Exzess: Vom Überschuss in Religion, Kunst und Philosophie [1. Aufl.] 9783839411926

Ausschweifendes Feiern, maßloser Konsum, Workaholics oder Sportfreaks - der Exzess ist ein zentrales und doch umstritten

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Exzess: Vom Überschuss in Religion, Kunst und Philosophie [1. Aufl.]
 9783839411926

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
VOM MASSLOSEN BLICK INS FREMDE SCHLAFZIMMER
Vom Sinn und Unsinn maßloser Neugierde
Vom maßlosen Blick ins fremde Schlafzimmer. Zur ethischen Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre
COLLECTION EXCESSIVE. EXZESSIVES SAMMELN
Bücher saufen und verschlingen. Handlungstheoretische, theologische und kulturkritische Bezüge von Lesen und Exzess
Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane. Exzessives Sammelverhalten bei Johann Nepomuk Graf Wilczek (1837 – 1922) und Friedrich Pesendorfer (1867 – 1935)
WENN GOTT SEIN MASS VERLIERT
Ausschweifung und Maßlosigkeit. Eine neutestamentliche Bildergalerie
Wenn Gott sein Maß verlöre, ginge der Mensch daran zugrunde … Eine fundamentaltheologische „Entgegnung“ auf die Rede von der exzessiven Liebe Gottes
CREATE YOURSELF – KILL YOUR ENEMIES. FORMEN VON EXZESS IN DER VIRTUELLEN WELT
Kill your enemies! Exzessive Gewaltästhetik bei Computerspielen aus pastoraltheologischer Sicht
@xess. Second Life als Plattform des künstlerischen Exzesses
EXZESSE IN LITERATUR UND BILDENDER KUNST
Prekariat und Boheme. Aktuelle Instrumentalisierungen einer tradierten Künstlerfigur
Den Überschuss (be)schreiben. Werner Kofler als Déconstructeur Duchamp
Zu den AutorInnen
Bildnachweise

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Edeltraud Koller, Barbara Schrödl, Anita Schwantner (Hg.) Exzess

2009-08-10 14-22-25 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be217807632982|(S.

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2009-08-10 14-22-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be217807632982|(S.

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Edeltraud Koller, Barbara Schrödl, Anita Schwantner (Hg.) Exzess. Vom Überschuss in Religion, Kunst und Philosophie

2009-08-10 14-22-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02be217807632982|(S.

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Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien, der Österreichischen Forschungsgemeinschaft und des Bischöflichen Fonds zur Förderung der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Markus Wirthmann, Berlin Satz: Mag. Bernhard Kagerer, BK Layout+Textsatz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1192-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2009-08-12 11-03-56 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02e7217968526422|(S.

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Inhalt

Einleitung EDELTRAUD KOLLER, BARBARA SCHRÖDL, ANITA SCHWANTNER 7

V OM

MASSLOSEN

B LICK

INS FREMDE

S CHLAFZIMMER

Vom Sinn und Unsinn maßloser Neugierde ANITA SCHWANTNER 13 Vom maßlosen Blick ins fremde Schlafzimmer. Zur ethischen Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre EDELTRAUD KOLLER 29

C OLLECTION

EXCESSIVE .

E XZESSIVES S AMMELN

Bücher saufen und verschlingen. Handlungstheoretische, theologische und kulturkritische Bezüge von Lesen und Exzess ANSGAR KREUTZER 57 Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane. Exzessives Sammelverhalten bei Johann Nepomuk Graf Wilczek (1837 – 1922) und Friedrich Pesendorfer (1867 – 1935) JÜRGEN RATH 79

W ENN G OTT

SEIN

M ASS

VERLIERT

Ausschweifung und Maßlosigkeit. Eine neutestamentliche Bildergalerie MICHAEL ZUGMANN 105 Wenn Gott sein Maß verlöre, ginge der Mensch daran zugrunde … Eine fundamentaltheologische „Entgegnung“ auf die Rede von der exzessiven Liebe Gottes ANDREAS TELSER 123

C REATE YOURSELF – KILL F ORMEN VON E XZESS IN DER

YOUR ENEMIES . VIRTUELLEN

W ELT

Kill your enemies! Exzessive Gewaltästhetik bei Computerspielen aus pastoraltheologischer Sicht HELMUT EDER 143 @xess. Second Life als Plattform des künstlerischen Exzesses SANDRA KRATOCHWILL 167

E XZESSE

IN

L ITERATUR

UND BILDENDER

K UNST

Prekariat und Boheme. Aktuelle Instrumentalisierungen einer tradierten Künstlerfigur BARBARA SCHRÖDL 189 Den Überschuss (be)schreiben. Werner Kofler als Déconstructeur Duchamp ARTUR R. BOELDERL 197 Zu den AutorInnen 211 Bildnachweise 214

Einleitung Das Phänomen des Exzesses EDELTRAUD KOLLER, BARBARA SCHRÖDL, ANITA SCHWANTNER

Unsere Gesellschaft wird von Phänomenen des Exzesses durchzogen: Im Leistungssport steht längst nicht mehr nur das Gewinnen im Vordergrund, es zählt die ständige Verbesserung von Rekorden und Bestzeiten; Dopingexzesse gelten folglich nicht bloß als „Entgleisung“ und sind in vielen Bereichen zur Normalität geworden. Die moderne Wirtschaft lebt strukturell von Maßlosigkeit, die sich in der hochspekulativen Finanzwirtschaft, der Notwendigkeit eines stetigen Wachstums, der Forderung nach hohen Gewinnen und dem enormen Konsum zeigt sowie hoch brisante Folgen erkennen lässt. In der Gesellschaft sind wir heute mit einer enormen Umweltbelastung konfrontiert, die weitgehend ohne Kontrolle oder Steuerung ihres Ausmaßes und ihrer Folgen voranschreitet. Täglich können wir in den Zeitungen über Alkohol- und Drogenexzesse – nicht nur bei Jugendlichen – lesen. Ausschweifende Aktionen von KünstlerInnen versetzen die Öffentlichkeit in Aufregung, obwohl sie traditionell zum „Bild des Künstlers“ gehören und noch heute oftmals erwartet werden. Im Alltag erleben wir beim Vertiefen in ein Spiel, in unsere Arbeit, in unsere Freizeitbeschäftigungen oder im Rahmen des Feierns von Festen exzessive Momente. Diese wenigen Beispiele deuten an, dass Exzesse ein Teil unserer Wirklichkeit und ein zentrales Phänomen unserer Kultur sind. Allerdings scheiden sich am Exzess die Geister: Während die Einen das Phänomen vehement ablehnen und nach dem rechten Maß rufen, suchen die anderen förmlich nach ungezügelten Erfahrungen. Dennoch wurde der Begriff bislang kaum wissenschaftlich reflektiert. Ein Grund hierfür dürfte darin liegen, dass es sich dabei um keinen analytischen Ausdruck handelt. Was bedeutet nun aber „Exzess“? Exzess verstehen wir als Überschreitung einer Grenze, die als Ausschweifung, Überreizen 7

Exzess. Vom Überschuss in Religion, Kunst und Philosophie von Möglichkeiten und als Unmäßigkeit erfahren und interpretiert wird. Verwiesen wird auf eine Erfahrungsdimension, die ein bestimmtes Urteil über eine Situation impliziert. Dass wir etwa davon sprechen, etwas „bis zum Exzess treiben“ zu können, deutet bereits an, dass Exzess nicht einfach mit der Überschreitung einer Grenze gleichzusetzen ist. Wo von Exzess die Rede ist, soll etwas Herausragendes betont werden. Der Analyse wird dabei in der Regel weniger explizit der Exzess unterzogen, als vielmehr das jeweilige maßlose, Grenzen und Tabus überschreitende Phänomen. Die Bedeutung von Exzess erschließt sich tatsächlich im Blick auf die Kontexte und Spannungsbögen, in denen der Begriff verwendet wird. Diesen Weg der Auseinandersetzung wählen auch die Beiträge dieses Buches: Sie sprechen unterschiedliche thematische Kontexte des Exzesses an und spannen differente Bedeutungsfelder exzessiver Phänomene auf. Ein Schwerpunkt liegt auf der Verdeutlichung, dass wir es einerseits mit herausragenden Situationen des Exzesses zu tun haben, die beispielsweise in Form von Orgien das rauschhaft Ekstatische deutlich vor Augen führen; andererseits sind wir mit exzessiven Elementen in der Populärkultur, unserer Gesellschaft und im individuellen Leben konfrontiert. Das heißt, dass unterschieden werden muss zwischen Phänomenen, die insgesamt als „Exzess“ wahrgenommen werden, und jenen, bei denen der exzessive Charakter eine, aber nicht die als dominierend wahrgenommene Dimension darstellt. Demnach wollen die Beiträge die Bedeutung des Exzesses in mehrfacher Hinsicht skizzieren. Exzess hat eine existenzielle Bedeutung für die Menschen: Das Spiel mit Grenzen, das wesentlich zum Begriff gehört, ist zunächst etwas Alltägliches in dem Sinne, dass Menschen häufig danach suchen. Das Ausreizen von Grenzen und das gezielte Übertreten suchen Menschen dort, wo sie sich als Selbst – frei, selbstbewusst und kreativ – erfahren wollen. Gleichzeitig, auch wenn diese Gelegenheiten nicht selten sind, heben sie uns aus dem Alltag heraus. Exzessive, extreme Lebensformen oder Aktivitäten ermöglichen, ungeachtet ihrer Häufigkeit, stets die Erfahrung des Außergewöhnlichen. Dass Menschen dabei danach suchen, sich selbst wahrzunehmen und neu zu erfahren, zeigt sich beispielsweise beim Computerspielen oder bei der Verwirklichung von Kreativität im Rahmen von virtuellen Welten, wie Helmut Eder und Sandra Kratochwill diskutieren. Hier wird jedoch unmittelbar auch deutlich, dass Exzesse in der Spannung von Bedrohung und Befreiung stehen. Die Gefahr, die Selbstrealisierung und Persönlichkeitsentfaltung durch die realen Herausforderungen des individuellen Lebens zugunsten der Existenz in Computerwelten zu vernachlässigen, zeigt, dass das Potenzial der Erfahrung von Befreiung bei exzes8

Einleitung siven Handlungen in Unfreiheit und Selbstvergessenheit kippen kann. Exzess hat zudem eine gesellschaftskritische Bedeutung. Denn er ist nicht nur auf der Ebene der individuellen Handlungen relevant, sondern auch im sozialen Kontext. Die Gesellschaft selbst weist exzessive Phänomene auf. Ein Beispiel dafür ist, dass, wie Artur Boelderl und Barbara Schrödl zeigen, KünstlerInnen Exzess als Kunstform oder als Lebensform verwirklichen. Kritisch zu hinterfragen ist diese Tatsache dann, wenn Exzess zum Modell der Existenz wird, in diesem Sinne sozial akzeptiert ist, dadurch aber gesellschaftlich die prekären und von den AkteurInnen selbst kaum veränderbaren Verhältnisse nicht mehr problematisiert werden. Bei gesellschaftlichen Phänomenen hat die Rede von Exzess hingegen wesentlich die Funktion, die sozialen Entwicklungen und Implikationen kritisch wahrzunehmen. So zeigt Edeltraud Koller, dass das exzessive Interesse am Privatleben oder an den Privatdaten anderer einerseits mit positiven Erwartungen und Interessen verbunden ist, andererseits aber gerade die Auswirkungen einer möglichen Verschiebung von Grenzen aus ethischen Gründen zu analysieren sind. Exzess weist darüber hinaus eine zentrale Bedeutung für die Entfaltung von Personen auf. In diesem grundsätzlich positiven Sinn ist Exzess sozial nicht nur akzeptiert, sondern auch mit Anerkennung verbunden. So zeigt Anita Schwantner, dass die Neugierde eine prinzipiell exzessive Tendenz aufweist und sowohl für das anthropologische Verständnis von Menschen als auch für die Entfaltung von Mensch und Gesellschaft zentral ist. Besonders deutlich tritt diese Funktion des Überschreitens von Grenzen im Kontext der Wissenschaft zu Tage. Forschung ist geleitet von dem grundlegend maßlosen Bemühen, Fragen zu formulieren und auf die Fragen auch Antworten zu finden, wie etwa Andreas Telser vorführt. Aber auch im Alltagsbereich ist exzessives Verhalten sichtbar, insbesondere im Zusammenhang mit konkreten Interessensbereichen. Ansgar Kreutzer und Jürgen Rath analysieren anhand des exzessiven Sammelns von Büchern und Kunstwerken die Motivation, aber auch die mitunter brisanten Folgen dieses Verhaltens. Die Ambivalenz von exzessiven Phänomenen wird in allen Beiträgen angesprochen. Michael Zugmann und Andreas Telser diskutieren zudem explizit, wie positive exzessive Erfahrungen zu verstehen sind. Sie nehmen die bedingungslose Liebe Gottes, die keine Grenzen kennt, in den Blick. Darüber hinaus entfalten die beiden Autoren die durchaus „fragwürdigen“ sozialen Implikationen dieser exzessiven Selbstmitteilung Gottes. 9

Exzess. Vom Überschuss in Religion, Kunst und Philosophie Dass Exzess häufig in Form von exzessiven Phänomenen auftritt, ist wichtig zu beachten. Denn während Exzesse als solche auffällig sind und somit eine kritische Beobachtung sowie eine Diskussion wie selbstverständlich oder automatisch anregen bzw. evozieren, bedürfen weniger Aufsehen erregende Vorgänge zunächst überhaupt erst der Wahrnehmung. Gerade die derzeit häufig zu hörende Rede von Exzessen in der Wirtschaft verweist darauf, dass diese exzessiven Phänomene bisher zwar vorhanden waren, aber vielfach nicht ausreichend wahrgenommen wurden. Die Thematisierung des Exzesses in unserer Welt will daher auch dazu beitragen, Ereignisse der Maßlosigkeit ernst zu nehmen sowie differenziert zu betrachten. Handlungskompetenz – ob im Zusammenhang von exzessiven Lebensformen und Eingriffen in die Lebensgestaltung, übermäßiger Wirtschaftsstrukturen und Umweltschädigungen oder im Kontext von Gewalt- oder Drogenexzessen – setzt voraus, die Gründe für derartige Phänomene, die zugrunde liegenden Motivationen und Hoffnungen sowie die Folgen zu kennen. Dieses Buch versteht sich als Beitrag, diese Phänomene zu diskutieren. Es geht zurück auf einen Studientag, der von den AssistentInnen der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz gestaltet wurde. Die versammelten Artikel sollen die individuelle und soziale Relevanz von Exzess verdeutlichen und exemplarisch aufzeigen, warum die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema notwendig und ertragreich ist. Wie der Studientag wird auch die Publikation durch visuelles Material ergänzt. Die Studentin Raffaela Janetschko konnte gewonnen werden, einen Einblick in ihre exzessive Beschäftigung mit dem Bild prominenter Frauen und Männern zu geben. Gezeigt wird ein kleiner Ausschnitt ihrer in den letzten Jahren entstandenen Fotografien.

Literaturverzeichnis Franzobel: »Orgie im Gemeindebau«, in: Frankfurter Rundschau vom 23. Februar 2009, S. 20-21.

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Vom maßlosen Blick ins fremde Schlafzimmer

Sinn und Unsinn der maßlosen Neugierde ANITA SCHWANTNER

1 Vorspann „Neugierige Leute sterben bald!“ Wie häufig bietet sich der Anlass, diese aus dem Volksmund bekannte Wendung zu gebrauchen? Wem würde sie in welcher Situation zugesagt werden? Oder ist diese Behauptung überhaupt aus dem heutigen Sprachschatz verschwunden? Die Autorin widersteht der abergläubischen Versuchung und nimmt die Neugierde in Betracht. Wurde diese in der Vergangenheit mitunter negativ bewertet, so stellt sie in der aktuellen Informationsgesellschaft einen hohen Wert an sich dar. Vor allem angesichts der weltweit zunehmenden sozialen Instabilität und ökonomischen Unsicherheit eröffnen sich vermehrt Fragen nach der Relevanz und Dienlichkeit der Neugierde. Was ist das Wesen der Neugier und welche Rolle spielt sie? Ist neugierig sein heute ein erstrebenswertes Verhalten? Liegt die Zukunft der Menschen etwa in der Verantwortung ihrer Neugier? Wie wird die Neugierde kultiviert? Darf sie exzessiv sein? Nimmt der Wissenserwerb nicht seit einiger Zeit deutlich exzessive Formen an? Besteht (noch) Konsens welchem Zweck Erkenntnis und Wissen dienen? Was sind die Kosten einer schier grenzen- und ruhelosen Suche nach dem Neuen und Unbekannten? Diese Fragen begleiten diesen Artikel, der zudem nach philosophiegeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Hintergründen für die Entstehung und Bedeutung der Eingangsbehauptung sucht.1 Anschließend wird die Rolle der Neugier im Kontext von Lernen beleuchtet. Ein Plädoyer für maßvolle „Neugierdsnasen“ bildet den Schluss.

1

Die Recherche in div. Volksmundlexika ob seiner Bedeutung bzw. Herkunft ergab keine Ergebnisse.

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Anita Schwantner

2 Kuriose Curiosità 2.1 W ENN DAS MENSCHLICHE G EHIRN U NVORHERGESEHENEM ODER N EUEM BEGEGNET Für alle Eventualitäten bereit zu sein und das Unvorhergesehene zu bewältigen, ist eine immerwährende Notwendigkeit für den Menschen2. Gerne würden aber so manche Personen ihre Zukunft kennen, um vor allem gegen unliebsame Überraschungen gefeit zu sein. Menschliches Leben bewegt sich demnach permanent zwischen dem Streben nach Sicherheit und Tradition zur Bewahrung des Erreichten und der Suche nach Anpassung in einer sich dauernd verändernden Realität. Die (biologische) Evolution hat uns dafür die Fähigkeit und Motivation mitgegeben, Wissen über die Gesetzmäßigkeiten unserer Lebenswelten zu erwerben.3 Im menschlichen Gehirn hat sich, so zeigt die Evolutionsgeschichte, ein Verhaltenssystem herausgebildet: Ist der Organismus komplexen, neuen und ungleichartigen Reizen ausgesetzt, entsteht eine Situation von Unbehagen und Erregung als Ausdruck eines Konfliktes zwischen Verhaltenstendenzen. Neuartigkeit, so David Berlyne, kann nur in Bezug auf einen Vergleichsstimulus bestimmt werden.4 Die Menschen empfinden ein dringendes Bedürfnis nach Aufklärung dieser Situation: Das Neue muss „hereingeholt werden in die vertraute Welt“5, um mit dem Alten, den bisher gemachten Erfahrungen verglichen zu werden, denn durch diese Differenzierung kann das Neue an das bereits Bestehende angeschlossen werden. Dies erklärt das fundamentale Bedürfnis nach Erfahrung, Weiterentwicklung und ständiger Erneuerung. Unser Gehirn ist sozusagen wissbegierig aus Notwendigkeit, und Informationssammeln sichert(e) das evolutionäre Überleben. Wie jemand allerdings auf etwas Neues oder Unbekanntes reagiert, wird von seinem bzw. ihrem sogenannten „Explorations-

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Gilt auch für Tiere, die jedoch in diesem Beitrag nicht Objekt der Betrachtung sein werden. Vgl. Wolf Singer: »Für und wider die Natur«, in: Ders., Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 189–199, hier: S. 189. Vgl. Werner, Stangl: http://www.arbeitsblaetter.stangl-taller.at vom 15. März 2009. Siehe auch Gregory, Berns: Satisfaction. Warum nur Neues uns glücklich macht, Frankfurt, New York: Campus Verlag 2006, S. 75. Helga Nowotny: Unersättliche Neugier. Innovation in einer fragilen Zukunft, Berlin: Kadmos 2005, S. 10.

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Sinn und Unsinn der maßlosen Neugierde verhalten“6 bestimmt, das über direkte und indirekte motorische Steuerung der Sinnesorgane erfolgen bzw. mittels Ortsveränderung oder Manipulation von Gegenständen den ganzen Organismus betreffen kann. Berlyne differenziert darüber hinaus noch zwischen einem suchenden und einem prüfenden Erkundungsverhalten; beide werden, so wird angenommen, von einem Belohnungs- und Aversionszentrum gesteuert7, welches sich um das eigene Verlangen und die Entdeckung der eigenen latenten Wünsche und Bedürfnisse kümmert.8 Das englische Verb to explore wird im Deutschen umschrieben mit „reisen durch eine unbekannte oder wenig bekannte Region, um zum Wissen der Menschheit beizutragen“9. Filmische und literarische Erinnerungen an berühmte Forscherinnen und Forscher sowie Entdeckerinnen und Entdecker sind eindrückliche Zeugnisse dieses menschlichen Bedürfnisses und zeigen gleichzeitig auch das Interesse an diesen Persönlichkeiten als Heldinnen und Helden.

2.2 D AS W ESEN

DER

N EUGIER

Anfang der 1990er Jahre befragte der ungarisch-amerikanische Motivationsforscher Mihaly Csikszentmihalyi im Rahmen eines mehrjährigen Projektes zur menschlichen Kreativität 91 als kreativ geltende Persönlichkeiten und stellte dabei Tendenzen fest, die allen zugeschrieben werden konnten: „leidenschaftliche, beinahe besessene Ausdauer und stark ausgeprägte Neugier und Offenheit“.10 Diese Charakteristik meint Michael J. Gelb auch bei einem Genie des 15. Jahrhunderts nachweisen zu können: Leonardo da Vinci. Der italienische Maler, Baumeister, Architekt und Erfinder „verkörpert den Inbegriff der Suche nach Wissen jenseits der Grenzen des Bekannten“.11 Er wollte den Dingen auf den Grund gehen, jede Tat und jedes Phänomen vom Innersten her begreifen und erfassen. Seine Leidenschaft war die Suche nach Wahrheit und Schön-

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Thomas Städtler: »Explorationsverhalten«, in: Lexikon der Psychologie, Stuttgart: Kröner 2003, S. 293. 7 Vgl. Thomas Städtler: »Neugier«, in: Lexikon der Psychologie, Stuttgart: Kröner 2003, S. 723–724, hier: S. 724. 8 Vgl. H. Nowotny: Unersättliche Neugier, S. 10. 9 Verena Steiner: Lernen als Abenteuer. Mit Lust und Neugier zu mehr Wissen, Frankfurt/Main: Eichborn 2002, S. 14. 10 Ebd., S. 21. 11 Michael J. Gelb: Das Leonardo-Prinzip. Die sieben Schritte zum Erfolg, München: Econ Ullstein List 2001, S. 63.

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Anita Schwantner heit. Es war ihm jedoch zu wenig herauszufinden, wie eine Sache funktionierte. Vielmehr fragte er weiter nach dem Warum. Deshalb entwickelte er für die damalige Zeit ungewöhnliche Forschungsmethoden und setzte sich extremen Situationen an Land, im Wasser sowie in der Luft aus. Faszinierend sind dabei die Gründlichkeit und Bandbreite seines Forschungsstils. Die unstillbare „Quelle und Antriebskraft“12 dafür, die sich vor allem auch in seinen Notizbüchern nachweisen lässt, ist die Curiosità. In der wissenschaftlichen Psychologie werden Phänomene zur Überwindung des Zustandes der Reizarmut (Augen-, Schau-, Sensationslust, Kenntniseifer am Privatleben anderer usw.) mit Neugier umschrieben, welche die moderne Motivationspsychologie zur Grundausstattung eines Menschen zählt. Allgemein strebt Neugier geschäftig danach, sich an der Wirklichkeit zu reiben, indem sie durch Erfahrung Verwunderung auslöst oder die Faszination für Neues aktiviert. Sie will das explorieren, was sie noch nicht kennt und was ihr, meist sogar ohne benennbaren Grund, wissenswert und interessant erscheint. So verleitet sie dazu, über ein vertrautes Terrain hinauszuschreiten, und bedient sich dabei aller den Menschen zur Verfügung stehenden Sinne und Mittel. Neugierverhalten ist folglich wesentlich für das individuelle wie kollektive Reservoir an Lebenskompetenzen: Es gilt als kulturelle Fähigkeit des Menschen, sich von der Zukunft eine Vorstellung zu machen.13 Wer neugierig etwas verfolgt, ist mit der Welt und ihrem Geschehen beschäftigt. Wenn mit dem Weltbezug etwas nicht stimmt, ändert sich diese Einstellung. Besteht beispielsweise das vermehrte Verlangen, sich gegen alles Fremde schützen zu wollen, werden hohe Ansprüche an den Erkenntnisdrang des Individuums gestellt. Daraus folgert Hans-Georg Gadamer, dass die psychische Gesundheit vom Gleichgewicht zwischen „Weltorientierung“, also einem neugierigen „Nach-außen-Schauen“, und der reflexiven Innensicht bestimmt ist.14 Der Grad an Zufriedenheit, den Menschen beschreiben, stellt in diesem Zusammenhang ein bedeutungsvolles Indiz für die individuelle und gesellschaftliche Orientierung dar. Für die Psychobiologie und Neuropsychologie ist Zufriedenheit „das Ergebnis tätiger Wissbegier, ein Produkt von Suchen und Tun, von Neugier

12 Ebd., S. 70. 13 Ebd., S. 12. 14 Vgl. Christian Eigner/Michaela Ritter: »Neugier auf Krankenschein«, in: Psychologie Heute 33 (2006), S. 28–29, hier: S. 29.

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Sinn und Unsinn der maßlosen Neugierde und neugiergetriebener Aktivität“.15 Sie entsteht, wenn wir uns mit Herausforderungen und Problemen beschäftigen und dabei aktiv werden. Der Kern des menschlichen Motivationssystems besteht folglich aus dem Zusammenspiel von Antizipation und Aktivität. Hier gilt es auf weitere Wesensmerkmale der Neugierde aufmerksam zu machen. Helga Nowotny beschreibt sie in einem doppelten Sinn als unersättlich: „Zum einen, weil der zu explorierende Möglichkeits- und Wirklichkeitsraum noch immer ans Unendliche grenzt und zum anderen, weil uns zunehmend mehr an Mitteln und Werkzeugen, die vornehmlich, aber nicht ausschließlich wissenschaftlich-technischer Art sind, zur Verfügung stehen, um den Raum unserer Erfahrungen zu erweitern.“ Und Neugier ist nach Nowotny zutiefst „amoralisch“16, lässt sich keine Schranken vorgeben, will nicht gesteuert werden und wendet sich unbeirrbar dem unbekannten Neuen zu. Der Musiker Leonard Bernstein spricht ferner von einem „elitism of curiosity“ – vom Elitedenken der Neugier – und meint damit eine ganz spezielle, erforschende Qualität der Intelligenz17, die Verena Steiner folgendermaßen beschreibt: „Offenheit und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber; Waches, aufmerksames Suchen; Offene Sinne; Offenheit für Neues; Respekt vor Andersartigem; Offenheit für Altbekanntes; Experimentierlust.“18 Dies bedeutet sich selbst und anderen Unwissenheit zuzugestehen, mit allen Sinnen – nicht nur mit dem Intellekt – unermüdlich das Umfeld zu beobachten, wahrzunehmen und spielerisch sowie experimentierfreudig dem Unbekannten zu begegnen. Neugierig sein heißt im Sinne von Steiner, der/dem Anderen mit Respekt zu begegnen und sich mutig der Angst vor dem Fremden zu stellen. Es ist somit eine höchst anspruchsvolle Verhaltensweise der Menschen, die allerdings belohnt wird, indem sich die Qualität von Erfahrungen erhöht.19 Beim Entdecken und Erforschen erleben Menschen Überraschungen oder können Frustrierendes, Problematisches aus anderen Perspektiven betrachten. Angst und Ärger können sich verwandeln, dadurch erhöht sich die Motivation, und Energie für neue Erfahrungen wird gewonnen. Menschen begegnen diesen Herausforderungen jedoch höchst individuell und unterschiedlich, je nach ihrem Explorationsvermö15 Heiko Ernst: »Was gibts Neues? Warum wir Informationsjunkies sind.«, in: Psychologie Heute 33 (2006), S. 20–26, hier: S. 26. 16 H. Nowotny: Unersättliche Neugier, S. 11 und 80. 17 V. Steiner: Lernen als Abenteuer, S. 22. 18 Ebd. 19 Vgl. ebd. S. 23.

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Anita Schwantner gen. Die einen nützen die Möglichkeiten neue Erfahrungen zu machen und setzen sich einer verändernden, im Entstehen begriffenen Wirklichkeit aus. Dabei können sich bisher utopische Lebensmöglichkeiten eröffnen, die oftmals als Verbesserung, Erleichterung und Verschönerung erfahren werden. Im Gegensatz dazu birgt die Neugierde für andere die „Gefahr des drohenden Verlustes der eigenen Identität, sei es durch die als bedrohlich erlebte kulturelle Vielfalt oder durch den schrittweise als Enteignung empfundenen Verlust der Kontrolle über das eigene Leben durch die wachsende Abhängigkeit von Technik und den wissenschaftlich generierten Neuerungen.“20 Die Umstände, in denen Neues ausprobiert werden kann, angetrieben von Neugier und im spielerischen Umgang mit ihr, nehmen dann ab. Darunter leidet das Explorieren der eigenen Wünsche und folglich die Fähigkeit des Begehrens. Dieses komplexe Wesen der Neugier und ihre bedeutungsvolle Wirksamkeit im Leben der Menschen gaben schon in früher Zeit Anlass zu nachhaltigen Thesen, die in grundlegenden philosophischen Wörterbüchern rezipiert werden und den Umgang mit Neugierde bis heute prägen.

2.3 A US

DER

P HILOSOPHIEGESCHICHTE

Als Handlungsmotiv und Stilmittel begegnet Neugierde seit der Antike. Cicero beschreibt die kindliche Form als natürliches Zeichen eines angeborenen Strebens nach Erkenntnis und als eines der „Fünkchen, an denen sich die Vernunft des Philosophen entzünden soll, um ihn zum höchsten Ziel seiner Natur zu führen.“21 Für Augustinus (4./5. Jht.) ist die Neugier zwar ebenso natürlich, jedoch vielmehr eine unvermeidbare Möglichkeit zur Sünde, da sie die Menschen verführt zu einem Leben fern von Gott und seiner Schöpfung, die für eine Seele auf der Suche nach Heil, das einzige Interesse sein sollte. In seinen Confessiones spricht Augustinus von der Neugierde als der „Augenlust“22 bzw. dem Interesse an Theater und Geschwätz. Er trifft die Unterscheidung zwischen einem neugierigen und einem strebsamen, fleißigen Menschen (homo studiosus; lat.), der mit Hilfe des Glaubens die gezielte

20 Ebd., S. 15. 21 Christian Schröer: »Neugierde«, in: Walter Kasper u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 7. 3. völlig neu bearb. Auflage, Freiburg/Breisgau u.a.: Herder1998, Sp. 759. 22 G. Berns: Satisfaction, S. 74.

