Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien: Immersive Technologien und virtuelle Welten: Grundlagen, Status quo, Ein- und Ausblicke (German Edition) [1. Aufl. 2023] 3658424400, 9783658424404

Dieses Buch gibt einen grundlegenden und holistischen Überblick über die Extended-Reality-Branche (XR) in Deutschland. X

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Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien: Immersive Technologien und virtuelle Welten: Grundlagen, Status quo, Ein- und Ausblicke (German Edition) [1. Aufl. 2023]
 3658424400, 9783658424404

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1 VR to XR – von digitalen immersiven Realitäten zur Digitalität
1.1 AR, VR, MR, XR – alles digitale Realitäten?
1.2 Der Hypecycle der digitalen Realitäten
1.3 Web3
1.4 Web 4.0
1.5 Mit dem „Digitalen Zwilling“ zum „Citiverse“
1.6 Vom Beta- zum Metaverse
1.7 Die Digitalität
Literatur
2 Realität (be)greifen mit XR
3 „XR funktioniert auch ohne Vernetzung“
4 Nachhaltiger Einsatz immersiver Medien in Unternehmen
4.1 Immersive Medien im Recruiting-Prozess
4.2 XR als Antwort auf den Fachkräftemangel
4.3 Unfallverhütung durch XR-Technologien
4.4 Planung von Bauprojekten
4.5 Umfassende Strategie notwendig
4.6 Nachhaltiges Leben mit XR-Technologien
Literatur
5 „Mehr Akzeptanz und Nachwuchs für Extended Reality (XR)“
6 Extended Reality (XR) für Wissenstransfer und Ausbildung
7 „In Zukunft werden wir vermehrt mit der XR-Technologie leben, arbeiten, und kommunizieren“
8 XR + Kommunikation
8.1 Studien sehen viel Potenzial, aber eine noch geringe Nutzung
8.2 Anwendungsbeispiele in der Unternehmenskommunikation
8.2.1 Interne Kommunikation mit Change Communication
8.2.2 Externe Unternehmenskommunikation mit Corporate Social Responsibility
8.3 Marketing
Literatur
9 Digitalität – global, relevant und praxisnah
10 „Das größte Potential liegt in Anwendungen, bei denen der Mensch im Zentrum steht“
11 Wie digital „muss“ oder „sollte“ Lehre an Schulen sein?
12 Technology – Aesthetics of Game/Play – Impact: Transdisziplinäre Forschungsprojekte
12.1 Das Institut
12.2 XR zur Wissens- und Kulturvermittlung
12.2.1 Virtual Bauhaus
12.2.2 VR-Zeitreise im Deutschen Museum Nürnberg
12.2.3 Borderzone
12.2.4 Goethestraße 56
12.3 XR als unmittelbare Schnittstelle zu Körper und Geist
12.3.1 Airtime VR
12.3.2 Fear//Anxiety
12.4 XR als Gamedesign
12.4.1 Local Paper Small Town
12.4.2 Maschinenklangwerk
12.5 Ausblick
Literatur
13 „Ich erhoffe mir eine XR-Brille, die so selbstverständlich werden könnte wie das Smartphone“
14 „Paradigmenwechsel in der Verlagslandschaft und den Magazinen“
15 Extended Reality (XR) in der Kreativwirtschaft
16 Beyond the Metaverse
16.1 Magic Objects
16.2 Doppelte Relevanz
16.3 Was noch fehlt
16.4 Digitale Infrastruktur
17 „Kooperation und Austausch sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren“
18 Immersive Technologien im deutschen Gesundheitswesen
18.1 Technologie
18.2 Gesundheitswesen
18.3 Gesellschaft
18.4 Lösungsbeispiele mittels Virtual Reality (VR)
18.5 Lösungsbeispiele mittels Augmented Reality (AR)
18.6 Fazit und Ausblick
Literatur
19 Extended Reality in Lehre und Forschung
20 „Die wichtigste Komponente für eine erfolgreiche Digitale Transformation ist der Mensch“
21 Augmented Reality und Journalismus
21.1 Hintergrund
21.2 Definitionen
21.3 Die vier Phasen der Entwicklung von Augmented Reality und Journalismus
21.3.1 Phase 1: Hoffnung
21.3.2 Phase 2: Aufbruch
21.3.3 Phase 3: Ernüchterung
21.3.4 Phase 4: Neue Hoffnung
21.4 Zusammenfassung
21.5 Ausblick
Literatur
22 Blockchain und das Metaverse
23 VR und Kunst
24 Virtual Life(style)
24.1 Metaverse: Hintergrund, Herkunft und Status Quo
24.2 Extended Realities: Schlüsseltechnologien des Metaverse
24.3 Menschliche Bedürfnisse im Fokus des Metaverse
24.4 Auswirkungen auf den virtuellen Lebensstil
24.4.1 Avatare, die Leinwand unserer virtuellen Identität
24.4.2 Social Spatial Communication
24.4.3 Virtuelle Entertainment und Eventkultur
24.4.4 Konsum und Kreation: Wertschöpfung in der Direct-2-Avatar-Ära
24.5 Fazit und Ausblick
Literatur

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Bolela Likafu Christian Malterer   Hrsg.

Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien Immersive Technologien und virtuelle Welten: Grundlagen, Status quo, Ein- und Ausblicke

Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien

Bolela Likafu · Christian Malterer (Hrsg.)

Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien Immersive Technologien und virtuelle Welten: Grundlagen, Status quo, Ein- und Ausblicke

Hrsg. Bolela Likafu a1-consulting GbR Berlin, Deutschland

Christian Malterer Mediadesign Hochschule MD.H Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-658-42440-4 ISBN 978-3-658-42441-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Imke Sander Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Vorwort

Extended Reality (XR) ist eine Zukunftstechnologie, welche über die letzten Jahre zunehmend über den Einsatz von Virtual- und Augmented-Reality-Anwendungen an Bedeutung gewonnen hat und in einer Vielzahl von großen Unternehmen in unterschiedlichsten Szenarien, Produktentwicklung, Mitarbeitertrainings, Geräte-Fernwartung, aber auch Sales und Marketing, sowie vereinzelt in HR-Abteilungen etc. eingesetzt wird. XR ist hierbei ein Überbegriff aller immersiven Technologien, welche computergenerierte Umgebungen und Objekte erstellen und diese mit unserer realen Welt austauschen, beziehungsweise kombinieren. Diese Immersiven Technologien verknüpfen unsere Realität mit der digitalen Welt und werden in Zukunft für nahezu alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche interessant sein: Marketing, Medizin, Handel, Forschung, Bildung und Kultur – um nur einige zu nennen. An der Spitze stehen sicherlich aktuell unsere Medien, aber auch Arbeitsalltag und bald Umwelt und Städte. Unser aller Leben wird zunehmend digitaler. Mit neuen Extended-Reality-(XR)-Entwicklungen in Hard- und Software lassen sich diese digitalen Datenräume besuchen, gestalten und distribuieren.

V

VI

Vorwort

Das vorliegende Buch „Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien“ ist aus einer Initiative der Herausgeber entstanden, innerhalb der deutschen Immersive-Media-Branche einen offenen XR-Thinktank als dynamische Austauschgemeinschaft heterogener Akteure und Stakeholder ins Leben zu rufen. So war es möglich, neben technischen Aspekten und Grundlagen der Technologie, auch Stimmen aus Lehre und Forschung, verschiedenster Branchen wie Medien und Kreativwirtschaft sowie der Gesellschaft und Kunst zum Thema digital erweiterte Realitäten einzubinden. Ziel des Buches ist es, neben der Einordnung des Themas, seine Relevanz anhand von Fallstudien und Experteninterviews zu untermauern. Die Beitragsautoren und Interviewpartner wollen so den Wissenstransfer vorantreiben, um in einem breiten Diskurs Impulse für neue Geschäftsideen zu geben. Unser Dank gilt allen Autor*innen und Interviewpartner*innen, welche dieses Buch so zahlreich mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen unterstützt haben. Ohne ihre Offenheit und Professionalität wäre das Buchprojekt XR-Thinktank in dieser Form und Qualität nicht möglich gewesen. Wir möchten uns auch ganz besonders für die Arbeit und Unterstützung von Michael Homa (Mediadesign Hochschule, Berlin) und Sabine Plog (bin2design, Köln) bedanken, welche uns als XR-Thinktank Redaktion mit ihrer fachlichen Expertise unterstützten und so zum Gelingen des Projekts einen großen Beitrag geleistet haben natürlich. Wir möchten uns auch für die Arbeit unserer Lektorin, Imke Sander, sowie ihre Geduld und Unterstützung bedanken. Berlin Juli 2023

Bolela Likafu Christian Malterer

Inhaltsverzeichnis

1

VR to XR – von digitalen immersiven Realitäten zur Digitalität . . . . . . . . . . Christian Malterer

1

2

Realität (be)greifen mit XR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

13

3

„XR funktioniert auch ohne Vernetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

19

4

Nachhaltiger Einsatz immersiver Medien in Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . Susanne Ahmadseresht

25

5

„Mehr Akzeptanz und Nachwuchs für Extended Reality (XR)“ . . . . . . . . . . Bolela Likafu

37

6

Extended Reality (XR) für Wissenstransfer und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

45

7

„In Zukunft werden wir vermehrt mit der XR-Technologie leben, arbeiten, und kommunizieren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

51

8

XR + Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kaiser

57

9

Digitalität – global, relevant und praxisnah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

69

10 „Das größte Potential liegt in Anwendungen, bei denen der Mensch im Zentrum steht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu 11 Wie digital „muss“ oder „sollte“ Lehre an Schulen sein? . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

77 83

VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

12 Technology – Aesthetics of Game/Play – Impact: Transdisziplinäre Forschungsprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Bartholdy, Katharina Tillmanns, Jonas Zimmer, Chad Comeau und Isabel Grünberg 13 „Ich erhoffe mir eine XR-Brille, die so selbstverständlich werden könnte wie das Smartphone“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

91

115

14 „Paradigmenwechsel in der Verlagslandschaft und den Magazinen“ . . . . . Bolela Likafu

121

15 Extended Reality (XR) in der Kreativwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

127

16 Beyond the Metaverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Sorkin

133

17 „Kooperation und Austausch sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

145

18 Immersive Technologien im deutschen Gesundheitswesen . . . . . . . . . . . . . . . Petra Dahm

155

19 Extended Reality in Lehre und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

167

20 „Die wichtigste Komponente für eine erfolgreiche Digitale Transformation ist der Mensch“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

173

21 Augmented Reality und Journalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Till Krause

179

22 Blockchain und das Metaverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

191

23 VR und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bolela Likafu

203

24 Virtual Life(style) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Simon Graff

211

1

VR to XR – von digitalen immersiven Realitäten zur Digitalität Christian Malterer

Zusammenfassung

Die Grenzen unserer Welt erweitern sich zusehends ins „Digitale“. Was vor gerade einmal zehn Jahren als Hype der Virtual Reality (VR) begann, hat sich heute im Zuge des rasanten Ausbaus der Digitalisierung und des Internets in immersive digitale Realitäten weiterentwickelt. Dieser Beitrag versucht, über diese Entwicklungen hin zu Metaverse und Digitalität zu informieren und die Aufmerksamkeit auf aktuell relevante Entwicklungen zu lenken.

Digitale immersive Technologien sind mittlerweile fester Bestandteil der Arbeits- wie auch der Alltagswelt. Kein modernes Smartphone, das nicht mithilfe seiner Sensoren und Kameras unzählige Augmented Reality Apps oder Features unterstützt. Katzenohren und „Manga-Augen“ in Social-Media-Videos bis hin zu Location-based digitalen Pokémon und Zauberern wie in Harry Potter: Wizards Unite sind mehr oder weniger selbstverständlich geworden. Hinter Icons, Tags oder QR-Codes finden wir auf Messen und in Geschäften Gewinnspiele, Werbevideos oder auch den aktuell sichersten und schnellsten Rettungsweg aus der Shopping Mall. Bequem von der Couch aus ist es ohne Termin und Schlange stehen möglich, eine neue Mietwohnung zu besichtigen. Und selbst einrichten kann man diese dann später auch völlig virtuell, bevor man sich entscheidet und Möbel sowie Einrichtungsgegenstände online bestellt. C. Malterer (B) Mediadesign Hochschule Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_1

1

2

C. Malterer

Im Berufsleben schulen Unternehmen und Institutionen zunehmend ihre Mitarbeiter in interaktiven virtuellen Welten, lehren Problemlösung für kritische und gefährliche Situationen, um diese verständlicher zu machen. Vor fünf Jahren noch „spielerisch designed“, nach dem Vorbild Second Life, waren Virtual-Reality-Umgebungen wie World of Novartis im Bereich Human Resources und Schulungen kleine „beta“ Metaverse. Arbeitnehmer verbinden sich gemeinsam im mobilen Arbeiten oder mit Fachleuten auf der ganzen Welt in einer Weise, die beiden Seiten das Gefühl gibt, sich im selben, zugegebenermaßen virtuellen, Raum zu befinden. Heute, 2023, um nur ein Beispiel zu nennen, pflegen einige Unternehmen wie Alstom schon ein komplexes XR-Ecosystem mit der Alstom University und zahlreichen weiteren AR/ VR-Use-Cases. Doch was ist ein XR-Ecosystem? Löst die Extended Reality damit Virtual- und Augmented-Reality ab und was hat das Metaverse mit all dem zu tun? Welche Entwicklungen und Chancen sind in Zukunft zu erwarten? Wie immer hilft es auch an dieser Stelle, einen kleinen Schritt zurückzugehen.

1.1

AR, VR, MR, XR – alles digitale Realitäten?

AR, VR, MR, XR – alles digitale Realitäten? Diese vermeintlich unscheinbaren Kürzel sind oft inflationär und bisweilen „unscharf“ in Gebrauch, was ihre Verständlichkeit teils stark einschränkt. Es hilft, wenn man sich all diese „digitalen Realitäten“ auf einer Linie vorstellt, ähnlich der Darstellung des für den Menschen sichtbaren Anteils des elektromagnetischen Spektrums mit seinen Spektralfarben. In einer Reihe von Ultraviolet (Realiät) bis Infrarot (Simulierte Realität SR), finden sich hier dazwischen die Farben Blau, Grün, Gelb und so weiter, in Reihenfolge ihrer zunehmenden elektromagnetischen Wellenlänge. Analog ordnen sich unsere Begrifflichkeiten AR über MR und VR in Reihenfolge der Zunahme digitaler Inhalte und Abnahme des realen Anteils von links nach rechts in Leserichtung. In der Augmented Reality (AR) werden einzelne virtuelle Informationen und Objekte der realen Welt überlagert. Die reale Welt wird mit digitalen Details wie z. B. Icons, Text, kleinen Animationen überlagert, auf welche mittels AR-Brille oder über Bildschirme, Tablets und Smartphones zugegriffen wird. Der Benutzer ist dabei nicht von der realen Welt isoliert. Er kann mit anderen Menschen interagieren, sehen und hören, was sich vor ihm abspielt. AR-Anwendungen sind, wie eingangs erwähnt, mittlerweile sehr vielfältig und so weit verbreitet, dass es an vielen Stellen von Benutzern gar nicht mehr wahrgenommen wird, dass AR-Technologie überhaupt zum Einsatz kommt. In der Mixed Reality/Gemischten Realität (MR) existieren digitale und real existierende Objekte nebeneinander und können in Echtzeit miteinander interagieren. MR als erfahrbare „hybride“ Realität benötigt ein MR bzw. VR- Headset. Die HoloLens von Microsoft ist ein großartiges Beispiel dafür, dass man z. B. digitale Objekte in dem Raum,

1 VR to XR – von digitalen immersiven Realitäten zur Digitalität

3

in dem man steht, platzieren kann und die Möglichkeit hat, sie zu drehen oder auf jede erdenkliche Art und Weise mit dem digitalen Objekt zu interagieren. Virtual Reality (VR) auf der rechten Seite des Spektrums, lässt Benutzer im Gegensatz zur Augmented Reality vollständig in eine virtuelle digitale Umgebung eintauchen und hat – anders als AR – im Zweifelsfall gar nichts mehr mit der realen Welt zu tun. Wenn „Realität“ von Nöten ist, wird diese, Bild oder Ton, über Sensoren und Kameras digital in die virtuelle Umgebung zugespielt. Das, in der Regel, VR-Headset sorgt für eine 360-Grad-Ansicht einer künstlichen Welt, welche uns Inhalte vermittelt, als würden wir z. B. den Planeten Mars auf einer Mission erkunden, in die Tiefsee tauchen oder in neue Erzählwelten gleich Harry Potters Hogwarts eintreten. Was ist nun Extended Reality/Erweiterte Realität (XR)? Ursprünglich trat der Begriff XR teils in Konkurrenz zu Mixed Reality (MR) auf, da er sich stark auf eine Mischung von AR/VR bezog. Weit besser allerdings ist es, Extended Reality als Überbegriff, eine Art „Sammelbecken“ für alle repräsentativen Formen digitaler immersiver Technologien sowie deren zwischenliegende Bereiche „hybrider“ Realitäten zu begreifen. Extended Reality bezieht sich damit auf alle kombinierten realen und virtuellen Umgebungen und deren Mensch-Maschine-Interaktionen. Der Übergang zwischen Realität und virtueller Welt ist fließend, da man visuell, akustisch und teils auch haptisch in „beiden Welten“ agieren kann. Moderne VR-Headsets können durch Ihre Ausstattung mit einer Vielzahl an Sensorik und Kameras sowohl für VR- als auch AR/MR-Anwendungen eingesetzt werden, und entsprechen damit Extended-Reality(XR)-Anforderungen. Wenn man sich die Bedeutung dieser technologischen Entwicklungen und deren Chancen vor Augen führen möchte, ist es auch hilfreich, einen Blick in den vorausgegangenen hype cycle zu werfen. Dies ist ein Konzept, das von dem Beratungsunternehmen Gartner entwickelt wurde (Gartner, o. J.), um den Lebenszyklus und die Akzeptanz neuer Technologien, Produkte oder Ideen zu beschreiben. Es ist ein Modell, das den typischen Verlauf der öffentlichen Aufmerksamkeit und der Erwartungen an Innovationen darstellt. Ein Hypezyklus besteht immer aus folgenden vier bzw. fünf Phasen: • Technologie Trigger (Auslöser): Die erste Phase beginnt mit der Einführung einer neuen Technologie oder Idee. Dies kann durch bedeutende Durchbrüche, Innovationen oder bahnbrechende Entwicklungen geschehen. In dieser Phase sind die öffentliche Aufmerksamkeit und das Interesse oft gering, da die Technologie noch wenig bekannt ist. • Peak of Inflated Expectations (Gipfel der überzogenen Erwartungen, der Hype): Sobald die Technologie in den Fokus der Öffentlichkeit gerät, steigt das Interesse exponentiell an. Es entsteht ein regelrechter Hype, begleitet von überzogenen Erwartungen und optimistischen Prognosen über die Auswirkungen der Technologie auf die Gesellschaft und das Geschäftsleben.

4

C. Malterer

• Trough of Disillusionment (Tal der Enttäuschung): Wenn die Technologie die überzogenen Erwartungen nicht sofort erfüllen kann oder auf Hindernisse stößt, folgt eine Phase der Enttäuschung. Die Erkenntnis, dass die Technologie nicht alle Probleme lösen kann und mit Herausforderungen konfrontiert ist, führt zu einem Rückgang des Interesses und der Aufmerksamkeit. • Slope of Enlightenment (Anstieg der Erkenntnis): In dieser Phase werden die praktischen Anwendungsmöglichkeiten und echten Vorteile der Technologie besser verstanden. Unternehmen und Nutzer beginnen, die Technologie gezielter einzusetzen und realistische Erwartungen zu entwickeln. Neue Lösungsansätze und Verbesserungen führen zu einem gesteigerten Interesse an der Technologie. In dieser vierten Phasen kann es aber auch zu einem Rückfall auf Phase eins kommen und ein neuer Zyklus kann ausgelöst werden. Virtual Reality z. B. erfuhr in den 90er Jahren einen starken Hype. Selbst die Heimkonsolen-Giganten dieser Zeit, z. B. Sega und Nintendo, waren drauf und dran, in die VR-Start-ups der Zeit, wie Virtuality Group zu investieren. Allerdings konnten die Konzepte mit der damals vorhandenen Computerund Graphikkartentechnologie nicht mal ansatzweise für den Massenmarkt umgesetzt werden. • Das Ende eines Hypezyklus ist auf dem Plateau of Productivity (Plateau der Produktivität) erreicht: Hier erreicht die Technologie eine Stufe breiter Akzeptanz und Integration. Sie wird nun in verschiedenen Branchen und Anwendungsfeldern erfolgreich eingesetzt, und ihre Vorteile sind klar erkennbar. Damit kann die Technologie sich etablieren und zu einem festen Bestandteil des Alltags oder der Geschäftswelt werden. Dieses Modell hilft zu verdeutlichen, dass der Weg zur breiten Akzeptanz einer Innovation oft mit Höhen und Tiefen verbunden ist und dass Geduld und realistische Erwartungen während des Hypezyklus wichtig sind. Allerdings entwickeln sich Technologien nicht gänzlich unabhängig voneinander. Der Einfluss einer Basistechnologie, wie z. B. Künstlicher Intelligenz (KI) oder Blockchain (DLT Distributed-Ledger-Technologien) schaffen neue Anwendungsmöglichkeiten oder auch Grundlagen neuer Märkte.

1.2

Der Hypecycle der digitalen Realitäten

Vor gerade etwas mehr als zehn Jahren präsentierte John Carmack, Gründer und Lead Programmer von Id Software ein VR-Headset namens Rift auf der E3 Game Convention 2012 in Los Angeles. Mithilfe einer Kickstarter-Finanzierung von 2,4 Mio. US-Dollar veröffentlichte darauf im Frühjahr 2013 die Firma Oculus VR das erste Developer Kit der Oculus Rift VR-Brille. Nur ein knappes Jahr später, 2014, wurde Oculus VR von

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Facebook für mehr als 2 Mrd. US-Dollar (Facebook selbst korrigierte später die Meldung des Kaufpreises auf nahezu 3 Mrd. US$) aufgekauft. 2015 erreichte der Hype einen großen Teil des Mainstreams. Samsung brachte die VRHeadset-Lösung Samsung Gear für Smartphones auf den Markt, um eine noch breitere Masse an Kunden an das Medium VR/360Grad-Film heranzuführen, und natürlich seine eigene vorhandene Hardware vom Hype profitieren zu lassen. Mit dem Frühjahr 2016 kündigte sich eine neue Generation von VR-Brillen an. Mit dabei war HTCs RE-Serie, Teil des Valves Steam VR-Projektes. Wenn auch VR-Spiele zu dieser Zeit noch eine Seltenheit und einem sehr kleinen Kundenkreis zugänglich waren, gab es dennoch wenige Spiele im VR/AR-Kontinuum, welche eine derartige Aufmerksamkeit gewannen wie das im Juli 2016 veröffentlichte Pokémon Go. Insgesamt war 2016 ein sehr besonderes Jahr im Hypecycle durch die Präsentation der hochpreisigen und recht limitierten Hololense von Microsoft. Mit dieser Brille erreichte ein anderer Ansatz immersiver Technologien die Aufmerksamkeit der Medien. In „MixedReality“, nicht ganz Virtual Reality aber doch deutlich mehr als die bisherige Augmented Reality, „mischten“ sich digitale 3D-Elemente in die analoge Umgebung des Benutzers. Durch Gesten, Sprache und Knöpfchen gesteuert war diese MR-Brille ein wichtiger Prototyp für nachfolgende Entwicklungen. Zwischen 2016 und 2017 gab es dann nahezu keine Messe, gleichwelcher Industrie oder Branche, die sich nicht mit dem Thema oder der Technologie VR präsentierte. Bis Ende 2019 professionalisierte sich die Hard- und Software erheblich. VR-Brillen verlegten ihr Tracking und eigene Positionsbestimmung zunehmend von externen Sensoren auf die Brille selbst (Inside-Out) und es erschienen mit der Oculus Quest „tetherless“ (kabellose) Modelle mit weit größerer Bewegungsfreiheit auf dem Markt. Ein neuer Hype war geboren, als Mark Zuckerberg auf der Connect 2021, also während der Pandemie, Meta vorstellte. Er brachte damit viel Aufmerksamkeit auf den bisherigen Science-Fiction-Begriff Metaverse (Neil Stephenson, Snow Crash, 1992). Im Juni 2023 präsentierte Apple seine lang erwartete XR-Brille Vision Pro. Auch wenn vielerorts im Netz der hohe Preis kritisiert wurde, ist dieser doch sehr ähnlich der Microsoft Hololense (Development Edition) 2018. Man kann durchaus sagen, Preis und Name („Pro“) zeigen direkt, welche Zielgruppe Apple für sein Produkt vorschwebt. Vielversprechend ist das neue Produkt allemal, jedoch erst 2024 wird sich im Einsatz die Qualität der Graphik und Batterieleistung etc. testen lassen. Aber nicht nur die Hardware entwickelt sich leistungsstark weiter, sondern auch die Software. Und sicherlich die wichtigste (Meta)Applikation von allen ist das Internet selbst.

6

1.3

C. Malterer

Web3

Web3 ist eine Weiterentwicklung des Internets, die darauf abzielt, die traditionellen Einschränkungen des Internets zu überwinden und eine dezentralisierte, nutzerzentrierte und vertrauenswürdige Umgebung zu schaffen. Es stellt eine neue Vision für das Internet dar, in der Benutzer mehr Kontrolle über ihre Daten, Identität und Transaktionen haben. Im Gegensatz zum bisherigen Web 2.0, das von zentralisierten Plattformen und Unternehmen dominiert wird, basiert Web3 auf der Blockchaintechnologie und nutzt Smart Contracts, um eine dezentrale Infrastruktur zu schaffen. Blockchaintechnologie ermöglicht es, Daten transparent, fälschungssicher und offen zu speichern, wodurch das Vertrauen der Benutzer gestärkt wird. Damit eröffnen sich eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten, darunter Kryptowährungen, dezentrale Finanzen (DeFi), digitale Identitäten, digitale Kunst, dezentrale Marktplätze und vieles mehr. Es ermöglicht auch die Schaffung von sogenannten „DApps“ (dezentralen Anwendungen), die ohne zentrale Kontrolle ausgeführt werden können und die Interaktionen direkt zwischen den Benutzern ermöglichen. In Web3 steht die Souveränität der Benutzer im Vordergrund, da sie die volle Kontrolle über ihre Daten und Transaktionen haben. Im besten Fall verspricht das Web3-Modell, die Macht und die Gewinne, die bisher von großen Unternehmen gehalten wurden, auf die Nutzer zu verteilen und Monopolstellungen zu reduzieren. Obwohl Web3 noch in den Anfängen steckt und Herausforderungen zu bewältigen sind, gewinnt es zunehmend an Aufmerksamkeit und bietet eine vielversprechende Zukunft für das Internet, indem es ein offeneres, demokratischeres und sichereres Ökosystem schaffen könnte. Mit Web3 ist das „neue Internet“ auch dreidimensionaler geworden. Extended Reality hat in Form einer Vielzahl von Virtual-Reality-Anwendungen Einzug gehalten und die aktuell umfangreichsten Metaverse sind im Web3 zu finden.

1.4

Web 4.0

Web 4.0 ist wiederum eine andere Weiterentwicklung des Internets, die sich durch eine noch tiefgreifendere Integration von Technologien und Daten auszeichnet. Dieses Konzept baut auf den Grundlagen der vorherigen Entwicklungsstufen des Webs auf, darunter Web 1.0 (statisches Web), Web 2.0 (soziales Web) und Web 3.0 (semantisches Web). Mit Web 4.0 soll die Vision eines intelligenten, interaktiven und vernetzten Internets verwirklicht werden. Es zeichnet sich durch drei wesentliche Merkmale aus: • Internet der Dinge (IoT): Eine entscheidende Komponente von Web 4.0 ist das Internet der Dinge. Es ermöglicht die Vernetzung von physischen Geräten und Sensoren mit dem Internet, wodurch eine umfassende Erfassung von Daten in Echtzeit

1 VR to XR – von digitalen immersiven Realitäten zur Digitalität

7

ermöglicht wird. Dadurch entstehen innovative Anwendungsfelder, wie Smart Homes, Smart Cities und Industrie 4.0, in denen Geräte autonom agieren und miteinander kommunizieren können. • Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen: Web 4.0 wird von leistungsstarken KI-Algorithmen und maschinellem Lernen angetrieben, die es ermöglichen, Nutzerdaten und Verhaltensmuster besser zu analysieren und personalisierte Erfahrungen bereitzustellen. Intelligente Agenten und Chatbots werden in der Lage sein, menschenähnliche Interaktionen zu führen und maßgeschneiderte Lösungen anzubieten. • Virtuelle und Erweiterte Realität (VR/AR): Web 4.0 wird auch immersive Technologien wie Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) nahtlos integrieren. Dadurch wird es möglich sein, interaktive 3D-Erlebnisse im Internet zu schaffen, die Nutzern neue Dimensionen der Kommunikation und des Konsums bieten. Die Auswirkungen von Web 4.0 werden in vielen Bereichen zu spüren sein, einschließlich E-Commerce, Bildung, Gesundheitswesen, Transportwesen und Unterhaltung. Es kann eine Ära der personalisierten Dienste und intelligenten Systeme einläuten, mit der Absicht, das tägliche Leben der Menschen zu erleichtern und zu optimieren. Da Web 4.0 jedoch auch mit Herausforderungen in Bezug auf Datenschutz, Sicherheit und Ethik einhergeht, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Technologie verantwortungsbewusst eingesetzt wird, um das volle Potenzial einer vernetzten und intelligenten Welt auszuschöpfen. Die Entwicklungen im Bereich Web 4.0 sind dynamisch und werden die Zukunft des Internets und der Gesellschaft maßgeblich beeinflussen. Die EU-Kommission hat sich Mitte Juli 2023 auf eine neue Strategie für das Web 4.0 und generell virtuelle Welten verständigt (BMDV, 2023). Die aktuellen Entwicklungen und der längerfristige Übergang zur nächsten Webgeneration bieten „neue Wachstumsmöglichkeiten für europäische Unternehmen“, teilte die Kommission mit. Die EU solle daher „jetzt handeln, um ein wichtiger Akteur“ in diesem Bereich zu werden. Zudem könnten sichere und vertrauenswürdige Anwendungen entstehen, mit denen Menschen arbeiten und sich vernetzen. Die Technologie des „Digital Twin“ ist laut Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) ein zentraler „Baustein“ (Wissing, 2023), beruht doch die Definition der Kommission auf „künstlicher und umgebungsgesteuerter Intelligenz, dem Internet der Dinge, vertrauenswürdigen Blockchain-Transaktionen, virtuellen Welten“ und Fähigkeiten im Bereich der „erweiterten Realität“ (XR).

8

1.5

C. Malterer

Mit dem „Digitalen Zwilling“ zum „Citiverse“

Ein Digital Twin, zu Deutsch „Digitaler Zwilling“, ist ein Konzept aus der digitalen Technologie, das die physische und digitale Welt miteinander verbindet. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine virtuelle Repräsentation eines realen physischen Objekts, sei es eine Maschine, ein Produkt, eine Anlage oder sogar ein ganzer Prozesse. Der Digital Twin wird durch die Sammlung von umfangreichen Daten in Echtzeit erstellt, die durch Sensoren und andere Erfassungsgeräte in der realen Umgebung gesammelt werden. Diese Daten werden dann in die virtuelle Umgebung übertragen, um den Digital Twin zu erstellen. Dieser virtuelle Zwilling spiegelt nicht nur die geometrischen Merkmale des physischen Objekts wider, sondern enthält auch wichtige Eigenschaften und Verhaltensweisen, die es ermöglichen, das reale Objekt digital zu simulieren. Durch den Einsatz von Digital Twins können Unternehmen und Organisationen verschiedene Vorteile erzielen. Erstens ermöglicht es eine verbesserte Überwachung und Analyse von realen Objekten in Echtzeit. Dies hilft, potenzielle Probleme frühzeitig zu erkennen und Wartungsmaßnahmen zu optimieren, was letztendlich zu einer höheren Betriebseffizienz und Kosteneinsparungen führt (Smart Maintenance). Zweitens ermöglichen Digital Twins eine realistische und risikofreie Umgebung für Experimente und Simulationen. Dies kann besonders nützlich sein, um komplexe Prozesse zu verstehen, neue Produkte zu entwickeln oder Designverbesserungen vorzunehmen, ohne die physische Umgebung zu beeinträchtigen. Darüber hinaus wird die Technologie des Digital Twins auch in der Industrie 4.0 immer wichtiger (aus der auch Web 4.0 ursprünglich stammt). Durch die Integration von Internet of Things (IoT), künstlicher Intelligenz (KI) und immersiven digitalen Technologien wie XR wird die Funktionalität von Digital Twins erweitert und ermöglicht fortschrittliche Anwendungen in verschiedensten Branchen, wie dem Gesundheitswesen, der Fertigung, der Stadtplanung, dem Verkehrswesen und vielen anderen. Digital Twins schließen damit auf ihre Weise die Lücke zwischen der physischen und digitalen Welt und können dabei unterstützen, innovativer, effizienter und nachhaltiger zu wirtschaften. Die Europäische Kommission ist sich bewusst, das mit Blick auf die Gegenwart „es derzeit kein Ökosystem in der europäischen Union gibt, das die verschiedenen Akteure der Wertschöpfungskette virtueller Welten und des Web 4.0 zusammenbringt“ (Europäische Kommission, 2023). Es bedarf einer ganzen Reihe an Förderungen und Partnerschaften, um die gesetzten ambitionierten Ziele zu erreichen. Speziell mit dem Konzept des Digital Twin will die Kommission für die öffentliche Verwaltung ein „Citiverse“ auf den Weg bringen: eine immersive städtische Umgebung zur effizienteren Stadtplanung und „smartem“[sic] Städtemanagement und Bürgerbüros. Um der Gefahr entgegenzuwirken, dass virtuelle Welten „nicht von einigen wenigen großen Akteuren dominiert werden“, will die EU-Kommission mit Experten im Bereich

1 VR to XR – von digitalen immersiven Realitäten zur Digitalität

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der Internet-Regulierung weltweit zusammenarbeiten und „Web 4.0-Standards im Einklang mit den Zielen und Werten der EU fördern“ (Viola, 2023). Erste Leitlinien für die breite Öffentlichkeit im Web 4.0 in Form eines Instrumentariums sollen bis zum ersten Quartal 2024 für die Bürger entwickelt werden. Der IT-Verband Bitkom begrüßte, dass die Kommission „rund um das Metaverse eine Chancendebatte eröffnet“ (Klöß, 2023).

1.6

Vom Beta- zum Metaverse

Das Metaverse ist ein Begriff, welcher eine immersive, erweiterte digitale Realität beschreibt, in der physische und virtuelle Welten miteinander verschmelzen. Es stellt eine komplexe, vernetzte virtuelle Umgebung dar, in der Menschen in Echtzeit interagieren, kommunizieren und agieren können. Ähnlich wie in einem Videospiel können Nutzer im Metaverse durch Avatare repräsentiert werden, die sie in diese digitale Welt versetzen und ihnen erlauben, mit anderen Nutzern zu interagieren, Räume zu erkunden und digitale Aktivitäten auszuführen. Das Metaverse geht über herkömmliche virtuelle Realität (VR) oder Augmented Reality (AR) hinaus, da es nicht auf spezifische Hardware oder einzelne Plattformen beschränkt ist. Stattdessen umfasst es eine Vielzahl von Plattformen, Anwendungen und Technologien, die miteinander verbunden sind und eine nahtlose, kohärente Erfahrung bieten. Es wird als eine Art internetbasiertes Ökosystem betrachtet, das eine Vielzahl von Nutzungsanwendungen und Diensten bietet, von sozialen Interaktionen über Bildung und Arbeit bis hin zu Handel, Unterhaltung und vielem mehr. Im Konzept des Web3, wie zuvor schon kurz angerissen, gibt es eine wachsende Anzahl, meist contentspezifischer Metaverse. So wie das Konzept des Metaversums seinen Mainstream Hype 2018 (Ready Player One – Der Film) und 2021 (Facebook ist nun Meta) hatte, haben in den letzten Jahren aufgrund des technologischen Fortschritts und des steigenden Interesses an virtuellen Welten diese sozialen immersiven Plattformen an Bedeutung gewonnen. Große Technologieunternehmen, Gaming-Plattformen und Social-Media-Netzwerke haben begonnen, in die Entwicklung von Metaverse-ähnlichen Umgebungen zu investieren. Aktuell (Juli 2023) feiert McDonald’s das 40-jährige Jubiläum der McNuggets mit einer innovativen Initiative namens „McNuggets Land“, welche das Unternehmen in das Metaverse bringt. In Zusammenarbeit mit The Sandbox, einer virtuellen Welt des Gamingunternehmens Animoca Brands auf Basis der Ethereum Blockchain, betritt McDonald’s Hongkong das Metaverse. Bereits andere internationale Marken wie Adidas, Atari, Gucci, Warner Music Group, The Walking Dead und Snoop Dogg sind hier vertreten. McNuggets Land hat, laut dem Unternehmen, das Ziel, die Art und Weise, wie McDonald’s mit seinen Kunden interagiert, zu revolutionieren und soll das Markenerlebnis immersiv und spielerisch erweitern. Das Unternehmen hatte schon vor Jahren mehr als zehn Markenanmeldungen eingereicht, die darauf hindeuteten, dass es plant, „ein virtuelles

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C. Malterer

Restaurant mit tatsächlichen und virtuellen Waren“ anzubieten und „den Betrieb eines virtuellen Restaurants mit Heimlieferung“ durchzuführen. Extended-Reality-Technologien sind die Schnittstelle zu all diesen neuen Erlebniswelten, weit mehr als unsere gewohnte Computermaus oder Tastatur. Jedoch verbirgt sich, wie gezeigt, hinter XR keine „Insel“-Technologie, sondern das Konzept des Übergangs im Spektrum digitaler immersiver Medien hin zu einem Conflux von Künstlicher Intelligenz, Blockchain, IoT und Industrie 4.0.

1.7

Die Digitalität

Die rasanten Fortschritte dieser Technologien haben die moderne Gesellschaft in ein digitales Zeitalter katapultiert. Die Digitalisierung hat nahezu jeden Aspekt unseres Lebens durchdrungen und damit eine neue Dimension der Existenz geschaffen – die Digitalität (Digitality). In diesem Kontext wird die Digitalität als die Gesamtheit aller digitalen Informationen, virtuellen Räume und Online-Interaktionen verstanden, die eine parallele Welt zur physischen Realität bilden. Die Digitalität als Konkurrenz zur Realität ist ein faszinierendes Phänomen, das sowohl Chancen als auch Herausforderungen mit sich bringt. Auf der einen Seite eröffnet sie uns ungeahnte Möglichkeiten: Wir können mit Menschen auf der ganzen Welt in Echtzeit kommunizieren, Informationen aus einer Fülle von Quellen abrufen und in virtuelle mediale Welten eintauchen. Sie hat die Art und Weise, wie wir arbeiten, lernen, kommunizieren und unterhalten werden, revolutioniert. Auf der anderen Seite wirft die wachsende Dominanz der Digitalität auch wichtige Fragen auf. Die ständige Verfügbarkeit digitaler Inhalte kann zu einer Überflutung von Informationen führen, die es schwierig machen, Fakten von Fiktion zu unterscheiden. Die vermehrte Nutzung digitaler Medien kann zu einer Ablenkung von der physischen Welt führen und soziale Interaktionen beeinträchtigen. Die fortschreitende Automatisierung verändert Arbeitsplätze schneller als Anpassung möglich scheint, und ethische Fragen im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz und Datenschutz müssen beantwortet werden. Eine Beziehung zwischen Digitalität und Realität ist komplex und vielschichtig. Beide sind jedoch nicht zwangsläufig antagonistisch, sondern ergänzen sich oft gegenseitig. Die digitale Welt kann die physische Welt bereichern, indem sie Zugang zu Informationen und Ressourcen erleichtert und neue Möglichkeiten für Innovation, Nachhaltigkeitszielen und Zusammenarbeit schafft. Gleichzeitig ist es wichtig, ein gesundes Gleichgewicht zwischen der Zeit, die wir in der digitalen und der realen Welt verbringen, zu finden, um unsere sozialen Beziehungen und persönlichen Erfahrungen zu pflegen. In dieser Hinsicht ist es unerlässlich, dass wir uns bewusst mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere Gesellschaft und uns selbst auseinandersetzen. Als Individuen müssen wir lernen, die Chancen der Digitalität zu nutzen, ohne dabei die Bedeutung der Realität aus den Augen zu verlieren. Als Gesellschaft müssen wir Dialoge führen, wie

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wir in Zukunft die Digitalität verantwortungsbewusst gestalten können, um die positiven Aspekte zu maximieren und gleichzeitig mögliche negative Folgen zu mindern.

Literatur BMDV. (2023). Bundesdigitalminister diskutiert mit 100 Expertinnen und Experten mögliche Anwendungsfelder immersiver Technologien. https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Pressemit teilungen/2023/072-wissing-metaverse-dialog.html. Zugegriffen: 28. Juli 2023. Europäische Kommission. (2023). Auf dem Weg zum nächsten technologischen Wandel: Kommission stellt EU-Initiative für das Web 4.0 und virtuelle Welten vor. https://ec.europa.eu/commis sion/presscorner/detail/de/ip_23_3718. Zugegriffen: 28. Juli 2023. Gartner. (o.J.). Gartner Hype Cycle. https://www.gartner.com/en/research/methodologies/gartnerhype-cycle. Zugegriffen: 28. Juli 2023. Klöß, S. (12.07.2023). Podiumsdiskussion auf der Veranstaltung Vierter Strukturierter Dialog zu immersiven Technologien (Metaverse), BMDV, Berlin [Eigene Mitschrift]. Viola, R. (12.07.2023). Online-Rede auf der Veranstaltung Vierter Strukturierter Dialog zu immersiven Technologien (Metaverse), BMDV, Berlin [Eigene Mitschrift]. Wissing, V. (12.07.2023). Rede auf der Veranstaltung Vierter Strukturierter Dialog zu immersiven Technologien (Metaverse), BMDV, Berlin [Eigene Mitschrift].

Prof. Christian Malterer ist Rektor der Mediadesign Hochschule MD.H in Berlin und lehrt Immersive Medien XR in den Fachbereichen Digitale Filmgestaltung und Game Design. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Ersten Deutschen Fachverbands für Virtual Reality (EDFVR e.V.).

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Realität (be)greifen mit XR Bolela Likafu

Interview mit Anselm Weidmann, Creative Technologist und Co-Founder der evrbit GmbH

Zusammenfassung

Anselm Weidmann, Experte für Virtual-, Augmented- und Extended Reality, hat an der Kunsthochschule für Medien (KHM) in Köln studiert. Bereits in den 80er Jahren von Audio-, Video- und Computertechnik fasziniert, kam Anfang der 90er die Interaktivität dazu. Schon 1998 entwickelte er mit „almost sync.“ ein erstes Live-Video-Tool, das fortan bei musikalischen Veranstaltungen, später auch für Messen oder Bühnenbilder eingesetzt wurde. Die evrbit GmbH bietet seit 2016 als Technologiemanufaktur Lösungen für Digitale Strategien, Real Time 3D und IoT an. Ein pragmatischer Umgang mit brandneuen Technologien zeichnet sie aus. In enger Zusammenarbeit mit AuftraggeberInnen werden immer wieder einzigartige Ergebnisse erarbeitet.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_2

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Hallo Anselm! Erklär uns kurz: Wie bist du zu Virtual Reality gekommen? Zuerst gab es diese alten Stereoskop-Spielzeuge aus den Anfängen der Fotografie, aber die erste echte interaktive Experience muss ungefähr 1996 gewesen sein, damals noch mit einem eigenen Computer zur Steuerung der Brille und einem weiteren zur Generierung der Bilder. Aber damals war schon klar, dass diese virtuellen Welten sich noch weiter erschließen lassen werden. Wahrscheinlich noch sehr klobig damals, oder? Das war mit so einem Magnetometer-Ring für die Positionierung. Es gab schon Kamerapositionierung, Kopfbewegung und Drehung, aber es war ein Wahnsinn. Es war ja eine 2–3 Kubikmeter-Konstruktion mit einem Magnet drin, dazu kam eine Spule in der Brille, die dann die Position anzeigte. An der KHM, also der Kunsthochschule für Medien in Köln, hatten wir einen Polhemus. Das war so etwas Ähnliches, wie mit 128 solcher Magnetfelder zu arbeiten. Das Gerät erlaubte gerichtete Magnetfeldortung. Damals war es die einfachste Form, 3D-Tracking zu ermöglichen. Wie lang waren z. B. die Renderingzeiten? Das war schon eine echte Echtzeit-Anwendung und – wie damals üblich – komplett ohne Schattierungen. Einfache Polygone mit nur einer Farbe, nicht mal eine Textur, aber echte 3D-Echtzeit. Das war für damals schon ziemlich weit. Bei diesem Projekt war ich nur Zuschauer, aber das war meine erste Begegnung mit 3DEchtzeit in 1995/1996. Du hast Virtual Reality bereits Mitte der 90er gesehen. Was sind aber generell Deine Erfahrungen mit dem Thema Digitalisierung?

2 Realität (be)greifen mit XR

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Um es kurz zu fassen: Bei uns ist „digital“ immer schon Teil der normalen Welt gewesen, weil es in der Natur unserer virtuellen Arbeit liegt und man sich in virtuellen Räumen bewegt. Wir müssen aber auch keine Aktenschränke digitalisieren, da haben wir es leichter. Ob jetzt die Digitalisierung und die Virtualisierung einer Einkaufshalle anderen ermöglichen, digital ihre Wahl zu treffen? Ja, alles ist möglich! Welchen Stellenwert haben deiner Meinung nach VR und AR in den Medien? Für generell alle Medien ist das schwer zu beantworten. Aber für uns war der Stellenwert immer schon hoch. Wir bringen ja zum Beispiel mit VR als Showbetrieb plus räumliche Komponente einen Saal voller Leute mit VR-Brillen zusammen, damit sie gemeinsam den gleichen Film sehen können. Oft kamen Kunden zu uns mit dem Bedürfnis: Ich habe einen tollen VR-Film, den will ich jetzt zeigen. Wie kann ich damit etwas Cooles machen? Die haben viel Geld für einen schönen VR-Film ausgegeben, konnten dann aber bestenfalls immer nur einer Person die Brille aufsetzen und beobachten, wie zufrieden diese war – oder eben auch nicht. Ein Kinosaal dagegen hat eine ganz andere emotionale Reichweite. Durch die Zusammenarbeit mit uns bekommen VR-Experiences anderer VR-Produzenten plötzlich einen echten Mehrwert. Aber zum Thema Medien-Feedback: Auf einer Messe im Jahr 2016 stand neben Angela Merkel jemand mit „gemountetem“ Head-Display. Sie hatte die Brille selber nicht an, aber manch ein Fernsehbeitrag wurde mit dem Material geschnitten – ganz einfach, weil es sehr eindrucksvoll ist, wenn 500 Leute synchron den Kopf drehen. Wir haben natürlich gerne gesehen, wenn jemand darüber geschrieben hat und damit unser Thema bedient wurde. Du redest gerade von VRsync, wo bis zu 1000 Leute an einer synchronisierten VR-Experience teilnehmen können? Genau. Die VR-Brillen sind so synchron, dass alle 1000 Menschen gleichzeitig in einem Kinosaal sitzen können – mit dem Raumklang und dem echten Kino-Ton. Ihr habt VRsync-Produktionen für große Firmen umgesetzt. Aber für manche ist VR noch eine Nische, die sie nicht einschätzen können. …und dabei geht es jetzt nur um VR. Wenn wir über Augmented Reality sprechen, dann wird die Gesellschaft – wir alle – mit

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verschiedenen virtuellen Medien-Formen zu tun haben. Die ARExperiences kann bald jeder mit seinem Mobiltelefon haben und nutzen. Der Wechsel von Virtueller zu Augmented Reality ist nur kontextuell – ein Wechsel, der nicht immer, aber oft genug einfach eins zu eins funktionieren kann. Und dann ist die reale Entfernung von allem in der virtuellen Welt auch die gleiche, da die virtuellen Objekte in den realen Raum projiziert werden. Siehst du Chancen für Wissenstransfer durch die ExtendedReality-Technologie? Absolut. Da würde ich gar nicht mehr von Chancen sprechen, wir sind schon in der praktischen Anwendung. Beispielsweise können wir mittels Augmented Reality und sehr schlichten AR-Brillen schon Fluchtwege über einen Korridor legen – da gibt es bereits endlose Beispiele und Möglichkeiten. Was sind denn spannende Projekte, an denen ihr gerade arbeitet? Oder: Wo möchtet ihr gerne hinkommen? Im Grunde haben wir schon vieles angerissen. Rein praktisch ist das Thema Kino aktuell – auch wegen der Pandemielage – ein bisschen auf Halde. Aber tatsächlich sind wir ja in Dauerweiterentwicklungen. Mittlerweile hat unsere Entwicklungsplattform ihre eigene außerordentliche Variante bekommen, die erlaubt, 60.000 Leute beim gemeinsamen Singen zu synchronisieren. Wir haben eine Event-Technologie daraus gemacht, die als Begleitprogramm zu Fußballspielen und anderen großen Events eingesetzt wurde. Für uns ist das tatsächlich VR-Kino – aber ohne VR – und deswegen ist es schwer zu trennen. Wann entsteht ein neues Produkt aus einer Idee, die bereits da ist? Die nächste Idee steht vor der Tür und weil viel zu tun ist, wird immer auf Multiuser geachtet. Es bleibt wichtig, dass man die neuen Ideen gemeinschaftlich über das Internet angehen kann und die Leute wieder anders zusammenbringt und kooperieren lässt. Auch da passieren viele neue Sachen, die, wenn man wieder mehr physisch zusammenkommen kann, hoffentlich dort wieder zusammenlaufen. Wir hatten mit der Filmhochschule Ludwigsburg ein Multiuser-VR-Kino umgesetzt, wo die Zuschauerinnen und Zuschauer auch im realen Kinosaal interaktiv wurden. In dem von Studenten konstruierten virtuellen Saal hatten die Gäste MultipleChoice-Optionen zur Auswahl des nächsten Filmausschnitts – und zwar per Tracking: Schauten genug Leute die Sonne an, lief, zum Beispiel, der Sonnenfinsternis-Clip.

2 Realität (be)greifen mit XR

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Spielerisch ist es einfacher, sich Abläufe einzuprägen. Ja und das Visuelle ist da sehr wichtig. Aber wir haben selten – außer beim VR-Kino – jedem eine Brille aufgesetzt. Gerade wenn es ums Lernen ging, war diese Abwechslung – man zieht die Brille an, taucht in diese Welt, guckt sich um – ein Novum. Beim Lernen ist es wichtig, sich immer wieder mit anderen auszutauschen. Das ist für eine bessere Retention hilfreich. Sich abzuwechseln und nicht der ausschließliche Aufenthalt in virtuellen Welten, ist die effizientere Methode. Gerade bei diesen Multi-Device-/Gameplay-Projekten setzen wir häufig nur einer Person die VR-Brille auf. Die anderen haben ein Telefon und können dann mit der Person in der virtuellen Welt interagieren, über das Telefon und über die Stimme. War das die Zusammenarbeit mit dem Cornelsen Verlag? Genau, das war auch einer der Kunden solcher asymmetrischen VR-Umgebungen. Es war eine Kooperation mit Samsung, dem Cornelsen Verlag, der Firma Eitelsonnenschein und uns. Die VRExperience wurde in den Schulen verschiedener Bundesländer als Testprogramm durchgeführt. Die Entscheidung, bloß nicht alle Kinder gleichzeitig in die virtuelle Welt schicken, war sehr wichtig. Stattdessen wurden dann Paare gebildet, jeweils eine Brille zu einem Tablet. Die Lehrperson hatte ein weiteres Tablet mit dem gesamten Überblick und konnte so in jeder Gruppe eingreifen. Wir hatten einen virtuellen Raum aufgebaut, eine Gamification des menschlichen Verdauungstraktes. Der Lehrer konnte sehen, ob jemand bei einer bestimmten Frage weiterkam oder nicht, sodass er eingreifen konnte. Das ergab eine Multilevel-Gruppe, davon gab es bis zu 10. Es gab eine Übersicht der Fragen und Spieler, die der Lehrer gut überschauen und beurteilen konnte. Soweit ich das weiß, war es eine sehr erfolgreiche Kampagne und ich glaube, es ging danach in ein Forschungsprojekt über. Viele Dank für das Interview und deine Zeit.

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„XR funktioniert auch ohne Vernetzung“ Bolela Likafu

Interview mit Clarence Dadson

Zusammenfassung

In dem Interview mit Clarence Dadson wird u. a. die Frage besprochen, ob man die Suche nach der Killer-App braucht und ob der Fokus auf”Return of Invest” nicht eher ein Hindernis bei der Weiterentwicklung einer Medientechnologie ist. Braucht es das allumfassende Metaverse und wie verhält es sich aktuell mit der Akzeptanz in der Gesellschaft? Clarence Dadson ist CEO, Founder und Creative Director der in München ansässigen design4real GmbH. Seit mehreren Jahren ist er Vorsitzender des Bayrischen Fachverbands für Extended Reality (XR Bavaria) https://design4real.de/.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_3

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Clarence, Du bist ja nicht nur der CEO von Design4real, sondern auch Vorstandsvorsitzender von XR Bavaria. Wie bist du zu Virtual Reality gekommen? Ich glaube, das ist jetzt inzwischen schon fast zehn Jahre her: Einer meiner Stammkunden hatte von Oculus Rift gehört und wollte unbedingt Virtual Reality für seinen Messeauftritt nutzen. Damals hatte ich wenig bis keine Ahnung davon. Der Kunde hatte zwar davon gehört, aber ansonsten auch noch keine Erfahrung damit. So habe ich mir ein VR-Headset-Gerät besorgt, um zu schauen, was es so macht. Und ich war derart begeistert, dass ich mich entschieden habe, das Thema langfristig zu verfolgen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir noch eine reine Internet-Agentur. Ab da haben wir uns mehr und mehr in Richtung immersive Medien und Design ausgerichtet. Was sind generell deine persönlichen Erfahrungen mit der Digitalisierung in Deutschland? Wie ist der Stand? In diesem Bereich könnte mehr getan werden. In Deutschland wird viel über Digitalisierung geredet und sich selbst auf die Schulter geklopft, aber eigentlich sind wir im Vergleich zu den asiatischen Ländern deutlich im Hintertreffen. Wenn es darum geht, Extended Reality bzw. immersive Medien an deutschen Schulen einzuführen, dann hören wir in der XR-Branche von Verantwortlichen ziemlich oft: Wir sind ja schon froh, dass jetzt Tablets in den Schulen vorhanden sind. Welchen Stellenwert haben aktuell VR und AR in der Gesellschaft? Wenn man die Diskussionen rund um Meta gerade sieht… Ja, VR/ AR spielen eine Rolle. Es scheint, als hinge der Stellenwert der gesamten Branche an diesem einen amerikanischen Unternehmen.

