auch LB 22: 1. März 1759, JubA V/1, 16 f.), dass die abstrahierende Betrachtungsweise als solche im Gedächtnis bleibt: man hat es hier nicht mit eindeutig übertragbaren Naturgebilden zu tun. Da die Mathematik mit einfachen Eigenschaften auskommt, kann sie zu sehr klaren und damit evidenten Ergebnissen kommen. Anders in der Metaphysik, die eben dieser Entwirrung der zusammengesetzten Erscheinungen bedarf. Jedoch ist nicht allein die Abstraktion, sondern auch ihr Gegenstand problematisch. In der Mathematik sind es Längen- und Größenverhältnisse, für die Ontologie sind es die Merkmale der Zusammensetzung einer Substanz. »Allein die Merkmale der Zusammensetzung sind so deutlich, so einleuchtend nicht, als die Merkmale der Ausdehnung; daher fehlet der Lehre von der Zusammensetzung (componibilitas) die augenscheinliche Ueberzeugung, daran sich die Mathematik unterscheidet.« (JubA VI/1, 18) Als eine wissenschaftliche Methode formuliert der 130. Litteraturbrief im »Beschluß« vom 6. November 1760: »Die Reduction verschiedener Erscheinungen auf ihre allgemeine Eigenschaften, ist der erste Schritt zur Entdeckung ihrer wahren Ursache. Man verringert durch diesen Kunstgrif nicht nur die Anzahl der zu erklärenden Wirkungen, sondern trennet auch die wesentlichen Umstände derselben von dem Fremden und Zufälligen, mit welchem sie in einzelnen Fällen untermengt sind, und vereiniget alle Forderungen, denen die Hypothese Genüge zu leisten hat, unter einem einzigen Gesichtspunkt. Die Gegeneinanderhaltung der angenommenen Hypothese mit den allgemeinen Eigenschaften der vorhandenen Naturbegebenheiten, zeiget alsdenn gar bald, ob man auf dem Wege zur Wahrheit sey, oder nicht.« (JubA V/1, 286) Fast wörtlich stimmt dieses Verfahren der Reduktion und anschließenden, an der Erfahrung orientierten Erweiterung und Verifikation mit der Bestimmung der Hypothese in dem 1756 erschienenen Wahrscheinlichkeitsaufsatz überein (JubA I, 156). 42
23. LB: 8. März 1759, JubA V/1, 18 f., ebenso, in direkter Anlehnung an die gerade erst ausgeschriebene Preisfrage im LB 208 ff. vom 7.–14. Januar 1762 (JubA V/1, 480–92). Hier wendet er sich gegen das angebliche Primat der anschauenden Erkenntnis, die die Evidenz der Mathematik erleichtere, da deren Klarheit auch für Bereiche gelte, die über Symbole, nicht Anschauungen erschlossen wird. Im Vordergrund steht dort allerdings die Analyse des Genies, das sich ebenfalls durch mehr als lediglich anschauende Erkenntnis auszeichne, sondern auch durch die schärfere Ausprägung von Witz, Urteilskraft und überhaupt aller »Seelenfertigkeiten« (vgl. ebd., 484).
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Kapitel III · Erkennen und Handeln
In seiner Preisschrift schließlich nennt Mendelssohn gleich zu Beginn ein darüber hinausgehendes, die Untersuchung bestimmendes Kriterium: »Zur Evidenz der Warheit gehöret, ausser der Gewißheit, auch noch die Faßlichkeit oder die Eigenschaft, daß ein jeder, der den Beweiß nur einmal begriffen, sogleich von der Warheit völlig überzeugt, und so beruhiget seyn muß, daß er nicht die geringste Widersetzlichkeit bey sich verspüret, dieselbe anzunehmen.«43 Evidenz beinhaltet damit zugleich Wahrheit und »Faßlichkeit«, einen subjektiven Begriff des ›überzeugten Für-wahrHaltens‹, oder, wie Mendelssohn im Laufe seiner Überlegungen in Anknüpfung an Malebranches »assensus« formuliert: den »Beyfall«, mit dem der Mensch eine als wahr resp. gut erkannte Sache würdigt (JubA II, 325). Auf die Nähe zu Mendelssohns Konzept eines Billigungsvermögens44, das hier anklingt, aber erst in den Morgenstunden ausgearbeitet wird, komme ich im Teilkapitel III.3 zurück. Es ist hier zu betonen, dass Mendelssohn zur Evidenz mehr verlangt als eine bloß ausgebreitete, oder vollständige Erkenntnis. Immer wichtiger wird bei ihm vielmehr der Vermittlungsaspekt, der die Zustimmung zu einer Erkenntnis gewährleisten soll. Doch um sich dem Evidenzerlebnis anzunähern, nutzt Mendelssohn gut aufklärerisch die begriffliche Differenzierung. Beide Bereiche, nach denen die Akademie fragte, Mathematik und Metaphysik (mit einem Schwerpunkt auf der Moralphilosophie im weitesten Sinne), beruhen auf der Analyse von Begriffen. Beide befassen sich mit intrinsischen Qualitäten eines Gegenstandes; wobei die Mathematik die Quantitäten, die Metaphysik die Qualitäten behandelt.45 Warum nun ist die Metaphysik so weit ins Hintertreffen geraten? Mendelssohn macht in der Evidenzschrift folgende Punkte aus: 1. Die Metaphysik hat Qualitäten als »intensive Größen« (der Begriffsgebrauch ist bei Mendelssohn etwas undurchsichtig, siehe das Folgende) zum Gegenstand. Diese sind, wie bereits die Vorarbeiten darlegten, wenig anschaulich, da bei ihnen 43
JubA II, 271. Laut Altmann (1969, 269) verwendet Mendelssohn dieses Konzept schon in den Briefen über die Empfindungen im Anschluss an Baumgarten. »Er bedeutete dort die ästhetische Überschaubarkeit eines mannigfaltigen Ganzen vermittels der Einbildungskraft. Im gegenwärtigen Zusammenhang bezeichnet er eine lebhafte Vorstellung von der Wahrheit als Ergebnis einer Beweisführung.« Vgl. Baumgarten, Metaphysica, § 531. 44 Leibniz hat die göttliche Billigung als außerhalb logisch zwingender Notwendigkeiten stehend reformuliert, um die Freiheit der Wahl Gottes zu betonen. Die möglichen Wahrheiten werden Wirklichkeit durch »einen hinzutretenden Akt [Gottes] freien Willens und seiner Beschlüsse, deren erster dahingeht, alles in der besten Weise und mit der höchsten Vernunft zu tun« (De Libertate, in: Hauptschriften II, 659). 45 Laut Altmann 1969, 267 ist es jedoch ungewiss, »bis zu welchem Grade Mendelssohn mit den methodologischen Prinzipien Descartes’, Spinozas und Leibniz’« und deren unterschiedlichen Auffassungen einer »geometrischen Methode in der Metaphysik« im klaren war. Bezüglich Mendelssohns Aufnahme leibnizianischer Gedanken hält er (ebd., 268) zu Recht fest, dass sie sich auf »den Kernpunkt der letzten Phase des Leibnizschen Denkens, in der die metaphysischen Prinzipien denen der Mathematik entgegengestellt werden« bezieht.
III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns
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die zu bestimmenden Bestandteile ineinanderfallen und erst aufgelöst und nebeneinandergesetzt werden müssen – ohne dass das Bewusstsein dieser Zerlegung in den Hintergrund treten darf. 2. Sie verwendet arbiträre Zeichen. Deren bloß willkürlicher Zusammenhang mit den dargestellten Entitäten erfordert Aufmerksamkeit auf diesen Stellvertretercharakter. Dabei sind auch Vorurteilslosigkeit und Widerstand gegen Gewohnheiten, also psychologische Aspekte relevant. 3. Sie ist holistisch; kein einzelner Gegenstand kann ohne Bezug auf alle anderen betrachtet werden, keine einzelne Qualität steht ohne Bezug und Abhängigkeit zu allen anderen. Die Gefahr, die Übersicht zu verlieren, ist also immer gegeben. 4. Um die Frage nach der Wahrheit in der Metaphysik zu beantworten, muss die Existenz der infrage stehenden Sache bewiesen werden. Die Konzepte der Metaphysik müssen damit mehr sein als bloße Begriffe, sondern sie müssen die Realität der Erscheinungen zeigen, d. h. sie vollständig definieren und damit zu ihrer adäquaten, klaren und deutlichen Erkenntnis durchdringen; dies geht damit eindeutig über den von Wolff beschriebenen Rahmen der Wissenschaft als ein Wissen vom Möglichen hinaus. Es muss also nicht nur die wahre Entsprechung von Subjekt und Prädikat, sondern auch der Nachweis der Existenz derselben geführt werden.46 Idealismus ist demzufolge für Mendelssohn als eine Form des Skeptizismus in der Metaphysik absolut zu vermeiden – auch die Morgenstunden sind diesem Problem gewidmet. Zusammengefasst gesagt: Mathematik und Metaphysik bedienen sich beide der Analysis, kommen jedoch aufgrund ihres Gegenstandsbereichs zu unterschiedlichen Ergebnissen, v. a. was deren Evidenz betrifft. Zusätzlich mischt sich in der mehr fordernden Metaphysik, wie versteckt auch immer, der Aspekt menschlicher Begrenztheit mit ein. Da ein Wissen des Wirklichen in Anbetracht der Tatsachenwahrheiten nur aus göttlicher Perspektive möglich ist, kann Metaphysik eine nur in den Grundzügen vollkommene, vollständige Erkenntnis anstreben, muss sich darüber hinaus aber 46
Siehe Leibniz, Meditationes, in: Hauptschriften I, 12. Baumgarten benennt dies in den §§ 7, 20 in der Metaphysica: Der SvW konstituiert das Mögliche, der SvG das Wirkliche, indem er die Dinge als verknüpft vorstellt und damit vollständig bestimmt. Problematisch daran ist, und dazu haben sich Crusius, Darjes, Herder, Kant und viele andere geäußert, dass der Erweis des Möglichen aus der Negation des Nichts entnommen wird (siehe Metaphysica §§ 7 f.; vgl. Zandwijk 2001, 21–72). Herder bspw. argumentiert, mit Kant, mit einem bestechend schlichten Argument: »Der Gegensatz zum logischen Nichts ist nicht das Etwas, sondern die Widerspruchsfreiheit.« (M. Heinz 1994, 18), die immer noch im Bereich des Möglichen verbleibt. Eine solche Auffassung setzt eine der logischen Analyse vorausliegende Materie bereits voraus und, mit Kant gesprochen, das Aufheben der materialen Möglichkeit, die Baumgarten hier unternimmt, würde das Denken überhaupt verunmöglichen. Diese Operation ist nur mit einem vorweg angenommenen Möglichen möglich; der Begriff des Nichts, wie in Baumgarten verwendet, setzt das Etwas bereits voraus – Baumgartens Argument verschweigt also seine Prämisse, sondern präsentiert sie als Bewiesenes.
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auf Grundlinien festlegen, nach welchen Kriterien eine psychologische Wahrheit möglichst nah an einer metaphysischen Wahrheit liegen kann. Auf formaler Ebene also strebt Mendelssohn metaphysische Prinzipien an, die in materialer Hinsicht Anwendungskontexte und –kriterien bieten sollen. Damit wird prima facie erst auf einer von einer umfassenden Metaphysik reduzierten Ebene die Wolffsche Ansicht der zureichenden Definition i. S. d. essentialia angewendet. Mendelssohn modifiziert jedoch auch hier Wolffs Vorgehen, indem er versucht, die Möglichkeit einer vollständigen Definition über die Rechtfertigung der Induktionsschlüsse unter Rückgriff auf eine Wahrscheinlichkeitstheorie des Wissens zu beweisen (siehe dazu schon oben Abschnitt 1). Weite Bereiche der Metaphysik haben es mit Fragen zu tun, die sich menschlich nur mit dem Rekurs auf Erscheinungen beantworten – oder auch lediglich illustrieren lassen. Erscheinungen nun sind ein Ausdruck dessen, was die menschliche Seele wegen ihrer Eingeschränktheit zur Verfügung hat. Mit ihnen muss sie umgehen, um sich ihre Welt möglichst sicher, und das heißt: am wahrscheinlichsten wie möglich zu erschließen: Metaphysik soll also auch »fasslich« sein.47 Mit dieser durchaus nicht originellen, aber für seine anthropologischen Interessen wegweisenden Einsicht wird Mendelssohns Wahrnehmungs- und Erfahrungstheorie zu einer menschlichen Wissenstheorie. Die Evidenz in der Mathematik entnimmt Mendelssohn der leichteren Einsicht in das ihr zugrundeliegende Prinzip des Satzes vom Widerspruch: alle Wahrheiten finden sich schon in den mathematischen Begriffen, sie bedürfen lediglich der Analyse (vgl. JubA II, 273). Wenn sie also einmal zergliedert sind, wird sich die Evidenz von selbst einstellen. Analysis lenkt die Aufmerksamkeit auf die vorhandenen Teile: »Die Analysis der Begriffe ist, für den Verstand nichts mehr, als was das Vergrösserungsglas für das Gesicht ist.« (JubA II, 274) Wichtig ist hier, dass auch in der mathematischen Methode ein psychologisches Moment eine wichtige Rolle spielt: es geht um eine richtige Steuerung der Aufmerksamkeit.48 Eine klare und deutliche Erkenntnis gewinnt der Mathematiker, man denke an die Briefe über die Empfindungen, wenn er seine Aufmerksamkeit auf die einzelnen Schlussketten lenkt. Das Pendant dazu ist die verworrene, lustvolle Erkenntnis des Ganzen, die aber – so der Grundsatz der Evidenzschrift – nicht die Überzeugung, sondern die Selbstempfindung der potentiellen Durchschaubarkeit der einzelnen, nun verworren wahrgenommenen Analyseschritte bedeutet. Mendelssohn selbst weist auf die Anwendungsmöglichkeit
47
Dahlstrom 1997, XXVII weist hier auf die Quelle dieser Überlegungen in Baumgartens Metaphysica, § 531 hin: eine komplexe Vorstellung wird erfassbar über den richtigen Gebrauch der Einbildungskraft und des Vergleichs. Den Begriff der »perspicuitas« übersetzt Baumgarten dort selbst in der Fußnote mit »Faßlichkeit«. 48 Vgl. Wolffs Verfahren zur Begriffsbestimmung zur Bildung intuitiver Urteile und Begriffe a posteriori in der reflexio, Logica § 669, s. Engfer 1982, 250.