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Sinn und Unsinn der maßlosen Neugierde Suche nach dem Heil vorantreibt.23 Thomas von Aquin (13. Jht.) entwickelt diese Unterscheidung weiter: Alles Urteil, das über die Neugierde gefällt wird, muss der Beziehung zwischen dem Neugierigen, seinen Intentionen und den Objekten seiner Untersuchung standhalten. Er unterscheidet zwischen einer Leichtfertigkeit, die zur Sünde führt und einer Haltung, die Seele und Geist stärkt. Für ihn ist es vor allem eine Frage des menschlichen Stolzes, welchen Stellenwert die Neugierde in einer Gesellschaft hat. Seine Anschauung ermöglichte erstmals neben der theoretischen Auseinandersetzung eine Analyse der sozio-kulturellen Kriterien eines Verhaltens.24 Im Laufe der Jahrhunderte wechseln bzw. verändern sich Ziel und Interesse der Neugierde. Neugierig sein bedeutet in der Zeit von Erasmus von Rotterdam (14./15. Jht.) das Verknüpfen von Objekten und Themen aus alten Zeiten mit dem gesellschaftlich und literarisch aktuellen Kontext, um sich darüber austauschen zu können. Ein geistiges, fantasievolles Vergnügen, das vor allem am europäischen Hof gepflegt wird. Für René Descartes (16./17. Jht) wiederum, hat die Neugierde überhaupt keine kognitive Funktion, sie lenke vielmehr ab von einer vernunftgeleiteten Erforschung der Wahrheit. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts erfolgt ein bedeutsamer Paradigmenwechsel. Die Neugierde beginnt sich an den nützlichen Objekten, den Inschriften und Gemälden zu orientieren. Fragen nach Strukturen und Gestalt rücken mehr und mehr ins Zentrum und verändern die Bedingungen für Neugierde. Jean de la Bruyère (17. Jht.), der letzte große Kritiker der klassischen Neugier, beschreibt diese als „Geschmack“, nun nicht mehr für das Schöne und Gute, sondern für das Seltene, Einzigartige, das, was die anderen nicht haben.25 Es geht nicht mehr um die Suche nach dem Vollendeten, sondern nach dem, was Mode ist. Die Neugier wird zu einer Leidenschaft, allerdings mit dem Risiko zu Oberflächlichkeit und unsozialem Verhalten, da sie oftmals durch egoistische Gier keinen Platz lässt für Gemeinsames. Gepflegt wird diese Form der Neugierde nun in Seminaren, auf Konferenzen und nicht mehr in eher ungezwungenen Unterhaltungen. Die „Neugierigen“ debattieren nicht mehr über ihre reichhaltigen „Bilder“ von Gesellschaft, Kultur, Kunst oder Staat, sondern geben den Darstellungen der Natu23 Vgl. Jay Tribby: »Curiosité«, in: Sylvain Auroux, Les Notions Philosophiques. Dictionnaire Tome 1 (32002), Paris: Presses Universitaires de France, S. 537–538, hier: S. 537. 24 Vgl. ebd., S. 538. 25 Ebd. (Übersetzungen A.S.)

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Anita Schwantner ralisten und sogenannten „Wissenden“ Raum, die nach und nach an apodiktischem Charakter gewinnen. Seit der Moderne spielt der philosophische Blick auf die Neugierde nur noch eine untergeordnete Rolle, während sich eine gezielte Weckung, besonders in wirtschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Belangen, sowie in den Medien und der Werbung auf ein einziges und eindeutig definiertes Ziel richtet, die permanente Steigerung des Konsums.

3 Neugier im Kontext von Lernen Wie verhält es sich angesichts dieser Instrumentalisierung der Neugierde heute mit der Wissbegier nach Neuem an per Definition für Wissensgenerierung zuständigen Orten? Das Verlangen nach einem fortwährenden Lernen wird zunehmend wichtiger, zumal die Umwelt als immer komplexer wahrgenommen wird. Gleichzeitig hat die Menschheit noch nie so viel gewusst und so viel gekonnt wie jetzt, „und nie zuvor war sie so ratlos oder, versöhnlicher formuliert, sich ihrer Ratlosigkeit und Geworfenheit so bewusst.“26 Bei der Frage nach den Inhalten, den Formen und den Orten, an denen gelernt werden sollte, gehen die Meinungen immer weiter auseinander. Institutionen, Qualifikationen und Konsummuster befinden sich in Veränderung, und auch das Bildungswesen ist seit Jahren in einer Umbruchsituation, wird es doch beharrlich von ökonomischen Ideologien beeinflusst. In „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ entwirft Richard Sennett einen Idealmenschen, wie er/sie unter den heutigen, oftmals unbeständigen Bedingungen „prosperieren“ könnte. „Die[ ] Persönlichkeitsprägung ähnelt eher einem Konsumenten, der ständig nach Neuem sucht [...].“ Sennett ist allerdings der Ansicht, dieses „kurzfristig orientierte[ ], auf mögliche Fähigkeiten konzentrierte[ ] Ich, das vergangene Erfahrungen bereitwillig aufgibt, sei – freundlich ausgedrückt – eine ungewöhnliche Sorte Mensch. Die meisten Menschen sind nicht von dieser Art. Sie brauchen eine durchgängige Biographie, sind stolz darauf, bestimmte Dinge gut zu können, und legen Wert auf die Erfahrungen, die sie in ihrem Leben gemacht haben. Das von den neuen Institutionen erhobene Ideal verletzt viele, der in ihnen lebenden Menschen.“27

26 W. Singer: Für und Wider die Natur, S. 198. 27 Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin-Verlag 2 2005, S. 8–15, hier S. 9f.

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Sinn und Unsinn der maßlosen Neugierde Bildungs- und Forschungseinrichtungen bewegen sich wohl seit jeher in einem Spannungsfeld, das m. E. derzeit in manchen Belangen vor einer Zerreißprobe steht. Einerseits sind diese Orte unablässig gefordert nach dem Neuen zu suchen und es den Menschen zu vermitteln, und andererseits kommt ihnen vermehrt die Aufgabe zu, Grundlagen zu sichern und zu festigen. Der Exzess liegt dabei vor allem in der Geschwindigkeit, mit der diese Prozesse ablaufen sollen.

3.1 L ERNORT S CHULE Ab dem Schulalter, mit der Veränderung vom freiwilligen, selbst gesuchten Lernmotiv zum geforderten, organisierten Lernen, wird oftmals ein deutlicher Wandel im Neugierverhalten der Kinder festgestellt. Unterschiedlichkeiten im Motivationsverhaltens bzw. des Lerneifers und der Lernkompetenz werden deutlich. Daher sind alle erziehenden und begleitenden Personen gefragt und gefordert, die natürliche Neugierde der Kinder und Jugendlichen wach zu halten und sich mit ihr auseinander zu setzen. Zur Bildung von Gedächtnisnetzen und zur Entwicklung von verantwortungsbewusstem Verhalten und Selbstständigkeit im Umgang mit Anforderungen der Realität bedarf es einer ausgewogenen Dosierung von Neuem und Konstantem. Aufgrund der Beobachtung der bildungspolitischen Vorgänge28 und eigener Erfahrungen lautet die These, dass der ganz persönlichen Neugierde eines Mädchens, eines Burschen im Rahmen eines Schulalltages wenig Raum und Zeit zur Entwicklung und Entfaltung zukommt. Lernen wird heute in allen Fächern wesentlich durch ausführliche Lehrpläne bestimmt, welche immer häufiger von wirtschaftlichen Interessen gelenkt werden. Einerseits geben sie den Lehrpersonen für die einzelnen Schulstufen eine Orientierung, andererseits können sie den Eindruck eines niemals erreichbaren Ziels erwecken. Jedenfalls nötigen sie die Lehrerinnen und Lehrer fortwährend zwischen dem realen Unterrichtsgeschehen und den vielseitigen Erwartungen zu balancieren. Der europäische Kontext erstrebt zudem verstärkt die Vereinheitlichung von Bildungs- und Berufszielen, wofür immer kompaktere Kompetenzund Standardisierungsmaßnahmen formuliert werden, die von den Schulen verpflichtend umgesetzt werden müssen. Hier soll jedoch in keinem Fall wider eine Europäisierung gesprochen werden. Die Kritik richtet sich gegen die Ökonomisierung

28 Hintergrund ist die Situation in Österreich.

21

Anita Schwantner der Schule, die dem Leistungsgedanken verschrieben ist und die Wettbewerbsfähigkeit als oberste Maxime ausruft. Hierbei gilt es zu bedenken, dass die Schule Gefahr läuft zentrale Werte von Bildung aufzugeben, zu verlieren. Sollte sich die Aufmerksamkeit weiterhin vermehrt auf die Erreichung maximaler Leistungen und erfolgreicher internationaler Studienergebnissen richten und ein, an den Entwicklungen der jungen Menschen orientiertes, interessiertes Geschehen vernachlässigen, werden die einzelne Schülerin und der einzelne Schüler als Subjekt von Schule aus dem Blick geraten. Ebenso drohen im Unterricht Methoden prozesshaften, individuellen und persönlich kreativen Lernens gänzlich von kurzzeitigen, zielsicheren, eindeutig überprüf- und messbaren Übungen bzw. Aufgaben verdrängt zu werden. Eine ganzheitliche und nachhaltige Bildung, die sich seit einigen Jahrzehnten mühsam ihren Weg in die Schule erarbeitet hat, steht auf dem Spiel. Und mit ihr die Freude und die Neugier der Kinder und Jugendlichen am Lernen.

3.2 „W ERDET

WIE DIE

K INDER “ ( NACH M ATTHÄUS 18,3)

„Warum gibt es Menschen? Wieso wachsen Äpfel auf den Bäumen? Fällt man einmal von der Erde runter, weil diese ja rund ist? Warum haben wir Gefühle? Wieso wissen wir nicht gleich alles, was wir wissen müssen?“ Diese Fragen anlässlich der KinderUniversität Linz29 sind Beispiele für das umfassende Interesse von Kindern. Sie wollen vom Anbeginn ihres Lebens verstehen und lernen, wie ein jedes Ding, jeder Zustand, alles was ihnen begegnet funktioniert, schmeckt, riecht, sich anfühlt und wofür es zu gebrauchen ist. Mädchen und Burschen wollen ihre Lebensorte kennen lernen, sehen, wissen und – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifen, was sich hinter geschlossenen Türen verbirgt. Die Nachahmung ist in den ersten Lebensjahren eine grundlegende Methode der Aneignung von Fertigkeiten und Wissen. Dabei sind Bezugspersonen bedeutungsvolle Vorbilder und Lehrerinnen bzw. Lehrer. Später entwickeln Kinder aus ihren Beobachtungen und Imitationen eigene Fähigkeiten, um sich die Welt zu erschließen. Die Neugierde ist dabei stets eine lebensnotwendige Begleiterin. Als Anregung wird hier der Lernansatz „Exploratives Lernen“ von Verena Steiner angesprochen, der sowohl individuell als auch in der Schule angewendet werden kann und bei dem die lernende Person Hauptakteurin bzw. Hauptakteur ist. Die Neugier bildet dabei, neben den vier Elementen Beobachtung, Reflexion, Inhalt und

29 Siehe: http://www.ktu-linz.ac.at/kinderuni/

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Sinn und Unsinn der maßlosen Neugierde Prozess, den Rahmen, den „frame of mind“, die Grundeinstellung für das Erforschen der Lern- und Wissenslandschaft.30 Für Steiner ist es primär wesentlich, dass sich vor allem Erwachsene selbst (wieder) erlauben neugierig zu sein. Gleichzeitig weist sie darauf hin, dass es einer Einübung und Kultivierung der Neugierde bedürfe, um sie „als universelle Kraft, die [ ] das Tor, das zur Selbsterkenntnis und zum Verständnis der Welt öffnet“31, wirken lassen zu können. Konkrete methodische Schritte wären hierfür das tägliche bewusste Beachten und vor allem auch Protokollieren dessen, was die ganz persönliche Neugierde erweckt. Ebenso wesentlich ist das Sich-häufiger-Fragen-Stellen und die Recherche nach Antworten. Und schließlich lädt Steiner ein zum Trainieren der Sinne, einem bewussten Gebrauchen der Augen, Ohren, der Nase und des Geschmacks. Auf ersten Blick scheinen diese Handlungsvorschläge möglicherweise einfach und selbstverständlich. Allerdings behindern m. M. vor allem in der Schule oftmals exakte Vorgaben von Lernzielen und den sich daraus ergebenden Lerninhalten bzw. vorrangiges Faktenwissen oder reines Leistungsinteresse den Wissensdrang und reduzieren das Engagement auf das geforderte Maß. Dadurch haben gewissermaßen erzwungene Erfahrungs- und Entwicklungsbeschränkungen Erlebnisse von quälender Langeweile und Monotonie zur Folge. Diese wirken wiederum belastend auf die gesamte Klassengemeinschaft sowie die Lehrerin bzw. den Lehrer. Wenn sich Kinder jedoch mit ihren eigenen Fragen und Eindrücken einen Lehrstoff aneignen können, sie in die Lernaufgaben involviert sind und den Zweck sowie die Bedeutung in ihrem Leben nachvollziehen können, lernen sie wesentlich effektiver und mit höherer Motivation. Da Interessen und Begeisterungen von jungen Menschen kurzlebig und flüchtig sind – verständlich, bei der unendlichen Fülle, die sich ihnen bietet –, brauchen sie kontinuierlich ein Maß an neuen Erfahrungen und Herausforderungen. Methodische Konzepte für einen Unterricht, der sich mehr der Kunst des Fragens anstatt der Antworten widmet, werden jedoch bisher noch nicht als vorrangig propagiert, tragen aber ein starkes Signal für die Erfordernis eines pädagogischen und gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel in sich. Lassen sich zudem Lehrerinnen, Lehrer und Erziehende von Kindern und deren Fragen immer wieder „verführen“, sich also von diesen betreffen und in Anspruch nehmen, wird ihre eigene Neu-

30 V. Steiner: Lernen als Abenteuer, S. 17 (Hervorhebung im Original). 31 Ebd., S. 24.

23

Anita Schwantner gierde erneut geweckt werden, kann Neues gemeinsam entdeckt und können die Wirklichkeiten miteinander erfassbar werden.

4 Plädoyer für maßvolle „Neugierdsnasen“ Um das Neue wird in unserer Gesellschaft ein wahrer Kult betrieben. Vor allem technische, naturwissenschaftliche und medizinische Entwicklungen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, da sie die Aufgabe haben, die Lebensfähigkeit und den Lebensstandard der Menschen fortwährend zu steigern und zu verbessern. Wir erleben eine Expansion des Wissbaren und unsere Möglichkeiten, das Leben zu gestalten, sind ebenso vielfältig geworden. Jede und jeder ist tagtäglich gefragt über ihre/ seine Zukunft zu entscheiden und kann dadurch die Umwelt mitgestalten. Damit Entwicklung und Fortschritt für die gesamte Menschheit gewinnbringend sind bzw. Entscheidungen verantwortungsvoll getroffen werden können, bedürfen wir einer „geistesgeschichtlichen Vorbereitung“32 und verlässlicher Kriterien. Doch Forschung und Wissenschaft laufen heute Gefahr, als reines „Innovationspotenzial für Märkte“ betrachtet oder benützt zu werden. Vor allem sogenannte „Neugierdisziplinen“, so die sich vermehrende Überzeugung, „seien nur dann sozial tragbar, wenn sie einen deutlichen Anwendungsbezug erkennen lassen, wenn sie Standortvorteile verheißen, [...]“33 Diese „unselige Funktionalisierung von Forschung und die daraus entstehende Vermengung von Erkenntnis und Anwendung müssen rückgängig gemacht werden.“34 Es ist deutlich zu unterscheiden zwischen dem Gewinnen von Erkenntnis und ihrer Anwendung, welche umso kritischer evaluiert werden muss.35 So gilt es wachsam zu sein gegenüber den Anbietenden und den Vermarktenden diverser Neuigkeiten. Nur allzu selten sind deren Ziele zum echten Vorteil für Kundinnen und Kunden, Klientinnen und Klienten. Die Unersättlichkeit der Neugier bietet hinreichende Gelegenheiten für Profitgierige und Machthungrige. Gleichzeitig bedarf es aber auch der Hellhörigkeit in jenen Situationen und an jenen Orten, wo versucht wird die Neugier durch Mahnungen und Denkverbote zu beschränken. Angst wirkt meist hemmend auf die Neugier, sie wird zögerlich, und in der Folge beginnen strategische

32 33 34 35

W. Singer: »Neugier als Verpflichtung«, S. 183. Ebd., S. 182. Ebd., S. 187. Vgl. ebd.

24

Sinn und Unsinn der maßlosen Neugierde Überlegungen, die Kreativität und Spontaneität maßgeblich zu beeinflussen. Daher ist es m. E. erforderlich in Entscheidungs- und Handlungssituationen die jeweiligen Interessen und Motive immer wieder zu klären und offen zu legen. Welche Ziele verfolgen die handelnden Personen? In welchem Interesse handle ich, handeln wir? Jeder und jede ist immerfort gefragt die Beweggründe für sein/ ihr Handeln zu überprüfen. Welche sind die Erwartungen und Hoffnungen, die meine Neugierde nähren und mich zum Tun antreiben? Gerade im Austausch mit vertrauten Menschen werden oftmals wesentliche Erkenntnisse über das eigene Verhalten gewonnen. Dabei sind die Rückmeldungen und Fragen der Gesprächspartnerinnen bzw. Gesprächspartner von essenzieller Bedeutung. Sie bekunden – in einem wohlwollenden Sinn – das Interesse am Leben und Wirken der jeweiligen Person und fördern deren Reflexion. Die Neugier des fragenden Menschen weckt die Neugier der befragten Person auf sein oder ihr Dasein und dessen Sinn. Dabei wird wertvolles Potenzial für Veränderung und Entwicklung in einem umfassenden Sinn freigesetzt. Kreativität und Fantasie werden angeregt und neue Handlungsmöglichkeiten entwickelt. In diesem Sinne ist neugierig sein eine positive und lebensförderliche Haltung. Als Antrieb Verborgenes, Unbekanntes entdecken zu wollen, ist sie ein menschlicher Wesenszug mit fundamentaler Bedeutung, führt er doch zu Erkenntnis und Wissen. Der Hirnforscher Wolf Singer spricht dagegen von der „Sorge... über die Befindlichkeit unserer kollektiven Neugier [...]“36 Wo sie vorwiegend technokratische und marktlogische Ziele verfolgt und dabei, so Martin Heidegger, „Menschen vom Ergreifen des eigenen Daseins abhält“37, dort wird sie fragwürdig. In der gegenwärtigen Zeit scheint es daher notwendig, das Wesen der Neugier zu erinnern, da soziale, politische und ökonomische Strömungen bzw. Ereignisse vielmehr bewahrende und prinzipiell misstrauische Haltungen bewirken. Die grenzenlose Konzentration auf monetäre Leistungen und Konsum verengt den Blick, fördert Neid, soziale Ungerechtigkeit und Abhängigkeit. Demnach möchte dieser Artikel ermutigen und anregen, der eigenen Neugier immer wieder nachzugehen, um vor allem ihr lebensförderliches Potenzial in Zeiten von Krisen und Unsicherheit zu entfalten.

36 W. Singer: »Neugier als Verpflichtung.«, S. 186. 37 Vgl. Ch. Schröer: »Neugierde«, S. 759.

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Anita Schwantner „Gewiss ist, dass wir nicht innehalten können. Wir müssen fortfahren zu suchen und nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden und handeln. Dabei sollte uns unser Wissen um die Begrenztheit des Wissbaren davor bewahren, jenen zu folgen, die einfache Losungen ausgeben und vorgeben, sie wüssten.“38

Literaturverzeichnis Berns, Gregory: Satisfaction. Warum nur Neues uns glücklich macht, Frankfurt, New York: Campus Verlag 2006. Blumenberg, Hans: Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt/Main: Suhrkamp 41988. Ernst, Heiko: »Was gibts Neues? Warum wir Informationsjunkies sind«, in: Psychologie Heute 33 (2006), S. 20–26. Eigner, Christian/Ritter, Michaela: »Neugier auf Krankenschein«, in: Psychologie Heute 33 (2006), S. 28–29. Gelb, Michael J.: Das Leonardo-Prinzip. Die sieben Schritte zum Erfolg, München: Econ Ullstein List 2001. Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Ders.: Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Herschkowitz, Norbert/Chapman Herschkowitz, Elinore: Klug, neugierig und fit für die Welt. Gehirn- und Persönlichkeitsentwicklung in den ersten sechs Lebensjahren, Freiburg, Basel, Wien: Herder 2006. Hoffmann, Christoph/Welsh, Caroline: »Philologische Neugierde -»in jedem Augenblick auf das Äußerste gefasst««, in: Christoph Hoffmann/Caroline Welsh, Umwege des Lesens. Aus dem Labor philologischer Neugierde, Berlin: Parerga 2006, S. 9–13. Markschies, Christoph: »Neugierde«, http://www.tagesspiegel.de/ magazin/wissen/art304,2451204 vom 15. März 2009. »Neugier«, in: Brockhaus-Enzyklopädie 15, Mannheim: Brockhaus 19 1991, S. 474. Nowotny, Helga: Unersättliche Neugier. Innovation in einer fragilen Zukunft, Berlin: Kadmos 2005. Schröer, Christian: »Neugierde«, in: Walter Kasper u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7. 3. völlig neu bearb. Auflage, Freiburg, Basel, Wien: Herder 1998, Sp. 759. Sennett, Richard: Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Berlin-Verlag 22005. 38 W. Singer: Für und wider die Natur, S. 199.

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Sinn und Unsinn der maßlosen Neugierde Singer, Wolf: »Neugier als Verpflichtung. Warum der Mensch weiterforschen muss«, in: Ders., Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 181–188. Ders.: »Für und wider die Natur. Was weiß die Wissenschaft, und was darf sie wissen?«, in: Ders., Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hinforschung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 189–199. Städtler, Thomas: »Explorationsverhalten«, in: Ders., Lexikon der Psychologie, Stuttgart: Kröner 2003, S. 293–294. Ders.: »Neugier«, in: Ders., Lexikon der Psychologie, Stuttgart: Kröner 2003, S. 723–724. Stangl, Werner: »Neugier – ein spezielles Motiv«, http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/MOTIVATION/Neugier.shtml vom 15. März 2009. Steiner, Verena: Lernen als Abenteuer. Mit Lust und Neugier zu mehr Wissen, Frankfurt/Main: Eichborn 2002. Tribby, Jay: »Curiosité«, in: Sylvain Auroux, Les Notions Philosophiques. Dictionnaire Tome 1 (32002), Paris: Presses Universitaires de France, S. 537–538. Internetseite: http://www.ktu-linz.ac.at/kinderuni/ vom 20. März 2009.

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Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer. Zur ethischen Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre EDELTRAUD KOLLER

1 Einleitung Talk- und Reality-Shows sowie die Boulevard-Presse führen uns vor, dass persönliche Angelegenheiten in aller Öffentlichkeit exzessiv ausgebreitet werden. Da werden Familienstreitigkeiten mit lautstarken Angriffen und Schilderungen vertraulicher Details ausgetragen, eigene sexuelle Praktiken werden ohne Tabus beschrieben, Geheimnisse werden präsentiert. Intimste Erfahrungen und Wünsche werden zur Schau getragen. Weder die Themen und Informationen noch die dargebotenen Emotionen scheinen einer Grenze des guten Geschmacks unterworfen zu sein. Die Selbstdarstellung findet dabei ein treues Publikum. Denn die Schilderungen und Geständnisse privater Erlebnisse oder persönlicher Einstellungen ziehen die ZuseherInnen in ihren Bann, deren Haltungen von Interesse und Staunen bis hin zu Ablehnung und Abscheu reichen. Das grenzenlose Interesse für das Privatleben Fremder zeigt sich auch in einem völlig anderen und weniger trivial wirkenden Zusammenhang, nämlich der Sammlung persönlicher elektronischer Daten durch Institutionen. Unser eigenes Internet-Suchverhalten, die Kundgabe und Speicherung persönlicher Daten bei Flugreisen oder die Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen und Kaufhäusern sind nur wenige Beispiele für Kontexte, in denen als privat betrachtete Daten gesammelt und in der Regel in irgendeiner Weise auch verwendet werden. Damit bringen zwei sehr unterschiedliche Phänomene das exzessive Interesse von außenstehenden Menschen und von Institutionen am Privaten zum Ausdruck: die schier grenzenlos scheinen29

Edeltraud Koller de Ausbreitung persönlicher und intimer Angelegenheiten in der und durch die Öffentlichkeit sowie die informationstechnologisch weitreichenden Zugriffe auf persönliche Daten. In diesen Phänomenen kann man nun in einer eher kulturpessimistischen Sicht eine Entwicklung sehen, bei der die Privatheit moderner Menschen zunehmend aufgelöst wird. Dem gegenüber kann man auch eine optimistischere Position einnehmen und diese Phänomene als Teil der Modernisierung der Gesellschaft deuten: Die konkreten Sachverhalte sind dann weniger als Ursache für die Verletzung des Privaten zu verstehen als vielmehr als Zeichen für – in Gesellschaften immer erfolgende – Verschiebungen des Verhältnisses von „privat“ und „öffentlich“; „Privates“ wird in dieser Sicht auch nicht einfach als Gegenteil von „Öffentlichem“ betrachtet. Welcher Position man folgt, hängt vor allem von der jeweiligen Interpretation der eigenen Öffnung und der fremden Eingriffe ins Private ab. Wie sind nun also die soeben angedeuteten exzessiven gesellschaftlichen Phänomene zu deuten? Gibt es wirklich einen Exzess des Eingriffes und des Preisgebens von Privatem? Um diese Fragen zu beantworten, wird im Folgenden zunächst der Begriff und die Bedeutung von „privat“ zu bestimmen sein. Weil es bei den angesprochenen Sachverhalten um das Öffentlichwerden von als privat gewerteten Angelegenheiten geht, wird dabei auf die Unterscheidung von „öffentlich“ und „privat“ eingegangen. Daraus wird eine Definition von „privat“ gewonnen, die die Grundlage für die anschließende Untersuchung des Öffentlichwerdens des „Privaten“ als modernes Phänomen bildet. Im nächsten Schritt ist die Frage zu stellen, welche gesellschaftlichen Funktionen der Privatheit bzw. deren Schutz zukommen. Warum schätzen und schützen wir Privates? Es wird sich zeigen, dass die Möglichkeit und Gewährleistung von Privatheit für die individuelle Lebensführung eine wichtige Voraussetzung darstellt. Folglich stellt sich aber die drängende Frage, warum dann überhaupt der Öffentlichkeit ein Einblick in Privatangelegenheiten freiwillig gewährt wird. Anschließend ist die ethische Relevanz dieses Themenfeldes in den Blick zu nehmen, wobei sowohl individualethische als auch sozialethische Implikationen zu besprechen sind. Ein Resümee fokussiert am Schluss den Ertrag für offene Herausforderungen einer „Kultur des Privaten“.

2 Die Unterscheidung von „öffentlich“ und „privat“: eine hinreichende Differenzierung? Wenn heute viele Menschen bereit sind, das Öffentlichwerden von als privat betrachteten Angelegenheiten zu ermöglichen bzw. zu 30

Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer dulden, so mag man den Eindruck haben, dass immer weniger Belange weiterhin privat seien und sich der Bereich des Öffentlichen bis in persönliche Angelegenheiten hinein ausweite. Dass dieser Verdacht seine Tücken hat, zeigt sich schon bei wenigen Beispielen: Wer in Fernsehsendungen oder der Boulevardpresse intime Gedanken und Erlebnisse ausbreitet, geht davon aus, dass sie – auch weiterhin – seine privaten Angelegenheiten sind. Dass Menschen öffentlich eigene religiöse Einstellungen zum Besten gegeben, führt gerade nicht dazu, Religion verstärkt (auch) als öffentliche Angelegenheit zu betrachten; im Gegenteil wird regelmäßig unterstrichen, dass der eigene religiöse Glaube einzig „meine Privatsache“ sei. Auch der Zugriff von staatlichen oder wirtschaftlichen Institutionen auf Daten von Privatpersonen führt trotz der verbreiteten Kritik, die Individuen würden zu „gläsernen Menschen“, nicht dazu, dass die Daten auf dem eigenen Computer, mein Konsumverhalten oder meine Krankengeschichte als nicht-private, öffentliche Gegenstände eingestuft werden. Was heißt es dann aber, von „privat“ zu sprechen? Für die Klärung der Bedeutung von „privat“ ist es zunächst hilfreich, die Kontexte aktueller Reflexionen des Privaten in den Blick zu nehmen.1

2.1 K ONTEXTE

DER

R EFLEXIONEN

ZU

„ PRIVAT “

Die Philosophin Beate Rössler spricht von einem „neu entstandene[n] Interesse an der Re-Konzeptualisierung des Privaten“2, das auf den folgenden gesellschaftlichen Prozessen beruht: Zunächst ist eine „Intimisierung der Öffentlichkeit durch ehemals private Themen, durch Individualisierungs- und Authentizitätsschübe“ zu beobachten. Außerdem sind die „Umbrüche[] im Geschlechterver-

1

2

Diese Beispiele führen mit Religion, Gesundheit oder auch Konsumverhalten Themen an, die nicht als „rein private“ Angelegenheiten zu sehen sind. Sie haben neben dem individuell-privaten Aspekt eine unübersehbare gesellschaftlich-öffentliche Dimension: Das Glaubensleben tritt öffentlich in Erscheinung, das Glaubensbekenntnis wird statistisch erfasst und in öffentlichen Reden wird explizit auf Gott rekurriert; Gesundheit ist von öffentlichem Interesse etwa im Kontext der Gesundheitspolitik; das individuelle Konsumverhalten zeigt sich in der Regel im öffentlichen Raum und hat ökologische und ökonomische Auswirkungen. Diese öffentliche Dimension wird aber von den AkteurInnen in den oben skizzierten Situationen tendenziell nicht beachtet; im Gegenteil wird häufig betont, es handle sich um „reine Privatsachen“. Beate Rössler: Der Wert des Privaten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 15.