3 „XR funktioniert auch ohne Vernetzung“

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Im Moment ist die Validierung von XR/AR für die meisten Leute in Abhängigkeit von dem Erfolg beziehungsweise Misserfolg von Meta, früher Facebook. Es ist jedoch klar, dass die XR-Technologie und deren Stellenwert unabhängig von Metas Börsenkurs ist. Die Großindustrie zum Beispiel hat schon lange den Stellenwert begriffen. Das wird sich auch nicht ändern. Die großen Player nutzen die Technologie schon seit Jahren. Der Mittelstand hingegen ist deutlich konservativer. Hier kann man nicht durch Games und Spielereien überzeugen, sondern braucht als Agentur reale Use Cases mit Return of Investment. Hier ist auf beiden Seiten noch viel Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten. Aktuell im Freizeitbereich sehen wir einen erhöhten AR/VRKonsum. Dass beim Endkunden der Stellenwert wächst, sehen wir an den Statistiken. Aber ich würde nicht von einer Welle sprechen. Niemand benötigt ein Headset. Die Werbekampagnen von Meta oder Pico haben bis jetzt noch nicht so gut funktioniert. Die Hardware ist bereit, aber es fehlt noch an den ansprechenden Anwendungen. Ich stimme dir zu, dass die großen Player XR schon seit Jahren in ihren Hubs testen – gleich ob es die Automobil- oder die Telekommunikationsbranche ist. Dass die KMUs damit eher ein Problem haben, liegt wahrscheinlich an den hohen Produktionskosten einer XR-Experience. Und dadurch richtet sich natürlich der Blick auf den Return of Investment und das bremst Extended Reality bei den KMUs aus. Das ist meine Einschätzung. Wenn wir schon bei der Akzeptanz sind: Welche Chancen siehst du für Schulungen und Events? Ich denke jeder, der einmal eine VR-Brille aufgehabt hat, wird mir zustimmen, dass diese Erfahrung eine sehr emotionale ist. Wir wissen, dass Emotion der eigentliche Trigger ist, sich Dinge einzuprägen. Um genau diesen Effekt geht es, wenn wir mit VR und AR Experiences schulen. Weil XR die Chance bietet, neues Wissen leichter im Gedächtnis zu behalten, eröffnen sich große Chancen im Bildungsbereich und im Event-Sektor. Hier haben wir denselben Stolperstein, wie überall, wo es um Schulung geht. Bei der Bildung im öffentlichen Bereich sitzt das Geld in der Regel nicht so locker. Es gibt kein Budget, sich eine Software schreiben zu lassen, die zur Schulung von Mitarbeitern eingesetzt werden kann.

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Da, wo sich der Return of Invest sehr schnell einstellen kann, denkt man verstärkt über den Einsatz von Extended Reality nach. Wenn Firma X regelmäßig eine Maschine aus der laufenden Produktion herausnehmen muss, um ihre Mitarbeiter zu schulen, ist der Vorteil hier virtuell zu schulen für die Verantwortlichen klar ersichtlich. Das sehe ich auch so. Bei Events ist durch Virtual und Augmented Reality eine neue Art von Marketing möglich. Im Event-Marketing ist das Thema Virtual Reality nach wie vor ein Wow-Faktor. Durch die Corona-Pandemie sind zwar die Events sehr stark auf Pause gesetzt worden, doch der Reiz des Neuen ist immer noch da. Kurz zuvor hatten VR und AR im Eventbereich gerade angefangen abzuheben. Die Teilnehmer haben verstanden, dass man damit tolle Experiences erleben kann und auch komplexe Themen schnell erfassbar machen kann. Man kann z. B. Themen emotionalisieren, die in anderen Medien nicht vordergründig gleich ansprechen würden. Ich glaube, dass es im Marketing für diese neue Herangehensweise einen großen Bedarf gibt. Es ist nicht so, dass man im klassischen Marketing keine Menschen mehr erreicht. Es wird jedoch zunehmend schwieriger, das Publikum mit den klassischen Werbeformen zu begeistern. Das Publikum sieht Werbung in den meisten Medien als störende Unterbrechung, die ausgeblendet werden soll. Ich denke, dass VR- und AR-Marketing – wenn wir es mal so bezeichnen wollen – eine Chance für frische Formen des Content Marketings bietet. Es ist eine gute Möglichkeit, die Leute in eine „Welt“ reinzuholen, ob in die Erlebniswelt einer Brand oder in Bereiche einer Dienstleistungsbranche. Via VR- und AR-Marketing lassen sich komplexe Themen präsentieren und emotionalisieren, und zwar so, dass die Leute auf diese neue Erfahrung Lust bekommen. Und vor allem ist gerade AR ein Megatrend im Marketing, das wissen wir spätestens seit Pokemon Go. Wie sieht deine Vision der XR-Zukunft aus? Natürlich ist viel über das „Metaverse“ geredet worden. Ich denke, dass Extended Reality in naher Zukunft stark an dem Metaverse im sozialen Space gebunden ist, also Coworking oder zusammen spielen, was sehr stark der PR-Fokus von der Firma Meta ist. Ich glaube, dass XR für sich auch ohne Vernetzung viele Use Cases hat und sehr gut funktionieren kann, ohne dass es ein

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bestimmendes Metaverse gibt, das alle XR-Anwendungen miteinander vernetzt. Es geht vielmehr darum, sinnvolle Anwendungen zu schaffen. Ähnlich wie die im Enterprise-Bereich, auch für den Mittelstand. Wichtig ist es, einen schnellen und einfachen Einstieg zu ermöglichen. In Zukunft werden sich Softwarestandards herauskristallisieren. So wie wir auf dem PC Software wie Word für die Textverarbeitung nutzen, wird es vielleicht ähnliche Tools im VR-Bereich geben, die plattformübergreifend verwendet werden können. Ich denke in Zukunft werden wir keine konventionellen Monitore mehr haben und via Holo-Screens im Headset arbeiten. Das ist eine These, über die wir uns gerne nächstes Mal unterhalten können. Ich bedanke mich für deine Zeit und das Interview.

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Nachhaltiger Einsatz immersiver Medien in Unternehmen Susanne Ahmadseresht

Zusammenfassung

Immer mehr Unternehmen entschließen sich, immersive Medien innerbetrieblich zu nutzen. Vom Anwerben neuer Mitarbeiter, über das Eingliedern in den Betrieb, bis hin zur Vermittlung von Sicherheitsstandards und Maßnahmen zur Unfallverhütung bieten die neuen Realitäten eine Vielzahl von Möglichkeiten. Virtuelle Welten eröffnen es Mitarbeiter:innen, neue Erfahrungen zu sammeln und ihren Horizont zu erweitern. Die Betriebe zielen darauf ab, ihre Wirtschaftlichkeit zu steigern, die Arbeitsprozesse zu optimieren, Kosten zu senken, eine Lösung für den Fachkräftemangel zu finden, ihre Innovationskraft zu demonstrieren oder verkrustete Geschäftsbereiche durch neue Business-Modelle zu erweitern. Extended Reality (XR) ist ein Sammelbegriff für Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR), Mixed Reality (MR) und 360° Video. Diese immersiven Medien mit ihren neuen Realitäten eröffnen als technische sowie konzeptionelle Innovation neue Wege, um z. B. Produktionsausfälle und stillstehende Fließbänder durch immersive Trainings zu reduzieren, Reisekosten durch orts- und zeitunabhängigen Remote-Support einzusparen und Unfälle durch barrierefreie Kommunikation zu vermeiden. Durch spielerische und lebensnahe Anwendungen lassen sich insbesondere junge Mitarbeiter:innen für ein Unternehmen begeistern. Soweit nicht genug, die XR-Technologie kann noch mehr! Das Implementieren von immersiven Medienkonzepten in betriebliche Prozesse und in private Haushalte, erfüllt

S. Ahmadseresht (B) Next Reality e.V., Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_4

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die Kriterien der Nachhaltigkeit. Wie dies zukünftig in den Unternehmen und privaten Haushalten gelebt werden kann, wird in diesem Beitrag anhand konkreter Handlungsoptionen und Konzepte skizziert.

4.1

Immersive Medien im Recruiting-Prozess

Die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung definierte bereits 1987 den Begriff der Nachhaltigkeit als eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generationen entspricht, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“ (Hauff, 1987). Diese Definition von Nachhaltigkeit ist heute aktueller denn je. Die angespannte Situation am Arbeitsmarkt und der Ruf aus der Wirtschaft nach mehr qualifiziertem Fachpersonal werden immer lauter. Andererseits fallen durch die Automatisierung von Arbeitsprozessen bisher etablierte Berufszweige weg und deren Mitarbeiter werden freigesetzt. Dies beinhaltet sowohl die Notwendigkeit als auch die Chance und das Potenzial, diese Fachkräfte weiterzubilden und auf eine neue berufliche Zukunft vorzubereiten. Um diesen Prozess in Gang zu setzen, eignen sich die immersiven Medien auf besondere Weise. Zurzeit nimmt die Verbreitung von sog. Head-Mounted-Displays stetig zu. Prognosen weisen darauf hin, dass sich der Absatz bis 2026 mehr als verdreifacht (Statista, 2022). Daraus lässt sich schließen, dass in naher Zukunft in jedem Haushalt XR-Technologie vorhanden sein wird. Bewerber stellen sich bei der Suche nach einer neuen Herausforderung die Fragen: Welcher Job passt zu mir? Was kann ich noch erreichen? Was bin ich bereit zu leisten? Welche Anforderungen stellt der Betrieb? Was ist mir wichtig? Lösungsansätze hierfür könnten folgende Anwendungsmodule beinhalten: Ein virtueller Jobsimulator ermöglicht es den Ausbildungssuchenden, ein immersives Erlebnis der zukünftigen Arbeitswelt zu erhalten. So lassen sich Arbeitsplätze und -orte erschließen, die unabhängig von ihrer realen Verfügbarkeit sind. Anders als bei einem Berufswahltest geht es darum, ein Gefühl für den Arbeitsalltag und die Arbeitsprozesse zu bekommen. Dabei können die eigenen Erwartungen, mit denen der virtuellen Realität abgeglichen werden, um Missverständnisse oder gar Enttäuschungen im Vorfeld zu vermeiden. Um die intrinsische Motivation und die Neugier der Nutzer:innen zu erhöhen, die Simulation in der Virtual Reality bis zum Schluss durchzuspielen, können Storytelling und Funktionen, wie ein Punktesystem, Fortschrittsbalken, Highscores, Timer oder Lob in Form von Beifall oder Konfetti eingesetzt werden. Durch andere, aber realistisch anmutende Umgebungen kann so an die Lebenswirklichkeit der Nutzer:innen angeknüpft werden. Die VR-Brille unterstützt das Eintauchen in die virtuelle Arbeitsumgebung und verstärkt die Konzentration auf die zu erledigenden Aufgaben.

4 Nachhaltiger Einsatz immersiver Medien in Unternehmen

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Das nachfolgende Kurzkonzept soll dies verdeutlichen. Konserve Jobsimulator

Anwendung startet. Hauptmenü öffnet sich. Auswahl eines handwerklichen Berufs, wie der des/der Bäcker:in. Auswahl der Betriebsgröße entscheidet über den weiteren Verlauf. Der/die Nutzer:in betritt die Backstube. Die Umgebung ist funktional, aber authentisch nachgebaut. • Szene 1: Anwendung beginnt mit einer Einstiegsaufgabe: Der Wecker auf dem Tresen klingelt. Die Uhr zeigt 1:00 Uhr in der Früh an. Der Wecker muss ausgeschaltet werden. Wecker spielt zentrale Rolle und klingelt zu Beginn jeder Szene und soll das Bewusstsein für festgelegte Arbeitsabläufe in einem bestimmten Zeitrahmen verdeutlichen. • Szene 2: Nutzer:in steht in der Umkleide. Die Aufgabe besteht darin, die richtige Arbeitskleidung auszuwählen und sich zum Arbeitsplatz zu begeben. • Szene 3: Begrüßung der Kollegen, Erhalt des Arbeitsauftrags. • Szene 4: Kennenlernen des Arbeitsplatzes. Zutaten nach Rezept aus Lager und Kühlkammer zusammenstellen. Rechenaufgabe zur Rezeptanpassung. Zutaten wiegen. Teig ansetzen. • Szene 5: Pause. Virtueller Kaffee. • Szene 6: Bedienen der digital gesteuerten Teigmaschine. Formen der Teigrohlinge zu verschiedenen Brotsorten. Befüllen der Backformen. Bedienen des Backofens. • Szene 7: Pause. • Szene 8: Backergebnis begutachten. Lob erhalten. Erfolgserlebnis feiern. • Szene 9: Vorbereitungen für den nächsten Tag treffen, indem Körnermischungen nach Rezept zusammengestellt und abgewogen werden müssen. Eine Rechenaufgabe beendet diese Szene. • Szene 10: Hygiene spielt eine große Rolle im Lebensmittelbereich. Backstube aufräumen und reinigen, indem bspw. Zutaten an ihren Ort zurückbefördert werden müssen und der Wischer in der Ecke bedient werden muss. • Szene 11: Wecker zeigt 9:30 Uhr an und die Jobsimulation ist abgeschlossen. • Szene 12: Rückkehr ins Hauptmenü mit Auswertungstafel. Nutzer:in wählt persönliche Pro und Contra aus. Ergebnis bspw. „Frühes Aufstehen ist ein Problem“, alle anderen Kriterien entsprechen den Vorstellungen. Nutzer:in bekommt den Vorschlag ähnlicher Berufsbilder, wie Konditor:in oder Koch/Köchin. Nutzer:in kann neue Simulation starten, um so die Berufswahl zu konkretisieren. Das Konzept des Jobsimulators beantwortet nicht alle zuvor gestellten Fragen der Bewerber:innen. Er kann aber Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung geben und mit einigen Vorurteilen, wie auch mit Idealvorstellungen aufräumen. Heute noch wird mit Broschüren

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und Flyern versucht, den Orientierungssuchenden eine Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung zu geben. Der Jobsimulator gibt Nutzer:innen die Möglichkeit in die neue Arbeitswelt einzutauchen und sich selbst ein Bild von der Arbeitssituation zu machen. Im Gegensatz zum Gespräch bei der Berufsberatung, können in einer Jobsimulation Nutzer:innen sehr viel besser selbst entscheiden, ob sie sich in der dargestellten Berufssituation wiederfinden oder nicht. Somit müssen sich die Orientierungssuchenden nicht auf die Empfehlung Dritter verlassen, sondern können ungefiltert ihre eigenen Entscheidungen treffen. Ein anschließendes Praktikum in der Realität sichert die getroffene Entscheidung nachhaltig ab. Auch Betriebe profitieren von dem Einsatz eines Jobsimulators, weil sie Praktikant:innen bekommen, die den Ausbildungsberuf bereits in die nähere Auswahl genommen haben. Dies erhöht die Abschlussquoten von Ausbildungsverträgen, mindert Ausbildungsabbrüche und steigert die Zufriedenheit auf beiden Seiten. Um die Frage der ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit von XR-Devices und XR-Softwareentwicklung zu beantworten, kann man sich vor Augen führen, was heute Berufsberatung an Ressourcen verschlingt. Neben der Organisation und Durchführung von Eignungs- und Persönlichkeitstest sowie dem berufsberatenden Gespräch bei privaten und öffentlichen Beratungsstellen, kommen u. a. Fahrtkosten und Zeit zum Tragen. Setzt man die einmaligen Softwareentwicklung inkl. Aktualisierungen und Erweiterungen dem entgegen, ist dies ein verschwindend geringer Teil in Anbetracht der hohen Absolventenzahl von jährlich über 700.000 (Statistisches Bundesamt, 2021). Auf die Wahl des bevorzugten Jobs kann ein virtuelles Assessment Center in der Virtual Reality folgen. Das virtuelle Assessment Center bietet Bewerbern z. B. einen besonderen Schutz durch den Einsatz von anonymisierten Avataren und gibt den Bewerbern die Möglichkeit, das Team durch Spontaneität und Natürlichkeit zu überzeugen. In der Gruppendiskussion oder im Rollenspiel können so Teamfähigkeit und Toleranz unter Beweis gestellt werden. Beide Seiten haben so einen besseren Eindruck von dem zukünftigen beruflichen Umgang miteinander. Neben den Soft Skills spielen in einer nachhaltigen Betrachtungsweise auch sozioökonomische Überlegungen wie Reisekosten- und Zeitersparnis sowie das Verhindern von Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Äußerlichkeiten wie Kleidung oder Hautfarbe eine große Rolle. Die XR-Technologie bietet ein niedrigschwelliges Angebot für Bewerber:innen und somit einen direkteren Zugang zu den Betrieben. Die Betriebe haben so die Möglichkeit, sich innovativ und attraktiv für neues sowie bestehendes Personal darzustellen, um so am Arbeitsmarkt konkurrenzfähig zu bleiben. Ein Grobkonzept für ein VR Assessment Center könnte wie folgt aussehen: Konserve VR Assessment Center

• Szene 1: Aufgabenstellung: Willkommen in der Welt von Unternehmen X. Wähle einen Avatar. • Virtuelle Umgebung ist einer gemütlichen Lounge nachempfunden.

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• Szene 2: Begrüßung des Neuankömmlings in der VR-Lounge. Small-Talk und Erkundung des Raums. • Szene 3: Vorstellungsrunde der zukünftigen Kolleg:innen und Vorgesetzten unter Einsatz eines interaktiven Auflockerungsspiels: Ein Ball macht die Runde, wer ihn fängt, stellt sich kurz vor. • Szene 4: Gemeinsames Brainstorming zu einem ausgewählten Thema. • Szene 5: Zusammenführen der Ergebnisse am VR-Whiteboard. • Szene 6: Diskussionsrunde/Feedback. • Szene 7: Verabschiedung. Der spielerische Ansatz der VR-Anwendung kann je nach Aufgabenstellung einiges über das Teamverhalten des Bewerbers/der Bewerberin preisgeben. Abhängig von der Stelle, die besetzt werden soll, können aus der VR-Situation heraus Rückschlüsse auf das Verhalten in der Realität gezogen werden. Das erleichtert die Besetzung der offenen Stelle und der Teambildung. Sowohl der Jobsimulator als auch das VR Assessment Center stehen exemplarisch für die Möglichkeiten, die den Betrieben offenstehen. Beim anschließenden Onboarding soll der/die Mitarbeiter:in systematisch in das Unternehmen eingearbeitet und mit der Unternehmenskultur vertraut gemacht werden. Auch hierfür bietet die XR-Technologie elegante Lösungen an. Vom virtuellen Betriebsrundgang mit 360°Videomaterial für einen lebensnahen Eindruck bis hin zur Einrichtung des Arbeitsplatzes mit AR gestütztem Einrichtungsassistenten. Für das Erlernen von Arbeitsprozessen und Routinen können standardisierte XR-Einführungstrainings hilfreich sein, um die neuen Mitarbeiter:innen effizient und kostensparend an Bord zu holen. Die Effizienz zeigt sich bspw. durch zeitlich und räumlich unabhängige Eingliederung. Ein XR-Einführungstraining verringert den Personalbedarf und die Produktionsausfallzeiten beim Anlernen an komplexen Maschinen. Außerdem kann der laufende Betrieb durch den Einsatz eines unterstützenden VR-Trainings aufrechterhalten werden. Der/die zu schulende Mitarbeiter:in kann sich stressfrei und ohne Zeitdruck dem neuen Lernmaterial widmen. Das fördert den Lernerfolg und die Zufriedenheit der/s neuen Mitarbeiters/in. Auf diese Weise wird die Bindung der Mitarbeiter:innen an das Unternehmen gestärkt. Die dadurch gewonnene Zeit, ermöglicht die Fokussierung auf die wichtigen Aspekte der sozialen Eingliederung in das Unternehmen, wie das Kennenlernen von Kollegen und die Integration in das Team.

4.2

XR als Antwort auf den Fachkräftemangel

Die XR-Technologien gewährleisten einen gewissen Standard in der Wissensübermittlung und können auch bei stetig wechselnden Bedürfnissen an die Unternehmenswelt flexibel durch Umprogrammierung angepasst werden. So ist eine XR-Anwendung keine

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Einbahnstraße in der Entwicklung, sondern kann durch modulare Entwicklung mit dem Unternehmen mitwachsen. Angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels ist der Einsatz von XR-Technologien sowohl zeitsparend als auch eine Antwort auf den Fachkräftemangel in sämtlichen Branchen. Ein wichtiges Instrument bei der Rekrutierung von Fachkräften sind die Jobmessen. Durch die Erweiterung eines XR-Ausstellungsbereiches eröffnen sich neue Möglichkeiten von denen sowohl Betriebe als auch potenzielle Bewerber:innen profitieren können. Das ortsunabhängige Angebot eines Unternehmens trifft auf ein höheres Einzugsgebiet und spricht somit eine große Zahl an Bewerber:innen an. Der Zugang ist niedrigschwellig, da bspw. für eine VR-Anwendung wenig Vorbereitungszeit und Aufwand notwendig sind. Die Nutzer:innen können die VR-Ausstellung mit VR-Brillen von überall aus besuchen und reinschnuppern und so ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt abgleichen. Die Unternehmen ihrerseits können sich von ihrer besten Seite zeigen und sich als innovativen und zukunftsorientierten Arbeitgeber präsentieren. Das haben mittlerweile auch kleine Betriebe für sich entdeckt und wollen so zeigen, dass sie auch über den Tellerrand hinausschauen können. XR-Trainingsmodule sind bereits weit verbreitet und decken ein großes Spektrum an Einsatzmöglichkeiten ab. In den Bereichen Arbeitsschutz und Sicherheit wird der Umgang mit Gefahrensituationen simuliert, während bei virtuellen Betriebs- und Bedienungsanleitungen, das Bedienen von komplexen Maschinen im Vordergrund steht. Aber auch das Erlernen neuer Sprachen sowie Kommunikations- und Kollaborationstrainings eignen sich für den sinnstiftenden Einsatz von XR-Technologie. Ein signifikantes Argument für den Einsatz von XR-Technologie im Ausbildungs- und Weiterbildungssektor ist die Konservierung von Trainingsinhalten, die jederzeit und beliebig oft sowie ortsunabhängig abgerufen werden können. So können bspw. vorbereitende Trainings für reale Prüfungen modular und jederzeit durchgeführt werden. Ein HMD (Head Mounted Display) garantiert die Fokussierung auf den Inhalt und sorgt dafür, dass der Lernprozess nicht durch äußere Faktoren wie beispielsweise Smartphones gestört werden. Außerdem ermöglicht sie ein stärkeres Eintauchen in die virtuelle Umgebung und erzeugt eine starke innere Beteiligung am Geschehen. Die Nutzer:innen sind mehr bei sich und der Arbeit. Das ungestörte Arbeiten in geschützter Umgebung verleiht Sicherheit und stärkt das Selbstvertrauen beim Aneignen neuer Skills. Die Tatsache, dass jede/r Nutzer:in in seinem eigenen Rhythmus und Tempo trainieren kann, macht ein stressfreies Lernen möglich. Das XR-Erlebnis kann beliebig oft wiederholt werden, um die nötige Routine von Arbeitsabläufen zu erlernen. Fehler sind ausdrücklich erwünscht, um den Lernprozess zu verstärken. Dabei ist der allgemeine Lernprozess schon durch das Setting effektiver als bei einer herkömmlichen Fortbildung. Das bedeutet nicht, dass der/die Trainer/in ihre/seine Relevanz verliert. Er/sie plant und setzt die XR-Trainingsmodule gezielt im Rahmen von Blended Learning ein und kann unterstützend begleiten oder auch in die Simulation eingreifen.

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Das XR-Training hat nicht den Anspruch, ein vollständiges Lernkonzept abzubilden, es ist vielmehr ein ergänzendes Lernelement. XR bietet die Möglichkeit, Lerninhalte spannend und erlebnisreich zu gestalten, relevante Arbeitsprozesse realistisch trainieren zu können, um dann das situativ Gelernte auch in der Realität anzuwenden. Der Schritt vom virtuellen Training zur realistischen Anwendung fällt leichter, weil die geforderte Transferleistung geringer ist und Zusammenhänge schon in der Virtual Reality verstanden wurden. Die XR-Technologie ermöglicht wiederum einen Aspekt, den der/die Trainer:in nicht leisten kann: das Training in der eigenen Muttersprache. Angesichts der Vielsprachigkeit in deutschen Betrieben, treffen oft mangelnde Sprachkenntnisse der Mitarbeiter:innen auf zum Teil sehr komplexe Arbeitsprozesse. Das führt zu Missverständnissen, im schlimmsten Fall zu Arbeitsunfällen. Durch das Hinzufügen einer Mehrsprachigkeitsfunktion mit beliebig vielen Sprachversionen in der XR-Anwendung kann das Problem gelöst werden. Unter dem Gesichtspunkt der Barrierefreiheit spielt auch die Verwendung von leichter Sprache eine Rolle, die ebenfalls als Funktion problemlos implementiert werden kann. All dies kann dazu beitragen, die Sinnhaftigkeit vorgeschriebener Verhaltensweisen und Arbeitsprozesse situativ zu erfassen. Aus Sicht des Unternehmens geht es häufig darum, Arbeitsprozesse so effizient wie möglich zu gestalten. XR kann bei der Identifizierung von Fehlerquellen unterstützen und zur Optimierung der Arbeitsabläufe beitragen. Außerdem eröffnet sich hier ein Einsparpotenzial. Die Messung von Parametern, wie Dauer und Reihenfolge, Anzahl der Fehler, dem Erfassen von Bewegungen und Verhaltensmustern durch Tracking, kann Arbeitsprozesse verbessern. Langfristig kann dies die Zufriedenheit und Bindung der Mitarbeiter an das Unternehmen stärken. Angesichts der Tatsache, dass wir in Deutschland einerseits einen akuten Arbeitskräftemangel verzeichnen, während andererseits ein beträchtliches Potenzial an Ressourcen brach liegen, muss man sich die Frage stellen, ob man mit XR-Technologie die Menschen wieder in den Arbeitsprozess integrieren kann, denen bisher aus persönlichen Gründen der Zugang verwehrt blieb, wie z. B. alleinerziehende Elternteile, die sich am Arbeitsmarkt neu orientieren oder weiterentwickeln wollen, dies aber aus familiären Gründen nicht können. Oder Menschen, die auf dem Land leben und u. U. große Distanzen täglich überwinden müssen, um an einer Fortbildungsveranstaltung teilzunehmen. Diese Menschen haben einen Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit, die durch den Einsatz von immersiven Medien ermöglicht werden kann. Betriebe, die das Potenzial ihrer Mitarbeiter:innen ausschöpfen wollen, um sich am Markt besser zu positionieren, könnten mit dem Angebot immersiver Weiterbildungsformate ihre Belegschaft motivieren sich dezentral und zeitunabhängig weiterzubilden. Die Möglichkeit, Routinen und Arbeitsabläufe zu trainieren, verkürzt die Einarbeitungszeiten im Betrieb. Diese Trockenübungen geben dem/der Lernenden Selbstsicherheit in dem Erlernen von neuen Fähigkeiten und dienen als Beschleuniger auf dem Berufsweg.

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Die Betriebe wirken durch dieses Angebot an immersiven Weiterbildungsmöglichkeiten attraktiver auf die eigene Belegschaft und in ihrer Außenwirkung.

4.3

Unfallverhütung durch XR-Technologien

Ein weiterer wichtiger Aspekt, insbesondere bei produzierenden und gewerblichtechnischen Unternehmen, ist die Unfallverhütung. Arbeitssicherheitsunterweisung ist ein Paradebeispiel für den Einsatz von XR-Technologien, denn bestimmte Aufgaben können in der Realität nicht immer trainiert oder simuliert werden, da die Gefahr, Schaden zu erleiden, zu groß ist und Fehler im schlimmsten Fall Menschenleben kosten können. Aber die Virtual Reality bietet hierfür eine Lösung. Hier können Fehler gemacht werden und man kann sich in Gefahr begeben, ohne die Konsequenzen der Realität fürchten zu müssen. Die realistische visuelle 3D-Darstellung der Gefahrensituation verbunden mit den 3DUmgebungsgeräuschen erzeugen eine solche Immersion, dass die Wucht realer Gefühle die Lerninhalte besonders tief ins Gedächtnis einprägen kann.

4.4

Planung von Bauprojekten

Ein anderer Bereich, bei dem XR-Technologie bereits erfolgreich eingesetzt wird, ist die effiziente Planung von Bauprojekten. Auch hier werden durch Erstellen von Prototypen und Simulationen in Virtual und Augmented Reality Fehlerquellen frühzeitig entdeckt und noch vor dem Beginn des realen Baus der Immobilie von den unterschiedlichen Gewerken aus der jeweiligen Perspektive besprochen und geprüft. Der Baufortschritt kann so nachhaltig begleitet werden.

4.5

Umfassende Strategie notwendig

Um XR-Technologie wirklich nachhaltig und zukunftsträchtig im Unternehmen einzusetzen, bedarf es allerdings einer umfassenden Strategie. Der alleinige Einsatz der Technologie macht noch kein innovatives Unternehmen. Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere KMU die Vorteile der XR-Technologien für sich gewinnbringend einsetzen können, weil sie aufgrund des Marktdrucks darin geübt sind, schneller und flexibler auf den Wettbewerb und auf Veränderungen am Markt zu reagieren. So können mit der Entwicklung von XR-Anwendungen bereits bestehende Produkte am Markt sinnvoll ergänzt oder sogar ersetzt werden. Unternehmen können nachhaltig ihren Betrieb durch Krisen führen, sich neue innovative Geschäftsfelder erschließen und ihren Mitarbeitern einen sicheren Arbeitsplatz erhalten und konkurrenzfähig bleiben. Ein Beispiel dafür ist der

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AR-gestützte Remote Support. Die Corona-Situation hat allen vor Augen geführt, dass die Wartung und Instandhaltung von Maschinen und Anlagen vielerorts zum Erliegen kam, da die Bewegungsfreiheit eingeschränkt war. Personalmangel und Krankenstand verschärften die Situation zusätzlich. Aus dieser Krise heraus haben einige Unternehmen sich der XR-Technologie bedient, um aus der Ferne, orts- und zeitunabhängig Wartungsund Reparaturarbeiten durchführen zu können. So können sie u. a. das Personal am Ort des Geschehens befähigen, sich selbst zu helfen, indem sie von Expert:innen aus der Ferne angeleitet werden, ihr Problem vor Ort selbst zu lösen. Durch das AR-Device sind zielgerichtete Anweisungen möglich und Expert:innen in der Zentrale können jederzeit eingreifend remote unterstützen. Unternehmen, die nicht so flexibel auf Situationen wie diese reagieren können, müssen ggf. Einbußen hinnehmen und bspw. Maschinen abstellen, Fließbänder stilllegen, Produktionen teilweise einstellen und Mitarbeiter freisetzen.

4.6

Nachhaltiges Leben mit XR-Technologien

In der Agenda 2030 hat sich die Weltgemeinschaft zur Nachhaltigkeit verpflichtet. Unter dem Ziel 12 „Nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen“, sind u. a. Unternehmen angehalten, sich stärker im sozialen und ökologischen Bereich zu engagieren (Bundesregierung, 2015). Auf den ersten Blick könnte man vermuten, dass der Einsatz von XR-Technologie Ressourcen verschwendet und somit eine zusätzliche Belastung für unsere Umwelt darstellen könnte. Bei näherer Betrachtung übersteigt der langfristige Nutzen die Initialkosten für die Umsetzung von Software-Lösungen und der Verbreitung von XR-Devices. Die immersiven Medien können in den unterschiedlichsten Bereichen der Nachhaltigkeit effektiv eingesetzt werden und so dem Klimawandel entgegensteuern. Unter der Überschrift der Nachhaltigkeit, sollen Verbraucher:innen umfassender informiert und zu bewussterem Konsumverhalten angeleitet werden. So können z. B. beim Einkauf im Supermarkt oder im Möbelhaus mit einer AR-App unter anderem zusätzliche Informationen zur Herkunft, zum Anbau, zu Produktionsverfahren, zu Schad- und Zusatzstoffen, Arbeitsbedingungen vor Ort, zum ökologischen Fußabdruck zur bewussteren Kaufentscheidung führen. Konsument:innen verlassen das Geschäft mit einem guten Gefühl, weil sie sich umfassend informiert und deshalb sicher mit ihrer Kaufentscheidung fühlen. Durch die gesteigerte Transparenz der Produktinformationen sind Unternehmen angehalten, kritische Inhaltsstoffe und Produktionsprozesse zu hinterfragen und ggf. zu ändern, um am Markt wettbewerbsfähig zu bleiben. Trotzdem werden Unmengen von Nahrungsmitteln verschwendet, weil viele Käufe zu spontan getätigt werden und Großpackungen zum scheinbar günstigen Kauf animieren. Durch den Überfluss an Produkten in Deutschland haben viele nicht mehr den bewussten

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Umgang mit diesen wertvollen Ressourcen gelernt. Um den nachhaltigen Umgang mit Nahrungsmitteln zu trainieren, kann die Virtual Reality auf nicht nachhaltiges Verhalten hinweisen und zum bewussten Einkauf motivieren. Eine VR-Anwendung an Bildungseinrichtungen, bei der beim virtuellen Einkaufen im Supermarkt ein Guide zur Seite gestellt wird, der Fragen zur Produktauswahl stellt, wie bspw.: „Die Packungsgröße entspricht nicht dem Einkaufszettel. Was planst du mit dem Rest?“ Ein anschließendes Reflektionsgespräch kann zu bedarfsgerechterem Konsumieren motivieren. Die spielerische Herangehensweise, die die Virtual Reality ermöglicht, ist besonders kindgerecht und animiert zu wiederholtem Training, was zur Festigung von Lerninhalten führt. Ein Problem unserer Gesellschaft ist der Umgang mit natürlichen Ressourcen. Demnach verbrauchen wir dreimal so viele Ressourcen, als wir zur Verfügung haben (Statista, 2021). Dies hat neben klimatischen Themen auch zur Folge, dass andere Länder in Hunger und Elend leben. Um auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen und um den nachhaltigen und effizienten Umgang mit den natürlichen Ressourcen zu forcieren, muss mehr Bewusstsein erzeugt und eine Verhaltensänderung herbeigeführt werden. Die immersiven Medien können einen Beitrag leisten, indem sie Betroffenheit erzeugen und andere Verhaltensweisen anstoßen. Durch das Eintauchen in die Virtual Reality können mehrere Sinne gleichzeitig angesprochen werden, was zu einer tiefen Immersion führt. Das Erleben in der Virtual Reality kommt dem realen Erleben so nahe, dass es als nachhaltiges Erlebnis in den Erfahrungsschatz eingebettet wird. Auch im Bereich von Bekleidung und Lifestyle-Produkten kann der bewusstere Konsum durch den Einsatz von schnell verfügbaren AR-Informationen und Konfigurationsmöglichkeiten gefördert werden. Zusätzlich eingeblendete Informationen erweitern die Realität der Konsument:innen sinnvoll, indem bspw. eine virtuelle Bekleidungsassistenz oder ein Guide bei der Entscheidungsfindung unterstützt noch bevor der Kaufprozess ausgelöst wird. So informiert, kann die Zahl der Fehlkäufe und Retouren reduziert werden, was wiederum erheblich zur ökologischen und ökonomischen Nachhaltigkeit beitragen kann. Der sorglose Umgang mit Müll hat in den letzten Jahren zu erheblichen Müllbergen geführt, deren Entsorgung zu einem immer größeren ökologischen Problem heranwächst. Vom kleinen Haushalt über die Betriebe bis hin zu den Entsorgungsunternehmen trägt jeder Verantwortung in seinem direkten Umfeld. Auch hier könnten die immersiven Medien einen wichtigen Beitrag leisten. So kann z. B. in Betrieben bei der Planung und Gestaltung von Prototypen auf die reale Umsetzung verzichtet werden, indem die Prototypen in der Virtual Reality kostengünstig, zeitsparend und ressourcenschonend erstellt werden. Mit wenig Aufwand können unterschiedliche Szenarien und Modelle in der Virtual Reality oder auch Augmented Reality durchgespielt werden, bevor es zur Realisierung kommt. Dabei kann die Zusammenarbeit auch ortsunabhängig erfolgen, was sich auch nachhaltig auf die Reisekosten sowie die ökologischen Folgen des Reisens auswirkt. Um das Bewusstsein für Recycling und gefährliche Abfälle zu schärfen, können in Bildungseinrichtungen Aufklärungskampagnen mit der Unterstützung von Virtual Reality

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durchgeführt werden. Denkbar wäre hier bspw. ein virtuelles Mülltrennungsspiel, bei dem die Nutzer:innen aufgefordert werden Müll zu sortieren und den richtigen Tonnen zuzuordnen. Korrektes Verhalten wird mit einem Punktesystem und Lob belohnt, während bei falschem Verhalten die negativen Auswirkungen auf die Umwelt lebensnah und immersiv simuliert werden. Zusammenfassend kann man sagen, dass XR-Technologie allein die Herausforderungen unserer Zeit nicht lösen kann. Doch einige XR-Konzepte beinhalten sinnstiftende Lösungsansätze, die zukunftsträchtig erscheinen. Das Image der immersiven Medien, nur Spielerei zu sein, ist zu kurz gedacht. Der Ansatz dieser Technologie ist zwar spielerisch, geht aber weit darüber hinaus, weil er wichtige Impulse und Denkanstöße zur Optimierung von Produktionsprozessen und Arbeitsabläufen liefert. Dies befähigt uns, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Die immersiven Medien eröffnen uns eine neue Welt, sie berühren unsere Sinne und lösen Emotionen aus. Von dieser Immersion ergriffen, werden Denk- und Lernprozesse angestoßen, die sich tief in unser Gedächtnis prägen und unser Verhalten in der Realität nachhaltig verändern. Kein anderes Medium besitzt diesen Einfluss auf unser situatives Handeln. Die Virtual Reality bietet die Möglichkeit, jedem geistigen Anspruch gerecht zu werden. Sie kann nicht nur die Anforderung an komplexe Anwendungen von Medizinern, Ingenieuren und Wissenschaftlern erfüllen, sondern ermöglicht auch niedrigschwellige Angebote. Dies beruht auf der Fähigkeit der Virtual Reality, auf die emotionale Ebene des Lernens zurückzugreifen. Damit tragen die immersiven Medien einen entscheidenden Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit bei. Dieser soziale Aspekt unterstreicht die Nutzerzentriertheit von XR-Anwendungen. Wir können uns in der virtuellen Realität unserem individuellen Tempo entsprechend austesten, lebenslang weiterbilden und so mehr Chancengleichheit herstellen. Wir können Gefahren eingehen, ohne die Konsequenzen der Realität zu fürchten. Wir können Prototypen mit einem geringeren Anteil an natürlichen Ressourcen planen. Und wir können so einen Beitrag zur Nachhaltigkeit liefern, wie es die Weltkommission in ihrer Agenda 2030 formuliert hat (United Nations, 2015).

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Literatur Hauff, V. (1987). Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Eggenkamp Verlag.

Online-Quellen Bundesregierung. (2015). Agenda 2030. Ziele für eine nachhaltige Entwicklung weltweit. https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/agenda-2030-355966. Zugegriffen: 10. Sept. 2022. Statista. (2021). Ökologischer Fußabdruck: Anzahl der benötigten Erden, wenn die Weltbevölkerung wie die Bevölkerung der aufgeführten Länder leben würde. https://de.statista.com/statistik/ daten/studie/588224/umfrage/oekologischer-fussabdruck-der-laender-mit-den-hoechsten-wer ten/. Zugegriffen: 10. Sept. 2022. Statista. (2022). Prognose zum Absatz von Virtual-Reality- und Augmented-Reality-Brillen weltweit von 2020 bis 2026. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/318536/umfrage/prognosezum-umsatz-mit-virtual-reality-weltweit/. Zugegriffen: 08. Sept. 2022. Statistisches Bundesamt. (2021). Auszug aus dem Datenreport 2021 – Kapitel 3: Bildung. Absolventinnen/Absolventen und Abgängerinnen/Abgänger nach Abschlussarten – in Tausend. S. 106, Abb. 5. https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/dat enreport-2021-kap-3.pdf?__blob=publicationFile. Zugegriffen: 08. Sept. 2022. United Nations. (2015). Department of Economic and Social Affairs. Sustainable Development. Transforming our world: The 2030 Agenda for Sustainable Development. https://sdgs.un. org/sites/default/files/publications/21252030%20Agenda%20for%20Sustainable%20Develop ment%20web.pdf. Zugegriffen: 10. September 2022

Susanne Ahmadseresht ist stellvertretende Vorstandsvorsitzende des nextReality.Hamburg e.V. Die Wirtschaftspädagogin hat sich früh intensiv mit XR-Technologien beschäftigt. So hat sie 2017 die Standort-Initiative „Next Reality Hamburg e.V.“, 2021 das Konsortium der Fachverbände und das europäische Fachnetzwerk Euromersive mitgegründet. Außerdem engagiert sie sich ehrenamtlich bei der VR/AR Industrial Coalition der Europäischen Kommission und arbeitet als Sachverständige des BiBB (Bundesinstitut für Berufsbildung) bei der Entwicklung neuer Ausbildungsberufe im Bereich immersiver Medien mit. Nach Stationen als VR-BusinessDeveloperin und XR-Projektleiterin ist Susanne Ahmadseresht seit 2020 Geschäftsführerin der Hamburger XR-Agentur VRtual X.

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„Mehr Akzeptanz und Nachwuchs für Extended Reality (XR)“ Bolela Likafu

Interview mit Jens Epe, CTO + Co-Founder World of VR

Zusammenfassung

Als Unternehmer ist der Blick für die Zukunft der Branche auch immer der Blick auf Mitarbeiter sowie auf die Aus- und Weiterbildung. Die Branche immersiver Medien und Technologien ist noch sehr jung und birgt sehr individuelle Werdegänge. Die Entwicklung des neuen Ausbildungsberufs ”Gestalter*in für immersive Medien“ ist hierbei ein wichtiger Schritt in Deutschland. Jens Epe ist technischer Geschäftsführer und Mitgründer der World of VR GmbH und ist VR-Enthusiast der ersten Stunde. Seit 13 Jahren beschäftigt er sich bereits mit der Konzeption und Entwicklung von virtuellen und erweiterten Realitäten, sowohl in seinem Studium der Computervisualistik, in der Forschung am Fraunhofer Institut oder nun in seinem 2015 gegründeten Startup World of VR. Klarer Schwerpunkt lag dabei immer auf dem Einsatz in Unternehmen, insbesondere für virtuelle Weiterbildungs- und Kollaborationsformate. Neben der täglichen Arbeit als Creative Technology Officer bei World of VR engagiert er sich ehrenamtlich im Ersten Deutschen Fachverband für Virtual Reality (EDFVR e. V.) für die Vernetzung der XR-Szene. In diesem Rahmen konnte er auch an der Entwicklung des neuen Ausbildungsberufs zum „Gestalter/-in für immersive Medien“ mitwirken. https://worldofvr.de/ B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_5

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Bolela Likafu:

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Hallo Jens, Du bist Mitgründer und CTO der Firma World of VR. In dieser Funktion bist du gerade dabei, den neuen Ausbildungsberuf „Gestalter*in für immersive Medien“ auf den Weg zu bringen. Du bist ja ein XR-Mann der älteren Schule – wie bist du zu VR gekommen? Ich habe schon früh angefangen mit Computern zu arbeiten und auch im „seriöseren“ Bereich einzusetzen. In meiner Jugend habe ich Flyer gemacht, Homepages, Filme geschnitten und das, was man halt 2005 so umsetzen konnte. Meine Ausbildung zum Informatik-Kaufmann habe ich bei einem kleinen mittelständischen Unternehmen gemacht. Da ist mir mein Schicksal in die Hände gefallen. In einer Zeitung der IG Metall, war auf einer Doppelseite etwas über die sogenannte Computervisualistik zu lesen und da habe ich zum ersten Mal gesehen, dass die Dinge, die wir aus Harry Potter und aus Filmen dieser Zeit kannten, auch für uns möglich sind. Damals war in der Zeitung der typische Ikea Augmented Reality Case abgebildet. Man stellte sich seine Möbel nicht im Raum vor, sondern auf dem Prospekt, um sie dreidimensional erleben zu können. Die Möglichkeit hat mich so begeistert, dass ich sofort die Ausbildung verkürzt habe, um direkt auf eine der zwei Universitäten zu gehen, die mir zur Auswahl standen: Koblenz oder Magdeburg. Es wurde dann Koblenz. Dort habe ich Computervisualistik und Informatik im Bachelor studiert, der sehr interdisziplinär und sehr visuell ausgerichtet ist. Wie mein Professor immer sagte: Am Ende sollten wir in der Lage sein, dem Computer das Sehen beizubringen (computer vision) und ihm beizubringen, Dinge zu zeigen (computer graphics), und das ist genau die Grundlage, die wir heutzutage benötigen, um Augmented Reality und Virtual Reality zu machen.

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Das Thema hat mich überhaupt nicht mehr losgelassen. Schon 2008 haben wir die ersten Prototypen gemacht. Wir waren damals sogar schon auf der Bundesgartenschau, mit einem Augmented Reality Fernglas, darüber habe ich auch meine Bachelorarbeit über Inneneinrichtung geschrieben und dann im Master das ganze nochmal an der Uni Bremen vertieft. So bin ich immer weiter drangeblieben. Ich wusste, dass Augmented Reality damals noch nicht wirklich im Einsatz war, außer vielleicht in großen Unternehmen. Es hat eine Deutschlandreise gebraucht, um überhaupt mit dem Thema vertraut zu werden. Ich machte ein kurzes Praktikum bei der Firma Metaio in München, die mittlerweile von Apple gekauft wurden. Danach ging ich nach Hamburg, um bei Airbus in den großen Caves arbeiten zu dürfen. Letztendlich bin ich dann am Fraunhofer Institut in Sankt Augustin bei Bonn gelandet. Dort habe ich meinen Master gemacht, erste Entwicklungen gestartet und auch dort die ersten Jobs im Bereich VR/AR bekommen. Danach habe ich mir gedacht: Das kann ich auch selbstständig als Unternehmer mit einem Kollegen aufziehen! Ich habe von Anfang an immer seriöse Augmented Reality und Virtual Reality Anwendungen umgesetzt. Ich hatte keinen starken Fokus auf Gaming und ähnliches. Das war dann vor dem zweiten Hype 2016. Der erste war eigentlich in den 90er Jahren. Ja, die erste Welle habe ich leider nicht mitbekommen, ich habe die Relikte aus dieser Zeit in Forschungseinrichtungen oder an der Uni gesehen und teilweise auch mit VR-Brillen aus dieser Zeit gearbeitet. Eine unbekannte XR-Brille von Sony habe ich in meiner Bachelorarbeit benutzt und sie hat einen sehr guten Job gemacht. Aber was man bei Fraunhofer an Geräten aus der ersten Welle in den Schränken gefunden hat, war erstaunlich. 2015 haben wir dann mit unserer Firma angefangen. Wir haben viele Meetups mit ehemaligen Kollegen organisiert, als der Hype um VR losging und als die Oculus Rift Brille in den Consumerbereich kam. Aus diesen Meetups ist auch unser Unternehmen entstanden. So bin ich mit meinem Partner Timon Vielhaber wir zusammengekommen und wir sind seitdem in der Szene auch aktiv, vernetzen uns mit anderen Leuten und versuchen das Thema VR Meetups auch beim Fachverband EDFVR hochzuhalten. Du hattest aber zuvor auch etwas mit Metaio zu tun? Wie schon gesagt, ich musste für mein Studium die besagte Deutschlandreise machen und damals war Metaio die Anlaufstelle im Bereich Augmented Reality – auch viele der anderen Koblenzer Studenten sind dahin. Ich durfte mal für sechs Wochen mit einsteigen und reinschnuppern.

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Neben der Augmented-Ausgabe für die Süddeutsche Zeitung haben sie auch mit Bravo und Autobild gearbeitet. Das haben sie auch sehr gut gemacht. Dinge, die fast schon wieder da sind, das kommt bestimmt bald wieder. Ich glaube, wir werden wieder eine Renaissance von Augmented-Reality-Anwendungen in der Verlagslandschaft erleben. Welchen Stellenwert hat für dich VR und AR in der Gesellschaft? Ich glaube, dass in der gesamten Gesellschaft, aber auch in der gesamten Wirtschaft das Thema VR und AR noch viel zu sehr unterschätzt wird. Oft hört man den Vorwurf, dass die VR- und AR-Anwendungen zu verspielt sind. Es ist auch klar, dass die ganzen VR-Brillen, die entwickelt werden, aus dem Gaming-Bereich kommen. Alles, was in den Medien veröffentlicht wird, ist in erster Linie an die Spieleindustrie, die Gaming-Brillen usw. angelehnt. Jetzt haben wir noch den neuen Diskurs rund um den Begriff Metaverse. Mark Zuckerberg und sein Metaverse haben richtig Wirbel in der ganzen Gesellschaft und bei den Unternehmen verursacht. Daneben sind die vielen Möglichkeiten von XR der Gesellschaft noch nicht bekannt. Die Potenziale werden nicht ausgeschöpft. Bleiben wir ruhig mal bei Gaming und der Gesellschaft. Selbst da ist den Gamern nicht bewusst, was ein Potenzial auch für sie dahintersteckt. Viele Gamer benutzen XR-unterstützte Games, darum wird der Bereich XR oft als Technik-Welle für die Jugend betrachtet und ignoriert. Viele der Gamer, mit denen ich spreche, haben es noch nicht mal selber ausprobiert. Selbst die, die eigentlich mit Gaming einen Großteil ihres Lebens verbringen, haben keine Brille zu Hause. Viel schlimmer ist aber, dass die gesamte Gesellschaft das Potenzial noch nicht verstanden hat. Ich hatte schon mal das Gefühl, dass wir mit der Technologie vielleicht auch das eine oder andere Problem der heutigen Gesellschaft lösen könnten. Vielleicht ist es ein bisschen weit hergeholt, wenn ich sage, dass die eine oder andere private Reise gar nicht sein muss, weil ich in VR wirklich sehr gute Erlebnisse habe oder generieren kann. Zumindest wenn wir an Geschäftsreisen oder auch an Einkaufsreisen denken, verändern wir mit XR die Gewohnheiten, was sich für die Natur als nützlich erweisen wird. Das allein hat enormes Potenzial für die gesamte Gesellschaft. Wir werden uns in Zukunft mit VR-Brille im Web3 treffen und uns austauschen, und es ist immer wieder faszinierend, wenn man andere Menschen als Avatare trifft. Es ist nochmal ein ganz anderes Erlebnis, als Menschen bei einer gut organisierten Videokonferenz zu treffen.

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Aber auch mit dem Thema Digitale Zwillinge oder 3D-ProduktVisualisierung können wir einen besseren Eindruck vermitteln und auch besser aufklären. Auf jeden Fall hat es ein Riesenpotenzial für Unternehmen. In der Digitalisierung in Deutschland ist es oft so, dass immer erst abgewartet wird, bis etwas etabliert ist und die Vorreiter ihre Best Practises erledigt haben. Auch bei uns in der XR-Szene sind viele Innovationsprojekte gestartet worden, nur um einmal kurz zu glänzen. Leider sind viele dieser Experimente in der Schublade gelandet und nicht genutzt worden, das gilt auch für unser Unternehmen. In dem Moment, wo es losgeht, muss man vielleicht wieder von vorne anfangen, weil die Technologie sich so schnell entwickelt, dass die Anwendungen oft schon wieder veraltet sind, bevor sie überhaupt zum Einsatz kommen. Im gesamten Bereich Bildung – sprich: Weiterbildung, Ausbildung, schulische Bildung – wird XR komplett unterschätzt. leider ist hier oft eine Kostenfrage, weil entweder zusätzliche Hardware oder individuelle Software angeschafft werden muss. Es gibt noch nicht so viel Standardsoftware, die sich nutzen lässt, aber es gibt immer mehr gute Ansätze, die versuchen, Standardinhalte von der Grundschule bis zum Abitur einzusetzen. Auch in der Berufsausbildung, wo wir mit virtuellen Trainingslagern und Augmented Reality Trainings wunderbare neue Dinge umsetzen können. So können wir viel mehr Praxis mit in die Berufsausbildung integrieren. Definitiv gibt es auch in der beruflichen Weiterbildung genug Potenzial. Wir haben schon viele Trainings, gerade im Arbeitssicherheitsbereich, entwickelt, und dementsprechend auch verschiedene Kosten und Sicherheitsrisiken gesenkt. Das darf noch bekannter werden. Du bist dabei, den neuen Ausbildungsberuf „Gestalter*in für immersive Medien“ auf den Weg zu bringen. Wie ist es dazu gekommen? Viele, die in der XR-Branche aktiv sind, werden es direkt mit dem Berufsbild Gestalter*in für Bild und Ton oder mit dem Gestalter*in für Print vergleichen und genau da ist er auch angesiedelt. Von den Deutschen IHK und dem Bundesinstitut für berufliche Bildung (BIBB) wurde identifiziert, dass es einen größeren Bedarf gibt, immersive Welten zu generieren. In den bisherigen Ausbildungen wurden viele Dinge nicht beachtet und man hat dann vor allem in unserer Branche auf Anwendungsentwickler zurückgegriffen, die schon programmieren konnten, um kleine Anwendungen zu kreieren. Diese Lücke wurde nun geschlossen. Wie ist der aktuelle Stand?

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Wir haben ein großes Gremium mit teilweise 25 Leuten vor Ort, besetzt von verschiedensten Seiten – Ministerien, Handelskammern, vor allem aber eine Gruppe der sachverständigen Arbeitnehmer und ebenso einer Gruppe der sachverständigen Arbeitgeber. In der Gruppe der sachverständigen Arbeitgeber zum Beispiel mein Kollege Sönke Kirchhoff und ich, aber auch andere Unternehmen im Gremium, da unsere Firmen schon seit Jahren Mitarbeiter ausbilden. Wir haben in der XR-Branche auch andere Unternehmen, die ausbilden, nicht unbedingt den Ausbildungsberuf Mediengestalter*in für immersive Medien und vielleicht auch nicht IG Berufe, aber zumindest Fachleute im XR-Bereich. Und auf der anderen Seite gibt es die Arbeitnehmer, vertreten zum Beispiel durch die ver.di. Wir haben gemeinsam über einen längeren Zeitraum ein sehr umfangreiches und komplettes Berufsbild ausgearbeitet und da fällt so viel runter, was ich mir nie hätte vorstellen können, obwohl ich selbst mal eine Berufsausbildung gemacht habe und mit dem Ausbildungs-Rahmenplan vertraut bin. Die Betriebe müssen Zeugnisse, Prüfungen und Formalitäten garantieren. All das wird jetzt in etlichen Sitzungen festgelegt und kann nun gestartet werden. Wann geht’s los? Im August 2023 soll es starten, wenn alles so weiterläuft, und es soll in mindestens vier Städten in Deutschland ausgebildet werden. Was ist deine Vision der Zukunft bezüglich VR/AR? Wir brauchen mehr Akzeptanz für das ganze Thema und mehr Offenheit für VR. Wir brauchen als Unternehmen, aber auch als Anbieter und Dienstleister für XR auf jeden Fall mehr Nachwuchs. Wir wissen nicht, wie sich der Markt gerade entwickelt, aber es gibt sehr viele große Unternehmen, die zunehmend Fachkräfte abwerben. So schnell kann man gar keine neuen Fachkräfte aufbauen. Die Vision für die ganze Sparte ist, dass wir Stabilität erreichen. Kürzlich gab es so viel Verwirrung bei Technik und Hardware. Gerade haben wir ja wieder neue Brillen von den großen Herstellern bekommen. Alle bringen aber leider auch immer Nachteile mit sich, vor allem aus Datenschutzgründen. Wir hoffen, dass es sich zum Positiven wandelt, damit die Unternehmen auch zuversichtlicher sind, die VR-Brillen und die Hardware einzusetzen. Dann noch ein wichtiger Punkt zur Vision des Metaverse: In dieses Thema müssen wir mehr investieren, um ein besseres gemeinsames Verständnis darüber zu bekommen. Anstatt Leute zu verwirren und fast schon Angst einflößende Zukunftsvisionen von Parallelwelten zu verbreiten, sollte man erstmal mit den Anwendungsfällen anfangen. Die

5 „Mehr Akzeptanz und Nachwuchs für Extended Reality (XR)“

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haben wirklich Sinn, wenn man z. B. Trainings im Sicherheitsbereich macht oder in der Schule. Also: Sinnvolle Anwendungsfälle, statt einer Parallelwelt, auf die „keiner so richtig Lust hat“. Wenn das Thema Metaverse für die Allgemeinheit durch Schulung, Bildung und Arbeitssicherheit verständlicher wird, dann denke ich, dass wir auf einem guten Weg sind. Ich wünsche mir auch eine normale Offenheit gegenüber der neuen Hardware-Generation und vor allem den neuen, verbesserten Anwendungen, die auf dem Markt sind. Aber wenn die Leute die Augen davor verschließen, weil sie irgendwann mal eine schlechte Erfahrung mit VR gemacht haben, kommen wir nicht weiter. Ich kenne das Gefühl der „Motion Sickness“ auch und habe mit Experten darüber gesprochen. Alle haben mir gesagt, dass die Technik der alten VR-Brillen 2014/2015 noch nicht ausgereift war. Damals wurde vielen Menschen während des VR-Erlebnisses schlecht. Seitdem hat sich die Technik stark verbessert. Ich glaube, dass sich disruptive Technologien und das Thema Augmented Reality in der Gesellschaft durchsetzen werden, aber es braucht noch Zeit und ein gewisses Umdenken in der Gesellschaft. Vielen Dank Jens.