III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns
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der mathematischen Methode in der Psychologie hin: »welch ein ausserordentliches Licht zündet sie uns nicht von der von ihr so weit entfernt scheinenden Seelenlehre an!« (JubA II, 277) Mit der Lehre der Analysis und der unumstößlichen Sicherheit der Mathematik sei zugleich auch das Theorem der vollständig (und vollkommen) bestimmbaren Monade bestätigt, denn es sei damit erwiesen, »daß die Seele niemals aufhöre sich implicite schlechterdings die ganze Welt, explicite aber nur die Welt nach der Lage ihres Körpers in derselben vorzustellen, daß die sinnlichen Eindrücke nur die Anlässe und Gelegenheiten sey, bey welchen die Vorstellungen der Seele sich entwickeln und wahrgenommen werden, und daß diese Entwickelung der Begebenheiten ausser derselben vollkommen harmonire.« (JubA II, 277) Zugleich mit dem Festhalten an der prästabilierten Harmonie – wenngleich ihre ›weiche‹ Fassung durch Wolff hier durchklingt – betont Mendelssohn wiederholt Leibniz’ Ansicht, dass jede Erkenntnis in der Seele bereits präfiguriert ist und damit lediglich entwickelt oder (platonisch) wiedererinnert wird. Mathematisch erkennbar sind auch Grade der Wirklichkeit, wenn es gelingt, diese in quantifizierbare Momente zu übersetzen. Mendelssohn nennt – und dies bestimmt den ersten Abschnitt der Evidenzschrift insgesamt – sogleich einen Anwendungsbereich in der praktischen Philosophie mit der Frage, wie sich solcherart der Grad eines moralischen Charakters bestimmen ließe. Eine erste Annäherung erbringt, wenig verwunderlich, einen negativen Ertrag. Denn der moralische Charakter ist eine »unausgedehnte Grösse«, deren Merkmale und Schranken »nicht in die Sinne fallen« und also nicht über Beobachtung, sondern Überlegung erlangt werden. Die »Erklärung«, bzw. Definition der moralischen Güte soll hierbei die Leitfunktion übernehmen: »Diese bestehet in der Fertigkeit, seinen Pflichten, der Hindernisse ungeachtet, und ihre sinnliche Anlockung, vollkommen Genüge zu leisten.« Mithilfe dieser Definition bestimmt Mendelssohn auch die Grade dieser Fertigkeit, um, so zumindest seine Überlegung, ihre Bewertung zu ermöglichen. Er fährt also fort: »Dieses sind also die Merkmale dieser Quantität [sic], und nunmehr lassen sich auch die Schranken einigermassen bestimmen. Denn a) je grösser die Fertigkeit, 2) je mehr und 3) je wichtiger die Pflichten, 4) je mehr und 5) stärker die Hindernisse, und endlich b) je weniger und 6) schwächer die sinnlichen Anlockungen, desto grösser der Grad der moralischen Güte.« (JubA II, 280) Problematisch ist hierbei freilich, dass der Wert eines Charakters, prima facie eine Qualität, sowohl in quantitativen als auch qualitativen (v. a. Punkt 3) Termini gemessen wird. Mendelssohn hatte dieses Zusammenfallen vorbereitet, indem er den Unterschied zwischen einer ausgedehnten und einer unausgedehnten Größe in ihren Zeitaspekt setzt: »Von der unausgedehnten Grösse, oder von derjenigen Quantität, deren Theile weder neben, noch auf einander folgen, sondern in einander fallen, als nehmlich von den Graden und ihren Ausmessungen, sind bisher nur einzelne dürftige Versuche zum Vorschein gekommen.«
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(JubA II, 278) Da hier die einzelnen Bestandteile ineinander fallen und schwer zu analysieren sind, wirken sie opak und wenig anschaulich – und damit der klaren und deutlichen Erkenntnis schwer zugänglich. Die Aufspaltung einer Handlung in die sie bestimmenden Grade einzelner Aspekte soll hier zur klaren Durchdringung verhelfen. Zugleich bedeuten sie eine Mathematisierung der Wirklichkeit. Doch es ist fraglich, ob diese Durchdringung nicht einen wichtigen Unterschied einebnet: über die Grade der Güte einer Handlung lässt sich eben erst sprechen, wenn ein qualitatives Kriterium darüber feststeht, was gut ist (wenn es nicht lediglich in einem ›mehr oder weniger‹ bestehen soll). Mendelssohn versteht Qualität als den »Stoff« der Quantität (JubA II, 279 f.). So ist der »Stoff« im angeführten Beispiel die moralische Güte des Charakters, die jedoch, da sie ihmzufolge nicht in die Sinne fällt, in ihre Bestandteile unterteilt werden muss, bis diese einer mathematischen Untersuchungsmethode – gemäß der quantitativ erfassbaren Grade – zugänglich sind. Damit wird die Qualität wiederum in eine bzw. mehrere Quantitäten ›übersetzt‹. Doch dieses bringe nebenbei den Vorteil, die Untersuchung einer solch verworrenen Materie mit »wesentlichen« Zeichen und nicht mit willkürlichen durchzuführen.49 Die Qualität, der Stoff dieser Beurteilung, scheint sich dagegen durch intuitive Einsicht in die Definition zu ergeben. Der Übergang von Mathematik zu Metaphysik ist mit dieser Übersetzung von unausgedehnten in ausgedehnte Größen nahezu fließend50, jedoch nicht, was die Evidenz anbelangt. Wie ist die Sicherheit in der reinen Mathematik auch in der Metaphysik zu erhalten? Diesem Problem wendet sich Mendelssohn im zweiten Abschnitt Von der Evidenz in den Anfangsgründen der Metaphysik (JubA II, 286–97) zu. »Weltweisheit [ist] überhaupt eine Wissenschaft der Beschaffenheiten (Qualitatum) der Dinge« (JubA II, 286) – und auf Vernunft gegründet.51 49
Vgl. JubA II, 282 f.: »wesentliche« Zeichen werden hier in ähnlicher Weise verwendet wie hinsichtlich der Kunst von »natürlichen« Zeichen die Rede war. Der Mathematiker verwendet »reelle und wesentliche Zeichen« (ebd., 281), wenn diese »ihrer Natur und Verbindung nach mit der Natur und Verbindung der Gedanken übereinkommen« – die Differenz zu den natürlichen Zeichen besteht also nicht in ihrer »naturgemäßen«, abbildenden Festlegung, sondern lediglich darin, dass natürliche Zeichen eher auf Affekte bezogen sind, wesentliche auf eine klare und deutliche, aber intuitive Erkenntnis (vgl. Kap. II.3, 213 und IV.1). 50 Vgl. Altmann 1969, 277: »Kant liefert eine eindeutige Gegenüberstellung der synthetischen und der analytischen Methode, während Mendelssohns Darstellung der analytischen Methode das Moment der Begriffszergliederung mit anderen dem synthetischen Beweisverfahren entlehnten verbindet und dadurch in eine gewisse Zweideutigkeit verfällt. Vor allem aber hält Mendelssohn an dem Grundsatz der Einheit der Methode fest und ist daher nicht in der Lage, einen scharfen Trennungsstrich zwischen Mathematik und Metaphysik zu ziehen, wie es Kant tat.« Allerdings verteidigt Altmann Mendelssohn, indem er bei ihm das Bekenntnis zur analytischen Methode in der Metaphysik (Ontologie) im Gegensatz zu Wolffs »vermischter Methode« hervorhebt (vgl. ebd., 278). 51 Zu Recht hebt Vogt 2005, 70 (FN 29) gegen Schneider 1970 hervor, dass der wissenschaftliche, Logik-zentrierte (oder zumindest –abgesicherte) Standpunkt Mendelssohns ernstzunehmen
III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns
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Ihre Fasslichkeit ist weitaus voraussetzungsreicher als die der Mathematik: Metaphysik verwendet willkürliche, keine »wesentlichen« Zeichen. Um eine wirklich wahre metaphysische Erkenntnis zu gewinnen, darf die Art der Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem nie aus dem Bewusstsein geraten: man muss seine Ansprüche jederzeit einlösen können und also »immer zu den Anfangsgründen zurück[…]kehren. Man thut diese Rückreise niemals ohne grossen Nutzen, denn die philosophischen Begriffe werfen sich wechselsweise Stralen der Deutlichkeit zu, die man verfolgen muß.« (Evidenz, JubA II, 291) Zur Aufdeckung der (an sich unendlichen) Kette der zureichenden Gründe verwendet Mendelssohn die Prinzipien der Induktion und der Analogie.52 Doch die Aufgabe des Metaphysikers geht darüber hinaus. Er müsse »das Zeugnis der innern und äusserlichen Sinne selbst vor seinem Richterstuhle […] fodern, und das Wahre von dem Falschen, das Gewisse von dem Ungewissen unterscheiden, und wenn er auf das Zeugnis irgend eines Sinnes bauen will; so muß er vorher dessen Untrüglichkeit ausser Zweifel setzen.« (JubA II, 293) Schon im ersten Abschnitt zur Mathematik, also noch in der Beschäftigung mit den Quantitäten, fragt Mendelssohn aber bereits, wie diese Untrüglichkeit zu beweisen wäre. Der Begriff der Quantität steht mit keiner Wirklichkeit in einer notwendigen Verknüpfung, sondern benötigt dafür die Erfahrung. Deren Defizit ist aber ihre prinzipielle Unsicherheit: in der Erscheinung nehmen wir einen Gegenstand anders wahr, als er wirklich ist, oder zumindest verleitet die Verworrenheit der Erscheinung zu Fehlurteilen. Angesichts dieser Definition drängt sich (schon wenn bezüglich der Mathematik von einem Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit die Rede ist) die Stimme des Zweiflers auf: »sind nicht alle unsere sinnliche Begriffe nur solche Erscheinungen, ein solcher Sinnenbetrug; denn wir können ja nicht versichert seyn, daß die Gegenstände ausser uns so beschaffen sind, wie wir sie vermittelst der Sinne wahrnehmen?« (JubA II, 285) Zur Beantwortung dieser Stimmen unterscheidet Mendelssohn zwischen unbeständigen und beständigen Erscheinungen, was an die erwähnte wolffische Trennung zwischen notwendigen und zufälligen Merkmalen erinnert. Unbeständige Erscheinungen sind dabei solche, die nicht allein von der der »innern wesentlichen Beschaffenheit unserer
ist. Schneider behauptete dagegen pauschal, Mendelssohn habe eine »Abneigung« gegen metaphysische, strenge Beweisführungen gehabt; seine Philosophie sei vielmehr »bei Gelegenheit« entstanden (vgl. Schneider 1970, 105; gegen Schneider kritisch auch Albrecht 1983, 96 f.) 52 Herder hatte 1778 in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele die Analogieschlüsse als die spezifische Form menschlicher Erkenntnis gewertet (vgl. J. Heinz 1996, 34) »Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schöpfer« (Werke 4, 390). Ähnlich argumentierte auch Tetens in seinen Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung (1777); er war sich der Probleme von Analogieschlüssen (v. a. ihrer Voraussetzung einer einheitlichen Natur) durchaus bewusst, vgl. ebd., XXII ff., vgl. J. Heinz 1996, 33 ff.
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Sinne« (JubA II, 285), sondern auch »gewissen äußern Zufälligkeiten« (ebd.), wozu Lage, Geschwindigkeit, körperliche Verfassung etc. gehören, abhängen. Beständige Erscheinungen hingegen sind die, die durch die Beschaffenheit unserer Sinne notwendig auf eine bestimmte Art erscheinen: »Wir müßten uns nemlich die sinnlichen Dinge deswegen so und nicht anders vorstellen, weil unsere Sinne so und nicht anders beschaffen sind.« (ebd., 286) Der Mathematiker nun könnte zeigen, dass (selbst wenn die beständigen Erscheinungen letztlich nicht irgendwelche Realitäten adäquat abbilden) die Beschaffenheit unserer Sinne auf die mathematische Notwendigkeit keinen Einfluss haben: wir stellen ein Dreieck notwendig in allen seinen mathematischen Bestimmungen vor, die sich als analytisch wahr allesamt als notwendige Prädikate darstellen, seien sie nun virtualiter in der Möglichkeit oder realiter in der Wirklichkeit wahrgenommen.53 Wie nun metaphysische Wahrheiten darstellen, so dass sie allein durch die Notwendigkeiten unserer Anschauungsart bestimmt sind? Oder, anders formuliert: Was ist eine metaphysisch gesicherte, »vollständige und ausführliche Erkenntnis« der Dinge (JubA II, 286 f.)? Mendelssohn unterscheidet zwar nicht zwischen zufälligen und notwendigen Bestimmungen eines Dinges, sondern zwischen denen, die nur im Vergleich mit anderen erkannt werden können und sich als ein »mehr oder weniger«, also den Grad (Quantität) einer Sache darstellen und denjenigen, die sich aus der Analyse des Dinges für sich ergeben (Qualitäten). Wichtig ist, dass auch die Quantität nicht als äußerlich verstanden wird, aber nicht anders als durch den Vergleich erkannt werden kann: »Man begreift hieraus, daß die Quantität, oder das Mehr oder Weniger, zwar der Sache innerlich zukomme, aber nicht ohne Vergleichung mit einem andern Dinge begriffen werden könne« (JubA II, 287)54 Von beiden Merkmalen, Qualität und Quantität einer Sache ist nun eine ausreichende Kenntnis zur Sicherung des Wissens nötig. Dies ist jedoch nur die Ausgestaltung einer Sache, nicht ihre Wirklichkeit. Um die Verbindung zwischen ihren Bestimmungen und ihrer Realität darzulegen, greift Mendelssohn auf die Fundamentalprinzipien der Metaphysik zurück, die ihrerseits die Grundlage für eine Epistemologie bieten sollen. Der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit sei durch das cartesische Cogito bzw. durch die Gottesbeweise (er nennt vorerst lediglich den ontologischen, JubA II, 294) möglich; jedoch bezüglich der Evidenz, aber auch der bisherigen Ausführung der Metaphysik nach mit Schwierigkeiten behaftet.55 Mendelssohn diskutiert diese Schwierigkeiten allerdings nicht näher, sondern be-
53
Vgl. Wolff, Logica §§ 670–80, sowie Engfer 1982, 251. Vgl. ebd., 291: Alle Merkmale eines Dinges hängen zusammen. Das leibnizsche Monadenmodell steht hier deutlich im Hintergrund. 55 Letztlich wird aber auch Mendelssohn in dieser Hinsicht nicht über Wolff hinausgehen, dessen unzureichenden Beweis im Ausgang der Selbstgewissheit und deren Übertragung auf andere Grundsätze (vgl. Deutsche Metaphysik § 4) Stolzenberg 2005 eingehend dargestellt hat. Auch Wolff 54
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schränkt sich darauf, das Faktum einer fehlenden Evidenz für die Philosophen zu benennen.56 »Unmöglich« könne letztlich die erforderliche Komplexität in der Darstellung erreicht werden, die dem Gegenstand angemessen wäre. »Doch sind dieses nur die Schwierigkeiten, die in der Sache selbst liegen; es giebt aber in Absicht auf das Subject, oder den von philosophischen Warheiten zu überzeugenden Menschen, einige wichtige Schwierigkeiten, die nicht zu übergehen sind.« (JubA II, 295) Anscheinend also gibt es zweierlei Probleme der Evidenz: einmal für die Gelehrten, die ihre metaphysischen Systeme nicht angemessen »vortragen« können (aufgrund der genannten Schwierigkeiten, vgl. hier S. 268 f.) und deshalb untereinander in Streit geraten.57 Neben den Gelehrten kommt aber, zweitens, der interessierte Laie in den Blick, der die Defizite der metaphysischen Evidenz nur noch deutlicher zutage treten lässt: Denn die Inhalte der Metaphysik sind auch und gerade für den Laien immer emotional besetzt. Metaphysik hat mit Vorurteilen zu kämpfen. Jeder hat an ihren Ergebnissen ein ureigenstes Interesse, da sie die »Lebensart, Glückseligkeit und Meynungen« (JubA II, 295) betrifft. Er fasst deshalb schon gemäß der eigenen Neigung gewisse Meinungen, die er bestätigt sehen möchte. Wahrheit muss hier Vorliebe und Gewohnheit58 durchbrechen, sie muss also nicht nur rational, sondern auch anschaulich überzeugen. Nicht nur die Trägheit der Überzeugungen und der Unwille, diese rational zu prüfen, sondern auch die Vermessenheit, sich selbst in Dingen der Metaphysik als Richter aufzuspielen nennt Mendelssohn darüber hinaus als Grund, weshalb es die Metaphysik schwerer habe als die Mathematik. Dieser Rekurs aufs Vorurteil ist charakteristisch für Mendelssohn, ebenso wie der Hinweis, dass es mit der Unterdrückung von selbstgerecht oder laienhaft erscheinenberuft sich in seinem »Beweis« letztlich auf historische bzw. Tatsachen- und Beobachtungswahrheiten, nicht auf logisch gesicherte Sätze (s. ebd., 129 f.); vgl. Psychologia empirica § 13. 56 Seine Beispiele sind Descartes und Baco, siehe JubA II, 295. 57 Dass dieser Streit ein Streit um Worte ist, wird Mendelssohn nicht müde zu betonen. Dieses Vorgehen verdankt sich klar der Wolffschen Logik, vgl. Deutsche Logik, Kap. 1, §§ 36–45, sowie Kap. 2. Immer wieder gerät Mendelssohn jedoch bei einer sorgfältigen ›Analyse‹ des Streitpunktes in die Versuchung, den eigentlichen Gegenstand zu verwischen, um letztendlich feststellen zu können, dass es doch gar nicht um eine tatsächlich unüberbrückbare Verschiedenheit der Ansichten gegangen sei. 58 Das Dilemma der wissenschaftlichen Schreibweise, um die menschliche Erkenntnis in den Blick zu bekommen, ist deutlich: man darf nicht allzu leicht, fasslich und damit letztlich überredend schreiben. Die Folgen einer solch verfehlten Schreibart: »Man hat in allen artigen Gesellschaften von Monaden, vom Satze des zureichenden Grundes, vom Prinzip des Nichtzuunterscheidenden, u. s. w. gesprochen. Es waren Modeworte, die man aus Galanterie kennen mußte. Man trug Wahrheiten im Munde, davon weder Geist noch Herz durchdrungen war. Um die Beweise der angenommenen Sätze bekümmerte man sich wenig, weil man überzeugt seyn wollte« (JubA V/1, 12 f.; erste Hervorhebung von mir). Zugleich dient aber auch der exzessive Gebrauch des Fachidioms nicht dem angestrebten Ziel.
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der Kritik nicht getan ist. Denn Despotismus ist ebenso gefährlich wie Anarchie: »In jeder Republik ist der Geist des Widerspruchs nicht nur eine nothwendige Folge, sondern öfters auch eine heilsame Stütze der Freyheit und des allgemeinen Wohlstandes.« (JubA II, 296) Er selbst musste die Wahrheit seiner Gedanken leidvoll erfahren, hat sich aber in eigenen Belangen wie z. B. im Lavater-Streit an diese Maxime gehalten. In einem [offenen] Schreiben an diesen stellt er schließlich resigniert fest: »Die Urtheilskraft des Menschen richtet sich so sehr nach gewohnten Begriffen, vorgefaßten Meinungen und anerzogenen Grundsätzen, daß zwey Menschen, wie Hr. L.[avater] und ich, die nach so entgegengesetzten Grundsätzen erzogen und unterrichtet worden sind, in vielen Urtheilen und Meinungen ganz ungleich gestimt seyn müssen.« (Nacherinnerung an Lavater, 1770, JubA VII, 47) Der Grund mancher tiefgreifender Uneinigkeiten ist bisweilen also eher psychologischer Natur und betrifft nicht die reine Erkenntnis. Habe man sich über die daraus resultierenden Ungenauigkeiten im Begriffsgebrauch erst einmal geeinigt, werde dies zutage kommen. Dass dem allerdings die psychologischen Faktoren auch als unüberwindliche Hürden im Weg stehen können, hat Mendelssohn so nicht akzeptieren können. Zugleich gibt er hier einen pragmatischen Hinweis: Wenn man nach sorgsamer Überlegung zu einer Einsicht gekommen ist, solle man an ihr festhalten und sie nicht ständig wieder infrage stellen – aber immer auch bedenken, dass andere zu ganz anderen Schlüssen kommen können. Mendelssohns Folgerung daraus in der »Nacherinnerung«: man muss anderen wie auch sich selbst die Möglichkeit des Fehlens zugestehen und bei ›Ergebnissen‹ immer die Reserve der Irrtumsanfälligkeit behalten. Der wahre Wissenschaftler hält anderen gegenüber die Mitte zwischen Dogmatiker und Skeptiker.59 Wenn dies nicht geschieht, dann gelte leider folgende Regel, die Mendelssohn in seiner harschen Replik auf Kölbele, der sich besonders durch seine an Lavater anschließenden Forderungen zu Mendelssohns Konversion hervorgetan hatte, formuliert: »Je eingeschränkter der Verstand, desto ausschliessender die Grundsätze.« (JubA VII, 53) Desto schwieriger die Einigung. Die Evidenzschrift dient in dieser Hinsicht bereits der rationalen Absicherung der Zurückweisung von Vorurteilen (siehe dazu weiterhin Kap. IV.4). Ausgehend von seinen Bemerkungen zur Besonderheit der Metaphysik und ihrer Schwierigkeiten kommt Mendelssohn in den folgenden zwei Teilen der Evidenzschrift auf die Möglichkeit und Einsichtigkeit der Gottesbeweise und der metaphysischen Lehren in der Moral zurück. Dabei bleibt er durchaus auf schulphilosophischem Terrain, weshalb eine eingehende Analyse hier unterbleiben kann.60 Auf seine Überle59
Vgl. JubA VII, 47, womit sich Mendelssohn in die Nähe der humeschen Auffassung begibt. 60 Siehe dazu Altmann 1982, 135–51. Der Weg des Gottesbeweises ist allgemein bekannt: »Wenn ich also erweisen kann, daß das nothwendige Wesen möglich ist; so habe ich auch seine
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gungen zum Zusammenhang der freiwilligen Handlungen und der Wahrscheinlichkeit komme ich in III.2 zurück. Interessant ist, dass er zu einem ähnlichen Ergebnis kommt wie der vorkritische Kant: der eingängigste Beweis ist der physiko-theologische61; der schlagendste Beweis dagegen der ontologische, den er bereits im zweiten Abschnitt (JubA II, 294) erwähnt hatte. In Hinblick auf Mendelssohns Rekurs auf die Gottesbeweise in der Evidenzschrift ist der Kontrast zu einer von Cassirer aufgedeckten Grundtendenz der Aufklärungszeit beachtenswert. Insgesamt ließe sich, so Cassirer, die Beschäftigung mit dem Wahrheitsproblem in der Aufklärungszeit in zunehmender Ablösung vom Gottesproblem beschreiben.62 Das göttliche Sein als oberstes Prinzip der Erkenntnis war noch stark in der Philosophie des 17. Jahrhunderts; im 18. Jahrhundert ist jedoch eine Schwerpunktverschiebung zu konstatieren: »Die einzelnen Grundgebiete: die Naturwissenschaft wie die Geschichte, das Recht, der Staat, die Kunst entziehen sich mehr und mehr der Herrschaft und der Vormundschaft der überlieferten Metaphysik und Theologie.« (Cassirer 1932, 211 f.) Sie sollen vielmehr aus ihrer vernünftigen Form heraus ihre Wahrheitskriterien bestimmen. Die Beziehung auf einen Gottesbegriff bleibt, »aber ihre Richtung ändert sich. Es findet gleichsam ein Wechsel des Vorzeichens statt: das zuvor Begründende wird in die Stellung des Begründeten, das bisher letzthin Rechtfertigende in die Stellung des Zu-Rechtfertigenden gedrängt.«63 Dass auch bei Mendelssohn der Gottesbeweis nicht der alleinige Ausgang des Wissens ist, zeigt in der Evidenzschrift allein die Anordnung, die darauf hindeutet, dass sich sicheres Wissen vielmehr aufgrund der spezifischen Methode seiner Erlangung ergeben soll. Problematisch ist dabei aber, dass die Kriterien des Wissens, zurückgeführt auf die Sicherheit der klaren und deutlichen Erkenntnis und deren Gesetzmäßigkeiten, letztlich eines starken metaphysischen Prinzips (für das Mendelssohn den Würklichkeit dargethan, und es ist bekannt, daß jenes sich beweisen läßt.« (Evidenz, JubA II, 294) Vgl. auch Altmann 1981, 130 und 1969, 310–19, der die Basis von Mendelssohns Ausführungen zum apriorischen Gottesbeweis in Baumgartens Metaphysik, die zum aposteriorischen Beweises in derjenigen Wolffs verortet, aber Mendelssohn eine Verfeinerung und Reformulierung der Beweise zuschreibt (vgl. auch Arkush 1994, 37 ff.). 61 Vgl. JubA II, 313. Diejenige Beweisart, die die praktische Überzeugung gewährleisten kann »aber erfordert nicht ausdrücklich Deutlichkeit und Gewißheit, sondern vornehmlich eine lebendige würksame Erkenntnis, einen starken und lebhaften Eindruck in das Gemüth, dadurch wir angetrieben werden, unser Thun und Lassen dieser Erkenntnis gemäß einzurichten.« (JubA II, 311), vgl. Kap. III.2. Zur konzeptionellen Ähnlichkeit mit dem Kantischen Ansatz vgl. AA II 161, sowie Altmann 1969, 335–41. 62 Vgl. Cassirer 1932, 211. Ähnlich auch Costazza 1999, 413 zum Theodizeeproblem, Müller 2004, 75 zur Begründung der Ästhetik bei Lessing und Mendelssohn. 63 Cassirer 1932, 212. Auch die Theologie des 18. Jh. unterwirft sich nun dem Primat der Vernunft, was sich insbesondere bezüglich der Erbsünde-Lehre zeigt. Letztlich sei der Mensch zur Glückseligkeit fähig und ihrer würdig, nicht von Grund auf böse. Die schlimmste Sünde ist vielmehr das Vorurteil, wie es schon Bayle, Descartes und Rousseau betonten.