31

Edeltraud Koller hältnis und damit einhergehenden Umstrukturierungen der privaten Sphäre“ relevant. Darüber hinaus sind die „Entwicklungen der neueren Informationstechnologien, die den Schutz der Privatheit von Personen auf ganz neue Weise gefährden können“3 von zentraler Bedeutung. Diese drei gesellschaftlichen Entwicklungen fordern dazu heraus, die Bedeutung des Privaten zu untersuchen. Auch meine Frage nach dem exzessiven Öffentlichwerden von Privatem stellt sich aufgrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungen und Phänomene, die das heutige Interesse am Begriff des Privaten motivieren. Daher berührt das hier diskutierte Thema jene verschiedenen Diskurse, in denen in diversen Wissenschaften die Auseinandersetzung um „privat“ erfolgt. Diese Diskurskontexte arbeitet Rössler4 heraus: Erstens wird im Rahmen von philosophischen und soziologischen „Theorien über die Öffentlichkeit“ das Private gegenüber dem Öffentlichen abgegrenzt. Das Private bzw. Privatheit wird folglich als ein gesellschaftlicher Restbereich verstanden, in dem Intimität ihren Ort hat. Von besonderem Interesse sind hier „Änderungen im Grenzverlauf zwischen Privat und Öffentlich“5. Diese Veränderungen sind für das hier besprochene Thema höchst bedeutsam. Denn der fremde Zugriff auf Privates bzw. die Öffnung von Privatem für die Öffentlichkeit steht häufig unter dem Verdacht, Zeichen für eine Preisgabe der Privatsphäre zu sein. Immer mehr ehemals private Angelegenheiten würden, so die verbreitete Annahme, zu öffentlichen Belangen. Zweitens erfährt der Begriff „privat“ eine direkte Thematisierung in der sozialwissenschaftlichen Untersuchung der Bedeutung von Familie. Die Sphäre der Familie erscheint hier als klassischer Ort des Privaten. Dieser Kontext vermag die Frage zu thematisieren, welchen Einfluss die Abhandlung familiärer Probleme in der Öffentlichkeit von Fernsehsendungen auf die Bedeutung dieses zentralen Beziehungsfeldes hat. Drittens beschäftigt sich die feministische Theorie einflussreich mit dem Privaten. Der Fokus ist hier auf die Beziehungen zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre gerichtet und reflektiert sie kritisch im Hinblick auf die „Verdrängung von Personen und Themen in den Bereich des Privaten“6. Hier ist etwa die These ein-

3 4 5 6

Alle Zitate: ebd. Vgl. zum Folgenden ebd., S. 11–14. Ebd., S. 12. Ebd., S. 13.

32

Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer zuordnen, dass Talkshows gerade auch jenen Privatpersonen öffentliche Aufmerksamkeit vermitteln würden, die ansonsten keine gesellschaftliche Beachtung erfahren. Viertens untersucht der demokratiepolitische Diskurs verstärkt „die informationelle Privatheit“7, indem die Folgen der weitreichenden Datenspeicherung und -verarbeitung durch staatliche Bürokratie und durch Unternehmen kritisch beleuchtet werden. Die eingangs angeführten Beispiele der exzessiven elektronischen Beobachtung von Privatmenschen und der kaum Grenzen (aner-) kennenden Speicherung persönlicher Daten sind damit diesem Diskurskontext zuzuordnen. Fünftens gibt es einen an diese Thematisierungen anschließenden, jedoch von diesen Kontexten unabhängigen „juridische[n] Diskurs um ein Recht auf Privatheit“8. Hier geht es um die Verrechtlichung des Schutzes der Privatsphäre („Unverletzlichkeit der Wohnung, Schutz der Persönlichkeit“9 usw.). Dieser Bereich betrifft meine Fragestellung nur indirekt, da ich hier keine rechtswissenschaftliche Diskussion anziele. Es sei nur erwähnt, dass die Frage nach dem juristischen Recht auf Schutz der Privatsphäre sich häufig im Zusammenhang von jenen Diskussionen erhebt, die sich der hier skizzierten exzessiven Erfahrungen widmen. Sechstens nennt Rössler den philosophischen Diskurs, der Bedeutungen, Definitionen und Funktionen des Privaten zu bestimmen sucht oder den Zusammenhang von Freiheit und Privat analysiert. Diesem Problem der Definition von „privat“ wende ich mich im Folgenden zu. Denn eine Begriffsbestimmung ist Voraussetzung dafür, um den veränderten Umgang mit Privatem und die ethische Relevanz dieser Entwicklungen besprechen zu können.

2.2 D EFINITION

VON

„ PRIVAT “

Grundsätzlich geht man davon aus, dass alle wissen, was mit der Rede von „privat“ gemeint ist. Allerdings sind die Bedeutungen von „privat“, die in den verschiedenen Verwendungen des Wortes zum Ausdruck kommen, vielfältig und unterschiedlich. Der Vielfalt der Bedeutungen des Begriffs sowie die Breite der Assoziationen, die mit ihm verbunden sind, machen eine Definition schwierig, aber auch notwendig.

7 8 9

Ebd. Ebd., S. 14. Ebd.

33

Edeltraud Koller Semantisch ist der wissenschaftlich sowie alltäglich verwendete Begriff, wie Beate Rössler ausführt, in einem dreifachen Bezugsfeld zu sehen.10 Zunächst steht „privat“ der Bedeutung von „intim“ nahe: Privat sind Belange, die dem Bereich der persönlichsten Gedanken und Gefühle zuzuordnen sind. Dass mit „privat“ häufig auf Intimes verwiesen wird, merkt auch der Psychotherapeut und Psychiater Mario Gmür richtigerweise an: „‚Privat‘ beinhaltet die Vorstellung von Alleinsein, In-Ruhe-gelassen-Werden, Befriedigung von […] körperlichen Bedürfnissen wie Hygiene, Verrichtung von Notdurft, nicht zuletzt auch das Führen von Gesprächen oder Hingabe an Beschäftigungen, Pflege von Lebensgewohnheiten, die andere nichts angehen.“11 Allerdings sind die Begriffe „privat“ und „intim“ nicht völlig deckungsgleich. Denn während Intimes immer auch privat ist, gibt es Privatangelegenheiten wie etwa die Wahl des Urlaubsortes oder eines Berufs, die nicht dem Bereich des Intimen oder der Intimität zugeordnet sind. Weiters wird „privat“ in der Regel mit „geheim“ verbunden. Auch hier gibt es semantische Überschneidungen, wenn etwa das Private das Verbergen braucht. Dies gilt beispielsweise im Hinblick auf Persönliches in Form von Tagebüchern oder des Wahlgeheimnisses. Allerdings sind auch diese Begriffe nicht synonym zu verstehen. Privates muss nicht geheim sein (persönliche Berufswahl, Kleidungswahl etc.), und nicht alles Geheime fällt in den Bereich des Privaten (z. B. Staatsgeheimnis, berufliche Verschwiegenheit). Ein dritter Begriff ist zu beachten: Das Wort „öffentlich“ wird häufig als Antonym zu „privat“ verstanden. Diese Gegenüberstellung hat vor allem dann eine hohe Plausibilität, wenn man die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Eigentum vor Augen hat. Dass es sich dabei um keinen „Nebenschauplatz“ der faktischen Bedeutungsbestimmung von „privat“ handelt, liegt auf der Hand, wenn man den Kontext bedenkt, in dem sich Privatheit historisch in der Gesellschaft entwickelt hat: Das Phänomen der Privatheit entsteht, als die völlige Abhängigkeit von der eigenen Sippe bzw. die völlige Unterordnung unter die Willkürherrschaft eines Herrn durch „die Abhängigkeit von der Verfügung über diese Sache [d. h. des Geldes, E.K.]“12 ersetzt wird. „Die Geschichte des privaten 10 Vgl. zum Folgenden ebd., S. 17. 11 Mario Gmür: Der öffentliche Mensch. Medienstars und Medienopfer, München: dtv 2002, S. 80. 12 Ralph Weiß: »Das medial entblößte Ich – verlorene Privatheit?«, in: Karin Jurczyk/Mechtild Oechsle (Hg.), Das Private neu denken. Erosionen,

34

Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer Lebens […] zeichnet nach, wie mit der bürgerlichen Welt des Privateigentums zugleich die Sphäre der Privatheit etabliert wird.“13 Vom semantischen Feld her gesehen stellen die beiden Begriffe „privat“ und „öffentlich“ aber keine völligen Gegensätze dar. Denn zwar ist alles, was nicht privat ist, öffentlich; umgekehrt gibt es aber Phänomene, die wir als nicht öffentlich und gleichzeitig als nicht privat einschätzen (z. B. nicht öffentlich zugängliche politische Verhandlungen). Außerdem gibt es „die durchaus öffentliche Privatsache“14, d. h. Phänomene, die privat sind und in der Öffentlichkeit erscheinen (z. B. die Familie als private Lebensform und öffentliche Institution, die in der Öffentlichkeit präsentierte Kleidung, das Auto als privater Besitz, der in der Öffentlichkeit genutzt und präsentiert wird usw.). Alle drei semantischen Bezüge sind für die hier besprochene Thematik bedeutsam, geht es bei ihr doch in hohem Maße um die öffentliche Mitteilung intimer oder privat-geheimer Informationen und Erlebnisse bzw. um den öffentlichen Zugriff auf Privates. Aus den bisherigen Hinweisen auf die Vielfalt von Bedeutungsbezügen wird deutlich, dass unterschiedliche Definitionen von „privat“ denkbar sind. Ich folge hier der sehr breit angelegten Definition von Beate Rössler: „[A]ls privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ‚etwas‘ [sic!] kontrollieren kann. Umgekehrt bedeutet der Schutz von Privatheit dann einen Schutz vor unerwünschtem Zutritt anderer. ‚Zugang‘ oder ‚Zutritt‘ kann hier sowohl die direkte, konkret-physische Bedeutung haben, so etwa wenn ich beanspruche, den Zugang zu meiner Wohnung selbst kontrollieren zu können; es kann jedoch auch metaphorisch gemeint sein: in dem Sinn, dass ich Kontrolle darüber habe, wer welchen ‚Wissenszugang‘ zu mir hat, also wer welche (relevanten) Daten über mich weiß; und in dem Sinn, dass ich Kontrolle darüber habe, welche Personen ‚Zugang‘ oder ‚Zutritt‘ in Form von Mitspracheoder Eingriffsmöglichkeiten haben bei Entscheidungen, die für mich relevant sind.“15

Der Vorteil dieser Definition ist es, dass nicht die Differenzierung von Individuum und Öffentlichkeitskollektiv oder die Trennung bestimmter Räume bzw. Bereiche16 leitend ist. Zudem wird die Defi-

13 14 15 16

Ambivalenzen, Leistungen, Münster: Westfälisches Dampfboot 2008, S. 174–191, hier S. 177. Ebd. B. Rössler: Der Wert des Privaten, S. 17. Ebd., S. 23f (im Original teilweise kursiv). Etwa bei Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main: Fischer 1986.

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Edeltraud Koller nition durch die Betonung der Kontrolle des Zugangs dem Faktum gerecht, dass der Begriff „privat“ zumindest implizit immer auch normative Elemente aufweist. Denn den Zugang kontrollieren zu können, heißt in dieser Begriffsbestimmung: für die Kontrolle des Zugangs zuständig zu sein bzw. den Zutritt zu erlauben. Diese Zuständigkeit bzw. Erlaubnis im Sinne einer präskriptiven Aussage wird auch dadurch nicht aufgelöst und Privatheit nicht in Öffentlichkeit umgewandelt, wenn beispielsweise der faktische Zutritt im Einzelfall unerlaubt ist. Der Anspruch, für die Kontrolle des Zugangs selbst zuständig zu sein, bleibt auch in diesem Fall bestehen.17 Dabei bringt diese Definition die Normativität von Privatem in dreifacher Hinsicht zur Sprache. Wir haben den Anspruch, (a) vor unerwünschten Einflussnahmen anderer auf persönliche Handlungen, (b) vor dem unerwünschten Zugang anderer Menschen zu persönlichen Informationen und (c) vor dem Einblick in und Zutritt zu eigenen Räumen und Bereichen (z. B. Wohnung) bewahrt zu sein.18 Demnach ist der Aspekt der Kontrolle eines Individuums über persönliche Schutzbereiche entscheidend. Allerdings stellt sich nun das Problem, dass sehr unterschiedliche Schutzbedürfnisse aufeinander treffen können. Gerade in Diskussionen um Datenschutz oder um die (moralische) Zulässigkeit des Präsentierens von Details über Verwandte oder FreundInnen im Fernsehen zeigt sich, dass unterschiedliche Einstellungen bestehen: Themenfelder, die der Eine keinesfalls außerhalb der Betroffenen – also öffentlich – diskutiert haben will, scheinen für den Anderen Angelegenheiten darzustellen, die problemlos präsentiert werden können. Es gibt somit eine unterschiedliche Einschätzung, inwiefern konkrete Informationen und Ereignisse vor den fremden Blicken geschützt werden sollen bzw. müssen. Weitgehender Konsens besteht aber in der Einordnung von bestimmten Themenbereichen als privat. Das bedeutet: Die gesellschaftliche Konstruktion von „privat“ funktioniert weitgehend unproblematisch im Sinne einer Verständigung über die Einstufung bestimmter Angelegenheiten als private. Strittig ist hingegen, inwiefern diese Belange in der Öffentlichkeit ausgebreitet werden dürfen bzw. inwiefern sich die Öffentlichkeit Zugriff verschaffen darf. Das eigentliche Problem ist daher der Schutz des Privaten. Was soll konkret geschützt werden – und warum? Um zu einer Antwort zu gelangen, ist ein Blick auf die Funktionen von Privatheit bzw. des Schutzes von Privatangelegenheiten lohnend.

17 Vgl. B. Rössler: Der Wert des Privaten, S. 24. 18 Vgl. ebd., S. 25.

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Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer

3 Der Schutz von Privatheit und seine Funktion 3.1 D IE S CHUTZBEDÜRFTIGKEIT

VON

P RIVATEM

Der Schutz des Privaten stellt in unserer Gesellschaft einen prinzipiell hohen Wert dar. Dies ist auch der Grund dafür, dass das Faktum oder auch nur der Verdacht einer Verletzung der Privatsphäre überhaupt zu Diskussion und Kritik führt. Warum wollen wir Privates schützen? Für das Schutzbedürfnis von Privatheit gibt es verschiedene Gründe: Ein erster Grund hängt damit zusammen, dass Privates häufig den Bereich des Intimen berührt. Die Intimsphäre ist die „innere Gedanken- u[nd] Gefühlswelt mit ihren äußeren Erscheinungsformen wie vertrau[lichen] Briefen, Tagebuchaufzeichnungen sowie jene Angelegenheiten, für die […] Anspruch auf Geheimhaltung besteht (z. B. Gesundheitszustand u[nd] Sexualleben).“19 Folglich soll die Privatheit vor emotionalem Ausgesetzt-Sein bewahren. „‚Privat‘ ist der äußere Aspekt jenes Lebensbereichs, der Gefühle wie Aggressionen, Scham und Angst schützt. Privatheit ist so gewissermaßen der Gartenzaun, die Hausmauer, Intimität die dahinter verborgen liegende Gefühlssphäre.“20 Der Schutz des persönlichen Erlebens und Ausdrucks ist eine zentrale Rahmenbedingung, derer der moderne Mensch bedarf, um seine Persönlichkeit und sein Lebenskonzept zu realisieren und zu entfalten. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Beziehungsdimension, nämlich der Aspekt von Intimität. „Intimität gründet in einem im Menschen verwurzelten Verlangen nach Vertrauensbeziehungen ungeschützter Offenheit, unmittelbaren Selbstseinkönnens u[nd] -dürfens zu nahestehenden Personen.“21 Dazu bedarf es eines „Raumes“, der jenseits der Öffentlichkeit sozusagen ganz der Person bzw. der Beziehung gehört und als „Refugium der Selbstverwirklichung“22 eine notwendige Bedeutung hat, um den Bedürfnissen nach Geborgenheit, Alleinsein usw. nachkommen zu können.

19 Peter Fonk: »Privatsphäre«, in: Walter Kasper u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 8. 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg/Breisgau u.a.: Herder 1999, Sp. 604–605, hier: Sp. 604f..; Vgl. auch Manfred MaßhofFischer: »Intimsphäre«, in: Walter Kasper u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 5. 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg/Breisgau u.a.: Herder 1996, Sp. 565. 20 M. Gmür: Der öffentliche Mensch, S. 80. 21 M. Maßhof-Fischer: »Intimität«, S. 565. 22 R. Weiß: »Das medial entblößte Ich«, S. 177.

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Edeltraud Koller Ein mit der Intimsphäre zusammenhängender Grund für den Schutz der Privatheit ist der Wunsch, vor möglichen emotionalen Folgen bewahrt zu sein, die der Einblick anderer in unsere Privatangelegenheiten mit sich bringen kann. Denn der Verlust der Vertraulichkeit persönlicher Belange kann nicht nur beim betroffenen Menschen Gefühle wie Scham oder eine Störung des Vertrauensverhältnisses bewirken; der Einblick kann auch bei anderen Missgunst, Neid usw. auslösen.23 Hier ist auch die Angst vor Klatsch/ Tratsch24 und Gerüchten einzuordnen. Dass wir selbst bestimmen wollen, welche Informationen welche Personen bzw. Institutionen über uns haben, verweist u.a. darauf, dass wir damit auch unser Selbstbild schützen wollen. „Der Klatsch bringt vor allem das persönliche Geheimhaltungskonzept des Opfers durcheinander und wird daher bedrohlich. Es bedroht vor allem das Bild, das das Opfer von sich selbst verinnerlicht hat und mit sich trägt. […] Der Klatsch führt zu einer Umstrukturierung des äußeren Bildes, was vom Ich ein neues Management verlangt …“25 Die Antizipation von emotionalen Folgen des fremden Einblicks in eigene persönliche Angelegenheiten ist ein wichtiger Grund für das Bemühen und die Notwendigkeit, vor diesen Einblicken geschützt zu sein. Ein weiterer Grund für das Bedürfnis, Privates zu schützen, ist in der Vermeidung oder Verminderung der Macht, die Menschen und Institutionen über uns ausüben (könnten), zu sehen. Diese Macht manifestiert sich in sozialer Kontrolle ebenso wie in drohenden Akten von Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung, politischer Einstellung oder religiöser Überzeugung. In diesem Zusammenhang greift allerdings etwa die Ansicht von Michael Nagenborg etwas zu kurz, wenn er meint: „Wenn traditionelle Religionszugehörigkeit, sexuelle Orientierung usw. als privat gelten, dann deshalb, weil sie bei der Beurteilung einer Person in und durch die Öffentlichkeit keine Rolle spielen.“26 Es scheint m. E. gerade das Gegenteil der Fall zu sein: Weil diese Aspekte keine zentrale Rolle im Hinblick auf die gesellschaftliche Einschätzung eines Menschen spielen sollen, ihnen aber faktisch in der Geschichte immer wieder eine hohe Bedeutung zukam und sie etwa die Grundlage für öffentliche Diskriminierungen waren, sind sie besonders schutzbedürftig.

23 Vgl. Philipp Schaumann/Christian Reiser: »Die Bedrohung der Privatsphäre (Privacy)«; http://sicherheitskultur.at/privacy.htm vom 17. März 2009. 24 Vgl. dazu M. Gmür: Der öffentliche Mensch, S. 81–83. 25 Ebd., S. 83. 26 M. Nagenborg: Das Private unter den Rahmenbedingungen der IuK-Technologie. Ein Beitrag zur Informationsethik. Mit einem Vorwort von Helmut F. Spinner, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 206.

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Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer Der Schutz, dessen das Private bedarf und der den persönlichen Belangen weitgehend zumindest rhetorisch zugestanden wird, lässt vermuten, dass der Privatheit eine besondere gesellschaftliche Funktion zukommt. Worin ist diese zu sehen?

3.2 D IE E RMÖGLICHUNG

VON PERSÖNLICHER

A UTONOMIE

Die soeben skizzierten Gründe für das Schutzbedürfnis im Hinblick auf Privates deuten an, dass unsere Persönlichkeitsentfaltung und unsere Lebensgestaltung davon beeinflusst werden, inwieweit wir uns in sozialen Räumen des Privaten aufgehoben fühlen, hier eigene Lebenskonzepte verfolgen sowie individuelle Ausdrucks- und Entfaltungsmöglichkeiten verwirklichen können. Dass es persönliche Bereiche gibt, die dem Einfluss der Öffentlichkeit entzogen sind, und dass wir nicht immer beobachtet sind und beispielsweise selbst entscheiden können, wann wir allein sein wollen, sind Voraussetzungen dafür, dass wir ein Selbstverständnis und Selbstbild frei entwickeln können. Darüber hinaus ist Selbstbestimmung eine wesentliche Erfahrungsdimension von Freiheit in der modernen Gesellschaft. Jene Bereiche, die wir in einer Gesellschaft als private schützen, zeigen damit umgekehrt, dass diese Bereiche mit Selbstbestimmung engstens in Verbindung gebracht werden.27 Es scheint daher plausibel zu sein, dass die gesellschaftliche Funktion von Privatheit die Ermöglichung von persönlicher Autonomie ist.28 Selbstbestimmte Lebensführung setzt Privatheit voraus und wird deshalb individuell wie auch staatlich geschützt. Dabei ist hier Autonomie in einem alltagspraktischen Sinne als individuelle selbstständige Lebensgestaltung relevant, die als Form konkreter Aktualisierung von Freiheit in unserer modernen demokratischen Gesellschaft eine derart hohe Bedeutung hat, dass der Rechtsstaat selbst vor Eingriffen des Staates in persönliche Belange zu schützen hat.29 Selbstbestimmte Lebensführung setzt also den Schutz von Privatheit voraus. Dabei ist aber zu beachten, dass die konkrete Gewichtung dieser Autonomie in modernen Gesellschaften recht unterschiedlich ausfallen kann: Privatheit ist eben eine soziale Konstruktion und gründet auch im Hinblick auf den Schwerpunkt der Schutzbedürftigkeit auf einer gesellschaftlichen Überein-

27 Vgl. B. Rössler: Der Wert des Privaten, S. 137. 28 Vgl. ebd., S. 26. 29 Vgl. R. Weiß: »Das medial entblößte Ich«, S. 177.

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Edeltraud Koller kunft.30 Wenn beispielsweise in den USA „die Autonomie der Person in ihren Entscheidungen und Handlungen (…) gekoppelt [wird] an den Begriff der Privatheit“ und folglich gefordert wird, dass sich der Staat aus persönlichen Angelegenheiten heraushält, wird die „Freiheit von Eingriffen in Entscheidungen und Handlungen“ betont. Beispielsweise wurde 1973 in einem Gerichtsurteil zum Schwangerschaftsabbruch festgestellt, dass die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch im „Recht auf Privatheit“ inkludiert sei. Eine derartige Begründung ist in Europa nicht denkbar. Umgekehrt existiert in den USA kein vergleichbares Datenschutzgesetz wie in der Europäischen Union. Hier liegt, wie beispielsweise in Deutschland, der Akzent „auf der Freiheit von Einblicken ins Alltagsleben.“31 Paradigmatisch kann hier die Debatte um die Beobachtung und Belauschung von BürgerInnen durch den Staat gelten. „Beide Vorstellungen jedoch, d. h. diejenige, Privatheit schütze vor Eingriffen in das, was man tun möchte, und diejenige, Privatheit schütze davor, belauscht, beobachtet oder in der Kontrolle der Selbstdarstellungen eingeschränkt zu werden, beide lassen sich als unterschiedliche Kontextuierungen, aber doch als Aspekte ein und derselben Idee begreifen. Denn beiden zugrunde liegt ein liberales Ideal: das Ideal, selbstbestimmt – autonom – ein eigenes – authentisches – Leben führen zu können.“32 Im Hinblick auf die hier betrachteten paradigmatischen öffentlichen Zugriffe auf Privates in Form der medialen Präsentation bzw. institutionellen Datenspeicherung privater Informationen stellt sich nun die Frage, inwieweit diese Entwicklungen die Autonomie individueller Lebensgestaltung tangieren.

3.3 E INSCHRÄNKUNG DER PERSÖNLICHEN A UTONOMIE DURCH E INBLICKE INS P RIVATE Der eine Kontext, in dem heute die Eingriffe in als privat betrachtete Angelegenheiten exzessiv erlebt werden, ist der Zugriff auf private Daten durch Institutionen. Die Personen, die beobachten und kontrollieren, sind dabei in der Regel völlig unbekannt.33 „Der Grund nun, warum Personen diese Art von Verletzung informationeller Privatheit als Beschädigung, Entfremdung begreifen, liegt nicht nur darin, dass sie sich einfachhin als unangenehm, beschä-

30 31 32 33

Vgl. zum Folgenden B. Rössler: Der Wert des Privaten, S. 34–36. Alle Zitate: ebd., S. 34. Ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 203.

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Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer mend, verletzend empfinden und deshalb ablehnen – dies auch; sondern auch und vor allem darin, dass mit jenen Verletzungen informationeller Privatheit immer auch zugleich Verletzungen der Bedingungen von Autonomie gegeben sind: individuelle Autonomie ist auf informationelle Privatheit angewiesen.“34 Dabei ist nur von sekundärer Bedeutung, ob die Daten objektiv zum Nachteil der betreffenden Personen verwendet werden. Von vorrangiger Bedeutung ist hingegen, ob es Bereiche bzw. Situationen gibt, in denen man vor fremder Beobachtung sicher sein kann. Treffend stellt Beate Rössler fest: „Wenn man jedoch im Grundsatz nicht mehr von der Kontrolle über die informationelle Selbstbestimmung ausgehen kann und davon, nicht (permanent) beobachtet zu werden; wenn man sich folglich (permanent) darstellen muss, als werde man beobachtet: dann bedeutet dies einen Verlust an Autonomie im Sinne der Authentizität des Verhaltens, da das eigene Verhalten immer zugleich ein Verhalten als ob wäre, ein entfremdetes Verhalten, weil es sich nicht mehr an der selbstbestimmten Diversität von Beziehungen orientieren könnte, ein entfremdetes Verhalten, weil es sich nicht mehr einer Kontrolle über die eigenen Selbstdarstellungen verdanken würde. Die Gefahren liegen also zum einen im freiwilligen Verzicht auf informationelle Privatheit, zum anderen in der unfreiwilligen Kontrolle.“35 Letztlich geht es beim Schutz der Privatheit in Form der Selbstbestimmung über den Zugang zu persönlichen Informationen darum, dass wir über unser Verhalten selbst bestimmen wollen und diese Autonomie nicht nur durch die Mitwisserschaft Fremder eingeschränkt wird, sondern auch durch eine falsche Annahme, wer tatsächlich welche Einblicke in unser Leben hat. Beispielsweise wird die Beobachtung von außenstehenden, fremden Personen durch hellhörigen Wohnungsbau und die Position von urbanen Häusern möglich, die einem unausweichlich beim Blick aus dem Fenster den Einblick durch die Fenster des gegenüber liegenden Hauses gewähren. Dass dies ein Eingriff ins Private ist, liegt nicht vorrangig daran, dass das Bekanntwerden von Informationen, die man dadurch über das Verhalten der NachbarInnen erhält, das Handeln / Leben dieser Menschen stark verändert. Es sind nicht nur die Informationen selbst, die das Verhalten beeinflussen, sondern vor allem die Störungen von „Erwartungshorizonten über das Wissen, das andere von mir berechtigterweise und begründeterwei-

34 Ebd. 35 Ebd., S. 233.

41

Edeltraud Koller se haben können“.36 Denn wenn man nun beobachtet wird, ohne es zu wissen, handelt man anders, als wenn man über die Beobachtung Bescheid wüsste.37 Es muss also nicht um die Verletzung des Geheimnischarakters einer Information gehen; worum es geht, ist die Verletzung der „Kontrolle über ihre Selbstdarstellung“38. Die Gefahr, über die Art und das Ausmaß der Selbstdarstellung gerade nicht autonom entscheiden zu können, besteht auch im zweiten exemplarischen Bereich, nämlich der freiwilligen Preisgabe intimer Angelegenheiten in der medialen Öffentlichkeit. Trotz des Umstandes, dass die Präsentation von Privatem etwa in Fernsehsendungen vielfach durch die SelbstdarstellerInnen als Akt der autonomen Entscheidung interpretiert wird, ist evident, dass die Dramaturgie der Sendungen die Möglichkeit der TeilnehmerInnen zu einer autonomen Entscheidung über ihren Ausdruck extrem einschränkt.39 „Die Inszenierung von Privatleuten und Privatem im Fernsehen legt es auf Emotionalisierung und Intimisierung an: […] Es geht um Blöße, um den freien Blick auf eine subjektive Befindlichkeit.“40 Damit ist ein – häufig unerkannt und unerwartet – hohes Maß an Fremdbestimmung festzustellen. Dieser Aspekt betrifft nicht nur die SelbstdarstellerInnen. Auch private Details, die Familienmitglieder oder engere FreundInnen geheim zu halten trachten, können so Gegenstände der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung werden und folglich die Handlungssouveränität einschränken, wobei diese Betroffenen mitunter überhaupt keine Eingriffs- und Gestaltungsmöglichkeiten haben. Wenn aber nun davon auszugehen ist, dass der Schutz von Privatheit einen hohen Wert darstellt und derartige Verletzungen durchaus kritisch beobachtet werden, entsteht ein Problem: Wie ist es zu verstehen, dass Menschen heute freiwillig und anscheinend maßlos private Details in der Öffentlichkeit des Fernsehens präsentieren und dass Menschen ebenfalls vielfach freiwillig auf den Schutz von Privatdaten verzichten und wenige Probleme damit haben, dass sie keinen vollkommenen Überblick darüber haben, wer welche Daten über sie zu welchem Zweck sammelt oder weitergibt?

36 Ebd., S. 206. 37 Vgl. dazu die erklärenden Beispiele zu Voyeurismus, Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen, elektronische Weitergabe medizinischer Persondaten und Tratsch in: B. Rössler: Der Wert des Privaten, S. 206–208. 38 Ebd., S. 209 (im Original kursiv). 39 Vgl. R. Weiß: »Das medial entblößte Ich«, S. 184. 40 Ebd.

42

Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer

4 Gründe für das Öffentlich-Werden von Privatem 4.1 G RÜNDE

FÜR DIE FREIWILLIGE

P REISGABE

VON

P RIVATEM

Menschen, die freiwillig Privates in der medialen Öffentlichkeit darstellen, interpretieren diese Handlung in der Regel als „Triumph der Selbstverwirklichung, [als] ein[en] Triumph über die Entfremdung.“41 Konventionen und sozialen Normen der öffentlichen Selbstdarstellung werden vielfach als Fremdbestimmung erlebt und interpretiert; das Abweichen davon gilt den AkteurInnen folglich als Ausdruck der Wahrhaftigkeit/Authentizität.42 Die AkteurInnen wollen ihre persönliche Meinung oder Befindlichkeit zum Ausdruck bringen – ungeachtet dessen, ob die Äußerungen sozial erwünscht bzw. akzeptabel sind oder nicht. Was und wie viel sie von sich preisgeben, scheint für sie eine autonome, ganz persönliche Entscheidung zu sein. Dennoch kann man den Eindruck bekommen, dass es tatsächlich wenig um Wahrhaftigkeit geht und die SelbstdarstellerInnen eine eigentümliche und tendenziell peinliche Rolle spielen. Dass dieser Eindruck durchaus begründet ist, wurde soeben mit dem Hinweis auf den hohen Grad an Fremdbestimmung erwähnt. Neben dem Aspekt der Selbstverwirklichung ist ein anderer Grund bei freiwilliger medialer Preisgabe von Privatem bedeutsam: das Erlangen von Aufmerksamkeit. Vermittler von Aufmerksamkeit sind in unserer Gesellschaft maßgeblich die Medien.43 Nun sind „Emotionalisierung, Dramatisierung, Dialogisierung, Intimisierung und Moralisierung“44 wesentliche Strategien, mittels derer in den Medien Aufmerksamkeit erzielt wird. Zugleich sind dies Faktoren, die sich auf Privates hervorragend anwenden lassen. Jene Menschen, die aus der anonymen Masse des Publikums in das Schein-

41 Ebd., S. 179. 42 Vgl. ebd.; Wahrhaftigkeit/Authentizität verstehe ich hier „als eine existentielle Grundhaltung des Menschen gegenüber anderen Personen, gegenüber sich selbst und gegenüber Gott […], als Übereinstimmung der Lebensäußerungen eines Menschen mit dem, was wahr ist bzw. er für wahr hält – unbeschadet der Möglichkeit, daß er mit seinem Fürwahrhalten im Irrtum ist.“ (Eberhard Jüngel: »Wahrhaftigkeit/Authentizität. Fundamentaltheologisch«, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 8, 4. völlig neu bearb. Aufl, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, S. 1242–1244, hier: S. 1242.) 43 So ist ein Kapitel mit „Die Jagd nach Aufmerksamkeit und das Diktat der Medien“ treffend betitelt in: M. Gmür: Der öffentliche Mensch, S. 29–35. 44 Ebd., S. 44.