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Extended Reality (XR) für Wissenstransfer und Ausbildung Bolela Likafu

Interview mit Sönke Kirchhof, Founder und CEO INVR.SPACE

Zusammenfassung

Von 360-Grad und 3D-Stereo im Filmbereich bis hin zur Virtual Reality ist die Entwicklung in Medienberufen rasant. Quereinstieg, Wissenstransfer und”Learning by doing” in Projekten stellen Produktionsfirmen vor ganz eigene Herausforderungen. Wir sprechen in diesem Interview über die Initiative des Ausbildungsberufs „Gestalter*in für immersive Medien“. Sönke Kirchhof ist Founder und CEO von INVR.SPACE, GmbH. Er ist spezialisiert auf XR-Produktionenm, kommt aus der Stereoskopie und hat mit dem Fraunhofer HHI an diversen Forschungsprojekten gearbeitet (Testdrehs und kommerzielle Drehs mit der Omnicam/360° Kamera). Kirchoffs Firma INVR.SPACE gewinnt viele Preise und er selber ist im Vorstand von dem EDFVR, VRBB und XR4Europe. Europaweit ist er ein regelmäßiger Speaker zum Thema Extended Reality (XR). https://INVR.SPACE.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_6

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Bolela Likafu: Sönke Kirchhof:

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Sönke, du bist der CEO von INVR.SPACE einer Award-winning Company. Kannst du uns erzählen, wie du zu VR gekommen bist? Ich komme ursprünglich aus dem Filmbereich und habe an der Filmhochschule in Babelsberg Filmproduktion studiert. Schon bevor ich da angefangen habe, habe ich gemerkt, dass ich wahrscheinlich nicht den alteingesessenen oder ausgetretenen Pfaden der linearen Broadcast-Industrie folgen möchte. Ich habe bereits 2004 in Hamburg einen Internet-Fernsehsender gegründet. Das war noch vor der Zeit, als YouTube von Google aufgekauft wurde – als man mit dem Flash Player eine Auflösung von 640 mal 480 hatte, um sich etwas im Vollbild anschauen zu können. Ich war ein bisschen vor der Zeit, aber wie gesagt, damals gab es noch kein Netflix oder Amazon Prime. Als ich an der Filmhochschule angefangen habe, ging es gerade bei den klassischen Formaten um die Digitalisierung, wie man das analoge Filmmaterial von der analogen Distribution in die digitale bekommt und so wurde auch Stereo 3D plötzlich einfacher und günstiger in der Umsetzung. Das war etwa fünf Jahre bevor Avatar in die Kinos kam. Das heißt, nachdem ich mich eineinhalb Jahre damit beschäftigt hatte, kam in dieser Zeit der Film Avatar in die Kinos, der ein großer Erfolg war. Danach habe ich mir gedacht, jetzt kommt mehr Zug in diesen Bereich und so habe ich mich als Student an der Filmhochschule mit meiner Firma, die ich damals schon gegründet hatte, auf diesen Bereich spezialisiert und nebenbei noch auf VFX. Später habe ich angefangen, mit dem Fraunhofer Heinrich-HertzInstitut für Forschung und Entwicklung zusammenzuarbeiten und bin dann über das Institut in ein Forschungsprojekt reingerutscht. Das war 2008/2009 für die Entwicklung einer 360-Grad-Kamera, damals

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noch nicht für VR, sondern für Kuppel- und Panoramaprojektion und so weiter, die Omnicam-Kamera. Mit der Omnicam haben wir ein paar Jahre lang viele Projekte gemacht. Sönke, du bist ja auch in sehr vielen Fachverbänden in Deutschland vertreten: Mitglied bei XR-Bavaria, du bist Vorstand im VRBB und im EDFVR und du bist auch Vorstand im europäischen Fachverband XR4Europe. Wie sind deine Erfahrungen mit der Digitalisierung allgemein in Deutschland? Sie findet statt. An vielen Stellen vielleicht nicht so schnell, wie man sich das wünschen würde, aber sie findet statt. Digitalisierung ist jedoch ein sehr breiter Begriff. Man müsste zunächst schauen, was Digitalisierung in der Schule oder Digitalisierung im Medienbereich überhaupt bedeutet. Die Transformation, die ich gerade angesprochen habe, damit meine ich von analogem Filmmaterial hin zu digitalen Projektionen und Kameras. Da ist auf jeden Fall eine wahnsinnige Geschwindigkeit grundsätzlich in allen Bereichen zu beobachten, die von der Digitalisierung betroffen sind. Gerade wenn wir uns die Entwicklung des iPhones anschauen und wann das iPhone auf den Markt gekommen ist. Das ist erst zwölf Jahre her. Wie lange haben wir noch ein Telefon mit Wählscheibe benutzt und was kann dagegen heute ein iPhone alles leisten? Das Smartphone ist heute der Computer, der Fernseher, die gesamte Medienbibliothek und das alles in der Hosentasche. Es ist ein Kommunikationsmittel inklusive E-Mail, Messenger, Medienarchiv und vielem mehr. Das ist für mich ein ganz großer Teil der Digitalisierung und damit aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Weil in Zukunft fast alles digital ist, können wir in der digitalen Stadt mit den Verbrauchern in einer Geschwindigkeit kommunizieren, die früher undenkbar war. Wir müssen keine Luftpost mehr verschicken. Das vereinfacht viele Prozesse im Alltag. Es bringt aber auch sehr viel Geschwindigkeit in andere Bereiche, die zum Teil schwer zu fassen sind. Das sieht man an der Umsetzung der Digitalisierung in der Bundesrepublik Deutschland, bei den Ämtern und Behörden. Da ist nicht immer alles perfekt und könnte besser sein, aber sie findet statt. Sönke, du bist nicht nur in vielen Fachverbänden vertreten, sondern du bist auch als Sachverständiger des Bundes auf Arbeitgeberseite in dem Gremium für den neuen Ausbildungsberuf „Gestalter*in für immersive Medien“, dass das ganze Thema untersucht und den Ausbildungsberuf nächstes Jahr, also 01.08.2023 auf die Straße bringt. Kannst du uns was darüber erzählen?

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Ja, also der Beruf heißt ganz konkret „Gestalter*in für immersive Medien“. Es gab vier Arbeitgebervertreter von denen ich einer bin, sowie vier Arbeitnehmervertreter. Verdi war einer der Arbeitnehmervertreter. Es ist also ein breites Portfolio von Unternehmen und Vertretern aus den Bereichen Bild, Ton und Bildung gebildet worden. Ab Herbst 2023 kann ausgebildet werden. Aber bis hierhin war es ein relativ komplexer Prozess. Der Ausbildungsberuf ist ähnlich dem des Mediengestalters, und der Bedarf der neuen Ausbildung wurde genau da bemerkt, dass zum Beispiel Betriebe wie wir als Ausbildungsbetrieb Mediengestalter ausgebildet haben, aber viele Dinge, die wir als XR-Produzenten gerne ausbilden würden, nicht ausbilden können und dürfen, weil sie nicht zu den definierten Ausbildungsinhalten gehören. Man hat ja auch in der Berufsschule auf der theoretischen Seite Prüfungen und Ausbildungsinhalte, die eingehalten werden müssen. Dann bringt es auch nichts, wenn wir die Auszubildenden in irgendwelchen dreimonatigen Unity-Kursen ausbilden, obwohl wir das im Betrieb dringend bräuchten, aber die Ausbildungsinhalte nicht dem Lehrplan entsprechen. Das heißt, der Lehrling lernt Dinge, die er im Betrieb eigentlich gar nicht lernen muss oder die wir ihm auch schwer beibringen können, weil er sie gar nicht anwendet. Er würde gerne andere Sachen lernen, die wir ihm noch nicht beibringen können. Und in der Berufsschule gibt es auch Sachen, die nichts mit der Industrie zu tun haben. Das hat sich in der IHK und DIHK herumgesprochen und dann hat das Bundesinstitut für Berufsbildung mit Sitz in Bonn eben entsprechende Vertreter wie mich angefragt, ob man ein sogenanntes Neuordnungsverfahren unterstützen und mitgestalten kann, dementsprechend dann im Ehrenamt. Das hat jetzt mehrere Jahre gedauert, drei fast vier Jahre und nun gibt es dreieinhalb Jahre Ausbildung bis zum ersten Gesellen, also es entsteht ein gut ausgebildeter Arbeitnehmer, der dann dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Aber das zeigt ja letztendlich unsere XR-Branche, die gerade im Kommen ist und in der Wirtschaft als Ausbildungsberuf akzeptiert wird. Das ist für mich dann in der Gesellschaft angekommen. Ich stelle fest, dass viele Produktionsfirmen wie z. B. INVR die Spezialisierung der Mitarbeiter bisher aus eigenen Mitteln umgesetzt haben, damit die Auszubildenden in die laufenden Produktionen reinpassen. Am Ende ist es meistens ein Mehraufwand für die Firma, weil es bisher keinen Lehrplan für die Spezialisierung des Auszubildenden gab.

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Es ist nicht nur Mehraufwand, sondern eben auch eine Investition in diese Industrie. Ich sage jetzt mal, dass viele fertige Azubis von einigen großen Unternehmen mit Kusshand genommen werden. Denn kaum hat man die Leute drei Jahre lang bei sich im Betrieb vom Gamedesigner bis zum spezialisierten Developer ausgebildet, kommen schon Lufthansa, Volkswagen oder Meta um die Ecke und übernehmen diese qualifizierten Mitarbeiter. Im Sport gibt es für so etwas dann Ablösesummen. In der Industrie gibt es so was nicht und die Leute gehen einfach weg. Da kann man noch so viel Passion, Herzblut, Zeit und auch Geld in sie investieren. Eine Ablösesumme wäre eine faire Lösung. Welche Chancen siehst du für den Wissenstransfer? Grundsätzlich handelt es sich hier um ein Medium, für das vielen die Vorstellung fehlt. Aber wir, die viele verschiedene Produktionen und Inhalte immersiven Technologien umsetzen, sehen das große Potenzial für den Wissenstransfer. Natürlich bergen die neuen Technologien auch eine ganze Menge Risiken und Gefahren. Aber ein Workshop in VR ist zum Beispiel garantiert deutlich nachhaltiger als ein Frontalunterricht von 40 min. Denn man kann spielerisch wahnsinnig gut lernen. Das heißt Wissenstransfer funktioniert mit immersiven Medien mit großer Wahrscheinlichkeit deutlich besser als mit einem Fernseher oder mit einem Radio. Was jetzt nicht heißt, dass man nicht trotzdem auch noch in der Realität lernen und Wissen vermitteln kann. Aber Extended Reality ist sicherlich bestens dafür geeignet. Man braucht einfach bestimmte Tools. Eine kleine Anekdote: Wir haben mal für Schulen in der UK Extended Reality Experiences erstellt. Die Experiences zeigten verschiedene Situationen aus einzelnen Fächern, wie z. B. Chemie. Die Inhalte wurden zuerst sehr spielerisch und sehr einfach für die Schüler angepasst. Aber der Bunsenbrenner zum Beispiel war nicht heiß, das heißt die Schüler haben nicht gelernt, dass man sich an der Flamme verbrennen kann. Man merkt an dieser Anekdote, dass man alle Situationen bis ins Detail durchdenken muss und an reellen Erfahrungen nicht immer vorbei kommt. Du hast schon viele Innovationen in dieser jungen Branche miterlebt. Wie sieht deine Zukunftsvision für Extended Reality aus? Auch da muss man ein bisschen differenzieren. Was ist die Zukunft? In naher Zukunft werden wir uns sicherlich noch länger mit Brillen beschäftigen, also so wie sie jetzt noch aussehen, obwohl die natürlich kleiner und besser werden. Das sehen wir bereits seit fünf bis

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zehn Jahren. Damals haben die Leute noch das Telefon irgendwie in die VR-Brille reingesteckt und auf der anderen Seite der Skala gab es VR-Brillen, die man mit einem Kabel an den Computer anschließen musste, an einem High-End-Gaming– PC, den sich die wenigsten leisten konnten oder wollten, verbinden, um eine einigermaßen interaktive und grafisch hochwertige Erfahrung darzustellen. Das hat sich schon eklatant verändert. Geräte sind deutlich kleiner und leistungsfähiger als vorher und die grafischen Möglichkeiten, die darin enthalten sind, sind enorm. Wir nähern uns bei diesen Geräten dem, was wir vor einigen Jahren noch als großen und schweren HighEnd-Computer bezeichnet haben. Außerdem ist das „Streamen“ der Bilder und der virtuellen Inhalte möglich und wir brauchen kein lästiges Kabel mehr. Die Innovationsgeschwindigkeit ist manchmal so unglaublich schnell, dass man sich überlegen muss, ob ich das eine spezielle Gerät überhaupt kaufe oder noch ein halbes Jahr auf das dann schon neue Modell warten soll. Es werden irgendwann die Informationen auf normale Brillengläser übertragen, später dann auf Kontaktlinsen und irgendwann werden die Informationen vielleicht auch einfach nur in den virtuellen Raum projiziert. Teilweise stecken die Entwicklungen noch in den Kinderschuhen. Technische Herausforderungen sind nicht einfach. Die Batterieleistungen sind zum Beispiel immer ein Problem, aber das werden wir in den nächsten zehn Jahren lösen, da bin ich mir sicher. Auf Reisen, im Flugzeug oder Zug werden wir wahrscheinlich entweder mit einer „normalen“ Brille oder mit einer Kontaktlinse sitzen und man wird nicht mehr wirklich wahrnehmen, ob jemand in den realen Raum schaut oder sich im virtuellen Raum befindet. So wie wir heute in der U-Bahn stehen und nicht auf den ersten Blick erkennen, ob jemand Selbstgespräche führt oder ob er „Knöpfe“ in den Ohren hat und telefoniert oder Musik hört. Vor 20 oder 30 Jahren, als ich noch zur Schule ging, wurde vor Leuten gewarnt, die an der Bushaltestelle standen und Selbstgespräche führten. Heute ist das ganz normal, neun von zehn Leuten haben weiße Knöpfe im Ohr und machen vielleicht gerade Aktien-Transaktionen oder andere Geschäfte in der U-Bahn. Vielen Dank Sönke für deine Zeit und für das Interview.

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„In Zukunft werden wir vermehrt mit der XR-Technologie leben, arbeiten, und kommunizieren“ Bolela Likafu

Interview mit Stephan Sorkin

Zusammenfassung

In diesem Interview erläutert Stephan Sorkin den Status Quo der Extended-RealityBranche in Deutschland und gibt dabei einen Einblick in die Arbeit des XRKonsortiums in Deutschland. Stephan Sorkin ist Vorstandsvorsitzender von dem EDFVR, Erster Deutscher Fachverband für Virtual Reality e. V. https://edfvr.org.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_7

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Bolela Likafu: Stephan Sorkin:

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Hi Stephan. Erzähl uns kurz: Wie bist du zu VR/XR gekommen? Durch Umwege und nicht direkt. Ich komme aus dem Bereich Kommunikation und Kommunikationsberatung und ganz ursprünglich aus dem TV- Journalismus. Derzeit arbeite ich eher im Agenturbereich. Ich mache Fernsehen und Talk-Formate und habe im Laufe der Zeit generell Kommunikation als Werkzeug erlebt. Und so bin ich über Umwege tatsächlich in die vorstandsnahe Arbeit des Ersten Deutschen Fachverbands für Virtual Reality e.V. gekommen. Und dann wächst man da so rein. Hat XR einen Impact auf die Kreativwirtschaft? Es ist ein weiteres Medium, welches zu dem großen Potpourri neuer Medien dazugekommen ist. XR ist sicher auch für sich ein ganz eigenes Medium und in der Bandbreite eindeutig auch ein mächtiges Werkzeug. Kommunikation an sich ist ja nicht nur klassische PR oder Außen/Innenkommunikation, sondern auch die Kommunikation in Schulungen, Bildung und vieles mehr. Zum Beispiel in der Automobil- und Dienstleistungsbranche: Was heißt hierbei Entwicklung und Simulation? Und wie kann man Simulationen in Prozesse und in die Erstellung neuer Produkte oder Dienstleistungen einbauen? VR wurde von Ingenieuren und Designern in dieser Branche schon lange vor dem „Durchbruch“ der Occulus Rift verwendet. XR ist ein zentrales Thema der Informationsgesellschaft und der Digitalisierung. Was sind deine Erfahrungen mit der Digitalisierung in Deutschland? Man muss immer zwischen Digitalisierung und digitaler Transformation unterscheiden. Digitalisierung hat seinen Schwerpunkt in der Prozesshaftigkeit. Man versucht Prozesse, die zuvor analog waren, in digitale Formen zu integrieren. Das ist eigentlich ganz banal. Wo ich

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vorher ein Papier, ein analoges Formular hatte, da habe ich nun ein pdf-Formular in digitaler Form. Und das hat nicht nur für den Ausfüllenden einen großen Vorteil, sondern auch für die gesamte Weiterverarbeitung bis hin zur Archivierung. Diese neuen Prozesse sind auf einmal transparenter und man kann diese Daten in wesentlich höheren Geschwindigkeiten und mit einer höheren Genauigkeit bearbeiten. Es gibt hier „gute Prozesse“ und „schlechte Prozesse“. Gute Prozesse zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Alltagswirklichkeit der Menschen abbilden. Alles, was abgefragt wird, muss nicht nur abgebildet, sondern auch in dem Moment, wo die Information nicht ins Raster passt, trotzdem verarbeitet werden. Digitale Transformation geht noch einen Schritt weiter. Sie beinhaltet nicht nur einen intensiveren Blick auf das Prozesshafte, auf die Umsetzung, sondern auch auf den Aufbau, also die Struktur der Arbeit. Das kann Agilität oder Lean Management sein, oder Fragen: „Wie nutze ich verschiedene Technikideen?“, „Wie nutze ich Kommunikation über digitale Medien, über Video, über VR, über AR?“ In den jeweiligen Antworten sind wiederum viele neue Ideen und Ansätze enthalten. Die Möglichkeiten, XR-Technologie als Werkzeug in meinem Alltags- oder Arbeitsleben zu integrieren, werden dazu führen, dass sich die Form der Zusammenarbeit ändert. Es ist nicht mehr zeitgemäß, in traditionellen Hierarchien zu denken, die Mitarbeiter müssen mehr Verantwortung bekommen und Hierarchien müssen auch in ihren Entscheidungsprozessen noch „flacher“ werden. Sicherlich ist es schwer zu sagen, wie sich im Detail die Dinge im Einzelnen durch die digitalen Transformation entwickeln werden. Wir stehen noch ziemlich am Anfang des Weges, aber es ist wichtig, das Ganze als einen kontinuierlichen Prozess zu sehen. Die Innovationsfähigkeit einer Unternehmensstruktur spielt für das zukünftige Wachstum eine entscheidende Rolle. Wir brauchen Neugierde und das Bestreben, immer besser zu werden. Welchen Stellenwert hat Extended Reality deiner Meinung nach aktuell in der Gesellschaft? Aktuell sind wir noch ganz am Anfang des Weges. Die relevante pragmatische Frage ist: Was vermag XR aktuell im Alltag zu leisten? Auf der anderen Seite: Wohin wird sich die Entwicklung richten, wenn XR immer stärker zum Einsatz kommt? Dabei muss man auch strategisch überlegen, wie man die Weichen stellt. Die XR-Branche ist ein Innovationsbereich mit bestimmten Prozessen, die extrem stark von

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diesen beiden Fragen beeinflusst wird. Also: Was können wir aktuell? Was sollten wir können, und was müssen wir in Zukunft noch entwickeln? Die visionäre Relevanz ist deshalb wichtig, weil wir heute schon Entscheidungen dazu treffen müssen, in welche Richtung es gehen soll – vom Datenschutz bis hin zum gesamten Rechtssystem. So etwas muss sich in einer digitalen Welt erstmal entwickeln. Wir kämpfen immer noch damit, wie schwierig es ist zu erklären, was die XR- Branche eigentlich ausmacht, technologisch wie auch inhaltlich bis hin zu den Produkten. Das ist ein furchtbarer Zustand. Ich persönlich benutze den breiteren holistischen Begriff „Digital Reality“, besonders dann, wenn ich die Richtung vorgeben möchte oder in Erklärungsnot komme. Auch wenn die Firma Meta das Metaverse als Oberbegriff einführen möchte, besteht weiterhin eine große Verwirrung und Verunsicherung: Wieviel VR, wieviel AR und wieviel XR ist im Metaverse enthalten? Oder steht der Gattungsbegriff allein? Zurzeit sind wir eine sehr stark B2B-orientierte Branche. Die meisten Kunden unserer Mitgliedsunternehmen arbeiten direkt für die Industrie und große Firmen. Ich gucke da immer sehr neidisch zu den Kollegen des Games-Verbands, die über ihre Plattformen auch den Endkunden direkt ansprechen. Das ist in der XR-Branche noch nicht der Fall. Extended Reality ist weiterhin hauptsächlich ein Werkzeug „zum Arbeiten“ und für den Wissenstransfer. Da sprichst du gerade einen wichtigen Punkt an. Der Wissenstransfer kann aus freien Stücken und jeder Menge anderer Gründe erfolgen und ist nicht als Hobby oder Zeitvertreib zu betrachten. Ich denke, dass die XR-Fachverbände für Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Wissenstransfer stehen und deshalb wurde in der Pandemie auch das XR-Konsortium gegründet. Kannst du uns ein paar Worte zum Konsortium sagen? Ja, es ist als Konsortium aller deutschen XR-Fachverbände gegründet worden, um die gesamte Bandbreite an Aktivitäten und Interessen abdecken zu können. Wir hatten eigentlich zwei Gründungsmomente. Der erste Anlass war die Publikation des XR- Branchenbuches initiiert von der VR/ AR Association 2019. 2020 im ersten Corona-Jahr haben sich dann mehrere XR-Fachverbände entschieden, ein XR-Konsortium zu gründen. Der EDFVR, der VRBB, Next Reality Hamburg, XR-Bavaria und VDC Fellbach haben gemeinsam einen monatlichen Jour fixe

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vereinbart. Dort haben sich die XR-Fachverbände aus Deutschland zusammengetan, weil wir in der Krise das Gefühl hatten, nur gemeinsam etwas bewegen zu können. Es gibt zudem noch ein paar andere Player, die nicht in Fachverbänden organisiert sind, Netzwerke und andere informelle Gruppen. Und was genau macht der EDFVR? Da die XR-Branche noch nicht sehr groß ist, war die Idee, sich gegenseitig zu unterstützen und nicht aneinander vorbei oder im schlimmsten Fall gegeneinander zu arbeiten. Wir als EDFVR sind der deutsche XR-Bundes-Fachverband, und unsere Mitglieder sind in ganz Deutschland verteilt. Wir vertreten gemeinsam über 100 Mitglieder und wollen uns als EDFVR als Bundesverband und Schnittstelle zu Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik positionieren, inklusive Lobbyarbeit. Als Vertreter der Branche müssen wir oft erklären, was wir machen, wer wir sind und warum wir eine Relevanz haben. Warum sind wir nicht nur heute, sondern auch in Zukunft wichtig? Auch das muss man dazu sagen: Wir sind ein Teil der digitalen, der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Transformation. Denn das, was wir als Gesellschaft, Wirtschaft und als Kultur in ein paar Jahren erleben werden, wird nochmal viele neue Aspekte, Herausforderungen und Inhalte bereithalten. Was ist deine Vision der Extended Reality der Zukunft? Es gibt da mehrere Thesen, die man betrachten kann. Wie werden wir auf Reisen gehen, Spaß haben, Sex haben. Die perfekte digitale Realität hat zum Ziel, dass wir es tatsächlich schaffen, eine neue artifizielle Industrie zu entwickeln, eine künstliche Form von Realität, in der sich die Menschheit auch entwickeln kann. Diese „läuft“ permanent parallel zu der normalen Realität, sodass wir uns aussuchen und immer selbst entscheiden können, wo wir uns befinden möchten. Ich glaube nicht, dass auf einmal alles digital wird und wir das Analoge vergessen können. Tatsächlich stelle ich mir eher eine Art digitale Zwischenschicht vor, die sich ganz normal in unseren Alltag einfügen wird. Woran ich glaube, ist, dass das digitale Objekt eine stabile große Entwicklungsumgebung benötigt, ein Environment, also Licht, Landschaften etc., und darin gibt es zusätzliche digitale Objekte. Das können sehr triviale Dinge sein, auch Objekte, die durch andere Menschen gesteuert werden. Zum Beispiel Informationen, die durch einen permanenten Live-Datenfluss aus der realen Welt und aus digitalen Quellen eingespielt werden. Diese Bandbreite an digitalen Objekten muss nicht zwangsläufig visuell sein, sondern kann auch

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aus Audio- Elementen bestehen bzw. angereichert sein. Da verbirgt sich noch ein sehr großes Potenzial. Ich bin sicher, dass diese digitalen Objekte viel „alltäglicher“, also „normaler“ für uns werden. Wir sind dann als Branche in der Rolle des Vermittlers, um dies in und mit der Gesellschaft zu etablieren. Die Frage der Hardware ist derzeit allerdings noch offen. Wird es tatsächlich ein Headup- Display – also eine VR/AR-Brille – oder eine andere noch kommende Innovation sein? Ich bedanke mich für die Ausführlichkeit. Ich resümiere jetzt mal: In Zukunft wird der Mensch es sich aussuchen können, ob er die reale Welt ohne zusätzliche Technologie betrachtet oder – wie bei Augmented Reality – die Realität mit digitalen Möglichkeiten anreichert. Kann ich das so festhalten? Wir werden nicht in einer in real und digital getrennten Welt leben, sondern in einer Vermengung. Auf der einen Seite sind wir weiterhin in der gewohnten Realität und andererseits wird diese Welt zusätzlich durch digitale Objekte bevölkert, und diese Objekte können verschieden definiert sein. Danke dir für das Interview.

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XR + Kommunikation Mixed Reality als Maßnahme in Unternehmenskommunikation und Marketing Markus Kaiser

Zusammenfassung

Es gibt zahlreiche überzeugende Anwendungsbeispiele für XR in der Kommunikation. In der Breite der Unternehmen wird im Marketing und in der Unternehmenskommunikation allerdings noch sehr wenig auf immersive Medien gesetzt. Ein Großteil der Mitarbeitenden in diesen Bereichen fühlt sich – im Gegensatz zu Social Media – über Trends und Einsatzmöglichkeiten noch zu schlecht informiert, hat eine Befragung von Vertretern der Unternehmenskommunikation und des Marketings im August 2022 ergeben. „Zu teuer“, „zu wenig ausgereift“ oder „passt nicht zu unserem Produkt/unserer Dienstleistung/Branche“ gaben die meisten an. Dabei bieten sich durch Virtual, Mixed und Augmented Reality vollkommen neue Möglichkeiten, um Kunden ein emotionales und immersives Markenerlebnis zu ermöglichen, wie gelungene Beispiele aus Deutschland zeigen. Auch in der internen Kommunikation (zum Beispiel bei größeren Veränderungsprojekten) bietet es sich an, auf XR zu setzen und die eigenen Mitarbeiter in neue Arbeitswelten digital eintauchen zu lassen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Großkonzerns erhalten von ihrem Unternehmen jeweils ein Cardboard für ein paar wenige Euro, um sich damit in einer App ihre neuen Büroräume anschauen zu können. Ein Möbelhandelsriese lässt über die Spieleplattform Steam die eigene Küche oder das Bad planen. Bevor man an den Urlaubsort reist M. Kaiser (B) TH Nürnberg, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_8

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M. Kaiser

XR in der Kommunikaon Unternehmenskommunikaon

Interne Kommunikaon (u.a. Change Communicaon)

Externe Kommunikaon (u.a. CSR, Employer Branding)

Markeng (und Vertrieb)

Werbung

Journalismus

Sponsoring

Abb. 8.1 Der Einsatz von XR in der Kommunikation ist breit gefächert und reicht von Unternehmenskommunikation über Marketing bis hin zu Journalismus. (Quelle: eigene Darstellung)

und ein Hotel bucht, kann man sich dort schon einmal umschauen und die Vorfreude auf die Erholung oder das Abenteuer genießen. Ein Messestand wird dank Augmented Reality zu einem 3D-Showroom. Dies sind nur einige wenige Beispiele, die zeigen, wie vielfältig die Einsatzmöglichkeiten von Virtual und Augmented Reality in der Kommunikation sind (s. Abb. 8.1). Diese Beispiele verdeutlichen auch, in welchen unterschiedlichen Bereichen XR hier eingesetzt werden kann, wenn man die Kommunikationsbranche weit fasst: wie bei den neuen Büroräumen in der internen Unternehmenskommunikation bzw. Change Communication, wie beim Reiseveranstalter im Marketing bzw. der Werbung und Sales oder wie im Showroom in der Unternehmenskommunikation. Unterschiedlich ist auch, wann und wo die VR- bzw. AR-Anwendungen eingesetzt werden: bei den Menschen zu Hause, mit deren eigener Hardware oder an einem zentralen Ort, an dem das Unternehmen beispielsweise die VR-Brille oder die Konsole stellen. Unterschieden werden kann außerdem zwischen Anwendungen, die jederzeit genutzt werden können, und solchen, die zu einem fixen Zeitpunkt (etwa bei einer Messe) oder an einem fixen Ort (etwa AR-Anwendungen bei einer Sehenswürdigkeit) genutzt werden können. Zu Kommunikation kann auch der Journalismus gezählt werden. Auf XR + Journalismus wird in diesem Buch in einem separaten Kapitel von Prof. Dr. Till Krause „Augmented Reality und Journalismus. Zwischen Innovation, Spielerei und digitaler Zukunft“ näher eingegangen.

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Studien sehen viel Potenzial, aber eine noch geringe Nutzung

Diese Vielfältigkeit zeigt, dass es kaum Zahlen darüber gibt, welche Rolle XR in der Kommunikation heute bereits spielt und welches Potenzial in ihr steckt. Eine ExtendedReality-Studie der Unternehmensberatung Deloitte aus dem Jahr 2020 zog eine eher ernüchternde Bilanz: „Der Markt entwickelt sich mit einer deutlichen Verzögerung, zudem fällt der Anstieg der Umsätze deutlich moderater aus als vor fünf Jahren erwartet.“ (Deloitte, 2020). Die Studie basierte auf einer Befragung von 2000 Konsumenten. Das Positive: Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des Umsatzes von XR-Hardware liege zwischen 2019 und 2024 bei beachtlichen 30 % (vgl. ebd.). Diese Studie bildet jedoch ausschließlich die Perspektive der User von Hardware ab. Eine weitere Studie aus dem Jahr 2021 der Technischen Hochschule Köln hat bei den Unternehmen, die Leistungen rund um XR anbieten, angefragt, für welche Branche sie am häufigsten arbeiten: Hier landete der Bereich Medien, Information und Kommunikation mit 43 % nach dem verarbeitendem Gewerbe (68 %) sowie Kunst und Unterhaltung (53 %) auf Platz drei (vgl. TH Köln, 2021). Auch diese Studie allein gibt keinen Aufschluss darüber, welche Rolle Virtual, Mixed und Augmented Reality heute im Bereich Kommunikation und Marketing spielen. Deshalb wurden für diesen Buchbeitrag im Zeitraum vom 1. bis 3. August 2022 per E-Mail 120 Unternehmen angeschrieben mit der Bitte, sich im Zeitraum vom 1. bis 19. August 2022 an einem Online-Fragebogen über das Tool Surveymonkey zu beteiligen. Angeschrieben wurden sowohl die Bereiche Marketing als auch Unternehmenskommunikation. Es handelte sich dabei um Unternehmen mit mindestens 100 Mitarbeitenden in Deutschland, die in verschiedenen Branchen tätig sind. Die von den Unternehmen angebotenen Produkte und Dienstleistungen richten sich sowohl an Geschäftskunden (B2B) als auch an den Endverbraucher (B2C). Es beteiligten sich 57 Unternehmensvertreter an der Online-Befragung. Das Ergebnis: Nur vier der 57 Unternehmen (7 %) hatten im Bereich Kommunikation und Marketing bisher Erfahrungen mit XR gesammelt. Alle vier hatten hierbei auf Unterstützung eines externen Dienstleisters zurückgegriffen. Auf die Frage, warum sie XR einsetzen bzw. darauf verzichten, waren sich die vier Unternehmen einig (Mehrfachnennungen waren möglich): „Emotionen wecken“ wurde von allen genannt, gefolgt von „Authentizität vermitteln“ (drei Nennungen) und „First-Mover sein“ (zwei Nennungen). Von den 53 Unternehmen, die bislang keine Erfahrungen gesammelt hatten, antworteten nur 46 nach dem Grund ihrer Zurückhaltung (auch hier waren Mehrfachnennungen möglich): „Zu teuer“ gaben 38 an, „Technik zu wenig ausgereift“ fanden 32, „Passt nicht zu unserem Produkt/Dienstleistung/Branche“ nannten 22, „Know-how im Unternehmen fehlt“ 17 und „Kunden wollen dies nicht“ sagten 14 Befragte aus. Diese Befragung lässt den Schluss zu, dass die XR-Branche noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten hat, damit sich immersive Medien wie VR und AR in Unternehmen

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als Kommunikations- bzw. Marketing-Tool ähnlich wie beispielsweise Social Media, Newsletter oder Werbespots im Fernsehen, Radio oder auf YouTube breit etablieren. Von sich aus beschäftigen sich die Unternehmen sehr wenig mit immersiven Medien in der Kommunikation: Von den 57 Rückmeldungen gab nur ein Mitarbeitender an, dass er sich sehr gut informiert über Trends und Einsatzmöglichkeiten von XR fühle, weitere zwei Mitarbeitende sahen sich „gut“ informiert. 45 Mitarbeitende meldeten zurück, dass sie sich „schlecht“ informiert fühlen, sieben „sehr schlecht“ und zwei machten keine Angabe. Lediglich 57 von 120 Rückmeldungen, verteilt über verschiedene Branchen und Unternehmensgrößen ab 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, könnten den Schluss zulassen, dass die Aussagekraft bei einem neuartigen Thema wie XR noch relativ gering ist. Sicherlich ist dies kein repräsentativer Blick auf alle Unternehmen und auch nicht differenziert nach Branchen. Auf die Frage, wie gut sich die Mitarbeitenden aber über Trends und Einsatzmöglichkeiten von Social Media informiert fühlen, zeigt sich indes ein ganz anderes Bild: 26 fühlen sich „sehr gut“ informiert (46 % gegenüber 2 % bei XR), 25 fühlen sich „gut“ informiert (44 % gegenüber 4 %) und nur vier halten sich für „schlecht“ (7 % gegenüber 79 %) und zwei „sehr schlecht“ (4 % gegenüber 12 %) informiert. Ein deutlicher Unterschied zwischen XR und Social Media war zwar erwartbar, doch diese Deutlichkeit zeigt einen enormen Nachholbedarf auf. Wie auch die Studie von Deloitte zeigte, wird die Zukunft von den 57 Unternehmensvertreterinnen und -vertretern aber auch hier positiv beurteilt: 28 sind der Ansicht, dass die Bedeutung von XR in der Kommunikation zunehmen werde, 22 glauben, dass sie gleichbleiben wird, und sieben gehen davon aus, dass sie abnehmen werde. Auf die Frage, ob künftig Virtual Reality oder Augmented Reality eine größere Rolle spielen werde, antworteten 24 mit Virtual Reality, 27 mit Augmented Reality und sechs mit „Weiß nicht“. Dieses Ergebnis ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, da der Großteil der Befragten schließlich angegeben hatte, sich „schlecht“ oder sogar „sehr schlecht“ über Trends und Einsatzmöglichkeiten von XR informiert zu fühlen.

8.2

Anwendungsbeispiele in der Unternehmenskommunikation

8.2.1

Interne Kommunikation mit Change Communication

Die interne Kommunikation eines Unternehmens richtet sich an die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das Intranet, Personalversammlungen oder Rundmails sind einige Kommunikationsformen, die hier genutzt werden. Bei größeren Themen (insbesondere bei der Change Communication im Rahmen von Veränderungsprojekten) bietet es sich an, hier kreativer zu denken und sich neue Kommunikationsformen zu überlegen. So hat beispielsweise ein DAX-Konzern an einem seiner Standorte einen Pop-up-Store im Einkaufszentrum gemietet, um den Mitarbeitenden, aber vor allem auch dessen Familienangehörigen, einen Einblick in die neuen Büroeinrichtungen im Neubau zu

8 XR + Kommunikation

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geben. Bei neuen Arbeitsplätzen (zum Beispiel auch der Einführung von MultispaceArbeitsplätzen statt der klassischen Zellenbüros) könnten sich die Mitarbeitenden aber auch via Virtual-Reality-Brille einen Eindruck verschaffen (siehe Abb. 8.2). Einen weiteren Ansatz im Change Management sieht Jill Beuk von der Unternehmensberatung Atos aus den Niederlanden für den Einsatz von Augmented Reality: Wenn Mitarbeitende beim Bau einer neuen Fabrik in den leeren Räumen durch die erweiterte Realität vorab sehen können, wie diese später aussehen würde, können sie bereits hier Bedenken äußern, es können Ängste abgebaut und Veränderungen vorgenommen werden (vgl. Atos, 2020). Nach einem Change-Management-Modell des US-Unternehmens Prosci gibt es fünf Ebenen, auf die sämtliche Maßnahmen des Veränderungsmanagements einzahlen müssen: Zunächst muss Bewusstsein geschaffen werden, dass die Veränderung nötig ist. Als Zweites muss der Wunsch geweckt werden, sich aktiv am Wandel zu beteiligen. Als Drittes folgt die Wissensvermittlung, bevor die Möglichkeit für die veränderte Arbeitsweise geschaffen werden muss. Zum Abschluss geht es darum, die neue Arbeitsweise zu verankern, damit diese nach einer gewissen Zeit nicht mehr als etwas Neues wahrgenommen wird. ADKAR nennt Prosci dieses Modell, das sich als Akronym aus den Wörtern Awareness, Desire, Knowledge, Ability und Reinforcement zusammensetzt (siehe Abb. 8.3) (vgl. Prosci, 2022). XR kann vor allem im zweiten und dritten Schritt des ADKAR-Modells nützlich sein. Es kann den Wunsch wecken, nach den neuen Arbeitsweisen zu arbeiten, wenn man sich beispielsweise die neuen Büroräume bereits als VR-Anwendung ansehen kann. Um Wissen zu vermitteln, wie künftig gearbeitet werden muss, können ebenfalls VR und AR sehr hilfreich sein, beispielsweise wenn es bei der Automobilherstellung neue Handgriffe für die Mitarbeitenden auszuführen gilt. Weniger nützlich wird XR in späten Phasen eines

Mögliche Change-Management-Maßnahmen (mulmediale) Intranet-Beiträge

Workshop

Schulungen

Mitarbeiterzeitung

Personalversammlung

Coaching

Plakatakon

Pop-up-Store

Virtual-Reality-App

Chatbot

Tag der offenen Tür

...

Abb. 8.2 Auch bei Change-Management-Maßnahmen bietet es sich an, auf immersive Medien zu setzen, um Mitarbeitern die neuen Arbeitsweisen erlebbar zu machen. (Quelle: eigene Darstellung)

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M. Kaiser

Das ADKAR-Modell von Prosci Awareness

Desire

Knowledge

Ability

Reinforcement

1. Bewusstsein schaffen

2. Wunsch wecken

3. Wissen vermieln

4. Können/Möglichkeit schaffen

5. Verankerung

Abb. 8.3 Das ADKAR-Modell von Prosci zeigt, worauf Change-Management-Maßnahmen einzahlen sollten. (Grafik: eigene Darstellung)

Veränderungsprojekts, weil dann allmählich beispielsweise in den realen neuen Büros gearbeitet werden kann. XR ist sicherlich nicht als alleinige Change-Management-Maßnahme in einem Veränderungsprojekt sinnvoll. Schließlich wird es mehr Kommunikations- und Erklärungsbedarf geben. Allerdings kann damit ein sehr authentischer Eindruck verschafft werden, der insbesondere auch auf die Emotionen der Mitarbeitenden abzielt. Naturgemäß rechnet sich XR in der Change Communication erst ab einer gewissen Größenordnung der betroffenen Mitarbeiter und des Projekts, wie dies bei dem DAX-Konzern und dem Neubau beispielsweise der Fall war. Wenn XR in diesem Rahmen eingesetzt wird, sollte beachtet werden, dass die Mitarbeiter die Anwendung auch nutzen können. Zum einen wird womöglich die Hardware benötigt bzw. bei manchen AR-Anwendungen mit dem Smartphone muss für die beruflich genutzten Smartphones auch die Möglichkeit freigeschaltet sein (und per Betriebsvereinbarung geregelt), dass die App heruntergeladen und genutzt wird.

8.2.2

Externe Unternehmenskommunikation mit Corporate Social Responsibility

Während bei der internen Unternehmenskommunikation mit der Change Communication die eigenen Mitarbeitenden die Zielgruppe darstellen, richtet sich die externe

8 XR + Kommunikation

63

Unternehmenskommunikation an vielfältige Stakeholder: Kunden, Lieferanten, Anwohner, Investoren, Medienvertreter, aber auch die breite Öffentlichkeit. Hier gilt es daher umso mehr zu bedenken, wie die jeweilige Zielgruppe die XR-Anwendung nutzen kann. Wird dies im Rahmen einer Live-Kommunikation (zum Beispiel einem Messeauftritt oder Event) eingebunden, kann das Unternehmen für ausreichend Hardware vor Ort sorgen. Möglich ist dies auch, wenn beispielsweise im Einzelhandel Kunden vor Ort die Applikation nutzen sollen. Schwieriger wird es, wenn die Nutzer dies zu Hause oder an einem anderen mobilen Ort von einem eigenen Endgerät erleben sollen. Hier muss an eine Bedienungsanleitung gedacht werden, aber ggf. auch daran, den Kunden Cardboards per Post zuzusenden, um das eigene Smartphone zur VR-Brille werden zu lassen. Auch sollte unbedingt daran gedacht werden, dass die Anwendung auf verschiedenen Endgeräten mit verschiedenen Betriebssystemen und Software-Updates funktioniert. Die Anwendungsfelder sind vielfältig: So ist es beispielsweise möglich, besorgten Bürgern bei einem Vor-Ort-Termin mit Augmented Reality zu zeigen, wo genau die geplante neue Fabrik gebaut wird und dass diese nicht – wie befürchtet – den Blick auf den hinter der Stadt liegenden Berg nimmt. Möglich wäre es außerdem, in einer Pressekonferenz des Flughafens über die neuen Reiseziele einen virtuellen Einblick zu geben, was in den jeweiligen Städten bzw. auf den Inseln unternommen werden kann. Auch sind mit AR angereicherte Kundenmagazine denkbar, in denen Fotos zu Videos werden, wenn man sein Smartphone darüber hält oder das Editorial des Vorstandsvorsitzenden von ihm vorgelesen wird, wenn man auf den entsprechenden Marker sein Smartphone hält. An dieser Stelle sei auf etwas Grundsätzliches bei XR-Anwendungen im Bereich der Kommunikation verwiesen: Es wäre falsch, wenn sich der Bereich Unternehmenskommunikation vornimmt, eine Virtual-Reality-Anwendung gemeinsam mit einer Agentur zu entwickeln, und erst dann überlegt, was damit erreicht werden soll. Womöglich sollte man in diesem Fall dann gar keine VR-App entwickeln, sondern ein Chatbot, eine Pressemitteilung oder ein Social-Media-Post wäre die bessere Kommunikationsmaßnahme gewesen. Strategische Kommunikation bedeutet, dass man zunächst (oftmals basierend auf der Unternehmensstrategie bzw. Vision) ein Kommunikationsziel festlegt. Dadurch wird auch klar, welche Botschaft gesendet werden soll (bzw. wie in einer interaktiven Welt man mit welchem Thema in den Dialog kommen möchte). Aus der Zielsetzung ergibt sich die Zielgruppe. Erst als weiterer Schritt wird festlegt, wie man mit seiner Botschaft die Zielgruppe erreichen kann. Wenn die Zielgruppe affin für immersive Medien ist, wenn sich die Botschaft dadurch auch gut erzählen lässt, dann kann man XR in Betracht ziehen. Der letzte Schritt ist die Umsetzung, die je nach Zielgruppe völlig unterschiedlich aussehen kann, was beispielsweise die Bildsprache, die Farbwahl oder auch das Tempo des Schnitts bei einem 360-Grad-Video betrifft (siehe Abb. 8.4). Dies bedeutet zusammengefasst: Die Festlegung der Zielsetzung, des Themas und der Zielgruppe müssen immer die ersten Schritte sein, wenn man VR-Anwendungen im Unternehmen verwenden möchte. Eine Ausnahme mag sein, dass man als First Mover

64 Abb. 8.4 Bei einem Kommunikationskonzept beginnt man immer mit der Zielsetzung und nicht mit der Wahl des Mediums. (Quelle: eigene Darstellung)

M. Kaiser

Kommunikaonskonzept Zielsetzung (mit Botscha)

Zielgruppe

Kanal

Umsetzung

im Kommunikationsbereich gelten möchte und deshalb immer die neusten Technologien nutzt. VR, MR und AR erweitern vielmehr die Möglichkeiten, auf die man in der Unternehmenskommunikation zugreifen kann. Man kann sich dies vorstellen wie einen großen Schrank mit vielen Schubladen: Eine Schublade steht für eine Pressemitteilung, eine für ein Video auf dem unternehmenseigenen YouTube-Channel, eine für einen Messestand, eine für einen Vortrag auf einer Konferenz, eine für einen Chatbot, eine für eine Landingpage im Internet, eine für eine gedruckte Kundenzeitschrift – und es gibt eben ein paar weitere neue Schubladen, in denen XR-Technologien stecken. Bevor man die jeweilige Schublade öffnet, sollte man sorgfältig anhand verfügbarer Daten analysieren, ob man sein Ziel und seine Zielgruppe in diesem konkreten Fall damit auch erreicht. Im Social Web ist dies auf Anhieb einleuchtend: Kein Social-MediaManager würde Jugendliche auf Facebook und Senioren auf TikTok oder Snapchat zu erreichen versuchen. Zurück zu konkreten Beispielen: Auch Projekte im Bereich Corporate Social Responsibility (CSR) lassen sich via immersiver Medien erlebbar machen. „Das soziale SchuhUnternehmen Toms zeigt in einem VR-Video, wo die von ihm gespendeten Schuhe in Peru hingehen – zu Kindern in ländlichen Gebieten, damit sie nicht barfuß zur Schule gehen müssen.“ (Evalanche, 2017). Im Gegensatz zum Marketing geht es im Bereich Unternehmenskommunikation nicht um den direkten Absatz und Vertrieb von Produkten und Dienstleistungen. Allerdings verschwimmen im digitalen Zeitalter die verschiedenen Unternehmensbereiche. Am Beispiel eines Facebook-Kanals lässt sich dies verdeutlichen: Während die externe Unternehmenskommunikation für den selbst erstellten Post verantwortlich ist, schaltet das Marketing Werbeanzeigen, und der Kundenservice (manchmal auch der Vertrieb) reagiert auf interne Messages oder zum Teil Kommentare unter den Posts. Ähnlich verhält es sich bei XR: Auch hier ist eine klare Trennung zwischen den zuständigen Bereichen eines Unternehmens oftmals nicht mehr möglich – und dem Kunden ist dies sogar völlig egal. Er möchte, dass ihm möglichst schnell geholfen wird und er einen Single Point of Contact (SPoC) hat.

8 XR + Kommunikation

8.3

65

Marketing

Umgangssprachlich wird Marketing häufig mit Werbung gleichgesetzt. Werbung ist allerdings nur ein Teilbereich des Marketings. Von den 4 P (inzwischen immer häufiger sogar den 7 P) ist die Rede, wenn man Marketing allumfassend erklären möchte. Die 4 P stehen für Produktpolitik (Product), Preispolitik (Pricing), Distributionspolitik (Placement) und Marketingkommunikation (Promotion) (siehe Abb. 8.5). Zu Letzterem wird unter anderem Werbung gezählt. XR kann bei allen 4 P eine bedeutende Rolle spielen: So entstehen manche Produkte erst virtuell durch Feedback von Kunden (beispielsweise der Grundriss von neuen Wohnungen nach virtuellen Besichtigungen im Holodeck). Der erzielbare Preis der Wohnungen kann besser abgeschätzt werden, wenn Kunden vorab zu ihrer Zahlungsbereitschaft gefragt werden können – was beim Betrachten eines virtuell in der Wohnung platzierten Sofas realistischer wird. Großen Einfluss hat XR auf die Distributionspolitik, also die Frage: Wo wird ein Produkt bzw. eine Dienstleistung zum Kauf angeboten? So gibt es erste Sportartikelhersteller, die in ihren Outlets nicht alle Artikel in allen Farben verfügbar haben, diese aber virtuell erscheinen lassen. Dadurch können Geschäfte mit großen Verkaufsflächen als künftig kleinere Läden geführt werden und die gekaufte Ware wird von einem anderen Standort nach Hause geliefert. Es ist dadurch auch möglich, den Ort des Verkaufs von Waren zu flexibilisieren, wenn man für den Vertragsabschluss nur ein Smartphone oder eine VR-Brille benötigt. An dieser Stelle soll vor allem auf Marketing in seiner Promotion-Funktion eingegangen werden. XR ermöglicht es der Werbebranche, in vielen Fällen einen weiteren Trend aufzugreifen: nämlich den zu nützlicher Werbung. Wenn Werbespots im Fernsehen langweilen oder gar nerven, zappt man weg oder überspringt die Werbeblöcke mit Smart TV. Prospekte von Supermarktketten landen oftmals ungelesen im Papiermüll. Dadurch gibt es für die Kunden durch Werbung ein negatives Markenerlebnis. Das bedeutet: Das Unternehmen erreicht das Gegenteil dessen, was es eigentlich mit seiner Werbung erzielen möchte, nämlich die Absatzförderung. Abb. 8.5 Die 4 P: Produktpolitik, Preispolitik, Distributionspolitik und Promotion. Werbung ist nur ein Bereich, der unter Promotion angesiedelt ist. (Grafik: eigene DarstellungDatei: Grafiken XR-Buch Kommunikation_ Markus.pptx – slide 5)

4 P im Markeng

Product

Pricing

Placement

Promoon

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M. Kaiser

Werbung via XR kann dagegen einen Mehrwert bieten (oder zumindest einen Spielspaß). Ein Beispiel hierfür war die App von IKEA. Man konnte aus dem digitalen Katalog Sofas, Schränke oder Betten auswählen und virtuell in seine eigene Wohnung durch Augmented Reality setzen. Hier war ein Mehrwert gegeben, weil die Nutzer sich damit ansehen konnten, wie das potenziell neue Sideboard mit der schon vorhandenen Gardine und dem Esstisch harmoniert. Mit seiner ersten Version dieser App war IKEA im Jahr 2014 tatsächlich Vorreiter (vgl. IKEA, 2014). Die Möglichkeiten, immersive Medien in der Werbung einzusetzen, sind vielfältig. Hierfür gibt es (noch) keinen Standard. Es wird experimentiert. Von hochwertig und mit hohem Budget angefertigten Produktionen bis hin zu einfachen, selbst programmierten Lösungen kleinerer Agenturen ist derzeit alles zu finden. „So können Produktdemonstrationen durchgeführt werden, ohne das Produkt zum Ausstellungsort transportieren zu müssen. Auch können verschiedene Varianten leicht gezeigt und durch die visuelle Darstellung im Raum erlebbar gemacht werden. Dies ist besonders bei Produkten interessant, die nur aufwendig transportiert werden können.“ (Bitkom, 2021). VRketing, eine Agentur aus Dresden, bringt es auf den Punkt, was die Projekte gemein haben bzw. gemein haben sollten: „Ein aktives Eintauchen in neue Welten oder die Erweiterung der Wahrnehmung über virtuelle Elemente können für immersive und nachhaltige Markenerlebnisse und damit für eine tiefe Verankerung von unterschwelligen Botschaften sorgen.“ (VRketing, 2022). Die Agentur sieht dabei die Multisensorik von hoher Bedeutung an, also neben dem Sehen auch das Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen (vgl. ebd.). Dr. Philipp Rauschnabel, Professor für Marketing an der Universität der Bundeswehr München und Experte für immersive Medien, sieht in Apps wie von IKEA sogar den am wenigsten zukunftsorientierten Anwendungsfall. Vielmehr sieht er andere, vielversprechendere Potenziale. In einem lesenswerten Blogbeitrag stellt er ein paar diskussionswürdige und inspirierende Thesen auf: Bei AR mit mehreren Nutzern könnten diese beispielsweise miteinander agieren, statt nur mit der Marke. AR-Inhalte können dauerhaft mit einem Schaufenster verknüpft sein. Die Daten, die durch die Nutzung von AR erzeugt werden, sollten sinnvoll genutzt oder bewusst nicht genutzt werden. Und AR kann selbst zu einem Produkt werden (vgl. Rauschnabel, 2022). Dies zeigt zum einen, dass XR nicht losgelöst von anderen Technologie-Trends gedacht werden kann: Künstliche Intelligenz, Social Media, Blockchain und womöglich das Metaverse – diese Entwicklungen müssen auch bei XR mitgedacht werden. Im Marketing wird XR ein Bestandteil des Marketing-Mix, aber andere Ausspielkanäle nicht ablösen. Insbesondere das Thema Social VR (Kap. 6) wird in Zukunft eine größere Rolle spielen. Die derzeitige Entwicklung zeigt aber auch, dass zunächst kein disruptiver Entwicklungsschub zu erwarten ist, sondern durch einen inkrementellen Wandel sich auch XR in der Kommunikation verändern wird.

8 XR + Kommunikation

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Fazit

Für XR gibt es in der Kommunikationsbranche bereits viele gute Beispiele, beginnend mit der ersten IKEA-App aus dem Jahr 2014, in der man ein Sofa aus dem Katalog in sein eigenes Wohnzimmer projizieren konnte. Virtual, Mixed und Augmented Reality sind allerdings in der Breite der Bereiche Unternehmenskommunikation und Marketing aus vielfältigen Gründen noch nicht angekommen. In einer für diesen Buchbeitrag durchgeführten Befragung gaben nur vier von 57 Unternehmensvertretern an, ein Projekt mit immersiven Medien bereits durchgeführt zu haben. Ein Großteil fühlt sich über Trends und Einsatzmöglichkeiten von XR schlecht bzw. sehr schlecht informiert. Ein Experte der Universität der Bundeswehr München sieht es kritisch, dass heutige AR-Anwendungen auch die Hauptanwendungen der Zukunft sein sollen. Er erkennt vielmehr weitere Potenziale und sieht auch den Dialog zwischen Kunden in der virtuellen Welt. Wer VR oder AR einsetzt, sollte sich zunächst Gedanken über seine Zielsetzung und die Zielgruppe gemacht haben und sich nach reiflicher Überlegung für diese Technologie entscheiden, statt ein XR-Projekt um seiner selbst Willen durchzuführen.