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Gottesbegriff einsetzt) als Garant der Gültigkeit der Prinzipien wie des SvW und des SvG bedürfen.64 Andererseits ließe sich auch festhalten, dass die Gültigkeit der logischen Prinzipien sich auch auf ihre Fähigkeit, ein geschlossenes Weltbild zu liefern, beziehen ließe: damit mag man zwar eine andere Wirklichkeit annehmen, kann über diese aber nicht vernünftig sprechen. Ein Universum, in dem der Satz vom Widerspruch nicht gilt, ist nicht kommunikabel. Das macht es nicht per se unwirklich, es fällt aber aus dem rationalistischen Betrachtungsrahmen heraus.65 Die Bestimmung von Realität als durchgängiger Bestimmtheit66 verlangt vielmehr die – wenngleich auch für den Menschen teilweise nur virtuell einsichtige – durchgängige Bestimmung alles Wahrgenommenen. Dabei birgt aber gerade die Parallelisierung des SvW und des SvG als des die Tatsachenwahrheiten verbindende und sichernde Prinzip ein schwerwiegendes Problem. Denn die absolute Gültigkeit des letzteren ist ohne die Annahme einer solchen durchgängigen Bestimmung durch die Kraft eines ›gütigen‹ und ›rational entscheidenden / Realität gebenden‹ (bzw. die Welt bestimmenden oder eingerichtet habenden) Gottes kaum ein so apodiktisch gewisses und sicheres Instrument und damit eventuell kein adäquates ein Pendant zum SvW, wie sich die ›rationalistischen‹ Philosophen das erhofft haben mögen. In gewissem Sinne hat später Friedrich Heinrich Jacobi im berühmten (und das Ende der ernsthaften zeitgenössischen Mendelssohn-Rezeption einläutenden) »Pantheismus-Streit« auf diese Problematik hinweisen wollen. Die erste Setzung der Welt in die Realität aufgrund der ›Entscheidung‹, dass diese Welt die beste sei, ist nicht mit dem Satz: ›eine Nichtexistenz dieser Welt ist in sich widersprüchlich‹ äquivalent. Letzteres verlangt vielmehr nach einer zusätzlichen Bedingung: Wenn das Beste als das Vollkommene auch das ›Prädikat‹ der Existenz beinhalten muss, dann ist die Nichtexistenz der besten aller möglichen Welten widersprüchlich. (Zugleich: wenn Gott das allervollkommenste Wesen ist, dann will er das Beste. Die eine Welt ist die beste aller möglichen. Also etc.) Dieses Konditional ist die Crux der rationalistischen Metaphysik. Auch der Rekurs auf das cartesische Cogito und die Grundlage, dass nur das, was klar und deutlich erkennbar ist, erst Wissen sein kann, ist eben nur dann auch als wahr anzunehmen, wenn sichergestellt ist, dass eine klare und deutliche Erkenntnis nicht täuscht; dieses Problem hat schon Descartes67 behandeln müssen. 64 Das cartesianische Cogito sieht sich darüber hinaus dem Angriff Humes ausgesetzt, der die Einheit der Person über die Selbstreflexion eben gerade nicht gewährleistet sieht. 65 Es ist aber zu beachten, dass der starke Zug Mendelssohns zur Ontologie dieser eher epistemologischen Interpretation entgegensteht. Für Mendelssohns Denken gilt diese Überlegung also höchstens in abgeschwächter Form. 66 In Anlehnung an Wolffs Ontologia § 226: »Quicquid existit vel actu est, id omnimode determinatum est.« 67 Vgl. zum Verhältnis Wolff – Descartes Euler 2004 und Stolzenberg 2005. In Wolffs Deutscher Metaphysik wird eine abgewandelte Form des cartesischen Cogito bereits eingangs erwähnt und
III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns
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Nicht nur aus heutiger Perspektive, auch für einen wichtigen Zeitgenossen Mendelssohns waren die Ausführung des dritten und vierten Abschnitts der Evidenzschrift unbefriedigend: Thomas Abbt äußert sich gerade über diese Teile der Abhandlung enttäuscht. Auch er hatte an einer Antwort auf die Frage der Akademie gearbeitet, der jedoch kein Preis zugesprochen wurde.68 Der Briefwechsel vor der Abgabe der jeweiligen Arbeit weist auf einen geringen Ideenaustausch zwischen Mendelssohn und Abbt hin (siehe dazu ausführlich Altmann 1969, 255–59). Beide wollten, so ihre Vereinbarung, ihre »Waffen« erst für sich schmieden, bevor sie sie vorzeigten.69 Abbt wählte in seiner Beantwortung eine von Buschmann als »anthropologisch« definierte Perspektive, die allerdings mit dem Ausdruck »psychogenetisch« angemessener beschrieben ist.70 Er versucht, streng nach den Gesetzen der Begriffs- und Vorstellungsentwicklung eines Individuums die Evidenz metaphysischen Wissens zu erweisen. Die Anleihen an Locke und Hume sind hier besonders merklich (z. B. Abbt, Werke 4, 71) und so ist es schließlich die Gewohnheit, die mithilfe der Einbildungskraft und des Gedächtnisses den Menschen von der Objektkonstanz und der Gesetz-
gilt somit in spezifischer, jedoch weitaus erfahrungsgebundenerer Form (s. oben, FN 55), als man für den ›Leibnizianer‹ Wolff annehmen möchte, als Grundstein seiner Überlegungen. Mendelssohn schließt sich hier an Wolff an. Wichtig ist im gegebenen Zusammenhang, dass auch Descartes die Verbindung zwischen cogito und der Existenz des Denkenden auf eine Idee zurückführt, die nicht im denkenden Selbst liegen kann; nämlich die Idee der Vollkommenheit. »If the worlds transcends the individual self at all, and thus transcending exhibits a drive towards what is ›positive‹, and indeed, towards ›perfection‹, then it would be wrong to question its most pervasive manifestations of transcendence through the [clear and distinct] ideas of external objects.« (Buchdahl 1967, 168, vgl. 165) Vorausgesetzt ist dabei wiederum, dass »Existenz« als eine positive Bestimmung verstanden wird. Buchdahls Descartes-Kapitel ist überhaupt eine präzise – wenngleich auch bisweilen zu sehr eine proto-kantianische Perspektive unterschiebende – Untersuchung der Verbindung zwischen dem Denken und dem Substanzbegriff in Descartes’ methodischem Zweifel. 68 Sie erschien erst postum im vierten Band der Vermischten Werke (1780) unter dem Titel »Versuch einer Auflösung der Frage: Ob die metaphysischen Wahrheiten überhaupt einer solchen Evidenz fähig sind, als die mathematischen?« (S. 59–134). 69 Siehe das Schreiben vom 4. Juli 1762, in dem Mendelssohn von einem »Zweykampfe« spricht; »Als ich aus Ihrem Schreiben ersah, daß Sie um den Preis sich bewerben wollen, war mein erster Einfall, meine Arbeit einzustellen, und das fertige Manuskript nach Rinteln [also zu Abbt] reisen zu lassen. Der Begriff, daß meine Ausarbeitung mit der Ihrigen ringen sollte, machte mich schüchtern. Jedoch der Rath unseres Freundes [Nicolai], und meine reifere Überlegung bewogen mich diesen Entschluß zu ändern.« Er schlägt einen »Austausch« der Waffen vor, aber nicht bevor die Antworten fertig ausgearbeitet sind, »damit wir einander nicht verwirren«. Am 11. Januar 1763 übersendet er den fertigen Aufsatz, mit dem ironischen Zusatz: »Nichts sollen Sie von den 50 Dukaten [dem Preisgeld] haben.« (JubA XII/1, 5) 70 Buschmann 2000, 41. Ich bevorzuge die letztgenannte Charakterisierung, da die Verwendungsweise »anthropologisch« in diesem Zusammenhang eher anachronistisch ist und im gegebenen Zusammenhang Mendelssohns Ansatz verunklart. Es ist damit aber unbestritten, dass Abbts Ansatz mit dem, was sich später Anthropologie nannte, verwandt ist.
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mäßigkeiten der Geschehen außerhalb des Selbst versichert. Die »Beschaulichkeit« der Begriffe ist dabei wörtlich gemeint: Abbt möchte zeigen, dass sich der Einzelne über verschiedene Stufen des Wiederanschauens eines Objekts seines Urteils über es versichert. Die Seele habe, so Abbt, einen »Hang […] zur ausgedehnten Anschauung« (Abbt, Werke 4, 74); doch ist die Versicherung von der Wahrheit einer (wahrgenommenen) Ausdehnung schwierig, weil sich die Erfahrung nicht immer gleichförmig präsentiert. Die mathematischen Vorstellungen der Ausdehnung nun betrafen ihre Größe; die »physischen« etwas, was an der Ausdehnung »zum Vorschein« gebracht wird (Abbt, Werke 4, 80; 111 nennt »Würkungen und Vereinigungen«) und sind nur über das Experiment zugänglich.71 Im Folgenden beschreibt Abbt die Methoden und Vorgehensweisen der Mathematik mehr, als dass er ihre Evidenz begründete. Mithilfe der Analyse menschlicher mathematischer Erkenntnis soll sich diese von selbst zeigen, da die korrekte mathematische Methode auf klaren und deutlichen Begriffen basiert.72 In der Metaphysik ist dies ungleich komplizierter, da es hier um neue Begriffe geht, die nicht aus einer Abstraktion von bestimmten einfachen Grunderfahrungen resultieren. Diese neuen Begriffe »kann ich nicht auf diese erste Klarheit [in einer einfachen Erfahrung] hinausführen, wenn ich nicht die Objekte meiner Erkenntnis vertauschen will.« (Abbt, Werke 4, 113) Die Idee von Kraft, Substanz73 oder Gott sind nicht wahrnehmbar, sondern erfordern kompliziertere Operationen, die letztlich eher zu einer »symbolischen Gewißheit« führen, die (aufruhend auf der mathematischen Gewissheit) lediglich ihrer »Nachbarschaft [zu den] Phänomenen« (Abbt, Werke 4, 122) geschuldet ist. Ein Gottesbeweis, wie in Mendelssohn in seiner Schrift unternimmt, ist Abbt unter diesen Voraussetzungen unmöglich. Sein Ziel in diesem Abschnitt scheint allerdings weder Physiologie, Psychologie oder Anthropologie zu sein, son71
Vgl. Abbt, Werke 4, 126 f. hinsichtlich der moralischen Gesetze, die Abbt ebenfalls aus der Erfahrung abzuleiten versucht. Dabei ist v. a. das auch von ihm überraschenderweise vertretene Vollkommenheitsparadigma wenig nachvollziehbar eingeführt worden als eine Art »Intuizion« (Abbt, Werke 4, 132) angesichts der »Ordnung« der Welt, erkannt durch gleichförmige Erfahrung. Der auch aus Mendelssohns Abhandlung bekannte wolffianische Grundsatz »Mache dich als Endzweck und als Mittel vollkommener« steht letztlich unvermittelt neben diesen angeführten ›Beobachtungen‹ (vgl. Abbt, Werke 4, 127). 72 Abbt kritisiert die Metaphysik, die auf diesem Gebiet »wildert«, scharf: Die mathematischen Zeichen führen eine »Bequemlichkeit« mit sich, die auch die Metaphysiker zu nutzen versuchten; jedoch bezeichnet Abbt es als »schändlich, was für Ideen diese Leute [die »irrenden Metaphysiker«] damit verknüpft haben […]. Man könnte hier sagen, daß dem Metaphysiker alles metaphysisch – oder was oft einerley ist, deutlich ohne Klarheit werde, durch das traurige Geschäft, das Anschauen weg zu definieren.« (Abbt, Werke 4, 99) Ein Metaphysiker kann also nicht die Mathematik, die es nur mit den Größen zu tun hat, dazu benutzen, metaphysische Fragen zu klären; denn es wird ihm, so Abbt spöttisch, wenig nutzen, wenn er dafür »die Seele a, und den Leib b nennet« (Abbt, Werke 4, 100). 73 Man denke an das Titelmotto von Kap. I.2.
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dern die Reformulierung des stoischen Ideals: Wenn sich die Seele ruhig und uninteressiert den Dingen nähert, vermag sie sie zu erkennen und sich selbst ihnen gemäß zu bestimmen. So schließt er seine Abhandlung mit dem Ausruf: »Empfinde also Mensch! und denke; das Gegenwärtige nicht blos, sondern auch das künftige; bringe die Vorstellung, ihrer innern Stärke nach, von beiden zur Gleichheit! Dann überlege; dann greife zu, greife mit Affekt zu, wo es nöthig ist; umfasse das Gute, wovon du überzeugt, und nun auf diese richtige Art überzeugt bist: du wirst im Besitze dieses Guten glücklich und ruhig seyn!« (Abbt, Werke 4, 134; vgl. hier Kap. I.2, 88, FN 121 und S. 92–95) Abbt scheint sich, so Buschmann (2000, 42), »sicher, mit der individualpsychologischen, ontogenetischen und sozialintegrativen Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens im Rahmen einer philosophischen und historischen Anthropologie hinter den Unentscheidbarkeiten einer rein spekulativen Metaphysik die ursprüngliche Produktivität der Problemstellung freilegen zu können.« Das Fazit seiner Abhandlung ist dennoch wenig zufriedenstellend; letztlich kommt er – neben einer stoisch gefärbten Betonung des ruhigen Auffassens dessen, was für uns das »Gute« sei – nicht über den Humeschen ›Skeptizismus‹ hinaus. Dies scheint auch Mendelssohn so gesehen zu haben. Zwar unterstützt er vor der Hand Abbts Ansatz, äußert jedoch zugleich Vorbehalte, die in dieselbe Richtung gehen, die er gegen Hume vorbrachte. In einem Brief vom 9. Februar 1764 empfiehlt er dem Freund schließlich ein Vorgehen, das sich wie eine Kritik an dessen Arbeitsweise liest und letztlich die Sonderstellung einer – metaphysisch wie auch historisch informierten – Anthropologie betont: »[…] wählen Sie die Philosophie des Menschen.« (JubA XII/1, 35) Zugleich weist er auf die Bedeutung der Metaphysik als einer Orientierungswissenschaft hin, die innerhalb der Anthropologie das Material der menschlichen Sitten und Erkenntnisse ordnen hilft. Seine Auffassung einer anthropologischen Untersuchung meint damit anscheinend genau nicht das, was Buschmann als »anthropologisch« bezeichnet hatte: für ihn muss eine Philosophie des Menschen die genannten Bereiche verbinden, nicht sie ausschließen und in einem physiologischen oder historischen Modell verneinen. Mendelssohns Ausformulierung dieser Ansicht in der Evidenzschrift hat Abbt jedoch nicht befriedigt. Schon kurz nach der Entscheidung der Akademie schreibt er in einem Brief an Mendelssohn vom 20. Februar 1764, er stimme zwar mit den dort geführten metaphysischen Beweisen überein. Allerdings sei er davon ausgegangen, dass diese Art des Beweises von der Akademie gar nicht gefordert worden war: »Aber ich glaubte nicht, und kann es noch nicht glauben, daß es bey der Ueberzeugung blos allein auf die richtige Einsicht ankomme, daß a von b prädicirt oder nicht prädicirt werde; sondern zugleich auf die Beschaulichkeit der Begriffe a und b, und die Unverstecktheit des Urtheils darüber.« (JubA XII/1, 39, Hervorhebung A.P.) Abbt bezieht sich damit vermutlich vor allem auf den dritten Abschnitt, der in seinen schulphilosophischen Distinktionen nicht das erfüllt, was man auf die Beantwortung der Frage
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zur Evidenz erwartet hätte. Mendelssohn schien tatsächlich davon auszugehen, dass seine Ansicht »fasslicher« sei, als die der Vorgänger. Besonders weit von der schulphilosophischen Tradition hat er sich dabei allerdings, wie erwähnt, nicht fortbewegt. Wenn man mit diesem Fazit zufrieden sein möchte, so ergibt sich das fast schon traditionell zu nennende Mendelssohn-Bild als ein Teil des alten schulphilosophischen Gebäudes, das Kant bis auf den Grund niederriss. Doch bei näherer Betrachtung ist Mendelssohns Konzentration auf den Menschen auch in theoretischer Hinsicht durchaus nicht nur in der Tradition der schulphilosophischen Positionen (worunter ich im gegebenen Fall eine vereinfachte Form von Wolff und Baumgartens Metaphysik verstanden wissen will), sondern auch an der ›dynamischen‹ Monadenkonzeption orientiert. Die Funktionsweise der auf einem Wahrscheinlichkeitskalkül aufbauenden induktiven Methode zeigt, dass es nicht allein um eine Diskursivierung von Wissen, sondern auch um dessen Emotionalisierung gehen musste. Dafür scheint Mendelssohn jedoch in Abbts Augen in der Evidenzschrift nicht die angemessene Sprache gefunden zu haben. Eine eingehende Diskussion zwischen Abbt und Mendelssohn über ihre (doch sehr divergierenden) Ergebnisse des Evidenzproblems ging, so Altmann (1969, 260), in der Bestimmungsdebatte unter. Man könnte es jedoch auch so formulieren: in der Bestimmungsdebatte erwies sich nur allzu deutlich, dass Mendelssohns Evidenzerlebnis bezüglich der Metaphysik durchaus stärker war als dasjenige Abbts. Er versuchte, die Einsicht in den Zusammenhang zwischen menschlicher Bestimmung und ›göttlicher‹ Metaphysik deutlicher zu machen. Ob ihm dies auch in seiner Fortsetzung im Phädon gelang, wird zu untersuchen sein. Es ließe sich in Hinsicht auf die aus der Bestimmungsdebatte gewonnenen Ergebnisse (Kap. I.2) vermuten, dass entgegen Mendelssohns Ausführungen das Evidenzerlebnis nicht allein eine Frage der Wahrscheinlichkeit ist, sondern auch die (psychologisch erklärbare) Sehnsucht nach »göttlicher Beruhigung« zutage treten lässt. Mit Blick auf diese Bemerkungen lässt sich die eingangs erwähnte Vermutung bestätigen: das Gefühl einer Krise des metaphysischen Wissens ist in Mendelssohns Evidenzschrift nicht zu spüren. Vielmehr richtete er seine Aufmerksamkeit – und die Energie seiner Arbeit – auf die Aufklärung des Gewissens, was paradoxerweise meint, dass er die Funktion und Struktur dieses ›Vermögens‹ näher untersucht, um gerade seine ›dunkle‹ Funktionstüchtigkeit zu stärken. Bevor ich mich diesem Theoriekomplex im folgenden Teilkapitel III.2 widme, sei abschließend ein kurzer Blick auf die weitere Entwicklung von Mendelssohns Theorie menschenmöglicher Evidenz geworfen.