43

Edeltraud Koller werferlicht der DarstellerInnen treten und dadurch öffentliche Beachtung erlangen wollen, fügen sich in gewisser Weise schlichtweg dieser medialen Logik. Die Verheißung geht dabei über bloß kurzfristige Aufmerksamkeit hinaus und liegt wesentlich auch in sozialer Anerkennung. „Dass Durchschnittsbürger in das Rampenlicht der Öffentlichkeit drängen, hängt z. B. damit zusammen, dass Sozialstatus und Sozialprestige derzeit eng mit Medienpräsenz verknüpft sind.“45 Das Präsentieren von Privatem kann daher begriffen werden als Spiel um Symbole der Anerkennung. Während diese Gründe das Private als etwas erkennen lassen, das als Mittel zur Selbsterfahrung und Selbstdarstellung genutzt wird, wird ein weiterer Aspekt deutlich, wenn man an die Zustimmung zu bzw. das Gewähren von Einblicken in persönlich-private Daten denkt. Hier ist Privates nicht als Thema der Selbstdarstellung relevant; es wird vielmehr gegen andere Güter abgewogen: mehr Sicherheit im Hinblick auf die Datenspeicherung beispielsweise bei Flugreisen und staatlichen Überwachungsmaßnahmen, finanzielle Vorteile bei der Speicherung der Daten zum eigenen Kaufverhaltens mittels Kundenkartennutzung usw. Warum jemand Einblick in seine/ihre Privatangelegenheiten gewährt, ist die eine beachtenswerte Frage. Die andere und noch offene Frage ist, warum die Öffentlichkeit überhaupt am Privaten ein derart hohes Interesse zeigt, sodass viele Medien im Hinblick auf die Quoten bzw. Finanzen davon abhängig sind und Institutionen enorme Mengen unterschiedlichster persönlicher Daten sammeln (wollen). Was sind also die Gründe für das öffentliche Interesse am Privaten?

4.2 G RÜNDE

FÜR DAS FREMDE

I NTERESSE

AM

P RIVATEN

Ein erster Grund für das weit reichende und exzessiv zur Schau getragene Interesse am Privaten fremder Menschen liegt in der Ausübung von Macht. Man kann sich das Wissen über persönliche Angelegenheiten zunutze machen, beispielsweise wenn ArbeitgeberInnen Informationen über den Gesundheitszustand der einzelnen Beschäftigten haben oder Daten bezüglich persönlicher Gewohnheiten für sicherheitspolitische Maßnahmen gesammelt werden. Zudem wird Macht auch dadurch ausgeübt, dass das Verhalten von Menschen beeinflusst wird, die sich in der Öffentlichkeit mit intimen oder geheimen Details darstellen. Dieser Einfluss auf das Verhalten kommt dem Publikum als Kollektiv sowie dem

45 Ebd., S. 55.

44

Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer Mediensystem zu: Sie üben einen Druck auf die DarstellerInnen aus, sich persönlich und angreifbar zu exponieren. Dem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit auf der Seite der DarstellerInnen, aufgrund dessen diese in einer Art Tausch bereit sind, intime Details auszubreiten, korrespondiert das Versprechen von Medien und Publikum, diese Aufmerksamkeit gerade durch peinliches, beschämendes oder bizarres Selbstexponieren zu erlangen. Allerdings kann das Interesse am Privaten anderer Personen auch den Wunsch ausdrücken, am Leben anderer teilzunehmen. „Die Medien […] haben auf eine sterile Weise die Dorfbrunnenfunktion vorindustrieller Zeiten übernommen.“46 Einerseits wird versucht, emotionale Kontaktwünsche47 dadurch zu befriedigen, dass man sich auf die Emotionalisierung der intimen Offenbarungen einlässt und ein emotionales Verhältnis zu den präsentierten Personen aufbaut. Andererseits kann der Vergleich mit anderen Menschen Trost vermitteln. Denn die Darstellungen von Privatem fordern das Publikum unvermeidlich heraus, sich nicht nur selbst in Bezug auf die präsentierten Werte und Bewertungen zu positionieren; sie bewirken auch, dass man sich und die eigenen Erfahrungen mit den DarstellerInnen bzw. ihren mehr oder weniger dramatischen Erlebnissen vergleicht, was indirekt Trost im Hinblick auf eigene Schwierigkeiten vermitteln kann: Man kann Analogien zu eigenen Herausforderungen sehen, sich mit dem Schicksal anderer identifizieren oder einfach feststellen, dass die eigenen Schwierigkeiten im Vergleich zu den Problemen anderer Menschen nicht besonders dramatisch sind. Weiters besteht der Reiz des Privaten für Fremde im Reiz des Tabus48. Über persönliches Scheitern, eigene sexuelle Vorlieben, Familiengeheimnisse usw. spricht man üblicherweise öffentlich nicht. Dadurch kann es aber attraktiv erscheinen, sich gerade dieser gewöhnlich nicht ansprechbaren Themen zu widmen. Letztlich geht es wohl dabei um den Reiz des Spiels49: Auch wenn wir wissen, dass die Darstellungen inszeniert sind, ziehen die Äußerungen, Streitereien und Bekenntnisse das Publikum in ihren Bann. Solange die Inszenierung als Inszenierung erkannt wird, eine Talkshow als Darstellungsforum mit eigener Dramaturgie, solange kann die Präsentation negative bzw. positive Emotionen aufbauen. 46 Ebd., S. 57. 47 Vgl. ebd., S. 57f. 48 Vgl. die Ausführungen zur Tabu-Gesellschaft bei Robert Pfaller: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 307ff. 49 Vgl. zum Wesen des Spiels ebd., S. 92ff.

45

Edeltraud Koller Es gilt sicherlich auch hier, was der Philosoph Robert Pfaller im Hinblick auf Spiele wie Glückspiel, Kinderspiele oder Fußball formuliert: „Um den Bann des Spieles zu brechen, müßten wir also versuchen, zu vergessen, daß es nur ein Spiel ist.“50 Der Spielcharakter gilt auch für andere Angelegenheiten, in denen Privates öffentlich zur Schau getragen wird. Beispielsweise kann der allgegenwärtige, ohne Übertreibung exzessiv zu qualifizierende Handy-Gebrauch im öffentlichen Raum nicht als ein Zeichen für eine wachsende „Entfremdung“ des öffentlichen Raums gesehen werden: FreundInnen reden z. B. im Lokal nicht miteinander, sondern mit anderen am Telefon.51 Die öffentliche Verwendung des Mobiltelefons enthält auch einen Spielcharakter, nämlich das Spiel mit der Darstellung von Privatheit. Denn die Handlung des privaten Telefonierens, die herkömmlich nichts in der Öffentlichkeit verloren hatte, wird nun als private Tätigkeit exzessiv öffentlich praktiziert, ohne den Anspruch aufzugeben, dass die Privatheit des Telefonierens durch andere Personen anzuerkennen sei.52 Rösslers Hinweis, dass es sich dabei um ein Spiel handelt, trifft Entscheidendes: „Wer sich so inszeniert, spielt natürlich mit der Privatheit des Telefonierens: andere dürfen nicht mithören, werden aber gleichsam zum Mithören aufgefordert – ein Spiel, das zu den eigentlichen praktischen Funktionen des Handys hinzukommt; und ein Spiel übrigens, das auch mittels Konversationen mit einem anwesenden Gegenüber in der Öffentlichkeit gespielt wird.“53 Mittels Handys wird Privates inszeniert, und die anderen Menschen werden zu MitspielerInnen. Das Öffentlichwerden von Privatem, dies dürfte bereits deutlich geworden sein, ist nicht an sich problematisch. Wenn von einer gesellschaftlichen Konstruktion von Privatheit ausgegangen wird, muss die Verschiebung der Grenzen von privat und öffentlich oder die soziale Akzeptanz der Publizierung von konkreten privaten Details als geschichtlich veränderlich gelten. Dennoch ist ein ethischer Blick auf die konkreten Einblicke und Eingriffe insbesondere dann höchst notwendig, wenn diese als grenzenlos erlebt und vielfach als exzessiver Entprivatisierungsschub in der Gesellschaft gedeutet werden. Wie sind nun Entwicklungen des Öffentlichwerdens von Privatem aus ethischer Perspektive einzuschätzen?

50 51 52 53

Ebd., S. 115 (im Original kursiv). Vgl. B. Rössler: Der Wert des Privaten, S. 310. Vgl. ebd., S. 311. Ebd.

46

Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer

5 Ethische Schwerpunkte der öffentlichen Präsentation von Privatem Es wurde bereits deutlich, dass die Schutzbedürftigkeit der Privatheit der freiwilligen Aufgabe dieses Schutzes nicht diametral entgegenstehen muss. Denn es ist durchaus plausibel, dass Privates, auch wenn dessen Schutz einen hohen Wert darstellt, nicht absolut und in jedem Fall – also unbedingt – vor dem Blick anderer zu bewahren ist. Ob man selbst Privates offenbart bzw. den Zugriff auf persönliche Informationen duldet, ist von einer Abwägung gegenüber anderen Zielen und Gütern abhängig. Sicherheit und Anerkennung können solche Güter sein, die im konkreten Fall als höher eingeschätzt werden als der Schutz der Privatheit konkreter Angelegenheiten. Dabei stellt sich nun aber das Problem, wie diese Abwägung zu beurteilen ist, worin also die ethischen Kriterien liegen, mittels derer über die Rechtfertigung konkreter Abwägungen entschieden werden kann. Im Folgenden seien zwei ethische Maximen vorgeschlagen: Wenn Privates in der Öffentlichkeit präsentiert wird, ist erstens die Möglichkeit von Authentizität der Person und zweitens die Entfaltung von Freiheit zu schützen.

5.1 S CHUTZ

DER

A UTHENTIZITÄT

Die Funktion von Privatheit wurde als Ermöglichung selbstbestimmter Lebensführung definiert. Dass wir unser eigenes Leben führen können, bedeutet, dass wir unser Lebenskonzept verfolgen können. Um Sinnperspektiven und Individualität, eine Vorstellung der eigenen Erwartungen an das Leben sowie der konkreten Werte und Handlungsmaximen zu entwickeln, bedarf es der Möglichkeiten, uns als Individuum erleben und authentisch ausdrücken zu können. Autonome Lebensführung setzt damit voraus, dass wir in einem geschützten Bereich Werte einüben können. Dass wir dabei unbedingt, jenseits konkreter Leistungen Geltung und Wertschätzung erfahren, ist eine Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer selbstständigen Persönlichkeit. M. Ritter betont daher „die bedingungslose Notwendigkeit von Privatheit“54. „Nur ein vitaler Alltag, nur lebendige Beziehungen, in denen immer wieder um Innigkeit und Nähe im Schutze der Privatheit gerungen wird, ermöglichen die Teilhabe am öffentlichen Diskussionsprozess um Kon-

54 Martina Ritter: Die Dynamik von Privatheit und Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 129.

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Edeltraud Koller flikte.“55 Insofern ist autonome Lebensführung „angewiesen auch auf äußere Bedingungen von Authentizität“56. Hier ist, wie bereits oben ausgeführt wurde, der Schutz von privaten Informationen zu beachten, insofern die Möglichkeit von Authentizität an das Wissen gebunden ist, wer welche Informationen über mich hat. Darüber hinaus ist aber auch die freiwillige Preisgabe von Privatem relevant. Bedeutsam ist dabei, dass „[d]ie private Lebensführung […] zwar weitgehend aus dem Pflichtenkanon traditioneller moralischer Vorschriften entlassen worden“57 ist. Hier entsteht aber ein Problem: Wo Normen der Lebensführung wegfallen, müssen diese individuell gefunden und ergriffen werden. Dies ist nicht nur enorm anspruchsvoll, weil sittliche Referenzpunkte für die persönliche Lebensführung gefunden werden müssen. Es entsteht auch das Problem, sich über die konkrete Realisierung von persönlicher Autonomie täuschen zu können. Hier suggeriert etwa die Gelegenheit medialer Selbstoffenbarung die Möglichkeit der Selbstbestimmung, die allerdings zumindest Elemente von Fremdbestimmung und weder gewählter noch erkannter Abhängigkeit enthalten kann. Die Forderung, die Möglichkeit von Authentizität der Lebensführung und Handlungen zu schützen, impliziert, dass (Selbst-) Aufklärung der AkteurInnen über die möglichen bzw. wahrscheinlichen Implikationen und Folgen des Öffentlichwerdens und -machens privater Angelegenheiten notwendig ist. Denn es ist eine Gefahr, dass beispielsweise „die Intimisierung der Selbstdarstellung in eine Art selbstverschuldeter Unmündigkeit“58 hineinführt, die einen authentischen Ausdruck der Handelnden stört oder verhindert. Zu beachten ist dies insbesondere im Hinblick auf die instrumentellen Elemente einer medial exzessiv inszenierten Selbstdarstellung von Personen: Der Umgang mit der Welt bzw. mit Menschen dient der Selbstvergewisserung, wobei soziale Situationen, der Partner bzw. die Partnerin und der eigene Körper als mediale Mittel verwendet werden, um sich öffentlich-medial durch emotionale Erlebnisse Selbstverwirklichung zu verschaffen.59 Das Wissen um Aspekte der Instrumentalisierung ist notwendig im Besonderen auch dann, wenn die AkteurInnen „dieses Spiel, das sie nicht beherrschen, um der gewährten flüchtigen Prominenz willen mitspielen.“60 55 56 57 58 59 60

Ebd. B. Rössler: Der Wert des Privaten, S. 233. R. Weiß: »Das medial entblößte Ich«, S. 181. Ebd. (im Original teilweise kursiv). Vgl. ebd., S. 180. Ebd., S. 188.

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Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer Zu beachten ist, dass „persönliche Autonomie […] Reflexivität, Toleranz und Diskretion“61 braucht. Die exzessive Selbstdarstellung von Intimem, Anstößigem und Beschämendem droht diese Grundlagen geradezu auszuhebeln. Der Zweck des Erzielens von Aufmerksamkeit über derartig extensive Selbstdarstellungen entzieht die eigenen Ansichten der Reflexion. Sowohl bei den AkteurInnen als auch beim Publikum geht es nicht darum, die eigenen Haltungen und Lebenskonzepte zu reflektieren und kritisch weiterzuentwickeln. Das widerspricht zunächst dem offensichtlichen Ziel, das darin besteht, Einstellungen und Erlebnisse zu diskutieren. Tatsächlich geht es aber zunächst und vor allem um Darstellung. Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil dadurch einsichtig wird, dass die eigentliche ethische Relevanz auf einer weniger offensichtlichen Ebene liegt: Mediale Selbstoffenbarung von Privatem spielt mit Moral – nicht nur im Hinblick auf die Inhalte, sondern, und das ist in diesem Zusammenhang bedeutsamer, hinsichtlich der Rezeption. Das Publikum bildet sich unausweichlich ein moralisches Urteil. „Die Selbstdarstellung des Intimen, Devianten, Obszönen wird in eine Form gebracht, in der die konventionelle moralische Ordnung auf eine aggressive Weise bekräftigt wird – durch die Inszenierung von Ausgrenzung, Viktimisierung oder Bekehrung des Abweichlers. […] Es geht in diesen Shows um Moral, aber um Moral in Form von Ressentiments.“62 Eine wichtige Aufgabe aus der Sicht der Ethik ist daher jedenfalls die Aufklärung über die Grenzen der persönlichen Selbstbestimmung bei medialer Selbstdarstellung. Darüber hinaus ist aber auch zu betonen, dass der – tatsächliche oder bloß mögliche – Blick Fremder hilfreich sein kann. Nicht nur die Preisgabe von Privatem kann ein Individuum verletzten. Gerade auch der Schutz von Privatem kann den Menschen verletzten. Denn unter dem Siegel der Privatheit kann Gewalt oder eigene Einschränkung von persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten gerade unterstützt werden. Daher ist der zweite ethische Aspekt, nämlich die Entfaltung von Freiheit, unverzichtbar.

5.2 E NTFALTUNG

VON

F REIHEIT

Der Schutz des Privaten unterstützt tendenziell die Handlungsfreiheit. Dieser Aspekt wurde bereits im Bezug auf die Möglichkeit zu autonomer Lebensführung deutlich. Darüber hinaus ist aber

61 Ebd., S. 182. 62 Ebd., S. 185.

49

Edeltraud Koller Freiheit in einem grundsätzlicheren Sinne bedeutend, nämlich als „Forderung, sich als freies Wesen zu realisieren“, was bedeutet, dass der Mensch „seine Ziele selbst bestimmt und handelnd in die Wirklichkeit überführt.“63 Es ist evident, dass die verbreitete Zustimmung zu bzw. die Duldung der Bevölkerung von privaten Eingriffen (Kontrollen bei Flugreisen, Überwachungen öffentlicher Orte usw.) um den Preis der Einschränkung von Freiheiten erfolgt. Zudem sind das ungewollte Öffentlichwerden sowie die bewusste öffentliche Präsentation von Intimem und persönlichen Sonderheiten einschränkende Faktoren im Hinblick auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Darüber hinaus gibt es auch für das Unbehagen, das im Zusammenhang mit elektronischem Zugriff auf private Daten festzustellen ist, gute Gründe. So scheint die Informationstechnologie ein Bereich zu sein, in dem die Frage keine hohe Priorität zu haben scheint, ob das, was möglich ist, auch sittlich erlaubt ist.64 Freiheit ist hier folglich als oberstes Moralprinzip relevant, das das freie Handeln nicht der Beliebigkeit überlässt, sondern das allgemein verbindliche ethische Regeln unterstellt, also „eine freie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung innerhalb der Grenzen der praktischen Vernunft“65 ermöglicht. Aus diesem Grund ist nicht nur ein ethischer Diskurs über die exzessiven Phänomene des öffentlichen Blicks auf Privates entscheidend. Es ist darüber hinaus auch zu bedenken, inwieweit wir gesellschaftlich Formen „des symbolischen Abstandnehmens“66 brauchen. Diese Realisierung der Freiheit verlangt danach, Handlungen und so auch das Öffentlichmachen von Privatem wie auch die Geheimhaltung von privaten Angelegenheiten hinsichtlich ihrer Sittlichkeit zu prüfen. Im Hinblick auf das hier besprochene Problem ist insbesondere die gesellschaftliche Dimension zu betonen: Die konkrete Verwirklichung von Freiheit wird unterstützt durch entsprechende Strukturen. So kann etwa die Entscheidung, was als privat zu gelten und zu schützen ist, im Grunde nicht von den Individuen getroffen werden. Dies scheint zunächst unproblematisch

63 Annemarie Pieper: »Freiheit als philosophisches Problem. Zur Frage der moralischen Selbstbestimmung«, in: Raymond Battegay/Udo Rauchfleisch (Hg.), Menschliche Autonomie, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1990, S. 52–64, hier: S. 54. 64 Vgl. M. Nagenborg: Das Private unter den Rahmenbedingungen der IuKTechnologie, S. 129. 65 Ebd., S. 61. 66 Ebd., S. 129.

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Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer zu sein, weil weitgehend Konsens darüber besteht, was als private und was als öffentliche Angelegenheit gilt. Zudem verliert Privates nicht seinen privaten Charakter, wenn diese Belange an die Öffentlichkeit gelangen. Entscheidend ist aber darüber hinaus auch eine soziale Verständigung darüber, inwiefern und wo Privates besonders geschützt werden soll. „Es liegt nicht bei jedem Einzelnen zu sagen: ‚Das ist privat.‘ Dies zu entscheiden, ist eine gesellschaftliche Aufgabe.“67 Gesellschaftlich wie individuell ergibt sich daraus, sich nicht nur über gemeinsame Grenzen öffentlichen Einblicks immer wieder neu zu verständigen. Weil Privates als Intimes die Identität eines Menschen besonders schützt und damit ein ethisch gewichtiges Schutzbedürfnis verbunden ist, kann eine Schutzpflicht abgeleitet werden. Diese betrifft nicht nur die staatlichen Regelungen zum Schutz der Privatheit, sondern insbesondere auch auf individualethischer Ebene eine moralische Pflicht einzelner Menschen, die Privatsphäre anderer wie die eigene Privatsphäre zu schützen. Gelungene Identität schließt die Akzeptanz von eigenen Möglichkeiten mit ein, ebenso auch den Respekt vor den (privaten) Grenzen anderer.

6 Resümee: Herausforderungen einer Kultur des Privaten Die hier skizzierten Überlegungen zum Problem, wie die als exzessiv erlebten Einblicke der Öffentlichkeit in private Angelegenheiten zu deuten sind, zeigen, dass sowohl die Verborgenheit von Privatem wie auch dessen Öffentlichwerden verschiedenste und höchst ambivalente Aspekte umfassen. Abschließend seien drei Gesichtspunkte erwähnt, die im Hinblick auf eine weitere Diskussion lohnend erscheinen: Erstens ist auf die Erfordernis eines demokratischen Diskurses zu verweisen, in dem geklärt wird, bei welchen privaten Belangen welcher allgemeine Schutz notwendig oder wünschenswert ist. Die erwähnten exzessiven Entwicklungen sind dabei exemplarisch zu verstehen: Sie machen deutlich, dass am Umgang mit Privatheit bzw. mit konkreten privaten Angelegenheiten gesellschaftliche Entwicklungen deutlich werden. Vor dem Hintergrund des Anliegens, sowohl das eigene Leben als auch die Gesellschaft verantwortlich und frei zu gestalten, ist es daher wichtig, diese Veränderungen

67 Ebd., S. 206.

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Edeltraud Koller und die damit verbundenen Deutungen, Erwartungen und Ängste zu erkennen und zu verstehen. Dies ist nicht nur aus individualethischer Perspektive zu betonen, sondern insbesondere auch aus demokratiepolitischen Gründen. Denn die Möglichkeit und Bereitschaft von BürgerInnen, sich an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen, ist eng mit einer rechten Qualität des Schutzes von Privatheit verbunden. Zweitens zeigt vor allem das Beispiel der freiwilligen medialen Preisgabe von Privatem das Bedürfnis, das eigene Leben zur Sprache zu bringen. Nicht zufällig erinnern viele der diesbezüglichen Sendungen an eine öffentliche Beichte und einer Art Hoffnung auf Lossprechung. Dieses Phänomen ist in mehrfacher Hinsicht bedenkenswert: Einerseits ist die Erwartung, auf diese Weise Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen, ernst zunehmen. Andererseits ist die damit einhergehende Notwendigkeit, Medienkompetenz zu fördern, unübersehbar – gerade auch vor dem Hintergrund, dass diese Art von Selbstoffenbarung im Unterschied zum Geheimnischarakter der kirchlich-sakramentalen Beichte gerade keinen vertraulichen Rahmen kennt. Zudem ist die Frage zu stellen, in welcher Weise und in welchem Ausmaß diese Darstellungen die gesellschaftlichen Vorstellungen von gelingendem Leben und die moralischen Ansichten prägen. Drittens ist bedeutsam, dass die Interpretation der erwähnten Beispiele als Exzesse kulturspezifisch und daher veränderlich ist. Als „Exzess“ werden die Vorgänge in unserer Gesellschaft deshalb erlebt, weil sie mit Irritationen verbunden sind. Jenseits der Erlebnisebene können diese Entwicklungen als „Exzesse“ analysiert werden, indem sie auf ihre Grenzen- und Maßlosigkeit hin geprüft werden. Hier erweist sich nicht das Private bzw. die Privatheit als exzessiv, weil beide Begriffe per definitionem auf eine Grenze verweisen. Dem Umgang mit Privatem hingegen sind exzessive Momente nicht abzusprechen, wobei die erwähnte Dimension des Spiels von besonderem Interesse sein dürfte.

Literaturverzeichnis Burkart, Günter: Handymania. Wie das Mobiltelefon unser Leben verändert hat, Frankfurt/Main, New York: Campus 2007. Fonk, Peter: »Privatsphäre«, in: Walter Kasper u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 8. 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg/Breisgau u.a.: Herder 1999, Sp. 604–605. Gmür, Mario: Der öffentliche Mensch. Medienstars und Medienopfer, München: dtv 2002. 52

Der maßlose Blick ins fremde Schlafzimmer Jüngel, Eberhard: »Wahrhaftigkeit/Authentizität. Fundamentaltheologisch«, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 8, 4. völlig neu bearb. Aufl, Tübingen: Mohr Siebeck 2005, S. 1242–1244. Maßhof-Fischer, Manfred: »Intimität«, in: Walter Kasper u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 5. 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg/Breisgau u.a.: Herder 1996, Sp. 565. Ders.: »Intimsphäre«, in: Walter Kasper u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 5. 3. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg/ Breisgau u.a.: Herder 1996, Sp. 565. Nagenborg, Michael: Das Private unter den Rahmenbedingungen der IuK-Technologie. Ein Beitrag zur Informationsethik. Mit einem Vorwort von Helmut F. Spinner, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005. Pfaller, Robert: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 92ff. Pieper, Annemarie: »Freiheit als philosophisches Problem. Zur Frage der moralischen Selbstbestimmung«, in: Raymond Battegay/ Udo Rauchfleisch (Hg.), Menschliche Autonomie, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht 1990, S. 52–64. Ritter, Martina: Die Dynamik von Privatheit und Öffentlichkeit in modernen Gesellschaften, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008. Rössler, Beate: Der Wert des Privaten, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Schaumann, Philipp/Reiser, Christian: »Die Bedrohung der Privatsphäre (Privacy)«; http://sicherheitskultur.at/privacy.htm vom 17. März 2009. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main: Fischer 1986. Weiß, Ralph: »Das medial entblößte Ich – verlorene Privatheit?«, in: Karin Jurczyk/Mechtild Oechsle (Hg.), Das Private neu denken. Erosionen, Ambivalenzen, Leistungen, Münster: Westfälisches Dampfboot 2008, S. 174–191.

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Collection excessive. Exzessives Sammeln

Bücher saufen und verschlingen. Handlungstheoretische, theologische und kulturkritische Bezüge von Lesen und Exzess ANSGAR KREUTZER

1 Das Medium Buch – zwischen Kontemplation und kommerziellem Exzess „Lesen ist ein Akt der Assoziation wie auch der zärtlichen oder kritischen Vertiefung ins Detail. Man kann es lernen, aber nicht unbegrenzt beschleunigen.“ So beginnt die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders ihre Besprechung des Buches „Die Bibliothek bei Nacht“ von Alberto Manguel.1 Schon in diesen ersten Zeilen und im Kontext der Veröffentlichung (die Zeitschrift „Literaturen“) wird deutlich, dass hier eine Leseliebhaberin für andere Leseliebhaber über das Buch eines Leseliebhabers schreibt, das wiederum von der zärtlichen Zuneigung zu Büchern handelt. In entsprechend romantischer Einkleidung wird in der Rezension über den Akt des Lesens gesprochen: Lesen regt, so lassen sich die wichtigsten Bedeutungsbestandteile des Zitates interpretieren, die Phantasie an („Akt der Assoziation“); es ist eine sinnliche und kontemplative Tätigkeit („zärtliche oder kritische Vertiefung“); Lesen hat noch ge-

1

Claudia Schmölders: »Nachts, wenn die Seiten knistern«, in: Literaturen 11/2007, S. 26–30, S. 26. Schmölders bespricht hier insbesondere das Werk: Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, Frankfurt/Main: Fischer Verlag 2007. Zuvor hatte Manguel u.a. den Bestseller „Eine Geschichte des Lesens“, Berlin: Verlag Volk und Welt 1998, verfasst, der nun in einer illustrierten Neuausgabe (Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag 2008) vorliegt. Vgl. von Schmölders selbst ihren instruktiven kulturwissenschaftlichen Essay: Dies.: »Das Buch als Pathosformel. Zur Gefühlsgeschichte der Bibliothek«, in: Merkur Nr. 676 (2005), S. 692–703.