Literatur Atos. (2020). Change Management & Augmented Reality. https://www.youtube.com/watch?v=hv_ pU1yqhM8. Zugegriffen: 20. Aug. 2022. Bitkom. (2021). Augmented und Virtual Reality Potenziale und praktische Anwendung immersiver Technologien. https://www.bitkom.org/sites/default/files/2021-04/210330_lf_ar_vr. pdf. Zugegriffen: 19. Aug. 2022. Deloitte. (2020). Extended Reality Studie 2020: Marktanalyse und Prognose. https://www2.del oitte.com/de/de/pages/technology-media-and-telecommunications/articles/extended-reality-xrstudie-2020.html. Zugegriffen: 20. Aug. 2022. Evalanche. (2017). Top 5 Beispiele für Marketing mit Virtual Reality. https://www.sc-networks.de/ blog/top-5-beispiele-fuer-marketing-mit-virtual-reality/. Zugegriffen: 20. Aug. 2022. IKEA. (2014). Place IKEA furniture in your home with augmented reality. https://www.youtube.com/ watch?v=8_yXEluXLbU. Zugegriffen: 20. Aug. 2022. Prosci. (2022). The Prosci ADKAR Model. https://www.prosci.com/methodology/adkar. Zugegriffen: 20. Aug. 2022. Rauschnabel, P. (2022). Besonderheiten von Augmented Reality Marketing. https://www.philippra uschnabel.com/augmented-reality-forschung/augmented-reality-marketing-definition-insightsbesonderheiten/. Zugegriffen: 20. Aug. 2022. TH Köln. (2021). Cross Reality in Deutschland 2021. https://medien.nrw/wp-content/uploads/sites/ 8/2021/10/XR-Studie-DE-2021_RZ_websiteversion.pdf. Zugegriffen: 20. Aug. 2022. VRketing. (2022). Einsatzpotenzial von R und AR in der Live-Kommunikation. https://vrketing.de/ einsatzpotential-von-vr-und-ar-in-der-live-kommunikation/. Zugegriffen: 20. Aug. 2022.

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M. Kaiser

Prof. Markus Kaiser, geb. 1978 in Nürnberg, ist Professor für praktischen Journalismus an der Technischen Hochschule Nürnberg sowie Berater für Change Management, Kommunikation, Social Media, Innovationsmanagement und Leadership. Zuvor war er als Journalist, Pressesprecher einer Behörde und Leiter der Medienstandort-Agentur des Freistaats Bayern tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Auto als Medienzentrum der Zukunft, Change Management in der Kommunikationsbranche und Automatisierung im Journalismus (wie zum Beispiel Chatbots und Roboterjournalismus). Kaiser war Mitgründer des ersten bayerischen Augmented Reality Days an der Hochschule für Film und Fernsehen München.

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Digitalität – global, relevant und praxisnah Bolela Likafu

Interview mit Nicole Celiekkesen, Country Manager Digital Africa bei der GIZ

Zusammenfassung

Der Blick durch die”digitale Linse” auf unsere Nachbarn endet häufig und vielleicht zu oft innerhalb Europas. Die Herausforderungen und Chancen der Digitalisierung und der Anspruch an neue Technologien wie VR/AR werden bei unserem Nachbarkontinent Afrika durchaus anders gesehen und gelebt. Nicole Celikkesen ist bei der GIZ für die internationale Zusammenarbeit im Bereich Digital & Tech mit Schwerpunkt Afrika zuständig. Ihre vorherigen Stationen waren u. a. Countrymanager Digital Africa bei der GIZ und Head of Partner Management & Cooperations bei der re:publica GmbH.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_9

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Bolela Likafu:

Nicole Celikkesen:

B. Likafu

In deiner Funktion als „Country Manager Digital Africa“ hast du sehr viel mit dem Thema Digitalisierung zu tun. Wir betrachten Extended Reality als ein wichtiges Thema der Informationsgesellschaft und der Digitalisierung und deshalb möchten wir gerne deine Einschätzung dazu hören. Hier ist die erste Frage: Wie ist der Stand der Digitalisierung bei der GIZ und ihren internationalen Projekten? Das ist für uns kein neues Thema. Wir sehen die Digitalisierung gerade für unsere Projekte mit Entwicklungs- und Schwellenländern als einen ganz wichtigen Schlüsselfaktor, um Lebensbedingungen von Menschen zu verbessern und um die globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) zu erreichen. Wir nutzen speziell dafür gerne den Begriff digitale Transformation, weil Digitalisierung an sich und auch die Technologien, um die es da geht, natürlich elementar sind, aber in vielen Fällen bewegen wir uns im gesellschaftlichen Kontext. Da muss man gewisse Dinge, die bereits bestehen, nicht komplett verändern und neu erfinden, sondern die Digitalisierung soll am besten dort ansetzen, wo sie das Bestehende verbessern kann. Es muss einen zukunftsfähigen Weg unterstützen. Was wir in den letzten Jahren weltweit massiv erleben, ist, dass die Digitalisierung gesellschaftliche Umbrüche auch forciert. Es entstehen ganz neue Alltagsgewohnheiten, neue Berufsbilder, alles, was wir auch in den letzten 20 Jahren in Deutschland und Europa erlebt haben. Ganze Wirtschaftszweige sind entstanden und das ist etwas, was wir auch in unserer Arbeit, der internationalen Zusammenarbeit, immer im Blick haben. Es geht darum, branchenspezifische und gesellschaftliche Projekte mit unseren Partnern in den Ländern

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Likafu: Celikkesen:

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zu starten oder weiterzuentwickeln. Wir sehen die Möglichkeiten für die Zusammenarbeit bei Technologiethemen auch in anderen Wirtschaftszweigen, z. B. braucht der Gesundheitssektor die Digitalisierung genauso wie die Landwirtschaft. Wir sehen aber auch die Herausforderungen. Das hat bei uns in den letzten Jahren zu immer mehr Lerneffekten geführt, sodass wir gesagt haben, es reicht nicht, die Technologie in die Länder zubringen, sondern es geht bei uns vor allen Dingen darum, wie wir Wissen austauschen können. Wie können wir nicht nur das Wissen, was wir haben, einbringen, sondern wie können wir auch das Wissen, was wir in den Ländern unserer Partner generieren, nutzen? Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der sich auch bei uns intern niederschlägt. Die ganzen internen Arbeitsabläufe zur Zusammenarbeit, die wir länderübergreifend einrichten müssen, sind durch digitale Lösungen effizienter geworden. Das heißt, das Wissen, was wir mitbekommen und was wir dazulernen, fließt sowohl in andere Projekte, als auch intern und strukturell in die Arbeit der GIZ allgemein ein. Und das ungefähr fast seit einem Jahrzehnt. Was sind deine Erfahrungen mit der Digitalisierung speziell in Afrika? Es sind überwiegend positive. Ich habe, bevor ich bei der GIZ eingestiegen bin, über 20 Jahre in der deutschen und europäischen Privatwirtschaft mit Schwerpunkt Digitalität gearbeitet. In Afrika ist man jedoch nochmal spezieller unterwegs. Nicht nur, weil man sich mit einer neuen Technologie beschäftigt oder den Einsatz der Technologie in der Wirtschaft oder in der Gesellschaft weiterentwickelt, sondern es sind in Afrika ganz andere Voraussetzungen und viele Herausforderungen, die man im Blick haben muss. Wenn man sich das in einem globalen Kontext anschaut, dann liegen die Länder Afrikas im Ganzen immer noch weltweit digital zurück. Das heißt, in den aktuell 191 Ländern, die es global gibt, sind die afrikanischen Länder weiterhin nicht das Schlusslicht, aber sie sind weit ab von der Spitze und könnten, gemessen an dem Standard, den wir in anderen europäischen Ländern haben, stärker sichtbar werden. Da ist viel Luft nach oben. Wir sehen diese digitale Kluft im globalen Vergleich. Die macht uns Sorge, natürlich. Auf der anderen Seite gibt es aber auch sehr viele Ansätze, wie man mit Digitalisierung und digitaler Transformation neu umgehen kann. Etwas, was wir vielleicht in unserer Entwicklung nicht so mitgemacht haben. Wir bemerken, dass in

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vielen afrikanischen Ländern für die digitale Transformation eigene Prioritäten gesetzt werden. Das heißt, man kopiert nicht irgendeinen Weg aus Industrieländern oder aus großen Ländern, sondern man schaut sich erstmal an: Wie ist hier kulturell der Stand der Dinge? Was haben wir hier für Voraussetzungen bzw. Wirtschaftsvoraussetzungen? Welchen besonderen Herausforderungen muss sich das Land stellen? Auf Basis dessen werden eigene Prioritäten gesetzt und das ist meiner Meinung nach ein ganz wichtiger Schritt. Diese Eigenverantwortung, die hat in den afrikanischen Ländern in den letzten Jahren massiv zugenommen. Wir sind nicht mehr in dem Modus: „Zeigt mal, was ihr in der Wirtschaft, in der Landwirtschaft, im Gesundheitsbereich oder in der Bildung gemacht habt und dann schauen wir mal, was wir hiervon umsetzen, sondern die afrikanischen Länder gehen mit mehr Eigenverantwortung in den Prozess rein.“ Man ist sich auch der Stärke bewusst, die man als Land, als Region und als Kontinent hat. Man geht aber auch vorausschauend in die Gestaltung und dabei spielt nicht nur die Technologie oder der Sektor eine Rolle, sondern es geht in Richtung kultureller Wandel. Es geht darum, dass man sich auch mit Risiken beschäftigt, dass man sich bewusst ist, dass Digitalisierung beispielsweise Jobs vernichtet, aber auf der anderen Seite auch neue schafft. Man muss in diesem Kontext sehr stark aufpassen, dass die Digitalisierung und die Technologien nicht missbraucht werden. In diesem ganzen Kontext ist vor allen Dingen der Austausch mit den Ländern und den Regionen wichtig. Es ist wichtig, dass man sich austauscht, dass man viel miteinander redet, dass man auf die Stimmen aus diesen Ländern hört und sie unterstützt, indem man sagt: Hier ist eure digitale Souveränität, das ist das, was jedes Land und jede Region für seine Zukunft braucht. Diese Länder müssen die Freiheit haben, selbst zu entscheiden, wie sie den Prozess gestalten. Jedes Land, jeder Kontext, jede Voraussetzung ist unterschiedlich. Kompetenzen sind unterschiedlich. Und was ich an afrikanischen Ländern in diesem Zusammenhang so faszinierend finde, ist diese wahnsinnige Innovationskraft, die aber aus der Praxis herauskommt. Es geht oft nicht darum, sich etwas Tolles auszudenken, beispielsweise eine App, und die dann zu verbreiten und zu gucken, wie die Bevölkerung oder wie die Nutzergruppen darauf reagieren,

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Celikkesen:

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sondern aufgrund unterschiedlicher, auch schwerer Lebensbedingungen, entstehen dort Innovationen und Lösungen, die wirklich aus dem Bedarf herauskommen. Da sind uns manche afrikanischen Länder ein bisschen voraus. Mit unserer Arbeit in diesem Kontext wollen wir erreichen, dass bei jeder digitalen Transformation, bei jeder digitalen Lösung, der Mensch im Mittelpunkt stehen muss. Es muss die Basis für ein menschenwürdiges Leben geschaffen werden. Wir müssen eine intakte Umwelt im Blick haben. Es gibt für diese ganzen Entwicklungen auch in unseren Ländern in Europa keine Blaupausen für manche Herausforderungen, das ist auch in unseren Regionen für viele neu. Es gibt auch keine KI, die uns das erklärt und sagt, wenn ihr das jetzt so und so gestaltet, wird das in zehn Jahren einen bestimmten Effekt haben. Die Auswirkungen kennen wir oft noch nicht. Man muss also miteinander reden, man muss Erfahrungen austauschen. Man darf Digitalisierung nicht als Selbstzweck bezeichnen, nur um zu sagen, des Digitalen wegen machen wir das jetzt. Man muss auch die Möglichkeiten im Blick haben, die eine digitale Welt für eine digitale Gesellschaft, für die Politik genauso wie für die Wirtschaft und vor allen Dingen für die Zivilgesellschaft bietet. Digitalisierung ist nicht nur die Technologie, sie ist auch ein bestimmtes Mindset. Diese Erkenntnis finde ich gut. Welchen Stellenwert hat VR in der Digitalisierungsstrategie der GIZ? Ich habe mir wirklich viele Gedanken über die Fragen gemacht, wie digital wir sind und wie wir Digitalisierung oder digitale Transformation innerhalb der GIZ umsetzen. Es gibt dabei verschiedene Ebenen und Themen, und man muss immer schauen, wo man sich gerade bewegt. Natürlich sind VR und AR auch Themen, die bei uns eine Rolle spielen. Wir haben jedoch noch keine festgeschriebene Strategie, die einzelne Technologien hervorhebt, sondern in erster Linie ist der Zusammenhang in der digitalen Gesellschaft relevant. Welche Rahmenbedingungen setzen wir für digitale Transformation oder Digitalisierung, dass sie vor allem menschzentriert ist? Wir müssen Menschenrechte wahren und wir müssen Demokratie stärken, die Werte auch dementsprechend berücksichtigen. Wenn eine neue Technologie oder wenn Technologien sinnvoll für einen Sektor oder einen Bereich sind, dann schauen wir uns die sehr genau an. Wir beobachten Entwicklungen immer wieder in Entwicklungs- und Schwellenländern. Dort ist die Digitalisierung ein uns bekannter

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Entwicklungsschritt, den wir kennen. Einfach drauflos ausprobieren können sich viele Entwicklungsländer nicht leisten. Sie müssen einen Mehrwert sehen, wenn eine Anwendung eingeführt wird. Das führt aber dazu, dass man in gewisser Weise manche Entwicklungsschritte überspringt, dass man direkt in einen Bedarf reinkommt, den wir uns noch gar nicht ausgedacht haben, oder den wir noch gar nicht gesehen haben. Mit KI haben wir ähnliche Erfahrungen gemacht; man muss an gewissen Schnittstellen ansetzen. Nicht: Wir programmieren mal eine VR-Experience für Afrika, sondern: Wir unterstützen mit Wissen, Erfahrung und Kontakten, dass afrikanische Länder oder Partner in Afrika diese Anwendung selbstständig nach ihrem Bedarf entwickeln können. Wir haben bei der GIZ AR und VR teilweise schon in einzelnen Projekten im Einsatz. Ein Beispiel aus dem August 2022: Die Zielgruppe einer Anwendung sind Baumwolle-Farmerinnen und -Farmer in Burkina Faso und in Kamerun, die über Virtual Reality unter anderem lernen, Schädlinge zu erkennen und zu bekämpfen; zusätzlich auch mit anderen Lernmodulen gestützt. Wir haben in den letzten zwei Jahren über diese VR-Schulungsmodelle knapp 15.000 BaumwollBäuerinnen und Bauern aus Kamerun und 9000 in Burkina Faso trainieren können. Auch wenn das nicht alle Bäuerinnen und Bauern in den Ländern sind – es ist zumindest ein erster erfolgreicher Einsatz und kommt sehr gut an. Das zeigt uns, dass der Einsatz von Medien, gerade auch von immersiven Medien eine Berechtigung in diesem Kontext hat. Ich glaube, das wird in Zukunft weiter zunehmen, gerade wenn wir in Richtung Informationsgesellschaft schauen. Wenn wir uns wirklich mal den Wert von reinen Informationen anschauen, unabhängig vom Kanal, dann stellt sich immer wieder die Frage: Wie schätze ich die Informationen ein? Wie kann ich Informationen vermitteln? Kann ich sie vielleicht auch bekämpfen? Das ist in unserer Informationsgesellschaft immer noch ein ganz, ganz wichtiges Thema. Ich denke, dass immersive Medien, wenn sie relevant und praxisnah gestaltet und ausgestattet sind, zu einer positiven Situation betragen werden. Zum Beispiel in der Bildung, aber eben auch in anderen Bereichen, die wir vielleicht jetzt noch gar nicht kennen. Wir sind mit dem Einsatz der immersiven Medien in der Bildung sehr zufrieden. XR-Technologie passt einfach gut zum Wissenstransfer, weil man da rundum in der Materie drin ist.

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Die Analpabeten-Quote zum Beispiel ist in den Entwicklungsländern sehr hoch, aber mit Bildern oder mit Bewegtbild können auch Menschen arbeiten, die nicht lesen können, und damit transportieren wir Informationen auf einen vielleicht ganz anderen und neuen Weg, den es vorher so noch nicht gab. Da Afrika Infrastruktur und Digitalisierung anders denkt als wir Europäer, ist der Einsatz mobiler Technologien zum Teil größer als in Europa. Welche Chancen siehst du für den Wissenstransfer zwischen Afrika und Europa? Mittlerweile würde ich so weit gehen zu sagen, dass die Digitalisierung jetzt auch global aus den Kinderschuhen herauswächst. Wir müssen jetzt erwachsen werden. Und wir müssen uns vergegenwärtigen, dass in den westlichen Ländern, in den Industrieländern, vielleicht Innovationen oftmals starten, aber dass sie nicht unbedingt immer etwas Neues sind. Ein schönes Beispiel: mobile Bezahlsysteme. Mobilfunk wird in afrikanischen Ländern teilweise noch um einiges mehr genutzt als in Deutschland oder in Europa. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, wie die Infrastruktur technologisch vor Ort aussieht, sondern auch mit dem Preismodell. Wenn ich für ein Datenvolumen sehr viel Geld ausgeben muss, dann überlege ich mir mehrmals, was ich damit mache. Deshalb basieren auch Bezahlsysteme in Afrika größtenteils oder in Teilen auf dem Mobilfunknetz. Wenn wir jetzt gerade angefangen haben, ein Handy zum Bezahlen an ein Gerät zu halten, ist das in einzelnen afrikanischen Ländern schon seit mehreren Jahren der Standard, z. B. in Ländern, wo es schwer ist, ein Bankkonto zu bekommen, wo man keine wirklichen Finanzstrukturen hat, wo Korruptionsverdacht besteht und eben auch mit Blick auf die Landbevölkerungsgruppen, die vielleicht nicht die Möglichkeit haben, zu irgendeiner Bank zu gehen, um Geldtransfers oder ähnliches vorzunehmen, die aber vor Ort die lokalen Händler bezahlen wollen. Das sind Dienstleistungen über mobile Geräte, die uns zeigen: Es geht auch anders. Man hilft sich einfach mit dem, was man hat – wir haben das verlernt. Ja, Afrika ist bekannt dafür, sich technisch anzupassen. Definitiv. Und es ist das, was uns in Europa immer noch ein bisschen schwerfällt. In Deutschland und Europa habe ich den Eindruck, dass wir in Zyklen und Kontexten denken müssen, weil Digitalisierung das große Thema ist. In Afrika haben uns einige Länder in manchen Dingen ein bisschen etwas voraus. Sie denken in einzelnen Bereichen flexibler und pragmatischer. Wie muss

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man gemeinschaftlich zusammenarbeiten? Das macht uns in unserer Rolle beim Wissenstransfer nicht nur zu einem Partner, sondern eben auch in Teilen zu einem Lernenden. Die Erfahrungen, die wir hierbei mitbekommen sind einfach auch für unsere Entwicklung wichtig. Afrikanische Länder haben also die Chance, viele Fehler, die die Europäer und die Amerikaner gemacht haben, zu überspringen, um ihre eigenen Versionen aufzubauen. Richtig? Ja, sie können im Aufbau digitaler Strukturen ganz anders einsteigen. Ich denke, das Wichtigste ist, sich auf die Chancen zu konzentrieren. Herausforderungen gibt es genug, gerade durch die digitale Transformation. Es gilt Strömungen positiv zu beeinflussen: Wir können zum Beispiel helfen, Desinformation zu bekämpfen. Hierzu gibt es schon erste erfolgsversprechende Projekte. Auch haben wir uns in den letzten zehn Jahren zum Beispiel sehr stark mit den Themen Unternehmensgründung und Startups beschäftigt. Damit kann man machtpolitisch und geopolitisch den Herausforderungen begegnen. Es geht nicht nur darum, die Menschen zu befähigen ein Unternehmen zu gründen, sondern auch um den Austausch, es geht um Wertschöpfungsketten, es geht um Kontakte. Ein ganz wichtiger Punkt. Es geht um Partnerschaften, die man auch untereinander auf dem Kontinent findet. Wenn dann eben noch Technologie hinzukommt, wird es schnell sehr komplex. Man kann es mit dem Kochen vergleichen. Man hat ganz viele Zutaten und je nachdem, wie man diese Zutaten mischt, wer der Koch oder die Köchin ist, kommt ein gutes Gericht heraus oder nicht. Die Rezeptur ist eine wichtige Sache. Das war sehr aufschlussreich – Afrika hat noch spannende Zeiten vor sich, und die Digitalisierung kann helfen. Ich bleibe positiv. Vielen Dank für den Einblick.

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„Das größte Potential liegt in Anwendungen, bei denen der Mensch im Zentrum steht“ Bolela Likafu

Interview mit Sandra Winterberg, Geschäftsführerin Medien Cluster NRW GmbH

Zusammenfassung

Digitalisierung in allen Lebensbereichen bedeutet für Augmented Reality und Mixed Reality eine vielversprechende Zukunft. Bleibt eine vollständig immersive Welt in VR jedoch ein spezialisiertes Szenario? Darüber spricht Sandra Winterberg, Geschäftsführerin Medien Cluster NRW GmbH In diesem Interview.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_10

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Bolela Likafu: Sandra Winterberg:

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Liebe Frau Winterberg: Wie ist Ihrer Meinung nach der Stand der Digitalisierung in NRW? Der Begriff „Digitalisierung“ beinhaltet eine derart große Bandbreite an Einzelaspekten, dass eine pauschale Sachstandsbeschreibung zu kurz greifen würde. Denn die Digitalisierung an sich ist ja in vielen Lebensbereichen ein Thema. Das fängt bei technischen Aspekten wie z. B. dem Breitbandausbau und der Infrastruktur zur Versorgung mit einem digitalen Datennetz an. Das Senden und Empfangen großer Datenmengen, die Arbeit mit geringen Latenzen, die Stabilität der Datenübertragung – das sind aktuelle Anforderungen an die Digitalisierung, denen sich auch NRW stellen muss. Und die sind für Unternehmen – und in Zeiten von Remote Work auch für Angestellte – ein entscheidender Faktor, um effektiv und effizient arbeiten und wirtschaften zu können. In Ballungszentren und Gewerbegebieten mag es ein hochleistungsfähiges Netz geben. In manchen ländlichen Gebieten vielleicht noch nicht einmal eine Netzabdeckung. NRW ist ein Flächenland mit weiten Gebieten, in denen die Nachfrage nach Hochleistungsnetzen nur punktuell gegeben ist. Für Telekommunikationsanbieter ist der Ausbau von Glasfasernetzen dort nicht besonders interessant, weil es wirtschaftlich nicht lukrativ ist. Pauschal würde ich sagen: Es gibt noch eine große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Und das bezieht sich nicht nur auf NRW, sondern ist bundesweit der Fall. Da stimme ich Ihnen zu. Neben der Infrastrukturfrage gibt es natürlich auch den Aspekt der Digitalisierung im Bereich Forschung und Wissenschaft.

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Hier ist NRW sehr gut aufgestellt mit zahlreichen Exzellenzuniversitäten und Forschungszentren wie die RWTH Aachen oder dem Forschungszentrum in Jülich. Renommierte wissenschaftliche Institute forschen und entwickeln neue Technologien, z. B. zur Künstlichen Intelligenz. Aber es geht natürlich weiter mit der Digitalisierung in den Schulen, in der Verwaltung und im Bereich der Bildung. Insbesondere in der schulischen Bildung haben wir während der Pandemie festgestellt, dass der Stand der Digitalisierung eher ernüchternd ist. Sowohl, was die Ausstattung mit Devices zur digitalen Lehre angeht, als auch die Bereitschaft und die pädagogischen Kenntnisse zur Anwendung von innovativen Lehrmethoden. Weiter geht es bei den Fragen bezüglich der Digitalisierung in Mittelstand und Wirtschaft. Also den Herausforderungen von Betrieben, den Transformationsprozess von der analogen in die digitale Welt zu gestalten. Bei aller Kritik kann ich jedoch bestätigen, dass es in NRW ein großes Interesse der Landesregierung gibt, die Digitalisierung in allen Bereichen nach vorne zu bringen. Natürlich im Bereich Wirtschaft und da insbesondere im Bereich der digitalen Wirtschaft. Hier gibt es umfangreiche Unterstützungspakete und Initiativen. Unter anderem zu den Themenbereichen KI oder Big Data. Und da kommt natürlich auch Extended Reality – das Thema dieses Buches – mit ins Spiel. Hier scheint mir aus Sicht der Wirtschaft die Frage relevant zu sein: Wie können klassische Produktionsprozesse mithilfe der Digitalisierung und mit welchen Technologien zukunftsfähig und wettbewerbsfähig transformiert werden? Im Bereich der digitalen Wirtschaft, bei der die Wertschöpfung rein digital ist, ist NRW ziemlich weit vorne. Hier gibt es eine breite Gründerszene und vielversprechende Geschäftsideen. Startups und junge Gründer werden mit den genannten Förderangeboten, Wettbewerben und regionalen Zentren wie den Digi-Hubs oder dem Mediennetzwerk.NRW unterstützt. Was sind ihre persönlichen Erfahrungen mit Medienunternehmen und Digitalisierung in NRW? Persönliche und berufliche Erfahrungen überschneiden sich bei mir. In den Wirtschaftszweigen, die wir mit dem Mediennetzwerk.NRW unterstützen, sind die Unternehmen und die Wertschöpfungsprozesse zu 100 % digitalisiert. Das Mediennetzwerk.NRW trägt im Auftrag der Landesregierung NRW

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dazu bei, dass sich Kreative und Unternehmen aus den digitalen audiovisuellen Medienbranchen Games, Content Creation, Cross Reality und digital Audio wirtschaftlich weiterentwickeln. Bis auf die Hardware und die Geräte-Produktion sind hier alle Kreativprozesse, die Werkherstellung und auch der Vertrieb digital abgebildet. Für junge Gründer sind da eher bürokratische Hürden eine Herausforderung, wenn Verwaltungsvorgänge z. B. bei der Gewerbeanmeldung oder Handelsregistereintragung noch nicht über eGovernment-Angebote vorgenommen werden können. Aber das sind ja Probleme, die alle Wirtschaftszweige betreffen. Was wäre Ihre Zukunftsvision von Extended Reality? Dazu darf ich den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt zitieren, der mal sagte „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“. Ich würde daher eher beschreiben, welche Perspektive Extended Reality aus meiner Sicht eröffnet – und welche nicht. Meiner Einschätzung nach wird es eine Welt wie sie von Hollywood kreiert wurde, wie sie Filme wie Ready Player One, Avatar, Matrix oder Surrogate darstellen, nicht geben. Dafür sind Menschen als zutiefst soziale Wesen nicht ausgelegt. Wir brauchen physische zwischenmenschliche und auch sensitive Kontakte. Die Intensität, die Vertrauensbasis, die Nuancen des dreidimensionalen Erlebens unter Einsatz aller Sinne – so etwas kann nicht dauerhaft und vollständig durch digitale Übertragungen ersetzt werden. Natürlich schreitet die technische Entwicklung voran und es gibt inzwischen Extended Reality Features, die den Geruchssinn ansprechen oder den Gleichgewichtssinn. Auch bei der Ansprache des Tastsinns über die Haut kann man inzwischen schon viel machen. Ich glaube jedoch, dass es für eine alltägliche, vollumfängliche virtuelle Realität keine Massentauglichkeit und keine Bezahlbarkeit – und damit letztlich auch keine Akzeptanz geben wird. Positiv gesprochen sehe ich den größten Mehrwert und die größte Chance für Extended Reality bei allen Anwendungen, bei denen der Mensch im Zentrum steht. Bei denen der Nutzen für den Menschen überwiegt, weil die Extended Reality Zusatzinformationen liefert, körperliche oder kognitive Defizite kompensiert, Ergänzung und Erleichterungen bringt. Bei der die Technologie eine echte Hilfestellung im Alltag ist z. B. als kontextbezogene Informationsvermittlung für die Menschen. Ich

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denke, die vollständig immersive Welt von VR wird in spezialisierten und fokussierten Szenarien stattfinden, wie z. B. medizinischen Anwendungen, Unterhaltungswelten oder hochspezialisierten Lernszenarien. Für eine echte Unterstützung der Menschen in allen Lebensbereichen sehe ich insbesondere bei Augmented Reality oder Mixed Reality eine vielversprechende Zukunft. Frau Winterberg, ich bedanke mich für das Interview!

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Wie digital „muss“ oder „sollte“ Lehre an Schulen sein? Bolela Likafu

Interview mit Dr. Richard Epstein, Vorstandsmitglied im Weltverband Deutscher Auslandsschulen

Zusammenfassung

Während der Covid19-Pandemie wurde die Lehre an vielen Schulen auf der ganzen Welt innerhalb weniger Wochen in die „Virtualisierung” katapultiert. Welche Erfahrungen stellen sich hierbei für Administratoren, Schüler und Lehrenden? Dr. Richard Epstein ist seit 2022 Vorstandsmitglied des Weltverbands Deutscher Auslandsschulen (WDA), seit 2011 Vorstandsmitglied des Schulvereins (Schulträger) der Deutschen Schule Athen, Gastdozent an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Berater der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH und freier Unternehmer in Deutschland und Griechenland.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_11

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Dr. Richard Epstein:

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In Ihrer Rolle als Vorstand der Deutschen Auslandsschulen folgende Frage an Sie: Was ist der Status Quo der Digitalisierung an den deutschen Auslandsschulen? Das Besondere an den deutschen Auslandsschulen ist, dass die Auslandsschulen tatsächlich von Deutschland aus in aller Welt gefördert werden. Das sind im Moment 135 Schulen überall auf der Welt mit insgesamt 85.000 Schülerinnen und Schülern, von denen 64 % nicht deutscher Herkunft sind. Die erste deutsche Auslandsschule gab es schon im Jahre 1575 in Kopenhagen. Ich persönlich bin schon sehr lange im Vorstand einer spezifischen deutschen Auslandsschule in Athen aktiv, weil ich seit vielen Jahren aus privaten Gründen in Griechenland lebe. Die Auslandsschulen sind, wenn Sie so wollen, ein Vertreter der deutschen Bildung vom Kindergarten bis zum Abitur und anderen Abschlüssen im Ausland. Sie werden getragen durch freie, gemeinnützige Träger. Meistens sind das Vereine und insofern sind es öffentlich-private Partnerschaften. Der Weltverband der Deutschen Auslandsschulen ist die Vertretung dieser freien gemeinnützigen Schulträger der deutschen Auslandsschulen. Wir versuchen, die vielen Einzelstimmen zu einer starken Stimme zusammenzufassen. Nun zur eigentlichen Frage: Wie ist der Status? Man kann eigentlich nur sagen: Er ist zumindest besser als im deutschen Inland. Wir haben vom Digitalpakt in Deutschland gehört und auch von den Problemen, das Geld überhaupt abfließen zu lassen. Leider gibt es für Auslandsschulen keinen Digitalpakt. Dennoch spricht die Tatsache für uns, dass bei den

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Auslandsschulen eine freie Trägerschaft herrscht, trotz Förderung durch die Bundesrepublik Deutschland. Die Einnahmen der Schulen werden durch Schulgeld von den Eltern für ihre Kinder generiert und das in großem Umfang. Daher herrscht hier die Ausrichtung wie an einer Privatschule. In dieser Privatschule sind zum einen die Anforderungen der Eltern hoch, zum anderen sind aber auch die Bereitschaft und Flexibilität, diese Mittel für digitale Themen einzusetzen, wesentlich höher. Es gibt eine Studie zum Stand der Digitalisierung an den Deutschen Auslandsschulen, die der WDA gemeinsam mit dem Bündnis für Bildung durchgeführt hat. Man kann dort tatsächlich konstatieren, dass zumindest ein Viertel aller Auslandsschulen ihr Zielbild Digitales Lehren und Lernen schon vollständig erarbeitet haben. Fast die Hälfte der Schulen gibt an, dass das weitestgehend der Fall ist. Das heißt, wir haben eine durchaus gute Situation. Und wie in Deutschland auch, hat natürlich die Pandemie hauptsächlich dazu beigetragen, dass diese Entwicklung deutlich beschleunigt wurde. Man kann es sich in einer Privatschule eben nicht leisten, den Unterricht einfach ausfallen zu lassen. Stattdessen musste man sehr, sehr schnell an Lösungen arbeiten. Das hat natürlich dazu geführt, dass die Rahmenbedingungen für Digitalisierung deutlich schneller umgesetzt werden konnten und auch mussten. Rahmenbedingungen heißt erstmal: digitale Infrastruktur. Gibt es überall WLAN? Gibt es genügend Computer? Möglicherweise gibt es auch erste Laptops oder iPads für Klassen. Meine Erfahrung an der Deutschen Schule Athen war, dass wir Smartboards für die Klassenzimmer angeschafft haben. Inzwischen ist jeder Klassenraum damit ausgestattet. Aber nur die Ausstattung reicht nicht aus, wir müssen auch die beteiligten Personen mitnehmen. Und da sind nicht die Schüler zu nennen – die sind meistens schon sehr digital unterwegs – sondern eher die Lehrer. Und die muss man wirklich für digitale Maßnahmen ausbilden. Man muss Widerstände überwinden, dass sie sich ausbilden lassen wollen, damit sie die Vorteile dieser Art des Lernens und des begleitenden Lehrens durch digitale Medien erkennen, mittragen und umsetzen wollen. Wie beurteilen Sie den Einfluss von VR/AR auf Bildung und Gesellschaft?

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Interessante Frage. Der Status Quo ist wahrscheinlich noch nicht so fortgeschritten, wie er es sein könnte. Wir reden noch über Technologien, die nur einer bestimmten eingeschränkten Gruppe zugänglich sind bzw. die nur von einer bestimmten eingeschränkten Gruppe genutzt werden. Wenn wir darauf Bezug nehmen, was für ein Potenzial VR und AR haben, dann kann ich nur sagen: Es besteht ein enormes Potenzial, weil zum einen die junge Generation mit diesen Themen aufwächst und sie zu Recht auch einfordert, und andererseits sind die Vorteile auf verschiedensten Ebenen sehr groß. Gerade wenn wir an Bildung denken. Wir können hohes Engagement durch diese neuen Technologien erzielen. Wir haben eine wahrscheinlich verbesserte Verankerung von Wissen, es gibt die Möglichkeit der Wiederholung. Wir können in einer sicheren Umgebung lernen, was gerade auch im Ausland unter Umständen sehr wichtig ist. Möglicherweise wird es auch eine Kostenverringerung geben. Darüber kann man jedoch streiten, denn wenn genau bekannt ist, was jetzt auf die Gesellschaft zukommt, muss zunächst investiert werden. Auch über die Auswirkungen auf die Gesellschaft kann man streiten. Wenn wir immer mehr in virtuellen Welten leben, können möglicherweise verschiedenste soziale Kompetenzen verloren gehen. Die soziale Interaktion zwischen Menschen ist eigentlich durch nichts zu ersetzen. Wenn ich mir meine eigenen Kinder anschaue, wie oft und wie lange sie auf Social-MediaPlattformen unterwegs sind, wie sie es inzwischen als normale Interaktion unter Freunden betrachten – teilweise natürlich notgedrungen durch die Pandemie –, macht mir das schon Sorgen. Wir sollten kritisch hinterfragen und sehen, welche Kompetenzen gerade die junge Generation braucht, um mit diesen Fragestellungen umgehen zu können: Was bedeuten digitale Medien für meine Social-Life-Interaktion eigentlich? Und wie kann ich damit umgehen? Das zu trennen und nicht nur in der virtuellen Welt weiterzuleben, finde ich wunderbar. Ich stimme Ihnen zu. Man sollte sich nicht nur auf die Technik verlassen, sondern auch die alten Skills nicht vernachlässigen und vergessen. Man muss auf die Gewichtung achten. Ja. Ein negativer Aspekt von persönlichen Meetings, gerade in einer globalisierten Welt, ist jedoch der ökologische Fußabdruck, den man hinterlässt, wenn man fliegt. Aus dieser Perspektive werden diese Technologien sehr viel Nutzen stiften können. Das

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fängt bei den Videokonferenzen an und geht bis zu zum Beispiel Design-Thinking-Projekten mit virtuellen Entwicklungsprozessen. Ich glaube, es gibt ungeahntes Potenzial – gerade auch in internationalen Kontexten sehe ich nur Vorteile. Kann der spielerische Umgang von Lerninhalten unter Zuhilfenahme der neuen Technologien das Lernverhalten von Schülern unterstützen? Meine Antwort ist ganz klar: Ja! Nur es bedarf dazu mehr als nur die Schüler. Das will ich hier ausdrücklich betonen. Es braucht tatsächlich ein pädagogisches Konzept dahinter, um es sinnvoll einzusetzen und nicht nur, um es zu tun. Nötig sind die Entwicklung der Kompetenzen, gerade der Pädagogen und der Lehrkräfte, sowie die räumliche und technische Ausstattung. Es braucht eine Struktur – eine Programmstruktur – und dann werden die eben genannten Vorteile greifen. Es kann jeder in seinem Tempo lernen und so oft wiederholen, wie er möchte. Wir sehen dann wahrscheinlich deutlich mehr Engagement, auch durch die sichere Umgebung. Das Thema Sicherheit spielt im Ausland eine deutlich größere Rolle als in Deutschland, z. B. im Iran. Die deutsche Schule in Teheran wird im Moment seitens aller Lehrkräfte evakuiert. In der Vergangenheit gab es beim Erdbeben in Japan ähnliche Situationen, Ähnliches gilt für die Ukraine. Die Deutsche Schule Kiew, die vor Ort jetzt nicht mehr funktioniert wie gewohnt – aber eben trotzdem funktionieren kann, weil man virtuell mit neuen Technologien idealerweise schon lernen und lehren kann. Ich glaube, dann sind das Instrumente, die sehr nützlich sein können. Was wünschen Sie sich für die Zukunft der deutschen Auslandsschulen bezüglich Virtual Reality und Augmented Reality? Ich glaube, dass die Auslandsschulen insgesamt Vorreiter für das sein können, was in Deutschland passiert – aufgrund ihrer deutlich flexibleren Struktur. Wir haben im Ausland Botschafter für Deutschland und umgekehrt. Die Vermittlung dieses Deutschlands bildet die Brücke zwischen den Ländern und den Kontinenten und das macht es eigentlich auch sinnvoll, von deutscher Seite aus in diese Auslandsschulen zu investieren und sich nicht nur auf die privaten Beiträge von Eltern zu verlassen. Wir wollen nicht Schulen nur für eine gewisse finanzielle Elite haben. Das heißt, das gewünschte Ziel wäre definitiv, dass wir etwas Ähnliches wie den Digitalpakt auch für Auslandsschulen kreieren, um dort die Digitalisierung und insbesondere die dafür

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nötige Infrastruktur weiter voranzutreiben. Das ist genauso wichtig, wie die Fort- und Weiterbildungen des Lehrpersonals. Denn die Lehrenden gehören häufig noch einer Generation an, die nicht mit solchen Themen aufgewachsen ist und daher vielleicht auch Bedenken hat. Es gibt ein Fortbildungsprogramm für deutsche Auslandsschulen, aber das muss unbedingt auch um digitale Themen angereichert werden. Es sollten auch Leuchttürme geschaffen werden, also ein besonderes Schulmodell, an dem man sich orientieren kann und das als Benchmark dienen kann. Es gibt erste Schritte in diese Richtung. Die deutsche Schule in Prag ist so etwas wie eine digitale Modellschule. Allerdings ist dort noch nicht von Extended Reality die Rede. Wir reden aber zumindest mal über eine deutlich verbesserte Infrastruktur, damit wir überhaupt die Möglichkeit haben, in unterschiedlichen Gruppen und zu bestimmten Themenfeldern tätig zu sein. Das bedeutet keinen starren Unterricht in zum Beispiel Biologie zu machen, sondern bestimmte Themen in den Mittelpunkt zu stellen, und dann neben Biologie auch Geografie, Sprache, Mathematik anhand dieses Themas zu vermitteln. Das ist nur durch moderne Technologien möglich, denn vier oder fünf Lehrer in einen Unterrichtsraum zu bringen ist nicht denkbar. Diese Modelle müssen wir weiterdenken, aber das kostet Geld. Das heißt, der Wunsch an die deutsche Politik für die Auslandsschulen ist, dass das Auswärtige Amt, das die Förderung finanziert, tatsächlich für Digitalisierung und VR/ARLehrumgebungen an Schulen deutlich mehr Geld bereitstellt. Wir brauchen in Deutschland Fachkräfte und wo, wenn nicht in den Deutschen Schulen im Ausland, „machen“ wir Fachkräfte! Hier bewerben wir ein attraktives Deutschland für Fachkräfte, indem wir zeigen, dass deutsche Schulen Vorreiter sind und eben solche Unterrichtsmethoden nach vorne bringen und die modernen Technologien nutzen. Nur dann können wir auch als Arbeitsstandort gefragt werden. Nochmal zur Frage Digitalisierung und Visionen. Meinen Sie, dass die Technologie allein uns zu einem sinnvollen Ergebnis führen wird? Oder gibt es dafür eine Rezeptur? Gibt es etwas, was es unbedingt braucht, um erfolgreich zu sein? Nein, es reicht nicht, über digitale Medien und digitale Methoden Schüler für etwas zu begeistern. Lernen funktioniert immer noch

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am besten über Beziehungen. Ich glaube, dass Schüler insbesondere dann Interesse an einem Fach oder einem Thema zeigen, wenn sie einen Bezug zur Lehrperson aufgebaut haben. Das müssen wir einfach hinnehmen und anerkennen. Und diese Beziehung können wir zu einer Augmented Reality, einer virtuellen Person oder allein mittels digitalen Medien nicht aufbauen. Beide Seiten, die digitale und die analoge Realität mit ihrer jeweils eigenen Didaktik müssen sinnvoll miteinander verbunden sein. Davon bin ich überzeugt. Vielen Dank für das Interview.

Technology – Aesthetics of Game/ Play – Impact: Transdisziplinäre Forschungsprojekte

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Eine Übersicht der XR-Forschungsprojekte am Cologne Game Lab der TH Köln Björn Bartholdy, Katharina Tillmanns, Jonas Zimmer, Chad Comeau und Isabel Grünberg

Zusammenfassung

Das Spektrum der Mixed Realities bietet vielversprechende Einsatzmöglichkeiten in den Gebieten der Wissensvermittlung und Unterhaltung. In den vergangenen Jahren erforschten die Professor:innen, Wissenschaftler:innen und Studierende des Cologne Game Lab dieses Potenzial in diversen Projekten. Mit einem holistischen Ansatz aus geisteswissenschaftlicher Analyse, technischer Prototypisierung und künstlerischer Kreativität positioniert sich die Forschung des Instituts multiperspektivisch und transdisziplinär.

B. Bartholdy (B) · K. Tillmanns · J. Zimmer · C. Comeau · I. Grünberg TH Köln (Cologne Game Lab), Köln, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Tillmanns E-Mail: [email protected] J. Zimmer E-Mail: [email protected] C. Comeau E-Mail: [email protected] I. Grünberg E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_12

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Das Institut

Das Cologne Game Lab (CGL) ist ein Institut der Fakultät für Kulturwissenschaften an der TH Köln. Seit 2010 lehren, forschen und entwickeln wir zum vielfältigen Themenkomplex Digitale Spiele und Spielerische Interaktionen. Unsere Forschungs- und Entwicklungsprojekte sind stets multiperspektivisch und transdisziplinär aufgestellt. Entsprechend der jeweiligen Forschungsfrage bedienen wir uns dabei der Perspektiven und Methodiken aus Medienwissenschaften, Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und der Kunst. Im Zentrum aller Projekte steht dabei die Trias Technology, Aesthetics of Game/Play, Impact. Die Themen Cross Reality und Mixed Reality sind seit der Gründung des Instituts ein Forschungsschwerpunkt. In unserem ersten Forschungsprojekt Mobile Gaming Middleware entwickelten wir zwischen 2009 und 2013 gemeinsam mit Partnern aus der Games-Industrie ein technologisch-experimentelles AR-Game, das es möglich machte, 3D-Objekte auf dem Smartphone mittels GPS-Positionierung in Echtzeit mit dem Kamerabild zusammenzuführen. Der hierauf basierend entwickelte AR Game Prototyp Colonia Mysteria für iPhone und iPad, führte die Spieler:innen an Originalschauplätzen des heutigen Kölns durch die visuell wieder auferstandene römische Vergangenheit der Rheinstadt (s. Abb. 12.1). Durch die einheitliche Entwicklung von Narration, Gameplay, Art Concept und intuitiver Benutzerführung sollte ein packendes Spielerlebnis geschaffen werden, mit dem Anspruch, Spielspaß und Lernspaß miteinander zu verschmelzen.

Abb. 12.1 Concept Art des AR Game Prototyps Colonia Mysteria (2013). (Quelle: Cologne Game Lab)

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Colonia Mysteria war eines der ersten Anwendungsszenarien für die neu aufkommende Augmented Reality Technologie auf Nutzerendgeräten, die spätestens mit dem weltweiten Launch von Pokémon Go im Sommer 2016 einen regelrechten Hype im Bereich Marketing, Infotainment und Entertainment erleben sollte. Während Apps zu dieser Zeit oftmals stark auf den Neuheitswert der Technologie und den damit verbundenen Sensationseffekt setzten und dabei häufig die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von AR vermissen ließen, entwickelten Forschungseinrichtungen wie wir am Cologne Game Lab integrierte Konzepte für AR-gestütztes Lernen, die dem Hype und anschließenden öffentlichen Abgesang auf die AR-Technologie in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre trotzten. Durch Anschlussförderungen konnte die Grundidee des Colonia Mysteria Prototyps bis 2019 weiterentwickelt werden. Das aktuelle Showcase Porta Praetoria C.C.A.A. (2017–2019) bietet verschiedene voll begehbare mobile VR-Sphären in der Kölner Altstadt, die durch das Durchschreiten eines AR-Portals für Spieler:innen erfahrbar werden. In einem Genre-Mix von Treasure Hunt und Adventure Game gilt es hier Missionen zu lösen, die eine eingehende Auseinandersetzung mit lebensgroßen Charakteren, Architektur und Artefakten des römischen Kölns im virtuellen und realen Raum erfordert (s. Abb. 12.2). Dieses Kapitel soll eine Übersicht über vergangene und laufende Forschungsprojekte am Cologne Game Lab bieten und einen Einblick in das Forschungsprofil des Instituts liefern. Beispiele aus den Einsatzgebieten der Mixed Realities zur Wissens- und Kulturvermittlung, als unmittelbare Schnittstelle zu Körper und Geist sowie als zentrales Element des Gamedesigns zeigen die Bandbreite unseres Forschungsspektrums.

Abb. 12.2 Drei Spieler:innen vergleichen die Fähigkeiten ihrer Charaktere im location-based ARSpiel Porta Praetoria (2019). (Quelle: Cologne Game Lab)

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12.2

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XR zur Wissens- und Kulturvermittlung

Das didaktische Potenzial der XR-Technologien fand besonders im kulturellen und musealen Raum Interesse. Die Möglichkeit, historische Artefakte zu kontextualisieren, eine konservierende Interaktion mit ihnen zu ermöglichen sowie die Grenzen der Physik zu überschreiten, um Unmögliches möglich zu machen, bot ganz neue Ansätze in der kulturellen Vermittlung. Die hier beschriebenen Projekte versuchen dieses Potenzial in spielerischer Art und Weise zu instrumentalisieren, um eine intensivere und ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem Kulturgut zu erreichen.

12.2.1 Virtual Bauhaus Die Virtual Reality Experience „Virtual Bauhaus” entstand im Auftrag des Goethe Instituts Boston zwischen 2017 und 2019 und wurde anlässlich des 100. Jahrestag der Gründung des Bauhauses weltweit vorgestellt. Die spielerische Anwendung lädt zum Besuch nach Dessau ein, wo von 1925 bis 1926 nach Plänen von Walter Gropius das berühmte Schulgebäude für die Kunst-, Design- und Architekturschule Bauhaus entstand. Verschiedene Interaktionsszenarien machen das Gebäude sowie historische Situationen der 20er Jahre erfahrbar. Auf dem Programm stehen ein Besuch des ikonischen Treppenhauses in welchem sich die berühmten Student:innen der Schule versammeln, ein Abstecher in eines der Studentenapartments, die „Teilnahme“ am Grundkurs, der von Johannes Itten eingeführt wurde, sowie ein Besuch in der Bauhausmensa, auf deren Bühne das Mechanische Ballett von Kurt Schmidt aufgeführt wird (s. Abb. 12.3). Zum Einsatz kam die HTC Vive VR Brille, nebst entsprechender Computer Hardware – eine Portierung auf die Oculus Quest 2 ist bereits projektiert. Virtual Bauhaus gehört zum Feld der entwicklungsorientierten, künstlerischen Forschung am CGL und wurde über mehrere Iterationen von einer ersten Machbarkeitsstudie, bis hin zur fertigen Anwendung in enger Zusammenarbeit mit dem Goethe Institut Boston (Christoph Mücher) und dem Cologne Game Lab (Björn Bartholdy, Ilja Burzev) realisiert. Ziel des Projektes war es, die Vorteile der Ausdehnung des Raumes in VR zu

Abb. 12.3 Das Dessauer Bauhaus Gebäude (links), eines der Szenarien (mittig) und die Navigation durch die Erfahrung (rechts). (Quelle: Cologne Game Lab)

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Abb. 12.4 Der Grundkurs (links) sowie das Mechanische Ballett (mittig und rechts). (Quelle: Cologne Game Lab)

nutzen und eine immersive Erfahrung der Bauhaus-Welt zu erzeugen. Virtual Bauhaus soll einem breiten Publikum eine ansprechende und informative Einführung in das Bauhaus mithilfe von Virtual Reality ermöglichen, die spezifischen Vorteile des Mediums VR nutzen und dabei den historischen Dimensionen des Bauhauses gerecht werden. Anstelle einer Verallgemeinerung der Schule und ihrer Mitglieder, soll Virtual Bauhaus spezifische Aspekte vermitteln, die historisch unterrepräsentiert oder bisher falsch dargestellt wurden (wie z. B. die Rolle der Frauen am Bauhaus). Grundsätzlich soll eine positive Erfahrung durch Virtual Reality für die Besucher:innen gefördert werden, ohne die technologische Komponente in den Vordergrund treten zu lassen. Die Konzentration auf das Dessauer Bauhaus ermöglichte es, verschiedene Episoden und unterschiedliche Aspekte erlebbar zu machen. Man schlüpft in die Rolle einer Student:in, erkundet die Architektur der berühmten Schule, interagiert mit Objekten des Alltags und kann selbst im Grundkurs schöpferisch tätig werden (s. Abb. 12.4). Der Entwicklungsprozess dauerte hierbei etwa zwei Jahre und führte von einer zunächst sehr realitätsnahen Interpretation zum finalen, ästhetisch minimalistischen Modell, welches sich in der dinglichen Welt radikal reduziert und im figurativen Bereich an Oskar Schlemmer anlehnt. Das Projekt ist abgeschlossen, bietet allerdings perspektivisch die Möglichkeit, neue Module hinzuzufügen beziehungsweise einer grundsätzlichen Integration im musealen Raum. Auch ist eine umfängliche Portierung auf aktuelle VR Hardware in Planung, welche die Verbreitung, Handhabung und Mobilität von Virtual Bauhaus erhöhen soll.

12.2.2 VR-Zeitreise im Deutschen Museum Nürnberg Die VR-Zeitreise im Deutschen Museum Nürnberg ist eine interaktive Virtual Reality Multiplayer-Erfahrung, die als thematischer Abschluss am Ende der Ausstellung zu finden ist. Die Anwendung erlaubt bis zu vier Spieler:innen gleichzeitig die freie Erkundung und Bespielung einer 85m2 großen Fläche. Um diese Freiheit zu erreichen, läuft das Spiel auf kabellosen VR-Brillen mit Inside-Out-Tracking-Technologie (Oculus Quest 2). Die Zielgruppe sind Museumsbesucher:innen zwischen 25 und 40 Jahren mit wenig bis keiner VR-Erfahrung.

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Ziel des Projektes war die Konzeption und Entwicklung einer niedrigschwelligen Erfahrung mit genügend Tiefe zur Erfüllung der didaktischen Mission des Museums. Aus dieser Vorgabe kristallisierte sich die erste von zwei Forschungsfragen des Projektes heraus: Fragen Wie lassen sich die im Museum präsentierten prototypischen Technologien sowie die diskutierten Gesellschaftsentwicklungen didaktisch aufarbeiten und kontextualisiert präsentieren?

Viele der gezeigten Zukunftstechnologien existieren heute erst auf dem Papier oder sind reine Gedankenexperimente. Auch soziokulturelle Entwicklungen können von den Museumsbesucher:innen nur abstrahiert imaginiert werden. Die Verwendung von Virtual Reality als umfassendes audio-visuelles Abspielmedium erlaubt die Gestaltung eines virtuellen Ausstellungsraums, die nicht an die Grenzen der Physik oder des MomentanMachbaren gebunden ist. Die Entwicklung eines solchen Raumes, der lebendig und glaubwürdig erscheint, stellte sich als zentrale Aufgabe der Produktion heraus. Um etwaige Hemmschwellen der Besucher:innen bei der Akzeptanz des Erlebten abzubauen, war die Maximierung des immersiven Potenzials der Erfahrung Leitmotiv der Gestaltung. Dabei wird Immersion nicht im technischen, also die Sinne überlagernden, Sinne verstanden, sondern als Präsenzgefühl, dem vollständigen Eintauchen in das medial Präsentierte. Daraus ergab sich die zweite Forschungsfrage: Fragen Mit welchen Gamedesign-Methoden und Technologien können Spieler:innen ohne Vorwissen intuitiv und barrierearm eine VR-Installation genießen und ein hohes Maß an Immersion erreichen?

Es wurden drei elementare Bereiche der Erfahrung identifiziert, die dem Prozess der Immersion zuträglich sind: Der museale Raum, das Onboarding und das Worldbuilding. Zur Integration in die restliche Ausstellung war es essenziell, die physischen Räumlichkeiten des Museums bereits intradiegetisch zu gestalten und so den Spielraum schon in den Real-Raum zu verlagern. Analog zu Wartebereichen in Vergnügungsparks sind die Mitarbeiter:innen vor Ort geschult, die Story des Spiels bereits mit der Ausgabe der Brille zu gestalten. Nach dem Aufsetzen befinden sich die Spieler:innen auch zunächst in einem vertrauten virtuellen Nachbau des Museums, betreten erst dann den dedizierten Spielbereich (s. Abb. 12.5). Dieser ist vor Blicken von außen geschützt, wodurch Aktionshemmungen abgebaut und eine Entkopplung von der Agenten-Rolle im Real-Raum erleichtert werden. Ein zweifaches Übertreten einer Schwelle, erst physisch in den Spielraum und dann in

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abstrahierter Form beim Betreten der Zukunftssimulation, nutzt den Doorway-Effect (Radvansky et al., 2011) zur weiteren Entkopplung der Gedankenstrukturen vom physischen Raum, um das immersive Potenzial weiter zu erhöhen. Zuletzt ist es für eine immersive Erfahrung wichtig, den Spielraum glaubwürdig und interessant zu gestalten. Dazu wurde zunächst eine mögliche Timeline von Zukunftsereignissen bis zum Jahr 2050 entwickelt, die als Grundlage für die Konzeption der virtuellen Umgebung diente. Dem Leitmotiv eines interaktiven Wimmelbilds folgend wurden viele Konzepte des Environmental Storytellings verwendet, um den Nutzer:innen, die weniger an spielerischen Handlungen interessiert sind, dennoch eine spannende und unterhaltend beobachtbare Umgebung zu bieten (s. Abb. 12.6).