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3. In den Morgenstunden Wie Altmann (1969, VI, ähnlich Bamberger, JubA I, XXVI) feststellte, übernimmt Mendelssohn Passagen der beiden im vorangegangenen analysierten Schriften nahezu unverändert in eines seiner letzten Werke, die Morgenstunden (1785), wobei sich zeigen wird, dass seine Absage an Hume durchaus nicht umfassend war. Die wichtigen Schritte zur Absicherung des Wissens um das »Daseyn Gottes« geht er dabei nicht im Haupttext, sondern in der Vorerkenntnis. Ähnlich wie in der Evidenzschrift lassen sich hier eigenständigere und auch im gegebenen Kontext eines anthropologischen Interesses relevante Bemerkungen verzeichnen, die den eigentlichen Beweisen vorangehen. Generell soll in dieser Vorerkenntnis »ueber Wahrheit, Schein und Irrthum« gehandelt werden, um die Argumentation auf ein sicheres Fundament wider die »Schwärmerey« (JubA III/2, 5) zu stellen. Wie dies geschehen soll und welche Propädeutik hierzu nötig ist lässt sich, zumindest in einem ersten Ansatz, durch die nähere Betrachtung der Struktur der Vorerkenntnis und ihrer leitenden Fragestellung gewinnen. Was ist Wahrheit, und wie unterscheiden wir sie vom Irrtum? Im Gegensatz zu der in der Evidenzschrift hinsichtlich der Metaphysik anvisierten Wahrheit im Beweis der Existenz fasst Mendelssohn hier das Wahrheitskriterium in der Übereinstimmung zwischen »Zeichen und bezeichneter Sache« (JubA III/2, 10), um sogleich auf das hier einschlägige menschliche Defizit hinzuweisen: Der Unterschied zwischen Urbild und Abbild ist kategorialer Natur. Der Mensch kann, da er nur Abbilder (also Vorstellungen) zur Verfügung hat, ein Abbild nie direkt mit dem Urbild vergleichen. Um dennoch einen Weg zur Wahrheitserkenntnis aufzuweisen, greift Mendelssohn auf die bereits dargelegten logischen Prinzipien zurück. Logisch wahr sind Gedanken, wenn sie denkbar sind; ihr Wahrheitskriterium ist der Satz des Widerspruchs (JubA III/2, 11 f.). »Die Sphäre des Würklichen ist [aber] enger eingeschränkt als die Sphäre des Denkbaren; alles Würkliche muß denkbar seyn, aber sehr vieles wird gedacht werden können, dem nie eine Würklichkeit zukommen wird.« (JubA III/2, 13) Man denke an die Einordnung der Mathematik im Gegensatz zur Metaphysik in der Evidenzschrift. Maßstab der Wirklichkeit ist die Idealität der Gedanken und Vorstellungen, die als meine Gedanken und Vorstellungen ebenso meine Realität bewiesen (JubA III/2, 14), wie auch durch die Abänderungen dieser Vorstellungen die Außenwelt. Jedoch ist der Schluss auf die Wirklichkeit der Außenwelt mehr ein Bedürfnis, als dass sie sich tatsächlich durch bloße Aufmerksamkeit auf unsere Vorstellungen beweisen ließe. Sinnestäuschungen und die generelle Beschränktheit des Erkenntnisvermögens stehen dem im Wege. Mendelssohn schlägt eine differenziertere Vorgehensweise vor, die seine Ansicht zum Wahrscheinlichkeitskalkül erweitert: Es muss eine »Uebereinstimmung verschiedner Sinne« (JubA III/2, 15) und mit den
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Eindrücken anderer Personen geben.74 Wenn wir so die Kenntnis von Gegenständen außer uns gefestigt haben, können wir nach den genannten logischen Gesetzen zu Urteilen und Schlüssen gelangen, die sich nun von den rein logischen Urteilen darin unterscheiden, dass sie einen empirischen Kern enthalten. Es mag hier dahingestellt sein, dass diese Vorgehensweise auf immense Probleme stößt; dies zeigt auch der Umstand, dass Mendelssohn mit diesem Versuch, die Humesche Position mit seiner eigenen, wolffianischen Position der Gedanken von der Wahrscheinlichkeit zu verbinden, die inzwischen publik gewordenen Ergebnisse der kritischen Philosophie Kants völlig ignoriert.75 Mehr sind im gegebenen Zusammenhang die von ihm in Anschlag gebrachten anthropologischen Überlegungen von Belang. Mit Mendelssohns Ansatz soll auch die »Experimentalerkenntnis«, also der Inbegriff der empirischen und induktiven Methode, zur »wirklichen« Erkenntnis (vgl. JubA III/2, 16) werden.76 Die Quelle von so gewonnenen Naturgesetzen wie z. B. der Kausalität ist demzufolge dreifach: 1. (tierisch) gemäß einer »bloßen Association der Begriffe« 2. Erfahrung (beim »gemeinen Haufen der Menschen«) 3. Vernunft (»bey den Weltweisen«) (vgl. JubA III/2, 18) 74
Damit schließt sich Mendelssohn wiederum an Leibniz’ Meditationes de cognitione, veritate et ideis (1684) an, der den Zusammenhang der Wahrnehmungs- (notio) und Erkenntnisform (cognitio) betont und für die klaren und verworrenen Ideen festhält, dass sie sich allein aus einer einzelnen Sinneswahrnehmung speisen können (vgl. Hauptschriften I, 10). Im Umkehrschluss heißt dies, dass eine Erkenntnis aufgeklärt werden kann, indem mehrere Sinne involviert werden. 75 Dass er Kants Kritik entgegen eigener Beteuerungen gelesen hat (Brief an Kant vom 10. April 1783, JubA XIII; vgl. auch Kant an Herz am 11. Mai 1781, AA X 270), wird in der Kontroverse mit Jacobi deutlich. Dieser hatte sich auf Kants Kritik berufen: »Das Denken, in seinem Wesen betrachtet, ist nichts anders, als das Seyn, das sich fühlet.« (nach JubA III/2, 210) Es ist das »reine unmittelbare Bewußtseyn« (ebd.), nicht aber »Vorstellung und Reflexion«. Mendelssohn hält dagegen: »Allein nach Kant liegt ein Bewußtseyn bloß allen Begriffen zum Grunde; und nach Jacobi, soll das Denken nichts anderes seyn; welches zwey ganz verschiedene Behauptungen sind.« (JubA III/2, 210) Über die Auseinandersetzung zwischen Kant und Mendelssohn ließe sich weitaus mehr sagen, als bisher unternommen wurde (vgl. Engel 2001, die eine bloße Zusammenfassung liefert; eingehender widmet sich Klemme 1996 dem Austausch, schreibt jedoch letztlich Marcus Herz weitaus mehr Einfluss zu). Im gegebenen Kontext muss darauf jedoch verzichtet werden, da die Kantischen Einsichten offensichtlich kaum auf Mendelssohns Menschenbild nachwirkten. Seine einschlägigen Anmerkungen zur Inauguraldissertation von 1770 gehen allein in die Richtung, die (Baumgartensche, laut einem Brief von Herz an Kant vom 11. September 1770 (AA X, 100), aber auch generell Leibnizianische) Metaphysik zu verteidigen; Modifikationen des eigenen Standpunkts lassen sich demgegenüber nicht aufzeigen. Siehe auch die Hinweise Altmanns 1982, 148 ff. zu Mendelssohns Absicherungsversuche gegen Kants Kritik gegen den ontologischen Gottesbeweis. 76 Vgl. zur Kritik an Mendelssohn, auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann, die Einleitung von Bamberger, JubA I, XXV f. Dort findet sich auch der Hinweis, dass Mendelssohn seine erkenntnistheoretische Position seit den Gedanken nicht aufgegeben hatte, sondern sie »wörtlich« in die Morgenstunden übernahm.
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und richtet sich nach dem Grad der Deutlichkeit der Schlüsse, die aus bestimmten Eindrücken gezogen werden. D. h. auf Stufe 1 richtet man sich nach Empfindungen, auf Stufe 2 nach Urteilen, auf Stufe 3 nach Schlüssen, die Vernunftwahrheiten ergeben. Stufe 2 und 3 unterscheiden sich in dem Sinne, dass erst aufgrund der Vernunftschlüsse der Mensch »nach den Grundsätzen der Vernunftkunst Rechenschaft zu geben« vermag (JubA III/2, 19, Hervorhebung A.P.) und durch bloßes Nachdenken Wahrheit erlangen kann.77 Genetisch betrachtet, steht also die alles begründende und tragende Einsicht auf der höchsten Stufe menschlicher Bildung, Erkenntnis überhaupt ist aber auf allen Stufen menschlicher Entwicklung möglich.78 Diese »Vermischtheit« der Schlüsse, die die Wirklichkeit betreffen, findet man nicht nur in Erkenntnisurteilen, sondern auch in denen der »Seelenlehre und der Moral« (JubA III/2, 21), also allen dem Menschen zugänglichen und ihn interessierenden Gebieten. Letzte Sicherheit in unseren Urteilen bietet uns dabei die »Natur des menschlichen Verstandes« (JubA III/2, 26), demgemäß wir eben diese SynthesisLeistungen vollziehen müssen; häufig erlebte Zusammenstimmung führt zu einer Annahme von immer größerer Evidenz und Sicherheit, bis diese Zusammenstimmung als Ursache-Wirkungsgefüge zu bezeichnen ist. Eine reine Häufigkeitsbestimmung, gepaart mit der Voraussetzung von Bedürfnissen der menschlichen Seele, kann »der höchsten Evidenz [also der Wirklichkeit] so nahe kommen, daß ihr Unterschied nicht mehr merklich ist« (JubA III/2, 26, Hervorhebung A.P.). Wahrheit gründet so letztlich in der »Würkung unserer positiven Seelenkräfte« (JubA III/2, 29), Irrtum in ihrer Fehlleistung. Ein in diesem Zusammenhang interessanter Aspekt ist derjenige der Sinnestäuschung. Diesen »Schein« diagnostiziert Mendelssohn als eine der notwendig zu Irrtümern führenden Fehlleistungen und widmet dessen auch anthropologischen Implikationen 1781 eine kurze Notiz (Über Wahrheit und Schein, JubA III/1, 278). Sinnestäuschung basiert dementsprechend auf »unentwickelten« Begriffen (ein Terminus, den man mit dunklen, oder auch klaren und verworrenen Begriffen gleichsetzen darf ), die den Irrtümern des Verstandes eine gewisse Eindringlichkeit voraus haben. »Jener, der Sinnenschein nehmlich, nähert sich der unmittelbaren Erkenntniß und wird dadurch unwiderstehlicher. Unrichtige Urtheile, falsche Schlüsse, können durch den richtigen Gebrauch des Verstandes, verbessert und in Wahrheit verwandelt werden. Sinnenschein aber bleibt unveränderlich […].« (JubA III/2, 29) Sie sind, der Einteilung der Evidenzschrift gemäß, als beständige 77
Wobei das Manko, dass es sich auch bei diesen Vernunftschlüssen letztlich um »unvollständige Induction« (JubA III/2, 21) handelt, die bei strenger Betrachtung wohl kaum »allgemeine Gesetze der Natur« (ebd.) begründen können, erhalten bleibt. 78 So mag auch hier ein Grund liegen, weshalb Mendelssohn in der Bestimmungsdebatte mit Abbt derart optimistisch ist, dass jeder Mensch in gewissem Sinne eine zureichende Kenntnis seiner selbst und der Welt gewinnen könne.
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Erscheinungen zu charakterisieren, die ihr So-Sein der Beschaffenheit den menschlichen Sinnen verdanken, also aus menschlicher Perspektive ›objektiv‹ erscheinen; oder, anders ausgedrückt, über die sich alle Menschen untereinander einig werden müssten. Insgesamt findet sich hier, so auch Dahlstrom, eine durchaus schwächere Zurückweisung des Idealismus, als noch in der Evidenzschrift.79 So weist er das Wahrheitskriterium der Korrespondenz zwischen Ding und Erscheinung als unzureichend zurück, da wir keinen Weg wissen, Kopie und Original zu vergleichen und bezieht sich in seinen Überlegungen vornehmlich auf die Gültigkeit der Induktionsschlüsse gemäß des Wahrscheinlichkeitsaufsatzes. Fehlerhaftes Wissen ist damit einer »unvollständigen Induction« (JubA III/1, 29 f.) geschuldet, entspringt aber auch menschlichen Bedürfnissen. Vor allem unsere bisherige Erfahrung und unser Bestreben nach einheitlicher Erkenntnis arbeiten dem Sinnenbetrug zu; man bleibt bei den Fehlern und entwickelt die Begriffe von den täuschenden Gegenständen nicht weiter, um nicht sehen zu müssen, wie unvollständig das Wissen eigentlich ist.80 Ein so beschriebener Umgang mit Wissen besitzt damit zugleich Schutzwirkung; letztlich sollte der Mensch sich auf das ihn wirklich Betreffende konzentrieren. Bezüglich der Sinnestäuschung kommt Mendelssohn in diesem Sinne auch auf »alle Täuschungen der schönen Wissenschaften und Künste« zu sprechen, denen er eine menschenspezifische Notwendigkeit einräumt. Prima facie sind sie vor allem eines: unsicher. »Die innere Empfindung der Lust und Unlust, des Wohlbehagens und des Schmerzes, hat mit dem Räumlichen und Figürlichen nichts gemein. Blos durch die öftere Wiederholung, durch das öftere Zusammenseyn und Aufeinanderfolgen dieser verschiedenen Erscheinungen, verbinden sie sich in unserer Seele so fest, daß wir auf Causalitätsverbindungen zwischen ihnen schließen.« (JubA III/2, 32) Eine vermeintlich unmittelbare Empfindung, die sich auf die Lust an bestimmten räum-
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Vgl. Dahlstrom 2006 und 2002, 620: »Words and thoughts, by contrast, can be compared and so he turns to them for a determination of truth. Thus, in what today might seem a prototypically idealist move, he defines truth in terms of knowledge (‘an effect of the positive powers of our souls’ [Morgenstunden, JubA III/2, 29]) rather than vice versa.« 80 Es ist auffällig, dass Mendelssohn hier nicht auf Leibniz’ Theorie der petit perceptions eingeht, die dieser in den Noveaux Essais behandelt. Die Notiz Verwandtschaft des Schönen und Guten von ca. 1758 enthält dagegen eine bis in die Wortwahl gehende Anlehnung an Leibniz (das »Brausen des Meeres« als der Inbegriff der für den Menschen undurchdringlichen Perzeption; vgl. JubA II, 183 f., die ebenfalls aus den Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, Hauptschriften II, 599 entnommen sein könnte) und nimmt sie in seine Theorie mit auf. Mendelssohns Erklärung in den Morgenstunden kann dahingegen die Unaufklärbarkeit der Sinnestäuschungen nicht recht einsichtig machen – es bliebe immer zu fragen, wieso wir denn diese Sinnestäuschungen nicht aufklärten, wenn es doch nur darum ginge, eine Induktionskette zu vervollständigen. Leibniz hat dahingegen gezeigt, weshalb diese Induktionskette aufgrund der spezifischen Qualität der Empfindungen nicht aufklärbar ist.
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lich und figürlich bestimmten Gegenständen bezieht, gibt es somit nicht – sondern sie beruht auf Gewohnheit. Gleichzeitig gründen Gefühle der Lust und Unlust anlässlich künstlich hervorgerufener Umstände (im Theater, angesichts einer Statue) auf eben derselben unvollständigen Induktion, mit der wir auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Zeichen und der Sache schließen. Der ›Fehler‹ liegt letztlich nicht in der Empfindung selbst, sondern in dem selbst hergestellten, unvollständigen Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt. In der Kunst gilt die Freiheit, es um der emotionalen Einbindung willen bei den unvollständigen Induktionen zu belassen (vgl. Kap. II.3). Selbst wenn wir durch Vernunft also wissen, dass hier eine Täuschung stattfindet, werden wir Mitleid haben mit (der Statue des) Laokoon; vielleicht nicht im emphatischen Sinne, aber doch wird sich uns das Gefühl der (angenehmen) Unlust – vermeintlicherweise unmittelbar – erschließen. Wir schließen »von Zeichen der Leidenschaft auf Leidenschaft« (JubA III/2, 33). Verstärken lässt sich dieses Gefühl dadurch, wenn wir uns wissentlich der Täuschung überlassen, indem wir »zu unserm Vergnügen vorsätzlich [von der Täuschung] abstrahiren« (ebd.). Bei der Beurteilung der Täuschung weist Mendelssohn, im Gegensatz zu den ›ästhetischen‹ Schriften, nicht dem Geschmack, sondern dem ihm verwandten »gesunden Menschenverstand« einen wichtigen Stellenwert zu. Die unbewusst ablaufenden Vernunftschlüsse einer vermeintlichen Kausalität identifiziert er mit der Tätigkeit des gesunden Menschenverstandes in Bezug auf die »sinnliche Erkenntiß« (JubA III/2, 36), während beim Denken (als verständige / vernünftige Erkenntnis) die Vernunft die Regeln gibt. Täuschung basiert demgemäß, ähnlich wie Fehlschlüsse, auf einem Fehler im Urteil, indem wir aus einer nur unzureichenden Anzahl an Sinnesdaten Folgerungen auf ihre vermeintliche Verbindung mit der ›Wirklichkeit‹ ziehen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit die Rolle des Geschmacks abgetan sei, denn nach wie vor ist die Empfindung von Schönheit selbst nicht von der Leistung der Vernunft abhängig: »Wo ihr Schönheit empfindet, da muß Schönheit anzutreffen seyn […].« (JubA III/2, 40) Dabei ist die Art und Weise, wie diese Schönheit im Objekt anzutreffen sein soll, problematisch, denn hier geht »die Seele gleichsam aus sich heraus« (ebd.) und schließt auf etwas, was außerhalb ihrer Sphäre liegt, eben auf die Wirklichkeit der Schönheit. Falschheit schleicht sich also erst mit der Beurteilung der Schönheit ein. Der richtige oder gute Geschmack ist derjenige, der sein Urteil auf den »Eindruck des Ganzen« (JubA III/2, 41) gründet. Problematisch sind dabei Mendelssohns nur angedeutete Kriterien für ein gelungenes Ganzes. Damit reduziert er das Schöne auf ein gewisses Maß, eine spezifische Ausgewogenheit – eine einsichtige Charakteristik des Schönen bleibt jedoch hinter diesen sehr unbestimmten Bestimmungen verborgen. Deutlich ist dahingegen der rezeptionsästhetische Zug dieser Überlegungen. Denn wie auch immer die objektive Verbindung zu einem schönen Gegenstand geartet sei, sind die Empfindungen, die er hervorzurufen imstande ist, nicht bezweifelbar. Das Urteil ›dies ist schön‹ ist damit nicht nur objektiv,
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sondern auch in Bezug auf das Empfinden der Seele, also subjektiv zu verstehen. Eine Erkenntnis des Schönen ist für Mendelssohn, ähnlich Kant, ein Kategorienfehler, denn hier geht die Seele über das hinaus, was sie zu leisten vermag. Situiert wird die Ästhetik im gegebenen Zusammenhang eindeutig in der Sphäre des gesunden Menschenverstandes. Die Täuschung ist nur angenehm, wenn sie auch durch ihn bestimmt und begrenzt ist.81 Nach einer hier nicht weiter relevanten Behandlung der Frage nach der Unterscheidbarkeit von Traum und Wachen (den Mendelssohn mit der »wohlgestimmten Harmonie« im »Totaleindruck des Gegenwärtigen« (JubA III/2, 50) in der Wirklichkeit im Gegensatz zum Traum gut Wolffianisch begründet) und der Ankündigung des Nachweises von der Realität der Dinge im Hauptteil (die Realität des Ich hatte schließlich nur auf das Bedürfnis einer Annahme dieser hingewiesen), ist in der Vorerkenntnis ein deutlicher Bruch zu verzeichnen. Mendelssohn weist den Streit um die Realität der Außenwelt letztlich als ein Wortgefecht aus – und lässt es dabei bewenden. Anstatt dessen wendet er sich von der Frage nach der Wahrheit unserer Erkenntnis einem anderen Aspekt zu, der in Kap. III.3 diskutiert werden soll. Insgesamt ist an der Vorerkenntnis deutlich abzulesen, dass Mendelssohn die Gebiete seiner vorangegangenen Untersuchungen übernimmt und ihnen zugleich einen stark moralisierenden Zug verleiht. In Bezug auf das Induktionsproblem hingegen lässt sich eine Erweiterung des Blicks feststellen – betont er in seinen Überlegungen neben der Methode von Hypothesenbildung und empirischer Verifikation vernünftiger Grundsätze nun stärker den Akt der Verständigung darüber. Mit seiner Betonung der Induktion als einer durchaus auch falliblen Erweiterung des Wissens zeigt er darüber hinaus, dass die Anwendung des Wahrscheinlichkeitskalküls weit gehen kann, aber nicht alles abdecken darf. Selbst ein rationaler Gottesbeweis lässt in Hinblick auf eine positive Religion keine weiteren apodiktischen Schlussfolgerungen, denen andere beistimmen müssen, zu: »Ich von meiner Seite bleibe bey meinem jüdischen Unglauben, traue keinem Sterblichen einen engelreinen Mund zu, möchte selbst von der Autorität eines Erzengels nicht abhängen, wenn von ewigen Wahrheiten die Rede ist, auf welche sich des Menschen Glückseeligkeit gründet, und muß also schon hierin auf eigenen Füßen stehen oder fallen.« (JubA III/2, 218) In der Metaphysik könne die Frage nach einer Letztbegründung, nach einem apodiktischen Wissen gestellt werden; in der Religion und in der Sittenlehre sei sie in dieser Form überflüssig, denn die »augenscheinliche Induktion« (An die Freunde Lessings (1785), JubA III/2, 213) reiche hier aus. Darüber hinaus umfasst deren Un81
Im gegebenen Zusammenhang fällt auf, dass der Bereich des ästhetischen Schrecklichen nur noch unzureichend repräsentiert ist. Mendelssohn schien dieses Gebiet zu gefährlich geworden zu sein.