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Ansgar Kreutzer rade so viel mit Zweckrationalität zu tun, als es eine erlernbare Technik ist („Mann kann es lernen.“); aber es bleibt einer letztlichen Verfügungsgewalt, etwa einem beliebig einstellbaren Grad an Lesegeschwindigkeit, entzogen (Man kann es „nicht unbegrenzt beschleunigen“). Mit exzessivem Verhalten scheint diese beschauliche, phantasieanregende und sinnliche Tätigkeit so gar nichts gemein zu haben. Der realexistierende Buchkonsum jedoch steht im diametralen Gegensatz zu diesen Stilisierungen des Leseaktes. Hier lässt sich durchaus exzessives, im Sinne von übertriebenem und maßlosem, Verhalten beobachten: Die Prognose, dass elektronische Medien in der Lage sein würden, das Buch in der Bedeutungslosigkeit versinken zu lassen, hat sich nicht bestätigt.2 Im Gegenteil: Bücher erfreuen sich einer überraschenden öffentlichen Aufmerksamkeit und privaten Beliebtheit. Der deutschsprachige Buchmarkt ist, so beschreibt ihn die Literaturkritikerin Sigrid Löffler, überhaupt weniger durch Beschaulichkeit als durch Unübersichtlichkeit gekennzeichnet.3 Ein Merkmal, das Löffler der kommerziellen Inszenierung der Lesekultur attestiert, ist die Vermassung.4 Dies gilt zunächst für das Verlagswesen, das eine von Marktmechanismen und Konsumverhalten nicht mehr aufnehmbare Menge an Neuerscheinungen produziert: „Alljährlich erscheinen im deutschsprachigen Raum um die 90.000 neuen Bücher. Im Jahr 2007 waren es rund 95.000 Neuerscheinungen, die auf einen nicht sehr aufnahmefähigen Markt geworfen wurden, darunter auch tausende Romane und Erzählungen. Das ist weit mehr als die Deutschen lesen wollen.“5 Das Phänomen exzessiver Massenhaftigkeit begegnet auch in den Inszenierungen des Buchhandels. Massenhafte Präsentation bestimmt die zum Kauf stimulierende Ästhetik, wel2

3

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Vgl. die kulturphilosophisch angelegte Prognose des Kommunikationswissenschaftlers Norbert Bolz: Ders., Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Wilhelm Fink Verlag 3 2008. „Der deutsche Literaturmarkt ist chaotisch und ringt um Übersichtlichkeit zwischen grellen Moden und geheimen Trends.“ (Sigrid Löffler: »Im Sog der Stromlinie«, in: Literaturen 1–2/2008, S. 6–13, S. 6) Vgl. etwa die Beobachtung zu Buchmessen: „Buchmessen wie die in Frankfurt stellen den Überfluss aus – und fördern insgeheim auch den Überdruss an viel zu vielen neuen Büchern.“ (Ebd., S. 10) Ebd. Die derzeit gängige Methode, um der Flut an neuen Publikationen im Konsumverhalten Herr zu werden, ist das inzwischen ebenfalls schon an Unübersichtlichkeit heranreichende Mittel der „Verlistung“: Bestsellerlisten, Buchempfehlungen und dezidiertes Abraten von mancher Lektüre. Dieses professionelle Vorsortieren gehorcht selbstredend nicht allein dem

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Bücher saufen und verschlingen che die großen Buchhandelsketten in ihren Filialen wählen. Entscheidend, um ein Buch an den Mann oder die Frau zu bringen, ist vor allem seine vielfache, fast penetrante Präsenz im Laden. „Nur Bücher, die auf den Tischen gestapelt ausliegen, finden die Aufmerksamkeit der Konsumenten; in den Wandregalen stehende Bücher hingegen werden so wenig wahrgenommen, als wären sie Teil einer bunten Tapete.“6 Die ökonomische Seite der Buchkultur weist also durchaus Merkmale von Maßlosigkeit auf: Es wird weit mehr geschrieben, verlegt und präsentiert als gelesen, ja überhaupt wahrgenommen werden kann. Merkmale des Exzesses zeigen sich auch in einer zweiten Entwicklung des Literaturbetriebs: der extremen Beschleunigung. Löffler beschreibt eine unaufhaltsame „Marktbeschleunigung“, die dafür sorgt, dass Neuerscheinungen rasend schnell veralten. „Ein Buch, das nicht binnen sechs Wochen die Aufmerksamkeit der Medien und des Lesepublikums auf sich ziehen kann, ist tot und lässt sich kaum wieder zum Leben erwecken.“7 Rasende Beschleunigung durchzieht auch den Buchkauf. „Die Verkaufspsychologen haben die Zeit gestoppt: […] Binnen zwei Minuten fällt die Kaufentscheidung. Oder eben nicht.“8 Diese Beobachtungen zur idealisierten und realexistierenden Buchkultur hinterlassen ein zwiespältiges Gefühl: Einerseits beinhalten Bücher immer noch (das werbewirksam genutzte) Versprechen eines phantasieanregenden, kontemplativen, entschleunigten und auf verarbeitbare sinnliche Eindrücke reduzierten Mediums. Andererseits hat dessen von Seiten der Verlage und des Buchhandels unternommene kommerzielle Einkleidung die Form von Vermassung, Beschleunigung und Ökonomisierung angenommen, die deutliche Züge des Exzesses, also von Übertreibung und Maßlosigkeit, aufweist. Vielleicht aber haben diese beiden Seiten der Buchkultur etwas miteinander zu tun? Das Phänomen exzessiven Sammelns von Büchern oder die Lesewut mancher Buchliebhaber legt es nahe, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen der Handlungslogik des Lesens und der Logik exzessiven Verhaltens gibt. Dieser Affinität von Lesekultur und Handlungslogik des Exzesses soll hier nachgegangen werden.9 Dazu wird eine The-

6 7 8 9

Prinzip literarischer Qualitätskontrolle, sondern folgt den Machtstrukturen und ökonomischen Mechanismen, die auf dem Buchmarkt herrschen (vgl. ebd. 7ff). Ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Das wohl augenfälligste Beispiel eines Zusammenhangs von Buchkonsum und exzessivem Verhalten der letzten Zeit war die Hysterie um das Er-

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Ansgar Kreutzer se mit einer handlungstheoretischen, theologischen und kulturanalytischen Dimension gewagt: Der „Leseexzess“ stellt in seiner Handlungslogik eine besondere Form des Exzesses dar, die sowohl Parallelitäten zur religiösen Wirklichkeitsinterpretation als auch kulturkritisches Potential für die heutige Gesellschaft aufweist.

2 Exzessive Elemente in der Lesekultur: Bibliomanie und ihre Stilisierung Dass die Liebe zum Buch und zur gepflegten Lektüre eine Verbindung zur Maßlosigkeit aufweisen kann, erschließt sich, wenn man sich das Phänomen ins Extrem gesteigerter Bibliophilie, der so genannten Bibliomanie, näher betrachtet. In keinem bibliothekswissenschaftlichen Handbuch fehlt ein Eintrag zur „Büchersucht“. So definiert das „Lexikon des gesamten Buchwesens“ Bibliomanie als eine „Übertreibung der Bücherliebe“10. Es sind unter anderem zwei extreme Lebensschicksale, die als Illustrationen für Bibliomanie und deren verheerende Wirkungen herangezogen werden können:11 Der erste Fall ist das Leben des Don Vincente (in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts), der auch das „Ungeheuer von Barcelona“ genannt wurde.12 In der literarischen Stilisierung dieser Figur werden alle biographischen Wendungen Vincentes dadurch gekennzeichnet, dass sich dieser einer Büchersucht hingegeben habe, welche die Rationalität seines Handelns bis hin zur Aufgabe der Selbsterhaltung gänzlich auffraß: Don Vincente war als Bibliothekar in einem Kloster in Tarragona tätig, bis der Konvent durch einen Überfall seine Bücherschätze verlor. Daraufhin verließ er die Gemeinschaft und eröffnete ein Buchantiquariat. Wiederum verunmöglichte ihm seine Sucht ein normales, nach Kriterien ökonomischer Rationalität geführtes Leben. So brachte er es nicht fertig, die antiquarisch erworbenen Bücher weiter zu verkaufen. Schließlich geriet sein Leben gänzlich aus den Fugen, als er bei

scheinen der Harry Potter-Bücher von Joanne K. Rowling. Vgl. Sigrid Löffler: »Der Buchwelt größte Geldmaschine«, in: Literaturen 9/2007, S. 6–10. 10 Severin Corsten (Hg.): Lexikon des gesamten Buchwesens, Bd. 1, Stuttgart: Hiersemann Verlag 21987, S. 374. 11 Eine dritte Figur wäre als typischer Repräsentant des Bücherwahns und seiner Stilisierung noch hinzuzufügen: die Geschichte des Grafen Libri, „einer der größten Bücherdiebe aller Zeiten“ (A. Manguel, Geschichte, S. 281). 12 Vgl. Philipp Blom: Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus der Geschichte einer Leidenschaft, Frankfurt/Main: Eichborn Verlag 2004, S. 322ff.

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Bücher saufen und verschlingen einer Versteigerung des überaus wertvollen Buches Furs e Ordinations de Valencia, von dem es nur noch dieses eine zu ersteigernde Exemplar zu geben schien, überboten wurde. Er rächte sich mit Morden am Meistbietenden und anderen Buchliebhabern. Es kam zu Verhaftung und Anklage. Überführt wurde Vincente durch das Exemplar des Furs e Ordinations de Valencia, das bei ihm gefunden worden war. Ein letztes Mal stach seine Büchervernarrtheit jegliche Rationalität aus, als er im Gerichtsverfahren mutwillig die Taktik seines Anwalts durchkreuzte. Dieser hatte in Paris ein weiteres Exemplar des scheinbar bis auf eine Ausgabe verschollenen Buches ausfindig gemacht. Nun wollte er seinen Klienten mit der Argumentationsstrategie entlasten, dass offenbar mehrere Ausgaben vorhanden seien. Somit besage das beim Angeklagten gefundene Buch nichts. Der ehemalige Mönch, Bibliomane und Mörder jedoch warf diese Strategie mutwillig über den Haufen, indem er ausrief: „Wie mein Exemplar ist kein Einzelstück?“ Diesen Satz soll er bis zu seiner Hinrichtung unablässig wiederholt haben. Für die Inszenierung von Bibliophilie und Bücherwahn ist entscheidend, dass diese tragisch-skurrile Geschichte nicht Episode blieb, sondern Eingang in die Weltliteratur fand. Sie inspirierte den französischen Schriftsteller Gustave Flaubert zu seiner ersten Erzählung mit dem Titel „Bibliomanie“.13 Vergleichbar in Verlauf und literarischer Rezeption ist das Schicksal des evangelischen Pfarrers Johann Georg Tinius (1764– 1846) aus der Niederlausitz.14 Auch dieser Kleriker war der Büchersucht verfallen. Er brachte es auf vermutlich 60.000 Bände in seiner Sammlung, konnte seiner Leidenschaft aber nur über sich exzessiv steigernde Beschaffungskriminalität nachgehen: von Veruntreuung von Kirchengeldern über Raubüberfälle bis hin zum Mord. In einem Indizienprozess wurde er schließlich zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt, nachdem er bereits zuvor 10 Jahre eingesessen hatte. Der sozial- und mentalitätsgeschichtliche Hintergrund des 19. Jahrhunderts kann die Handlungsmotive in diesen krassen Fällen von Bücherwahn erhellen. Tatsächlich bildete sich in dieser Zeit im bürgerlichen Milieu das soziale Statussymbol einer reich ausstaffierten Privatbibliothek aus.15 Soziologisch betrachtet hatte die-

13 Gustave Flaubert: Bücherwahn/Bibliomanie, Dt.-Franz., Frauenfeld: Waldgut Verlag 1986. 14 Vgl. u.a. Georg Ruppelt: Buchmenschen in Büchern, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 1997, S. 99ff. 15 Vgl. Johannes Willms: Bücherfreunde – Büchernarren. Entwurf zu einer Archäologie einer Leidenschaft, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 1978, S. 149ff.

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Ansgar Kreutzer se Liebhaberbibliothek zwei Funktionen: Sie war einmal Mittel der sozialen Distinktion. Pflege und Unterhalt einer Bibliothek wiesen den Buchliebhaber als Vertreter der aufsteigenden und gebildeten bürgerlichen Schicht aus. Bei dem aus bescheidenen Verhältnissen stammenden Tinius könnte dieses Statusdenken eine nicht geringe Rolle gespielt haben, ermöglichte ihm seine Liebe zum Buch doch „mit Bibliothekaren und Gelehrten des In- und Auslandes“16 zu korrespondieren. Zum Zweiten wurde mit der Privatbibliothek eine Art „Gegenwelt“ kultiviert.17 Dies wird zum Beispiel im Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (1913–27) des französischen Schriftstellers Marcel Proust deutlich: „Wenn Prousts Romangestalt Swann von seiner Bibliothek als einem sanctuaire, einem ‚Heiligtum‘ oder einer ‚Freistatt‘ spricht, wird die Funktion der Privatbibliothek als eines der bürgerlichen Lebenssphäre typischen Entwurfs einer Gegenwelt, einer Gegenwirklichkeit manifest.“18 Damit passt die Buchliebhaberei, die sich bis zur pathologischen, ja mörderischen Leidenschaft steigert, ins bürgerliche Milieu des 19. Jahrhunderts. Erstaunen muss jedoch, dass die Bibliomanie bis in die Gegenwart mit durchaus ähnlichen sozialen Funktionen fortlebt. Die exzentrischen Bibliomanen der Vergangenheit haben bis in unsere unmittelbare Gegenwart Literatur und Buchkultur beeinflusst. Der Bücherexzess ist über Flaubert hinaus ein beliebtes Thema der Belletristik geblieben. Der Fall des Bibliomanen und Pfarrers Tinius wurde häufiger zum Gegenstand literarischer Verarbeitungen. Auffällig ist, dass sich dabei ein angesichts des Mordverdachtes doch überraschendes Verständnis erkennen lässt, das bis zur versteckten Sympathie für die Buchsucht des Pfarrers reicht. Der zeitgenössische evangelische Theologe und Schriftsteller Klaas Huizing hat Tinius einen hochgelobten Roman mit dem Titel „Der Buchtrinker“ gewidmet.19 Hinzu kommt, dass der Autor Huizing sich selbst als bibliophil ausweist. Im Vorwort seines fachwissenschaftlich-theologischen Buches „Der erlesene Mensch“ bekennt er: „Ich bin immer ein Buchtrinker geblieben, ein Vielleser, Schnelleser, Allesleser […].“20 Eine ähnliche Verknüpfung der

16 G.Ruppelt: Buchmenschen, S. 99. 17 Vgl. die bezeichnende Kapitelüberschrift „Die Liebhaberbibliothek des 19. Jahrhunderts als romantischer Entwurf einer Gegenwelt“, in: J. Willms, Bücherfreunde, S. 149–157. 18 Ebd., S. 150. 19 Klaas Huizing: Der Buchtrinker. Zwei neue Romane und zwei Teppiche, München: Knaus Verlag 21994. 20 Ders.: Ästhetische Theologie. Bd. 1 Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, Stuttgart: Kreuz Verlag 2000, S. 12.

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Bücher saufen und verschlingen Beschäftigung mit Bibliomanie und der eigenen Bibliophilie zeigt sich auch bei einem zweiten Gegenwartsautor, der sich mit Tinius beschäftigt hat. In Form eines historischen Romans rollt der Schriftsteller Detlef Opitz den Prozess des Bibliomanen neu auf.21 Auch Opitz bringt große Sympathie für Tinius auf, legt gar dessen Unschuld in der Rekonstruktion des Kriminalfalles nahe. Ähnlich wie Huizing „outet“ auch er sich als bibliophil. Im Klappentext seines Tiniusbuches „Der Büchermörder“ heißt es über den Autor: „Detlef Opitz ist gefürchteter Bibliophiler und Vielleser. […] Zur Abgabe seines Romanmanuskripts konnte der Autor nur im Tausch gegen die seltene, von Tinius im Gefängnis verfasste Schrift ‚Der jüngste Tag‘ gebracht werden.“22 Bibliomanie beschränkt sich damit keineswegs auf die Liebhaberbibliothek des 19. Jahrhunderts. Es bleibt Thema der sich ebenfalls bibliophil stilisierenden Gegenwartsliteratur. Auch zur Kennzeichnung des gegenwärtigen Literaturbetriebs wird – halb im Scherz, halb im Ernst – bibliomanes Vokabular herangezogen. Der Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Uwe Wittstock, beschreibt den Literaturbetrieb in einem Essay wie ein Süchtigen-Milieu: „Den Betroffenen ist es auf den ersten Blick nicht anzusehen. Sie gehen ihren beruflichen oder familiären Verpflichtungen nach wie andere Menschen auch, sie gelten als zuverlässig, gut informiert und verantwortungsbewusst. Doch in ihrer Freizeit offenbaren sie ihr wahres Gesicht, die Sucht ergreift Besitz von ihnen. Sie ziehen sich aus der Realität zurück, verbergen sich hinter aufgeschlagenen Druckwerken und verfallen über Stunden in Schweigen und eine nahezu bewegungslose Starre […]. Selbst für ihre nächsten Angehörigen sind die Betroffenen in diesem Zustand unansprechbar. Sie geben die Verbindung zu Zeit und Raum auf und verlieren sich in eine andere, eine ungreifbare Welt: Man nennt sie die Literaturabhängigen oder auch die Büchersäufer.“23

Zwei Dinge lassen sich aus den (Selbst-)Stilisierungen der „Büchersäufer“ in Vergangenheit und Gegenwart ableiten: Die Freude am Sammeln und Lesen von Gedrucktem schlägt erstens offenbar schnell in Suchtverhalten um. Von der Bibliophilie zur Bibliomanie ist es nur ein kleiner Schritt, die Liebe zu Buch- und Lesekultur weist ein hohes „Sucht-“ oder „Exzesspotential“ auf. Bücher-Sammeln und -Lesen zieht zweitens, das wird in den dargestellten Sti21 Detlev Opitz: Der Büchermörder. Ein Criminal, Berlin: Eichborn Verlag 2005. 22 Ebd., Klappentext. 23 Uwe Wittstock: Die Büchersäufer. Streifzüge durch den Literaturbetrieb, Springe: zu Klampen Verlag 2007, S. 7.

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Ansgar Kreutzer lisierungen der Bibliomanie deutlich, aus der Realität heraus und in eine Art Anderswelt, die Buchwelt, hinein. Genau aus diesem Merkmal bibliophiler Kultur lässt sich auch die Einrahmung der Bibliophilie in das Genre der phantastischen Literatur erklären. Dies soll am Beispiel einer charakteristischen Publikation zur Verschmelzung von Buchliebhaberei und Fantastik, der BestsellerTrilogie „Tintenwelt“ von Cornelia Funke vorgeführt werden.

3 Faszination des Lesens: Der Übergang in eine „Anderswelt“. Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie als Beispiel Funkes höchst erfolgreiche und inzwischen zum Teil verfilmte Romanserie „Tintenherz“ – „Tintenblut“ – „Tintentod“24 verbindet genau die beiden bisher herausgearbeiteten Merkmale der Buchkultur: die bis zur Manie reichende Bibliophilie und die Inszenierung einer Gegenwelt im Sammeln und Lesen von Büchern. Zugleich wird mit dieser Verbindung auf den inneren Zusammenhang beider Phänomene aufmerksam gemacht.25 Die wichtigsten Figuren in Funkes Trilogie stellen sich alle in ein Verhältnis zum Buchmedium. Für die Lebensführung der Hauptfiguren ist es von herausragender Bedeutung: Der Vater der Protagonistenfamilie etwa, Mo, ist Buchbinder. Ein bibliophiler Sinnspruch, in dem Bücher lesen mit dem Konsum von Lebensmitteln, die zum Teil Suchtpotential aufweisen, parallelisiert wird, ziert die Eingangstür seiner Buchbinderwerkstatt: „Manche Bücher müssen gekostet werden, manche verschlingt man, und nur einige wenige kaut man und verdaut sie ganz.“26 Seine Tochter Meggi verreist nie ohne eine Kiste von Lieblingsbüchern, die ihr auch in der Fremde Beheimatung verspricht: „Es tut gut an fremden Orten

24 Hamburg: Dressler Verlag 2003–2008. 25 Zu Funkes Romanen und ihrer Person entsteht derzeit eine sowohl populär als auch wissenschaftlich ausgerichtete Sekundärliteratur: Hildegund Latsch: Cornelia Funke – Spionin der Kinder, Hamburg: Dressler Verlag 2008; Barbara Hartl: Drei große Schriftstellerinnen. Cornelia Funke, Enid Blyton, Joanne K. Rowling, Frankfurt/Main: Baumhaus Verlag 2008; HansRüdiger Schwab: »„Wer schreibt denn, was hier passiert?“ – Religiöse Implikationen in Cornelia Funkes „Tintenwelt“- Trilogie«, in: IKaZ 37 (2008) S. 473–492. 26 C. Funke: Tintenherz, S. 16.

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Bücher saufen und verschlingen seine Bücher dabei zu haben.“27 Eine Tante, Elinor, ist Besitzerin einer ausladenden Liebhaberbibliothek.28 Die Mutter, Resa, ist fasziniert vom kunstvollen Vorlesen, das ihr Mann Mo so meisterhaft beherrscht, denn es entführt sie in eine andere Welt. Resa „liebte es, von einem Buch ins Unbekannte gelockt zu werden“29. Genau auf dieser Tätigkeit und ihren im Roman entwickelten Auswirkungen beruht der die Trilogie tragende Gedanke: Vorlesen öffnet in Funkes Romanen die Tür von der „realen“ Welt zu „Anderswelt“ der Bücher. Durch Vorlesen können fiktive Gestalten aus der Buchwelt heraus- und reale Menschen in die Buchwelt hineingeraten: „Meine Stimme hatte sie aus ihrer Geschichte rutschen lassen wie ein Lesezeichen, das jemand zwischen den Seiten vergessen hat“30 – so schildert Mo sein erstes „Herbeilesen“ von Romangestalten. Unabhängig von der sich daraus entspinnenden, verwickelten und spannend zu lesenden Handlung ist dies das eigentliche Thema der Geschichte: das Ineinanderübergehen von Realität und Fiktion im Akt des Vorlesens, das die Figuren selbst in eine Spannung von Faszination und Erschrecken versetzt. Lesen und Schreiben von Geschichten, so lautet die mythische Deutung innerhalb des Buches, ist eben „Zauberei“.31 Funke begleitet ihr Thema, die Auflösung der Grenze von Realität und Fiktion, auf einer Metaebene innerhalb ihrer Bücher. Die realitätsschaffende Eigendynamik von Fiktion wird in der Gestalt eines Autors durchgespielt. Fenoglio, der Verfasser des magischen Buches Tintenherz im Roman, wird durch den Mechanismus des

27 Ebd. S. 24. Die Faszination von Büchern wird ebenfalls anhand dieser Bücherkiste, die die Aufschrift „Meggis Schatzkiste“ (ebd.) trägt und die aufgrund ihrer Überfüllung ein entsprechendes Gewicht aufweist, erläutert: „Bücher müssen schwer sein, weil die ganze Welt in ihnen steckt.“ (Ebd., S. 28) 28 Die Beschreibung dieser Bibliothek in „Tintenherz“ entspricht den Stilisierungsmerkmalen der Bibliophilie: „Die Regale, in denen sie [die Bücher; A.K.] standen, dufteten nach frisch geschlagenem Holz. Sie reichten hinauf zu einer himmelblauen Decke, von der winzige Lampen wie angebundene Sterne hingen. Schmale Holztreppen, versehen mit Rollen, standen vor den Regalen, bereit, jeden begierigen Leser hinauf zu den oberen Borden zu tragen. Es gab Lesepulte, auf denen aufgeschlagene Bücher lagen, angekettet mit messinggoldenen Ketten. Es gab Glasvitrinen, in denen Bücher mit altersfleckigen Seiten jedem, der näher trat, die wunderbarsten Bilder zeigten.“ (Ebd., S. 48f) 29 Ebd., S. 153. 30 Ebd., S. 154. 31 Mit dieser Einsicht endet der erste Band der Trilogie „Tintenherz“ (Ebd. S. 566).

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Ansgar Kreutzer Vorlesens schließlich selbst in seine eigene Geschichte versetzt. Dort entgleiten ihm, dem Autor (!), der in fast theologischer Aufladung Züge eines Weltschöpfers annimmt,32 schließlich alle Zügel der Handlungsführung. Implizit entwickelt Funke damit eine bestimmte Sicht auf die literarische Kunst und die Rolle von Autorenschaft: Literarische Produkte entwickeln ihre Faszination nicht aus der Genialität eines über allem stehenden Autors, sondern vielmehr – so lässt sich der „Plot“ von Funkes Geschichte verstehen – aus dem unkontrollierbaren Zusammenspiel von Autor, Leser und der Eigendynamik der Geschichte. Fenoglio, der zu Beginn so stolze und mächtige Erschaffer der literarischen Tintenwelt, erfährt sukzessive seine eigene Entmächtigung. Am Ende versucht er erst gar nicht mehr alle Fäden in der Hand zu halten, sondern unterwirft sich dem Eigenleben „seiner“ Geschichte: Der aktive Autor wird zum passiven Hörer einer ihm gegenüber „autonom“ gewordenen Erzählung: „‚Jede gute Geschichte verbirgt sich hinter einem Gewirr von Fragen, und es ist nicht leicht, ihnen auf die Schliche zu kommen. Hinzu kommt, dass diese hier ihren ganz eigenen Kopf hat, aber‘ – Fenoglio senkte die Stimme, als könnte die Geschichte sie belauschen, ‚wenn man ihr die richtigen Fragen stellt, flüstert sie einem all ihre Geheimnisse zu. So eine Geschichte ist ein geschwätziges Ding.‘ “33 Literarisches Schreiben ist hier nichts anderes als das der Geschichte Abgelauschte weiter zu tradieren. Interessanterweise überträgt Funke die wichtigsten Ingredienzen ihrer Erfolgromane, die Bibliophilie, die Überschneidung von Realität und Fiktion und die Eigendynamik literarischer Kunst gegenüber Autorenschaft auch auf ihre Selbstinterpretation als Autorin. In gewisser Weise setzt sie damit ihr romanhaftes Spiel mit den Übergängen von Realität und Fiktion in „ihrer“ und der Realität ihrer Leser fort. Schon durch die Eingangszitate, die Funke jedem Kapitel sozusagen als Ouvertüre vorausstellt, belegt sie ihre enge Vertrautheit mit unzähligen Büchern. In Interviews bekennt sie sich zu ihrer Liebe zum Buch, zum Lesen und zum Vorlesen.34 Die für ihre Tintenwelt-Romane leitende Idee der porösen Grenze von Realität und Fiktion nimmt sie für ihre eigene Schreiberfahrung in Anspruch: „Beim Schreiben von ‚Tintenherz‘, ‚Tintenblut‘

32 Vgl. die instruktiven Parallelen und Kontraste, die Schwab zwischen der Gestalt des Autors und der religiösen Vorstellung eines Weltschöpfers in Funkes Büchern herausarbeitet: Ders.: „Wer schreibt denn, was hier passiert?“ S. 481–485. 33 C. Funke: Tintentod, S. 466f. 34 Vgl. das Interview mit dem bezeichnenden Titel: »Lesen ist eine Sucht, die manchmal asozial macht«, in: Berliner Zeitung vom 15.10.2005.

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Bücher saufen und verschlingen und ‚Tintentod‘ dachte ich manchmal, vielleicht schreibe ich gerade über etwas, was genauso in irgendeiner anderen Wirklichkeit passiert. Und dass wir alle permanent geschrieben werden.“35 Schließlich teilt sie die anhand der Fenoglio-Figur vorgeführte Dekonstruktion von Autorenschaft, die sukzessive von einem Zusammenspiel von Autor, Buch, Leser und der Eigendynamik der Geschichte ersetzt wird: „Ein Buch wird dann erst gut, wenn es dem Autor entgleitet. Man freut sich ungemein, wenn die Figuren ihr Eigenleben entwickeln und nicht nur tun, was man erwartet. Dann wird es lebendig.“36 Funkes Roman-Trilogie und ihre romaninternen und -externen literaturtheoretischen Bezüge sind instruktiv, um dem Zusammenhang von Lesen und Exzess näher zu kommen. Funke verfasst mit ihren Figuren (Buchbinder, büchervernarrtes Kind, bibliophile Tante, eine das Vorlesen liebende Frau) und anhand vieler ihrer Handlungsszenarien (Bibliotheken, Buchbinderwerkstatt, Kunst der Buchmalerei) eine im Fantasy-Stil gehaltene Hommage an das Medium Buch und die Tätigkeit des (Vor-)Lesens. Sie verbindet ihr zentrales Motiv der Bibliophilie zugleich mit der die Handlung leitenden Faszination, die dem Leseakt implizit ist: die Überwindung einer strikten Trennung von gegebener und imaginierter Wirklichkeit. Im Medium Buch wird mit den Mitteln der Phantasie eine Anderswelt kultiviert, die weder reine Realität noch reine Utopie ist, sondern zwischen beiden changiert. Gerade in diesem „Zwischenstatus“, den das Medium Buch und sein Gebrauch im Lesen vermitteln können, besteht die entscheidende Affinität zu exzessivem Verhalten, das im Modus der Maßlosigkeit einerseits der Welt verhaftet bleibt, sie jedoch, woran die Grundbedeutung von „Exzess“ (lateinisch von „ex-cedere“: „hinaus-gehen“) erinnert, immer auch überschreitet. Dieser in der Analyse von Bibliophilie und FantasyLiteratur induktiv gewonnene Bezug von Lesen und Exzess lässt sich analytisch noch schärfer fassen, wenn die Handlungslogik exzessiven Verhaltens mit der Handlungslogik des Leseaktes parallelisiert wird.

35 Interview »Beim Schreiben bin ich gerne Diktatorin«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.11.2007. 36 Ebd.

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4 Handlungstheoretische Parallelen von Exzess und Lesen Um die Handlungslogik von exzessivem Verhalten zu verstehen, ist es sinnvoll sich der handlungstheoretisch arbeitenden Sozialwissenschaften zu bedienen. Unter den Klassikern der Soziologie hat wohl Emile Durkheim über die Handlungslogik exzesshaften Verhaltens am intensivsten reflektiert.37 In den von ihm analysierten Corrobbori, regelmäßigen Stammesversammlungen der australischen Ureinwohner, ist das Grundmerkmal des Exzesses, die Maßlosigkeit, konstitutiv. Die Inszenierung dieser Versammlungen zielt auf einen Zustand der „Überreizung“ in verschiedenen Bereichen: Die sinnlichen Wahrnehmungen des Sehens und Hörens werden durch funkensprühende Feuer in der Nacht und ohrenbetäubendes Schlagen der Schwirrhölzer überanstrengt. Die Grenzen der physischen Kondition werden durch ekstatisches Tanzen überschritten. Die psychische Verarbeitung wird durch starke kollektive Emotionalität überfordert. Durkheim spricht von einer „Art Elektrizität, die sie rasch in einen Zustand außerordentlicher Erregung versetzt“38. Soziologisch kommen diese kollektiven Ausnahmezeiten der Corrobbori drei Funktionen zu: Entgegen den zweckrationalen Tätigkeiten des Sammelns und Jagens dienen die Festlichkeiten erstens keinem unmittelbaren Zweck. Sie sind eine „sinnlose Verausgabung“ (Georges Bataille) für die Handelnden. Die Corrobbori stellen zweitens eine Ausnahmezeit dar und finden an einem Ausnahmeort statt. Sie bilden eine spannungsgeladene Gegenwelt zu den leidenschaftslosen Alltagstätigkeiten des Sammelns und Jagens, eine „Welt der heiligen Dinge“39. Zugleich jedoch sind die exzesshaften Feiern drittens nicht vollkommen losgelöst von der Realität. Das rauschhafte Erleben des Kollektivs stärkt das Gemeinschaftsgefühl der unter dem Jahr vereinzelt lebenden Stammesmitglieder. Die exzesshaften Ausschweifungen bieten zudem ein Ventil, um Handlungen, welche die gemeinschaftliche Ordnung prinzipiell gefährden (z.B. illegitime Sexualverbindungen), in einem dafür reservierten Rahmen vollziehen zu können. Der zeitgenössische französische Soziologe Michel Maffesoli hat aus dem in den Corrobbori zu beobachtenden „Trieb zur Turbulenz“ ein anthropologisches Grundmuster gemacht. Es wirkt auch in unserer Kultur:

37 Vgl. Emile Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994. 38 Ebd., S. 297. 39 Vgl. ebd., S. 300.

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Bücher saufen und verschlingen „Die karnevaleske Sexualität, Weinfeste, Zechereien im Bierzelt, die studentischen Gelage oder Narrenfeste, Versammlungen mit religiösem oder halbreligiösem Charakter, all diese Phänomene sind von den ihnen eigenen Anzüglichkeiten und Entgleisungen begleitet und bieten eine Gelegenheit, funktionelle Zuweisungen, Nützlichkeitserwägungen und Produktionszwänge zu durchkreuzen.“40 Entscheidend an diesen, in geschützten sozialen Räumen veranstalteten sozialen Turbulenzen ist ihr subversives Verhältnis zur alltäglichen Wirklichkeit. Exzesse sind in diesem Sinne realitätsund normalitätskritische Grenzüberschreitungen. Auf die Spur, dass es einen Zusammenhang von exzessivem Verhalten und dem scheinbar so beschaulichen Lesen geben könnte, führt zunächst die psychologische Glückforschung.41 Der Tiefenpsychologe Mihaly Csikszentmihalyi hat das Glücksempfinden mit einem Flow-Gefühl gleichgesetzt, das neben anderen Selbsterfahrungen auch durch Lesen herbeigeführt werden kann.42 Für Csikszentmihalyi ist Bücherlesen „unter den intellektuellen Tätigkeiten die am meisten geübte Flow-Tätigkeit“43. Was qualifiziert ausgerechnet das Lesen zur Erlangung eines Flow-Gefühls? Genauso wie der Exzess muss Lesen erstens, um ein Flow-Gefühl hervorzurufen, eine Art zweckfreier Tätigkeit sein. Glücksgefühle stellen sich insbesondere bei solchen Tätigkeiten ein, die keinem externen Handlungsziel unterworfen sind, sondern den Sinn in sich tragen. Csikszentmihalyi spricht von „autotelischen“ Tätigkeiten, also solchen Aktivitäten, die ihr Ziel („telos“) in sich selbst („autos“) haben.44 Eine zweite Parallele von Lesen und Exzess besteht darin, dass beide Tätigkeiten in eine Art Gegenwelt hineinziehen. Dies ist schon bei der Liebhaberbibliothek des 19. Jahrhunderts der Fall, die den mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund der „Büchernarren“ Don Vincente und Tinius abgibt. Die Vermittlung von Andersweltlichkeit ist zugleich die Faszination des Buchmediums, welche Funke zum Ausgangspunkt ihrer Geschichte von der Auflösung der Grenzen von „realer Welt“ und „Buch-Welt“ macht. Auch die heutige Buchindustrie wirbt mit genau diesem Leseeffekt: „Lesen ist Abenteuer im Kopf“ etwa stellt einen ein häufig verwendeten Wer-

40 Michel Maffesoli: Der Schatten des Dionysos. Beitrag zu einer Soziologie des Orgiasmus, Frankfurt/Main: Syndikat 1986, S. 109. 41 Vgl. Ludwig Muth: »Das säkularisierte Paradies. Über die Entstehung von Leseglück«, in: StZ 223 (2005) S. 473–483. 42 Vgl. Mihaly Csikszentmihalyi: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart: Klett Cotta Verlag 1992. 43 L. Muth: Paradies, S. 477. 44 Vgl. ebd.