Abb. 12.5 Der erste Raum der Simulation ist der Architektur und Raumgestaltung des Museums nachempfunden. (Quelle: Cologne Game Lab)

Abb. 12.6 Interpretation Nürnbergs im Jahr 2050. (Cologne Game Lab)

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Entstanden ist das Projekt aus einer Forschungskooperation des Deutschen Museums mit dem Cologne Game Lab der TH Köln. Das Projektteam umfasste 21 Mitarbeiter:innen der Forschungsabteilung des Game Labs, größtenteils Student:innen und Alumnis des Studiengangs Digital Games. Seit September 2021 ist die VR-Zeitreise im Deutschen Museum Nürnberg für Publikum geöffnet. Sie dient dabei nicht nur als unterhaltsames Ausstellungsstück, sondern wird in den nächsten Jahren auch zur Forschung von Präsenz und Immersion in Shared-Space VR-Simulationen genutzt.

12.2.3 Borderzone Borderzone ist eine episodische, ortsbezogene Augmented-Reality-App für Android und iOS, die es Besucher:innen des Parks Babelsberg in Potsdam ermöglicht, dessen bewegte Geschichte vor Ort zu erleben. Basierend auf wahren Begebenheiten vermittelt das Spiel Nutzer:innen mittels eines innovativen technologischen und gestalterischen Arrangements einen immersiven Einblick in die bewegte Kalte-Krieg-Vergangenheit des Parks Babelsberg. Was einst ein Ort höchster Gartenkunst und ästhetischer Kontemplation war, geschaffen von den renommierten Landschaftskünstlern Joseph von Lenné und Hermann von Pückler, fiel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der unmenschlichen Architektur der Grenzsicherungsanlagen der DDR zum Opfer. Der Park und die nahe gelegene Glienicker Brücke – die Brücke der Spione – wurden schließlich zum Schauplatz vieler öffentlicher und persönlicher teils tragischer, teils berührender oder skurriler Geschichten. Das Konzept der Borderzone App setzt genau hier an. In kurzen interaktiven Geschichten können Spieler:innen die ehemalige Grenzanlagen des deutsch-deutschen Teilungsgebiets erkunden und erleben die Auswirkungen des Kalten Kriegs auf den Park und die Bürger:innen, die hier arbeiteten oder hier ihre Freizeit verbrachten (s. Abb. 12.7). Beim Start der App sehen Spieler:innen eine historisch anmutende Karte, die den ehemaligen Grenzverlauf im Park zur Zeit des Kalten Kriegs aufzeigt. Anhand des Abgleichs mit ihrer eigenen Position im Park, die via GPS als klassischer Positionsmarker dargestellt wird, gilt es nun, zu einem auf der Karte ersichtlichen Point-of-Interest zu laufen. Hier entdecken Spieler:innen mittels des AR-Modus nun Fußspuren, denen sie folgen können. Jede Fußspur ist mit einer interaktiven Geschichte verknüpft, in deren Fortgang die Spieler:innen die Charaktere und deren Welt kennenlernen, und schließlich selbst in die Rolle eines Protagonisten oder einer Protagonistin schlüpfen, um an deren Stelle in einer Konfliktsituation eine Entscheidung zu treffen. Die AR-Szenen sind in Lebensgröße und voll begehbar. Spieler:innen werden so zu aktiven Zeug:innen und können ihr Augenmerk frei auf einzelne Details der Szene, wie etwa Objekte, die die Protagonist:innen mit sich führen, richten. Objekte, Architektur und Personen können durch starke Annäherung ausgewählt und mithilfe der Chronik

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Abb. 12.7 Einsatz der AR-App Borderzone (2022) im Park Babelsberg. (Quelle: Cologne Game Lab)

untersucht werden. Vorgegeben durch die technologischen Rahmenbedingungen aktueller Smartphones und Datenraten setzt Borderzone auf einen reduzierten Look im Graphic Novel Stil und ein geringes Maß an Animationen. Das immersive Erlebnis der App baut daher stark auf den lebendigen Audiodialogen zwischen den In-Game-Charakteren und dem Faktor Rollenspiel auf. An vorgegebenen Punkten der Erzählung erscheint um den/ die Protagonist:in der Episode ein magischer Kreis, in den die Spielenden hineintreten sollen. Ist dies geschehen, löst sich der virtuelle Charakter auf und der/die Spieler:in übernimmt die Rolle und Funktion. Im weiteren Verlauf der Handlung gilt es nun, folgenreiche Entscheidungen zu treffen, die konkretes Handeln erfordern wie etwa das Verstecken, Ergeben oder Davonlaufen vor der Grenzpolizei. Die an das Projekt angeschlossene Nutzerstudie zeigt auf, dass der zum Teil volle körperliche Einsatz, den Borderzone von den Spieler:innen fordert, eine neuartige, nachhaltige Form des Erlebens historischer Begebenheiten am Ort ihres Geschehens ermöglicht. Borderzone wurde gemeinsam mit der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG) im Rahmen des gleichnamigen Forschungsprojekts, das durch das BKM gefördert wurde, für den Einsatz im Park Babelsberg entwickelt und

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ist kostenfrei im App Store und im Google Play Store erhältlich. Das aktuelle Spielgebiet liegt im Bereich des Schlosses Babelsberg und dem Havelufer in Potsdam.

12.2.4 Goethestraße 56 Mit der Virtual-Reality-Lernumgebung Goethestraße 56 wurde in Zusammenarbeit mit dem Goetheinstitut Washington ein neuartiger Ansatz für das Erlernen der deutschen Sprache auf A1-(Anfänger)-Niveau realisiert. Die Ende 2021 finalisierte Anwendung lässt die primär jungen Nutzer:innen in den Alltag der Familie Krämer eintauchen und spielerisch verschiedene Aufgaben lösen. Der Schauplatz ist die Krämersche Wohnung in der Goethestrasse 56 – hier hilft man Mutter Claudia im Homeoffice bei der Terminfindung mit einem Kunden, Tochter Maren unterstützt man beim Lernen von Adjektiven für die Schule, Vater Khaled kocht Spaghetti und benötigt eine Küchenhilfe und mit Sohn Tobias singt man „Hänschen Klein” und fahndet nach seinem vermissten Teddy (s. Abb. 12.8). Hat man alle Aufgaben erfüllt, trifft sich die Familie als Belohnung zum gemeinsamen Abendessen. Neben den verschiedenen spielerischen Missionen von Goethestraße 56, sind ein Großteil aller Objekte mit ihren geschriebenen und gesprochenen deutschen Namen hinterlegt, die man interaktiv erkunden kann und so den Wortschatz deutscher Vokabeln erweitert. Technisch kam Unity 3D als Middleware zum Einsatz und die Quest 2 wird als VR-Headset verwendet – eine Portierung auf andere Plattformen ist technisch unproblematisch. Goethestraße 56 verfolgt einen experimentell-gestalterischen Ansatz. Gemeinsam mit dem Forschungsgeber – dem Goethe Institut Washington – wurden bestehende analoge und digitale Lern- und Lehrmaterialien evaluiert und nach interessanten komplementären, wie auch kompatiblen Aspekten untersucht. Auf Basis der bestehenden Projektidee, einen frei explorierbaren „Story Space“ in VR zu erzeugen, wurden verschiedene Elemente aus dem Bestand des Goethe Instituts adaptiert und entsprechend angepasst. So basiert der verwendete Wortschatz beispielsweise auf dem offiziellen Curriculum für Schüler:innen auf dem Deutsch A1-Niveau (s. Abb. 12.9). Grundsätzlich stellt sich natürlich die Frage, inwiefern eine hoch immersive Umgebung das Erlernen einer Fremdsprache

Abb. 12.8 Mutter Claudia braucht Hilfe mit ihren Terminen (links), Vater Khaled benötigt helfende Hände in der Küche (rechts). (Quelle: Cologne Game Lab)

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Abb. 12.9 In verschiedenen Szenarien des alltäglichen Lebens müssen die Spielenden ihre Deutschkenntnisse nutzen, um das akute Problem zu identifizieren und zu lösen. (Quelle: Cologne Game Lab)

positiv unterstützen kann – dies sollte im Rahmen dieses Projektes zumindest grundsätzlich beantwortet werden. Im Zentrum des bisher absolvierten Projektes stand somit auch das Ziel, einen nutzbaren Prototypen zu realisieren und diesen direkt im Feldversuch zu erproben. Im Rahmen zahlreicher Einsätze in Washington, wie auch bei Events und anderen Anlässen an verschiedenen Standorten in den USA, wurde von den jungen Nutzer:innen durch einen standardisierten Fragebogen das Lern- und Spielerlebnis abgefragt und auf Stärken und Schwächen untersucht. Die Evaluation ist noch nicht abgeschlossen, man kann aber bereits konstatieren, dass gerade bei den Digital Natives ein großes Interesse an immersiven Technologien besteht und so per se das Engagement beim Spracherwerb mittels gamifizierter VR-Umgebungen gesteigert werden kann. Aktuell wird die Evaluierung abgeschlossen und eine Weiterführung des Projektes erörtert. Ziel von Goethestraße 56 ist es, das gesamte Haus mit verschiedenen Wohnparteien interaktiv erkundbar zu machen und in episodischer Form Geschichten aus dem Leben der verschiedenen Protagonist:innen zu erzählen. So entsteht eine vielschichtige narrative Welt, die den Lernenden unterschiedlichste Situationen des Alltagslebens vermittelt und somit auch einen realitätsnahen Spracherwerb ermöglicht.

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XR als unmittelbare Schnittstelle zu Körper und Geist

Neben dem von uns im Themenfeld AR/VR vielfach bearbeiteten Bereich der Spielbasierten Vermittlung von Wissensinhalten, erforschen wir mit Projekten wie Milky-Psy (2021) oder Bung (2021) XR-Technologie-gestützte Lösungsansätze für die Verbesserung motorischer Fähigkeiten im Kontext von Berufsausbildung und Berufspraxis. Die umfassende technische Überlagerung der Sinneseindrücke und das immersive Potenzial der Technologie erlauben sowohl das Training als auch die Analyse des Bewegungsapparats und der körperlichen Reaktionen. Die hier beschriebenen Projekte machen sich diesen intuitiven Zugang zu den Spieler:innen zunutze.

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12.3.1 Airtime VR Airtime VR (2017 heute) ist der Prototyp für eine Virtual Reality Flugsimulation, die angehende Gleitschirmpilot:innen beim praktischen Erlernen der Basis-Flugroutinen unterstützen soll. Im Rahmen des laufenden Forschungs- und Entwicklungsprojekts werden gemeinsam mit dem deutschen Gleitschirmausbildungsanbieter Papillon Paragliding die Möglichkeiten von Virtual-Reality-basiertem Training zur Vermittlung sicherheitsrelevanter Aspekte des Gleitschirmsports in einer digitalen 360-Grad-Umgebung untersucht. Als ergänzendes Werkzeug zum regulären Training im Freien können sich Flugschüler:innen mittels Airtime-VR in der Sicherheit des Kursraums mit den grundlegenden Flugmechaniken vertraut machen und spielerisch fortgeschrittene topografische und fliegerische Kenntnisse erlangen. Im Vergleich zu Flugsimulatoren, wie sie zum Beispiel im Pilotentraining für den Passagierflug oder beim Militär zum Einsatz kommen, setzt der Designansatz des Airtime VR Simulators stark auf den Einbezug des Körpers als Teil der Steuerung. Zwar sind klassische Simulatoren für den Maschinenflug Vorbild, indem sie u. a. Luftbewegungen und die durch verschiedene Flugzustände auf die Kabine einwirkenden Kräfte simulieren, um das Handlungsvermögen von Pilot:innen unter erschwerten Bedingungen zu trainieren, jedoch ist der Einfluss der Pilot:innen beim Maschinenflug auf manuelle Eingaben begrenzt. In der Luftfahrzeugkategorie der Hängegleiter, zu der Gleitschirme zählen, sind, neben der manuellen Steuerung durch die Manipulation der Steuerleinen, die Größe, das Gewicht und die Lage/Bewegung des Pilot:innen-Körpers für die Stabilisierung und Navigation des Fluggeräts ausschlaggebend. In einem Gleitschirmgurtzeug mit Tragegurten und Steuerleinen sitzend und mit einer VR-Brille ausgestattet, können die Airtime-VR-Pilot:innen durch eine lebensgroße Rekonstruktion des Fluggebiets Wasserkuppe fliegen, einem der beliebtesten Gleitschirmfluggebiete Deutschlands. Während des Trainingsflugs werden ihnen animierte, visuelle Hilfen in 3D eingeblendet, die das Navigieren im Luftraum Schritt-für-Schritt verdeutlichen. Unterstützt wird die Lerneinheit durch Audioeingaben, die ähnlich der Funkanweisungen durch einen Fluglehrer bei Flug am realen Hang Unterstützung und zusätzliche Informationen vermitteln (s. Abb. 12.10). Die Mischung aus Theorie und Flugpraxis ermöglicht es den Flugnoviz:innen, sich mit den Start- und Landeroutinen unter Realbedingungen vertraut zu machen. Beim Airtime VR Simulator handelt es sich um ein klassisches Augmented-VirtualitySetup. Die authentische Erfahrung des Fliegens stellt sich primär über die digitalen Seh-Eindrücke her, die von der VR-Brille zugespielt werden. Unterstützt wird die Authentizität des Fluggefühls durch ein Sitzarrangement in einem realen Gleitschirmsitz, der durch eine erhöhte Aufhängung den Kontakt mit dem Boden verhindert und so durch die Nutzer:innen ausgeführte Pendelbewegungen ähnlich einer Schaukel zulässt. Zur Erkennung der Sitzposition und Haltung der Pilot:innen ist an beiden Seiten der Sitzfläche jeweils ein Handcontroller montiert. Der Sitz ist an eine spezielle Hardware

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Abb. 12.10 Die Simulation nutzt Seilzugpotentiometer zur Übertragung der Steuerleineneingaben in das Spiel. (Quelle: Cologne Game Lab)

eingehängt einem mechanischen Simulator der Steuerleinen. Ein solcher analoger Simulator wird traditionell seit Jahren bereits erfolgreich im Unterrichtsbetrieb eingesetzt. An diese mechanische Komponente wurden für das Airtime VR Sensoren angebracht, die die Steuerbewegungen für die im Projekt entwickelte Software interpretiert und nutzbar macht. Die Software, insbesondere die zugrunde liegende Flugmechanik und Steuerungskontrolle, wurde so gestaltet, dass eine zukünftige Erweiterung des Systems und die Anpassung anderer Ein- und Ausgabetechnologien möglich ist. Gegenstand künftiger Forschung und Entwicklungsarbeit ist der Einsatz von Mechatronik und/oder Robotik zur physikalischen Nachahmung von Störungen oder Unfällen wie etwa eines teilweisen oder vollständigen Zusammenbruchs der Kabinenhaube.

12.3.2 Fear//Anxiety Im Projekt FEAR//ANXIETY wird eine VR-basierte Forschungsumgebung für Studien zu den grundlegenden Unterschieden zwischen Angst und Furcht entwickelt. Ziel der Forschung ist der Gewinn neuer biologischer Erkenntnisse über diese beiden Primäremotionen, um daraus therapeutische Maßnahmen für die Behandlung von Angststörungen, Panikattacken und Phobien abzuleiten. Um natürliche Reaktionen hervorzurufen, steht die Entwicklung einer authentischen Bewegungs- und Interaktionsmethodik im Mittelpunkt der Entwicklung. Angst und Furcht entstehen in der Konfrontation mit negativen Reizen und Umweltbedingungen. Wenn Menschen oder Tiere einer bedrohlichen Situation entfliehen, sprechen Psychologen von Furcht; zum Beispiel, wenn ein Angreifer plötzlich hinter einem Gebüsch hervorspringt. Handelt es sich hingegen um die Emotion Angst, will man sich einer unangenehmen Situation – etwa einer Prüfung – dennoch nähern (Pickering &

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Corr, 2008). Der Virtual-Reality-Versuchsaufbau ist besonders geeignet, um die Verhaltensreaktionen der Versuchspersonen zu untersuchen (s. Abb. 12.11). Kämpfen, fliehen oder verharren sie in den realistisch wirkenden Gefahrensituationen? Die gewonnenen Ergebnisse werden mit genetischen Markern und Persönlichkeitsdaten der Probanden verglichen. Im Laufe des dreijährigen Förderprojekts wird überprüft, ob sich anhand der VR-Verhaltensdaten die Unterschiede in den jeweiligen Persönlichkeitsmerkmalen bei Angst und Furcht validieren lassen und ob sich das Verhalten der Versuchspersonen vorhersagen lässt. Darüber hinaus sollen prospektiv anatomische Unterschiede in der Hirnstruktur untersucht werden, die auf individuelle Ausprägungen der Angst- und Furchtdimensionen hinweisen (Reuter et al., 2015). Mit diesen Erkenntnissen sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, um therapeutische VR-Expositionstherapien zu entwickeln und angstreduzierende Medikamente auf ihre Wirksamkeit zu testen. Um authentische Persönlichkeitsdaten zu sammeln, darf die Interaktion mit der VRUmgebung nicht als Hemmung empfunden werden. Das Projekt verwendet daher eine Fortbewegung, die die Bewegung in der realen Welt ohne externen Controller-Input nachahmt. Um einen umfangreichen Experimentierraum in einem begrenzten physikalischen Bereich zu erreichen, wird die begehbare Fläche durch einen nicht-euklidischen Raumaufbau massiv erweitert (s. Abb. 12.12). Mittels geschickter Levelkonstruktion und visueller Tricks bleibt der Einsatz dieser Technik den Probanden verborgen. Das dreijährige Forschungsprojekt ist eine Kooperation des Instituts für Differentielle & Biologische Psychologie der Universität Bonn und des Cologne Game Lab. Es befindet sich zurzeit im zweiten Jahr, erste Studien sind für den Winter 2022 geplant. Sollten sich die Ergebnisse als erfolgsversprechend herausstellen, wird die zugrunde liegende Technologie in weiteren psychologischen Studien eingesetzt.

Abb. 12.11 Concept-Art des Projektes Fear//Anxiety. Die düstere Atmosphäre dient dazu, eine schaurige Grundstimmung zu induzieren. (Quelle: Cologne Game Lab)

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Abb. 12.12 Erweiterung der bespielbaren Fläche durch einen nicht-euklidischer Raumaufbau. (Quelle: Cologne Game Lab)

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XR als Gamedesign

Die Möglichkeiten, die XR-Technologien im Bereich der Spieleentwicklung mit sich bringen, werden in angewandter Weise vor allem durch die Studierenden des Cologne Game Lab erforscht. Durch kreative und künstlerische Ansätze entstehen vor allem im vierten Fachsemester des Bachelorstudiengangs Digital Games, das ganz im Zeichen der Experimental Games steht, neuartige Spielkonzepte und Interaktionsmodelle. Das folgende Projekt wurde im Zuge dieses Semesters von einer Gruppe Studierender konzipiert und entwickelt.

12.4.1 Local Paper Small Town Local Paper Small Town (LPST) ist ein Mixed-Media-Spiel mit einer physischen Zeitung und einer VR-Umgebung. Zwei Spielende kooperieren, indem sie sich über ihre Erkenntnisse über eine fiktive Kleinstadt austauschen, wobei eine Spieler:in die digitale VR-Welt erkundet und die andere Spieler:in die achtseitige, eigens angefertigte Zeitung liest (s. Abb. 12.13). Das Spiel erfordert ein VR-Headset und Zugang zur Zeitung, entweder in Form eines physischen Ausdrucks, wie wir ihn für Showcases und Spieltests verwendet haben, oder als PDF-Version, die in der Steam-Version enthalten ist. Unsere Zielgruppe sind VRSpieler:innen, die an kooperativen Spielen und Escape Rooms interessiert sind. Die Spieler:innen können sich in der VR-Welt teleportieren und ihren Spielraum durchwandern, um die Kleinstadt zu erkunden. Ein zentrales Spielprinzip ist die Möglichkeit, Charaktere in Form von Pappfiguren aufzunehmen und diese zu bewegen. Um im Spiel

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Abb. 12.13 Die Zeitungsspieler:in liest und füllt Abschnitte wie das Kreuzworträtsel und das Labyrinth aus. (Quelle: Cologne Game Lab)

voranzukommen, müssen die Figuren an die richtigen Orte bewegt werden. Die Zeitungsspieler:in muss das Gelesene der VR-Spieler:in kommunizieren, um herauszufinden, wo die Figuren hingehören. Die Kopplung von Charakterentwicklung und Rätseln ist einer der zentralen Aufhänger des Spiels (s. Abb. 12.14). LPST wurde ursprünglich für ein kollaboratives Projekt des 3. Semesters am Cologne Game Lab im Wintersemester 2019–2020 von Thiago Morano-Gerding, Anastasiia Tataurova, Trixia Quinzon, Lena Igumnova und Chad Comeau entwickelt. Im Laufe dieses Semesters haben wir eine vollständig spielbare Version produziert, die wir Kolleg:innen und Professor:innen präsentieren konnten. Aufgrund des guten Feedbacks und der Ermutigung, die wir erhielten, beschlossen wir, weiter an dem Spiel zu arbeiten und traten schließlich dem Kölner Game Incubator Programm bei, das uns auf dem Weg zur Veröffentlichung half. Im Rahmen des Semesterthemas „Mixed Media“ entschieden wir uns nach einem Brainstorming über verschiedene Konzepte für die Kombination VR/Zeitung. Diese Schnittmenge bot reichlich Potenzial für Rätsel und Narration. Wie würden sich zum Beispiel der städtische Friedhof in VR und die Todesanzeigen in der Zeitung überschneiden? Wie können Zeitungsartikel die Orte und Charaktere im Spiel kontextualisieren? Und wie kann ein Kreuzworträtsel aus der Zeitung auf interessante Weise in ein VR-Spiel integriert werden? Kurzum, wir hatten genug Vertrauen in das Grundkonzept, um mit Local Paper Small Town als Semesterprojekt fortzufahren.

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Abb. 12.14 Eine Szene aus Smalltown in VR. Der Farmer im Vordergrund musste zurück zu seiner Farm gebracht werden. (Quelle: Cologne Game Lab)

Ein iterativer Entwicklungsprozess stellte sich als unerlässlich heraus, als wir an dem Prototyp arbeiteten. Für den VR-Teil des Spiels haben wir das Stadtlayout zunächst auf Papier entworfen, um sicherzustellen, dass die Rätsel und Charaktere in einer Weise angeordnet sind, die für die Spielenden beim Durchqueren der Welt nachvollziehbar ist. Einige Rätsel und Assets mussten nach dem Playtesting angepasst werden. Und natürlich birgt VR eigene Herausforderungen hinsichtlich des Spielgefühls und der Affordanz (Nöll, 2021), die immer wieder Anpassungen erfordern (s. Abb. 12.15). Auch die Zeitung wurde immer wieder überarbeitet. Es stellte sich heraus, dass das Überfliegen von acht Seiten innerhalb von ein bis zwei Stunden nicht einfach ist. Deshalb wurden Artikel und Hinweise besonders hervorgehoben und eingefärbt, was es den Spielern in zukünftigen Tests sehr erleichterte, relevante Informationen zu identifizieren. Außerdem haben wir den Umfang der Hilfestellungen, die in die Zeitung aufgenommen werden sollten, drastisch unterschätzt. Letztendlich haben wir eine gute Balance zwischen Lesbarkeit und Ästhetik gefunden. Etwa zwei Jahre lang haben wir an dem Spiel gearbeitet, vom Frühjahr 2020 bis zur Veröffentlichung des Spiels auf Steam und itch.io im Mai 2022 (Local Paper Small Town, 2022). In dieser Zeit haben wir vor allem die Rätsel und das Zeitungsdesign überarbeitet, ein Speichersystem hinzugefügt und ein Hauptmenü für das Spiel erstellt. Alle Mitglieder des Entwicklungsteams waren sowohl mit der Universität als auch mit anderen Arbeiten beschäftigt, sodass wir Schwierigkeiten hatten, unsere Bemühungen zu koordinieren, um die Produktion abzuschließen.

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Abb. 12.15 Der Aufbau der Stadt ist in iterativen Schritten immer wieder verändert worden, um eine intuitive Erkundung der Spieler:innen zu ermöglichen. (Quelle: Cologne Game Lab)

Durch Workshops im Verlauf des Inkubator-Programms verlagerten wir unsere Zielgruppe auf VR-Cafés und -Lounges, da das intendierte Spielgefühl am besten erreicht wird, wenn die Spieler:innen eine echte Zeitung aus Zeitungsdruckpapier in den Händen halten, was bei einer digitalen Veröffentlichung nicht der Fall ist. Da uns aber leider die Zeit fehlte, uns auf dieses Projekt zu konzentrieren, haben wir schließlich die Veröffentlichung auf Steam beschlossen, anstatt das Projekt weiter in der Schwebe zu lassen.

12.4.2 Maschinenklangwerk Maschinenklangwerk war eine interaktive audiovisuelle AR Installation von Isabel Grünberg, Alex Nieradzik, Raven Rusch und David Wildemann, die 2022 im Rahmen des Futur21 Festivals für die Hallen der historischen Gesenkschmiede Hendrichs in Solingen erstellt wurde. Die Zielgruppe der Installation sind die Besucher:innen des Futur21 Festivals, sowie Familien, Senioren und Schulklassen. Des Weiteren sollte die Ausstellung besonders auch junge Menschen ansprechen und diese wieder in Museen bringen. Die Ausstellung nutzte die ehemaligen Arbeitsbereiche der Fabrik und Industrie, um eine Verbindung zwischen Mensch, Maschine und Energie herzustellen. Während Besucher:innen das Museum mit Kopfhörern ausgestattet erkundeten, begegneten ihnen sich stets verändernde Licht- und

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Andere Spieler:innen nähern oder entfernen sich von einer Station

Spieler:in nähert sich einer Station

Klanglandschaft ändert sich

Spieler:in verlässt die Station

Abb. 12.16 Die Experience Loop von Maschinenklangwerk. (Quelle: Cologne Game Lab)

Klanglandschaften, je nach Anzahl der Besuchenden im Museum und jedem spezifischen Raum. Diese sehr einfache Form der Partizipation lud Besuchende ein, zu bleiben, zu erkunden und zu spielen in der rußgeschwärzten Vergangenheit der Industrialisierung und der möglichen Zukunft – die es weiterhin auszuhandeln gilt (s. Abb. 12.16). Die Besucher:innen durchliefen einen abgesteckten Bereich im Museum, bei dem sie zuerst der Vergangenheit der Industrialisierung und deren Auswirkungen auf die heutige Zeit begegneten, und dann in eine mögliche Zukunft katapultiert wurden, um sinnbildlich ihren Weg zurück zum Anfang, nicht nur der Ausstellung – sondern auch der Problematik des Klimawandels, zu machen. Während des gesamten Prozesses spielten Themen wie Arbeit, Energiegewinnung, Klimawandel, Ressourcen und Produktion eine zentrale Rolle in den Licht- und Klanglandschaften. Generell wollten wir keine zu festen Strukturen vorgeben, sondern die Besuchenden dazu einladen, die Installation spielerisch zu erkunden. Da die Gesenkschmiede Hendrichs in Solingen ein Industriekulturerbe ist und dies in den eindrucksvollen Hallen auch widergespiegelt war, wollten wir mit unserer Installation weder die wunderschönen Maschinen, noch den Ruß der Industrialisierung, welcher immer noch an den Wänden sitzt, überschatten. Kamera-basiertes Tracking würde die Besuchenden zwingen, ihre Umgebung dauerhaft durch ihr Smartphone aufzunehmen. Um dies zu vermeiden, haben wir uns dazu entschieden, die Besucher:innen über Bluetooth zu tracken. Dazu haben wir Bluetooth Beacons an verschiedenen Punkten des Ausstellungsbereichs angebracht, welche in regelmäßigen Abständen Bluetooth-Signale sendeten. Basierend auf der Signalstärke der Beacons können die Smartphones die Distanz zu den nächsten Beacons identifizieren und sie gleichermaßen im digitalen Raum wiedergeben. Dadurch wurde der Smartphone-Bildschirm nahezu überflüssig. Dieser digitale Raum ermöglichte es uns, eine interaktive Licht- und Klanglandschaft zu kreieren, die je nach Anzahl der Besuchenden im Raum und der gesamten Ausstellung reagierte. Die Soundscape jedes Besuchenden war individuell und wurde über das Smartphone und

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die Kopfhörer wiedergegeben. Die Lichtkulisse befand sich im physischen Raum und wurde gemeinsam wahrgenommen. Dazu verwendeten wir gängige Bühnenlichter, um die Räume auf einer weiteren Ebene zu erweitern. Sowohl die Licht- als auch die Klanglandschaft wurden von einem zentralen Server kontrolliert und in der digitalen Kopie wiedergegeben. Während am Anfang die Klanglandschaft noch hauptsächlich die Maschinen im Museum imitierte, entwickelte diese sich langsam in eine musique-concrète-esque Komposition – einen Maschinen Klang Apparat (Maschinenklangwerk) – welche das Leben zurück in die Maschinen und Hallen der Gesenkschmiede hauchte und ihnen neue Kontexte gab. Wenn genug Besucher:innen sich in einem Raum aufhielten, veränderten sich die Klänge, um eine verwandte, jedoch intensivierte Version der Räume zu offenbaren. Nachdem die Besuchenden ihren Sprung in die Zukunft hinter sich haben und sich auf dem Rückweg durch die Ausstellung befinden, zeigt die Klanglandschaft eine sich ähnelnde Zukunftsvision der bereits durchlaufenen Räume, welche nicht nur verhandelbar ist, sondern sich auch immerwährend verändert. Um noch eine weitere Ebene hinzuzufügen, entschieden wir uns, zu jedem Raum (sowohl in der Vergangenheits- als auch Zukunftsversion) ein Haiku zu schreiben, da die aus Japan stammenden Haikus als weltweit kürzeste Gedichtform die wundervolle Eigenschaft an sich haben, in wenigen Worten sehr viel zu sagen. Wenn Besuchende den Kohleofenraum betreten, werden sie von einer sanft leuchtenden, doch flammenden Lichtkulisse begrüßt, während sie eine Person hören, die Kohle in den Ofen schippt (s. Abb. 12.17). Je mehr Personen hinzukommen, desto schneller wird das Schippen und der Ofen brennt heißer und intensiver (welches auch durch eine immer intensivere Lichtkulisse begleitet wird). An einem gewissen Punkt eskaliert die Licht- und Klanglandschaft und wandelt sich in einen grausamen Waldbrand. Während des ganzen Prozesses ist auf dem Smartphone-Bildschirm das Haiku: “Es brodelt im Tief; Flammen Licht der Dunkelheit; Zurück bleibt die Leere” zu lesen, welches implizieren möchte, dass die Naturkatastrophen, die überall auf der Welt passieren, eine direkte Auswirkung der Industrialisierung sind. Wenn die Besucher:innen in der „Zukunft“ zurück in den Raum kommen, bleibt die Lichtkulisse dieselbe, doch der Klang rekontextualisiert den Raum in einem ganz anderen Licht. Die Klanglandschaft besteht aus ruhigen Wellen, die langsam am Strand brechen. Es ist ein friedlicher und leiser Ort, welcher die Frage aufwirft, ob die Menschheit überleben wird. Zusammen mit dem Haiku: „Langer Reise Ziel; Anbruch eines neuen Tags, Meer der Vision” lädt der Raum die Besuchenden dazu ein, ihre Reise sowie die Reise der Menschheit in die Zukunft durch die Installation zu reflektieren.

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Abb. 12.17 Der Kohleofen heizt lautstarker, je mehr Personen sich im Raum befinden. (Quelle: Cologne Game Lab)

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Ausblick

Grundsätzlich darf konstatiert werden, dass immersive Medien keine temporäre Erscheinung darstellen, sondern dauerhaft ein relevantes (und somit zu beforschendes) Thema sein werden. Für die wissenschaftliche Arbeit am CGL bedeutet das natürlich immer Aspekte der Ludologie, der Lehre vom Spielen, mit einzubeziehen und die „Player Experience“ in den Vordergrund zu stellen. Hinzu kommen auch zahlreiche andere Faktoren, welche die Entwicklung nachhaltiger Anwendungen beeinflussen, wie zum Beispiel die visuelle Qualität, Fragestellungen der Didaktik oder die Erforschung narrativer Strukturen, um nur einige Beispiele zu nennen. Dazu stellt die technologische Entwicklung immer neue Aufgaben in der forschenden Disziplin der rasante Fortschritt der letzten Jahre zeigt, wie sich Aspekte digitaler Spiele immer wieder auch in anderen Feldern etablieren. Beispielhaft sei hier auf den Themenkomplex der „Virtual Production“ in der Filmproduktion verwiesen, wo sich Game Engines als Produktionswerkzeug virtueller Filmsets etabliert haben. Ihr Einsatz ermöglicht die Pre-Visualisierung eines Filmprojektes durch interaktive Techniken, in deren Konzeption und Umsetzung VR-Brillen eine immer wichtiger werdende Rolle spielen. Hier sind Games und Film längst technologisch, wie auch ästhetisch und narrativ, eng zusammengerückt. Grundsätzlich wird sich auch in der Zukunft die Forschung im XR-Bereich am CGL auf den Komplex der Serious Games konzentrieren, also die Integration von Aspekten des Game Designs in Bereiche jenseits der Unterhaltung. Das Thema „Lernen“ ist hier auch weiterhin eine zentrale Aufgabenstellung, ebenso wie XR im musealen Kontext und die künstlerisch-experimentelle Forschung jenseits einfach klassifizierbarer Fragestellungen. Die Trias – Technology, Aesthetics of Game/Play, Impact – setzt hierbei als internes Leitbild die offenen Grenzen unserer Aktivitäten und reflektiert die Notwendigkeit, einem neuen Themenkomplex auch mit Forschungsansätzen jenseits des etablierten akademischen Kanons zu begegnen.

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Zusätzliche Projektinformationen

Weitere Informationen zu den Projekten, den Teams sowie den zugehörigen Publikationen finden sich auf der Projektwebseite des Cologne Game Lab. www.colognegamelab.de/research/projects/

Literatur Radvansky, G., Krawietz, S., & Tamplin, A. (2011). Walking through Doorways Causes Forgetting: Further Explorations. Quarterly journal of experimental psychology, 64(8), 1632–1645. https:// doi.org/10.1080/17470218.2011.571267. Nöll, R. (2021). Can’t touch this? – Exploring the Concept of Affordance in Virtual Reality. Bachelorarbeit, Cologne Game Lab der TH Köln. Pickering, A., & Corr, P. (2008). J.A. Gray’s Reinforcement Sensitivity Theory (RST) of Personality. In J. B. Boyle, G. Matthews, & D. H. Saklofske (Hrsg.), The SAGE Handbook of Personality Theory and Assessment. Personality Theories and Models (Bd. 1, S. 239–256). SAGE Publications. Reuter, M., Cooper, A. J., Smillie, L. D., Markett, S., & Montag, C. (2015). A new measure for the revised reinforcement sensitivity theory: Psychometric criteria and genetic validation. Frontiers in Systems Neuroscience., 9, 38. Firewood Games. (2022). Local Paper Small Town. PC-VR, Firewood Games. https://store.steamp owered.com/app/1931980/Local_Paper_Small_Town/.

Prof. Björn Bartholdy ist Co-Direktor des Cologne Game Lab der TH Köln. Als Visual Designer konzentriert er sich auf Grafikdesign, UI & UX, Motion Graphics und 2D-Animation. Gemeinsam mit Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth konzipierte er das Cologne Game Lab als kreativen Raum rund um das Thema digitale Spiele mit dem Ziel, eine der führenden Forschungseinrichtungen in diesem Bereich in Europa zu etablieren. -

Katharina Tillmanns ist Forscherin, Designerin und Dozentin für interaktive Medien am Cologne Game Lab. In ihrem Studium und ihrer Arbeit erforscht und fördert sie die expressiven Qualitäten von Spielen als Mittel der Kunst und des Aktivismus. Als Co-Präsidentin und Gründungsmitglied des Netzwerks Games for Change Europe war sie in der Rolle der Projektleiterin an einer Vielzahl von forschungs- und entwicklungsorientierten Projekten auf kommunaler, bundes- und europäischer

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Ebene beteiligt. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation, die sich mit kollaborativem Lernen im Kontext von Mixed-Reality-Umgebungen beschäftigt. Jonas Zimmer ist Spieleentwickler, Dozent und Forscher aus Köln. Seit 2017 ist er Teil des Forschungslabors am Cologne Game Lab, wo er derzeit an seiner Promotion in den Digital Humanities arbeitet. Seine Forschung konzentriert sich auf Persönlichkeits- und Präsenzempfinden in MixedReality. Für sein Spiel Welten der Werkstoffe wurde er 2021 mit dem Deutschen Computerspielpreis für das beste Serious Game ausgezeichnet. Chad Comeau ist Narrative Designer, der zurzeit bei neoludic games an ihrem Debütitel Tiny Bookshop arbeitet. Er ist Absolvent des Bachelors Digital Games am Cologne Game Lab der TH Köln. Zuvor hat Chad das Narrative Design und Writing für das historische Actiongame Maniacs des Achtung Autobahn Studios sowie für das Mixed-Media Projekt Local Paper Small Town von Firewood Games übernommen. Beide Projekte wurden für den Deutschen Entwicklerpreis nominiert. Isabel Grünberg ist Game Designerin, die aktuell am Cologne Game Lab der TH Köln den Bachelor in Digital Games anstrebt. Vor ihrem Studium arbeitete sie als Erzieherin und hatte schon immer eine Leidenschaft für Freiwilligenarbeit im Bildungsbereich und im Naturschutz. Seit kurzem ist sie als Jury-Mitglied und Akademieleitung bei Bildung und Begabung für die GamesTalente Akademie aktiv. Ihre Forschungsinteressen sind Experimental Games, Queer Gaming und Feministisches Game Development. Ihre letzte Arbeit war die AR-Installation Maschinenklangwerk, die als Vorschlag für eine neue Herangehensweise an Augmented Reality, besonders im musealen Raum, dienen soll.

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„Ich erhoffe mir eine XR-Brille, die so selbstverständlich werden könnte wie das Smartphone“ Bolela Likafu

Interview mit Maria Courtial, CEO und Co-Founder Faber/Courtial

Zusammenfassung

Docutainment Filme als immersive Erlebniswelten sind Premium Produkte der Extended Reality Produktionen. Wie verbindet man auf innovative Weise Storytelling, Unterhaltung und Wissensvermittlung in den Immersiven Medien zur Begeisterung des Publikums? Maria Courtial ist Mitgründerin, Geschäftsführerin und Produzentin bei Faber Courtial – studio for digital worlds, gegründet nach ihrem abgeschlossenen Industriedesign-Studium im Jahr 1998. Faber Courtial ist eines der weltweit erfolgreichsten VR-Filmstudios und gehört zu den führenden VFX- Unternehmen in Deutschland. Seit 1998 begeistern die hochkarätigen Animationen, Filme und Dokumentationen des Studios die Zuschauer in TV – Produktionen und Museen. Seit 2014 zeichnet sie sich als Produzentin und Co-Direktor preisgekrönter immersive Filme und Experiences verantwortlich, welche die Welt des Entertainment neu definieren und Einblicke geben in die Welt der Vulkane, Gladiatoren im Kolosseum, Follow Me – Rom und Into Space -1st Step & 2nd Step. Im Bestreben, perfekte und detaillierte Erlebnisse in Echtzeit zu erschaffen, werden innovative Techniken genutzt und entwickelt. GENESIS, die neueste immersive Produktion, hatte seine internationale Premiere 2021 B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_13

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in Venedig, 2022 auf der SXSW die Nordamerikanische Premiere. Mit dem entwickelten Tool Phalanx können nun aufwendige Welten auch interaktiv auf mobilen Headsets betreten werden.

Bolela Likafu:

Maria Courtial:

Der XR-Thinktank möchte den Impact von Extended Reality auf Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien beleuchten. Ich habe mir gestern nochmal das „Making-of“ eurer preisgekrönten VRProduktion „Gladiators“ angeschaut und bin immer wieder verblüfft, mit welcher Sorgfalt und Liebe zum Detail ihr arbeitet. Gleich zur ersten Frage: Wie ist die Firma Faber Courtial zu Virtual Reality gekommen? Wir sind seit über 20 Jahren auf dem Markt und ursprünglich eine VFX- und 3D-Animationsfirma. Wir haben schon immer digitale Welten gebaut und diese sind nicht irgendwelche Fantasiewelten – das sind wirkliche Welten, die so mal existiert haben könnten. In unsere Welten wollten wir schon immer „hineinkriechen“. Dann kam in 2013/2014 ein Hype um das Thema „Virtual Reality“, und wir hatten als CG-Firma gute Einstiegsmöglichkeiten. Das war definitiv der Zeitpunkt, um zu sagen „So cool, das machen wir!“ Nun können wir in unsere Welten reinkriechen. Und hier kann ich direkt erläutern, weshalb wir diesen Weg erstmal via VR/360°-Filme gegangen sind: Bis dato hat man im VFX-Bereich mit vorgerenderten Layern gearbeitet, die im Compositing zusammengesetzt und dann als Film ausgegeben wurden. Für uns lag also

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nahe, VR-Filme zu erstellen, da hier auch mit vorgerenderten Inhalten gearbeitet werden konnte. Was sind eure Erfahrungen mit Virtual Reality in der EntertainmentBranche/im Wissenstransfer? In diesen Bereichen würde ich euch platzieren. Ja, absolut, im Docutainment sind wir angesiedelt und haben hier für viele Jahre VR-Filme produziert. Mittlerweile sind wir flexibler geworden. Wir haben die Pipeline gewechselt, sind in Echtzeit angekommen und können nun auch interaktive Inhalte produzieren. Die letzten Jahre waren wir leider sehr eingeschränkt, unsere Produktionen zu platzieren, auch wenn diese sehr erfolgreich sind. Wir bekommen sehr viele Rückmeldungen, dass die Leute unsere Filme lieben. Aber wir müssen sie natürlich auch vertreiben und verkaufen können. Es gibt die großen Distributions-Hardware-Plattformen, die einem aber teils das Leben sehr schwer machen, wenn man mit Premium-Inhalten versucht, direkt über Apps die Inhalte zu vertreiben. Auf manchen Plattformen gibt es nur ein großes Becken, wo alle Filme versammelt sind. Das wollten wir zumindest zu Beginn nicht so handhaben. Die Herangehensweise sollte sein, dass man seine neuen Produkte mit einer Distributionsstrategie auf den Markt bringt. Am Anfang wird das Produkt sehr gezielt und wertvoll eingesetzt und erst über die Jahre sollten dann gegen eine Einmalzahlung auch Plattformen infrage kommen, in denen die Filme den Leuten umsonst angeboten werden. Aber der Markt ändert sich kontinuierlich, neue Firmen, die interessante Distributionsmodelle anbieten, sprechen uns an, und es besitzen mehr und mehr Leute eine VR-Brille. Dennoch ist es nicht so einfach, wie man es sich zu Beginn vorgestellt hat. Bezüglich unserer neuen interaktiven Experiences schauen wir gespannt in die Zukunft, denn es wird immer mehr Möglichkeiten geben, diese später zu verbreiten. Der ganze XR-Bereich scheint im Aufwind. HardwareFirmen wie Pico sind innerhalb der letzten ein, zwei Jahre sehr intensiv in die Branche eingestiegen und haben noch mal Schwung mitgebracht. Ich kann nur sagen: spannende Zeiten. Für mich sind eure Produkte Premium-Produkte. Wenn alles in einem Topf ist, wird es für mich schwieriger, die Premium-Produkte zu finden. Ich nehme an, in diese Richtung wolltest du gerade mit der Antwort gehen?

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Exakt. Wir wollten eben, zumindest zu Beginn, nicht in diesem Pool sein, sondern wir wollten unsere Filme mit einer eigenen App vertreiben. So hatten wir zum Beispiel im Herbst 2019 die App „Into Space“ fertiggestellt, hatten die bei diversen Plattformen eingereicht und über Monate keine Antwort erhalten. Dann kam von Facebook, damals noch Oculus, und später auch von Steam, die Info, dass diese Stores keine Apps mehr akzeptieren, die nur Filme ohne Interaktivität als Content haben. Das ist natürlich dramatisch für uns gewesen. Für eben jene Stores hatten wir ja die App entwickelt. Es gab dann noch längere Gespräche mit Oculus/Facebook darüber, aber was kannst du als einzelne kleine Firma dagegen machen, wenn deren Politik sich entsprechend geändert hat? Es bleiben dann Möglichkeiten wie die Experimentierplattform App Lab auf der Quest, um die Apps trotzdem zu vertreiben, aber das ist natürlich nicht dasselbe. App Lab ist eigentlich eine Plattform für Entwickler, und Nutzer erhalten erstmal einen Warnhinweis, wenn sie unsere App lizensieren wollen. Das ist keine gute Ausgangsbasis. Sehr viel weniger Menschen finden so unsere App und diese kann auch nicht richtig beworben werden. Ihr habt viele Awards gewonnen. Die Produktionen von Faber/ Courtial kennt man mittlerweile schon. Aber für andere, die versuchen auch in diesem Bereich mitzumischen, ist es noch schwieriger. Woher soll ich die Namen dieser Firmen kennen? Bekannt macht man sich und die eigenen Produktionen in der Regel über Festivals. Wird die eigene, eingereichte Experience ausgewählt, erhält diese automatisch mehr Bekanntheit. Das ist ein guter Start für jede Firma und ihre Produkte. Danach muss mit dem Produkt aber auch Gewinn gemacht werden. Das ist z. B. bei uns sehr wichtig, da wir jeweils Eigenkapital in die Erstellung unserer Produktionen stecken. Die Plattformen sind deshalb eine wichtige Erlösquelle. Wie wichtig ist für euch das Storytelling? Superwichtig! Zu Beginn war „Storytelling“ DAS Schlagwort, dann gab es Zeiten, da waren es alle leid, über Storytelling in VR zu reden. Nach und nach haben sich bestimmte Grundparameter durchgesetzt, wie man Produktionen in VR umsetzt. In diesem Fall spreche ich speziell von VR/360°-Film. Hier muss die Produktion eher wie ein Theaterstück, in dem man sich befindet, gehandhabt werden. Man hat leider keine Möglichkeiten, mit Nahaufnahme, Zoom, Tiefenschärfe etc. zu arbeiten. So konzentriert man sich darauf, die Umgebung spannend zu drapieren und z. B. Elemente im Vordergrund zu haben,

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Kamerafahrten müssen entsprechend ruhig umgesetzt werden, einzelne Szenen benötigen mehr Zeit, der Schnitt sollte also viel ruhiger sein usw. Abgesehen von diesem grundsätzlichen Umgang in VR ist uns die richtige Mischung aller vorhandenen Elemente – der Schnitt, die Geräusche, die Musik, der Text und die Stimme – sehr wichtig. Wie in einer Symbiose sehe ich die Elemente als Teile eines lebendigen Ganzen, die in der richtigen Mischung etwas wunderbar Neues ergeben. Weg vom Film würde ich nun gerne noch kurz auf die interaktive Experience eingehen. 2021 haben wir GENESIS, ein Projekt über die Erd- und Menschheitsgeschichte, als VR/360°-Film produziert und dieser hat eine wunderbare Festival-Runde durchlaufen. Jetzt entwickeln wir „GENESIS – The LIFE Experience“, eine interaktive Form dieses Themas mit ganz anderer Herangehensweise, eigentlich ein komplett neues Projekt. Nun geht es darum, wie der User diese Welten erlebt, begeht und intuitiv agiert. Ein vollkommen anderes Storytelling ist hier gefragt, da es um eine aktive Nutzung und nicht mehr um passives Erleben geht, extrem spannend und anspruchsvoll. Was ist eure Zukunftsvision für Extended Reality in der Entertainment-Branche? Lass es mich zweigeteilt beantworten. Wenn es um die Hardware geht – die das wichtigste Instrument ist – erhoffe ich mir in einigen Jahren eine Super-Slim-Version der XR-Brille, die einen im Alltag unterstützt und so selbstverständlich werden könnte wie das Smartphone. Man erhält im Sichtfeld direkt Infos zur Umgebung, zu den täglichen Terminen, Tipps und Hinweise im Alltag und bei der Arbeit. Man nutzt also die XR-Brille wie eine AR-Brille, kann aber auch in den immersiven Modus umschalten und die Brille dann in der Freizeitgestaltung für Spiele und Unterhaltung aber auch zur Bildung in sehr fokussierter Form nutzen. Abgesehen von der Hardware empfinde ich den Aspekt des sozialen Lebens in der virtuellen Welt sehr spannend. Wie häufig werden sich Leute dort aufhalten, wieviel Arbeits- und Freizeit dort und speziell miteinander verbringen? Und wenn ich jetzt auf Entertainment zurückkomme, ist es natürlich spannend, die zukünftige Nutzung von Produkten wie unseren zu erahnen. Aktuell verbringen viele ihre Freizeit mit dem Streamen von Filminhalten oder Gaming vor dem Monitor. Wird sich dies mehr und mehr in VR verlagern? Welche Art der Unterhaltung wird man dort bevorzugen? Wird vieles interaktiver werden? Soziale Interaktion über Avatare und Spiele mit mehr Körpereinsatz? Super spannend, warum nicht? Ich bedanke mich für das angenehme Interview und deine Zeit.

„Paradigmenwechsel in der Verlagslandschaft und den Magazinen“

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Bolela Likafu

Interview mit Holger Volland, CEO brand eins Medien AG

Zusammenfassung

Die Medien- und Verlagslandschaft in Deutschland”spüren” schon seit Jahren die Disruption der „neuesten” Medien und Technologien. Redaktion, Inhalte und Produkte wie auch deren Nutzungsverhalten sind alle konstant starken Veränderungen unterworfen. Was ergibt sich aus den Printagentur Erfahrungen eines knappen Vierteljahrhunderts seit 2000 auf das heute und die Zukunft? Holger Volland ist CEO der brand eins Medien AG in Hamburg, die das Wirtschaftsmagazin Brand Eins herausgibt. Als Experte mit mehr als 25 Jahren Führungserfahrung in der digitalen Transformation liegen ihm verantwortungsvolles technologisches Wachstum und Boardroom Diversity besonders am Herzen. Er ist Autor zu den Themen Digitale Transformation und Künstliche Intelligenz und publiziert in führenden Verlagen. https://www.brandeins.de/.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_14

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Was ist der Status quo der Digitalisierung in der Print und Medienlandschaft in Deutschland? Das ist nicht so leicht zu beantworten, weil es einerseits in Deutschland kein Medium mehr gibt, das nicht schon vor Jahren begriffen hat, dass Digitalisierung große Teile der Mediennutzung prägt. Andererseits sind leider Produktionsabläufe, Wertschöpfung und Prozesse in vielen Medienhäusern immer noch nicht auf eine digitale Welt umgestellt. Überall in den Medienhäusern überlegen Menschen: Was können wir in Social Media machen? Wie sehen kluge digitale Produkte aus, die heute und morgen für Kunden interessant sind? Auf der anderen Seite wird aber oft noch mit traditionellem Geschäft Geld verdient. Interne Prozesse sind dann, beispielsweise im Vertrieb, darauf optimiert, dass jeden Monat ein gedrucktes Magazin bei zigtausend Leserinnen und Lesern ankommt – wie auch bei brand eins. Das abzugleichen, bringt viele Medienhäuser in ein klassisches Innovations-Dilemma. Auf der einen Seite steht das Kerngeschäft, das oft noch den Großteil der Umsätze einbringt. Auf der anderen Seite wartet schon das zukünftige Geschäft und du musst es irgendwie schaffen, die Ressourcen von hier nach da zu bringen, ohne das System zu schädigen. Das ist nicht immer ganz einfach. Und es erklärt vielleicht auch, warum alle Medienhäuser mit traditionellem Kern, die ich kenne, einen permanenten internen Innovationsdruck empfinden. Wie würdest Du den Einfluss von immersiven Medien auf Publizistik und Gesellschaft bewerten? Es gibt noch keinen sichtbaren Einfluss.

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Und wie würdest Du den Impact von immersiven Medien auf den redaktionellen Bereich beschreiben? Was sind generell Deine Erfahrungen hinsichtlich der digitalen Transformation im redaktionellen Bereich? Natürlich ist jedes VR- oder AR-Konzept interessant für alle Menschen, die professionell mit Geschichten arbeiten. Es ist vor allem spannend, dass man mit XR neue Formen des Storytellings entwickeln kann, bzw. sich zwangsweise aneignen muss, sobald man mit immersiven Medien arbeitet. Solche Expertise kommt aber eher aus dem Gaming- oder dem Filmbereich, nicht aus dem Print-Journalismus. Für die meisten traditionellen Journalistinnen oder Autoren ist es handwerklich als auch mental ein großer Schritt, weil sie aus dem textbasierten Erzählen kommen. Und trotzdem sehen wir, dass viele ehemalige Printmedien mittlerweile auch in digitalen Formaten zu Hause sind. Was mit Podcasts begann, führte zu Bewegtbildformaten und kann letztendlich auch in experimentelle Formate oder in die Extended Reality übergehen. Den Weg gehen bisher allerdings die wenigsten, weil immersive Medien bisher für die Verbreitung von Inhalten und die Wertschöpfung in solchen Häusern keine große Rolle spielen. Und die Produktionskosten sind auch noch ziemlich hoch. Das muss man auch erwähnen. Es muss einfach mehr Wissen darüber geben. Was den Markt und die Vermarktung angeht, bin ich mir nicht so sicher, wer bereit sein wird, dafür zu bezahlen. Die Produktion von immersiven Projekten ist unglaublich viel teurer als die von anderen Formaten. Das können sich nur wenige leisten. Keine Ahnung, ob beispielsweise die Tagesschau eines Tages eine XR-Version haben sollte. Ganz abgesehen davon, ob die Nutzerinnen und Nutzer einen Mehrwert davon hätten, für den sie bezahlen würden. Ich weiß, dass das SZ-Magazin schon in 2010 zusammen mit der Firma Metaio, die später von Apple aufgekauft wurde eine Augmented-Reality-Ausgabe produziert hat. Das war damals kein Einzelfall und es gab auch viel Presse darüber. Natürlich war die Technik noch nicht so weit und das Thema AR war schnell wieder aus den Medien und aus den Köpfen der Menschen verdrängt. Aber man hat es damals bereits versucht und diese Story hört man in 2022 immer noch im Zusammenhang mit der jetzigen Digitalisierung. Das ist der aktuelle Stand, darum gebe ich dir komplett recht. So etwas gibt es zum Glück immer wieder. Aber das sind eher künstlerische und experimentelle Projekte, aus denen wir wahnsinnig viel lernen können. Sie sind aber nicht Teil unseres Alltagsgeschäfts.

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Wie stellst du dir das Magazin der Zukunft vor? Jetzt bin ich natürlich Geschäftsführer der brand eins Medien AG, deren Erfolg seit 25 Jahren auf gedruckten und zusammengebundenen Seiten basiert, die viele Leute auch als künstlerisches Objekt sehen, das sie haptisch erleben wollen. Wenn ich aber ganz frei darüber nachdenke, würde ich mit der Frage beginnen: Was ist überhaupt ein Magazin? Ein Magazin ist für uns ein thematisch orientiertes Bündel von Inhalten, die Wissen vermitteln und dabei unterhalten. Heute ist dieses Bündel für alle gleich. Wir überlegen uns in der Redaktion beispielsweise: Wie sieht ein Magazin zum Thema Bildung aus? Und dann stellen wir das zusammen, was die nötige hohe Qualität hat, Spannung bietet und ein rundes sowie aktuelles Bild dieses Themengebietes ergibt. In der Zukunft kann ich mir erstens überlegen, ob ich in der bekannten Formatwelt bleibe: gebundene Seiten. Oder ob ich beispielsweise in eine Art digitale Loseblattsammlung übergehe. Und ich kann mir überlegen, ob eine One-Size-Fits-All-Strategie die richtige ist. Ob nicht ein Magazin über Bildung für eine Lehrerin andere Inhalte haben könnte als für einen HR-Manager. Und dann sind wir schnell bei dem in der Vergangenheit natürlich schon tausendfach erdachtem und wieder verworfenem individualisierten Magazin. Ist ein Magazin in der Zukunft also einfach ein beliebiger Container? Ein Container, der von einer starken Marke, sagen wir mal „brand eins Wirtschaftsmagazin“, zusammengehalten wird und in dem es unterschiedliche Arten von Inhalten, wie Audio, Video, maschinenlesbares XML und Texte gibt. Doch dann stellt sich die Frage: Ist das noch eigenständig? Wollen Menschen dafür noch Geld bezahlen oder sich die Inhalte nicht einfach selbst zusammensuchen? Kann so die besondere Expertise einer Redaktion bestens genutzt werden, nämlich Wichtiges von Unwichtigem, Relevantes von Irrelevantem zu trennen? Ich glaube ehrlich gesagt, dass wir für uns die beste Form der Produktart „Magazin“ bereits machen. Selbstverständlich müssen wir parallel zusätzliche Formen der Inhaltsvermittlung und des Austausches über Inhalte anbieten. Die nennen wir dann aber anders. Darüber hinaus wird es aber immer mehr Container-artige Produkte geben, die Inhalte entweder durch Menschen oder Algorithmen immer wieder neu zusammenstellen. Anders können wir mit der Fülle an Informationen gar nicht mehr zurechtkommen.