III.1 Wahrscheinliche Evidenz. Die Propädeutik des Handelns
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tersuchungsgebiet allein das Naturrecht und die Vernunftreligion; weiter kann die Philosophie das Leben, Denken und Fühlen der Menschen nicht bestimmen. Mit dieser Eingrenzung versucht Mendelssohn, das menschliche Maß der Philosophie zu erhalten. In gewisser Weise ist nach wie vor der Einfluss seiner Hume-Lektüre zu bemerken; und bezeichnenderweise wird er diesem noch immer nicht gerecht. Im gegebenen Zusammenhang bemüht er sich zwar nicht, die rationale Grundlage der Induktionsschlüsse zu beweisen – dies hatte er in den vorangegangenen Schriften, so seine Auffassung, zur Genüge geleistet.82 Sondern es geht ihm darum, die Gründe und auch die Grenzen der Akzeptanz von (unvermeidlichen) Fehlurteilen des Menschen festzusetzen. Er sieht also, mit Hume, die subjektive Grundlage der Induktionsschlüsse, deren Berechtigung er vorher glaubte gegen diesen verteidigen zu müssen. Zugleich folgt er ihm nun auch darin, dass die Gefahr der grundsätzlichen Angreifbarkeit vernünftiger Schlüsse eine Begrenzung der Philosophie erfordere83, ohne dass er doch dessen generelle Richtung akzeptierte. Er versucht vielmehr eine rationalistische Etablierung wissenschaftlicher Toleranz, indem er die Unsicherheiten und Grenzen aufzeigt und zugleich Wege ihrer Absicherung weist. Davon unberührt bleibt Mendelssohns grundsätzliches Vertrauen darauf, über die metaphysische Vergewisserung der Gültigkeit rationaler Prinzipien die Begründetheit und den Wert dieser Denkrichtung bewahrt zu haben.
82
Obwohl der Aspekt der bloßen Annäherung hier stärker betont ist, siehe das obige Zitat, JubA III/2, 26: der Unterschied zwischen apodiktischer Vernunftwahrheit und hinreichend wahrscheinlicher Tatsachenwahrheit ist »kaum merklich«. 83 In diesem Sinne überbewertet er Humes Skeptizismus. Dieser ist bspw. niemals so weit gegangen, mathematische Gesetze etc. zu verneinen, obwohl sie sich für ihn letztlich ebenfalls auf Erfahrung stützen müssen. »To rely on careful observation of constant conjunctions – despite the fact that it always falls short of giving the proper grounding demanded by philosophical skeptical reflection – remains nontheless the only method for arriving at reasonable causal beliefs outside the skeptical inquiry.« (De Pierris 2001, 378) Dass Humes Ansatz dennoch für die rationalistische Form der Apodiktizität problematisch bleibt, indem er deren grundliegend dialektische Anlage herausarbeitet (vgl. oben, FN 7), kann hier nicht weiter ausgeführt werden.
III. Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls Der Zusammenhang zwischen epistemologischen und metaphysischen Überlegungen innerhalb Mendelssohns praktischer Philosophie ist wiederholt angeklungen. Mendelssohn geht es um die praktische Nutzbarmachung der erwähnten Positionen, aber auch darum, ihren Zusammenhang mit der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit herauszuarbeiten. Noch immer ist auch Rousseaus Provokation von der Degenerierung des Menschen qua Verstandesausbildung nicht vergessen. Dementsprechend bilden die Aspekte der Freiheit menschlicher Handlungen und ihrer Beziehung zur Erkenntnis, sowie deren Beeinflussung durch die Sinnlichkeit und damit auch die Ästhetik ein Gebiet seines primären Interesses. Er ist bemüht, die verschiedenen Bestandteile zu einer umfassenden Theorie eines gut handelnden, wollenden und fühlenden Menschen zusammenzufügen. Dabei ist auch der Einfluss einer im zeitgenössischen Kontext neuartigen Bestrebung auszumachen: welche Rolle spielt das Unbewusste in Form von Leidenschaften und Körpererregungen in Mendelssohns Argumentation? Der fundus animae, der dunkle Grund der Seele, war schon von Leibniz ins Spiel gebracht und von Baumgarten zu einem Fundament menschlichen Lebens geadelt worden. Zwar sind die Nouveaux Essais, die die Lehre der kleinen Perzeptionen in ihrer am weitesten ausgearbeiteten Form enthalten, vor 176484 unbekannt; doch die einschlägigen Überlegungen dazu finden sich auch in anderen, bereits veröffentlichten Schriften und Briefen Leibniz’85. Ausgehend von der Diskussion im Anschluss an Descartes’ Primat der klaren und deutlichen Erkenntnis und der Frage nach Leben und Tätigkeit der Seele, was eine beständige, aber nicht durchgängig klare und deutliche Denktätigkeit voraussetzt, haben sich die rationalistischen Denker des Unbewussten als einer Form der potentiellen Erkenntnis und des dunkel tätigen Grundes menschlichen Lebens angenommen: der interne Zusammenhang zwischen dunklen ›Denk‹akten und deren potentieller Auflösbarkeit sollte die in sich konsistente Person garantieren. Die dunklen Empfindungen dienten dabei als Verbindungsglied von an sich disparat erscheinenden Erfahrungen. Damit war 84
Wie in einem Brief an Abbt vom 12. Juli 1764 bezeugt, waren die Nouveaux Essais Mendelssohn zu diesem Zeitpunkt, und nicht erst mit dem offiziellen Erscheinungsdatum 1765, bekannt; »Sie enthalten trefliche Ideen«, was sich nach eigener Aussage auf die ersten 41 Druckseiten bezieht (JubA XII/1, 50). 85 Altmann 1969, 128, Anm. 59 zitiert hierzu einen Brief Leibniz’ an Christian Goldbach, in dem sich die Anerkennung des Unbewussten in der Musikrezeption deutlich äußert. Der Brief ist in Leibnitii Epistolae ad Diversos, Hg. v. Christian Kortholtus. Leipzig 1734; Brief CLIV, 239– 42 abgedruckt; Mendelssohn besaß diese Ausgabe (siehe Bücherverzeichnis 421/43), was seine Bekanntschaft mit diesen Überlegungen zumindest nahelegt. Im vorangegangenen Teilkapitel habe ich bereits auf andere mögliche Fundstellen dieser Idee bei Leibniz hingewiesen, vgl. Kap. III.1, 286, FN 80.
III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls
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ihre Unbewusstheit jedoch noch nicht ihres problematischen Status enthoben, da sie die Handlungsmotivation für die klare und deutliche Erkenntnis unzugänglich zu machen droht. Musste das Primat der ratio gerade in der Moralphilosophie und Handlungstheorie aufgehoben werden? Oder waren menschliche Leidenschaften im Sinne einer Korrektur der blinden Sinnlichkeit zu unterdrücken? Mendelssohn versucht, die positive Rolle der dunklen Empfindungen und Leidenschaften zu begründen und sie in ein umfassendes Konzept zu integrieren, indem er die den oberen Erkenntnisvermögen parallel geordneten Fähigkeiten des Wahrheitssinns, des Gewissens und des Geschmacks als nur dunkel oder verworren bewusste Funktionen der vernünftigen Seelenvermögen ausarbeitet. So fragt er in den Briefen über die Empfindungen: »Warum sehen wir die Gegenstände unserer Begierden immer durch das Sehrohr der Leidenschaften an, und die Gründe, die uns davon abhalten, betrachten wir niemals, als nachdem wir das Rohr umgekehrt?« (JubA I, 303)86 Leidenschaften sind also nicht nur Verführer, sondern auch für moralisch gute Handlungen beachtenswert. Eine »ästhetische Ordnung des Handelns«87 war auch in Mendelssohns Interesse. Es wird zu untersuchen sein, wie sich Leidenschaften konstituieren und welchen Effekt sie zeitigen, um sie in eine umfassende Theorie menschlichen Handelns und Empfindens zu integrieren. Dazu ist eingangs auf Mendelssohns Reformulierung der Gewohnheitstheorie zurückzukommen, die auf die Besonderheiten der menschlichen Freiheit bei gleichzeitiger Bestimmung durch auch sinnlich affizierte Bewegungsgründe rekurriert. Deutlich wird hier das Bemühen, die unterschiedlichen Positionen Leibniz’ und Humes einander anzunähern und eine konsistente Theorie menschlichen freien Handelns zu entwickeln (1.), das (auch) durch das Bewusstsein zureichender Gründe motiviert sein muss. Anschließend ist darauf einzugehen, wie Mendelssohn in Anschluss an diese Überlegungen und an die Theorieansätze Sulzers die Wirksamkeit der dunklen Empfindungen für seine Theorie nutzt, indem er sie auf eine Versinnlichungsstrategie klarer Erkenntnis anwendet. Die Etablierung des Wahrheitssinns, des Gewissens und des Geschmacks stehen hier im Mittelpunkt der Betrachtung (2.), wobei auch die Thematik der sittlichen Verbesserung durch Kunst (vgl. Kap. II.1, 145–53) noch einmal aufgegriffen wird. Abschließend soll ein schon seit 1755 bestimmender Grenzfall der optimistischen rationalistischen Philosophie näher untersucht werden: unter der Frage, ob man das Böse oder auch Schlechte wollen kann, hat sich Men86
Vielleicht ist dies auch eine Anspielung auf Meiers Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744, § 101): »Unsere Erkenntnißkraft ist in den Leidenschaften ein Vergrösserungs- oder Verkleinerungsglas.« 87 So der Titel der mit der handlungstheoretischen Verbindung von Ästhetik und Moralphilosophie in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts (mit Schwerpunkt bei Johann Jakob Engel, Christian Garve, Adam Smith und David Hume) befassten Dissertation von Doris BachmannMedick (1989).
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Kapitel III · Erkennen und Handeln
delssohn wiederholt mit dem Problem des Selbstmords als eines Grenzfalls menschlicher Handlungsmöglichkeit befasst (3.). Inwiefern passt ein autodestruktiver Wille zum Konzept eines rational bestimmten und zugleich sinnlichen Menschen?
1. Die Möglichkeit unbewusster Freiheit Als Grundlage der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten menschlichen Handelns und seiner ›Verbesserung‹ ist unter Rückgriff auf Mendelssohns Äußerungen dazu festzulegen, welche Art von Handlungen sich überhaupt für eine Diskussion der Motivationstheorie anbieten. Es sind die ›freien‹ Handlungen, womit freilich noch nicht viel gesagt ist. Erwartungsgemäß – als Leibnizianer – hat er diesen Bereich in zweierlei Hinsichten beschrieben. Zum einen gelten ihm alle Handlungen, ebenso wie Verhalten, Widerfahrnis etc. als determiniert in einer harmonisch eingerichteten Weltordnung; zugleich aber sind sie Tätigkeiten, die mit einem spezifischen Bewusstsein oder einer bestimmten Form der Beobachtbarkeit und Zuschreibbarkeit verbunden sind.88 Im vierten Abschnitt der Evidenzschrift konzentriert sich Mendelssohn auf die Evidenz in der Sittenlehre, in der die aufgewiesene durchgängige Bestimmung nach dem SvG und sein Zusammenhang mit der Handlungsfreiheit diskutiert werden muss. Er kommt dabei auch auf seine Wahrscheinlichkeitstheorie zurück, die damit in engem Zusammenhang steht.89 In Mendelssohns Formulierung: »Es hat also jede
88
Wie die Aufteilung der Argumentation anzeigt, lehnt sich Mendelssohn hier womöglich an das Argumentationsmuster Leibniz’ an, wie dieser es in der Confessio philosophi (zuerst 1672/73, zweite Auflage 1672/73) in den Rollen des Theologus und Philosophus durchspielt, vgl. dazu Lorenz 1997, 60–67. 89 Altmann 1969, 220 f.: »Was bei Mendelssohns Darstellung der Wolffschen Position bei genauerer Analyse zutage tritt, ist die merkwürdige Tatsache, daß er zwar ausgiebig und textgetreu mit dem Begriff der Wahrheitsgründe operiert, aber jeden Bezug auf den Begriff des zureichenden Grundes vermeidet. Erst im Schlußteil der Abhandlung, wo das Problem der göttlichen Präscienz behandelt wird, taucht der Begriff des zureichenden Grundes auf.« Altmann vermutet Mendelssohns Absicht einer dramatischen Wirkung, wenn das eigentliche »Licht«, das man mithilfe der Wolffschen Definition im Gegensatz mit derjenigen der Mathematiker erhalte, erst zum Schluss der Abhandlung auftaucht. Allerdings ist dieser Vermutung nicht durchgehends zuzustimmen, denn bereits einige Seiten zuvor, JubA II, 299, taucht der SvG explizit auf. Auch einige Seiten zuvor, S. 294 greift Mendelssohn – für den zeitgenössischen Leser deutlich – auf ihn zurück. Im Verlauf der Argumentation (S. 302 f.) wird der SvG zur Grundlage aufgezeigt, um etwas Bestimmliches (Mögliches) als etwas Bestimmtes (Wirkliches) zu bezeichnen. Alle Bestandteile eines wirklichen Dings müssen (zumindest potentiell) durchgehend bestimmt sein, weshalb letztlich (S. 304) der SvG gleichbedeutend ist mit dem SvW – allerdings basiert diese Gleichheit nicht auf einer bloßen Nichtwidersprüchlichkeit, sondern auf der Güte Gottes und verlangt als metaphysische Prämisse zumindest einen validen Gottesbeweis. Vogt 2005, 91 vermutet, dass Mendelssohn den Bezug auf
III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls
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Bestimmung ihren zureichenden Grund, das heist, eine jede Bestimmung setzt eine Bedingung des bestimmlichen Subjects voraus, aus welcher sich begreifen läßt, warum es vielmehr so, als anders bestimmt wird.« (JubA II, 303) Dies gilt auch bei den zufällig erscheinenden Ereignissen, die nicht gemäß des SvW, sondern – auch aus göttlicher Perspektive –, durch die Verknüpfung nach zureichenden Gründen den Status sicherer und notwendiger Ereignisse erhalten. Es ist also zwischen der ›objektiven‹ Gottes- und der ›subjektiven‹ Menschenperspektive zu unterscheiden. »In dem Verstande Gottes ist alles Wissenschaft« (JubA II, 306), der Mensch hingegen kann hier nur wahrscheinliches Wissen erlangen. Mendelssohn diskutiert beide Wissensarten und verteidigt unter Rückgriff auf beide die Geltung des Wahrscheinlichkeitskalküls. Es ist aus diesem Grund auch im gegebenen Zusammenhang auf die Gedanken von der Wahrscheinlichkeit zurückzugreifen.
a) Gottesperspektive In Anschluss an Leibniz bekämpft Mendelssohn die Definition der Freiheit als einer »gänzlich unbestimmten Wahl, in einem aequilibrium indifferentiae« (JubA I, 162). Einige »Weltweise« meinen, unsere Bewegungsgründe sei zwar ein möglicher, aber kein zureichender Grund unserer Handlungen. Denn wären sie es, würde die Handlung nicht aus Freiheit, das heißt hier: gemäß dem Prinzip des »aequilibrium indifferentiae«, also völlig unbestimmt vollzogen, sondern sei festgelegt. Ist aber, so Mendelssohn, Freiheit die völlige Unbestimmtheit, kann die Summe der Bewegungsgründe nicht zureichen, um eine Handlung zu erklären oder, im Falle Gottes, vorherzuwissen. Gott besitze demzufolge keine Präscienz – und darüber hinaus wäre die Geltung des Satzes vom zureichenden Grund empfindlich eingeschränkt, da sich niemals genügend Gründe angeben ließen, um etwas überhaupt zu bestimmen. Mendelssohn wendet nun seine Wahrscheinlichkeitstheorie an, um zu zeigen, welche Konsequenzen eine solche Ansicht nach sich zieht: »Wenn diese Weltweisen die Präscienz solcher Dinge, die von der Freyheit abhangen [also die Determiniertheit aller Handlungen; A.P.] für schlechterdings unmöglich halten; so kan dem Allerhöchsten in Ansehung unsrer zukünftigen Handlungen nicht einmal eine wahrscheinliche Erkenntnis zukommen.« (JubA I, 163) Denn wenn keine letztendliche ein derart umstrittenes Theorem wie den SvG vermeiden wolle; damit ist allerdings nicht erklärbar, warum er ihn dann in der Folge wiederholt und betont nennt. Der darüber hinausgehende Aussage: »Mendelssohns Absicht ist, mit Hilfe psychologischer Begriffe der Wirklichkeit der menschlichen Erkenntnis zu beschreiben, ohne auf metaphysische Annahmen zurückzugreifen.« (ebd., Hervorhebung A.P.) ist im gegebenen Zusammenhang nicht zuzustimmen. Selbst eine streng empirische Darstellung vertrüge sich – ohne die metaphysischen Prämissen, an denen Mendelssohn explizit festhält – ebenfalls nicht mit der vorangegangenen Auseinandersetzung mit Hume, siehe III.1.