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Ansgar Kreutzer beslogan dar.45 Eine Leseinitiative trägt den Namen „Lesetopia“.46 Sie verknüpft damit das Lesevergnügen mit der angedeuteten Reise an einen extra dafür vorgesehenen Lese-Ort (= topia). Umfragen zum Leseverhalten bestätigen die psychologische Wirkung des Lesens, sich von Zeit- und Raumempfinden lösen zu können. Nach einer Studie stimmen 44% der Befragten der Aussage zu: „Wenn ich ein Buch lese, das mir gefällt, kann ich alles um mich herum vergessen.“47 Ähnlich wie beim Exzess bleibt aber auch drittens der Ausflug in die literarische Gegenwelt nicht folgenlos. Derjenige, der sich in eine Lesewelt begibt oder in sie hineingezogen wird, kehrt verändert aus ihr zurück. Lesen ist damit kein reiner Eskapismus, sondern bleibt an die Realität rückgekoppelt. Lesen kann sogar, durch das Einüben von Distanznahme, zu einer gesteigerten Wirklichkeitswahrnehmung führen. Diesen Veränderungsprozess durch Lesen, also durch das Aufsuchen einer fiktiven Gegenwelt, um verändert aus ihr zurückzukehren, lässt sich im Gedicht „Der Leser“ von Rainer Maria Rilke in aller Deutlichkeit erkennen: „Wer kennt ihn, diesen, welcher sein Gesicht / wegsenkte aus dem Sein zu einem zweiten, / das nur das schnelle Wenden voller Seiten / manchmal gewaltsam unterbricht? / Selbst seine Mutter wäre nicht gewiß, / ob er es ist, der da mit seinem Schatten / Getränktes liest. Und wir, die Stunden hatten, / was wissen wir, wie viel ihm hinschwand, bis / er mühsam aufsah: alles auf sich hebend, / was unten in dem Buche sich verhielt, / mit Augen, welche, statt zu nehmen, gebend / anstießen an die fertig-volle Welt: / wie stille Kinder, die allein gespielt, / auf einmal das Vorhandene erfahren; doch seine Züge, die geordnet waren, / blieben für immer umgestellt.“48

Bei Rilke tritt der subversive, weltdistanzierende Charakter, der dem exzessiven Handeln wie dem Lesen eigen ist, noch einmal deutlich vor Augen. Der Lesevorgang senkt den Blick des Lesers weg vom „Sein“, von seiner Realität, Normalität und Lebenswelt, und lenkt ihn hin zu einem „zweiten“ Sein“, der Lesewelt. Doch dort findet ein Veränderungsprozess statt: die Züge des Lesenden „blieben für immer umgestellt“. Als Veränderter kehrt der Leser mühsam aufsehend in die Realität zurück. Die Augen stoßen nun an die „fertig-volle Welt“ an, sie erscheint unter neuem Blickwinkel.

45 Vgl. die Einträge zu diesem Satz bei entsprechenden Suchmaschinen im Internet. 46 Vgl. www.lesetopia.at vom 18. April 2008. 47 Vgl. L. Muth: Paradies, S. 480. 48 Rainer Maria Rilke: Werke I.2, Frankfurt/Main: Insel Verlag 1980, S. 392f.

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Bücher saufen und verschlingen Dass sich solche Veränderungen der Perspektive durch Lesen – ebenso wie beim Exzess – subversiv und gesellschaftskritisch auswirken können, zeigen die zahllosen Leseverbote, Bücherzensuren und Buchverbrennungen, welche die Geschichte kennt. Genau an dieser Bedeutung, die Leseakt und Exzess gleichermaßen eignet, entsteht auch ein Bezug zur Theologie. Denn auch der Glaubenswissenschaft ist es um das Changieren zwischen Realität und einer realitätskritischen Anderswelt zu tun, die sie freilich nicht als reines Produkt menschlicher Phantasie ansieht.

5 „Konfrontation mit anderen Welten und Anverwandlung des Anderen“. Grundlagen einer Lesetheologie In der Handlungslogik des Leseaktes, dem Eintauchen in eine andere Welt, um aus ihr verändert zurückzukehren, lassen sich religiöse Dimensionen erkennen. Der katholische Fundamentaltheologe Elmar Salmann hat in diesem Sinne den Leseakt mit einem „kleinen Offenbarungsereignis“ gleichgesetzt: „Lesen entzückt und entrückt, indem es den Leser entführt von sich weg ins Ferne, Neue, Entlegene, das ihm doch entgegenkommt. Wo anders als hier gelänge auf so angenehme Weise die Weitung der Phantasie, die Konfrontation mit anderen Welten und Anverwandlung des Anderen. Was [man] als Grundvorgang der Offenbarung … erklärt, hier wird es alltägliches Ereignis: Lesen als kleine Gnade der Offenbarung, der Eröffnung von Welt.“49 Der bereits angesprochene Schriftsteller, „Bibliophile“ und evangelische Theologe Klaas Huizing ist dieser Affinität von Lesen und religiöser Wirklichkeitsdeutung systematisch nachgegangen und hat in diesem Sinne (und seiner privaten Leidenschaft entsprechend) den Ansatz einer „Lesetheologie“ vorgeschlagen.50

49 Elmar Salmann: Tradition als Nachlese. Eine theologische Phänomenologie der Lektüre, in: Marinella Perroni/Ders. (Hg.), Patrimonium Fidei. Traditionsgeschichtliches Verstehen am Ende? Rom: Herder 1967, S. 159–184, hier S. 171. Angesichts dieser Parallelen von Lese- und religiöser Offenbarungserfahrung überrascht das religionsgeschichtliche Phänomen „heiliger Schriften“ nicht. 50 Vgl. Klaas Huizing: Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen, Berlin: de Gruyter 1996; Ders.: Das Gesicht der Schrift. Grundzüge einer bibelliterarischen Anthropologie, in: Ders./U.H.J. Körtner/P. Müller (Hg.), Lesen und Leben. Drei Essays zur Grundlegung einer Lesetheologie, Bielefeld: Luther Verlag 1997, S. 13–51; Ders.: Ästhetische Theologie.

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Ansgar Kreutzer Huizings Lesetheologie baut, systematisch zusammengefasst, auf zwei theoretischen Grundlagen auf: der Hermeneutik und der Anthropologie. In hermeneutischer Hinsicht nähert sich Huizing stark der rezeptionsästhetisch inspirierten „Lesetheorie“ an, die oben schon in ihrer romanhaften Verarbeitung bei Funke zutage getreten ist. Auch für ihn ist beim „Lesen“, also dem Verfahren der Rezeption und Interpretation von Texten, nicht mehr die Autorenintention ausschlaggebend. Vielmehr ist der Leseakt als ein Interaktionsgeschehen insbesondere zwischen Text und Leser zu interpretieren, bei dem die Autorenintention zwar noch eine, aber nicht mehr die Hauptrolle spielt: „Eine am Wechselspiel von intentio operis und intentio lectoris orientierte Lesetheologie muss dabei auf die diachrone, also die unterschiedlichen Textstufen untersuchende Fragestellung durchaus nicht verzichten, diese Fragen werden aber der synchronen … die Kohäsion der Texte achtenden Fragestellung nachgeordnet. Zunächst geht es also um die Zugehörigkeit von intentio operis und intentio lectoris, danach erst um die intentio auctoris.“51 Das Kunstvolle in der Literatur besteht demnach in der Faszination, den die Textkohäsion (Umberto Eco) auf den Leser ausübt. Diese Faszination bringt Huizing mit Bildern des In-die-Texte-hineingezogen-Werdens zur Sprache. Lesen ist für ihn (im Rückgriff auf Paul Ricœur) ein „Bewohnen der Textwelt“52. Texte, in theologischer Hinsicht nicht zuletzt biblische Texte sind eine „Einladung zum Eintreten in eine Welt des Textes, in der Vergangenheit und Gegenwart mit einem Ausblick in die Zukunft verbunden sind“53. Das Eintreten und Bewohnen in und von Textwelten lässt den Leser freilich nicht unverändert, sondern modifiziert sein Selbst- und Wirklichkeitsverständnis. Diese Veränderung des Selbstverständnisses durch das „Heineingezogenwerden“ in die Textwelt ist für Huizing eine angemessene Umschreibung dessen, worum es auch der Bibelhermeneutik geht. Das Verstehen biblischer Texte ist (erneut in den Worten Ricœurs): ein „Sich verstehen vor dem Text. Es heißt nicht, dem Text die eigene begrenzte Fähigkeit des Verstehens aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs.“54

51 Klaas Huizing/Ulrich H.J Körtner/ Peter Müller: Einleitung, in: dies. (Hg.), Lesen und Leben, S. 7–11, hier S. 8. 52 Ebd. 53 Ebd., 10. Hier insbesondere mit Bezug auf die neutestamentlichen Gleichnisse. 54 Paul Ricœur, zit. n. K. Huizing, Gesicht, S. 18.

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Bücher saufen und verschlingen Huizings zweite Inspiration, um vom Akt des Lesens aus das Projekt einer Theologie als ganzer zu konturieren, besteht in der von ihm rezipierten „literarischen Anthropologie“ des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Iser. Iser greift eine Grundbestimmung philosophischer Anthropologie auf, die insbesondere von Helmuth Plessner entfaltet wurde: die „exzentrische Positionalität“ des Menschen, seine Fähigkeit, eine (sachliche) Position außerhalb seiner selbst einzunehmen.55 Indem der Mensch sich somit vor sich selbst zu bringen vermag, ist es ihm möglich, sich zu sich selbst zu verhalten, in einer Metapher der Bildhauerei formuliert: sich selbst zu modellieren. Genau in diese anthropologische Bestimmung des Menschen trägt Iser nun die Funktion der Literatur ein: Sie ist ein entscheidendes Mittel, um dem anthropologischen „Plastizitäts- und Formbarkeitsreichtum“56 Rechnung zu tragen. Im fiktiven Charakter der Literatur werden dem Menschen Möglichkeiten vor Augen geführt, vorinszeniert, deren er für sein Projekt der Selbstmodellierung bedarf. Literatur wird für Iser zum „Panorama dessen, was möglich ist“57. Das Fiktive und Imaginäre bilden die gemeinsame Grundlage von Menschsein und Literatur und erklären ihren konstitutiven Zusammenhang. Diesen Gedanken einer literarischen Anthropologie wendet Huizing für Theologie und Bibelhermeneutik an. Die biblischen Schriften lassen sich als Panorama gelingender menschlicher Möglichkeiten interpretieren. „Wenn denn Fiktion gleichermaßen Konstitutionsbedingung von Literatur und anthropologischer Platzhalter für die Bestimmungsfähigkeit des Menschen ist, dann bieten die fiktiven Dimensionen biblischer Literatur – namentlich die Gleichnisse – ein Panorama der Möglichkeiten gelingenden Lebens, zu denen sich Leserinnen entsprechend verhalten können.“58 Aus christlicher Sicht kommt dabei der Christusgestalt eine entscheidende Bedeutung zu. Jesus Christus ist in christlicher Interpretation das Urbild gelingenden Lebens schlechthin, die „prototypische Neuformierung des Menschlichen“59. In Anlehnung an die Formulierung von Gal 3,1,

55 Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 504. 56 K. Huizing: Gesicht, S. 35. 57 W. Iser: Das Fiktive, S. 506. 58 K. Huizing: Gesicht, S. 37. 59 Ebd., S. 42. Vgl. auch die ähnlich gelagerte Christologie der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, Gaudium et spes, die im Rückgriff auf die Tradition der „Imago-Dei-Theologie“ Christus sowohl als Bild Gottes als auch als Bild bzw. Verwirklichung wahren Menschseins versteht: „Der ‚das Bild des unsichtbaren Gottes‘ (Kol 1,15) ist, er ist zu-

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Ansgar Kreutzer wo Paulus davon spricht, dass er der Gemeinde Christus „vor Augen malt“, konturiert Huizing das Projekt christlicher Theologie: „Die Sache der Theologie ist […] der vor Augen gemalte Christus. Der mündige (!) Leser versteht sich vor diesem Gesicht der Schrift fokussierten Textwelt und wird von diesem Gesicht der Schrift sinnlich affiziert.“60 Entsprechend der anthropologischen Funktion von Literatur, den Leser in die Textwelt hineinzuziehen und ihn verändert in die Wirklichkeit zu entlassen, ist mit der biblischen Konfrontation mit der Jesusgestalt auch eine performative Wirkung verbunden. So formuliert Huizing ganz im Rückgriff auf die Grundkategorien von Isers literarischer Anthropologie für die Bibelhermeneutik: „Immer geht es um die Wiedererkenntnis und Neuerschließung des eigenen Möglichkeitsspielraums.“61 In Huizings Ansatz treten die wichtigsten theologischen Implikationen einer Lesetheorie zu Tage: Wenn es zur Phänomenologie des Leseaktes gehört, dass der Leser mit einer Anderswelt konfrontiert wird und verändert aus ihr zurückkehrt, so lässt sich Lesen als anthropologische Entsprechung dessen verstehen, was theologisch mit „Offenbarung“ gemeint ist. Es ist gerade die Parallele, die schon zwischen den Handlungslogiken von Exzess und Lesen bestand, nämlich die Konfrontation mit einer Anderswelt, welche Selbst- und Wirklichkeitsverständnis verändert, die auch die entscheidende Affinität von Lesen und religiösem Weltverständnis ausmacht. An der Selbst- und Wirklichkeitsverständnis ändernden Inszenierung einer Anderswelt knüpft auch das kulturkritische Potenzial der Lesekultur in unserer Gesellschaft an, für das zum Abschluss ein Beispiel skizziert werden soll.

6 Eine kulturkritische Funktion des Lesens: Lesen als Exzess der Langsamkeit in einer rasenden Gesellschaft Wie eingangs dargestellt verspricht das Buchmedium, Beschaulichkeit, Reiz- und Komplexitätsreduktion. Der Buchmarkt selbst gleich der vollkommene Mensch […].“ (GS 22) Den konstitutiven Bezug von Christologie und Anthropologie, im Sinne einer Christologie als vollendeter Anthropologie, hat Karl Rahner in herausragender Form systematisch-theologisch hergestellt und begründet (vgl. u.a. Ders.: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg: Herder 1984, S. 180–312). 60 K. Huizing: Gesicht, S. 18. 61 Ebd., S. 43.

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Bücher saufen und verschlingen jedoch erscheint als Spiegel diametral entgegengesetzter gesellschaftlicher Tendenzen: alles durchdringende Kommerzialisierung, Vermassung, Reizüberflutung und exzessive Beschleunigung. Der Leseakt, wie er hier handlungstheoretisch rekonstruiert wurde, lässt sich als eine Art Kontrapunkt zu einer extremen Beschleunigungsdynamik interpretieren. Lesen kann so die Form eines besonderen „Exzesses der Langsamkeit“ annehmen, eines – erneut den wörtlichen Sinn von Ex-zess aufgreifend – alltagskulturellen „Auszugs“ oder „Auswegs“ aus den Pathologien einer „rasenden“ Gesellschaft. Hartmut Rosa, einer der führenden soziologischen Zeitforscher hat auf eine besondere Paradoxie individueller und gesellschaftlicher Beschleunigung hingewiesen: Der chronischen Zeitknappheit wird zwar durch Prozesse der organisatorischen und technischen Rationalisierung zu begegnen gesucht, um neue Zeitkapazitäten zu erschließen. Faktisch jedoch wird jede dadurch gewonnene Zeit unmittelbar wieder „angefüllt“, also erneut verknappt. Prozesse, die auf Zeitersparnis abzielen, tragen so letzten Endes nur zur gesteigerten Beschleunigung bei. „Die Erhöhung des ‚Tempos des Lebens‘, die Zeitknappheit der Moderne entsteht nicht weil, sondern obwohl auf nahezu allen Gebieten des sozialen Lebens mit Hilfe der Technik enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnet werden können.“62 Rosa erklärt dieses offenkundige Paradox damit, dass hinter dem Imperativ der Beschleunigung („Schneller!“) eine noch „mächtigere“ Vorgabe spätmoderner Kultur steckt: die unbegrenzte Steigerung („Mehr!“): „In der modernen Gesellschaft aber hat […] das ‚Schneller‘ auch zu einem ‚Mehr‘ geführt (oder aber das ‚Mehr‘ das ‚Schneller‘ erst hervorgebracht): Wir produzieren, transportieren und kommunizieren nicht nur schneller, sondern auch mehr, was den Nettozeitgewinn reduziert.“63 Rosa führt das Phänomen rasender Beschleunigung im Dienst unbegrenzter Steigerung auf zwei kulturelle Leitgrößen der Moderne zurück. Ihre Logik ist einerseits dem kapitalistischen Wirtschaftssystem eigen: „Der Kapitalismus erst machte Beschleunigung zu einem unentrinnbaren Sachzwang und verschaffte ihr (in der industriellen Revolution) ein materielles Fundament.“64 Andererseits schafft die Säkularisierung, der Bedeu-

62 Hartmut Rosa: »Rasender Stillstand? Individuum und Gesellschaft im Zeitalter der Beschleunigung«, in: Jürgen, Manemann (Hg), Befristete Zeit, Münster: Lit Verlag 1999, S. 151–176, hier S. 154. Vgl. zum Ganzen ausführlich: Ders.: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005. 63 H. Rosa: Stillstand, S. 154. 64 Ebd., S. 155.

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Ansgar Kreutzer tungsverlust einer auf das Jenseits Bezug nehmenden religiösen Weltsicht, eine Konzentration auf den diesseitigen Lebensvollzug. „Daraus ergibt sich, dass das gute Leben das erfüllte sei, das darin besteht, möglichst viel von dem, was die Welt zu bieten hat, auszukosten und auszuschöpfen, möglichst umfassend von ihren Angeboten Gebrauch zu machen.“65 Zur „kulturlogischen“ Verknüpfung von Beschleunigung und Steigerung, die sich wechselseitig an-, ja auf die Spitze treiben, sieht Rosa keine kulturelle Alternative mehr.66 Dennoch stellt sich die Frage, ob unsere Lebenswelt nicht doch andere, alternative Erfahrungen bereit hält als ungebremste Beschleunigung und unaufhaltsame Steigerung. Eine Kontrasterfahrung könnte hier tatsächlich der Leseakt darstellen. Wie eingangs festgestellt steht die Tätigkeit des Lesens quer zum Diktat zunehmender Beschleunigung. Lesen kann eine gewisse „Höchstgeschwindigkeit“ nicht überschreiten. Die Lesekultur könnte so trotz aller beschleunigten Formen des Buchmarkts ein Residuum alternativer Zeiterfahrung bleiben. Schließlich hat auch die oben referierte Glücksforschung aufgewiesen, dass die Attraktivität des Lesens, die Möglichkeit einer Flow-Erfahrung, ja gerade darin besteht, ein alternatives Raum-Zeit-Empfinden zu entwickeln und sich damit vom üblichen, aufoktroyierten und extrem beschleunigten Zeitregim – zumindest für eine Weile – zu emanzipieren. Auch in diesem Beitrag für eine menschengerechte Entschleunigung unserer Gesellschaft könnte die Kulturform des Lesens ein Junktim mit der (jüdisch-christlichen) Religion eingehen, hält doch diese gegen den kategorischen Imperativ „Schneller!“ ein „kairologisches“, ein den Augenblick und die Gegenwart achtendes Zeitverständnis bereit: In der Lebensweisheit, die in jüdisch-christlicher Tradition bewahrt wird, gilt: „Alles hat seine Zeit“ (Koh 3,1). Ein solch kairologisches Zeitverständnis „sensibilisiert für die spezifischen ‚Eigenzeiten‘ von Beziehungen und Ereignissen im menschlichen Leben“67. Der Leseakt kann ein Mittel sein, sich darin einzuüben.

65 Ebd., S. 160. 66 Vgl. ebd., S. 175f: „Eine plausible, wenn gleich nicht sonderlich optimistische These ist es daher, dass das Projekt der Moderne zu schnell geworden ist, als dass es sich noch steuern oder verändern ließe. Die Beharrungskräfte dieses rasenden Projekts sind vermutlich so stark, dass auch die Verletzung von ökologischen, anthropologischen, politischen und anderen Geschwindigkeitsgrenzen, ihm keinen Einhalt mehr zu gebieten vermögen.“ 67 Hans-Joachim Höhn: versprechen. Das fragwürdige Ende der Zeit, Würzburg: Echter 2003, S. 52.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane. Exzessives Sammelverhalten bei Johann Nepomuk Graf Wilczek (1837–1922) und Friedrich Pesendorfer (1867–1935) JÜRGEN RATH

1 Einleitung: Adel, Klerus und die Obsession des Sammelns „Als Nachttisch stellte er einen alten Betstuhl auf, dessen Inneres einen Nachttopf beherbergen konnte und auf dem ein Stundenbuch lag. An die Mauer gegenüber stellte er einen Chorstuhl, überragt von einem großen Baldachin mit Misericordien, die aus massivem Holz geschnitzt waren; und er versah seine Kirchenleuchter mit vorgetäuschten Talglichtern aus echtem Wachs, die er in einem auf die Bedürfnisse des kirchlichen Kultus eingestellten Fachgeschäft kaufte; denn er bekundete aufrichtigen Widerwillen gegen Petroleum, Schieferöl, Gas, Stearinkerzen, gegen all die moderne Beleuchtung, die so brutal und grell ist.“1

In ein abgelegenes Landhaus außerhalb von Paris zieht sich Des Esseintes, letzter Spross einer alten französischen Hochadelsfamilie zurück und errichtet sich dort, umgeben von seltenen Büchern und einer exquisiten Sammlung von Kunstgegenständen eine künstliche Gegenwelt. Die wiedergegebene Passage schildert die Einrichtung des Schlafzimmers des Adeligen. Auffällig dabei erscheinen die zahlreichen sakralen Ausstattungsgegenstände wie der nun als Nachttisch dienende Betstuhl oder die Kirchenleuchter

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Joris-Karl Huysmans: Gegen den Strich, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1992 (übersetzt und herausgegeben von Walter Münz und Myriam Münz), Kap. V, S. 95.

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Jürgen Rath des Chorstuhls. Des Esseintes ist ein Sammler, wobei sich seine Sammlung dadurch von anderen unterscheidet, dass ihr nicht bestimmte (museale) Räume zugewiesen werden, sondern dass der Wohn- und Lebensraum selbst zur Sammlung wird und den Objekten neue Funktionen zugewiesen werden. Während aus dem Betstuhl ein profaner Nachttisch wird, scheint der Chorstuhl mit seinen Kirchenleuchtern seiner ursprünglichen Funktion als Ort des Chorgebets von Geistlichen gänzlich enthoben zu sein und steht nun vornehmlich aus ästhetischen Erwägungen im Schlafzimmer eines offensichtlich exzentrischen Adeligen. Vielleicht ist diese Deutung jedoch etwas vorschnell, denn widmen wir uns wieder der Beschreibung des Schlafzimmers unseres exzentrischen Adeligen, dann erscheint die Anhäufung von Sakralgegenständen nicht mehr zufällig, sondern vielmehr auf den Lebensstil des Hausherrn zugeschnitten zu sein: „In seinem Bett beschaute er morgens, den Kopf auf dem Kissen, vor dem Einschlafen seinen El Greco, dessen grimmige Farbe dem Lächeln des gelben Stoffs eine gewisse Abfuhr erteilte und ihn auf einen ernsteren Ton stimmte, und er konnte sich nun leicht ausmalen, dass er hundert Meilen von Paris weltabgeschieden im fernsten Winkel eines Klosters lebte. Alles in allem gelang die Täuschung leicht, da er ein Dasein führte, das dem eines Ordensmannes fast entsprach. Er hatte so die Vorteile der Klausur und vermied deren Unzuträglichkeiten, die soldatische Disziplin, den Mangel an Körperpflege, den Schmutz, das hautnahe Beieinander, den eintönigen Müßiggang.“2

Der Adelige als säkularisierter Mönch inmitten einer Sammlung sakraler Kunst? Der Leser unseres Textes hält nun möglicherweise inne und wird bei all der Selbststilisierung unseres Adeligen skeptisch: Handelt es sich um einen real existierenden Menschen, eine historische Gestalt oder doch nur um eine literarische Figur? Letzteres ist zutreffend: Des Esseintes ist der Protagonist des 1884 erschienenen Romans „Gegen den Strich“3 (im Original: À rebours) des französischen Autors Joris-Karl Huysmans und dient uns hier in erster Linie als Prototyp des exzentrischen adeligen Sammlers im 19. Jahrhundert4. Während die Selbstinszenierung des fiktiven Sammlers Des Esseintes augenscheinlich viel dem geistlichen 2 3 4

Ebd., S. 95f. Der Roman gilt als „ […] eines der Hauptwerke der literarischen Dekadenz des Fin de siècle.“ (Klappentext der deutschen Ausgabe, siehe Anm. 1.) Das 19. Jahrhundert verstehe ich dabei im Sinne Eric Hobsbawms als „Langes 19. Jahrhundert“, daher reicht der Betrachtungsraum des vorliegenden Aufsatzes bis in die Jahre 1914/1917 bzw. in Kap.3, das sich der Person Friedrich Pesendorfers widmet, auch darüber hinaus.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane Stand verdankt, ging das reale Leben von Klerus und Adel im 19. Jahrhundert auf den ersten Blick durchaus getrennte Wege. Dennoch gab es Lebensbereiche, in denen sich deren Wege kreuzen konnten. Eine von mehreren Welten, in der solche Überschneidungen zu beobachten sind, ist die Welt der Sammler5. Dieser Welt wollen wir uns im Folgenden etwas näher widmen, geographisch beschränken wir uns im Wesentlichen auf das Gebiet des heutigen österreichischen Staatsgebiets (einige der erwähnten Sammlungsobjekte stammen auch aus den unmittelbaren Nachbarländern), zeitlich beschäftigen wir uns aus Gründen der günstigen Quellenlage mit Beispielen aus der späten Habsburgermonarchie und der Ersten Republik (also grob gesagt zwischen 1850 und ca. 1935). Beschränkt man nun den Sammlungsgegenstand auf Kunstwerke (sakral wie profan), so begegnen sich Adel und Klerus6 primär auf drei Interaktionsebenen: Erstens können Angehörige beider Gruppen selbst als Sammler auftreten (und werden damit gleichzeitig zu Konkurrenten, wenn sie sich auf dasselbe Sammelgebiet spezialisiert haben). Zweitens kann der Fall eintreten, dass ein Angehöriger einer der beiden Gruppen als Sammler auftritt, ein (oder mehrere) Mitglied(er) der anderen Gruppe jedoch als Verkäufer agiert (agieren). Die dritte Interaktionsebene ist eine Sonderform des Sammelns, gemeint sind jene sich im Laufe des 19. Jahrhunderts konstituierenden Institutionen, die sich der Erforschung und Erhaltung der Kunstgegenstände einer Region widmen, also jene Einrichtungen, die die Vorläufer der staatlichen Denkmalpflege repräsentieren.7 5

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Sprachgeschichtlich kann man Sammeln als das Zusammentragen von Zerstreutem „von gleicher oder ähnlicher Beschaffenheit am selben Ort“ bezeichnen. Der Soziologe Justin Stagl erweitert diese Definition noch um zwei m.M. wesentliche Aspekte: Zu einen betont er, dass Sammlungen „stückweise, allmählich“ entstehen und dass Sammlungen eine „geordnete Menge“ darstellen, was sie wesentlich von „ungeordneten Massen“ und „Ansammlungen“ unterscheidet. (Vgl. Justin Stagl: »Homo Collector: Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns«, in: Aleida Assmann/ Monika Gomille/Gabriele Rippl (Hg.), Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen: Narr 1998, S. 37–54, hier 37.) Als dritte Gruppe müsste man (in der katholischen Kirche) streng genommen die Mitglieder von Ordensgemeinschaften hinzuzählen, die keine Kleriker (also nicht ordiniert) sind, zu ihnen zählen Laienbrüder und Nonnen. Vgl. hierzu Hans Barion: »Klerus und Laien. 2. Die kirchlichen Stände der katholischen Kirche«, in: RGG3 Bd. 3, Sp. 1662–1663. Vgl. Walter Frodl: Idee und Verwirklichung. Das Werden der staatlichen Denkmalpflege in Österreich, Wien, Köln, Graz: Böhlau 1988, S. 21–48