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Was du beschreibst, gilt für mich bereits. Ich stelle mir im Internet zu meinen Themen alles selbst zusammen, auf verschiedenen Websites. Ich kann nicht beurteilen, wie es für ältere Menschen ohne digitale Anbindung ist – aber für die jüngere Generation funktioniert es auf jeden Fall schon so. Die Frage ist: Brauchen wir nicht die Marken als Garanten für Qualität? Bei deiner Version der Magazine sammelst du dir ja alles selber zusammen. Aber weißt du am Ende, was wirklich guter journalistischer Content ist, sauber recherchiert, korrekt, gerade weil er von einer dieser Marken kommt? Aber brauchst du die Marke noch, damit sie dir den Content zusammenbindet? Für mich persönlich gilt: Ich brauche für die Inhalte selbst noch diese Marken, weil ich mich darauf verlassen kann, dass sie für Qualität stehen und geradestehen müssen, wenn Fehler passieren oder Unwahrheiten ans Licht kommen. Das verkürzt schon mal deutlich die Zeit, die ich selbst im Internet nach glaubwürdigen Quellen recherchieren muss. Brauche ich persönlich die Marken auch für die richtige Bündelung? Tatsächlich habe ich mir die Frage noch nie vorher gestellt. Ich gehe davon aus, dass es ein Container-System geben wird, wo die Inhalte auf mich abgestimmt sind. Dafür sind Algorithmen da. Danke dafür, dass du uns zur Relevanz von Extended Realität in der Printund Medienbranche eine Einschätzung gegeben hast. Vielen Dank für das Interview und deine Zeit!

Extended Reality (XR) in der Kreativwirtschaft

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Bolela Likafu

Interview mit Marcel Loko, Co-CEO und Co-Founder Hirschen Group

Zusammenfassung

In diesem Interview erläutert Marcel Loko den Status Quo der Digitalisierung und von Extended Reality in der Werbelandschaft. Wie”digital” begreifen sich Agenturen der Kreativwirtschaft heute. Welche verschiedenen Rollen spielen neue Technologien und Medien, wie XR und VR für Kunden und die Branche selbst, Marcel Loko ist Executive Chairman und Co-Founder der Hirschen Group. Die Hirschen Group ist eine der größten inhabergeführten Werbeagenturen in Deutschland. 1995 gründete Marcel Loko gemeinsam mit Bernd Heusinger die Agentur Zum goldenen Hirschen in Hamburg. 2005 gründete Loko gemeinsam mit Bernd Heusinger und Martin Blach die Hirschen Group zunächst als Holding für eine wachsende Anzahl von Zum goldenen Hirschen Standort- GmbHs. In den Folgejahren wurden für die Hirschen Group weitere Agenturmarken akquiriert und entwickelt: Die Hirschen Group gehört zu den drei größten inhabergeführten Agenturgruppen der DACH- Region. Aktuell arbeiten rund 900 Mitarbeitende an den Standorten Berlin, Hamburg, Köln, Stuttgart, München, Düsseldorf, Dresden, Wien sowie Brüssel und betreuen über 600 Kunden wie OBI, Warsteiner, freenet, Aida Cruises, L’Oréal, B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_15

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McKinsey, Bayer, die Generalzolldirektion, den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), die Bank Julius Bär, die KfW, die Bertelsmann- Stiftung sowie diverse Bundes- und Landesministerien mit einem Gesamt-Billingvolumen von über 515 Mio. Euro – in Fragen der Kommunikation, der Digitalisierung und der kreativen Transformation. Im Oktober 2018 veröffentlichte Loko gemeinsam mit Heusinger und Blach das Buch „Kreativiert Euch!“. Darin zeigen sie auf, dass Kreativität die zentrale Ressource für persönlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg ist und daher an zentraler Stelle gefördert werden muss. https://hirschen-group.com.

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Wie ist aus deiner Sicht der Status der Digitalisierung in der KreativWirtschaft? Der Status der Digitalisierung in der Kreativ-Wirtschaft ist erstaunlich hoch. Haben wir uns vor zehn Jahren noch darüber beschwert, dass wir nicht digital sind, ist das heute absoluter Standard. Ein plastisches Beispiel: Als der Corona-Lockdown in Kraft war, hatten wir in unserer Kommunikationsbranche überhaupt keine Schwierigkeiten, weil alles schon digitalisiert war. Das heißt, es wird kaum noch für uns gemalt und geschnitzt, sondern letztendlich alles am Computer gemacht. Das ist im weitesten Sinne schon Digitalisierung. Es ist natürlich nicht die Digitalisierung der Emotionen, aber es ist Digitalisierung im weitesten Sinne. Das Mindset, um die Digitalisierung und die digitale Transformation letztendlich durchzuziehen.

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Genau. Es ist natürlich so, dass wir in unserer Branche stärker konzeptlastig sind, und die Konzepte können auch digital erarbeitet und präsentiert werden. Für mich war die Lockdown-Phase ein Sinnbild dafür, wie weit die Digitalisierung in unserer Branche de facto schon fortgeschritten ist, in einer Zeit, in der man seine Kunden und auch seine Mitarbeiter kaum persönlich getroffen hat. Bezüglich der Veränderungen der internen Prozesse waren die Hirschen immer schon Trendsetter. Ja, wir sind sicherlich Vorreiter, aber da will ich jetzt die Kollegen aus der Branche nicht kleiner machen, als sie sind. Ich würde sogar sagen, dass unsere gesamte Branche oder der Großteil unserer Branche einfach unglaublich digitalisiert ist. Wir saßen oft mit Kollegen zusammen, auch aus anderen Agenturen, und wir waren uns einig: Wie wäre die Krise vor fünf oder gar zehn Jahren gewesen? Da hätten wir einfach große Schwierigkeiten gehabt. Wie ist deiner Meinung nach der Stand der Digitalisierung in gesamt Deutschland? Die Digitalisierung hat massive Auswirkungen auf die Medien und auf die Gesellschaft. Man kann das auch sehr plastisch beobachten, z. B. bei Jugendlichen, die nicht mehr miteinander reden, sondern sich gegenseitig zeigen, auf welcher sozialen Plattform sie gerade surfen. Weitere Szenarien sind ein Flug oder eine U-Bahn-Fahrt, wo niemand mehr miteinander redet. Alle schauen auf ihr Handy. Alles ist durch und durch vernetzt. Und alles, was nicht digital ist, stirbt aus. Eine Ausnahme bezüglich des rasanten Fortschritts der Digitalisierung ist für mich vielleicht das Medium Film. Fernsehen ist ja ein bewegtes Bild und das ist in gewisser Weise auch schon digital. Es wird digital produziert und digital abgespielt. Also den Bereich Film könnte man auch dazu zählen. Das zeigt einfach, dass sich die Auswirkungen der Digitalisierung in den Medien schon voll durchgespielt haben. Und was die Gesellschaft betrifft: Wir befinden uns nach der Industriellen und Informationsrevolution nun mitten in der digitalen Revolution, die sich durch alle Lebensbereiche zieht. Das hat auch massive Auswirkungen auf die persönliche Kommunikation, auf das Lebens- Einkaufs-, Sozialverhalten und letztendlich auch die Psyche. Hat das Metaverse für dich derzeit eine Bedeutung oder ist es nicht relevant? Im Moment ist es für mich nicht relevant, aber natürlich wird es das werden. Die Idee der Kollaboration ist natürlich a) faszinierend und b) auch in ihrer Tragweite kaum zu überschätzen. Ob das dann am

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Ende Metaverse oder Supernetz heißt, muss man abwarten. Im Grunde geht es hier um eine Marketingplattform, und die Marketingidee von Facebook ist, alles in einer Welt zu haben, die es erlaubt, Dinge im virtuellen Raum zu tun, auszuprobieren, zu entwickeln usw. Aber wenn man darüber hinausschaut, steckt viel mehr dahinter. Man kann zum Beispiel medizinische Operationen im virtuellen Raum durchführen und daraus ableiten, wie man die reale Operation durchführen sollte. Das Metaverse wird sehr viele positive Auswirkungen haben, weil man Dinge zunächst in einem zugänglichen Raum, der erst mal nicht real ist, ausprobieren kann. Kritisch aus sozialer und pädagogischer Perspektive sehe ich, dass es für manche Menschen auch eine Fluchtwelt aus dem echten Leben sein kann. Das Metaverse kann de facto ein Mini-Miteinander bedeuten, in dem junge Menschen in einer riesigen parallelen Bubble unterwegs sind und den Bezug zur realen Welt, zur sozialen Welt völlig verlieren. Der Konsum ist also auch als eine Art Droge zu sehen, so wie viele Games. Zusammenfassend sehe ich sowohl positive als auch negative Aspekte. Da wir nun bei Extended Reality sind: Wie stellst du dir das Marketing der Zukunft mit Extended Reality vor? Mir fehlt aufgrund der derzeit vielen Veränderungen und Variablen ein wenig die Fantasie. Ich glaube, niemand kann diese Frage seriös beantworten. Ein Unternehmen, das Joghurt verkaufen will, wird sich natürlich irgendwie im virtuellen Raum mit Extended Reality bewegen müssen, um Markenbekanntheit oder Markenpräsenz zu zeigen. Die Frage ist, ob und wie viel er dort verkauft, weil er am Ende Joghurt verkaufen muss. Für Fashion-Marken ist XR sicher spannender, zum Beispiel Sneaker-Marken. Die können sich sehr gut im virtuellen Raum platzieren und dort auch gesondert verkaufen. Neben Sales spielen auch Brand und PR für XR/VR eine grosse Rolle. Alles Möglichkeiten cross-medial zu kommunizieren, so wie es in vielen Bereichen schon üblich ist. Zum Beispiel ein „Grand Theft Auto“-Film der Werbung von Marken platziert, und „nebenbei“ viel Geld dafür bekommt, weil es für diese einschlägige Marke einfach Sinn macht, im Film aufzutauchen. Das heißt, Marketing geht eben immer über Abspielplattformen. Man muss versuchen, die Zielgruppen und generell möglichst viele Leute zu erreichen, schlicht und einfach. Das Metaverse ist sicherlich eine Plattform, die bei vielen Zielgruppen sehr beliebt ist. Aber kann man ausschließlich über Extended-Reality-Kanäle eine Marke aufbauen? Sicherlich noch nicht! Genauso wie es ganz wenige

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Marken gibt, die nur über Social Media oder nur über Digital Scouts funktionieren. Die meisten Markenunternehmen wissen, dass sie, wenn sie Produkte verkaufen müssen, ihre Präsenz breiter kommunizieren müssen als nur über einen engen Kanal. Ich stimme zu, dass es in der virtuellen Welt zuerst um die Imagebildung geht, um die gewünschten Zielgruppen zu erreichen. Die Produkte kommen später, aber da sind wir noch auf dem Weg. Ob es dann die Texturen der Avatare sind, die das Geld bringen, kann man heute noch nicht sagen. Genau. Im Moment kommt viel Neues auf die Gesellschaft zu und noch kennt niemand das gesamte Potenzial disruptiver Technologien und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Marcel, ich bedanke mich sehr für das Interview und deine Zeit.

Beyond the Metaverse

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Wie relevant ist die VR/AR/XR/Metaverse-Branche? Stephan Sorkin

Zusammenfassung

Die Anzahl und das Tempo der neu auftauchenden Buzzwords, durch die sich die VR/AR/MR/XR/Metaverse-Branche seit 2016 definiert, sind im Vergleich zu anderen Trendbranchen wie KI, Cloud, Games oder Big Data verhältnismäßig hoch. Obwohl XR als Akronym für Cross oder Extended Reality noch Anfang 2021 in der Branche die beste Chance hatte, sich als Gattungsbegriff durchzusetzen, verkündete Mark Zuckerberg ab Mitte 2021, dass mit dem Metaverse ein neues Zeitalter für seine eigene Firma und die gesamte Welt anbrechen würde. Damit treiben wir die nächste Sau durchs Dorf und die medialen Gewerke generierten ad hoc Stories auf der Suche nach dem Metaverse.

Ich will mich darüber nicht beschweren, denn auch ich versuche, Menschen zu erklären, was unsere Branche macht, warum das relevant ist und warum wir alle dazu eine strategische Position beziehen sollten. Das ist die Aufgabe eines Fachverbands, in meinem Fall dem EDFVR e. V., dem Ersten deutschen Fachverband für Virtuelle Realität, gegründet 2014 in Köln. Ich fange chronologisch (s. Abb. 16.1) korrekt mit dem Begriff Virtual Reality („VR“) an. Der Begriff ist tatsächlich der etablierteste und die meisten Menschen haben eine Vorstellung von Virtualität und Virtual Reality. Die danach folgenden Begriffe sind für die S. Sorkin (B) EDFVR e.V., Köln, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_16

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meisten Menschen ein Rätsel. „AR“ steht für Augmented Reality. Mixed Reality ist das Akronym für „MR“. „XR“ (Cross oder Extended Reality) könnte auch zu einer Typenbezeichnung gehören: ein „BMW XR v6“, oder ein „Bosch XR 18v Akkuschrauber“. All das sind eventuell mögliche „XR“-Anwendungen. Es folgt dann zuletzt der Begriff Metaverse, und ich sehe in den Augen der meisten Gesprächspartner – das können durchaus auch Protagonisten des digitalen Wandels sein – häufig nur noch vollkommenes Unverständnis. Die Schwierigkeit liegt jedoch nicht darin, sich die neuen Begriffe anzueignen und mit Wissen und Erfahrung zu füllen. Vielmehr wird man verunsichert, wenn die Begrifflichkeit nicht eindeutig ist und die Komplexität des Sujets einem keine Möglichkeit lässt, es in seinen persönlichen Erfahrungshorizont einzuordnen. Die Strategie im Moment scheint zu sein: möglichst allen eine VR-Brille aufsetzen oder eine AR-App auf dem Smartphone starten. Zur Not funktionieren plakative Anwendungsbeispiele. Wenn wir schon nicht auf der begrifflichen Ebene greifbare Definitionen liefern können, versuchen wir, die Rezipienten mit Beispielen zu überzeugen. Das funktioniert auch gar nicht so schlecht, aber es bleibt nach meiner Erfahrung immer ein schaler Beigeschmack, wenn sich später im Gespräch herausstellt, dass etwas nicht wirklich begriffen wurde. Das führt mich zu meiner ersten These. These 1 In Zukunft werden wir vermehrt in digitalen Realitäten mit digitalen Objekten leben, arbeiten, kommunizieren, reisen, interagieren und unsere Freizeit verbringen. Diese These ist nicht wirklich radikal. Sie entspricht dem allgemeinen Diskurs unserer Branche. Ich bemerke in vielen Kommunikationssituationen mit Kunden, Politikern, Wirtschaftsvertretern und Funktionären, dass ich mit der Klärung der Frage: „Generiert die VR/ AR/XR/Metaverse-Branche etwas, das für mein Gesprächsgegenüber relevant ist?“ keine solide Basis aufbaue. Zwei Elemente, die in dieser These stecken, begünstigen das. „Digitale Realitäten“ sind einfach zu erfassen. Wir wissen, dass alles Digitale nicht an Bäumen wächst, sondern in Computern und Netzwerken. Dazu kommt, dass alles Digitale menschengemacht ist und wir technische Endgeräte brauchen, um darauf zuzugreifen. „Digital Reality“ ermöglicht intuitiv einen eigenen Begriff zu formen, der terminologisch zwar nicht exakt definiert ist, aber mehr Sicherheit bietet als die Konzepte abstrakter Akronyme. „Digital Reality“ taucht sporadisch im Diskurs auf. Deloitte nutzte ihn im Jahr 2018, um zu erklären, dass es hinter VR, AR, 360-Video und der Immersion ein größeres Konstrukt gibt, das für Kunden interessant sein könnte1 . Zeitgleich startete mit der Digility ein Format der KölnMesse, als „Capitol der Digital Reality“. Eventdirektor Jan Raphael Spitzhorn versuchte damals, nicht nur VR/AR, sondern auch 3D/CGI und KI nach Köln in die Messehallen zu holen2 . 1 https://www2.deloitte.com/us/en/insights/industry/public-sector/augmented-virtual-reality-govern

ment-services.html. 2 https://www.youtube.com/watch?v=RbLs3cIt0Bc.

Abb. 16.1 Ungefährer zeitlicher Ablauf: Buzzwords/Devices/Plattforms

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S. Sorkin

Das zweite Element der These ist die Projektion einer dynamischen Entwicklung, in der wir schon längst stecken. Technologisch, sozial, kulturell und wirtschaftlich hat sie sich noch nicht am Horizont manifestiert. Deshalb befinde ich mich im Dilemma jeder Zukunftstechnologie: Die aktuelle Implementierung kann noch nicht mit der Vision mithalten. Was unsere Branche aktuell liefert, ist durchaus erstaunlich, aber eben nur der Startpunkt einer Entwicklung. Vielleicht vergleichbar mit einer der ersten Kinovorführungen der Brüder Lumière 1896, bei dem die Bewegtbild-Projektion eines einfahrenden Zuges Panik im Zuschauerraum verursachte3 . Heute ist die Rezeption von Filmen und Videos auf der ganzen Welt Bestandteil des medialen Alltags. Aber vielleicht ist das Dilemma zwischen „State of the Art“ und „Vision“ gar keines, sondern ein Spezifikum von Innovationsbereichen, deren mögliche Implementierung als Genreinhalt in fiktionalen und prognostischen Formaten schon seit Langem durchgespielt wird. Natürlich könnte man auch eine kurze Reise durch die Kulturwissenschaften machen – von Adam und Eva und dem Sündenfall als Rücktransfer in die Niederungen der Präsenz bis heute, um die Rezeptionsgeschichte des Virtuellen zu präsentieren. Aber vielleicht reicht zusammenfassend, dass die meisten Geschichten dystopischer Natur sind. Das Virtuelle ist nie romantisch oder ein Schlaraffenland, sondern Ort der Auseinandersetzung und des Konfliktes zwischen Mensch und Maschine, Staat, Konzern, Fiesling und der Freiheit. Sonst wäre es auch langweilig. Positiver sind Visionen der Auguren aus dem Consulting, des institutionellen Vordenkertums und der Enterprise-Visionäre. Die Bandbreite reicht von Meta mit seiner Comic-Fun-Ästhetik, zu Microsoft, die viel stärker einen professionellen Werkzeugansatz betonen. In der Games-Branche sind Massenversammlungen nicht nur technische Herausforderungen, sondern auch großartige Markenschlachten. Ob die x-te Neuerfindung von Second Life, von Grundstücken, Landschaften und Kontinenten wirklich adäquate Konzepte von digitalen Raumkonzepten4 darstellt, wird das Interesse des Anwenders entscheiden. Wahrscheinlich sollte man auch Matthew Ball erwähnen, dessen Blogpost „The Metaverse: What It Is, Where to Find it, and Who Will Build It“5 als Kristallisationspunkt vieler strategischer Entscheidungen in der Branche gilt. Ich persönlich nutze gerne diese populären Visionen einer digitalen Realität in der Kommunikation. Aber ich wundere mich auf Grundlage von dem, was wir heute wissen und in die Zukunft projizieren können, dass sie nicht wirklich visionär sind. Als Zuckerberg Meta und das Metaverse verkündete, war ich ehrlich gesagt enttäuscht. Deshalb kurz zwei Quellen und eine Anekdote:

3 https://www.dff.film/film/larrivee-dun-train-en-gare-de-la-ciotat-die-ankunft-eines-zuges-auf-

dem-bahnhof-in-la-ciotat/ 4 https://mehrblogs.uni-jena.de/spaceconomics/ts-raumkonzepte/ 5 https://www.matthewball.vc/all/themetaverse.

16 Beyond the Metaverse

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Immer noch gerne zeige ich ein Video von Microsoft aus dem Jahr 2018, dass gar nicht mehr im YouTube-Kanal von Microsoft abrufbar ist. „Envisioning the Future with Windows Mixed Reality“6 zeigt, dass der Zugang in eine gemischte AR/VR-Umgebung ohne Medienbruch über Avatare unterschiedlicher Komplexität möglich ist. Wir sehen hier, dass virtuelle Assistenten mit zum Setup gehören und dass Kreativität ortsungebunden möglich sein muss. Eine nette kleine Story, die immer noch sehr visionär ist und der wir uns via Holoportation, Digital Twins7 und Google Starline8 annähern. Wer in die Zukunft der Augmented Reality blicken will, der kommt meines Erachtens an der Arbeit von Keiichi Matsuda von 20169 immer noch nicht vorbei. Zu gewaltig ist der Blick in eine vollkommen überlagerte Realität, die HYPER-Realität.

16.1

Magic Objects

Digitale Realitäten bestehen auf den ersten Blick aus Räumen. In diesen Räumen platzieren wir Objekte. Bei geschlossenen Räumen in VR kommt dazu noch ein „Environment“ – eine Landschaft, Himmel, Boden und Licht. In AR muss sich die digitale Raumgeometrie dem mich umgebenden Raum anpassen. Die Raumperspektive aus Sicht der Entwicklungsumgebung macht es eventuell einfacher zu erklären, was wir als Branche eigentlich machen. Die Magie entsteht, sobald wir beginnen, Raumkonzepte mit komplexen Objekten zu füllen. Das kann ein Fels, ein Ball, ein Haus, eine Informationsanzeige oder ein Werkzeug sein – oder auch ein Objekt, das sich bewegt, animiert oder interaktiv ist. Ein Tier, ein Mensch, ein Monster oder eine Maschine, hinter der die Game Engine, eine KI oder ein Mensch steht. Vielleicht wird das Objekt durch Sensoren getriggert, deren Daten in der realen Welt und in Echtzeit generiert werden. Fügen wir jetzt noch akustische Informationen, Haptik und olfaktorische Impulse hinzu, lässt sich erahnen, wie weit die Immersion gehen kann und welches Potenzial in digitalen Objekten steckt. Ein wenig tiefer in der Abstraktion, lösen wir die digitalen Objekte aus den Räumen und platzieren sie dort, wo wir sie brauchen. 2014 waren die Buzzwords der digitalen Community „User Journey“ und „Multi Plattform Marketing“. Die Idee war, dort zu interagieren, wo der Mensch gerade ist. Auch wenn die wenigsten Anbieter auf den Märkten es tatsächlich schaffen, ist die Idee bestechend. Für digitale Objekte kann dies bedeuten: Sie stehen morgens am Spiegel im Bad und briefen ihren dort projizierten persönlichen KIAssistenten. Den nehmen sie mit in ihre Mobilitätslösung und verankern ihn im Büro auf 6 https://www.youtube.com/watch?v=tU4d3m6kziM. 7 https://www.youtube.com/watch?v=SrH5LXB5uIE. 8 https://www.googlewatchblog.de/2021/12/starline-google-technologie-videotelefonie-realismus/ 9 http://hyper-reality.co/

138

S. Sorkin

ihrer Arbeitsfläche. Eventuell transferieren sie ihn in einen Büroroboter, der sich weigert, ihnen Kaffee zu bringen, damit sie sich ein wenig mehr bewegen. Plattformen, wie ein Metaverse von Meta, wie alle virtuellen Räume von kleinen und großen Anbietern für Kollaboration, Networking, Meetings, Events und Spaß, werden sicher Bestandteil unseres Lebens und Arbeitens sein. Aber Technik hat sich nie als Alternative, sondern immer nur als Erweiterung unserer Lebenswelt etablieren können. Intelligente Digitale Objekte, die realitätsübergreifend unsere Welt bevölkern, sind viel näher an den heutigen Konzepten der Smartphones, die aktuell etabliertes Bindeglied zwischen Mensch und digitalen Medien/Informationswelt sind.

16.2

Doppelte Relevanz

Ich wage zu behaupten, dass kaum eine andere Branche in ihrer Identität und Kommunikation so stark in der selbst prognostizierten Innovation verankert ist, wie die XR-Branche. Eventuell noch die Weltraumindustrie, deren Sujet sich aber unerreichbar für die meisten von uns, nämlich weit über unseren Köpfen, befindet. Im Vergleich zu klassischen Branchen und etablierten Innovationsprozessen gibt es für XR neben dem generisch-organischen Fortschritt, der aus der Weiterentwicklung des aktuellen Status hervorgeht, immer auch einen projizierten prognostischen Status der Innovation. Oder einfach gesagt, wir reden gerne von dem, was möglich sein könnte. Es scheint, dass diese Projektion inhärenter Teil der Branchenidentität ist und dies durch die mediale Rezeption unserer Branche bestätigt wird. Wir definieren uns als Branche nicht allein durch den aktuellen Status von Technik und Produkten, sondern genauso darüber, was wir als Bestandteil der digitalen Transformation in Gesellschaft, Wirtschaft, in Kultur und im Alltag in nächster Zukunft verändern werden. Indiz dafür ist die aktuelle Kommunikation, z. B. über das Metaverse. In redaktionellen Beiträgen wird versucht, eine Vision zu erfassen, und Fachleute äußern sich. Wenn es darum geht, das Metaverse greifbar zu präsentieren, versuchen wir elegant zu überspielen, dass zwischen den aktuellen Implementierungen und der Vision noch einige Innovationsschritte liegen. These 2 Wenn Relevanz das ausmacht, warum wir als Branche eine Bedeutung haben, dann müssen wir mit einem Konzept der doppelten Relevanz arbeiten. Die Relevanz der aktuellen Entwicklung ist nicht identisch mit der prognostischen Relevanz. Nur mit ihr können wir wirklich erklären, warum die Entwicklung unserer Branche von strategischer Bedeutung ist. Gleichzeitig können wir aber auch schon heute Probleme lösen und Antworten gestalten. Bestandsaufnahme: Wer wissen möchte, wie die XR-Branche in Deutschland strukturiert ist (s. Abb. 16.2), wie viele Unternehmen mit XR ihr Geld verdienen, wie viele Menschen

16 Beyond the Metaverse

139

in dieser Branche arbeiten, wie viel Geld umgesetzt und verdient wird, der bekommt mit der XR-Studie 2022 von Zabel, Heisenberg und O‘Brien das richtige Zahlenwerk in die Hände10 . Es ist nicht die einzige Studie, aber die, deren Zahlen am fundiertesten und belastbarsten sind. Für die Studie wurden 1613 XR-Unternehmen identifiziert und mit einer Teilnehmerquote von 8 % nahmen 130 Unternehmer an der Studie teil. Bei vielen anderen Studien, z. B. der von Ecorys11 , die von Alexandros Vigkos und seinen Mitarbeitenden für die EU erstellt wurde, ist der Fokus immer die Zukunft. Hier startete die Datenerhebung 2020 und die Entwicklung weitere Entwicklung wird in die Zukunft, meist ins Jahr 2025, projiziert. Solche Studien haben wir als Branche zuhauf von Beratungshäusern, wie KPMG12 , Capgemini13 , Deloitte14 , McKinsey15 , PWC16 und anderen gesehen. Natürlich schmeicheln Zahlenwerte, die der Branche eine goldene Zukunft versprechen. Aber ich habe Schwierigkeiten abzuschätzen, wie belastbar die Methodik und Hochrechnungen sind. Vielleicht liegt ihr Wert in der Bewertung von Trends und deren Rezeption. Aber zurück zu der XR-Studie von Zabel, Heisenberg und O‘Brien. Wir sind eine von KMU geprägte Branche – Betonung auf K – mit einem hohen Anteil an B2B-Geschäft. Ich sehe immer neidisch zu den Kollegen der Games-Branche, die es schaffen, Endkunden direkt anzusprechen, und ihre Erlöse generieren, indem sie mit ihnen über Medien und Vertriebskanäle direkt kommunizieren. Die Größenordnung von Umsatz und Anzahl der Mitarbeitenden ist in der Games-Industrie und der XR- Branche übrigens ungefähr gleich. Das war die überraschendste Erkenntnis der besagten Studie. Oft werden unsere Unternehmen, weil wir aus der Ecke der jungen nerdigen Innovatoren kommen, als Startups bezeichnet. Es gibt auch eindeutig Startups in der Branche, aber die meisten Unternehmen sind Mediendienstleister, die auch programmieren können. Dass eine Geschäftsidee so stark ist, dass sie skalierbar ist, den Sprung über Grenzen schafft und sich gegenüber etablierten Lösungen disruptiv verhält, sehe ich selten. Das heißt aber nicht, dass unsere Branche nicht ein hohes Maß an Innovation in den Markt bringt. Aber wir sind noch zu oft Nutzer von immer neuer Hardware und Anwender von Entwicklungsumgebungen, die wir auf der Suche nach den besten Lösungen für unsere 10 Prof. Dr. Zabel, Christian, Prof. Dr. Heisenberg, Gernot, und O’Brien, Daniel, EXTENDED/

CROSS REALITY (XR) IN DEUTSCHLAND 2022 (Köln, 2022), https://medien.nrw/studien-2/. 11 Vigkos,Alexandros u. a., XR an d its potenzial in Europe (Brussels, 2022), https://xreuropepote

ntial.com/assets/pdf/ecorys-xr-2021-report.pdf. 12 https://assets.kpmg/content/dam/kpmg/pdf/2016/04/virtual-reality-exec-summary-de.PDF. 13 https://www.capgemini.com/wp-content/uploads/2018/09/AR-VR-in-Operations.pdf. 14 https://www2.deloitte.com/de/de/pages/technology-media-and-telecommunications/articles/ext

ended-reality-xr-studie-2020.html. 15 https://www.mckinsey.com/spContent/bespoke/tech-trends/pdfs/mckinsey-tech-trends-outlook-

2022-immersive-reality.pdf. 16 https://www.pwc.de/de/technologie-medien-und-telekommunikation/studie-deutscher-virtual-rea

lity-markt-waechst-ueber-die-nische-hinaus.html.

VR

AR

• • • • •

VR

AR

PRESENTATION

Abb. 16.2 Fields of XR with VR/AR

• • •

INFOTAINMENT





• • •

AR

SUPPORT





• • •

VR AR

TRAINING



• •

AR

REMOTE ASSIST • • • •

VR

AR

MODEL & SIMULATION • • •

VR

AR

MEETING & COLABORATION

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16 Beyond the Metaverse

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Kunden auszureizen versuchen. Der eigentliche Prozess der Innovation liegt deshalb vielleicht eher beim Kunden, der mit XR-Technologie im Bereich HR und Kundenschulung, Wartung, Installation, Betrieb, Simulation und Entwicklung in ganz neue Bereiche vorstößt. Um konkreter zu werden, war dies für mich z. B. Remote Assist, das es Maschinenbauern während der Pandemie ermöglichte, bei ihren Kunden geplante Installationen, Abnahmen und Wartungen durchzuführen. Aber auch Trainings, die über neurolinguistische Konzepte Verhalten und Gruppendynamik simulieren und erlernbar machen, finde ich hochgradig innovativ. Diese machen uns als Branche relevant.

16.3

Was noch fehlt

Es folgt ein vielleicht sehr subjektiver Blick in Projekte, die ich kenne. Kunden starten oft mit ersten kleinen Testballons, die dann später aufgebohrt werden und durch ein zweites Projekt ergänzt werden. Das sieht wie eine dynamische Entwicklung aus, ist aber leider oft nur die Implementierung von Insellösungen, die nicht in die Infrastruktur des Kunden eingebunden sind und bei denen Daten und Modelle fest verdrahtet sind. Head-up-Displays (HUDs), also VR- und AR-Brillen, sind Computer und müssen vernetzt werden. Implementiert der Kunde sie im eigenen Unternehmensnetz oder in einem separaten Netz? Sollen Mitarbeitende oder Kunden trainiert werden, ergibt es keinen Sinn, die Verwaltung der Anwender über Excel Sheets mit einem Demo-Account zu organisieren. Trainings und Trainingsstände müssen über ein LMS (Learn Management System) verwaltet werden. Wenn es darum geht, Experiences auf die HUDs zu bringen und aktuell zu halten, nutzen viele den magischen USB-Stick, bei dem sie die Daten vielleicht noch aus einem GitHub Repository herunterladen. Mir fehlt ein kollaborativer und standardisierter Ansatz.

16.4

Digitale Infrastruktur

„Digitale Infrastruktur“ als Entsprechung des Konzeptes der Infrastruktur für die Erfordernisse der digitalen Transformation, muss Ressourcen und Strukturen für die Daseinsvorsorge bereitstellen. Alle sollten freien Zugang zu einer digitalen Infrastruktur haben, was aber nicht heißt, dass die Nutzung per se kostenfrei ist. Infrastruktur hat einen großen Einfluss auf wirtschaftliche Abläufe, weil ihre gemeinschaftlich organisierte Struktur Ressourcen bereitstellt, die nicht individuell realisiert werden müssen. Gleichzeitig hat Infrastruktur auch eine ordnungspolitische Komponente und definiert Abläufe und Rahmen von Handlungen. Wenn wir in Deutschland über digitale Infrastruktur reden, zücken alle ihr Smartphone und schwärmen von Datenraten in Afrika. Aber da gibt es noch mehr.

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S. Sorkin

Open Source und ihre Schwestern Open Content und Open Access haben sich von dem Image des unprofessionellen Weltverbesserertums lange verabschiedet. Aber es herrscht immer noch die Meinung vor, dass „Community“ das Zauberwort ist, damit die offenen Quellen automatisch gepflegt, aktualisiert und sicher gehalten werden. Mittlerweile steht Open Source für die nachhaltige Digitale Souveränität Europas17 , wenn wir es schaffen, sie konsequent zu nutzen und zu entwickeln. Dabei geht es nicht nur um Anwendungssoftware wie ein Office-Paket oder einen Medienplayer, sondern vor allem um grundlegende Schnittstellen und Standards. Hier strukturell und strategisch tätig zu werden, ist die Aufgabe, die sich z. B. der Sovereign Tech Fund stellt18 . Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich nicht nur digitale Infrastruktur, sondern auch ein digitales Ökosystem in Europa entwickeln kann. Dazu gehören auch regulative und legislative Rahmenbedingungen. Die DSGVO (GDPR) ist überraschenderweise ein europäischer Exportartikel (USA: ADPPA19 , UK: UK-GDPR, Schweiz: DSG). Viele Stimmen haben sich echauffiert, nun sei alles bürokratisch und komplizierter. Der grundsätzliche Gedanke, nicht unbedingt für das Internet, sondern für die Handlungen der Akteure im Internet verbindliche Regeln und Gesetze aufzustellen, ist durchaus zu begrüßen. Dazu zählen auch der Digital Market Act, der Digital Service Act und alle weiteren Verordnungen, die aktuell diskutiert werden. Einschränkend muss man hinzufügen, dass die Verhandlungen zwischen Datenschützer*innen, der Sicherheit-durch-Überwachung-Fraktion und denen, die einen freieren Zugang auf Daten fordern, in meinen Augen nicht unbedingt die besten Ergebnisse generieren. Ich selber wäre froh, wenn etablierte Prinzipien, wie z. B. § 10 des Grundgesetzes, (das Post- und Fernmeldegeheimnis) nicht durch die Möglichkeit der maschinellen Analyse ausgehebelt werden könnten. Sobald im Zuge einer ansatzlosen Überwachung nicht mehr ein Richter die Verhältnismäßigkeit der Einschränkung von Grundrechten aufgrund eines konkreten Verdachts genehmigt, wird es eindeutig dystopisch. Klar ist, dass die Idee eines Meta-Hyper-Digi-Versums kein rechtsfreier Raum sein darf. Ich denke, dass das gemeinsame Agieren von Individuen immer Regeln und einen Rechtsrahmen braucht. Hier ein paar Beispiele aus dem Grenzbereich: Kann eine Handlung an einer digitalen Figur, die durch eine Maschine gesteuert wird, Grenzen überschreiten? Wenn diese Figur misshandelt, verstümmelt oder getötet wird? Wenn die Figur ein missbrauchtes Kind darstellt? Was ist, wenn es sich um einen aktiven Avatar handelt, der mit oder ohne die Zustimmung seines Inhabers misshandelt wird? Darf man als Zombie-Nazihauptmann rechtsextreme Symbole verwenden, auch wenn diese ironisch gedeutet werden sollen? Kann man digitales Eigentum stehlen, wenn ein Backup vorhanden ist? Oder handelt es

17 https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/news/commission-publishes-study-impact-open-source-

european-economy. 18 https://sovereigntechfund.de/ 19 https://www.dury.de/datenschutzrecht-blog/neues-datenschutzgesetz-in-den-usa.

16 Beyond the Metaverse

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sich dann nur um eine Verletzung der Nutzungsrechte? Was passiert, wenn es virtuelle Gesellschaften gibt, die Inseln in digitalen Räumen für sich reklamieren? Wer ist – und das wird eine der spannendsten Fragen sein – dann juristisch, legislativ, judikativ und exekutiv zuständig? Der Staat oder das Unternehmen, das die technische Plattform bereitstellt? Damit verbunden ist auch die Frage nach unserer digitalen Identität. Ich habe in meinem Passwortsafe rund 600 Accounts gespeichert. Und obwohl es Open ID und dessen Weiterentwicklungen gibt, kenne ich keine neutrale und sichere Instanz, mit der ich meine Identität im Internet und auf digitalen Plattformen managen kann. Mit Google oder Facebook möchte ich mich auf keinen Fall universell anmelden. Die Identität, oder besser eine von mehreren Unteridentitäten, mit denen ich im digitalen Raum agiere, muss auch nicht immer vollständig und sicher verifiziert und mit mir als juristische Person verknüpft sein. „Hansel78“ darf ruhig für die Öffentlichkeit mit mir nichts zu tun haben. „Stephan Sorkin“ sollte dagegen Verträge abschließen und Anträge beim Amt einreichen dürfen. Wenn wir als Personen in digitalen Räumen und auf Plattformen vermehrt aktiv sind, privat und beruflich, dann brauchen wir eine Instanz, die Identität sicher hosted. Daran hängt nicht nur das Konzept von digital property, vom digitalen Eigentum, sondern ihre Identität ist auch der Schlüssel um vom Metaverse ohne Bruch in andere digitale Räume wechseln zu können. These 3 Die Dreifaltigkeit der digitalen Realität besteht aus Identität, aus Schnittstellen (APIs) und Standards. Wer diese kontrolliert, ist der Gott einer neuen Welt. Zurück ins Heute: Am schmerzlichsten vermisse ich Expertise bei den Entscheidungsträgern in Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Wenn wir die digitale Transformation als schärfste Waffe für Nachhaltigkeit, Klimaneutralität, für den Energieumbau und als universellen Problemlöser für fast alles identifiziert haben, sollten wir eine Personalpolitik betreiben, die Expertise strategisch platziert. Nicht-Wissen und Nicht-Wollen muss erkannt und sanktioniert werden. Auch Apparate wie eine Verwaltung müssen sich ändern und Verantwortung für die Qualität ihrer Prozesse übernehmen. Das wird weh tun, aber die Akzeptanz systembedingter Verschwendung von Ressourcen ist nicht mehr staatstragend. Im besten Falle müssten wir die Relevanz von XR nicht mehr erklären und könnten sofort in medias res gehen. VR, AR, XR und auch die Idee von digitalen Welten und Realitäten – meinetwegen auch von Metaversen – sind Innovationspfade, die wir strategisch besetzen müssen. Wir, das sind wir Europäer und auch wir Deutsche mitten im Zentrum des Kontinents. Innovation und Veränderung sind kein Prozess, der lokal isoliert stattfindet, sondern immer im Wettbewerb der Regionen und Systeme. Also sinnbildlich: Wir in Europa zwischen Nordamerika und Asien, zwischen Kapital, Märkten und Patenten und der Werkbank der Welt. Als rheinische soziale Marktwirtschaft stehen wir im Wettbewerb mit Formen der freieren Marktwirtschaft, Mischformen sozialistischer Plan- und Marktwirtschaft, mit den wenigen

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S. Sorkin

reinen Planwirtschaften – Staaten mit Clanstrukturen, vielleicht auch religiösen Ausrichtungen – und zuletzt mit denen, die mehr oder weniger autokratisch regiert werden. Unsere Selbstsicherheit, den kalten Krieg durch die Überlegenheit des westlichen Systems gewonnen zu haben, zerlegt sich mit jedem Etappensieg Chinas auf seinem langen Marsch durch die Weltmärkte. Vergessen wir nicht die international agierenden Großkonzerne, die primär in den USA verortet sind und eine inhärente Tendenz zur Monopolisierung haben. Was wir nicht brauchen, sind Top-Down-Strategiepapiere zur Digitalen Transformation, sondern eine konkrete Vision, wie wir digitale Realitäten in Europa realisieren und global zugänglich machen. Wir sollten die strategische Notwendigkeit als Chance sehen, und die digitale Transformation real machen. Gerade weil wir in Europa durch unsere Diversität, durch die Aufklärung, durch unser Freiheitsverständnis und vielleicht auch durch unsere Schwächen der ideale Standort für die verschiedensten digitalen Realitäten sind. Welche Schnittstellen wir dabei als Menschen nutzen, ist noch mal eine ganz andere Frage.

Stephan Sorkin ist CEO von Sorkin Productions. Seit vielen Jahren ist er auch Produktions- und Redaktionsleiter von Medien.de. Seit 2020 ist er Vorstandsvorsitzender des EDFVRs (Erster Deutscher Fachverband für Virtual Reality). Stephan Sorkin ist ein Kommunikationsexperte mit langjähriger Erfahrung in TV und Medien.

„Kooperation und Austausch sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren“

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Bolela Likafu

Interview mit Sven Köller, Netzgesellschaft Düsseldorf mbH

Zusammenfassung

Nicht nur für die Medien- oder Werbebranche ist eine Basistechnologie wie Extended Reality (XR) geeignet. In diesem Interview erläutert Sven Köller, wie die Netzgesellschaft Düsseldorf mbH (NGD) Extended Reality in ihre Arbeitsprozesse integriert. Welche Möglichkeiten ergeben sich für alte wie auch neue Prozesse innerhalb von Unternehmen wie z. B. Netzgesellschaften durch den Einsatz von Extended Reality (XR) und auf was ist bei einer Integration solch neuer Technologien wie XR zu achten? Sven Köller ist Entwickler für digitale Arbeitsmethoden der Netzgesellschaft Düsseldorf mbH und führte das Thema XR (Extended Reality) bei der NGD Düsseldorf 2020 ein. https://www.netz-duesseldorf.de/

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_17

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Bolela Likafu:

Sven Köller:

B. Likafu

Der XR Thinktank möchte den Wissenstransfer fördern und vorantreiben. Das Ziel ist es, anhand von Interviews und mithilfe von Experten eine Einführung zum Thema Extended Reality zu geben. Sie als Entwickler von digitalen Arbeitsmethoden der Netzgesellschaft Düsseldorf sind natürlich prädestiniert, etwas dazu zu sagen. Direkt zur ersten Frage: Wie ist der Stand der Digitalisierung bei Ihnen, der Netzgesellschaft Düsseldorf? Die Netzgesellschaft Düsseldorf hat schon vor drei Jahren eine umfangreiche Digitalisierungsinitiative gestartet. Diese Initiative beinhaltet über 60 Digitalisierungsmaßnahmen. Diese Maßnahmen umfassen zum Teil sehr große Projekte, aber auch einfache Softwareeinführungen, wie zum Beispiel die von Microsoft Teams. Teams ist ein passendes Beispiel dafür, wie gut Digitalisierung funktioniert, wenn man bereit ist, diese entsprechend zu priorisieren. In diesem Falle waren wir zwar durch die Pandemie gezwungen, haben aber ein viel besseres Ergebnis mit der Implementierung dieses Kooperationstools erreicht, als wir vorher erwartet hatten. Auf die Frage, wie der heutige Stand der Digitalisierung ist, kann ich nur antworten, dass wir noch mittendrin sind, und es noch einige Zeit dauern wird, bis wir alle Projekte umgesetzt haben. Die Motivation zu digitalisieren ist sehr, sehr hoch, zumindest bei all denen, die auch den Mehrwert einer Digitalisierung erkennen. Daneben gibt es natürlich auch Stimmen, die sagen „Na ja, ihr kommt jetzt mit 60 Projekten parallel auf uns zu, das ist für uns gar nicht zu verarbeiten“. Insbesondere Kollegen und Mitarbeiter reagieren auf die vielen neuen Themen und Möglichkeiten schon mal mit ein bisschen Befindlichkeit und sagen aus, dass das ihnen jetzt gerade zu viel sei. Deshalb ist es wichtig, die Kollegen in den Prozess einzubinden und nicht zu

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Likafu:

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„überholen“. Ja, aber grundsätzlich würde ich sagen, wir sind auf einem sehr, sehr guten Weg. Wir werden in den nächsten 2 bis 3 Jahren auch sehr viele digitale Projekte abschließen können und auf ganz anderem Digitalisierungsniveau sein, als wir das aktuell sind. Sehr spannend. Sie haben bei der Netzgesellschaft Düsseldorf das Thema Extended Reality eingeführt. Was sind Ihre Erfahrungen mit dem Einsatz von XR? Wenn man sich Extended Reality anguckt, muss man sich erst mal bewusstmachen, dass diese keine selbstständige, autarke Technologie ist. XR wird immer dann sinnvoll, wenn ich etwas visualisieren und mit etwas oder jemandem interagieren möchte. Sie ist davon abhängig, dass ich valide Daten und Informationen habe, mit denen ich arbeiten kann. Das heißt also, bei der Visualisierung geht es z. B. darum, fachliche Inhalte oder Daten so zu visualisieren, dass ich einen besseren intellektuellen Zugang zu einem Thema bekomme. Bei der Interaktion geht es um die Interaktion mit Daten, Systemen, aber auch wiederum mit anderen Menschen. Das ist in unserer Branche sehr wichtig, da wir immer komplexere Anlagen mit immer weniger Personal steuern müssen. Demnach muss der Mitarbeiter als zentraler Operator fungieren können und dazu muss er immer und überall auf möglichst viele Informationen und Systeme zugreifen können. Zusätzlich hilft es unseren Kollegen im Feld jederzeit z. B. über Remote Assist weitere Kollegen, zumindest virtuell, zur Unterstützung rufen zu können, um gemeinsam Herausforderungen vor Ort lösen zu können. Bisher sind unsere Erfahrungen bei der Einführung dieser Technologie sehr positiv. Viele Kollegen, die mit Extended Reality in Verbindung kommen, sind erst mal geflasht von der Technologie als solche. Ist die erste Begeisterung verflogen, verstehen die Kollegen aber auch relativ schnell die Benefits, die sich aus verschiedenen Use Cases ergeben. Dennoch muss man aber leider feststellen, dass es auch Kollegen gibt, die gewisse Vorbehalte haben, weil sie sich, z. B. von den Anforderungen, die an sie gestellt werden, überfordert fühlen. Diese Mitarbeiter sind aufgrund dieser Befindlichkeit oft nicht bereit, sich so intensiv auf diese Technologie einzulassen, wie es eigentlich sinnvoll wäre. Insgesamt stelle ich aber fest, dass die Bereitschaft trotz allem groß ist und die Lust und die Freude an der Technologie überwiegen. Und das macht es uns bei dem einen oder anderen Use Case leicht, diesen im Regelbetrieb der Fachbereiche zu etablieren, zumal der Mehrwert verstanden wird und sich in der Nutzung der Use Cases relativ schnell zeigt. Wie ist die Akzeptanz von XR?

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Also wir haben mehr positives Feedback als negatives erhalten, aber man muss natürlich auch die Mitarbeiter mitnehmen und diejenigen berücksichtigen, die Vorbehalte haben. Hier zeigt sich, wie immer bei innovativen Themen, dass es das beste Mittel ist, sich die Zeit zu nehmen, den Mitarbeiter zu involvieren und ins Boot zu holen. Fühlt der Kollege sich mitgenommen und in seinen Bedenken verstanden, ist es oft nicht mehr weit bis zur Akzeptanz. Sie scheinen mit dem Ergebnis sehr zufrieden zu sein! Kann man das so stehen lassen? Die Erfahrung, die ich persönlich gemacht habe, ist, dass die Menschen Extended Reality erleben müssen, um die Möglichkeiten, welche die Technik bietet, voll zu erfassen. Nur über die Technologie zu reden, reicht nicht, dafür ist die XR-Technologie und der resultierende Werkzeugkasten viel zu komplex. Über das Erleben und Ausprobieren entwickelt sich ein natürlicher Zugang zu der Technik. Können Sie uns etwas von den Einsatzbereichen bei der NGD erzählen? Wir als Verteilnetzbetreiber haben die Aufgabe, Strom, Wasser, Fernwärme und Gas auf dem Düsseldorfer Versorgungsgebiet zu verteilen, und sicher und zuverlässig zu unseren Kunden zu bringen. Wie man schnell merkt, ist das ein sehr technisch geprägtes Umfeld, und dieses Umfeld ist für mich der beste Einsatzort für Extended Reality. Soll heißen: Egal, ob es darum geht, Know-how zu vermitteln, was man z. B. sehr gut über VR-Trainings machen kann, oder um eine Remote Kollaboration z. B. über Remote Assist in Verbindung mit unterschiedlichen Devices wie Handys, Tablets oder mit der HoloLens, oder aber um eine augmentierte Prozessunterstützung – alle Erfahrungen waren sehr positiv. Dennoch haben aber wir auch durchaus die Erfahrung gemacht, dass zum Beispiel die Themen Kommunikationsinfrastruktur und Telekommunikation ein wesentlicher Faktor sind. Das bedeutet ich kann XR leider nur da optimal einsetzen, wo ich auch eine Kommunikationsinfrastruktur habe. Wir als technischer Dienstleister bewegen uns auch oft in Kellern, in Tiefgaragen oder in tief gelegenen Anlagen, und da reicht oft die Kommunikationsinfrastruktur nicht hin. Ist dies der Fall, sind Anwendungen, die man nicht offline betreiben kann, auch nicht mehr einsetzbar. Das ist natürlich bedauerlich. Das bedeutet für uns, dass eine Kommunikationsinfrastruktur wie ein WLAN oder auch ein Campusnetz sowie die Telekommunikation ein wesentlicher Bestandteil ist, um viele Use Cases erfolgreich umzusetzen.

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Sie arbeiten mit Mitarbeitern, die völlig neu in dem Thema sind. Worauf haben Sie bei den Mitarbeitern geachtet? Es geht sehr darum, die Mitarbeiter mitzunehmen, sie Schritt für Schritt, schon fast spielerisch, an die Technologie heranzuführen. Das ist der eine wichtige Punkt. Der andere wichtige Punkt ist auch ein entsprechendes Erwartungsmanagement. Wenn die Leute zum ersten Mal mit der Technologie in Kontakt treten, sind sie derart geflasht, dass sie sehr schnell viele neue Ideen im Hinblick auf potenzielle Einsatzmöglichkeiten entwickeln. Neben vielen guten Ideen finden sich auch ein paar dabei, die entweder gar nicht oder zum jetzigen Zeitpunkt nicht umsetzbar sind. Dennoch sind auch diese Ideen für uns als Entwickler von digitalen Arbeitsmethoden sehr sinnvoll. Wir möchten durchaus nicht nur Ideen verfolgen, die jetzt gerade aktuell umsetzbar sind, sondern auch Ideen, die in der Zukunft vielleicht umsetzbar sein werden. Im Hinblick auf die Erwartungen der Kollegen muss man demnach ein Gespür dafür entwickeln, an welcher Stelle man diese zu weiteren Gedankenspielen anhält und an welcher Stelle man sie auch ein wenig einbremsen muss, um Enttäuschungen zu vermeiden. Leider ist es so, dass insbesondere die Hardware noch nicht so ausgereift ist, dass sofort alle Erwartungen erfüllt werden können. Ich möchte gerne noch kurz auf das Thema HoloLens von Microsoft eingehen. Die Hololens ist für mich aktuell in einem Entwicklungsstadium, in dem man sie durchaus dazu verwenden kann, sehr spannende Showcases zu zeigen. Man kann also zeigen, was möglich sein wird, wenn die Technologie noch ein Stück weiter fortgeschritten ist. Die Hololense ist noch nicht so ausgereift, dass sie unter schwierigen Bedingungen im Feld wirklich in allen Fällen auch funktioniert. Das bedeutet, dass ich idealerweise kontrollierte Rahmenbedingungen benötige, um die Hololense effizient einzusetzen. Neben einer funktionierenden Kommunikationsinfrastruktur, müssen z. B. die Lichtverhältnisse stimmen. Wenn zum Beispiel Sonne scheint, ist es deutlich anspruchsvoller, Hologramme so darzustellen, dass sie gut erkennbar sind. Verstärke ich die Sichtbarkeit der Hologramme, dann geht dies nur zulasten der Akkuleistung und dann natürlich entsprechend auch zulasten der Nutzungsdauer. Das ist nur ein kleines Beispiel aus der Vielzahl der technischen Fragestellungen, die noch nicht zu unserer Zufriedenheit entwickelt worden sind. Allerdings gehe ich davon aus, dass diese technischen Herausforderungen in der nächsten, spätestens in der übernächsten Hardwaregeneration gelöst sein werden. Für mich ist Extended Reality weder ein Problem der Software noch der Use Cases. Für mich

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Köller:

B. Likafu

ist Extended Reality im Moment in erster Linie durch die Hardware beschränkt, die noch nicht in allen Teilen das erfüllt, was eigentlich notwendig wäre, um viele der möglichen Use Cases so zu entwickeln, dass sie für den Regelbetrieb geeignet sind. Bei der NGD steht das Archivieren und Dokumentieren von Arbeitsabläufen via Extended Reality ganz oben auf der Liste. Könnten Sie uns das bitte erläutern? Die Vermittlung von Know-how über VR-Coachings ist eines unserer wesentlichen Standbeine, mit denen wir gerade arbeiten. Wir haben schon jetzt mehrere VR-Coachings entwickelt, die sich in ihrer Gestaltung teilweise sehr unterscheiden. Neben den Trainings, die lineare End-to-End-Prozesse vermitteln, haben wir auch ergänzende Web Bases Trainings entwickelt, wenn es darum geht, neben einem Prozess auch komplexe technische Inhalte zu vermitteln. Aktuell konzeptionieren wir ein VR-Training im Rahmen einer Baustellensimulation, wo der Prozess nicht linear verläuft, sondern wo sich abhängig von den Entscheidungen, die der Trainierende trifft, auch der weitere Verlauf des weiteren Prozesses ändert. Das ist ein anspruchsvolles Unterfangen, ist aber im Hinblick auf die Vermittlung von Know-how eine sehr interessante Option, um dies noch besser zu internalisieren. Wir haben festgestellt, dass es etwas ganz anderes ist, ob man eine Frontalvermittlung von Informationen bekommt, oder, ob man über VR die Trainingsprozesse selber durchspielt und damit erlernen kann. Auch bei der Dokumentation von Wartungs- und Instandhaltungsmaßnahmen kann Extended Reality eine große Rolle spielen. Ein Beispiel: Aktuell hat man im Wartungs- oder Instandhaltungsfall eine Checkliste, die abgearbeitet wird. Die Ergebnisse einer Wartung werden dann händisch auf dieser Checkliste eingetragen und im Anschluss nochmal in ein Workforcemanagementsystem überführt. Die in diesem Prozess enthaltenen Medienbrüche kosten Zeit und sind potenzielle Fehlerquellen. Künftig kann ich mittels virtueller Checklisten einen Wartungsprozess durchführen, der zusätzlich durch augmentierte Informationen in der Durchführung unterstützt wird. Die Ergebnisse der Wartung werden dann ohne Medienbruch direkt in die entsprechenden Systeme überführt, was die oben benannten Probleme der Medienbrüche und Fehlerquellen massiv reduziert. Zusätzlich können wir die Wartungsinformationen über eine Spracherkennung ins System einsprechen und müssen keine langen Texte mehr tippen. Fotos und Videos können weitere Elemente der Dokumentation sein. Das alles erhöht die Qualität einer Dokumentation erheblich.