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Kapitel III · Erkennen und Handeln
Quantität an Beweggründen festgelegt werden kann, weil sie unendlich ist und kein Bewegungsgrund (oder Gruppe an Bewegungsgründen) zureichenden Einfluss auf eine Handlung hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer Handlung – und zwar auch aus der Gottesperspektive – gleich null. Das Verhältnis der bekannten Wahrheitsgründe zur Gewissheit ist x zur Unendlichkeit. Die bekannten Gründe können – da sie als zureichend für eine Handlung nicht akzeptiert sind – niemals die unbekannten ›Gründe‹ überwiegen, auch für Gott nicht, weshalb in diesem Fall auch seinem Wissen noch nicht einmal wahrscheinliche Sicherheit zukäme. Nun kann man argumentieren, dass eine Präscienz Gottes auch nicht sonderlich interessant ist (v. a. dann, wenn schon aus logischen wie ontologischen Gründen die im dritten Abschnitt der Evidenzschrift vorgelegten Gottesbeweise nicht überzeugten). In einer anderen Lesart zeigt sich das Problem allerdings deutlicher: wenn es niemals einen Grund für etwas gibt, so ist auch der Zusammenhang aller Tatsachen in der Welt nicht bestimmbar; letztlich ließen sich also gar keine beweisbaren Aussagen treffen, da jede Anwendung des SvG umsonst sei. Also argumentierten die Verteidiger des aequilibrium indifferentiae inkonsistent, wenn sie bestimmten Umständen einer Handlung (Umfeld, Leidenschaften, Überlegungen, Charaktereigenschaften) auch nur irgend »einigen Einfluss« auf Handlungen zugestehen. Denn diese Umstände dürften, so führt Mendelssohn aus, noch nicht einmal eine zureichende Wahrscheinlichkeit gewinnen, da immer x gegen Unendlich unbekannte Faktoren entgegenstünden. Folgerung daraus: dieser Freiheitsbegriff muss jeden Einfluss möglicher Bewegungsgründe aufgeben. Entsprechend schließt Mendelssohn mit der rhetorischen Frage: »[…] so geben ich denen Weltweisen, die der gleichgültigen Freyheit zugethan sind, zu bedenken, ob sie auch diese Folgen annehmen können, ohne gewissermassen der Erfahrung zu widersprechen?« (JubA I, 164) Im Zusatz von 1761 wird am Schluss zur Verdeutlichung dem Hinweis auf die göttlichen Eigenschaften (hier: der Präscienz) die »gemeine tägliche Erfahrung« zur Seite gestellt. Aus ihr heraus bietet sich ebenfalls der Schluss auf die Determiniertheit der Handlungen an90: »Wenn es wahr ist, daß man aus dem Charakter und aus der bekannten Denkungsart eines Menschen auf sein Thun und Lassen einen wahrscheinlichen Schluß machen kann; so müssen alle freywilligen Entschließungen eine vorausbestimmte Gewißheit haben; denn was objektive keine determinirte Gewißheit hat, das kann auf keinerley Weise erkannt werden.« (JubA I, 515, siehe auch Evidenzschrift, JubA II, 304 ff.) Mendelssohns Betonung der Wichtigkeit seiner Theorie für die Betrachtung menschlicher Handlungen ist auch deshalb notwendig, 90
Mendelssohn hatte dies nur kursorisch im Vorhergehenden, also auch schon 1756 erwähnt, jedoch nicht weiter ausgeführt, vgl. JubA I, 162, parallel 511 (Hervorhebung A.P.): »Wenn es dem moralischen Charakter eines Menschen nicht wiederspricht [sic], daß wir verschiedene Handlungen, die er vornimmt, eine einzige, oder auch viele besondere Absichten zuschreiben können…«
III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls
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da der alleinige Hinweis auf die Unmöglichkeit der »Präscienz Gottes« einen auch angesprochenen Atheisten wenig überzeugt hätte. Wie diese praktisch-pragmatische Erweiterung der Theorie der Bewegungsgründe zeigt, ist darüber hinaus auch die Zuschauerperspektive relevant: die Einschätzung fremder Handlungen nach dem Maßstab der bisher von der betreffenden Person ausgeführten Handlungen, die dem Beobachter erlauben, sich ein Bild seines Charakters zu machen, können auch dem Handelnden selbst Aufschluss über seine ›eigentlichen‹ Motive geben.
b) Menschenperspektive Parallel zur obigen Argumentation, und v. a. in Hinblick auf den 1761 hinzugefügten Schluss, können auch die freiwilligen Entschließungen des Menschen nicht gänzlich von der Gültigkeit des SvG abgehen. Zum einen können sie nichts handelnd realisieren, was logisch unmöglich ist; noch, was einer grundlegenden Geltung des SvG entgegenstünde. Doch ist die durchgängige Verknüpfung der Ereignisse dem Menschen nicht durchsichtig. Eine Unterwerfung unter die durchgängige Verknüpfung ist somit nicht als bewusster Zwang, sondern als ein freiwilliger (letztlich allein konsistent begründbarer) Entschluss zum Bestmöglichen reformulierbar. Willensfreiheit steht dann freilich in einem Spannungsverhältnis zwischen der subjektiven Erfahrung der Zufälligkeit und Bestimmbarkeit des Geschehens durch den eigenen Entschluss einerseits, sowie dem objektiv-metaphysischen Wissen um die Bestimmtheit des Geschehens andererseits. Es ›fühlt‹ sich aber nicht nur so an, dass wir frei sind, sondern, so will Mendelssohn mithilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie zeigen, wir sind es auch: denn wir sind frei, wenn wir Gründe angeben und ihnen folgen können.91 Und dies ist nur dann der Fall, wenn Gründe einen relevanten (also wenigstens wahrscheinlichen) Einfluss auf die Handlungen haben können. Mendels91
In der Abhandlung Die Seele definiert Mendelssohn den Willen als eine »Zuneigung der Vernunft zu einer Sache auf Grund der Erkenntnis, dass der Zweck dieser Sache gut ist« (JubA III/1, 229 f.). So auch in der Notiz »Ueber Freiheit und Notwendigkeit« (JubA III/1, 343–50), derzufolge ein Wille, der von einem gänzlichen Fehlen von Beweggründen bestimmt ist, gerade nicht frei ist, sondern »blindes Ungefähr«. Zur Erläuterung seiner Position, die die Verschiedenheit von Naturursachen und der Ursachen aus eigener Willkür betont, nennt Mendelssohn als Beispiel den Unterschied des Schreibens der Hand und ihres gleichzeitigen Ausdünstens. Letzteres ist in »physischen wirkenden Ursachen« begründet (die nichts mit meiner Willkür zu tun haben), ersteres folgt aus meiner Absicht. »Willkührlich ist also jede Handlung, jede Veränderung, welche die Wirkung irgend einer Endursache ist, oder bei deren Entstehung die Endursache zur wirkenden Ursache geworden ist.« (ebd., 347) Eine Veränderung in der Natur ist dadurch realisiert, dass ich sie zu meiner Absicht erhoben habe. Dadurch wird auch vermieden, dass eine durch Beweggründe bestimmte Handlung zu einer »Art von Mechanik« (ebd., 346) wird. Zum Status der Gründe, die zur Bildung einer Absicht animieren, findet sich hier jedoch wenig.
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sohn argumentiert hier ex negativo: für eine freiwillige Handlung muss auch der Akteur selbst einen zureichenden Grund angegeben können – ansonsten wäre er rein durch Leidenschaften oder eine andere Privation bestimmt. Letztlich wäre der Mensch aber auch, in gewissem Rahmen, für solche Handlungen verantwortlich zu machen: Vor einer Handlung steht eine Entschließung, und sei es die, sich nun nicht vom als gut Erkannten, sondern von einer Begierde leiten zu lassen. Dann mag die Handlung nicht als die Beste verstanden werden, doch liegt der für gut befundene Entschluss vor, sich jetzt einer Begehrung hinzugeben. Die Willensfreiheit bezieht sich allein auf diese Wahl. Wie oben bereits anklang, kann auch die Zuschreibung Dritter begründenden Status haben.92 Aus der Sicht des unendlichen Verstands ergibt sich jede Handlung aufgrund des inneren Zustands des Handelnden, der wiederum dem Handelnden selbst nicht bis ins letzte durchsichtig sein muss. In dieser Hinsicht ist die ›objektive‹ Gewissheit seiner Handlungen auch der Garant der Wahrscheinlichkeit bestimmter Handlungen des Subjekts, die es als freiwillig nach seiner Auffassung des besten Grundes ausführt: denn, sind sie im Wesen des Subjekts (nach seiner Erhaltung und Vervollkommnung in der von Gott als die Beste angesehenen Welt) begründet, so kann in dieser Hinsicht von objektiver Warte aus die Wahrscheinlichkeit der Handlungen als eine Notwendigkeit begründet werden.93 »Was subjective wahrscheinlich ist, muß objective seine ausgemachte Gewißheit haben.« (JubA II, 305) Eine freiwillige Handlung ist damit nicht definiert durch ihre Ungebundenheit, sondern durch ihre prinzipiell rationale Begründbarkeit (»Selbstbestimmung, die 92
Nicht umsonst erinnert dieser Gedankengang an den juristischen Gebrauch von ›Zuschreibung‹; im von Mendelssohn gewählten Beispiel des Verrats deutet sich eine solche Perspektive bereits an. Allerdings hat Mendelssohn, so weit ich sehe, dies nicht zu einer vollständigen Rechtsphilosophie im Sinne einer Begründung von Jurisdiktion ausgeführt. Siehe Kap. IV.3. 93 Vgl. Anmerkungen zu Abbt’s freundschaftlicher Correspondenz von 1782, JubA VI/1, 33 f. Es kümmert Mendelssohn hier ganz offensichtlich nicht, wie die vorgelagerten Implikationen zum Ge- oder Misslingen einer Handlung aussehen könnten – sei es also eine waltende Vorsehung, oder seien auch alle Handlungen zum Scheitern verurteilt (bspw. allein deshalb, da ihre Wirkungen vergehen, da der Handelnde stirbt und nichts mehr von seiner Handlung hat etc.). Wichtig ist allein der Punkt, dass eine Handlung ausgeführt werden muss, um etwas zu sein. Zwar sei die jeweilige Handlung, nimmt man die leibnizsche Position an, bereits von jeher im Weltlauf vorgesehen gewesen – jedoch wurde zugleich auf die »freyen Entschließung« des betreffenden Handelnden gerechnet (ebd., 34), der aus sich selbst heraus diese Handlung begeht. Im Augenblick der rechten Handlung ist der jeweils ausführende Mensch die »Vorsehung«, beiderlei Intentionen fallen in eins. Sollte aus der Handlung wider Erwarten etwas Schlechtes folgen, sei dies immerhin »ein Beweis, daß Gott nach seiner Allwissenheit, den von dir gewünschten Erfolg nicht für gut befunden haben muß. Du hast immer noch Gutes gethan, indem du deine Kräfte ihrer Bestimmung gemäß angewendet hast.« (JubA VI/1, 34) Das Misslingen ist kein Gegenbeweis zur Vervollkommnungstheorie; auf die Schwierigkeiten dieser Positionen wies schon Kap. I.2 hin; siehe auch Kap. V.1.
III.2 Leidenschaft und Meeresrauschen. Die Nutzbarmachung des Gefühls
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sich aus der Erkenntnis des Guten und Bösen erklären läßt«, JubA II, 306)94. In diesem Sinne ist der Mendelsohn’sche Begriff der Verbindlichkeit ein durchaus ernstzunehmendes Modell. Es wird jedoch zu zeigen sein, dass seine Anbindung an den Gottesbegriff zu stark ist, als dass er als eine Alternative zum Kantischen Autonomiebegriff noch überzeugen könnte. Mit der Betonung des Charakters und der damit einhergehenden Möglichkeit, auch das Handeln Anderer wenigstens in wahrscheinlichen Graden zu bestimmen, argumentiert Mendelssohn zumindest in der Nähe von Hume. »[…] denn wenn sie [die freywilligen Entschließungen] nicht objektive ihre ausgemachte Gewißheit hätten; so würde auch alle Wahrscheinlichkeit in Ansehung derselben verschwinden. Wenn in der Seele eines Tugendhaften nicht die ausgemachte Gewißheit läge, daß er sein Vaterland nicht muthwillig verrathen wird; so wäre solches auch mit keinem Grunde der Wahrscheinlichkeit aus seinem Charakter zu schliessen.« (JubA II, 305) Was Mendelssohn hier nicht sagt, aber mit dem Vorangegangenen (siehe III.1, Abschnitt 1, 258) zusammenhängt: gilt diese rationale Sicherheit des bloß Wahrscheinlichen nicht, hätte Hume mit seiner Theorie der Gewohnheit aus Instinkt doch recht; dann wäre aber alles Geschehen durchgängig ›blind‹ bestimmt und jede metaphysische Freiheitstheorie sinnlos. Gilt die rationale Sicherung der Wahrscheinlichkeitsschlüsse, beweisen wiederum Rückschlüsse von Handlungen auf den Charakter den Wert der Wahrscheinlichkeitstheorie auch im alltäglichen wie moralischen Handeln.95 Auch bei Hume findet sich ein Rekurs auf die Zuschauerperspektive zur Einschätzung des Wertes der Gewohnheit (und damit Wahrscheinlichkeit) für einen Charakter: Jemand fühlt sich frei, ist aber, so Hume, womöglich von der bloßen Leidenschaft, sich als frei zu erweisen, besessen; doch der Beobachter kann seine Handlungen auf seine Charaktereigenschaften, Gewohnheiten etc. zurückführen.96 94
Den stoischen Charakter kann diese Form der Selbstbestimmung natürlich nicht verleugnen, denn immer noch bedeutet dies auch, das Gute aus Einsicht zu tun, selbst wenn es ›objektiv‹ betrachtet bereits vorherbestimmt sein soll. Die zweifache Betrachtungsweise des SvG erlaubt es aber, der menschlichen Erkenntnismöglichkeit ein Eigenrecht zu gewähren. Dass Mendelssohn die Unabänderlichkeit der Vervollkommnung in der immer – auch unbewusst – wirksamen Vervollkommnung aller Wesen allein aus (natürlicher, biologischer) Entwicklung immer stärker betont – siehe dazu seine Position in der Bestimmungsdebatte (I.2) und deren spätere Ausformulierung im Phädon (V.1) – steht auf einem anderen Blatt. 95 Mendelssohn verwendet als Beispiel der Charaktereinschätzung die moralisch relevante Möglichkeit des Verrats; siehe den Schluss des Wahrscheinlichkeitsaufsatzes von 1761, JubA I, 515. 96 Vgl. den 8. Versuch des Enquiry und Mendelssohns Argument im Wahrscheinlichkeitsaufsatz, JubA I, 162. Interessanterweise führt auch Hume, um die Vorhersehbarkeit der eigenen Handlungen zu beweisen, den Beobachter an, der uns unsere Handlungen gerade deshalb zuschreibt, weil sie unserem Charakter entsprechen – Enquiry VIII.1, 72 (Fußnote): »the necessity of any action, whether of matter or of mind, is not, properly speaking, a quality in the agent, but in any thinking or intelligent being, who may consider the action; and it consists chiefly in the determination
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Kapitel III · Erkennen und Handeln
Die Macht der Gewohnheit nimmt bei Hume die Stelle ein, die Mendelssohn mit der Macht des Grundes zu unterfüttern versucht, dabei allerdings zwischen psychologischen Tatsachen und metaphysischen Prämissen unterscheidet. Dass ein Grund motivationale Kraft hat und haben muss, wir uns aber dessen bisweilen nicht bewusst sind, versucht Mendelssohn durch die universale Geltung des SvG und einer Theorie des ›Unbewussten‹ in ein kohärentes Gesamtbild, das die Geltung der Vernunftprinzipien nicht aufgeben will, zu integrieren. So ist letztlich die Ähnlichkeit der Argumentation von Hume und Mendelssohn nur auf der Oberfläche zu verzeichnen. Als Psychologen konnte Mendelssohn Hume durchaus akzeptieren und damit auf phänomenaler Ebene seine eigene Argumentation reichhaltiger gestalten als Wolff, der nach Altmann (1969, 320) auf die aus dem Charakter einer Person resultierenden Wahrscheinlichkeit gar nicht eingegangen war. Auch die Gleichsetzung verschiedener Typen von Wahrscheinlichkeit, die Mendelssohn im Folgenden vollzieht, ist Humes Überzeugung nah:97
of his thoughts to infer the existence of that action from some preceding objects.« Dies ist, mit empiristischen Modifikationen, der Ansicht Mendelssohns zumindest nah. Wenn wir ohne zureichenden Grund handelten, handelten wir gerade unfrei, weil fremdbestimmt. Zum Unterschied siehe Stanford 2002, 351: »But Hume claims that liberty can only be opposed to constraint and not to necessity, because liberty opposed to necessity would simply amount to the absurd denial of uniformities and consequent inferences in the realm of human motives, inclinations and conduct.« Die »kausale« Verbindung freier Handlung mit unserem Charakter scheint uns lediglich lockerer und weniger stabil und gleichförmig zu sein, als die Kausalität zwischen Blitz und Donner. 97 Es wird vor diesem Hintergrund deutlich, dass sich in dem ›Empiristen‹ Hume und dem ›Rationalisten‹ Mendelssohn in gewisser Weise (ohne Mendelssohns Leibnizianismus zu einem Spinozismus reduzieren zu wollen; eine spinozistische Lesart, vgl. Goetschel 2002, 90 ff. ist dennoch nicht unwahrscheinlich) zwei monistische Denkschulen gegenüberstehen. Hume schreibt im Abschnitt Of Liberty and Necessity im Enquiry über die moralische Dimension der »Gewohnheit«: »when we consider how aptly natural and moral evidence link together, and form only one chain of argument, we shall make no scruple to allow, that they are of the same nature, and derived from the same principles. […] Here is a connected chain of natural causes and voluntary actions; but the mind feels no difference between them, in passing from one link to another: Nor is less certain of the future event than if it were connected with the objects present to the memory or senses, by a train of causes, cemented together by what we are pleased to call a physical necessity. The same experienced union has the same effect on the mind, whether the united objects be motives, volitions, and actions; or figure and motion. We may change the names of things; but their nature and their operation on the understanding will never change.« (Enquiry VIII.1, 70) Mendelssohn spricht ebenfalls von einer Quelle der Verlässlichkeit der Gewohnheit in Bezug auf Erkenntnis wie Handeln. Anders als bei Hume kann man hier nicht von einem naturalistischen Prinzip sprechen, sondern vielmehr ist es die metaphysische Monadenkonzeption, derzufolge die »Bande« der Welt tatsächlich einer Natur sind. Dass damit Natur und Geist dennoch in einem Grund zusammenhängen, macht die Nähe zu einem humeanischen Naturalismus aus. Aus der Perspektive Gottes sind diese Verbindungen realer Natur, eben so wie Hume sie für den Menschen angesetzt hatte. Mendelssohn trennt hier zwischen Gott und Mensch; für letzteren ist die Wahrheit hinter der Gewohnheit allein über die Erkenntnis der Gültigkeit des SvG, der allgemeinen Verbindung der
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»Diese drey Sätze, 1) ein Stein, der nicht unterstützt wird, fällt zu Boden; 2) was einen Eindruck in meine Gliedmassen meiner Sinne macht, das empfinde ich; 3) ich werde meinen Freund, so lange mir meine Sinne bleiben, nicht verrathen; diese drey Sätze, sage ich, sind alle von unstreitiger Gewißheit, denn aus dem Subject läßt sich unter gewissen Bedingungen das Prädicat folgern, und mit Zuverläßigkeit schliessen.« (JubA II, 305) Aber diese umfassende Weltwissenschaft gilt nur für die göttliche Perspektive als sicher; der Mensch steht vor der tiefen Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, über die ihn bisweilen nur eine »pragmatische Erkenntnis vom Guten und Bösen« (JubA II, 306) heben kann. Die Geltung der Wahrscheinlichkeit als eine »moralische« Notwendigkeit (in herabgestimmter Sicherheit) betrifft allerdings nicht eine Sicht auf die gesamte Welteinrichtung, sondern lediglich die Handlungen, die als freiwillig qualifizierbar sind. Verhalten und Naturabläufe wie Entwicklung sind in diesem Modell unter physischen Notwendigkeiten subsumiert (wobei nach Mendelssohn das Wahrscheinlichkeitskalkül auch und gerade in naturwissenschaftlicher Forschung Anwendung findet). Damit allein ist jedoch das Kriterium einer guten Handlung noch nicht geklärt. Bevor also Mendelssohns Theorie menschlich einsehbarer, handlungsmotivierender Gründe – und der möglichen Fehlurteile darüber – diskutiert werden kann (siehe hier Abschnitt 2), ist ein Blick auf den in der Evidenzschrift entwickelten Beweis der Gültigkeit moralischer Prinzipien zu werfen. Diesen ordnet Mendelssohn der »lehrenden Sittenlehre«, wie er etwas holprig formuliert (JubA II, 315), zu. Ausgehend vom Grundsatz Marc Aurels98, dass die Menschen als Vernunftgeschöpfe die Vernunft und damit die Vernunftgründe gemein haben, die ihnen also ein »gemeines Gesetz« (allgemeines Sittengesetz) vorschreibt, vermutet Mendelssohn eine lediglich graduelle Unterscheidung der Begriffe von Gut und Böse, die sich allein im Grad der subjektiven Einsicht in ihre Gründe differenzieren lassen. Der Beweisgang eines allgemeinen Sittengesetzes kann also von einer Betrachtung der menschlichen Tätigkeiten und Unterlassungen ausgehen, um auf den Grund vorzustoßen, in dem alle Weltbestandteile, möglich. Eine Trennung zwischen Begebenheiten der praktischen und der theoretischen Sphäre bedeutet dies jedoch gerade (ebenfalls) nicht. Allerdings entspricht Humes Gleichsetzung von Notwendigkeit und Kausalität nicht, wie er schreibt, dem Gefühl; vielmehr hat er zeigen müssen, dass das Substrat beider von derselben Art ist (vgl. Stanford 2002, 349). Moralische Notwendigkeit fühlt sich anders an, ist aber, so Hume, seiner Natur nach der Kausalitätsvorstellung gleich – beide entstammen der Gewohnheit, keiner »Kraft« in den Dingen (oder Gedanken). Der gefühlte Unterschied zwischen beiden liegt vielmehr an dem weit verbreiteten Fehler, Kausalität für objektiv, moralische Notwendigkeit für subjektiv zu halten. »Hume must take himself to have established not merely that our experience of necessity is limited to the felt determination of the mind in both cases, but rather that this subjective determination of thought is what necessity itself is (of course, he has repeatedly said just this).« (Stanford 2002, 349) 98 Ich lehne mich dabei an die ausgezeichnete Analyse Altmanns 1969, 356 ff. an.