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Jürgen Rath Dazu ist es jedoch notwendig, „Forschen […] als ein gezieltes, systematisches Sammeln von Erkenntnissen“8 zu definieren. Wichtig bei dieser Definition ist, dass nun Informationen über die Kunstgegenstände zusammengetragen werden und nicht notwendigerweise die Kunstgegenstände selbst. Doch gerade die Institution des Staatsdenkmalamtes, die diese Informationen sammelte, war es, die ab dem Jahr 1918 das Ausfuhrverbotsgesetz für Kunstwerke exekutierte und somit (zumindest theoretisch) der Sammelwut ausländischer Sammler Einhalt gebot. Nicht wenige Mitglieder des Staatsdenkmalamtes (ebenso wie die der Vorgängerinstitution, der k. k. Centralkommission) entstammten Adel und Klerus.9 Paradoxerweise treten Adelige und Kleriker einerseits als Schützer des heimischen Kulturguts auf, andererseits verkauften sie es auch und verhinderten höchst erfolgreich bis 1918 sowohl ein Ausfuhrverbot als auch ein Denkmalschutzgesetz.10 Nachdem die verschiedenen Interaktionsebenen, auf denen sich Adel und Klerus begegnen konnten, skizziert wurden, ist nun noch auf die Funktion des Sammelns und die Bedeutung der gesammelten Gegenstände einzugehen. Meine Hauptthese lautet, dass sich beide Gruppen, (sofern sie als Sammler auftraten) aufgrund ihrer besonderen sozialen Stellungen in ihrem Sammelverhalten bzw. ihren ästhetischen Vorlieben durchaus vergleichen lassen. Beide hatten aufgrund der politischen und sozialen Änderungen im Laufe des langen 19. Jahrhunderts eine weitgehende Transformation durchgemacht, beide Gruppen verloren auch durch die Etablierung des Bürgertums und politischer Änderungen einen Grossteil ihrer Privilegien und ihres ursprünglichen Einflussbereiches. Eine hinlänglich in der Psychologie bekannte Funktion des Sammelns ist die Identitätsbildung.11

(Vorgeschichte) und S. 49ff. (staatliche Denkmalpflege) sowie: Geschichte der Denkmalpflege in Österreich. Die Entwicklung des staatlichen Denkmalschutzes von 1850 bis heute )Vgl. http://bda.at/organisation/126/0/5780/texte/ vom 7. April 2009). 8 J. Stagl: »Homo Collector«, S. 51. 9 Vgl. Eva Frodl-Kraft: Gefährdetes Erbe. Österreichs Denkmalschutz und Denkmalpflege 1918–1945 im Prisma der Zeitgeschichte, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1997, S. 65. Frodl-Kraft nennt für das Jahr 1914 zwei Mitglieder aus dem kleinen Beamten bzw. Offiziersadel, die den Vorstand innehatten bzw. als juristische Beamte tätig waren, bzw. 2 wissenschaftliche Mitarbeiter, die dem Klerus angehörten. 10 Vgl. http://bda.at/organisation/126/0/5780/texte vom 7. April 2009. 11 Zu dieser Funktion des Sammelns vgl. J. Stagl: »Homo Collector«, S. 38–39.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane Während des hier zu behandelnden Zeitraums dürften die Identitäten von Klerus und Adel jedoch durch die angedeuteten gesellschaftlichen Veränderungen beschädigt bzw. zumindest in Frage gestellt worden sein. Den Sammlungen konnten nun also neue Bedeutungen zukommen, die in der Realität bedrohte Identität mag durch die Symbolik der Sammlung als Einheit bzw. die Symbolik der einzelnen Objekte zumindest teilweise wiederhergestellt worden sein. Eine Sammlung mittelalterlicher Kunst eines katholischen Adeligen des 19. Jahrhunderts könnte man demzufolge nicht nur als Zeugnis seiner ästhetischen Vorlieben lesen, die Beschränkung im Sammeln auf Kunstgegenstände des Mittelalters ließe sich auch damit begründen, dass während dieser Epoche der Adel noch eine bedeutendere Rolle gespielt hatte als in der Gegenwart des Sammlers, ebenso war es die Zeit vor der Reformation und bot sich damit für konservativ katholische Adelige durchaus als eine potenzielle Projektionsfläche ihrer Wunschvorstellungen an. Der Geistliche dagegen, der in einer Zeit zunehmender Säkularisierung primär Kunstgegenstände christlichen Inhalts sammelte, schuf sich möglicherweise damit eine Gegenwelt, vergleichbar jener des sammelnden Adeligen. Doch wäre es allerdings zu kurz gegriffen, das Sammeln der beiden Gruppen lediglich unter dem Aspekt der Erschaffung einer Gegenwelt zu sehen, denn zugleich bilden die gesammelten Gegenstände auch einen Ausschnitt der realen Welt und dienen somit zugleich der Erschließung des Raumes12, womit eine weitere wichtige Funktion des Sammelns genannt ist. Wenn also im Folgenden jeweils ein Adeliger und ein Mitglied des Klerus in ihren Sammelverhalten dargestellt werden, so ergibt sich nicht zwangsläufig eine direkte Vergleichbarkeit zweier sozialer Schichten. Sehr viele Mitglieder des Klerus entstammen dem Adel (wir haben allerdings einen typischen Vertreter des Bürgertums ausgewählt), die Grenzen zwischen den beiden Ständen verwischen also. Die Vergleichbarkeit liegt demnach eher in der Funktion der Sammlung als Gegenwelt und ihrer Stellung zur realen Welt bzw. in der obsessiven Beschäftigung mit den jeweiligen Kollektionen.

12 Vgl. ebd. S. 39.

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Jürgen Rath

2 Exzessives Sammelverhalten am Beispiel Johann Nepomuk Graf Wilczeks (1837–1922) Der folgende Abschnitt untersucht das Sammelverhalten des österreichschen Adeligen Johann Nepomuk Graf Wilczek. In den Jahren 1874 bis 1906 ließ Wilczek die während des Dreißigjährigen Krieges zerstörte Burg Kreuzenstein wieder aufbauen.13 Die dabei entstandene architektonische Schöpfung besteht aus zahlreichen mittelalterlichen Architekturspolien, die der Bauherr aus ganz Europa im Kunsthandel aber auch bei Privatverkäufern erworben hatte.14 Zusätzlich stattete er die Burg im Inneren mit einer äußerst kostbaren Sammlung mittelalterlicher Kunstgegenstände aus, die nach einer Schätzung für das Jahr 1926 um die 100.000 Objekte umfasst haben dürfte.15 Während aber der Protagonist Des Esseintes des eingangs zitierten Romans „Gegen den Strich“ mit seiner Sammlung lebte, dürfte Graf Wilczek seine Burg nur selten bewohnt haben, dennoch legte er bei der Ausstattung größten Wert auf eine mögliche Benutzbarkeit der Räume. Die Interieurs dienten vor allem auch der Selbstdarstellung des Bauherren, bei Besuchen prominenter Persönlichkeiten gaben die reichlich ausgestatteten Räumlichkeiten eine „eindrucksvolle Selbstdarstellung des Bauherrn ab“16. Diese Selbstdarstellung Wilczeks finden wir auch in seinen Lebenserinnerungen, die 1933 posthum von seiner Tochter herausgegeben wurden und uns wichtige Hinweise zu seinem Rolle als Aristokrat und Sammler geben, wir stützen uns also in unseren weiteren Ausführung auf diese Quelle.17 Widmen wir uns im Fol-

13 Vgl. Andreas Nierhaus: Rekonstruiertes Mittelalter. Der Wiederaufbau von Burg Kreuzenstein 1874–1906, Wien, unveröffentlichte Diplomarbeit, Geistes- und kulturwissenschaftliche Fakultät Universität Wien 2002. 14 Da es abgesehen von Wilczeks publizierten Erinnerungen kaum Aufzeichnungen über die Herkunft der einzelnen Spolien bzw. Ausstattungsgegenstände gibt, fällt es äußerst schwer die gesamte Sammlung in ihrer Bedeutung zu charakterisieren. Vgl. A. Nierhaus: Rekonstruiertes Mittelalter, S. 59. 15 Vgl. A. Nierhaus: Rekonstruiertes Mittelalter, S. 10. 16 Ebd., S. 49. 17 Vgl. Elisabeth Kinsky-Wilczek (Hg.): Hans Wilczek erzählt seinen Enkeln Erinnerungen aus seinem Leben, Graz: Leykam 1933. Wie aus dem Titel bereits deutlich wird, waren die Lebenserinnerungen des 1922 verstorbenen Grafen ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sondern nur für seine Enkelkinder geschrieben worden. Unklar ist, inwieweit die Tochter den Text, der ihr im Herbst 1920 von ihrem Vater diktiert worden

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane genden kurz der Biografie des Grafen, die uns wichtige Aufschlüsse zum Verständnis seiner Person geben wird.

2.1 B IOGRAFIE Johann („Hans“) Nepomuk Graf Wilczek wurde am 7. Dezember 1837 in Wien geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters übernahmen seine Mutter sowie sein Cousin als Vormund seine Erziehung. An seinen Privatlehrern lässt der Graf rückblickend kein gutes Haar, gibt er doch an, von ihnen „sehr wenig oder nichts gelernt“18 zu haben. Zwischen 1855 und 1856 war Wilczek außerordentlicher Hörer an der Universität Wien und belegte dort die Fächer Archäologie, Kunstgeschichte und Naturgeschichte und nach Eigenaussage auch juristische Vorlesungen.19 Die auffällige Dominanz der historischen Fächer erscheint mir hier typisch, die Vorliebe des Adels zu Traditionen wird deutlich. Giovanni Montroni, der über den italienischen Adel des 19. Jahrhunderts gearbeitet hat, dessen Beobachtungen sich aber auch auf das Habsburgerreich übertragen lassen, spricht von einem Geschlechtergefühl, das die jüngere Adelsgeneration mit der älteren verband: „Dieses Geschlechtergefühl verband Vergangenheit und Zukunft und motivierte die Vertreter der Aristokratie, Dokumente zu sammeln, Stammbäume zu überprüfen und zu bereichern, die Geschicke der einzelnen Familienzweige zu rekonstruieren und diese archivarische Tätigkeit zu ihrer Lieblingsbeschäftigung zu machen.“20

war, bearbeitet hat, von daher erscheint eine generelle Vorsicht bei der Interpretation dieser Quelle angebracht. 18 Alfred Johannes Rességuier: Hans Graf Wilczek. Ein Blatt der Erinnerung, in: E. Kinsky-Wilczek, Hans Wilczek erzählt, S. V–X, hier: S. V. Dass Wilczek nie zur Schule gegangen ist, begründet der Autor, selbst Wiener Adeliger und Mitbegründer des „Vereins katholischer Edelleute in Österreich“ (dessen Mitglied Wilczek war) wie folgt: „Er konnte auf sie verzichten, weil sein Sinn stets nach Großem strebte, zum Selbststudium hinneigte und er immer bestrebt war, sein eigener Lehrmeister zu sein.“ (Ebd.); Über den Verein katholischer Edelleute vgl. Hannes Stekl: Adel und Bürgertum in der Habsburgermonarchie 18. bis 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2004, S. 106ff. 19 Vgl. E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S.33. 20 Giovanni Montroni: Der Adlige, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main, New York: Campus 1999, S. 324–341, hier: S. 337.

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Jürgen Rath Auffällig und bereits früh ausgebildet ist Wilczeks Reiseleidenschaft, noch nicht zwanzig Jahre alt hatte er bereits einen Großteil der Monarchie durchwandert, auch mehrere Bildungsreisen sind überliefert.21 Es ist sehr wahrscheinlich, dass der junge Graf bereits damals seine kunsthistorische Denkmälerkenntnis vertieft und vielleicht schon das ein oder andere Stück seiner späteren Sammlung erworben hatte. 1858 heiratet Wilczek Gräfin Emma von Emo-Capodilista.1864 bereiste er die Krim und betrieb dort ethnographische und geographische Studien. In der Schlacht von Königgrätz 1866 kämpfte der Adelige als Freiwilliger gegen die Preußen und erhielt daraufhin die goldene Tapferkeitsmedaille.22 Nach seinem Militärdienst lebte Wilczek als Großgrundbesitzer, unternahm aber dazwischen immer wieder Forschungsreisen, unter anderem auch zweimal nach Afrika (1868 und 1870). Im Jahr 1872 nahm er schließlich an der ersten österreichischen Nordpolarexpedition teil, die er auch mitfinanzierte.23 Seinen beachtlichen Einfluss und seine beträchtlichen finanziellen Mittel (er galt zu seiner Zeit als „einer der reichsten österreichischen Edelleute“24) verwendete der Graf für eine breite Vielfalt an gemeinnützigen Tätigkeiten, so wurde er 1881 (nach dem verheerenden Ringtheaterbrand) Mitbegründer der Wiener Rettungsgesellschaft und ein Jahr darauf des Spitals „Rudolfinerhaus“.25 1916 wurde Johann Nepomuk Wilczek von Kaiser Karl I. zum Ritter des Golden Vlieses ernannt, er starb schließlich im Alter von 84 Jahren am 27. Jänner 1922 im Stadtpalais seiner Familie.26

21 Vgl. A. Rességuier: »Hans Graf Wilczek«, S. VI. 22 Vgl. E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S. 86–134. Wilczek widmet dem „Feldzug in Böhmen“ ein ganzes Kapitel, wobei er nicht nur das Kampfgeschehen wiedergibt, geschildert wird auch der Fund eines keltischen Bronzeschwerts inmitten des Schlachtgetümmels. (Vgl. ebd., S. 117–118) 23 Vgl. A. Rességuier: »Hans Graf Wilczek«, S. VIII. 24 Meyers-Konversations-Lexikon, 5. Auflage, Bd. 17, Leipzig, Wien: 1893– 97, S. 752, zit.n. A. Nierhaus: Rekonstruiertes Mittelalter, S. 10. 25 Vgl. A. Nierhaus: Rekonstruiertes Mittelalter, S. 8. 26 Vgl. ebd. Nach der Einsegnung in Wien wurde der Leichnam nach Kreuzenstein überführt und in der Familiengruft beigesetzt.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane

2.2 D ER S AMMLER W ILCZEK : S PUREN EINER L EIDENSCHAFT

EXZESSIV GELEBTEN

„… Von Politik sage ich euch wenig, denn ich hatte immer gegen sie eine große Abneigung, wie Ihr auch aus meinen Aufschreibungen werdet ersehen können. Dagegen hatte ich großes Interesse für die alte Kunst und sammelte vieles, insbesondere für die Ausgestaltung von Kreuzenstein …“27

Wilczeks einleitender Kommentar zu seinen Lebenserinnerungen erscheint in unserem Zusammenhang insofern äußerst interessant, als er einen Hinweis auf die eskapistische Funktion der Sammlung gibt. Der Sammler erschafft sich mit der Sammlung eine Art Gegenwelt, die mit der Realität nur bedingt vereinbar ist. In Wilczeks Lebenserinnerungen, konkret in jenen Stellen, die dem Erwerb seiner umfangreichen Sammlung gewidmet sind, spielen Geistliche eine nicht unbedeutende Rolle, stammte doch ein wesentlicher Teil seiner Sammlungen auf dem Gebiet der sakralen Kunst nicht aus dem Kunsthandel. Vielmehr besuchte der sammelwütige Graf auf seinen „Raubzügen“ zahlreiche Kirchen und erwarb viele Gegenstände direkt vom Klerus bzw. von Ordensgemeinschaften. Der Klerus erscheint in Wilczeks Erinnerungen primär als potentieller Verkäufer von Kunstgegenständen, manchmal aber auch als Verbündeter und Komplize des Grafen, der meist erst durch finanzielle Zuwendung die Geschäftsanbahnung ermöglichte. Sammelnde Kleriker oder Kleriker im Dienste der sich konstituierenden staatlichen Denkmalpflege erwähnt der Graf in seinen Erinnerungen nicht. Zu Beginn sei eine Passage erwähnt, die zugleich ein Zeugnis für das soziale Netz des Sammlers ist. Der Graf verfügte über eine Reihe von Kontaktpersonen, die ihm bei der Zusammenstellung seiner Sammlung behilflich waren. Wilczek schildert Herkunft und Erwerbung eines gotischen Wandschranks, der heute zu den bedeutendsten Sammlungsstücken Kreuzensteins zählt. Im vorliegenden Fall ist es interessanter Weise nicht der Graf selbst, der sich um den Kauf bemüht, sondern

27 E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S. XII. Ob Wilczeks Politikverdrossenheit in der Tat schon immer bestanden hat, lässt sich schwer sagen, auffällig erscheint jedoch, dass er seine Erinnerungen nach dem Zusammenbruch der Monarchie diktiert hat. Viele Adelige fanden sich, wie H. Stekl schreibt, „nur schwer mit den neuen Verhältnissen ab“, „Die Aberkennung der Adelstitel [Adelsaufhebungsgesetz vom 3. April 1919; J.R.] bedeutete für viele Adelige einen partiellen Identitätsverlust.“ (H. Stekl: Adel und Bürgertum, S. 106.)

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Jürgen Rath es sind die Mönche des Stiftes Neustift bei Brixen, die ihm den Kunstgegenstand (über einen Mittelsmann) zum Verkauf anbieten: „Mein bedeutendstes gotisches Einrichtungsstück, ein Schrank, der wohl der größte aus dieser Zeit in der ganzen Christenheit ist, wurde mir von den Mönchen des Stiftes Neustift bei Brixen angeboten, da sie von Sammlern und Händlern so gequält wurden, ihn herzugeben, und in solcher Angst lebten, dass er in unrechte Hände kommen würde, dass sie ihn mir durch meinen Freund Rudolf Haidinger um wohlfeiles Geld antragen ließen. Ich kaufte ihn, ohne ihn noch gesehen zu haben, und stellte ihn im Saal der Burg auf.“28

Dass Wilczek gleich zu Beginn die Einzigartigkeit seines Sammlerstücks hervorhebt, ist nicht weiter erstaunlich, sondern ein unter Sammlern weit verbreitetes rhetorisches Element. In unserem Zusammenhang interessiert uns stärker Wilczeks Beschreibung des Kaufhergangs: Die Mönche, von zahlreichen Sammlern und Händlern bedrängt, wenden sich in ihrer Not an einen Mittelsmann des Grafen, der ihnen schließlich den Schrank abkauft. Zunächst fällt Wilzceks deutliche Selbstinszenierung als (vermeintlicher) „Wohltäter“ auf, der den Mönchen als Retter in höchster Not erscheint. Gleichzeitig beschreibt er seine Konkurrenten als rücksichtslos und einzig auf ihren eigenen Vorteil bedacht.29 Seine eigene Rolle hingegen stellt der Graf hier seltsam passiv dar, erst durch die Kontaktaufnahme der Mönche mit einem seiner Mittelsmänner wird der Sammler auf den gotischen Schrank aufmerksam und entschließt sich, glaubt man den Erinnerungen des Grafen, mehr aus Mitleid mit den Mönchen, denn aus Interesse am Objekt für den Kauf. Es soll hier nicht bezweifelt werden, dass der Handel in diesem Fall tatsächlich durch die Verkäufer in die Wege geleitet wurde, schließlich war Graf Wilczek damals bereits als Sammler durchaus bekannt und es erscheint möglich, dass sich nicht nur Händler, sondern auch Verkäufer aus dem Klerus oder Privatverkäufer direkt an ihn bzw. seine Vertrauten gewandt haben, einzig und allein Wilczeks Selbstinszenierung als scheinbar affektloser Protagonist, der bei dem Ereignis weder seine Fassung noch seine Würde zu verlieren scheint, erscheint verdächtig und entspricht eher einem dem Adel typischen Verhaltenskodex.

28 E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S. 144–145. 29 Dass es durchaus Händler gab, die zum Teil skrupellos Kunstgegenstände aus kirchlichen Besitz erworben und dabei das Unwissen der Verkäufer über den wahren finanziellen Wert der Objekte schamlos ausgenutzt hatten, steht außer Frage. (Vgl. dazu: E. Frodl-Kraft: Gefährdetes Erbe, S. 6, Fußnote 40.)

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane Es darf an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass der Großteil der Sammeltätigkeit Wilczeks während eines Zeitraums stattfand, als der Verkauf und die Ausfuhr für Kunstgegenstände noch nicht gesetzlich geregelt war. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, trat das Ausfuhrgesetz für Kunstdenkmäler erst im Dezember 1918, ein Jahr nach Ausrufung der Republik Österreich in Kraft. Seit diesem Zeitpunkt waren Wilczek enge Grenzen gesetzt. Als er viele Jahre nach Erwerb des eben erwähnten gotischen Möbelstücks einen ähnlichen Kasten in einer Kirche im Pustertal entdeckte, war das Kaufgeschäft bereits in die Wege geleitet, als die Zentralkommission dem Sammler „[…] einen Strich durch die Rechnung machte“30. Wilczek agierte also zum Teil zu einem Zeitpunkt, als es zumindest bereits Widerstand von Seiten der sich konstituierenden staatlichen Denkmalpflege gab,31 es scheint daher durchaus nachvollziehbar, dass der Sammler den rechtlichen Aspekt seiner Ankäufe in der literarischen Aufarbeitung dementsprechend zu relativieren suchte. Bei der Ausstattung von Burg Kreuzenstein legte Johann Nepomuk Wilczek besonderen Wert auf die Gestaltung der Burgkapelle, der auch die Funktion einer Grablege mit der darunter liegenden Familiengruft zukommt.32 Für die Kapellentür beabsichtigte Wilczek ein gotisches Original aus der Salzburger Filialkirche Irrsdorf zu erwerben, doch scheiterte dieser angestrebte Verkauf: „Die mit lebensgroßen Relieffiguren gezierten Flügel der in die Kapelle führenden Türe hatte ich schon vor vielen Jahren auf einer Fahrt vom Attersee nach Salzburg an der Filialkirche zu Irrsdorf entdeckt und war schon damals so gewiss, sie zu erwerben, dass ich die Türöffnung der im Bau befindlichen Kapelle nach den Dimensionen der Irrsdorfer Türe herstellen ließ. Die dortige Gemeinde wollte sie mir auch überlassen, die geistlichen Herren aber nicht, und so zogen sich die Verhandlungen jahrelang fort, ohne zu einem Resultat zu führen. Meine Hoffnungen wuchsen, als ich mich mit dem Salzburger Händler Schwarz in Verbindung setzte, da er ein geborener Irrsdorfer war und mit den Geistlichen gut stand, allein jetzt änderten die Bauern ihren Sinn und wollten die Türe nicht hergeben, obwohl ich ihnen viel Geld und obendrein eine Kopie antrug. Alles, was ich bei ihnen erreichte, war, einen Gipsabguss abnehmen

30 E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S. 145. 31 Beim Verkauf von kirchlichen Kunstgegenständen kam bereits seit 1893 ein kirchliches Verbot hinzu, dass jedoch in der Praxis oft ignoriert wurde (Vgl. E. Frodl-Kraft: Gefährdetes Erbe, S. 30, Fußnote 85.) 32 Zur Beschreibung und Funktion der Kreuzensteiner Burgkapelle vgl. A. Nierhaus: Rekonstruiertes Mittelalter, S. 50–52.

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Jürgen Rath zu dürfen, nach welchem einer meiner Bildhauer ein genaues Faksimile dieser schönen Türe aus altem Eichenholz des Rohrwaldes anfertigte.“33

Bezeichnend an der eben zitierten Stelle erscheint Wilczeks fast manische Obsession für das begehrte Objekt, die sich insbesondere darin zeigt, dass die Dimensionen der Türöffnung auf das gotische Original abgestimmt wurden. Weiters auffällig ist, dass der Sammler eindeutig strategisch vorging und seine persönlichen Kontakte zur Erreichung seines Ziels einsetzte. Doch auch der vom Grafen eingesetzte Mittelsmann hatte keinen Erfolg. In der Schilderung der Ereignisse inszeniert sich Wilczek wieder auffällig als Wohltäter, indem er seine Bereitschaft, viel Geld für das Objekt auszugeben und darüber hinaus auch eine Kopie anfertigen zu lassen, deutlich betont. Während Wilczek in der Regel danach trachtete, Kopien in seiner Sammlung zu vermeiden und möglichst Originale zu erwerben, musste er sich in diesem Fall mit einer Nachahmung zufrieden geben. Speziell beim Kauf von Sakralgegenständen zeigt Wilczek Verständnis für den kultischen Gebrauch der Gegenstände34 und war um eine für die Gläubigen annehmbare Lösung bemüht, die Erwerbungsgeschichte eines Kelches aus der Kreuzensteiner Sakristei zeigt dies deutlich: „Den Prachtkelch in der Sakristei bekam ich durch Pfarrer Kreißl in Magersdorf, der früher Kooperator in Harmannsdorf war, und es erwirkte, dass seine Gemeinde ihn mir im Tauschwege gegen eine Statue der Mutter Gottes von Lourdes nebst einer entsprechenden Summe Geldes überließ.“35

Dieses Zitat ist nicht nur ein interessantes Zeugnis für die Marienfrömmigkeit des 19. Jahrhunderts, es zeigt auch Wilczeks guten Kontakt zur örtlichen Geistlichkeit, die in diesem Fall sogar zum Komplizen des Sammlers wird, indem sie ihm den Erwerb des Kelches durch die Kommunikation mit der Pfarrgemeinde wesentlich erleichtert. Wilczeks Selbstverständnis ist ohne Zweifel das eines 33 E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S. 145–146. 34 Wilczek war in der Regel bemüht, die erworbenen Sakralgegenstände ihrer Funktion entsprechend zu verwenden, sie wurden fast durchwegs zur Ausstattung der Burgkapelle der Kreuzensteiner Anlage eingesetzt. Eine Ausnahme stellt lediglich der Kreuzgang aus Kaschau dar, der als quasiprofaner Arkadengang Verwendung findet. Eine generelle Profanierung von Sakralgegenständen oder gar deren Fetischisierung wie sie bei der bereits mehrfach erwähnten Romanfigur Des Esseintes zu beobachten ist, fehlt bei Wilczek gänzlich. 35 E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S. 167–168.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane gläubigen katholischen Adeligen, dies zeigt sich in der eben zitierten Passage, aber auch in einer weiteren, die ebenfalls vom Erwerb eines Kunstgegenstandes berichtet, der sich heute in der Kreuzensteiner Sakristei befindet. Wilczek schildert darin, wie er auf die Bitte des Salzburger Erzbischofs hin auf einen bereits erworbenen Kirchenstuhl verzichtet: „In der Sakristei befindet sich auch ein stattlicher Kasten, der laut Inschrift beinahe in die Mitte des XV. Jahrhunderts zurückreicht. Er stand in der Leonhardskirche zu Tamsweg. Als ich den Handel abschloss, erwarb ich auch einen sehr schönen, ebenso alten Kirchenstuhl aus derselben Kirche. Beide Stücke hatte die Gemeinde dem Salzburger Händler Swatek verkauft, den Kasten hatte er bereits nach Salzburg transportieren lassen, und so konnte ich ihn, als ich ihn erwarb, ohne weiteres nach Kreuzenstein bringen lassen; als aber der Fürsterzbischof von Salzburg von der Sache hörte, bat er mich eindringlichst, mein gutes Recht auf den Kirchenstuhl aufzugeben und ihn in der Kirche zu belassen, was ich auch tat.“36

Der Adelige zeigt hier also Respekt gegenüber der kirchlichen Hierarchie. Eine weitere Passage aus seinen Erinnerungen, die vom Erwerb eines Ölbergreliefs berichtet, schildert hingegen sehr anschaulich den Interessenkonflikt von Sammler und den Gläubigen, die das Kunstwerk nicht als Kunstwerk sondern als Objekt religiöser Praxis sehen: „Die Figuren gehören zu den größten, die zu der damaligen Zeit in Terrakotta gemacht wurden. Er [der „Ölberg“, Anm. J. R.] war im Besitze eines Bauern in Freistadt, den ich auf dem Felde aufsuchte, um den Handel abzuschließen. Anfangs hatte er Bedenken, denn ein anständiger Bauer verkaufe so etwas nicht, wie er sagte, aber im Tausch gegen fromme Sachen tue er es wohl. Ich versprach ihm eine schöne große Figur der Mutter Gottes von Lourdes und gab ihm obendrein noch 200 Gulden, um heilige Messen lesen zu lassen. Da sich dieser Handel auf freiem Felde in Gegenwart anderer Arbeiter abspielte, erklärte ihnen mein Bauer, er sei auf den Verkauf nur deshalb eingegangen, um Gottes Segen für sie zu erwirken.“37

Dass der Sammler den Bauer auf dem Feld bei der Arbeit aufsucht, ist wieder ein Indiz für die eindeutig exzessive Note des Sammelns bei Wilczek. Sicherlich wäre der Handel auch erfolgreich abgeschlossen worden, wenn der Graf den Mann nach seiner Arbeit aufgesucht hätte, doch Geduld zählte in dieser Sache sicherlich nicht zu seinen Stärken. Außerdem hätte weiteres Zögern mögli-

36 Ebd., S. 168. 37 Ebd., S.174–175.

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Jürgen Rath cherweise dazu geführt, dass andere Sammler ihm zuvorkommen. Wieder erscheint Wilczeks Einfühlungsvermögen in den jeweiligen potentiellen Verkäufer bemerkenswert, sofort weiß er was diesen umstimmen könnte. Erneut erweist sich die Madonnenstatue von Lourdes als „Joker“ Wilczeks, man könnte fast vermuten, dass er ein ganzes Arsenal davon besessen hat. Dass er dem Bauer mit dem Geldbetrag die Möglichkeit eröffnet, eine Messe lesen zu lassen, geschieht hingegen wohl weniger aus Berechnung, als vielmehr aus der Sensibilität des gläubigen Adeligen für die einfache Volksfrömmigkeit. Während die letzten Passagen erahnen lassen, dass die erworbenen Sakralgegenstände dem Grafen auch als Symbole seiner katholischen Identität dienten, so sei abschließend als Gegenpol eine Episode erzählt, die ein ganz anderes Licht auf die Persönlichkeit des Grafen wirft. Wilczek gibt zwar kein Jahr für das Ereignis an, aus verschiedenen Angaben kann man jedoch schließen, dass es sich um ein Jugenderlebnis handelt. Gemeinsam mit befreundeten Adeligen unternahm er eine archäologische Untersuchung, deren äußere Umstände den alten Grafen noch zum Zeitpunkt der Erzählung sichtlich belasten: „Mit den Colloredos leistete ich auch in Sierndorf einmal eine große Erforschungsarbeit, die noch heute mein Gewissen belastet. Die alte gotische Schlosskirche, die einen der schönsten Altäre aus der Frührenaissance besitzt, auf den von zwei Oratorium-Emporen die Steinbüsten der Familie Zelking herabblicken, hatte offenbar unter dem Hochaltar eine Gruft. Die Hoffnung, kostbare Funde aus der Zelkingerzeit zu machen, verleitete uns, in diese Gruft einzubrechen, allein wir fanden in dem geräumigen Gewölbe nur viele kupferne Särge mit unleserlichen Aufschriften, in denen Mitglieder der Familie Herberstein lagen. Unser sträfliches Interesse ging so weit, dass wir die bedeutendsten dieser Särge aufmeißelten und darin herumwühlten. Die Feuchtigkeit hatte leider alle Stoffe bis zur Unkenntlichkeit zerstört; wir fanden weder Schmuck noch Waffen, und ich nahm nur ein Paar Schuhe und eine Perücke aus dem Beginne der Allonge-Perückenzeit mit. Unsere Hände waren von dem noch immer Fett enthaltenden Leichenstoff so imprägniert, dass wir ihn trotz Seife und Lauge tagelang nicht loswerden konnten. Um unser Gewissen wenigstens einigermaßen zu beruhigen, schlossen wir die Särge so gut als möglich, zogen sie heraus, stellten sie reihenweise um den Hochaltar herum und der Pfarrer las eine heilige Messe für die Verstorbenen, deren Ruhe wir so arg gestört hatten.“38