17 „Kooperation und Austausch sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren“

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Meine persönliche Vision ist das „visual interactive plant“. Das kann man sich in etwa so vorstellen: Immer weniger Mitarbeiter müssen immer komplexere Maschinen und Anlagen steuern, was bedeutet, dass die verbleibenden Mitarbeiter als zentraler Operator fungieren müssen. Das können sie aber nur, wenn sie immer und überall auf alle Informationen und Systeme zugreifen können. Nehmen wir also an, dass irgendwo in einer Anlage, z. B. einem Gaskraftwerk, das mit einer umfangreichen Sensorik ausgestattet ist, ein Fehler identifiziert wird, der eine Instandhaltungsmaßnahme notwendig macht. Der Fehler wurde identifiziert, weil sich die Betriebsparameter der Anlage außerhalb der definierten Toleranz bewegt. Einer unserer Mitarbeiter bekommt die Information darüber auf sein Betriebshandy und wird im Anschluss über eine holografische Navigation zu der betroffenen Anlage geführt. Nehmen wir zusätzlich an, dass der Fehler sich in einem Gefahrenbereich mit Starkstrom befindet. Noch bevor der Mitarbeiter die Anlage betritt, erhält er nicht nur die Information auf das Gerät seiner Wahl (Handy, Tablet, Hololense), dass es sich um einen Gefahrenbereich handelt, es wird auch noch abgefragt, ob er seine persönliche Schutzausrüstung vollständig angelegt hat, was er entsprechend quittieren muss. Ist das erfolgt und befindet sich der Mitarbeiter an der Anlage, kann er vor Ort die letzten Wartungs- und Instandhaltungsinformationen abfragen, die als virtuelles Element an der Anlage selber hinterlegt sind, er kann sich ein 3D-Modell der Anlage anzeigen lassen, welches ihm auch Einblick in die Anlage selbst gewährt. Noch bevor er sich der Anlage nähert, um physisch in den Betrieb einzugreifen, könnte eine entsprechende Sensorik in Verbindung mit einem Diagnosealgorithmus schon einen ersten Hinweis liefern, welches Problem bestehen könnte. Natürlich muss die finale Diagnose durch den Mitarbeiter selbst durchgeführt werden. Ist das Problem identifiziert, könnte der Mitarbeiter entweder über standardisierte Lösungsansätze mittels augmentierter Prozesse die Instandhaltung durchführen, oder über Remote Kollaboration einen Kollegen hinzu rufen, der ihn über das Kamerabild des Kollegen vor Ort bei der Diagnose und Instandhaltung unterstützt. Ist die Instandhaltung erfolgreich durchgeführt, wird diese wie oben bereits beschrieben dokumentiert. In Verbindung mit dem Thema „predictive maintenance“ ergeben sich für mich eine Vielzahl von Potenzialen, von denen das eben beschriebene Szenario nur eines von vielen ist.

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Likafu: Köller:

B. Likafu

Wir haben also die Möglichkeit, über verschiedene XR-Lösungen im Rahmen eines integrierten Ansatzes End-to-End-Prozesse zu unterstützen, sodass Durchlaufzeiten von Instandhaltungsprozessen reduziert werden, die Arbeitssicherheit optimiert, das Verständnis für Anlagen gesteigert (3D-Modelle) und die Qualität der Dokumentation stark verbessert wird. Was wünschen Sie sich für die Zukunft von Netzgesellschaften? Es gibt zwei Dinge, die ich mir wünschen würde. Das eine wäre natürlich, dass wir auch bereit bleiben, in diese innovative Technologie zu investieren, ohne mit jedem Blick darauf zu schauen, wie hoch der Return of Invest ist. Diese Technologie verdient es definitiv nicht nur mit einem wirtschaftlichen Blick betrachtet zu werden, sondern auch aus der Forschungs- und Entwicklungsperspektive gesehen zu werden. Das heißt auch: Jetzt, wo das Geld nicht so locker sitzt, sollte man trotzdem weiter in diese Technologie investieren, weil sie eine große Zukunft hat. Meine oben beschriebene Vision ist die Möglichkeit einer vollkommenen Visualisierung aller Daten und Informationen sowie die vollständige Interaktion mit unseren Anlagen in unserem Kraftwerk, egal, wo wir uns gerade befinden. Das bedeutet, wir müssen irgendwann an den Punkt kommen, wo dem Mitarbeiter, z. B. über eine Datenbrille, die komplette Interaktion mit allen Systemen und Anlagen ermöglicht wird, sodass er quasi eine eigene kleine Steuerungsund Kommandozentrale werden kann. Es ist natürlich noch ein langer Weg bis dahin, nicht umsonst heißt es „Vision“. Es gibt bereits viele Stand-alone-Lösungen, die eine solche Vision bereits in Teilen abbilden können. Solche, die diese im Rahmen eines integrierten Ansatzes zusammenführen, gibt es nach meiner Kenntnis nicht. Mein Ziel ist es, diese Vision zumindest im Rahmen eines Showcases in den nächsten Jahren zu entwickeln, um auch die Möglichkeit zu haben, dem Management zu zeigen, was alles heute bereits möglich ist, und was Morgen möglich sein wird. Ich sagte ja schon, über Technik reden reicht nicht, man muss sie zeigen können. Und das zweite, was ich mir wünschen würde, ist, dass die Netzgesellschaften, die sich mit dem Thema beschäftigen, das Wissen und die Erfahrungen noch viel intensiver austauschen, als es derzeit passiert. Bei vielen neuen Wettbewerbselementen ist es häufig so, dass irgendwann Silos hochgezogen werden und jeder nur sein eigenes Wissen vervollkommnen und sich seinen eigenen Wettbewerbsvorteil sichern möchte. Das sollte in diesem Falle nicht passieren, denn wir alle können wechselseitig von unseren Erfahrungen profitieren. Wissenssilos sind

17 „Kooperation und Austausch sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren“

Likafu:

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bei dieser innovativen Technologie meines Erachtens überhaupt nicht angebracht, weil wir jetzt schon die Erfahrung gemacht haben, dass wir über Kooperationsprojekte nicht nur Kosten und Ressourcen teilen können, sondern auch, dass die qualitativen Ergebnisse deutlich besser werden, wenn mehrere Unternehmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen Anwendungsfall schauen. Zur Frage „Was ich mir für das Thema Netzgesellschaften in Deutschland wünsche“: dazu gehört definitiv auch das Warten! Die Technologie entwickelt sich sehr gut, man kann Wettbewerbsvorteile generieren. Dieses Interview mache ich, damit dieser Austausch, wofür ja auch Sie und der XR-Thinktank stehen, aufrecht erhalten und sogar noch verstärkt wird. Nur dann werden wir auch in schneller Zeit die Erfolge erzielen, die ich für möglich halte oder die wir aktuell für möglich halten. Das geht aber nur über Kooperation und Austausch. Ein schöner Abschluss: Wissen zusammenführen, um schneller auf bessere Ergebnisse zu kommen. Ich bedanke mich recht herzlich bei Ihnen, Herr Köller, und freue mich auch auf den weiteren Austausch.

Immersive Technologien im deutschen Gesundheitswesen

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xRealities als Booster: Chancen und Herausforderungen Petra Dahm

Zusammenfassung

Das Potenzial für die Anwendung von xReality-Technologien (xR – Immersive Technologien bzw. Extended Reality) im Gesundheitswesen ist groß und wird aktuell von der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Digitalisierung, einer Welle weiterer technologischer Innovationen (z. B. Künstliche Intelligenz, 5G, Digitaler Zwilling, Wearables, Quantencomputing etc.) sowie durch die Erfahrungen und Auswirkungen der CoronaPandemie als zusätzlichem Katalysator getragen. Internationale wissenschaftliche Studien, Abhandlungen und Forschungsprojekte renommierter Universitäten sowie erste praxisnahe Anwendungen (z. B. Assistenzsysteme für chirurgische Eingriffe, medizinische Therapien, Selbstfürsorge-Apps, virtuelle Simulations- und Lernanwendungen für das medizinische und Pflegepersonal) zeigen, wie sich mittels Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR) unterschiedliche Aspekte in der Gesundheitswirtschaft verbessern lassen können. Von den Lösungsansätzen profitieren dabei nicht nur unmittelbar rund um die Gesundheitsversorgung beschäftigte Berufsgruppen und Organisationen, sondern auch die Patienten selbst, deren Angehörige und nicht zuletzt – resultierend u. a. aus der demographischen Situation – die Gesellschaft. Das vorliegende Kapitel gibt einen Überblick über Chancen und Herausforderungen für immersive Technologien im Gesundheitswesen und richtet sich an Entscheider, Gestalter und Anwender. Zudem soll aufgezeigt werden, warum ein interdisziplinärer und partizipativer Prozess für die Entwicklung und Implementierung den Schlüssel für einen nachhaltigen Erfolg von xReality-Technologien im Kontext von Medizin und Gesundheit darstellen wird. P. Dahm (B) Flame GmbH, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_18

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P. Dahm

Hintergrund In Deutschland stecken xReality-Anwendungen verglichen mit dem globalen Wettbewerb (insbesondere gegenüber USA und Asien) noch in den Anfängen ihrer Möglichkeiten. Es gilt daher auf der einen Seite den professionellen Austausch zwischen internationalen Experten und Forschungseinrichtungen zu forcieren und eine konsequente Weiterentwicklung eines explorativen Transfers in die Praxis zu betreiben (xReality-Technologien als ein Schlüsselelement der Digitalisierung im Gesundheitswesen), um die Technologien den im Gesundheitswesen tätigen Personengruppen zugänglich zu machen und Fortschritte zu erzielen. Auf der anderen Seite stehen fundamentale Fragen rund um xReality-Technologien im Raum, die im Sinne einer europäisch angedachten Digitalisierung im Gesundheitswesen auch in Deutschland beantwortet werden müssen. Dazu zählen die Erarbeitung von technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen ebenso wie der Umgang mit ethischen und sozialen Grundlagen, mit den Themen Datenschutz und Datensicherheit sowie eine evidenzbasierte Betrachtung der Technologien und ihres Einsatzes – vor allem im patientenbezogenen Kontext. Nicht zuletzt gilt es die im Gesundheitswesen zum Teil noch sehr „verkrusteten“ Arbeits- und Organisationsstrukturen aufzubrechen und einen sektorenübergreifenden sowie interprofessionellen Austausch zwischen den involvierten Fachdisziplinen und Experten zu nutzen, der u. a. in Think Tanks, Explorations- oder Reallaboren gewährleistet werden kann. Einordnung Das Gesundheitswesen wird bereits seit Jahrhunderten durch technische Hilfsmittel und innovative Vorgehensweisen geprägt, die sich oft auch direkt auf die Gesellschaft übertragen (lassen). Man denke z. B. an die neuen Möglichkeiten einer Blutzuckermessung oder telemedizinischer Angebote. Für die Einführung von xReality-Technologien im Gesundheitswesen ist es daher von großem Nutzen, bereits erlangte Erkenntnisse aus der Einführung neuer Hard- und Software sowie digitaler Angebote und Applikationen zu berücksichtigen sowie Fehler- bzw. Erfolgsfaktoren im Gesamtkontext zu prüfen. Darüber hinaus bietet es sich an, die individuellen Chancen und derzeit aktuellen Herausforderungen der jeweiligen Einzelbereiche „Technologie“, „Gesundheitswesen“ und „Gesellschaft“ zu betrachten ebenso wie die wechselseitigen Auswirkungen aufeinander.

18.1

Technologie

xReality-Technologien sind als ein Element in der Digitalstrategie für das Gesundheitswesen zu verstehen. xRealities oder Immersive Technologien gelten als Überbegriff für Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR). Auf Basis des xReality Frameworks (Rauschnabel et al., 2022) wird eine klare Unterscheidung zwischen VR und AR erkannt (siehe Tab. 18.1) und das „x“ in xRealities kann als Variable oder

18 Immersive Technologien im deutschen Gesundheitswesen

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Tab. 18.1 Wesentliche Unterschiede zwischen AR und VR. (In Anlehnung an Rauschnabel et. al. 2022) Augmented Reality

Virtual Reality

Ziel

Realität erweitern

Realität ersetzen

Prinzip

Local Presence („Virtuelles Objekt ist hier”)

Telepresence („Ich bin dort!“)

Use Case Kontext hat eine Relevanz für die Inhalte und der Nutzer ist am entsprechenden Ort

Physischer Kontext ist irrelevant, der dargestellte Ort existiert in der Realität nicht, ist nicht erreichbar oder sogar für volle Nutzung nicht gewünscht oder hinderlich

Devices

In Masse nur Wearables (Brillen), Cave

Stationär, Mobil, Wearable (Brillen), In-Body (AR-Kontaktlinsen)

Potenzial Dauerhafte Nutzung in vielen Meist temporäre Nutzung (z. B. Collaboration) Bereichen (z. B. Kommunikation, oder Simulation (z. B. Training) Anleitung, Überwachung, Assistenz)

Platzhalter begriffen werden. So kann das „x“ beispielsweise auch weitere Sinneswahrnehmungen über eine reine Visualisierung hinaus repräsentieren (z. B. Hören, Fühlen, Riechen etc.) ebenso wie Emotionen oder digitale Schnittstellen zwischen der physischen und digital erzeugten Welt. Der Begriff Metaverse, der insbesondere seit der Umbenennung des amerikanischen Social-Media-Unternehmens Facebook in „Meta“ (im Jahr 2021) medial ausgereizt wird, soll aufgrund einer derzeit (Stand September 2022) noch nicht validierbaren Einordnung an dieser Stelle nicht weiter in diesem Kapitel behandelt werden. xReality-Technologien sind ein Zusammenspiel aus Hard- und Software, die insbesondere in den letzten Jahren einen schnellen technologischen Fortschritt erzielt haben. Vor allem mit der Etablierung mobiler VR- und AR-Head Mounted Displays (HMDs) sowie der Möglichkeit, die Technologien mittels neuerer Generationen von Smartphones zu nutzen, hat zu einem stärkeren Interesse an xR geführt. Parallel dazu haben sich auch die Möglichkeiten weiterentwickelt, Inhalte (Content) für die Anwendungen zu erstellen, sodass sich erste Anwendungsfelder etablieren konnten (z. B. im Umfeld von Traumabewältigungen). Ähnlich der Künstlichen Intelligenz oder Robotik lassen sich xReality-Technologien als Querschnittstechnologien in bestehende oder neu zu schaffende Digitale Infrastrukturen eingliedern. Vergleichbar mit anderen Industrien und Einsatzbereichen sind auch im Kontext des Gesundheitswesens vor allem die universitätsnahen und wirtschaftlich orientierten (operativen) Einsatzbereiche als Treiber von xReality-Technologien zu sehen. Ebenfalls vergleichbar mit anderen Branchen bzw. Anwendungsbereichen aus dem industriellen Sektor ist der Einsatz in der Produktion, z. B. bei Medizinischen oder

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P. Dahm

Pharmazeutischen Produkten, sowie in der Prozess- und Organisationsoptimierung, z. B. innerhalb von Krankenhäusern oder Medizinischen Einrichtungen. Gleichzeitig profitieren xReality-Technologien im Gesundheitswesen zusätzlich von weiteren Einsatzbereichen, in denen die Technologien bereits seit längerem erfolgreich aus dem Erprobungsstadium hinaus und im Praxiseinsatz sind (Innovationstransfer). So lassen sich im Aus- und Weiterbildungsbereich von medizinischem Personal Ansätze aus dem medizinisch-militärischen Umfeld (hier sind u. a. Trainings mittels Virtueller Realität schon lange im praktischen Einsatz) sowie aus dem Notfall- und Katastrophenmanagement (hier werden bereits seit längerem komplexe Notfallsituationen bei der Polizei, Feuerwehr oder Hilfsdiensten geübt) erkennen. In Deutschland gilt es insbesondere zu diskutieren, wie sich der aufgrund einer starken Wachstumsdynamik agierende Gesundheitsmarkt mit den Entwicklungen und Angeboten amerikanischer und asiatischer Digitalkonzerne, dem aktuellen Gesundheitssystem sowie dem Selbstbestimmungsrecht der Patientinnen und Patienten vereinbaren lässt – ohne dass es zu einer Parallelstruktur kommt.

18.2

Gesundheitswesen

Die Gesundheitswirtschaft ist Arbeitgeber für rund 7,4 Mio. Menschen, dies entspricht ca. jedem sechsten Erwerbstätigen in Deutschland. Als Querschnittsbranche ist sie mit einem Anteil von rund 12 % an der Gesamtwirtschaft von hoher Bedeutung für Deutschland (Quelle: Gesundheitswirtschaft Fakten & Zahlen Daten 2020, BMWI) und zählt zu einer der wesentlichen Wachstumsbranchen. Im Gesundheitswesen geht es aktuell – wie in jeder anderen Branche auch – um ein Zusammenspiel von mehreren Wandlungsprozessen (s. Abb. 18.1). So geht es um ein Annehmen neuer Arbeitsweisen und Organisationsmethoden, um die Fachkräftesicherung und -gewinnung sowie um die Prozessoptimierung und weitere allgemeine Digitalisierung. Es geht aber auch um die Eindämmung steigender Kosten und die Überwindung systemischer Grenzen und Hierarchien, beispielsweise zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, zwischen Medizin und Pflege sowie zwischen städtischen und ländlichen Strukturen. Gefragt ist also eine neue Steuerung auf Basis von strukturierten Prozessen und Prozessketten sowie das partizipative Zusammenwirken unterschiedlicher Fachrichtungen und Professionen. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens stellt hier eine zentrale Voraussetzung für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung in Deutschland dar. Dazu zählen u. a. effizientere Verwaltungsabläufe, die Bereitstellung von Patientendaten oder auch ein sicherer Austausch medizinischer Informationen sowie eine systematische Auswertung von medizinischen Daten als Basis für die Erkennung von Krankheiten und die Ermöglichung spezifischer Therapien. Deshalb ist es umso wichtiger, die Digitalkompetenz im Gesundheitswesen auf breiter Ebene auszubauen, um ein besseres

18 Immersive Technologien im deutschen Gesundheitswesen

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Abb. 18.1 Wandlungsprozesse in der Gesundheitsversorgung und im Gesundheitswesen

Verständnis gegenüber neuen Technologien zu entwickeln, Motivation zu erzeugen und Einsatzmöglichkeiten aus der Praxis heraus anzustoßen und zu optimieren. Während es für viele jüngere Generationen, die bereits per se stark digital sozialisiert sind, leichter ist sich mit neuen Technologien zu beschäftigen und sie anzunehmen, zeigen andere Gruppen von Mitarbeitenden deutlich höhere Eintrittsbarrieren. Diese unterschiedlich starke Bereitschaft sich auf neue digitale Angebote einzulassen kann aber auch im Zusammenhang mit der jeweiligen Tätigkeitsstruktur zusammenhängen. Als Hemmnisse dafür sich mit neuen Angeboten zu beschäftigen, sind hier vor allem auch zeitliche Freiräume für eine Weiterbildung neben dem ohnehin schon stressigen Tagesablauf aufgrund personeller Engpässe (z. B. in der Pflege) zu erkennen.

18.3

Gesellschaft

Schon seit Jahren verändern sich die Gesellschaft und unser Leben. Wichtigster Treiber hierzulande ist – schon lange bekannt – die Demografie, die einen zunehmenden und jetzt auch spürbaren Mangel an Fachkräften auslöst. Dies betrifft auch das Gesundheits- und Sozialwesen: Die geburtenstarken Babyboomer gehen in Rente und nehmen langjährige Praxiserfahrung und Wissen mit. Gleichzeitig gibt es zahlenmäßig immer weniger Nachwuchs und neue Generationen stellen neue Anforderungen an Leben und Beruf. Parallel dazu steigt auf Basis immer besserer Lebensbedingungen unsere allgemeine Lebensdauer kontinuierlich an, wodurch auch die Inanspruchnahme von Pflege- und medizinischen Leistungen in der Gesellschaft steigt. Hinzu kommen neue Herausforderungen durch Zuwanderung, kulturelle Unterschiede und sprachliches Verständnis – sowohl auf professioneller Ebene wie auch aufseiten der zu Versorgenden. Und nicht zuletzt haben auch

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P. Dahm

extreme klimatische Veränderungen einen Einfluss auf die öffentliche Gesundheit und sorgen zusätzlich für neue Krankheitsindikatoren. Die zurückliegende COVID-Pandemie hat die Gesellschaft nochmals auf vielerlei Ebenen zusätzlich beeinflusst, und ihre Auswirkungen werden uns – vor allem im Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen – noch einige Jahre begleiten. Daraus resultieren Chancen wie eine generell höhere Offenheit gegenüber digitalen Technologien, die sich im Zuge der Pandemie bewährt haben. Im ähnlichen Maße sind wir jedoch auch mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die aus der zusätzlichen Überlastung des Gesundheitssystems, vor allem in der Pflege, entstanden sind. Einsatzbereiche für xRealities im Gesundheitswesen Die Frage ist also, wie sich xReality-Technologien in diesem Kontext als sinnvoller Baustein innerhalb der Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen einsetzen lassen, um ihre Vorteile dort optimal ausspielen zu können und darüber hinaus einen Mehrwert für die Gesellschaft zu generieren. Grundsätzlich sind die Einsatzmöglichkeiten von VR- und AR-Applikationen in verschiedensten Zielgruppen und Anwendungsbereichen des Gesundheitswesens denkbar. Dazu zählen: • • • • • • • •

Applikationen für gesunde Personen als Präventionsunterstützung; Applikationen für Patienten zur Linderung von Schmerzen und Traumata; Applikationen zur gemeinsamen Vorbesprechung von Operationen; Applikationen für die medizinischen und pflegerischen Berufsgruppen zum Erlernen standardisierter Handlungen bzw. als assistierende Funktion im akuten Einsatz; Applikationen für die Qualifikation, Aus- und Weiterbildung von Gesundheitspersonal Applikationen im ambulanten, präklinischen oder stationären Umfeld; Applikationen im Umfeld der Krankenhausinfrastruktur, z. B. Ver- oder Entsorgung; Applikationen für den Einsatz rund um die industrielle Gesundheitswirtschaft oder den Zweiten Gesundheitsmarkt.

Auch die Forschungsfelder im Rahmen von VR- und AR-Anwendungen im Gesundheitswesen sowie die daraus resultierende wissenschaftliche Literatur zeigt bereits jetzt verschiedene Möglichkeiten und Studienresultate auf. So lassen sich aus einer bibliometrischen Analyse für VR-Anwendungen im Gesundheitswesen (Pawassar & Tiberius, 2021) insgesamt elf Cluster erkennen, die in ihrer Gesamtheit eine positive Auswirkung der VR-Anwendungen auf die allgemeine Gesundheit darstellen, z. B. Kommunikation zwischen medizinischem Personal und Patienten, Anleitungen für die Kinder- und Altenpflege, Gesundheitsprävention. Wie bereits unter 2.1. beschrieben können VR-Applikationen und AR-Applikationen hier verschiedene technologische Vorteile ausspielen, die im Folgenden beispielhaft dargestellt werden.

18 Immersive Technologien im deutschen Gesundheitswesen

18.4

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Lösungsbeispiele mittels Virtual Reality (VR)

Virtual Reality (VR) ermöglicht es dem Menschen mittels eines Head Mounted Displays (VR-Brille) in eine völlig andere (virtuelle) Umgebung einzutauchen. Dieses Eintauchen wird mit „Immersion“ umschrieben, die es im besten Fall zulässt, ein sensorisches Äquivalent zu einem realen Szenario herzustellen. Im Gesundheitswesen bieten VRApplikationen den wesentlichen Vorteil, Menschen sicher auf reale und gegebenenfalls riskante Situationen vorzubereiten, indem sie in einer ungefährlichen Umgebung üben und trainieren können – sowohl für sich allein als auch in der Gruppe. Simulationstrainings Ein konkretes Lösungsbeispiel bezieht sich auf VR-Simulationstrainings (s. Abb. 18.2). Hier werden Notfallsituationen, seltene Szenarien sowie Routinemaßnahmen im Sinne von „Serious Games“ trainiert. Die Trainings können autark stattfinden oder von einem Trainer begleitet werden. Durch den Einsatz mobiler VR-Brillen ist sogar eine ortsunabhängige Teilnahme möglich. Kostenaufwendige Puppen, Schauspieler und Requisiten können eingespart werden, gleichzeitig lässt sich die Vielfalt der Trainingsszenarien beliebig erweitern. Durch die Übertragungsmöglichkeit auf Beruf (Betriebliches Gesundheitsmanagement) und Alltag (Erste Hilfe) können weitreichende Kompetenzen – auch in die Gesellschaft – übertragen werden. Ambulante/Angehörigenpflege VR-Anwendungen die im besten Fall stets in Zusammenarbeit mit professionellen Berufsgruppen (z. B. Medizin, Pflege) erstellt werden, lassen sich auch im Rahmen der ambulanten bzw. Angehörigenpflege einsetzen und sorgen so auf der einen Seite für einen evidenzbasierten Wissenstransfer. Auf der anderen Seite ermöglicht diese neue Form des Erlernens auch ein sicheres „Herantasten“ an die Thematik, die aufgrund der demografischen Entwicklung künftig mehr und mehr Menschen in Deutschland beschäftigen wird: die Pflege von Eltern und Verwandten. Hier bieten VR-Applikationen die Möglichkeit eines inklusiven Ansatzes für mehr Verständnis und Know-how in der Gesellschaft. Anleitungen/Übungen Ein weiteres Anwendungsfeld für VR-Applikationen sind Anleitungen und Übungen, beispielsweise in der Gesundheitsprävention oder in der Rehabilitation. Ziel ist es hier, den Einsatz von Virtual Reality als motivierenden Weg zur Förderung regelmäßiger Trainingseinheiten zu nutzen. Konkret bezieht sich dies auf Übungen der Mobilität (z. B. Gleichgewicht, Gang, körperliche Funktionen), die zunächst unter Anleitung und später selbständig in VR durchgeführt werden können. Studienprojekte weltweit erforschen aktuell, ob sich so möglicherweise die autarke Lebensform von Senioren zu Hause zusätzlich fördern lässt.

162

P. Dahm

Abb. 18.2 Virtuelle Multi-Player-Simulationstrainings mit mobilen Headsets

Behandlung/Therapie Auch in der medizinischen Therapie wurden bereits erste positive Erfahrungen durch den Einsatz von VR-Anwendungen erzielt. Unter anderem wurden Patienten mit Brandverletzungen bei dem äußerst schmerzhaften Verbandswechsel ihrer Wunden über eine VR-Brille in eine Winterlandschaft versetzt. So konnte – neben der von den Patienten als positiv empfundenen Ablenkung – auch das Schmerzempfinden durch den visuellen Stimulus reduziert werden, was durch einen Gehirnscan nachgewiesen wurde.

18.5

Lösungsbeispiele mittels Augmented Reality (AR)

Bei der Nutzung von AR-Applikationen lässt sich die reale Umgebung mittels digital erzeugter Elemente überlagern und es ist eine Interaktion in Echtzeit möglich. Im Gegensatz zu VR werden hierfür nicht zwingend Augmented- oder Assisted-Reality-Brillen benötigt, denn AR-Anwendungen lassen sich auch auf Mobilgeräten der neueren Generationen (z. B. Smartphones oder Tablets) nutzen. Aufgrund der höheren Verfügbarkeit der

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Mobilgeräte in der Gesellschaft wird der erfolgreichen Entwicklung von AR daher aktuell eine höhere Wahrscheinlichkeit zugesprochen. Patientenaufklärung Patienten fällt es oft nicht leicht, Ärzten ihre Symptome zu beschreiben. Die Kombination von 3D-Animationen und Augmented Reality ermöglicht eine gemeinsame Annäherung, indem Details visuell spezifiziert werden können. Auch lassen sich so geplante Operationen auf Basis von Visualisierungen besprechen, was sich positiv auf die Vorbereitung und das Verständnis des Patienten für einen Eingriff auswirken kann. Zudem lassen sich mittels Simulationen auch Auswirkungen ungesunder Verhaltensweisen auf den eigenen Körper darstellen und so lässt sich die Motivation erhöhen, das Verhalten zu ändern. Anleitungen und Support Ob technisches Gerät oder konkrete Handlungsanweisung – mittels Augmented Reality ist es möglich, ad hoc Assistenz zu leisten oder zu erhalten. So lassen sich über die Einblendung von Text-, Mess- oder anderen visuellen Hilfestellungen via Smartphone oder Datenbrille wichtige Informationen festhalten oder sogar interaktiv teilen (s. Abb. 18.3). Hier sind unter anderem Navigations- oder Bedienungshilfen möglich, die zeit- und ortsunabhängig genutzt werden können und so Personal nachhaltig entlasten.

Abb. 18.3 AR unterstützte Anleitungen auf dem Smartphone

164

18.6

P. Dahm

Fazit und Ausblick

Basierend auf Studienergebnissen aus namhaften internationalen Forschungsinstitutionen sowie aus zahlreichen Praxisgesprächen mit unterschiedlichen Stakeholdern aus den Bereichen Medizin, Pflege, Politik, Gesundheitswirtschaft und Industrie lässt sich erkennen, dass xReality-Technologien einen maßgeblichen Beitrag innerhalb der Digitalstrategie für das Gesundheitswesen und eine sinnvolle Ableitung auf die Gesellschaft leisten können. Um Konzepte erfolgreich in die Praxis überführen zu können, mangelt es jedoch oft noch an hinreichenden Nachweisen über die Evidenz. xReality-Konzepte werden sich dabei gegenüber bewährten Methoden behaupten und ihre Vorteile ganz klar hervorheben müssen. Ebenso gilt es, einige weitere Herausforderungen zu überwinden. So darf man unter anderem hoffen, dass wir in Deutschland aus Digitalisierungsprojekten wie der Telematik-Infrastruktur oder dem eRezept lernen. Standards und Regulierung sind sicherlich wichtig, um die Technologie in die digitalen Infrastrukturen des Gesundheitswesens einzubinden, damit sie dort ihren vollen Nutzen ausschöpfen kann. Allerdings bieten sich bereits heute vielfache Möglichkeiten, VR- und AR-Anwendungen als „Stand-Alone“ auszuprobieren und so im Sinne eines agilen (prototypischen) Innovationsprozesses kontinuierlich zu verbessern. Auch die schnellen Entwicklungszyklen der noch jungen Technologien werden Einfluss auf die Implementierung haben. Neue Hardware-Generationen weisen beispielsweise auf eine stärkere Zusammenführung von VR und AR hin. Künftige Entwicklungen wie die Einbindung weiterer Sensoriken in xReality-Technologien lassen darauf schließen, dass wir uns einem Natural User Interface nähern werden. Wichtig ist es daher, sich bereits jetzt auf die individuellen Anforderungen der Branche einzustellen und Implementierungsfragen frühzeitig mit anzudenken. Chance und Herausforderung zugleich sind auch die mit zunehmendem AR- oder VREinsatz verbundenen Qualifikationsanpassungen des Personals und der Nutzer. Zum einen werden Fachleute nötig sein, die AR- und VR-Lösungen für das Gesundheitswesen entwickeln können. Zum anderen wird sich dadurch die Bedienung von Maschinen oder die Nutzung von Systemen verändern und damit das Nutzerverhalten beeinflussen. Der allgemeinen Digitalkompetenz kommt somit ein immer größerer Stellenwert zu. Um die Akzeptanz für entsprechende Projekte und Lösungen so früh wie möglich zu erlangen, ist eine partizipative Herangehensweise empfehlenswert. Auch das Feedback von Studenten zeigt, dass xReality in der Ausbildung von jungen Generationen angenommen wird. Allerdings wird somit auch auf Lehr- und Ausbildungsebene Kompetenz und Personal benötigt, damit die neuen Technologien flächendeckend Einzug halten können. Nicht zuletzt sollten wir nicht den Fehler machen, xReality-Technologien im Umfeld des Gesundheitswesens ausschließlich im stationär-medizinischen oder industriellen Kontext (z. B. Pharma, Medizintechnik) zu entwickeln. Gerade in der Pflege können xReality-Technologien einen überaus wertvollen Beitrag leisten, Digitalisierung für Menschen zugänglich zu machen. Wenn wir uns vor Augen halten, dass 100 % der Menschen

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weltweit zu Beginn ihres Lebens pflegebedürftig sind, viele ihr Leben in Pflegebedürftigkeit beenden und dazwischen mehr oder weniger pflegebedürftige Phasen haben, zählt die Pflege in Summe vielleicht sogar mit zu den größtmöglichen Einsatzbereichen für immersive Technologien – sowohl im beruflichen wie auch im privaten Umfeld.

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P. Dahm

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Petra Dahm verfügt auf Basis ihrer mehr als 20-jährigen Tätigkeit als selbständige Strategieberaterin über eine langjährige und fundierte Erfahrung mit digitalen Innovationszyklen und -prozessen sowie der Umsetzung von komplexen Digitalisierungsprojekten. 2019 trat sie dem Gründungskreis von Extended Reality Bayern e.V. als Vorstandsmitglied bei mit dem Ziel, die bayerische xRealityCommunity im Allgemeinen zu fördern und darüber hinaus mit Medical XR und WomenInXR zwei Special Interest Groups innerhalb des Fachverbands zu schaffen. Mit ihrem aktuellen Start-Up StellDirVor GmbH mit Sitz in München berät sie Unternehmen und Organisationen im Gesundheitswesen bei ihrer Digitalisierungsstrategie. In Kooperation mit internationalen Partnern bietet das Unternehmen innovative Lösungen für die Motivation, Aus- und Weiterbildung von Gesundheitspersonal sowie für die Digitalisierung interner und externer Prozesse in der Gesundheitswirtschaft mittels xRealityTechnologien.

Extended Reality in Lehre und Forschung

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Bolela Likafu

Interview mit Prof. Björn Bartholdy, Director Cologne Game Lab (TH K¨oln)

Zusammenfassung

Hochschulen und der Einsatz immersiver Medien in Lehre und Foschung bilden eines der wichtigsten Felder in der Landschaft digitaler Transformation, sowohl gesellschaftlich als auch für Wirtschaft und Industrie. Wir sprechen mit Prof. Björn Bartholdy (TH Köln). Prof. Björn Bartholdy ist der Direktor des Cologne Game Lab, Prodekan der Fakultät für Kulturwissenschaften an der TH Köln. Als audiovisueller Designer konzentriert sich Björn Bartholdy auf Media Design & Game Art. Gemeinsam mit Dr. Gundolf S. Freyermuth konzipierte er das Cologne Game Lab als kreativen Raum rund um das Thema digitale Spiele mit dem Ziel, eine der führenden Lehr- und Forschungseinrichtungen in diesem Bereich in Europa zu etablieren. https://colognegamel ab.de/.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_19

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Hallo Björn, du bist Professor an der TH Köln sowie Gründungsdirektor am Cologne Game Lab und hast somit auch täglich mit dem Thema XR zu tun. Was ist deiner Meinung nach der Status quo von Extended Reality an deutschen Hochschulen? Ich denke, man kann grundsätzlich konstatieren, dass XR – also alles, was mit immersive Media zu tun hat – an deutschen Hochschulen vor allem in der Forschung bereits stattfindet. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen an unterschiedlichen Standorten, die auf verschiedenstem Niveau in diesem Bereich aktiv sind. Das fängt damit an, dass man VR/AR Equipment parat hat, um es in Studienprojekten und natürlich auch in die Forschung einzubauen. Das geht bis hin zu dedizierten Laboren, in denen entsprechende Projekte und Forschungen durchgeführt werden können. Es gibt zahlreiche, individuell durch Professor:innen und Forschende getragene Maßnahmen an Hochschulen. Meine Erfahrung ist allerdings auch, dass die Universitäten als Dachorganisationen die Bedeutung dieser Technologien häufig noch nicht in ihrer vollen Dimension erkannt haben. Es gibt wenige Beispiele an Hochschulen, wo große Labore aufgebaut werden konnten, die sich diesem Themenkomplex als MetaTechnologie widmen. Das mag an dezidierten Forschungseinrichtungen wie Fraunhofer oder Max-Planck-Institut anders sein – selbige sind auch entsprechend größer aufgestellt. Welche Chancen siehst du durch den Einsatz von Extended Reality für den Wissenstransfer? Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass immersive Medien – das liegt ja schon im Begriff – das Lernen durch intensive multisensuale Erfahrungen unterstützen können. Also je umfänglicher

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und eindringlicher die Lernerfahrung ist, desto besser und intensiver kann auch der Lerneffekt ausfallen. Das Problem ist aus meiner Sicht hauptsächlich die Budgetierung solcher Vorhaben, denn um eine eindringliche „Experience“ zu bieten, die z. B. mit kommerziellen Computerspielen auf Augenhöhe ist, braucht man natürlich auch entsprechende Ressourcen. Das ist am Rande bemerkt auch ein wesentlicher Grund, warum Serious Games noch nicht in dem Maße erfolgreich sind, wie sie es eigentlich sein könnten. Häufig kranken sie an zu kleinen Budgets. Ich sehe wirklich große Möglichkeiten für immersive Technologien im Kontext der Wissensvermittlung, im universitären wie auch im schulischen Bereich, ganz zu schweigen vom Feld der Weiterbildung. Die große Herausforderung ist die Erreichung eines „Production Value“, einer Qualität in Präsentation Graphik und Bedienung, welche es mit gängigen kommerziellen Entertainment-Produkten aufnehmen kann. Ich habe von mehreren XR-Produzenten gehört, dass das Einfrieren der Zuwendungen an die Games-Industrie für einige Verwirrung gesorgt hat. Da bin ich sehr gespannt, wohin die Reise geht. Das war natürlich ein ganz dramatisches Thema. Seit der Einführung der Bundesförderung hat die Gründung neuer Entwicklerstudios die Branche um mehr als 25 % wachsen lassen – also ein massiver Erfolg für den Standort Deutschland. Diese neu gegründeten Unternehmen haben sich natürlich auf die nationale Zuwendung verlassen und die Unsicherheit, ob es zu weiterer Förderung kommen wird, hat für massive Unruhe und gar prognostizierte Firmenpleiten geführt. Im Bereich der digitalen Spiele hat Deutschland einen Anteil von knapp 5 % an der weltweiten Spieleproduktion. Das können wir nur dadurch ändern, dass wir die Produktionsbedingungen in Deutschland an die der anderen europäischen Staaten angleichen, gar nicht zu sprechen von Kanada oder den USA. Gut, dass die Bundesregierung in diesem Punkt zurückgerudert ist und die staatliche Förderung bestätigt hat! Was sind deine Erfahrungen bezüglich der digitalen Transformation in Deutschland? In anderen Interviews haben wir festgestellt, dass viele Leute Digitalisierung mit der digitalen Transformation gleichsetzen. Kannst du uns das kurz erläutern? Digitalisierung heißt erstmal nur, etwas Analoges in digitale Daten zu konvertieren. Der Aspekt der Transformation reflektiert ja das Gesamte, also den Umbau von Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft etc.

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Damit einher gehen Aspekte wie Non-Linearisierung, also vom Film zum Game, Dezentralisierung in Bezug auf Netzwerkstrukturen oder die Demokratisierung vieler Dinge, die in analogen Zeiten nur einer Elite zugänglich waren – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Mit Blick auf die Medien hat die digitale Transformation ja bereits in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts begonnen. Der gesamte Print-Bereich machte den Anfang, das Fernsehen folgte und Anfang der 2000er Jahre wurde auch die Filmproduktion komplett digitalisiert. Transformation bedeutet hier natürlich oft auch den Verlust bestehender Job-Profile – neue Berufsbilder werden geboren. Spiele sind nun mal per se digital, was uns im Kontext der digitalen Transformation der Gesellschaft eine besondere Rolle zuweist. Blicken wir auf die Akzeptanz digitaler Spiele in der Gesellschaft, kann man gerade in Deutschland feststellen, dass hier lange Zeit Vorbehalte und Ablehnung dominierten. Unterschwellig die Angst vor dem Neuen – in diesem Fall der Digitalität. Nicholas Negroponte sagte in seinem Buch „Being Digital“ Mitte der 90er sinngemäß: „Everything that can be digital will be!“ Fast 30 Jahre später haben viele Bereiche unseres Lebens diese Transformation durchlaufen und wir erleben einen fundamentalen Wandel. Insofern kann ich sagen, dass die Digitalisierung zum Beispiel im Hochschulbereich sehr weit fortgeschritten ist. Viel weiter als in zahlreichen anderen Bereichen der Industrie und der Gesellschaft. Und ich wage zu behaupten, dass vieles von dem, was wir im Kontext von Games und XR betreiben, ein ganz gutes Modell für andere Bereiche ist und dass wir viel abgeben können. Insofern halte ich es auch für so wichtig, dass die Spiele- und XR-Industrie in Deutschland gestärkt wird, weil sie auf viele andere Bereiche abstrahlt. Was ist deine Vision der Zukunft bezüglich VR und Hochschulen? Ich gehe davon aus, dass diese Thematik in Lehre und Forschung an Hochschulen weiter ernst genommen wird – ich erlebe eine Vielzahl relevanter Projekte in meinem Umfeld und wir werden in den nächsten Jahren interessante Ergebnisse sehen. Aus meiner Sicht ist XR eine Form von Meta-Technologie oder Meta-Prinzip, welches es zu vermitteln und zu erforschen gilt. An manchen Stellen handelt es sich primär um eine Art Display-Technologie, oft entwickelt sich aber ein eigener, spezifischer und eben nur mit XR umsetzbarer Ansatz – der zumindest mich besonders reizt. Wir blicken durch ein Fenster in eine virtuelle Welt hinein, oder befinden uns Dank

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VR-Brillen scheinbar selber in ihr. Wir sehen in unseren Forschungsprojekten, dass es im Prinzip ein Themenkomplex ist, der sich auf unterschiedlichste Felder applizieren lässt – ob das jetzt Sprachvermittlung, Restaurierung oder der museale Raum ist, um nur ein paar unserer Themen zu nennen. Insofern bin ich guter Hoffnung, dass sich das Thema Extended Reality auch in der Zukunft noch stärker manifestieren und in vielen Curricula sowie Forschungsprojekten deutlich stärker abbilden wird, als das bisher der Fall ist. Ich bin ein Fan von dem Cologne Game Lab und freue mich sehr über deine positive Einschätzung. Danke dir für das Interview!

„Die wichtigste Komponente für eine erfolgreiche Digitale Transformation ist der Mensch“

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Bolela Likafu

Interview mit Carmen Hentschel, Digital Unternehmerin, Speakerin und Moderatorin für Digitalisierung

Zusammenfassung

Den Menschen und nicht die Technologie als wichtigste Komponente für eine erfolgreiche digitale Transformation sehen, ist gerade aktuell wichtiger denn je. Auf der anderen Seite steht die Frage: Wie lassen sich Menschen für das Thema Immersive Medien und Technologien einbeziehen und begeistern? Dies braucht ein eigenes Podium und Diskussion. Carmen Hentschel lebt und atmet das Thema Digitalisierung jeden Tag. Zu ihren Stammkunden gehören dabei gleichsam bekannte Unternehmen, Ministerien wie auch wissenschaftliche Institutionen. In ihrer Arbeit diskutiert sie mit Führungskräften und VordenkerInnen über alle Aspekte der digitalen Transformation: von Künstlicher Intelligenz über Industrie 4.0 bis E-Government. Im Mai 2023 launcht sie mit ihrem Gründungspartner Prof. Dr. Nicolas Burkhardt die Plattform Work AI (www.work-ai. com) für den Wissenstransfer und eine bessere Vernetzung im Bereich Künstliche Intelligenz. Darüber hinaus ist sie Inhaberin der beiden Digitalagenturen Future Shapers (www.future-shapers.live) und Online Konferenzen (www.online-konferenzen.com).

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_20

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Bolela Likafu:

Carmen Hentschel:

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Was beobachtest du in puncto digitale Transformation in Deutschland, wenn du Entscheider aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik triffst? Klar könnte vieles besser laufen. Aber ich überspringe direkt mal die Mangeldiskussion, denn das bringt uns nicht voran. Lass uns auf die Möglichkeiten schauen und dahin, wo wir in den nächsten Jahren noch weiter wachsen können! Erst mal ist es wichtig, den Begriff zu klären: Die „digitale Transformation“ ist kein Prozess mit einem Anfangs- und einem Endpunkt. Sondern sie ist „a never ending story“. Wir müssen am Ball bleiben. Sobald wir ein bestimmtes Plateau erreicht haben, entwickelt sich das Spiel schon wieder weiter. Und Plateau ist hier auch nur als Bild gemeint, denn das Geschehen ist ja fließend. Der Kern der ganzen Reise ist jedoch nicht die Technologie, sondern das Mindset der Menschen, die hinter der Entwicklung und Implementierung dieser Technologien stehen. Welche Erfolgsfaktoren siehst du hierbei für eine erfolgreiche digitale Transformation?

Carmen Hentschel: 1. Die Erkenntnis der Menschen: Verharren auf dem Status Quo ist nicht cool. Es muss sich etwas ändern! Weil die Digitalisierung dem Einzelnen zahlreiche Vorteile bietet für sein Geschäft. Aber auch, damit wir als Deutsche und Europäer global wettbewerbsfähig bleiben – was sowohl dem ganzen System Vorteile bringt sowie in Folge auch wieder dem Einzelnen. 2. Faktor zwei ist der Glaube, dass wir selbst etwas ändern müssen.

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Quasi: dass wir die Verantwortung einer erfolgreichen digitalen Reise nicht allein an die Regierung, ExpertInnen oder einige wenige Führungskräfte outsourcen. Es braucht jeden und jede Einzelne im Drivers Seat. Das alles wird aber keinen durchschlagenden Erfolg haben, wenn nicht auch Punkt drei dazukommt: 3. Der Glaube der Menschen, dass sie nicht nur selbst handeln SOLLTEN, sondern es auch KÖNNEN. Das positive Denken: Alles, was wir jetzt sind und können, ist nicht in Stein gemeißelt. Sondern wir Menschen sind lernfähige Wesen. Was sich für mich da immer wieder bewahrheitet: Wer etwas will, sucht Wege. Wer etwas nicht will, sucht Gründe. Soweit die Theorie. Doch wie bekommen wir das nun auf die Straße? Was bedeutet das für das tägliche Handeln? Man muss die Menschen da abholen, wo sie stehen. Und hier gilt nicht „Push“, sondern „Pull“ und das ist dann eben Step 1 der Reise. Die digitale Transformation beginnt damit, den Menschen das Thema schmackhaft zu machen und ihnen konkret ihre Vorteile aufzuzeigen: Wie wird ihr Leben einfacher, schöner und besser durch digitale Entwicklungen? Die gute Nachricht ist, dass das alles eigentlich keine Rocket Science ist. Sondern es hat auch einfach viel mit gesundem Menschenverstand und einer guten Portion Empathie zu tun. Ich möchte dazu einige Beispiele aus meinem Bereich zeigen, dem Eventbereich, die man aber auch auf die allgemeine Kommunikation in Firmen übertragen kann. Besonders wenn es darum geht, die Menschen für die digitale Reise zu begeistern. Ich bin spezialisiert auf Veranstaltungen zum Thema digitale Transformation, primär sind das B-2-B-Events. Die Themen sind dabei vielfältig: von Künstlicher Intelligenz über Cyber Security und von Digital Health bis hin zu Smarten Städten und Kommunen. Doch die Ziele sind immer gleich: Die Menschen für ein digitales Thema zu interessieren. Und sie zu motivieren, selbst in den Driver‘s Seat zu steigen und ins Handeln zu kommen. Ich bekomme die Reaktionen ungefiltert und direkt vor Ort mit. Wie sieht sowas praktisch aus? Einige Learnings aus zwei Jahrzehnten: Was bei Konferenzen super funktioniert, sind Methoden oder Tools mit Mitmachcharakter sowie viele kurze und abwechslungsreiche Programmpunkte. So lasse ich das Publikum über ein Interaktionstool im Panel mitdiskutieren, statt am Ende nur die Fragen einzusammeln. Dazu

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gibt es während des Events zahlreiche Gamification-Elemente, Schätzfragen, einfache, kleine Publikumsspiele, Sprints und Deep Dives, Energizer, Zoom In-Zoom Out in ein Thema oder auch mal eine Fishbowl. Viele kleine und niederschwellige Aktionen, bei denen sich jeder einbringen kann, funktionieren sehr gut. Und hier sind wir bei den eingangs benannten Tipping Points für eine erfolgreiche digitale Reise: Die Erkenntnis der Menschen, dass Digitalisierung nicht einfach passiert und „von denen da oben gemacht wird“. Sowie das Verständnis, dass sie die Gespräche und Prozesse selbst mitgestalten können. Und dass ihre Meinung, Erfahrung und Ideen gefragt sind. Auf den Events erleben die Teilnehmer das direkt vor Ort und machen die Erfahrung, sich durchweg einbringen zu können. Was würdest Du sagen, machen Unternehmen auf ihren Events denn falsch, wenn es darum geht die Menschen für die Themen zu begeistern? Ich sehe auch heute noch so einige Veranstalter und Unternehmen, die als Zielgruppe des Events anscheinend eine Gruppe Roboter im Kopf haben. Das ist immer dann der Fall, wenn im Programm viele schlaue Inhalte stehen, die aber alle nur den Kopf der Menschen adressieren. Doch Kommunikation mit Menschen bedeutet, ihre Gefühle und Werte, ihre Ängste und Hoffnungen mit einzubeziehen und auf allen Ebenen mit ihnen zu kommunizieren. Auch multi-sensorische Faktoren spielen dabei eine Rolle, wie eine starke Bildsprache und Visualisierung, Klang, Haptik, Bewegung. Das Gefühl, sich individuell entfalten zu können, und gleichsam Teil einer Gemeinschaft, „Part of the Team“, oder sogar einer größeren Vision zu sein. Meine Erfahrung ist: je ganzheitlicher die Ansprache des Publikums, desto größer die intrinsische Motivation der Gruppe. Auf was wäre hier besonders zu achten? Schlichtweg auf den Faktor der Energie bei einem Event. Fragen Sie sich: „Auf einer Skala von 1–10: Wieviel Energie ist hier im Raum?“ Denn damit steht und fällt Ihr Eventerfolg. Energie meint damit nicht durchgehend Lautstärke, Schnelligkeit und große Gesten. Das wäre ja auch anstrengend. Energie kann auch die Fokussierung und Konzentration im Raum sein. Die Einladung zu einem Gedankenspiel. Eine kleine Erzählung mit gekonnten Pausen, in denen man die berühmte Stecknadel im Raum fallen hört. Und auch das kann man auf verschiedenste Szenarien übertragen, wenn es darum geht, die Menschen bei der

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digitalen Transformation mitzunehmen: ein Spielfeld mit hoher Energie schaffen, in dem nicht nur anregende Inspiration gegeben wird, sondern auch viel Raum zum Atmen und eigenen Denken, Reflektieren und Entfalten bleibt. Wie können wir nun Punkt 3 umsetzen, den es braucht für eine erfolgreiche digitale Reise: die Menschen davon zu überzeugen, dass sie der Aufgabe gewachsen sind. Und dass sie im Status Quo gar nicht alles wissen und können müssen, sondern dass Wege beim Gehen entstehen. Weil Leben Wandel bedeutet und wir uns alle mit wandeln können. Wie könnte also eine Kurzanleitung dafür aussehen, Menschen bei einem Event für ein digitales Thema zu begeistern? Schritt 1: Purpose stärken, das Warum. Je attraktiver das Ziel, desto stärker die Motivation. Schritt 2: Die Menschen ins Erleben bringen: Digitalisierung ist nicht etwas, das einfach passiert. Sondern du bist Teil der Reise. Schritt 3: Wunderbar, Sie haben die Menschen in den Driver‘s Seat gebracht. Nun heißt es für sie, selbst Gas geben und losfahren. Dafür braucht aber es Mut. Die ersten Runden allein sind ja meist herausfordernd. Motivieren könnten hier Erfolgsgeschichten. Denn was andere uns vorleben, öffnet auch für uns den Raum der Möglichkeiten. Am besten funktionieren da die Berichte, die am nächsten an uns dran sind. Stichwort: Identifikation. Wenn jemand Dinge möglich gemacht hat, der gedanklich nicht am anderen Ende der Welt wohnt, sondern der mir schon etwas vertraut ist, erscheint die Hürde geringer. Im nächsten Schritt muss dann der Handwerkskoffer mit ersten Werkzeugen bestückt werden. Zeigen Sie den Menschen einige konkrete Tools für die Praxis und wie sie sie anwenden können. Laden Sie sie ein, ihre Fragen zu den Werkzeugen zu stellen. Was es dann noch braucht, ist das Gefühl einer Gemeinschaft. Geben Sie den Menschen nicht das Gefühl: „Ich habe Dir jetzt etwas Tolles gezeigt – tschüss und viel Glück!“ Sondern zeigen Sie ihnen: „Du bist nicht allein. Wir machen das alle zusammen und wir können uns gegenseitig unterstützen, uns motivieren und voneinander lernen!“ Laden Sie sie ein, Teil einer wertschätzenden Community zu werden. Ja, der Abschluss einer solchen Veranstaltung ist ja nicht der Abschluss der Auseinandersetzung mit dem Thema. Eigentlich beginnt doch jetzt erst die Reise?

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Genau. Zum Abschluss eines Events gibt man den Menschen Raum zum persönlichen Austausch. Denn wenn Sie Ihre Sache gut gemacht haben, werden Ihren BesucherInnen zahlreiche Fragen und Gedanken durch den Kopf gehen. Schaffen Sie ein Ambiente, in dem sich Ihre Gäste gerne weiter miteinander austauschen. Seien Sie als Veranstalter mit einem Team präsent, bestenfalls sind auch die ExpertInnen des Tages mit dabei. Es ist wichtig aufzuzeigen, wie die gemeinsame Reise weitergeht und wo jeder die für Ihn wichtigen Informationen für weitere Schritte und Hilfestellungen finden kann. Du sprichst viel über den Menschen als Zentrum der ganzen Entwicklungen. Was meinst du: Sind durch Metaverse, AI, Big Data und Extended Reality auch sozio-kulturelle Aspekte in einem Wandel? Ja, sicherlich! Ein zentraler Aspekt ist hierbei das Thema Embodiment. Ich meine damit, dass wir Menschen das Gegenteil von Robotern sind. Unser Kopf ist kein Computer und der Rest des Körpers trägt uns nicht nur von A nach B und reicht uns ab und an etwas Nahrung. Sondern der Mensch ist ein ganzheitliches Körperwesen und benötigt zum Lernen eine ganzheitliche körperliche Erfahrung. Ich glaube, da gibt es noch ein riesiges Potenzial zu erforschen und zu entwickeln. Ich denke sogar, dass wir im Bezug auf die Korrelation von Geist und Gefühl, von Seele und Körper, fast noch am Anfang der Wissenschaft sind. Dazu noch die rasanten technologischen Entwicklungen: Das wird eine mehr als spannende Reise für uns alle! Ich stimme dir zu, dass wir gespannt sein können, wohin die Reise geht. Vielen Dank für deine Zeit und das spannende Gespräch.

Augmented Reality und Journalismus

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Zwischen Innovation, Spielerei und digitaler Zukunft Till Krause

Zusammenfassung

Dieser Beitrag hat das Zusammenspiel zwischen Augmented Reality (AR) und Journalismus zum Thema und beschreibt – nach einem historischen Überblick – die technischen Innovationen sowie Methoden des digitalen Storytellings, die Augmented Reality zu einem wichtigen Tool für die journalistische Medienproduktion gemacht haben. Mehr als 20 Jahre nach ersten wissenschaftlichen Analysen dieser neuen Formen des Journalismus hat sich AR als journalistisches Werkzeug mehrfach gewandelt. Dabei hat sich gezeigt: Journalistische Inhalte sind nur ein Teil einer gelungenen Erfahrung mit AR – die technischen Möglichkeiten müssen zum Inhalt passen und einen wirklichen Mehrwert bieten, um langfristig genutzt zu werden.