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Menschen übereinstimmen. Alle menschliche Tätigkeit ist auf ein summum bonum gerichtet, das Mendelssohn in Anlehnung an Wolff ausformuliert, denn sie sind »alle auf die Erhaltung, oder Verbesserung unsers, oder eines andern Geschöpfes, innern oder äussern Zustandes« ausgerichtet (JubA II, 316). Das moralische Naturgesetz lautet demnach: »Mache deinen und deines Nebenmenschen innern und äussern Zustand, in gehöriger Proportion, so vollkommen, als du kannst.« (JubA II, 317)99 Dieses Gesetz soll auch die ›natürliche‹ Ausrichtung der Leidenschaften unter sich begreifen. Ebenfalls ließe sich dieser Satz aus der Natur eines freien Wesens beweisen. Dieses wähle aus möglichen Gegenständen, was ihm gefalle. Was aber sind die Kriterien dieses Gefallens? In der Evidenzschrift nennt Mendelssohn lapidar Vollkommenheit, Schönheit und Ordnung (JubA II, 317); Kriterium ist also die bereits bekannte Einheit des Mannigfaltigen in ihren verschiedenen Ausprägungen (vgl. den elften Brief über die Empfindungen, JubA I, 85/280). All diese Vorstellungen gewährten dem Wesen Lust und könnten deshalb als Bewegungsgründe zum Handeln gewertet werden. Dabei kann die Handlung freilich auch schlecht sein, wenn die Vorstellung des Guten falsch war. Der Mensch könne jedoch nicht eine erkannte100 Hässlichkeit, Unvollkommenheit, Schlechtigkeit zu einem Handlungsgrund machen. Mit der Ausrichtung an der »Lust« hat Mendelssohn nicht eine epikureische Bestimmung des summum bonum geben wollen, sondern betont immer wieder die schon im 1754er Entwurf Von dem Vergnügen und den Briefen über die Empfindungen entwickelte (als angenehm empfundene) Einsicht in die Vollkommenheit als den Grund der »Verbindlichkeit«101 zum moralischen Handeln (vgl. Kap. II.2). Zwar
99
Zu seiner Herleitung siehe Altmann 1969, 357 ff. Ähnlich auch LB 74: 20. Dezember 1759, JubA V/1, 113: Gesetze können durchaus ohne die Voraussetzung, dass ein Gott sei, angenommen werden (Mendelssohn nennt als Beispiele »Naturlehre, Seelenlehre und Meßkunst«). »Warum denn nicht in der Sittenlehre? Es ist wahr, die Vorschriften und Regeln müssen mit Bewegungsgründen verbunden seyn, wenn sie zu moralischen Gesetzen werden sollen. Diese Bewegungsgründe können von einem freyhandelnden Wesen willkührlich mit den Regeln verbunden werden, und in diesem Fall rühren die Gesetze von einem Gesetzgeber her; allein nothwendig ist dieses nicht. Die sittlichen Regeln, welche ihre Bewegungsgründe mit sich führen, sind auch ohne die Betrachtung, daß ein Gott sey, Naturgesetze.« Es gibt ein allgemein gültiges Naturrecht, das aus der Moral fließt – das muss auch ein Atheist zugeben. »[…] wer die Moral durchaus verwirft, der kan niemalen das geringste Recht einräumen.« (ebd., 114) Diese Argumentation lehnt sich direkt an Wolff an, siehe dessen Deutsche Ethik, §§ 12–19. Mendelssohn ist durchaus nicht mit allen Aspekten der Wolffschen Vollkommenheitslehre einverstanden (dazu Altmann 1969, 357 f. und 352 f.). So hat er den Selbstbezug des Interesses an der Vervollkommnung anderer abgelehnt, wie bereits die Analyse in Kap. II.1 aufzeigen sollte. 100 Vgl. alle Fassungen der Rhapsodie, 412 f. und 624 [Lesarten]. Daran hat Mendelssohn also durchgehend festgehalten. 101 JubA II, 320 ff., vgl. Altmann 1969, 358. Allerdings kann doch bezweifelt werden, ob der Begriff der Verbindlichkeit sich tatsächlich mit dem gleichlautenden Begriff der Kantischen Praktischen Philosophie parallelisieren lässt. Vielmehr erscheint dieser Begriff als ein Pendant zur ›Ver-
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herrscht kein physischer Zwang; ist aber eine freiwillige Handlung als »begründbar« definiert, so kann sich letztlich nur die (vielleicht auch vermeintliche) Einsicht in die Vollkommenheit einer Sache als Handlungsgrund anführen lassen. Objektive und subjektive Ebene berühren sich hier – sind aber nicht deckungsgleich. »Die Lust an der Vollkommenheit, welcher Art sie auch sei (innerlich oder äußerlich, seelischgeistig oder körperlich), ist daher zwar ein psychologisches Faktum, aber zugleich in der moralischen Notwendigkeit, die das Wesen der Freiheit darstellt, begründet und daher sittlich.« (Altmann 1969, 359) Reicht dies zur ›Nobilitierung‹ der Lust aus? Dazu ist die Betonung des stoischen Aspekts dieses Gedankens relevant: bei rechtem Licht betrachtet kann nur das Vergnügen machen, was Vollkommen ist. Dieses entspricht der vollkommenen Welteinrichtung – wir müssen dies lediglich angemessen einsehen, dann können wir gar nicht anders, als (wenn die Handlung »frei« sein soll) dementsprechend zu handeln. Aus der Sicht Gottes sind die Menschen als die Werkzeuge seines Wollens den Erfordernissen der allgemeinen Vervollkommnung (und damit dem moralischen Handeln zur Selbst- und Weltverbesserung) zu verpflichten.102 Die Quelle der Normativität ist damit das metaphysische Postulat der Welteinrichtung und dem darüber gebietenden »Willen Gottes« (vgl. Leibniz Theodicée, I § 43 f ). Mit Autonomie im starken Sinne hat Mendelssohns Begriff der Verbindlichkeit nichts zu tun. Er will vielmehr einen fröhlichen Stoiker, der das Gute mit Lust tut, es aber nicht des bloß psychologischen Faktums der Lust wegen, sondern aus begründeter und möglichst immer ›besserer‹ (klarerer) Einsicht. In der 1761er Fassung der Rhapsodie hatte er in dieser Hinsicht bereits den Epikureismus verneint bzw. wie er selbst es ausdrückt, »geläutert« und jede angenehme Empfindung auf eine (verworren vorgestellte) Vollkommenheit zurückgeführt (vgl. JubA I, 404 f., vgl. Altmann 1969, 358). Es ist hier wichtig zu bemerken, dass Mendelssohn im gegebenen Zusammenhang ausdrücklich nicht von der Analyse psychischen Erlebens, sondern von der philosophischen Begründung des Sittengesetzes spricht. In der ausübenden Sittenlehre dagegen spielt das verworrene Lustempfinden als solches durchaus eine wichtige Rolle.103 Phänomenal betrachtet, hat der »geläuterte« Epikureist also sein Bleiberecht in Mendelssohns Welt. bindung‹ aller Wesen unter- und miteinander in der vollkommenen Vorstellung Gottes einer in die Realität gesetzten besten aller möglichen Welten (siehe JubA II, 322). 102 Wichtig ist, dass dieser Anspruch nicht aus der Macht Gottes abgeleitet wird, vgl. JubA II, 320 f. Allein die normative Kraft der Verbindlichkeit zu Gott beruht dennoch auf der Annahme, dass Gott die »Vollkommenheit seiner Geschöpfe« wolle (JubA II, 318). 103 Ein von Altmann 1969, 360 erwähnter Weg, den Begriff der Lust durch denjenigen des »Wohlgefallens« und der (freien) Wahl »aus innerer Würksamkeit« (JubA II, 317 f.) zu ersetzen, scheint hinsichtlich dieser Ebenenunterscheidung nicht deutlich genug zu sein. Immer noch ist aber eine grundlegende Bindung zwischen Emotion und Vollkommenheit im Begriff des Wohlgefallens gegeben.
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Noch einmal: Mendelssohn verteidigt die leibnizianische Theorie, dass es kein Handeln ohne Grund geben könne und damit letztlich jede Handlung als bestimmbar reformuliert werden kann. Die metaphysisch begründete durchgehende Determination auch der als frei empfundenen Handlungen ist aus der Perspektive des Menschen durch die Wahrscheinlichkeitstheorie repräsentiert: der Mensch kann zum einen wahrscheinliche Schlüsse auf die Folgen seiner Handlungen ziehen und sie demgemäß einrichten. Er kann zum anderen über die Beobachtung fremder Handlungen auf den Charakter der ausführenden Person schließen und damit wiederum auch die eigene personelle Konstanz annehmen. Die Alternative scheint Mendelssohn dagegen wenig attraktiv: freie Handlungen als unbestimmte und unbestimmbare Handlungen anzunehmen hieße, von einer Welt auszugehen, in der niemand auch nur einen wahrscheinlichen Schluss auf die Folgen seines Verhaltens wie auch auf die Charaktere anderer Personen ziehen kann. Zugleich streitet Mendelssohn nicht ab, dass viele handlungsauslösende Momente dem Handelnden nicht bewusst sind. Um auch diese zu ›verbessern‹, sie also dem klaren Bewusstsein des jeweils besten Grundes zu unterstellen, reflektiert er in der »ausübenden Sittenlehre« die Bedingungen und Möglichkeiten des dunklen und des klaren und verworrenen Bewusstseins.
2. Die Rolle des Unbewussten In der ausübenden Sittenlehre – und damit der Sicherstellung des tatsächlichen und freiwilligen104 Ausübens des Guten – geht es gerade darum, auch emotionale Beweggründe für diese (richtig gerichtete) Handlung bereitzustellen. Zur Orientierung ist vorangehende Kenntnis der wirklichen Begriffe des Guten vonnöten.105 Was aber sichert seine Ausübung? Nicht der Obersatz (dem Gegenstand der »lehrenden Sittenlehre«), sondern der Untersatz des moralischen Syllogismus liefert hier, so Mendelssohn, die Evidenz und damit auch die Motivation. Dieser repräsentiert die Gewissheit zur moralischen Handlung in der Erfahrung, die auch deshalb so schwer zu erreichen ist, weil bei der Abwägung, ob ein allgemeiner Satz auf einen bestimmten Zustand applizierbar ist, jede Bestimmung dieses Zustandes in Erwägung gezogen werden muss (Nebenumstände, Konkurrenz mit anderen Pflichten etc.) und darüber hinaus wenig Zeit zur Entscheidung vorhanden ist. Mendelssohn zielt hier auf die Etablierung eines Gewissens ab, dem er den Wahrheitssinn an die Seite und die 104
Hier ist die Opposition gegen Rousseaus Freiheitsbegriff deutlich, vgl. II.1. »Man muß die Lehre von Gott, der Welt und der Seele des Menschen wohl begriffen, man muß sich davon überzeugt haben, ehe man sich in der Moralphilosophie einiges Licht versprechen kann.« (JubA II, 321, vgl. Wolff Deutsche Metaphysik, §§ 434, 512, 520) 105
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er beide der praktischen und theoretischen Vernunft gegenüberstellt. Er verbindet damit die an Baumgarten und Wolff anschließende, nahezu nach geometrischer Ordnung vorgehende rationale Auffindung des Sittengesetzes mit der Theorie eines »moral sense«, wie ihn Shaftesbury, Hutcheson u. a. entwickelten. (JubA II, 325).106 »Das Gewissen ist eine Fertigkeit, das Gute vom Bösen, und der Wahrheitssinn, eine Fertigkeit, das Wahre vom Falschen durch undeutliche Schlüsse richtig zu unterscheiden.« (JubA II, 325) Nicht erwähnt wird hier das dritte beigeordnete Vermögen des Geschmacks (vgl. Kap. II.3, Abschnitt 2); es wird im Folgenden auf diese Dreiteilung zurückzukommen sein. Grundlage seiner Überlegungen ist die Lehre vom Menschen. Im LB 233. vom 18. März 1762 benennt Mendelssohn dies mit der »natürlichen Sittenlehre«107: Diese »ist eine Wissenschaft der Menschen, wie sie nach dem rechten Gebrauche der Vernunft seyn solten und könten, und der Gesetze, die am geschicktesten sind, sie der grösten Glückseeligkeit, deren sie fähig sind, theilhaftig zu machen.« (JubA V/1, 502) Eine solche Lehre geht eben gerade nicht von allgemeinen Begriffen aus, sondern konzentriert sich auf den »ursprünglichen Menschen« (JubA V/1, 502, auch 505) und dessen spezifische Ausprägung in der jeweiligen Zeit. »Ohne Kenntnis der Begebenheiten [von Natur und Mensch] können keine Grundsätze festgesetzt werden.« (JubA V/1, 504) Es wird sich jedoch zeigen, dass er dem selbstgesetzten – sollte er diesen Litteraturbrief tatsächlich verfasst haben – Anspruch einer Analyse historischer Begebenheiten nicht gerecht wird. Vielmehr arbeitet er mit dem Bild eines idealtypischen Menschen, dessen Handlungen er mit den Instrumenten der Vermögenspsychologie betrachtet, um die Besonderheiten des unbewussten (oder nur verworren bewussten) Erkennens, Handelns und Empfindens herauszuarbeiten. Letztlich geht es ihm dabei um eine Diskursivierung dieser menschlichen Tätigkeiten, die eine praktisch wirksame Erkenntnis des Guten oder Bösen, oder, in einer Formulierung der Evidenzschrift, eine »pragmatische Erkenntnis« (JubA II, 306), ebenso wie eine bessere Erkenntnis und einen feineren Geschmack liefern sollen. Das dabei zugrundeliegende Menschenbild ist historisch invariant.108
106
Kuehn wertet diese Vorgehensweise als Mendelssohns Auseinandersetzung mit der Idee eines common sense. Alle Wirkungen des Gemütes können auf den Verstand zurückgeführt werden. »But he also set for himself another very important task, namely the explication of how the rational principles are related to the completely different moral sentiments.« (Kuehn 1987, 42) 107 Deren Pendant, die philosophische Sittenlehre, kann man mit der oben genannten »lehrenden bzw. demonstrierenden Sittenlehre« parallelisieren; vgl. ebd., 502 ff. Als Synonyme für die ausübende Sittenlehre nennt LB 62: 18. Oktober 1759, JubA V/1, 97 die »moralische Theorie des Menschen« (Sulzer), »allgemeine praktische Weltweisheit« (Wolff). Insgesamt enthalte die moralische Wissenschaft des Menschen »Kenntniß der Pflichten als ihre Ausübung«. 108 Damit argumentiert Mendelssohn in Anschluss an Maimonides, der die sinnliche und intellektuelle Erkenntnis für historisch gleichbleibend, lediglich die Traditionen und Konventionen
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a) Wahrheitssinn, Gewissen, Geschmack: Versinnlichungsstrategien Die Überlegungen zu einer »praktischen Sittenlehre« beschäftigen Mendelssohn seit Mitte der 1750er Jahre. Dabei sind die Einflüsse Lockes, Humes, Burkes, Shaftesburys und Hutchesons neben Sulzer und Wolff und auch der Ärzte wie Krüger und Haller von großer Bedeutung, ebenso wie der Briefwechsel über das Trauerspiel und die dort eingenommene Gegenposition zu Lessing. Visiert dieser eine Verbesserung des Menschen über eine Verfeinerung seiner Mitleidensfähigkeit an, so äußert sich Mendelssohn angesichts einer Verabsolutierung des Gefühls ohne Rückbindung an verständige Erkenntnis skeptisch. Eine daraufhin ausgerichtete Theorie der ästhetischen Übung der Vernunft sollte dabei eine Lösung bringen, wie mit dem Folgenden zu zeigen ist. Die erwähnten Theorien gaben Mendelssohn allem Anschein nach zumindest in den bei ihnen angeführten Überlegungen und Beispielen einige Anknüpfungspunkte, die eine am Menschen orientierte Reformulierung einer leibnizianischen Psychologie ermöglichten. Das Konfliktpotential bei dieser versuchten Annäherung ist nicht zu unterschätzen; gerade in der Morallehre »prallten die Wolff-Baumgartensche Vernunftethik und die von England eindringende Lehre vom moralischen Sinn oder Gefühl hart aufeinander.«109 Ein anthropologisch orientierter Denker wie Mendelssohn, der nicht allein das abstrakte Vernunftwesen, sondern auch die menschlichen Leidenschaften erklären und nutzbar machen wollte, musste auch seine Ansichten v. a. zur »ausübenden« Sittenlehre überdenken und der Dynamik der Leidenschaften, dem Einfluss des ›Dunklen‹ öffnen.110 Dabei ist seine Haltung ambivalent: diese ›Öffnung‹ ist in seinem Werk keineswegs durchgehend und unwidersprochen zu verzeichnen. Vielmehr versucht er eine Theorie des Ausgleichs zwischen dunkler und deutlicher Vorstellung, zwischen Leidenschaften und Urteilskraft, sowie zwischen emotionaler Entscheidung und rationalem Überdenken. Dies ist in
der Völker als verschieden ansah. Siehe dazu Wenzel 2001, 22 m.w.Vw unter Bezugnahme auf die hebräischen Schriften Mendelssohns in JubA XIV. 109 Altmann 1969, 347. Seine vorangegangene Einschätzung, dass »[d]ie Entwicklung der deutschen Ästhetik durch Sulzer, Mendelssohn und Kant […] sich unter dem Einfluß der von außen her einströmenden Gedanken auf dem Boden der Baumgartenschen Theorie« vollzog, halte ich jedoch für mindestens fragwürdig, wenn man die wichtige Rolle Dubos’ und Burkes bezüglich der Theorie der vermischten Empfindungen, die Überlegungen Addisons, Henry Homes, Gerards und auch die Anleihen an einem platonisch orientierten Enthusiasmus Shaftesburys bedenkt, die allesamt lebhaft in Deutschland rezipiert wurden. Siehe dazu Kap. II.2 und 3. 110 Vgl. J. Heinz 1996, 16: solange sich die Moralphilosophie diesen neuen Strömungen – und damit den verstörenden Beobachtungen am Individuum – nicht öffnete, sondern sich als leitende »Universalwissenschaft« verstand, wurden die beobachtbaren Abwandlungen der Norm in die Literatur abgedrängt.