Was sich zunächst nach einem kleinen Abenteuer einer übermütigen Jeunesse dorée anhört, erhält bald eine Dimension, die man

38 E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S. 155–156.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane zunächst sicherlich nicht erwartet hat. Auf das für den Adelstand so wichtige Geschlechtergefühl wurde bereits hingewiesen und die Erforschung einer Gruft der Familie der Herberstein ist sicherlich durch dieses die einzelnen Adelsgeschlechter verbindende Identitätsgefühl erklärbar. Als die jungen Adeligen jedoch in der Gruft stehen und ihre Erwartungen auf kostbare Schätze zunächst enttäuscht sehen, nimmt das Ereignis eine zweifellos dramatische Wendung. Das Aufbrechen der Särge ist eindeutig eine Störung der Totenruhe und hat in der Regel bis zum heutigen Tage auch strafrechtliche Folgen. Offensichtlich hatten die übermütigen jungen Adeligen in ihrer obsessiven Suche nach historischen oder kunsthistorischen Gegenständen die Konsequenzen zu wenig überdacht, doch noch während der ganzen Aktion wird den jungen Leuten bewusst, welche schlimme Tat sie begangen haben. Wenngleich Wilczek das Geschehene im Nachhinein bereut, so ist es doch erstaunlich, dass die Obsession des Sammlers so stark ist, dass er wider besseres Wissen persönliche Gegenstände aus dem Grab des toten Adeligen entnimmt. An Stellen wie diesen wird das Obsessive bzw. Exzessive an Wilczeks Sammelverhalten sehr deutlich zum Ausdruck gebracht.39 Mit der Störung der Totenruhe haben die jungen Männer ein allgemein gültiges Gesetz gebrochen. Sehr bezeichnend erscheint die darauffolgende Aktion, die man als eine Art Sühnehandlung interpretieren könnte: Die Adeligen lassen eine Messe für die Toten lesen, der die Messe lesende Priester wird dadurch zum Mitwisser und zum Komplizen. Fassen wir also Wilczeks Aussagen zu seinem Selbstverständnis als passionierten (und gelegentlich exzessiven) Sammler von Kunstgegenständen zusammen, so zeigt sich folgendes Bild: Seine ausgeprägte Reisefreudigkeit, ein hervorragendes Netzwerk an sozialen Kontakten sowie sein immenser Reichtum erleichterten dem Grafen den Aufbau seiner umfangreichen Sammlung erheblich. Hinzu kommt eine Eigenschaft der Persönlichkeit des Grafen hinzu, die in den zitierten Textpassagen deutlich zum Ausdruck gekommen ist und sich am besten als eine Art „Jagdinstinkt“ auf der Suche nach seltenen und außergewöhnlichen Stücken für seine Sammlung charakterisieren lässt.40

39 Es erscheint erstaunlich, dass die eben zitierte Stelle, die ja ursprünglich nur für die engere Familie Wilczeks bestimmt war, in der Drucklegung des Buches von 1933 veröffentlicht wurde. Möglicherweise entschloss sich Wilczeks Tochter die Stelle doch zu veröffentlichen, da ihr Vater rückblickend seine „Jugendsünde“ eindeutig bereut. 40 Hier lässt sich durchaus eine Parallele zur Jagd ziehen, so ist die Jagdleidenschaft des Adels aber auch die des Kaiserhauses in der Habsbur-

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Jürgen Rath Die Sammlung selbst ist schließlich als eine Art idealisierte mittelalterliche Gegenwelt deutbar, die dem Adeligen als Projektionsfläche seines eigenen Standes diente. Die erhebliche Anzahl an sakralen Kunstgegenständen in der Sammlung Wilczeks lässt sich einerseits damit erklären, dass ein Großteil der mittelalterlichen Kunst eben der Sakralkunst zuzurechnen ist, zum anderen zeigt sich aber bei Wilczek deutlich darin auch eine Möglichkeit, sein Selbstverständnis als katholischer Adeliger auszudrücken.

3 Exzessives Sammelverhalten am Beispiel des Linzer Domkapitulars Friedrich Pesendorfer (1867–1935) Bevor nun ein Vertreter des katholischen Klerus aus dem Kreis der Sammler näher vorgestellt wird, muss eine kurze Bemerkung vorausgeschickt werden. Wenngleich der vorliegende Aufsatz von einer prinzipiellen Vergleichbarkeit der Lebensführung von Adel und Klerus ausgegangen ist, so muss dennoch festgehalten werden, dass für die katholischen Priester eine wesentlich strengere Lebensführung vorgeschrieben war. Wie Monika Nickel anschaulich am Beispiel des bayerischen Raums aufgezeigt hat, gab es für den katholischen Klerus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhunderts einen äußerst rigorosen Verhaltenskodex der unbedingt einzuhalten war und so gut wie alle Lebensbereiche der Geistlichen regelte.41 Von daher muss das Sammeln als eine Facette der Lebensführung katholischer Geistlicher angesehen werden, die zumindest ein bedingtes Ausbrechen aus diesen strengen Vorschriften ermöglichte. Als Beispiel dient uns ein Priester der Diözese Linz, der

germonarchie hinlänglich bekannt. Hannes Stekl betont zu Recht die Bedeutung der „[…] Jagd in all ihren Facetten um die allein das Leben so manches Adeligen zu kreisen schien.“ (H. Stekl: Adel und Bürgertum, S. 106.) Es verwundert weiters nicht, dass ein erheblicher Teil der Erinnerungen Wilczeks seinen Jagderlebnissen gewidmet ist (Vgl. E. Kinsky-Wilczek: Hans Wilczek erzählt, S. 266–333.) 41 Über diesen m.E. noch immer bisher zu wenig erforschten Aspekt der Mentalitätsgeschichte vgl. bes. das Kapitel „Eine Zeitschrift von Priestern für Priester: Facetten priesterlicher Existenz: 1.6.7 Erscheinungsbild und Verhalten“, in: Monika Nickel: Die Passauer Theologisch-praktische Monatsschrift. Ein Standesorgan des bayerischen Klerus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Passau 2004 (Neue Veröffentlichungen des Instituts für ostbairische Heimatforschung der Universität Passau Bd. 53), S. 266–291.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane Domkapitular Friedrich Pesendorfer, der neben einer kunsthistorisch bedeutsamen Sammlung an religiösen Bildern auch eine umfangreiche Sammlung von Ansichtskarten und Fotografien unterschiedlichster Motive besaß.

3.1 B IOGRAFIE 42 Friedrich Pesendorfer wurde am 5. März 1867 als fünftes Kind von Franz und Emilie Maria Pesendorfer in Gmunden geboren. Er kam aus gutbürgerlichen Verhältnissen, sein Vater war Arzt, seine Mutter Hausfrau. Der Vater war als Obmann in mehreren katholischen Vereinen tätig, Kriemhild Pangerl charakterisiert ihn auch als überzeugten Befürworter der Monarchie. Die katholische Lebensführung prägte nicht nur Friedrich Pesendorfer, sondern auch seine Geschwister, zwei seiner Schwestern traten in Orden ein.43 Früh begann sich Pesendorfer für Literatur zu interessieren, seine ersten Schreibversuche in der Jugend bilden den Keim für seine spätere äußerst umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit.44 Nach der Matura 1886 besuchte Friedrich Pesendorfer in Linz die Bischöfliche Diözesan-Lehranstalt, um Theologie zu studieren, 1889 wurde er zum Priester geweiht, danach war er zunächst als Seelsorger in der Stadtpfarre Wels tätig. In diese Zeit fällt auch der Beginn der publizistischen Tätigkeit, 1894 gründete Pesendorfer auf Wunsch des damaligen Bischofs Doppelbauer die Linzer Dombauzeitschrift Ave Maria!.45

42 Für das Folgende (wenn nicht anders angegeben) vgl. Kriemhild Pangerl: »Friedrich Pesendorfer (1867–1935)«, in: Rudolf Zinnhobler (Hg.), Das Domkapitel in Linz (1925–1990), Linz: Selbstverlag der Diözese Linz 1992, S. 90–107. 43 Seinen Schwestern widmete Pesendorfer übrigens auch ein 1933 von ihm verfasstes Übersichtswerk über künstlerisch tätige Nonnen, ein Thema, das zur damaligen Zeit sicherlich ein Novum war. Das Buch zeigt Pesendorfer als unermüdlichen Sammler von Informationen und Bildern. (Vgl. Friedrich Pesendorfer: Künstlerinnen und Schriftstellerinnen im Nonnenkleide. Die Leistungen der katholischen Frauenklöster und Nonnen auf dem Gebiet der Wissenschaft und Künste, Linz: Katholischer Pressverein 1933.) 44 Zur Bibliographie Pesendorfers vgl. K. Pangerl: »Friedrich Pesendorfer«, S. 100–101. 45 Die Zeitschrift brachte neben ständigen Artikel über den Baufortschritt des zwischen 1862 und 1924 errichteten Neuen Domes in Linz auch Aufsätze moralischen oder belehrenden Inhalts, Gedichte und Reiseschilderungen (oft von Pesendorfer selbst). Bis 1918 erscheinen auch Kommentare über „Ereignisse beim in- und ausländischen Hochadel“ [!] sowie über „die Vorgänge in Weltpolitik“. (K. Pangerl: Friedrich Pesendorfer, S. 93.)

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Jürgen Rath 1896 wurde Pesendorfer Direktor der Pressvereinsdruckereien in Linz.46 Was seine Priesterlaufbahn betrifft, so war Pesendorfer ab 1897 Domprediger, eine Tätigkeit die er allerdings aus Gründen der beruflichen und gesundheitlichen Überlastung nur bis 1905 ausübte. Zwischen 1927 und 1929 war der Geistliche auch Dozent für kirchliche Kunst an der Theologischen Lehranstalt, ein Indiz dafür, dass man seinen Kennerschaft auf diesem Gebiet auch offiziell würdigte. Schon in den 90er Jahren des 19. Jahrhundert setzte Pesendorfers intensive Reisetätigkeit ein, die durch seine umfangreiche Postkartensammlung auch gut dokumentiert ist. 1923 wird der Priester Mitglied des Linzer Domkapitels, 1935 stirbt er in Linz.47

3.2 P ESENDORFERS B ILDERSAMMLUNG FÜR SEINE PUBLIZISTISCHE

UND IHRE

B EDEUTUNG

T ÄTIGKEIT

Die Sammlung des Priesters umfasste an die 100.000 „Bilder“, unter anderem Ansichtskarten, Wallfahrtsbilder, Kupferstiche (besonders aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts), Pergamentmalereien, Pergamentstiche, Spitzenbilder, Porträts und Handschriften und auch Scherenschnitte. Die Ansichtskarten zeigen Sujets aus allen Teilen Europas und wurden von Pesendorfer offensichtlich als Dokumente seiner intensiven Reisetätigkeit gehortet. Die anderen Bilder zeigen fast ausschließlich religiöse Ikonografie. Nach Pesendorfers Tod ging dieser Teil der Sammlung in den Besitz des OÖ. Landesmuseums über, wo sie heute einen wesentlichen Teil der Andachtsbilder ausmachen.48 Am 12. und 13. November 1921 veranstaltete der Christliche Volksbildungsverein im Redoutensaal in Linz eine Ausstellung mit dem Titel „Religiöse Kleinbilderkunst“ die einen kleinen Teil der Sammlung zeigte. Parallel dazu veröffentlichte Pesendorfer, in der Linzer Dombauzeitschrift Ave Maria! eine Serie über seine Bildersammlung. Nachdem er die wesentlichen Gruppen seiner Sammlung vorgestellt hat, schließt er mit folgenden Ratschlägen, die offensichtlich an die Leser und potenziellen Sammler gerichtet sind:

46 Der Katholische Pressverein war ein bereits seit 1869 bestehender, ökonomisch, rechtlich und finanziell unabhängiger politischer Verein, dessen Hauptaufgabe es zunächst war die konservative politische Tageszeitung, das Linzer Volksblatt, finanziell zu unterstützen. (Vgl. ebd.) 47 Vgl. ebd., S. 99–100. 48 Vgl. ebd., S. 96–97.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane „Dass eine solche Bildersammlung nicht das Werk einiger Wochen und Monate ist, sondern vieler Jahre, liegt klar auf der Hand. Das Sortieren allein erfordert jahrelange Arbeit. Ungezügelter Sammeleifer verleitete mich oft bis gegen Mitternacht zu arbeiten. Wer sich eine solche Bildersammlung anlegt, dem sei vor allem der Rat erteilt, dem Drange, gleich eine schön sortierte Sammlung vor sich zu haben, zu widerstehen und nicht gleich aufzukleben. Dies soll erst nach längerer Zeit geschehen, wenn eine große Sammlung vorhanden ist und ein gewisser Abschluss gemacht werden kann. Sonst hat man wieder den Ärger, dass man Bilder aufgeklebt hat, welche später in besseren oder schöneren Exemplaren gekommen sind usw. Viele kleben solche Sammlungen auf Blätter, die zu Büchern gebunden sind. Das halte ich nicht für praktisch. Ein einzelnes Blatt ist leicht entfernt, soll aber aus dem Buch ein Blatt herausgerissen werden, macht es schon viel Umstände. Kostbare Bilder werden mit Zwirn aufgenäht an den vier Ecken, ohne sie dabei zu durchstechen.“49

Pesendorfers Charakterisierung seines Sammelns als mühevolle Arbeit dient ihm ohne Zweifel als Legitimation einer Tätigkeit, die, wie wir gesehen haben, sehr bald ins Exzessive abgleiten kann. Der Geistliche dürfte sich dessen sehr wohl bewusst gewesen sein, wenn er bekennt, dass er zeitweise dem „ungezügelten Sammeleifer“ erlegen war. Die so verbrachten Nachtstunden können trotz der Anstrengung als willkommene Abwechslung im Alltagstrott priesterlicher Existenz gedeutet werden. Ebenfalls charakteristisch erscheint mir die in diesen Zeilen herauslesbare Angst vor der Abgeschlossenheit der Sammlung, die aus Sicht des pathologischen Sammlers nie erreicht werden kann und auch nicht erwünscht ist, paradoxerweise wird sie jedoch gleichzeitig herbeigesehnt. Neben seinen Selbstaussagen über das Sammeln ist auch die Inszenierung der Person Pesendorfers in seinem 1930 entstandenen Ex Libris aufschlussreich: Es zeigt den Geistlichen als schreibenden Mönch sitzend dargestellt in der Buchstabeninitiale des Anfangsbuchstaben seines Familiennamens.50 Die Stabilitas Loci des Mönchs gilt jedoch nicht für Pesendorfer. Wie bereits erwähnt, war der Priester weitgereist, in der Darstellung des Ex Libris deutet der Globus auf dem Schreibtisch darauf hin, außerdem zeigt der Scherenschnitt Ansichten von Jerusalem und New York, beide

49 Friedrich Pesendorfer: »Meine Bildersammlung«, in: Ave Maria! Illustrierte Monatshefte für Marienverehrung, Belehrung und Unterhaltung 30 (1923), S. 40. 50 Abgebildet in: K. Pangerl: Friedrich Pesendorfer, unpaginerte Seite zwischen S. 97 u. 98. Der ikonografische Typus folgt damit eindeutig jenem mittelalterlicher Buchmalerei. Die Idealisierung des Mittelalters lässt sich hier wieder als eine herbeigesehnte heile Gegenwelt deuten.

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Jürgen Rath Städte hatte Pesendorfer auch besucht.51 Doch zeigt das Ex Libris nicht nur die Motive der Fernreisen , drei Ansichten zeigen auch interessanterweise die Heimat unseres Priesters: Pesendorfers Geburtsort Gmunden (mit einer Ansicht von Schloss Orth) ist ebenso dargestellt wie der Linzer Dom (Pesendorfers Heimat als Priester und Domkapitular) sowie eine Ansicht des 1903 auf der Linzer Landstrasse errichteten neuen Druckhauses des Katholischen Pressvereines52, Pesendorfers publizistische und ideologische Heimat. Die Inschriften des Ex Libris schließlich nennen seinen Besitzer und seine Funktion (Domherr im Ruhestand), weisen aber auch explizit auf seine Bildersammlung hin, zusätzlich werden noch die Titel von vier Zeitschriften angeführt, die alle von Pesendorfer herausgegeben wurden. Das eben beschriebene Ex Libris ist daher ein in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzendes Dokument der Selbstinszenierung eines katholischen Klerikers, vergleichbar etwa mit der Bedeutung, die ein Adeliger seinem Familienwappen beimaß. Der von Pesendorfer geleitete Pressverein gab neben der bereits erwähnten katholischen Zeitung, dem Linzer Volksblatt, auch eine Reihe von katholischen Zeitschriften heraus, darunter die Dombauzeitschrift Ave Maria, das Kleine Ave Maria, eine Dombauzeitschrift für Kinder und die Theologisch-Praktische Quartalschrift. Pesendorfer war also auch ein Kämpfer für die katholische Presse und ein Gegner der liberalen. In der Dombauzeitschrift Ave Maria wurde ein Großteil seiner religiösen Bilder abgedruckt.53 Sie erfüllten somit auch einen wichtigen Zweck innerhalb der oberösterreichischen christlichen Publizistik. Auf der anderen Seite ließe sich Pesendorfers leidenschaftliches Sammelwerk mit aller gebotenen Vorsicht als visueller Entwurf einer Gegenwelt deuten, in der das Katholische noch die Oberhand hatte, während in der Realität die Säkularisierung in vollem Gange war.

51 Das „Heilige Land“ hatte der Priester sogar dreimal besucht, nämlich 1898, 1904 und 1910, eine ausgedehnte Amerikareise führte ihn 1926 auch nach New York. (Vgl. K. Pangerl: Friedrich Pesendorfer, S. 98–99.) 52 Abgebildet in: Oberösterreichischer Landesverlag (Hg.): Tradition als Verpflichtung, 350 Jahre Druckereigeschichte von Johann Planck zum Oberösterreichischen Landesverlag: Linz 1972, S. 69. 53 Neben diesen religiösen Sujets wurden in der Zeitschrift auch Pesendorfers Ansichtskarten und eine Reihe von fotografischen Scherzbildern (ebenfalls aus Pesendorfers Besitz) abgebildet. Insgesamt stellt die Sammlung ein interessantes Zeugnis für die Bildkultur einer konservativen katholischen Zeitschrift dar, die neben der Belehrung auch in erster Linie der Unterhaltung dienen sollte.

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane

4 Resümee Die Betrachtung des Lebens der beiden Sammler, des Adeligen Johann Nepomuk Hans Wilczek und des 30 Jahre später geborenen Weltpriesters Friedrich Pesendorfer zeigte trotz der sehr unterschiedlichen Lebensläufe Parallelen in der Selbstdarstellung als Sammler. Als jeweilige Vertreter zweier besonderer elitärer Gruppen nutzten sie ihre Sammlung durchwegs sehr erfolgreich (aber möglicherweise auch teilweise unbewusst) um ihr in beiden Fällen vergangenheitsbezogenes Weltbild zum Ausdruck zu bringen. Dennoch waren beide Männer, trotz ihrer Neigung, mittels ihrer Sammlungen eine restaurative Gegenwelt zu inszenieren, keineswegs weltabgewandte Exzentriker wie die eingangs zitierte literarische Figur Des Esseintes. In den Sammlungsobjekten selbst konnte (zumindest teilweise) die Konstruktion katholischer Identität (die für den Priester wohl bedeutsamer war als für den Adeligen) nachgewiesen werden. Während Wilczek Originale und Kopien (letztere jedoch seltener) mittelalterlicher Kunstgegenstände sammelte, finden sich bei Pesendorfer vorwiegend Grafik aber auch zunehmend Reproduktionen.54 Das Exzessive an den beiden Sammlern jedoch tritt jeweils sehr unterschiedlich auf: Was Wilczek bei seinen „Beutezügen“ nach Kunstgegenständen äußerst lustvoll und leidenschaftlich auslebt und sich in seiner Tätigkeit durchaus mit dem Jagdwesen (eine gleichfalls für den Adel typische Lieblingsbeschäftigung) vergleichen lässt, drückt sich beim Priester Friedrich Pesendorfer etwas dezenter aus, ganz dem Verhaltenskodex seines Standes entsprechend. Das Exzessive spielt sich bei ihm im stillen Kämmerlein ab, während er spätabends seine Sammlung erweitert und begutachtet. Der Geistliche Pesendorfer tritt also in der Öffentlichkeit nicht als exzessiver Sammler auf, doch hat er seine Sammlung durch Abbildungen in zahlreichen katholischen Zeitschriften und anderen Publikationen – einer wahren Bilderflut gleich – öffentlich gemacht. Dabei handelt es sich letztendlich also um eine exzessive Zurschaustellung der Sammlung, nicht aber des Sammlers.

54 Hervorzuheben ist der hohe Anteil an Fotografien, Pesendorfer setzte also sehr bewusst auf das damals noch relativ junge Medium. Medial gesehen ist die Sammlung des Grafen eine Sammlung von Kunstgegenständen, die Pesendorfers entspricht hingegen eher einem Bildarchiv.

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Jürgen Rath

Literaturverzeichnis Frodl, Walter: Idee und Verwirklichung. Das Werden der staatlichen Denkmalpflege in Österreich, Wien, Köln, Graz: Böhlau 1988. Frodl-Kraft, Eva: Gefährdetes Erbe. Österreichs Denkmalschutz und Denkmalpflege 1918–1945 im Prisma der Zeitgeschichte, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1997. Huysmans, Joris-Karl: Gegen den Strich, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1992 (übersetzt und herausgegeben von Walter Münz und Myriam Münz). Kinsky-Wilczek, Elisabeth (Hg.): Hans Wilczek erzählt seinen Enkeln Erinnerungen aus seinem Leben, Graz: Leykam 1933. Montroni, Giovanni: »Der Adlige«, in: Ute Frevert, Heinz-Gerhard Haupt (Hg), Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/ Main, New York: Campus 1999, S. 324–341. Nickel, Monika: Die Passauer Theologisch-praktische Monatsschrift. Ein Standesorgan des bayerischen Klerus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, Passau 2004 (Neue Veröffentlichungen des Instituts für ostbairische Heimatforschung der Universität Passau Bd. 53). Nierhaus, Andreas: Rekonstruiertes Mittelalter. Der Wiederaufbau von Burg Kreuzenstein 1874–1906, Wien, unveröffentlichte Diplomarbeit, Geistes- und kulturwissenschaftliche Fakultät Universität Wien 2002. Oberösterreichischer Landesverlag (Hg.): Tradition als Verpflichtung, 350 Jahre Druckereigeschichte von Johann Planck zum Oberösterreichischen Landesverlag: Linz 1972. Pangerl, Kriemhild: »Friedrich Pesendorfer (1867–1935)«, in: Rudolf Zinnhobler (Hg.), Das Domkapitel in Linz (1925–1990), Linz: Selbstverlag der Diözese Linz 1992, S. 90–107. Auch als Pdf im Internet: http://www.ooegeschichte.at/uploads/ tx_iafbibliografiedb/nadl_1987_88_0090_107.pdf vom 17. April 2009. Pesendorfer, Friedrich: »Meine Bildersammlung«, in: Ave Maria! Illustrierte Monatshefte für Marienverehrung, Belehrung und Unterhaltung 30 (1923), S.40. Ders.: Künstlerinnen und Schriftstellerinnen im Nonnenkleide. Die Leistungen der katholischen Frauenklöster und Nonnen auf dem Gebiet der Wissenschaft und Künste, Linz: Katholischer Pressverein 1933. Rességuier, Alfred Johannes: »Hans Graf Wilczek. Ein Blatt der Erinnerung«, in: E. Kinsky-Wilczek, Hans Wilczek erzählt seinen

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Sammelnde Edelleute und Sammler in Soutane Enkeln Erinnerung aus seinem Leben, Graz: Leykam 1933., S. V–X. Stagl, Justin: »Homo Collector: Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns«, in: Assmann, Aleida/Gomille, Monika/Rippl, Gabriele (Hg.), Sammler – Bibliophile – Exzentriker, Tübingen: Narr 1998, S. 37–54. Stekl, Hannes, Adel und Bürgertum in der Habsburgermonarchie 18. bis 20. Jahrhundert, München: Oldenbourg 2004.

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Wenn Gott sein Maß verliert

Ausschweifung und Maßlosigkeit. Eine neutestamentliche Bildergalerie1 MICHAEL ZUGMANN

Dass Exzess, Ausschweifung und Maßlosigkeit für christlich bzw. katholisch Sozialisierte einen negativen Beiklang haben, nimmt nicht wunder. Der Katechismus der Katholischen Kirche bespricht neben den göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe (Nr. 1812–1829) auch die menschlichen Tugenden (Nr. 1803–1811), besonders die vier Kardinaltugenden als „Angelpunkte des sittlichen Lebens“ (Nr. 1805): Klugheit (Nr. 1806), Gerechtigkeit (Nr. 1807), Tapferkeit (Nr. 1808) und Mäßigung (Nr. 1809).2 Mäßigung ist nach dem Katechismus jene sittliche Tugend, „[…] welche die Neigung zu verschiedenen Vergnügungen zügelt und im Gebrauch geschaffener Güter das rechte Maß einhalten lässt. Sie sichert die Herrschaft des Willens über die Triebe und lässt die Begierden die Grenzen des Ehrbaren nicht überschreiten.“3 Den Tugenden werden die Laster gegenübergestellt, vor allem die (sieben) Hauptsünden: Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Trägheit (Überdruss) (Nr. 1866).4

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Der vorliegende Artikel ist die leicht erweiterte Fassung meines Vortrags mit demselben Titel, den ich am 19. April 2008 im Rahmen des Studientags „Exzess“ an der KTU Linz gehalten habe. Kollegen Andreas Telser danke ich herzlich für die intensiven, ertragreichen Vorgespräche und die gelungene „Doppel-Conference“. Seine Ausführungen schlossen sich großteils an das 4. Bild und das 5. Bild meiner „Bildergalerie“ an. Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München: Oldenbourg Verlag 1993, Dritter Teil: Das Leben in Christus, Artikel 7: »Die Tugenden« (Nr. 1803–1845). Ebd., S. 478 (Nr. 1809). Vgl. ebd., Artikel 8: »Die Sünde« (Nr. 1846–1876).

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Michael Zugmann

1. Bild: „Werke des Fleisches“ und „Frucht des Geistes“. Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament Exzess, Ausschweifung und Maßlosigkeit haben aber nicht nur angesichts des Katechismus einen „anrüchigen Klang“, sondern auch angesichts ähnlicher Auflistungen von Tugenden und Lastern, der sogenannten Tugend- und Lasterkataloge, im Neuen Testament, vor allem in der neutestamentlichen Briefliteratur.5 Paulus etwa stellt im Galaterbrief den Adressaten seines Schreibens die „Werke des Fleisches“6 in einem Lasterkatalog (Gal 5,19–21) und dazu im Kontrast die „Frucht des Geistes“ in einem Tugendkatalog (Gal 5,22–23) vor Augen:7 19 Die Werke des Fleisches (ta. e;rga th/j sarko,j) sind deutlich erkennbar: Unzucht (pornei,a), Unsittlichkeit (avkaqarsi,a), ausschweifendes Leben (avse,lgeia), 20 Götzendienst (eivdwlolatri,a), Zauberei (farmakei,a), Feindschaften (e;cqrai), Streit (e;rij), Eifersucht (zh/loj), Jähzorn (qumoi,), Eigennutz (evriqei/ai), Spaltungen (dicostasi,ai), Parteiungen (ai`re,seij), 21 Neid und Missgunst (fqo,noi), Trink- und Essgelage (me,qai( kw/moi) und ähnliches mehr.

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Vgl. als Beispiele für Tugendkataloge Eph 4,2–3; 4,32–5,2; 5,9; Kol 3,12– 14; 1Tim 6,11; 2Tim 2,22; 1Petr 3,8; 2Petr 1,5–7; für Lasterkataloge Röm 1,29–31; 13,12–13; 1Kor 6,9–10; Eph 5,3–6; 1Tim 1,8–11; 1Petr 4,3; Offb 22,15. Vgl. als „Klassiker“ Anton Vögtle: Die Tugend- und Lasterkataloge im Neuen Testament exegetisch, religions- und formgeschichtlich untersucht (Neutestamentliche Abhandlungen 16/4–5), Münster: Aschendorff 1936; ders.: »Tugendkataloge«, in: Josef Höfer/Karl Rahner (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche X, 2. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg/Breisgau 1957, Sp. 399–401; ders.: »Lasterkataloge«, in: Josef Höfer/Karl Rahner (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche VI, 2. völlig neu bearb. Aufl., Freiburg/Breisgau 1961, Sp. 806–808. Der „Fleisch – Geist – Gegensatz“ bedeutet bei Paulus keine grundsätzliche Leibfeindschaft, vgl. dazu die Ausführungen zu „Soma“ (Leib/Leiblichkeit) und „Sarx“ (Fleisch/Fleischlichkeit) bei Udo Schnelle: Paulus. Leben und Denken, Berlin, New York: de Gruyter 2003, S. 565–571, bes. S. 570: „Eine ausgesprochen negative Konnotation erhält sa,rx dort, wo Paulus den aus sich selbst lebenden und auf sich vertrauenden Menschen dem Bereich des Fleisches zurechnet. […]. Der sarkische Mensch ist gekennzeichnet durch Selbstbezogenheit und Selbstgenügsamkeit, er baut auf seine eigenen Fähigkeiten, macht seine Erkenntnis zum Maßstab des Vernünftigen und Wirklichen.“ Vgl. ausführlich zur Gliederung und Kommentierung Franz Mussner: Der Galaterbrief, Freiburg/Breisgau, Basel, Wien: Herder 1974, S. 379–391.

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Ausschweifung und Maßlosigkeit Ich wiederhole, was ich euch schon früher gesagt habe: Wer so etwas tut, wird das Reich Gottes nicht erben. 22 Die Frucht des Geistes (karpo.j tou/ pneu,mato,j) aber ist Liebe (avga,ph), Freude (cara.), Friede (eivrh,nh), Langmut (makroqumi,a), Freundlichkeit (crhsto,thj), Güte (avgaqwsu,nh), Treue (pi,stij), 23 Sanftmut (prau