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den Morgenstunden besonders deutlich. Seine dortige, resumierende Ansicht zum »common sense«, der sich eben gerade nicht als eine Übernahme von den britischen Philosophen, sondern eine eigene, problematische Sonderform eines »nicht-theoretischen Wissens um das Gute«111, Wahre und Schöne zeigt, ist charakteristisch für Mendelssohns gespanntes Verhältnis zur Empirie. Es liegt u. a. aus diesem Grund nahe, neben dem Einfluss der britischen Philosophie auch denjenigen einer ihm näherliegenden Denkrichtung anzunehmen: den der zeitgenössischen Psychologie, die sich umfassend um eine befriedigende Theorie der Sinnlichkeit bemühte. In einer Rezension von Sulzers Abhandlung Kurzer Begrif aller Wissenschaften und anderer Theile der Gelehrsamkeit, worinnen jeder nach seinem Inhalt, Nutzen und Vollkommenheit kürzlich beschrieben wird (zuerst 1745, 2. Aufl. 1759) wird darauf hingewiesen – und man kann Mendelssohn als Verfasser vermuten – dass Wolff zwar die klaren und deutlichen Begriffe gut auseinandergesetzt hätte, aber die undeutlichen und dunklen Begriffe nur unzureichend abhandelt; dieses Desiderat habe die nun vorliegende Abhandlung zumindest angerissen, indem sie auf die »schnellen Urtheile, welche aus der anschauenden Erkenntnis folgen« (zit. nach JubA V/1, 92; siehe Kap. II.2, 165) eingehe.112 Ebenso die Fragen, warum viele Tätigkeiten weniger durch Aufklärung der Begriffe, als durch Übung verbessert werden, und warum klare und dunkle Geistesoperationen gleichzeitig vollzogen werden können, seien noch zu beantworten. Das Untersuchungsfeld nennt der Rezensent in den Litteraturbriefen – also vermutlich Mendelssohn – die »erklärende Psychologie« (JubA V/1, 92), die es sogar verdiente »von der einzigen Akademie, die eine metaphysische Classe hat [gemeint ist die königlich preußische in Berlin, A.P.], zum Preise aufgegeben zu werden« (ebd.). Genug Material zur Beantwortung einer solchen Frage hätte Mendelssohn selbst fraglos gehabt. Zur Herausbildung dieser Theorie ist die Skizze Von der Herrschaft über die Neigungen von 1756/57, der etwas später zu datierende Entwurf Verwandt-
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Schrader 1984, 12. Die Wurzel dieser ›deutschen‹ Auffassung eines common sense bzw. Gemeinsinns als versinnlichte Verstandesüberlegungen ließen sich auch bei Leibniz nachweisen: »Es sind Ideen des reinen Verstandes, die in den Sinnen nicht ihren Grund, sondern nur die Gelegenheitsursache ihrer Entstehung haben, und die demgemäß strenger Definitionen und Beweise fähig sind.« (Nouveaux Essais, II, 5) 112 Siehe 61. LB: 11. Oktober 1759, JubA V/1, 91 f. (wird bis S. 97, Beschluss des 62. Briefes, fortgesetzt). Die unbewussten Vorstellungen interessierten auch Kant in den 1770er Jahren, wie die Nachschriften der Anthropologie-Vorlesungen zeigen, siehe Brandt/Stark 1997, XXXVI f. mit weiteren Nachweisen. Später scheint er dazu festgestellt zu haben: »Die Entwickelung der dunklen Vorstellungen bei allen unsern Urtheilen ist eigentlich die analytische Philosophie.« (Menschenkunde (1781/82), AA XXV, 869 ff., hier 871) Mit den Mitteln der Analyse hatte sich auch Mendelssohn dem Problem genähert. Wie Kants Kommentar andeutet, hat er so die Besonderheit der Moral außer Acht gelassen, sondern sich bloß der Zergliederung des Gegebenen gewidmet.
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schaft des Schönen und Guten sowie deren Ausformulierungen in den Philosophischen Schriften (in den Hauptgrundsätzen und der Rhapsodie) von Bedeutung.113 Die Akademie hat unter Sulzers Federführung tatsächlich nach dem Einfluss der Empfindungen gefragt. Johann August Eberhard, der auf die Preisfrage von 1775 der Akademie gewann und damit auch Herder ausstach114, spricht in seiner Allgemeinen Theorie des Denkens und Empfindens (1776) die Prominenz des Untersuchungsgebiets deutlich aus: »Das wichtigste Studium des Menschen ist der Mensch selbst, seine Neigungen, seine Leidenschaften. Die wichtigsten Beobachtungen, die er über sich selbst anstellen könnte, wären gerade diejenigen, die er über seine Empfindungen und Leidenschaften anstellt, über ihre Entstehung, ihre Verwandtschaft, ihre Umwandlung, Wachsthum und Abnahme; denn davon hängt die ganze Kenntniß unserer selbst, sofern sie uns zu unserer moralischen Bildung, zur Lenkung unseres Willens nützlich seyn kann, am meisten ab.« (ebd., 141) Wie so oft beim Ausdruck einer Zeittendenz gilt diese Aussage vor allem für die dieser Aussage vorangegangenen Jahre; es ist sozusagen ein nachträglicher programmatischer Satz, den Mendelssohn bereits in den 1750er Jahren in Anlehnung an Sulzer unterschrieben hätte. Dieser weitete die ›Tätigkeit‹ des Unbewussten115 entscheidend aus und forderte damit auch Mendelssohn heraus: denn es galten ihm nicht nur einzelne Vorstellungen oder Ideen, sondern auch Urteile als vom Unbewussten beeinflusst oder sogar durchgehend bestimmt. Dem Empfinden kommt bezüglich der Handlungswirksamkeit das Primat zu; es vermag zu bewegen und gewinnt beim Widerstreit mit klaren Vorstellungen immer die Oberhand.116 Zu den klaren und deutlichen Vorstellungen kann sich der Mensch evaluativ verhalten; er hat aber nicht die Freiheit, zu empfinden oder nicht zu empfinden. Deshalb, so Sulzer, ist im Falle einer Kollision die Empfindung in der stärkeren Position: »[…] keine einzige deutliche Idee kann bewegen« (Anmerkungen, 213), wohl aber eine dunkle. Um also die Handlungen des Menschen über den Aufweis der »Spuren des Daseyns der Tiefe der Seele« (ebd.) zu verstehen und zu verbessern, will er in der Analyse innerer Konflikte, Handlungshemmungen, unerklärlichen emotionalen Widerständen, Ambivalenzen und Selbstwidersprüchen die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Psyche offenlegen. Weit vor Freud hat sich Sul113
Den internen Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie, Handlungstheorie und Ästhetik in Mendelssohns Überlegungen betont auch Altmann 1982, 20; dass dabei dessen Überbetonung des rein quantitative Aspekt nicht recht überzeugen kann, hält er allerdings nicht fest. 114 Dieses zeugt nicht unbedingt von der Qualität von Eberhards Abhandlung, sondern vielmehr von einer wolffianisch ausgerichteten Akademie; vgl. dazu Buschmann 1989b, v. a. 73 und Dies. 2000. 115 Der Begriff soll der Einfachheit halber auch zur Kennzeichnung von Überlegungen verwendet werden, die einen anderen Ausdruck bevorzugten, aber das »Unbewusste« meinten. 116 Rand 2004, 276 weist auf die Anleihen Sulzers bei Humes Assoziationspsychologie hin. Kausalität entsteht als Erfahrung ohne bewusstes Zutun des Geistes: »The mind makes its habitdriven transitions from one idea to the next so quickly that there is no time for reflexion.«
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zer mit Phänomenen wie dem »Freudschen Versprecher« auseinandergesetzt. Nicht nur die »undeutlichen und dunklen Begriffe der anschauenden Erkenntnis«, sondern auch die »besonderen Arten der Verwirrungen des Geistes« (Kurzer Begrif … (1745), § 207) und die »Harmonie zwischen dem Zustand des Leibes und der Seele« interessierten ihn (vgl. Riedel 1994b, 413). Die einschlägigen Titel der kurzen Aufsätze sind in dieser Hinsicht sprechend. In der Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen (1751/52) versucht Sulzer noch eine (lose) Anbindung an die Wolffsche Psychologie; dieses bricht aber mit den folgenden Schriften, Erklärung eines psychologisch paradoxen Satzes: Daß der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet (1759), Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bei Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet (1763) und Von dem Bewußtseyn und seinem Einfluße in unsere Urtheile (1764) zunehmend auf. Die Miteinbeziehung des Unbewussten bzw. seine theoretische Untermauerung geht also mit einer, wie Riedel 1994b titelt, »Achsendrehung« in Sulzers Ansichten einher. Hatte er noch in den frühen Schriften versucht, der Macht der Empfindungen durch ihre Intellektualisierung beizukommen, so betont er seit 1763 einen Dualismus zweier Vermögen, dem sich unvermerkt auch eine dritte, beide verbindende Form hinzugesellt (vgl. Kap. III.3).117 Im Fortgang der Abhandlung von 1763 unterstreicht Sulzer die relative Machtlosigkeit der klaren und deutlichen Erkenntnisse, die in allen drei Zuständen der Seele (Denken, Empfinden, Betrachten) gilt. Letztlich werden wir »von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen.« (Anmerkungen, 241)118 Diese Bewegungsgesetze zu studieren und sie mit neuen Methoden 117
Vgl. Riedel 1994b, 415. Tetens benennt das Ergebnis des Wandels in seinen Philosophischen Versuchen von 1777: Sulzer nehme »zwo Grundkräfte in der Seele an, Verstand und Empfindsamkeit.« (I. Versuch, Abschnitt 1) Damit ist der Bruch mit dem Bild der Seele als einer einheitlichen Kraft vollzogen. 118 Riedel 1993, 217 nennt dies eine »skeptische Psychologie« und wertet Sulzers Schrift als die Gelenkstelle, aufgrund derer überhaupt Herders Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) als Gegenposition des Rationalismus, nämlich als eine Ableitung aller Fähigkeiten aus dem Empfinden, hat geschrieben werden können. Die Frage der Akademie, auf die Herder mit dieser Schrift reagiert, schien durch Sulzer angeregt worden zu sein. »Denn der Richtungswechsel (wenn man so will, von einer deduktiven zu einer genealogischen Psychologie) wurde erst möglich, nachdem Sulzer die ursprüngliche, von den oberen Seelenvermögen her gedachte Einheit von Erkennen und Empfinden radikal trennte, den auf die Vorstellungsfunktion reduzierten Empfindungsbegriff ad acta legte und so die Voraussetzung dafür schuf, das Phänomen Empfindung und also auch den Aufbau des Seelischen neu zu konzipieren.« (Riedel 1994b, 416 f.) Proß 1994, 133 hat dagegen schon die frühere Schrift, »Untersuchung über den Ursprung…« von 1751/52 einem stahlschen Animismus und damit einer Überwindung der Wolffianischen Wurzeln zugerechnet. Dürbeck 1998, 135 weist in diesem Zusammenhang lediglich auf die »komplexe Anlage« des Textes hin, der beiden Interpretationen gegenüber offen sei, um ihn im Folgenden dem »Wolffianismus«
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wiederum in den Griff zu bekommen, war das Ziel der Sulzers Gedanken folgenden ›Psychologen‹. Es ist dabei sogar von einem gewissen Optimismus auszugehen: denn wenn man die Mechanismen der Psychologie erst begriffen hat, sind nicht nur bestimmte Phänomene erklärbar, sondern auch steuerbar. Die Gefahr der Demagogie, der Beeinflussung und Konditionierung wurde dabei kaum reflektiert; es ist aber im gegebenen Rahmen darauf zurückzukommen (s. Abschnitt 3). Die »Aufmerksamkeit auf das klein Scheinende« hielt sich bis zu Moritz’, von Mendelssohn entscheidend unterstützen Unternehmen des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde, das genau diese klein scheinenden Phänomene und seine unmerklichen Bestandteile in den Blick nahm.119 Mendelssohn selbst wandte sich den Formen des Unbewussten mit seiner Theorie von Wahrheitssinn, Gewissen und Geschmack zu, wobei er jedoch nicht Sulzers Ansicht vom Absolutheitsanspruch der dunklen Ideen folgte. Im gegebenen Rahmen soll vor allem interessieren, wie er sich die Mechanismen der Versinnlichung vorstellte und welche Kriterien er zu ihrer korrekten Ausbildung anwendete. Wie ist der Zusammenhang zwischen Wissen und Handeln, klarer und deutlicher Analyse und dunkler Tätigkeit seiner Ansicht nach beschaffen? In der Skizze Verwandtschaft des Schönen und Guten, in der sich Mendelssohn u. a. mit der Lehre des Schönheits- und Wahrheitssinns nach Hutcheson auseinandersetzt, sind die genannten Vermögen Funktionen, »vermittelst welcher wir ohne deutliche Schlüsse das Wahre, Gute und Schöne gleichsam fühlen«. (JubA II, 182) Alle drei120 sind bezüglich ihres Grades an Klarheit gleich, aber parallel zueinander als Entsprechungen höherer Vermögen im unteren Erkenntnisvermögen angeordnet; sie stehen in der aufgeführten Reihenfolge also dem jeweiligen vernünftigen, klaren und deutlichen Wissen um das Wahre, Gute und Schöne gegenüber. Differentia specifica ist hier lediglich der temporale Aspekt: Sie wirken »nach ähnlichen Regeln; jene langsamer, so daß wir die Verbindung der Mittel-Begriffe wahrnehmen; diese so schnell, daß wir von der ganzen Folge der Begriffe nichts behalten, als Anfang und Ende.« (JubA II, 183) Umgekehrt gilt damit auch, dass diese verworrenen Urteile sich immer »in vernünftige und deutliche Gründe auflösen« lassen (JubA II, 184). zuzurechnen (ebd., 195). Angesichts der internen Verschiebungen in Sulzers Theorie kann man jedoch durchaus von einer Modifizierung des Standpunktes zwischen beiden Abhandlungen sprechen. 119 Das Problem von Moritz’ am individuellen Fall orientierten Vorgehen war freilich, dass er sich in einen Widerspruch zwischen der genauen, vorurteilsfreien Analyse des Gegebenen auf der einen und deren Einpassung in ein rational erklärbares Schema auf der anderen Seite verstrickte; vgl. Osinski 1995, 201–14, sowie hier Kap. I.1, 42–44. 120 Der Bon-sens (Wahrheitssinn) ist dabei dem Fühlen des Wahren zugeordnet, nicht, wie Altmanns Interpretation besagt (vgl. ders. 1982, 23), ein Resultat aus Empfindung und Geschmack. Schon hier taucht damit eine Dreiteilung der Vermögen und ihrer »dunklen« Pendants auf; vgl. Kap. III.3.
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Der temporale Aspekt bewirkt jedoch, dass die Eindrücke der unteren Vermögen nicht in ihrer genauen Zusammensetzung wahrgenommen werden. Die wahrnehmende Seele kann die Menge und schnelle Abfolge der motivierenden Vorstellungen gar nicht bewusst überblicken. »Mit jedem sinnlichen Gefühl strömt ein Meer von Begriffen in unsere Seele. Die Seele denkt, wenn sie einige von diesen Begriffen deutlich wahrnimmt; und sie empfindet, sobald sie sich dem Eindruck überläßt, der sie alle faßt.« (JubA II, 183)121 Prinzipiell betrachtet sind Empfindung und Denken dasselbe, wie auch das wahrgenommene Licht den Strahlenbrechungen, der gehörte Dreiklang einer »Wahrnehmung gewisser Verhältnisse« entspricht (JubA II, 184) – doch in der Wahrnehmung unterscheiden sie sich grundlegend, da im Falle der Empfindung nicht nur die Ratio, sondern der ganze Mensch angesprochen ist, »denn hier hat sich die Empfindung durch alle Nerven vervielfältigt und ist zur Erscheinung geworden« (JubA II, 185). Hier greift Mendelssohn wiederum auf die Theorie der Nerventätigkeit nach Johann Gottlob Krügers Naturlehre (3 Bde., 1740–50) zurück, der ebenfalls eine Verstärkung der Empfindung durch die Wiederholung annahm.122 Dieser emotionale Effekt kann natürlich – bspw. bei der irrtümlichen Verbindung eines Phänomens mit einer sittlichen Forderung – wiederum negativ auf die eigentlich vernunftbestimmten Handlungen und Erkenntnisse wirken. In Analogie zur reinen sinnlichen Lebhaftigkeit gilt auch hier der Grundsatz der menschlichen Psyche: »Die Freyheit vermag unmittelbar nichts über die Sinne.« (JubA II, 184) Dies heißt nicht, dass sich die rationale Überlegung prinzipiell nicht gegen die Empfindung zur Ausführung einer bestimmten Handlung durchsetzen kann, sondern lediglich, dass auch die willentliche Entscheidung ein dem entgegengesetztes Gefühl nicht gänzlich vernichtet. Es kommt also auf eine harmonische Verbindung beider Qualitäten an. Mendelssohns Theorie der Versinnlichung von Urteilen der oberen Vermögen zielt dabei nicht allein auf eine dunkle Anhäufung, sondern auf eine spezifische Form der Verknüpfung von Vorstellungen, wozu er mit der Gewohnheitstheorie ein eigenes Konzept der gerichteten Assoziation zu entwickeln versucht.123 Die verbesserte Wirk121
Ähnlich in den Hauptgrundsätzen: »Man nennet aber eine Erkenntnis sinnlich, nicht bloß wenn sie von den äußern Sinnen empfunden wird; sondern überhaupt, so oft wir von einem Gegenstande eine große Menge von Merkmalen auf einmal wahrnehmen, ohne sie deutlich auseinander setzen zu können.« (JubA I, 430); vgl. Kap. III.1, 286, FN 80 und Kap. III.2, 292, FN 85. 122 Vgl. Naturlehre III, § 81; Dürbeck 1998, 126 weist auf die konzeptionelle Ähnlichkeit dieser Ansicht mit derjenigen in Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (1748–50), §§ 120 f. hin. Wichtig ist bei beiden Positionen, dass die Willensfreiheit über der Empfindungsgewalt steht; eine Position, die auch Mendelssohn vertritt, der er allerdings die Notwendigkeit einer Verbindung beider als Bedingung zum glücklichen Leben hinzufügt. 123 Duncan 2003, 57 betont daneben die Rolle der an Locke und Hume anschließenden Assoziationstheorie. Kuehn 1995, 211 weist auf Mendelssohns Anlehnung an eine zumindest humeanisch erscheinende