21.1

Hintergrund

Technische Innovationen haben im Journalismus Tradition: Journalismus beruht spätestens seit dem 19. Jahrhundert „auf einem Set von technologischen […] organisatorischen und professionellen Strukturen, die aufeinander abgestimmt waren“ (Weischenberg, 2010, S. 37). Das Wechselspiel aus Neuerungen und ihrer medialen Nutzung hat dabei zu vielen Experimenten geführt – manche sind gescheitert, einige sind heute fester Bestandteil zeitgemäßer professioneller Medienproduktion. Für Augmented Reality gilt das ebenso wie für andere Formen digitalen Storytellings wie Podcasts oder audiovisuelle Erzähl-Formate T. Krause (B) Hochschule für angewandte Wissenschaft Landshut, München, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_21

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T. Krause

in Social Media. Im Falle der Nutzung von Augmented Reality als journalistisches Tool ist zunächst eine Abgrenzung von Virtual Reality notwendig.

21.2

Definitionen

Dieser Beitrag befasst sich mit Nutzungsmöglichkeiten und -potenzialen von Augmented Reality für Journalismus, und dafür ist es wichtig, zunächst zu klären, was unter diesen Begriffen zu verstehen ist. Die Unterscheidung zwischen Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) zeigt hier bereits eine wichtige Differenz. Während laut Kind et al. (2019) unter Virtual Reality „eine computergestützte, softwaregenerierte Simulation realitätsnaher oder fiktiver Umwelten“ zu verstehen ist, „in die Nutzer über die Verwendung geeigneter Hardware eintauchen können“ (S. 9), bezeichnet Augmented Reality „eine computergenerierte Erweiterung der wahrnehmbaren Realität, wobei Zusatzinformationen, wie z. B. Texte, Bilder oder virtuelle Objekte, in das Sichtfeld der Nutzer eingeblendet werden.“ (ebd., S. 9). Diese Definition unterscheidet hier – neben verschiedener technischer Immersion – auch zwischen realitätsnahen/fiktiven Umwelten auf der einen, sowie der wahrnehmbaren Realität auf der anderen Seite, was für Journalismus eine wesentliche Unterscheidung darstellt. Journalismus basiert qua Definition auf der wahrnehmbaren Welt sowie möglichst objektiven, überprüfbaren Fakten und bezeichnet nach Weischenberg et al. (2006) eine „professionelle Fremdbeobachtung“ (S. 346) verschiedener Gesellschaftsbereiche „die neu und relevant sind und die auf Tatsachen (Erfahrungen) basieren“ (ebd., S. 346). Somit lässt sich Journalismus „von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen und insbesondere von anderen Formen der öffentlichen Kommunikation (z. B. Public Relations, Werbung, Literatur) unterscheiden“ (ebd., S. 346). Ein wichtiges Abgrenzungskriterium von Journalismus gegenüber anderen publizistischen Formen ist also die Objektivität (beziehungsweise Faktizität) – die laut Neuberger und Kapern (2013) vor allem durch ihren Realitätsbezug markiert wird: Journalismus „will nichts Erfundenes, Fiktionales darstellen. Er befasst sich mit Ereignissen, die sich tatsächlich zugetragen haben, und er bemüht sich, sie den Tatsachen entsprechend darzustellen“ (S. 28). Diese wichtige Abgrenzung des Journalismus von anderen narrativen Erzählformen im Bereich des Storytellings spielt bei der tendenziell abgeschlosseneren Virtual Reality oftmals eine weniger große Rolle als bei Augmented Reality, die die bestehende Realität mit einer zusätzlichen Ebene überlagert. Zwar gibt es auch – vor allem im Bereich der Dokumentation oder auch bei hybriden Erzählformaten wie Dokufiction (siehe hierzu den aufschlussreichen Sammelband von Agnes Bidmon & Christine Lubkoll, 2021) – interessante Experimente mit VR und Journalismus. Doch scheint Augmented Reality für journalistische Projekte die naheliegendere Wahl zu sein, stützt sie sich doch auf eine Art digitale Erweiterung der wahrnehmbaren Realität, wobei Zusatzinformationen wie Texte, Bilder oder virtuelle Objekte in das Sichtfeld der Nutzerinnen und Nutzer eingeblendet werden. Anders als VR ist AR also weniger eine in sich geschlossene virtuelle Welt,

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sondern liefert zusätzliche Informationsebenen, die auf die bestehende Realität projiziert werden. Und das ist etwas, was AR für Journalisten grundsätzlich interessant macht: Medial aufbereitete Informationen – journalistischer Content, wenn man so will – lässt sich so mit der Realität, also mit der sichtbaren Welt, verknüpfen und kombinieren. Auf aktuelle Beispiele wird dieser Beitrag im Folgenden noch eingehen. Doch zunächst soll es bei diesem wichtigen Merkmal belassen werden: Anders als VR schafft AR im journalistischen Kontext meist keine eigene, teil-fiktive Realität, sondern baut Informationen auf der realen, physischen Welt auf (siehe Mehler-Bicher et al., 2011). Und ist damit wie geschaffen für eine journalistische Nutzung. Im Folgenden soll die Entwicklung von AR und Journalismus in ihrem historischen Überblick skizziert werden – die sich in vier Phasen unterteilen lässt.

21.3

Die vier Phasen der Entwicklung von Augmented Reality und Journalismus

Wie viele technologische Entwicklungen ist auch die gegenwärtige Beziehung zwischen Journalismus und Augmented Reality das Ergebnis einer längeren Annäherung, die sich in mehrere Phasen unterteilen lässt – und die natürlich noch nicht abgeschlossen ist. Die Phasen sind aufgeteilt in: Phase Eins: Hoffnung. Zweite Phase: Aufbruch. Phase drei: Ernüchterung (die bei technischer Innovation meistens nicht ausbleibt). Und Phase vier: neue Hoffnung. Das ist der Punkt in der Entwicklung, an dem wir uns momentan befinden.

21.3.1 Phase 1: Hoffnung Wie viele technologische Entwicklungen beginnt auch die professionelle Auseinandersetzung mit Augmented und Virtual Reality zunächst im Rahmen universitärer Forschung. Denn vieles von dem, was wir heute unter Augmented Reality verstehen, hat seinen Ursprung in den Hochschulen, den Universitäten und den Forschungslabors in dieser Welt. Lange bevor es tatsächlich in der Praxis umgesetzt wurde, hat es in diesem Rahmen eine Avantgarde gegeben, die einen technischen Vorsprung entwickeln konnte. Und das hat erst im zweiten Schritt dazu geführt, sich darüber Gedanken zu machen, wozu diese neue technologische Entwicklung überhaupt genutzt werden kann. Eines der ersten Papers, das sich mit einer potenziellen Nutzung von AR für Medienproduktion befasst (MacIntyre et al., 2001), erklärt Augmented Reality zu einer medialen Form mit großem narrativen Potenzial. Obgleich es darin nicht explizit um Journalismus geht, wird AR hier bereits als Medium für elaboriertes, interaktives Storytelling beschrieben: “The importance and uniqueness of personal AR as a medium is the result of three features that combine to distinguish it from earlier media: blending the virtual and physical worlds, continuous and

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implicit user control of the point of view, and interactivity” (S. 198). Diese drei Distinktionsmerkmale von AR als narrative Medienform – das Überblenden der virtuellen mit der physischen Welt, die Kontrolle der Nutzer und Nutzerinnen über den Standpunkt der Erzählung sowie die Interaktivität – waren auch bei den darin beschriebenen Beispielen wesentlich. Diese ersten Überlegungen forderten auch eine interdisziplinäre Herangehensweise ein: Nur in der Kollaboration zwischen verschiedenen Disziplinen wie Informatik und Elektrotechnik auf der einen Seite und Design und Medientheorie- und -praxis auf der anderen Seite, seien mittelfristig Medienerfahrungen denkbar, die den Nutzern und Nutzerinnen einen Mehrwert bieten. In einer frühen Überlegung zum Nutzen von Augmented Reality für Journalismus hat der amerikanische Journalismusprofessor an der Columbia University’s Graduate School of Journalism, John Pavlik, im Jahr 2001 aufgezeigt, dass AR eine immersive Mediennutzung ermöglichen könnte, die journalistische Inhalte direkt mit der physischen Welt verschmelzen lässt. Er nannte diese Form „contextualized journalism“ (S. 20). Er beschreibt damit einen der ersten Gehversuche – durchaus wörtlich zu verstehen – in diesem Bereich: Mittels eines head-mounted displays, also einer Art Datenbrille, konnten im Rahmen eines Experiments auf dem Campus der Columbia University historische Informationen über die Studentenproteste aus dem Jahr 1968 eingeblendet werden. Man kann darin durchaus eine frühe Form des ortsbasierten, interaktiven Journalismus erkennen. Die Hoffnung, auf diese Art ansprechende Medieninhalte mit journalistischem Mehrwert zu schaffen, entwickelte sich weiter, als sich auch die notwendige Technologie in Form von Rechenleistung und Darstellbarkeit grafischer Elemente zu Beginn der 2000er Jahre rasant weiterentwickelte. So begann ab dem Jahr 2000 auch die Entwicklung von Mobile Augmented Reality Systems (MARS) als Verschmelzung von digitaler und physischer Welt immer weitere Fortschritte zu machen (siehe Höllerer & Feiner, 2004). Abbildungen aus diesem Artikel aus dem Jahr 2004 zeigen auch, wie man sich die Verwendung dieser MARS-Technologie damals vorzustellen hatte: Ein Nutzer ist auf einem Foto mit einem Rucksack zu sehen, der mit verschiedenen Apparaten und Antennen vollgepackt ist. Ein früher Schritt – wenn auch kein besonders alltagskompatibler. Doch waren mit diesen frühen Experimenten zumindest ein paar Funktionsweisen etabliert: Das Überblenden der physischen Welt mit digitalen Inhalten (im Fall des MARS-Experiments trug der Proband eine frühe Form einer Datenbrille). Vor fast 20 Jahren also, als Smartphones noch nicht verbreitet waren, haben sich Medienforschende und -entwickelnde bereits Gedanken gemacht, wie mit dieser neueren Augmented-Reality-Technologie (die bis dato hauptsächlich industrielle Anwendungen gefunden hatte), auch in einer medialen Umgebung umgegangen werden kann. Und wie sich interessante Medieninhalte mit diesem neuen Medium generieren lassen. Diese Entwicklungen führen ab 2005 auch verstärkt zu weiteren Experimenten zur Augmentierung von gedruckten Medieninhalten.

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21.3.2 Phase 2: Aufbruch Da dieser Beitrag sich auf die journalistischen Anwendungen von AR beschränkt, können auch hier nur eine Auswahl und ein Überblick über die Entwicklungen gegeben werden, die andernorts ausführlicher beschrieben wurden. Wie in vielen anderen Bereichen erreichte die Umsetzung von AR in Medien einen frühen Höhepunkt in den Jahren zwischen 2009 und 2012. Der Guardian widmete der Technologie einen großen Überblicksartikel im Jahr 2010, in dem er schrieb: „Augmented reality: it’s like real life, but better“ und der bereits einige Anwendungsbeispiele skizzierte: „the ways in which we watch sport, read magazines and do business with each other could change for ever“ (Arthur, 2010). Und auch das PEW Research Center prophezeite im Dezember 2008: „Many lives are touched by the use of augmented reality or spent interacting in artificial spaces“ (Anderson & Rainie, 2008). Im Bereich der Printmedien etablierte sich zu diesem Zeitpunkt eine neue Idee, digitale mit analogen Inhalten zu verknüpfen: Mit dem Benetton Magazin Colors (Ausgabe 76) war eine frühe, werbliche Form als Experiment gestartet, das wenig später auch vom amerikanischen Esquire Magazin aufgegriffen wurde. Die Idee dabei: Man hält eine gedruckte Ausgabe eines Magazins vor eine Webcam und aktiviert damit digitale Zusatzinhalte, die auf die jeweiligen Seiten des Hefts abgestimmt sind. So werden die Magazinseiten quasi digital zum Leben erweckt (Ikonen & Uskali, 2021, S. 149). Nun kann hier kritisch angemerkt werden, dass diese frühe Form der Augmentierung von Medieninhalten per Webcam zwar bereits einige gute Ansätze enthielt – eine solche Form von AR aber kaum dem Nutzungsverhalten von Magazinlesern und -leserinnen entsprochen haben dürfte: Die Lektüre von Printmedien findet wohl eher selten vor Computern mit Webcam statt (damals war zudem auch die Nutzung von Laptops noch weniger verbreitet als heute), sodass einige dieser frühen Experimente heute kaum noch Nachhall finden. Doch da die Entwicklung von Medientechnologien meist schrittweise aufeinander aufbaut, konnten Aspekte dieser Medienformen auch in spätere AR-Experimente übernommen werden: Das Süddeutsche Zeitung Magazin hatte in seiner Ausgabe vom 20. August 2010 die weltweit wohl erste journalistische Anwendung von AR auf Basis mobiler Geräte wie Smartphones (Tablets wie das iPad hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine Kamera; heute schwer vorstellbar, aber im Sommer 2010 noch technische Realität)1 . In Zusammenarbeit mit der Münchner Firma Metaio wurden mehrere Seiten des Heftes mit AR angereichert: So konnte beispielsweise die Lösung des Kreuzworträtsels direkt auf die Magazinseite eingeblendet werden. Oder das Titelbild mit einem kurzen Film überlagert werden. Neben digitalen Inhalten im Heft wurde auch mit ortsbasiertem Content experimentiert: Mittels des Channels „SZ-Magazin Lieblingsorte“ im Metaio AR-Browser Junaio konnten in München, Hamburg und Berlin ausgewählte Informationen ortsbasiert anzeigt werden: Auf dem Smartphone-Bildschirm erschien eine Art Wegweiser zu diesen Orten sowie eine kurze Beschreibung und Empfehlung, zusammengestellt von der Redaktion. Eine Art digitaler Stadtführer mit ausgewählten Tipps zu 1 https://sz-magazin.sueddeutsche.de/technik/unser-heft-lebt-77479 (abgerufen am 7. August 2022).

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Restaurants, Hotels, Museen und anderen Lieblingsorten – zu denen die Nutzer und Nutzerinnen mit AR geleitet wurden. Zur damaligen Zeit bestand AR vor allem aus digitalem Mehrwert in Form von Animationen (teils in 3D), oder in der Verknüpfung von Print mit Video und Audio. Neu war damals auch die Art, wie solche AR-Inhalte gestartet werden konnten: Wurde der digitale Zusatzinhalt bei der Esquire-Ausgabe noch durch QR-Codes und Webcam angesteuert, konnte beim Süddeutsche Zeitung Magazin schon mit ausgereifteren Markern gearbeitet werden, die von der Handykamera erkannt wurden, aber mit bloßem Auge nicht sichtbar waren. Ein weiterer für Journalismus damals interessanter Aspekt lag in den 2010er Jahren in der potenziellen Aktualität durch Verknüpfung von AR-Anwendungen mit Echtzeitdaten (was beispielsweise in der Sportberichterstattung interessant war). So war es denkbar, dass in der gedruckten Zeitung Fußballspiele oder die aktuelle Bundesligatabelle aus Termingründen (abhängig vom Andruck der Zeitung) teilweise nicht in allen Ausgaben mehr gedruckt werden konnte, wenn etwa ein Spiel in die Verlängerung ging oder schlicht der Abpfiff nach Andruck erfolgte. Mit Augmented Reality war es dann theoretisch möglich, mittels Markern auf der gedruckten Seite das Smartphone dahingehend zu triggern, dass über die gedruckte Zeitung die aktuellen Spielergebnisse oder die aktuellsten Tabellen in Echtzeit projiziert werden konnten. Das spätestens seit der rasanten Entwicklung von mobilem Internet sowie der Ausweitung von digitalem Journalismus eine solche Verknüpfung von Smartphone, Tablet und einem Printmedium oft nicht mehr unbedingt die logistisch sinnvollste Verknüpfung ist, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. So ist diese erste Aufbruchsphase oft geprägt von einer spielerischen Umsetzung der technischen Möglichkeiten, die die technischen Limitationen der damaligen Zeit (teils mangelnde mobile Daten, schlechtere Kameraauflösung, geringere Rechenleistung von Smartphones) in Kauf nehmen musste und dadurch beschränkt wurde. Es entstanden teils Produkte, deren Anspruch den Nutzungsgewohnheiten der Leser und Leserinnen nur teilweise entsprachen (die Webcam-Experimente, bei denen ein Printmedium vor eine Kamera gehalten werden musste, wurden beispielsweise kaum weitergeführt). Dennoch war gerade der Einsatz von Mobiler AR für viele Printmedien ein spannendes Experimentierfeld: Nach dem SZ-Magazin haben auch der Stern sowie diverse regionale und überregionale Printmedien in Deutschland mit mobiler AR experimentiert. Das Branchenmedium Fachjournalist schrieb im Jahr 2016, als diese Experimentphase bereits langsam zu Ende ging: „Die Technologie ist verfügbar. Jetzt liegt es an den Content-Produzenten, etwas daraus zu machen“ (Schart & Tschanz, 2016). Und wie so häufig in solchen Fällen kam es dann zu den Einschränkungen mit den drei Ks: Kohle, Konzept und Kunden. Oft scheiterte eine AR-Umsetzung journalistischer Inhalte daran, dass solche Projekte schwer zu finanzieren waren, dass viele der Konzepte tatsächlich über den Status einer Spielerei nicht hinausgekommen sind und dass es eben auch an tatsächlichen Nutzerinnen und Nutzern gefehlt hat, die solche Technologie auch wirklich in ihren medialen Alltag integrieren wollten. Es folgte also – wie bei der Implementierung neuerer Technologien nicht unüblich – eine Phase der Ernüchterung.

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21.3.3 Phase 3: Ernüchterung Wie bei vielen anderen Technologien waren auch bei AR die Erwartungen zunächst groß – oft zu groß, wie sich bald herausgestellt hat. Auf eine anfängliche Euphorie folgte also bald eine gewisse Ernüchterung. Der oft zitierte Gartner Hype Cycle (exemplarisch: Zschiesche & Gschwendtner, 2018) zeichnet die Akzeptanzphasen bestimmter Technologien graphisch nach. Demnach führt ein technologischer Auslöser dazu, dass die Erwartungen, die Hoffnungen und die Aufmerksamkeit, die diese Entwicklungen wecken, fast exponentiell ansteigen, bis sie den sogenannten Gipfel der überzogenen Erwartungen erreicht hatten. Und auf diesen Gipfel folgte dann der Abstieg ins „Tal der Enttäuschungen“. Und aus diesem Tal führt dann langsam der sogenannte Pfad der Erleuchtung, der mit sich bringt, dass die Erwartungen auf ein eher gesundes Maß geschrumpft sind. Die Ernüchterung in Bezug von AR und Journalismus hatte vor allem folgende Gründe: • Oft waren die AR-Ausgaben großer Medienhäuser nur einmalige Experimente • Oft haben sich diese Experimente kaum in nachhaltiger Innovation niedergeschlagen • Fehlende technische Infrastruktur bei Verlagen wie auch bei Nutzern und Nutzerinnen hat die Akzeptanz verzögert • Oft waren die AR-Ausgaben eher Spielerei und boten zunächst wenig Mehrwert • Es bestand ein potenzieller Konflikt zwischen werblichem und journalistischem Profil von AR Dennoch zeigt ein Blick in die Historie der Akzeptanz technischer Innovationen, dass nach überzogenen Erwartungen und Enttäuschungen irgendwann auch ein Plateau der Produktivität erreicht ist, auf dem dann wirkliches, sinnvolles inhaltliches Arbeiten möglich ist. Auch diese Entwicklung ist nicht immer gleich und läuft für verschiedene Branchen und Bereiche unterschiedlich ab. In Bezug auf Augmented Reality und Journalismus war eine zusätzliche Herausforderung, Anwendungsbeispiele zu finden und umzusetzen, die zwischen werblichen und journalistischen Anwendungen differenzieren und sich gut unterscheiden lassen. Da die Werbeindustrie häufig mit größeren Budgets agieren kann als journalistische Verlage, kamen zunächst einige opulente Beispiele aus der Werbung (Beispiele siehe Schart & Tschanz, 2018). So wurden Anwendungen geschaffen, die auch für journalistisches Storytelling interessant wurden – es begann also eine Phase der neuen Hoffnung, die bis heute anhält.

21.3.4 Phase 4: Neue Hoffnung Im Jahr 2017 führte Apple mit seinem mobilen Betriebssystem iOS11 das Augmented Reality Entwicklungstool ARKit ein, Google veröffentlichte mit ARCore ein vergleichbares Programm für Android. Damit erreichte diese Technologie eine breite Masse an

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Nutzern und Nutzerinnen weltweit: Ende 2018 gab es fast eine Millarde ARKit- und ARCore-kompatible Smartphones mit etwa 129 Mio. aktiven Nutzern und Nutzerinnen dieser Technologie (Ikonen & Uskali, 2021, S. 155). Bereits im Jahr 2015 hatte Apple die Münchner Firma Metaio – die gemeinsam mit der Redaktion des SZ-Magazins die AR-Ausgabe des Magazins entwickelt hatte – gekauft. In der Beschreibung dieser neuen Tools für die Entwicklung für AR-Anwendungen schrieb Apple, dass es nun möglich sei, Augmented Reality Erfahrungen für die vielen Millionen Nutzer und Nutzerinnen von iOS und iPadOS zu konzipieren. Damit war es leichter, entsprechende Anwendungen und Ideen auch ohne die Unterstützung spezialisierter Firmen zu entwickeln. Durch kreative und eher werblich-kommerzielle AR-Projekte von Firmen wie Ikea (man konnte mit AR virtuelle Möbel in der eigenen Wohnung platzieren) oder Burger King (Plakate von konkurrierenden Fast-Food-Firmen konnten mit Burger-King-Plakaten virtuell überblendet werden) war auch in der Öffentlichkeit immer mehr bekannt geworden, dass sich AR vor allem für ortsbasierte und kreative Anwendungen nutzen lässt. Und so wurden auch die neueren Projekte im Bereich des Journalismus weiterentwickelt und lösten sich ganz oder teilweise vom Trägermedium Papier. Zahlreiche Beispiele belegen diese neueren Formen von AR im Journalismus, daher sollen hier nur einige exemplarisch genannt werden. Das Time Magazine flankierte 2019 einen Artikel über die Zerstörung von Regenwald im Amazonas mit einer Reihe von AR-Anwendungen. Es war eine der wohl besten Umsetzungen dieser Form des immersiven Journalismus, der die Leser und Leserinnen direkt am Geschehen teilhaben lässt und für das Time eine eigene App („Time Immersive“) für Apple und Android vorgestellt hat, die als Grundlage solcher AR-Storytellings dienen soll. Für die digitale Storytelling-Anwendung „The Dying Forrest“ war es mittels der App möglich, das Ausmaß der Zerstörung zu visualisieren, indem Karten und Fotomaterial mittels AR beispielsweise auf den heimischen Schreibtisch projiziert werden konnten: „Cutting-edge drone photography and 3-D photogrammetry of some of the most remote, difficult-to-reach and threatened locations takes readers deep into the disappearing Amazon in a way never seen before“, wie es in der Selbstbeschreibung heißt. In dieser Visualisierung liegt ein wesentliches Anwendungsfeld des immersivem digitalen Storytellings mit AR. Die New York Times hatte im Juni 2018 den Ausbruch des Vulkans Volcán de Fuego in Guatemala mittels AR aufbereitet und beispielsweise aus Bildern und Videos eines von Asche und Hitze zerstörten Autos ein 3D-Model erstellt, das man mittels AR und Smartphone in das eigene Zuhause holen konnte: „bring our readers closer to the story by placing them at the scene and allowing them to examine it as if they were there“ (Koppel, 2018), wie die New York Times das Experiment beschreibt. Auch in Deutschland entstanden zu dieser Zeit, also der zweiten Hälfte der 2010er Jahre, einige Ansätze, AR in journalistische Angebote zu integrieren. Der TV-Sender ProSieben hatte in seiner Sendung Galileo im November 2017 einige AR-Elemente eingebaut. So konnte beispielsweise ein Beitrag über Züge, der auf dem Fernseher lief, durch das Smartphone betrachtet dafür sorgen, dass den Zuschauern der Zug aus dem Fernseher heraus regelrecht entgegen gefahren kam: „Durch die Kamera deines Handys erscheinen plötzlich riesige

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3D-Modelle, Infotafeln, Mini-Spiele oder interaktive Grafiken (…). Außerdem zeigen wir (…) wer gerade im Film zu sehen ist und welcher Song gerade läuft“, wie ProSieben in einer Pressemeldung schrieb. Wie nachhaltig solche Angebote in journalistische Angebote integriert werden, ist noch offen. Einige diese Experimente sind aber durchaus längerfristig angelegt. Die beschriebenen Anwendungen erfüllen jedenfalls ein wichtiges Kriterium für AR, da sie die Mediennutzung erweitern, in dem sie die reale Welt mit der digitalen verschmelzen lassen: “it augments the user’s experience with the real-world natural environment” (Pavlik & Bridges, 2013, S. 6).

21.4

Zusammenfassung

Augmented Reality und Journalismus haben eine wechselhafte Vergangenheit hinter sich. Welche Zukunft sie vor sich haben, ist weiterhin offen. So sind durch viele Experimente in verschiedenen Phasen der AR-Adaption in Medien – Ikonen und Uskali (2021) liefern hier eine gute Übersicht – immer wieder vielversprechende Ansätze entstanden. Aus der anfänglichen Verspieltheit, digitalen und analogen Journalismus durch die Animation und Augmentierung gedruckter Seiten zu kombinieren, hat sich gezeigt, dass auch hier vor allem die Angebote angenommen wurden, die einen konkreten Mehrwert bieten. Das liegt mutmaßlich auch an der zunehmenden Verschmelzung zwischen Print- und Onlinejournalismus, die längst dazu geführt hat, dass das Trägermedium Papier immer seltener als Ausgangspunkt für AR-Experimente dient. Zu sehr sind die parallele Nutzung aus (mobilem) Onlinejournalismus und anderen Medienformen wie Bewegtbild, Social Media oder Podcasts zu einer multidimensionalen Mediennutzung verschmolzen. Die Zahl der Medienkonsumenten, die ihre Informationen ausschließlich durch Printmedien beziehen, ist seit Jahren rückläufig. Daher fällt der Schritt, durch AR auf (zusätzliche) Onlineinhalte zu verweisen immer öfter aus – für Menschen, die journalistische Inhalte ohnehin digital konsumieren, ist dieser Zwischenschritt schlicht unnötig. Wo sich die Augmentierung von gedruckten Medien lohnen kann, ist entweder in konkretem Mehrwert (etwa der direkten Einblendung der Lösung von Kreuzworträtseln auf der Magazin/Zeitungsseite) oder in anderen Formen, die AR als Abkürzung auf dem Weg zum gewünschten Zusatzinhalt nutzen: Damit kann AR in dieser Anwendungsform letztlich als eine Art User Experience (UX) und des entsprechenden UX Designs betrachtet werden – wie Höllerer und Feiner (2004) es in den Anfangstagen von AR bereits beschrieben hatten: „AR is an immensely promising and increasingly feasible UI technology“ (S. 5). Der Trend geht heute eher zu neueren Formen des AR-Journalismus, der die journalistischen Inhalte mittels ortsbasiertem oder immersiven Darstellungsformen in die Lebenswelt der Nutzer und Nutzerinnen bringt. Viele Medien zeigen hier innovative Ansätze: Sei es durch die Gegenüberstellung historischer und aktueller Bilder direkt an Orten des Geschehens (wie beispielsweise der Tagesspiegel in Berlin an der Berliner Mauer oder der Bayerische Rundfunk an der

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Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau). Zudem hat sich AR als Möglichkeit etabliert, grafische Darstellungen emotional erlebbar zu machen (wie die oben beschriebenen Beispiele von New York Times und Time Magazine).

21.5

Ausblick

Wenn von Augmented Reality und Journalismus die Rede ist, ist damit heute meist die Kombination aus Journalismus und kreativen Anwendungen für Smartphones (und seltener auch: Tablets) gemeint: „Smartphones are by far the most popular means of using AR“, schreiben Ikonen und Uskali (2021, S. 148) und schränken sogleich ein: „although AR was not originally designed for mobile phone use“ (ebd., S. 148). Dies ist bemerkenswert und sollte bei aktuellen Überlegungen zum Storytelling-Potenzial von AR nicht außer Acht gelassen werden. Die Autoren merken sogleich an, dass dies wahrlich kein Automatismus sein müsse: „HMD and smart glasses also have AR storytelling potential“ (S. 148). Diese HMDs, also head mounted displays, sind für AR eine hoffnungsvolle Technologie, weil sie das Potenzial haben, einige Versprechen von Augmented Reality möglichst reibungslos umzusetzen: Das Überlagern der physischen Welt durch digitale Zusatzinhalte, möglichst ohne notwendige Zwischenschritte (zu denen auch das Betrachten der Welt durch das Display eines Smartphones oder Tablets gehört). Wie Lopezosa et al. (2021) beschreiben, sollte das Nachdenken über Journalismus und Augmented Reality möglichst nicht auf die technologische Ebene beschränkt bleiben, da Technologie streng genommen nur eine Art Vehikel für die journalistischen Innovationen sein kann, die AR mit sich bringt; „technology serves as the essential vehicle for the further development of journalistic innovation“ (S. 11). So bleibt abzuwarten und weiter zu beobachten, welche Verknüpfungen die zunehmende Verbreitung von HMDs bringen wird. Sowohl Googles Augmented-Reality-Headset „Glass Enterprise Edition 2“ als auch das Model „Magic Leap 2“, dessen Entwicklungskosten der Hersteller mit 2,2 Mrd. US-Dollar beschreibt, könnten hier eine wichtige Rolle spielen. Vor allem in Bezug auf die Art von Journalismus, die gemeinhin als „immersive journalism“ beschrieben wird. Im lesenswerten Sammelband zu diesem Thema schreibt Kai von Lewinski (2018) im Vorwort: „Bei immersiven Medieninhalten tauchen Nutzer in eine Welt ein, in der die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen“ (S. 7). Dass im Journalismus die Trennlinie hier teilweise anders verläuft – hier sei nochmal auf die Unterscheidung zwischen VR und AR in Abschnitt 1.2 dieses Kapitels verwiesen – ändert nichts an der Tatsache, dass diese Immersion als Ziel und Ansatzpunkt für AR und Journalismus ein vielversprechender Ansatz für packende Narrative sein kann. Wie Schart und Tschanz (2018) treffend beschreiben, liegt aber auch hier der Fokus nicht allein auf technischen Aspekten: „Der Grad der Immersion wird nicht alleine durch das geschlossene VR-Headset verstärkt (…) sondern auch durch die Geschichte und Interaktion“ (S. 20). Und diese Geschichten zu

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finden, zu recherchieren und mittels AR packend zu erzählen, bleibt eine Herausforderung, an der Erfolg und Misserfolg von AR-Anwendungen im Journalismus abhängen werden. Anmerkung Dieser Beitrag basiert in Teilen auf der Ringvorlesung „Virtual & Augmented Reality“ des Autors an der Technischen Hochschule Nürnberg vom Dezember 2021. Vielen Dank an die Zuhörerinnen und Zuhörer für ihre hilfreichen Kommentare sowie an Prof. Markus Kaiser für die Einladung zur Ringvorlesung.

Literatur Anderson, J., & Rainie, L. (2008). The Future of the Internet III. https://www.pewresearch. org/internet/wp-content/uploads/sites/9/media/Files/Reports/2008/PIP_FutureInternet3.pdf. Zugegriffen: 12. Okt. 2022. Arthur, C. (2010). Augmented reality: It’s like real life, but better. https://www.theguardian.com/tec hnology/2010/mar/21/augmented-reality-iphone-advertising. Zugegriffen: 5. Aug. 2022. Bidmon, A., & Lubkoll, C. (Hrsg.). (2021). Dokufiktionalität in Literatur und Medien: Erzählen an den Schnittstellen von Fakt und Fiktion. De Gruyter. Höllerer, T., & Feiner, S. (2004). Mobile augmented reality. In H. Karimi & A. Hammad (Hrsg.), Telegeoinformatics: Location-based computing and services (S. 221–260). Taylor & Francis. Ikonen, P., & Uskali, T. (2021). Augmented Reality as news. In T. Uskali, A. Gynnild, S. Jones, & E. Sirkkunen (Hrsg), Immersive journalism as storytelling: Ethics, production, and design (S.147– 160). Routledge. Kind, S., Ferdinand, J., Jetzke, T., Richter, S., & Weide, S. (2019): Virtual und Augmented Reality. Status quo, Herausforderungen und zukünftige Entwicklungen. In Büro für TechnikfolgenAbschätzung beim Deutschen Bundestag (Hrsg.). TA-Vorstudie. Arbeitsbericht Nr. 180. Koppel, N. (2018). After Volcano Eruption in Guatemala, Re-creating a Truck Covered in Ash. https://www.nytimes.com/2018/06/20/insider/volcano-lava-guatemala-buried-truck-augmentedreality-3d-immersive.html. Zugegriffen: 6. Aug. 2022. Lewinski, K. (Hrsg) (2018). Immersiver Journalismus: Technik – Wirkung – Regulierung. Transcript. Lopezosa, C., Codina, L., Fernandez-Planells, A., & Freixa, P. (2021). Journalistic innovation: How new formats of digital journalism are perceived in the academic literature. Journalism, 10. https:// doi.org/10.1177/14648849211033434 MacIntyre, B., Bolter, J. D., Moreno, E., & Hannigan, B. (2001). Augmented reality as a new media experience. Proceedings IEEE and ACM International Symposium on Augmented Reality, 197– 206. Mehler-Bicher, A., Reiß, M., & Steiger, L. (2011). Augmented Reality: Theorie und Praxis. Oldenbourg Wissenschaftsverlag. Neuberger, C., & Kapern, P. (2013). Grundlagen des Journalismus. Springer VS. Pavlik, J. (2001). Journalism and New Media. Columbia University Press. Pavlik, J., & Bridges, F. (2013). The emergence of augmented reality (AR) as a storytelling medium in journalism. Journalism and Communication Monographs, 15(1), 4–59.

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T. Krause

Schart, D., & Tschanz, N. (2016). Mittendrin statt nur dabei: Das Potenzial von Augmented Reality im Journalismus. https://www.fachjournalist.de/mittendrin-statt-nur-dabei-das-potenzialvon-augmented-reality-im-journalismus/. Zugegriffen: 22. Okt. 2022. Schart, D., & Tschanz, N. (2018). Augmented und Mixed Reality für Marketing, Medien und Public Relations (2. Aufl.). UVK. Weischenberg, S. (2010). Das Jahrhundert des Journalismus ist vorbei: Rekonstruktionen und Prognosen zur Formation gesellschaftlicher Selbstbeobachtung. In G. Bartelt-Kircher, H. Bohrmann, H. Haas, O. Jarren, H. Pöttker, & S. Weischenberg (Hrsg.), Krise der Printmedien: Eine Krise des Journalismus? (S. 32–61). de Gruyter. Weischenberg, S., Malik, M., & Scholl, A. (2006). Journalismus in Deutschland. Zentrale Befunde der aktuellen Repräsentativbefragung deutscher Journalisten. Media Perspektiven, 7, 346–361. Zschiesche, M., & Gschwendtner, A. (2018). Nach dem Hype ist vor dem Hype. In C. Kochhan & A. Moutchnik (Hrsg.), Media Management (S. 409–422). Springer Gabler.

Prof. Dr. Till Krause ist Professor für Medien und Kommunikation an der Hochschule für angewandte Wissenschaft Landshut. Er war Redakteur beim Süddeutsche Zeitung Magazin und leitete dort die Podcast- und Formatentwicklungsprojekte (gemeinsam mit Patrick Bauer). Er wurde an der Deutschen Journalistenschule ausgebildet, hat am IPP an der Universität Gießen promoviert und im Jahr 2010 die Augmented-Reality-Ausgabe des SZ Magazins in Zusammenarbeit mit der Firma Metaio konzipiert. Er war Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen zum Thema Journalismus und Medien und wurde für seine journalistische Arbeit mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Reporterpreis (mit Patrick Bauer und Patrick Illinger), dem Wächterpreis der Tagespresse (mit Hannes Grassegger) und dem Journalistenpreis Informatik. [email protected]

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Interview mit René Schmidt, Co-Founder von Qwellcode

Zusammenfassung

VR, Web3, Blockchain, NFT sind nicht bloße Schlagworte oder gar abgeschlossene Technologien. Als „Internet of Value“ werden zukünftige Geschäftsmodelle nur im Zusammenspiel all dieser Komponenten entstehen, so Rene Schmidt, Co-Founder des in Deutschland ansässigen Web3-Devshops Qwellcode. Er fungiert außerdem als CTO bei MOCA (Museum of Crypto Art) und setzt sich seit über 5 Jahren mit dem Thema Web3/NFTs auseinander. In dieser Zeit hat er neben seiner unternehmerischen Arbeit verschiedenste Projekte unterstützt, wobei das zur ETHDenver 2019 gegründete POAP (Proof of Attendance Protocol) sicherlich das bekannteste ist.

B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_22

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René, wir kennen uns bereits seit Anfang 2017. Schon damals haben wir uns intensiv über Virtual Reality und Technologien ausgetauscht. Wie bist du eigentlich als Unternehmer zu VR gekommen? Ich habe seit 2013 ein Entwicklerstudio. Damals gegründet mit meinem Kindergartenfreund Alexander Gees. Wir haben angefangen, Custom Software zu entwickeln, quasi maßgeschneiderte Lösungen für diverse Unternehmen, Umsetzung von eCommerce- Lösungen, also ein klassisches Web-Entwicklungsteam. Ich glaube es war 2014/15, als die Oculus Development Kits rauskamen. Da das Interesse an Technologie schon immer da war, haben wir uns als Entwickler eine Oculus zugelegt. Aber wir sind auch komplett im Internet aufgewachsen, bevor wir das Unternehmen gegründet haben. Nach und nach haben wir das Potenzial von Virtual Reality erkannt. Uns war es auch egal, dass die Auflösung damals relativ schlecht war oder wie man das heute bewerten will. Man wusste halt, dass die Technologie nur besser wird und wir hatten Bücher wie Snow Crash, Ready Player One und andere Metaverse-Ideen irgendwo schon aufgesaugt. Als VR-Equipment dann zu kaufen war, haben wir uns das für Kunden angeschafft und ausprobiert, was alles möglich ist. Wir wussten damals schon, dass man als Unternehmen mit dieser Technologie entwickeln und Lösungen umsetzen kann. Am Anfang waren es Messestände und Messeerlebnisse. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich vor der Gründung von Qwellcode bei einem Automobilzulieferer gearbeitet habe und immer Autos und Produktpräsentation im Kopf hatte. Das war in den ersten Jahren auch einer der wichtigsten Use Cases in der Branche: B2BProduktpräsentationen im virtuellen Raum. So bin ich dann auch zu Virtual Reality gekommen. Parallel zu dem Businessthema hat man

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jegliche Tech-Demos ausprobiert und alles runtergeladen und installiert, was es gab. Was die Entwickler rund um den Globe bei Steam raufgeladen haben und auch außerhalb von diesen Plattformen, als die Branche noch ganz klein war. Um zu verstehen, was technisch möglich ist, und was man sich vielleicht im UI- und UX-Bereich abgucken kann. Wir haben uns immer die neuesten Headsets zugelegt und sind immer tiefer gegangen auch in Social Experiences wie z. B. VRChat. Wir lernten immer etwas Neues, einfach um das Verständnis dafür zu bekommen, wohin die Reise geht. Du warst der Erste, der mir bereits 2017 auf den Medientagen in München von Blockchain oder auch Decentraland erzählt hat. Damals warst du schon ziemlich weit vorne. Welche Chancen siehst du für den Wissenstransfer durch den Einsatz von VR und AR? Ein ganz wichtiger Unterschied zu dem Display, zum normalen flachen Display als Medium, liegt darin, dass Inhalte, Informationen etc., die man in VR erlebt, deutlich besser im menschlichen Gehirn hängen bleiben. Für Educational Experiences, für Wissenstransfer ist das natürlich grundlegend wichtig, wenn man sich zum Beispiel selber in einem Klassenraum befindet. Aber wenn man sich in einer angepassten virtuellen Umgebung, in der man mit anderen Leuten zusammen ist, über Themen spricht, sich über bestimmte Dinge austauscht und sich gegenseitig weiterbildet, dann bleiben diese Erfahrungen und Themen, die man dort aufnimmt, einfach viel besser hängen. Das wird seit wenigen Jahren auch wissenschaftlich erforscht, und die ersten Ergebnisse bestätigen das. Ich hatte eigentlich immer das Gefühl, dass man sich auch noch Tage nach diesen Erlebnissen einfach viel besser an diese Dinge erinnern kann. Dinge, die man in den virtuellen Welten erlebt hat, in denen man sich so herumtreibt. Ich denke, dass macht den ganz großen Unterschied zu den zweidimensionalen Displays aus, wo man eher von außen als Betrachter auf die Situation starrt, während man in den virtuellen Experiences wirklich mit Präsenz, aus einer Ich-Perspektive heraus agiert, als ob man selbst an der Experience teilnimmt und sich deswegen alles besser merkt, was man erlebt hat. Was bedeutet Web3 in diesem Zusammenhang? Im Web3 ist man doch als Avatar unterwegs, kannst Du uns den Zusammenhang erklären? Ja, Du hast gerade Decentraland erwähnt. Das ist eigentlich das Projekt, über das ich persönlich in den Web3- und NFT-Bereich reingekommen bin, eben weil ich mich so viel mit Virtual Reality beschäftigt habe. In den virtuellen Welten kamen irgendwann die Themen Web3 und Blockchain auf. Meine damalige Freundin, die schon im Ethereum

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Web3 Space war, hat mir das dann gezeigt und gesagt: „Schau dir das an, damit du verstehst, was ich dir versuche zu erklären.“ Dann hat es bei mir Klick gemacht, dass diese Web3-Technologie, die aus dem Blockchain-Backend besteht – meistens Ethereum – im Prinzip eine Datenbank ist, in der Datensätze gespeichert werden, die nicht von irgendeinem Admin gelöscht werden können, z. B. von einem Projekt; sagen wir einfach Beispielsweise „World of Warcraft“, wo man dort im Game Gegenstände finden kann und dass man seinen Charakter oder seinen Avatar „hochlevelt“, in dem man bestimmte Challenges erlebt und meistert und der Fortschritt gespeichert wird. Der Unterschied bei einer normalen Datenbank, wie bei einem zentral gesteuerten Spiel, ist, dass die Administration oder das Management diese Fortschritte löschen kann. Bei einer Blockchain im Web3-Bereich ist das nicht möglich und seitdem ich das verstanden habe und mich immer tiefer mit dem Ethereum-Space beschäftigt habe, ist mir klargeworden, dass mit dieser Technologie sowohl digitale Assets wie Items, „Gegenstände“, die man im Spiel findet, aber auch Besitzrechte an anderen Themen eindeutig festgelegt werden. Das gilt auch für andere „virtuelle“ Güter oder Besitzurkunden, oder auch tatsächlich für Avatare, die man benutzt, um sich über seine eigene Identität irgendwie deutlicher auszudrücken und mit denen man dann durch die virtuellen Welten reist. Das gilt aber auch für „Achievements“, Nachweise, z. B. dass man an irgendwelchen Veranstaltungen teilgenommen hat, virtuell oder real. All diese Dinge können jetzt in diesen dezentralen Datenbanken, die nicht manipulierbar sind, abgebildet werden und bekommen dadurch einen Wert, weil die Leute, die sich für diese Dinge interessieren, sich einig sind, dass etwas einen Wert hat, wenn es unveränderlich ist oder besser gesagt einen höheren Wert hat, wenn nicht eine einzelne Partei die Macht hat, diese Fortschritte zu löschen oder die Besitzeigentümer zu löschen. Was im Prinzip bedeutet, dass NFTs – das ist der Name für diese Technologie – von digital verknappten Gegenständen oder digital zu beschreibenden Datensätzen, in Kombination mit Virtual Reality die eigentliche symbiotische Technologie ist, um Welten wie Snow Crash oder wie in Ready Player One beschrieben wurden, wo Leute im Metaverse digitale Assets erspielen und besitzen, zu ermöglichen. Das bedeutet, dass diese beiden Technologien zusammen dafür sorgen können, dass so etwas wie das Metaverse überhaupt existieren kann. Denn ohne die Gewissheit und die Sicherheit, dass man den Fortschritt und die Dinge, die man besitzt und erspielt, für immer behält,

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wird niemand große Mengen an Geld dafür ausgeben und es wird kein Markt dafür entstehen. Man hat es in der Vergangenheit schon oft versucht, aber es hat nie geklappt. Ich denke, dass Web3 plus VR dann das Fundament für das Metaverse sind, wie es auch im Moment im Mainstream viel beschrieben wird. Ich fasse ganz kurz zusammen: Es sind im Endeffekt Smart Contracts, die auf der Blockchain gespeichert werden. Also es werden Vereinbarungen und Prozesse unveränderbar auf der Blockchain festgehalten bzw. gespeichert, um es mit meinen Worten vereinfacht zu beschreiben. Genau. Man kann sich Ethereum als einen Weltcomputer vorstellen, der auf allen Kontinenten der Welt von Privatpersonen, Institutionen, Forschungseinrichtungen, Unternehmen auf ihren Computern gehostet wird. Das heißt, jeder schaltet einen Computer ein und alle zusammen betreiben dieses System. Auf diesem Weltcomputer können sogenannte Smart Contracts, das ist im Prinzip ein Programmcode, geladen werden. Dann werden die Daten nach den Regeln, die im Smart Contract beschrieben sind, in der Programmierung auf diese BlockchainDatenbank geschrieben und eine Anwendung für Smart Contracts sind NFTs, das heißt „Non-Fungible Tokens“. Das ist ein Token-Standard, der 2017 auf der Ethereum-Blockchain entwickelt wurde. Es gab Jahre vorher auch schon Ansätze, um digitale Assets auf der Bitcoin-Blockchain und auf anderen Systemen zu prototypen und zu erforschen, aber dieser NFT-Standard, ERC 721, das ist der technical term, wurde dann 2017 das erste Mal auf der Blockchain implementiert und wird seitdem verwendet, um digitale Assets zu beschreiben. Das Wichtige an dieser Standardisierung ist, wenn sich alle Entwickler und alle Netzwerkteilnehmer in dieser Blockchain einig sind, dass digitale Objekte auf eine bestimmte Art und Weise beschrieben werden, also programmiertechnisch, dann können die Programmierer von Marktplätzen und verschiedenen anderen Anwendungen auf Basis dieses Standards beliebige NFTs integrieren und müssen nicht für jedes neue NFT-Projekt eine individuelle Integration schreiben, sondern können sagen; Okay, wir unterstützen diesen NFT-Standard, der da erfunden wurde, mit unserem Marktplatz und damit können alle NFTs, die später entstehen oder programmiert werden, nahtlos in diese Systeme integriert werden und sind automatisch handelbar auf dezentralen Marktplätzen, die im Prinzip auch aus Smart Contracts und Datensätzen bestehen, die wiederum auf der Blockchain programmiert sind.

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Man kann sich das so vorstellen, dass über die Open-SourceBewegung Programmierer immer mehr Funktionalität in diesen Weltcomputer einbauen, was zu einer „kambrischen Explosion“ führen kann, weil in der Öffentlichkeit gemeinsam entwickelt und geforscht wird und nicht jeder hinter verschlossenen Türen proprietäre Systeme baut, die man dann wieder mit hunderten von Mannstunden oder Manntagen miteinander verknüpfen muss, was sehr viel Geld kostet. Der Web3-Ansatz geht also dahin, dass alle unabhängig und asynchron voneinander entwickeln und programmieren, sich an Standards halten, die man miteinander vereinbart oder auf die man sich einigt und dadurch Netzwerkeffekte hat, die vorher so nicht existiert haben. Du hast eine NFT-Galerie im Web3 aufgebaut, als NFTs hierzulande noch völlig unbekannt waren. Wie kam es dazu, dass du deine Leidenschaften vereinen konntest? Nun, ich muss sagen, dass mich der reale Kunstmarkt nie wirklich berührt hat, bevor ich die digitale Kunst für mich entdeckt habe. Ich hatte nie eine Überschneidung. Deshalb habe ich auch nicht wirklich verstanden, was in der normalen Kunstwelt passiert. Aber als mir klar wurde, dass Künstler von überall auf der Welt nur mit einem Laptop oder einem Tablet arbeiten können – es können auch Fotos von realen Kunstwerken sein, was auch immer man am Ende als jpeg oder mp4Datei oder Video oder 3D-Modell in das System schiebt und als Kunst deklariert und in Form von NFTs tokenisiert. Als ich das bemerkt hatte, wie sich das Playing-Field global plötzlich verändert hat, und es jetzt für Hunderttausende von Menschen und im Prinzip für jeden zugänglich ist, hat mich das Thema gepackt. Mittlerweile sind es Tausende von Künstlern und die Tendenz ist exponentiell steigend. Es ermöglicht jedem Teilnehmer auf einem globalen Markt zu sein, indem man seine Kreativität und seine Skillsets als Künstler in dieses Blockchain-System einbringt. Um dann zum Beispiel von einem Kunstwerk nur zehn Stück zu schaffen, und das ist für jeden transparent einsehbar. Das bricht auch mit dem ganzen „Schmu“ in der Kunstwelt, z. B. was Fälschungen betrifft, die man nur mit sehr viel Fachwissen erkannt hat. Bei den NFTs kann ich das genau nachvollziehen. Über die Blockchain kann ich sehen, dass es wirklich der Künstler ist, der ein einzelnes Kunstwerk gemacht hat, und nicht drei weitere, die irgendwo herumschwirren und auf einem anderen Kontinent verkauft werden. Diese Transparenz in Kombination mit Extended Reality hilft allen Menschen, egal woher sie kommen, egal in welchem Land sie aufgewachsen sind, egal ob sie ein Bankkonto haben oder nicht, es

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ermöglicht einen Austausch von Kreativität und das hat mich letztendlich begeistert. Man kann mit dem Kauf dieses Kunstwerks, was einem hoffentlich auch gefällt, wirklich einen Unterschied machen, das Geld geht direkt an den Künstler. Der Kauf des Kunstwerks wird transparent als Transaktion auf einer Blockchain gespeichert. Das Kunstwerk gehört dann wirklich mir und vielleicht bezahlt mir irgendwann jemand dafür das Doppelte. Aber darum ging es am Anfang nicht. Geld war noch gar kein Thema, weil alles noch so klein war. Mich hat das Thema begeistert und ich habe mich immer weiter damit beschäftigt. Irgendwann haben wir dann angefangen, Software zu entwickeln, die ich als Sammler brauchte, um meine Kunstsammlung zu kuratieren. Wir haben dann eine Web3-Applikation dafür gebaut – eine DApp, also Decentralized App. Damit kann man NFT-Art von Künstlern für verschiedene Plattformen kuratieren, wie zum Beispiel SuperRare, Known Origin oder Makersplace und viele andere Plattformen, wo Künstler ihre Profile erstellen, um Kunst zu tokenisieren. Dann hat man eine Plattform, die über den Standard verschiedene Assets von verschiedenen Plattformen unterstützt und dann den Sammlern die Tools in die Hand gibt, um zu kuratieren und zu teilen. Und dort habe ich die Kuration, die ich mit unserer Software erstellt habe, mit der Kunst, die ich über die vorhergehenden Jahre gesammelt habe, das erste Mal in der virtuellen Welt gezeigt. Über diese Aktion kam ich dann auch an MOCA. Das ist das Museum of Crypto Art. Die haben im Prinzip das Gleiche gemacht wie wir, aber das schon eher auf institutioneller Ebene, ein bisschen rebellisch, ein bisschen counter-culture gedacht, viel größer als ich als einzelne Person. Aber dadurch sind wir aufeinander aufmerksam geworden und mittlerweile bin ich der Technische Direktor des Museum of CryptoArt und baue mit unserer Firma Qwellcode Software, die dem Museum, aber auch allen anderen Kollektoren unter der Dachmarke des Museums, nützlich ist. Im Grunde genommen sind es die Tools, die wir damals angefangen haben zu entwickeln, nur viel weitergedacht und viel ausgereifter. Dass die Künstler davon profitieren, ist ein gutes Argument. Das ein Künstler z. B. in Indien die Bezahlung für seine Kunst direkt auf seinen Account transferiert bekommt, hat in anderen Ländern einen hohen Stellenwert, den wir in Europa nicht immer nachvollziehen können. Auch der NFT-Markt in Afrika wächst exponentiell. Ich habe ein bisschen recherchiert und in Afrika, wo es traditionell sehr viel um Musik und Kunst geht, kommt die NFT-Bewegung bei den Kreativen sehr gut

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an. Mit MOCA und natürlich auch mit dem Projekt Fred_Weidmann_ Tokenized machst Du einen super Job. Sehr schön, dass du das ansprichst! Ja, natürlich, Fred Weidmann ist ein sehr guter Freund. Er ist ein begnadeter Schweizer Künstler der alten Schule und seine Werke passen einfach wunderbar in die NFT- Szene. Ich war überzeugt, dass seine Werke sehr gut zu den Bildern passen, die du sammelst. Jetzt kennt ihr euch persönlich. Kannst du uns etwas über das Projekt erzählen? Ja, natürlich. Also die Kunst, die ich ja schon von Anfang an viel gesammelt habe, war Visionary Art, Psychedelic Art von Künstlern, die ihre einschlägigen Erinnerungen oder Erfahrungen in Kunst pressen. Die sie auf verschiedenen Experiences gesammelt haben, die sie als Mensch durchlebt haben oder auch als Nicht-Mensch. Und irgendwann hast du mir dann Fred Weidmann vorgestellt, einer von denen, die seit es diese Bewegung der visionären Kunst gibt, als einer der maßgeblichen Künstler im europäischen Raum gilt, wahrscheinlich auch weltweit. Wenn man sich jetzt überlegt, wie der Kunstmarkt immer manipuliert wurde und er, eigentlich einer der wichtigsten Künstler in diesem Bereich, schwer zu finden ist, mussten wir handeln. Lustigerweise kannten sich H.R. Giger, der Schöpfer von Alien und Fred Weidmann sehr gut. Ja, genau, und deshalb hat Fred Weidmann 2022 auch im Museum von H.R. Giger in der Schweiz ausgestellt. Aber ja, die Idee hinter dem Projekt mit Fred ist einfach die Geschichte, die wir auch in der Virtualität mit dem MOCA erzählen. Es geht darum, Geschichte und Kultur als Museum zu bewahren. Das ist eine der Hauptaufgaben eines Museums, und zwar so objektiv wie möglich. Mit dem MOCA bauen wir sozusagen Werkzeuge, um die subjektive Wahrnehmung jedes Einzelnen zu unterstützen, weil jeder daran teilhaben kann und auch viele Künstler daran teilhaben. Jeder kann jetzt daran teilnehmen, um eine objektivere Realität und Kultur zu gestalten. Und Fred, der einer der ersten visionären Künstler in den Kunstmuseen war, ist sehr an der NFT-Bewegung interessiert. Mit seinen 85 Jahren arbeitet er immer noch jeden Tag an neuen brillanten Kunstwerken. Es war uns sehr wichtig, dass man die verschiedenen Kunstwerke, die er im Laufe seines Lebens geschaffen hat, mit dieser Technologie auf der Blockchain konserviert und auch redundant auf verschiedenen Medien neu speichert, um sicherzustellen, dass diese Geschichte und die Kunst dieses Künstlers nicht verloren geht, wie es so oft in der Menschheitsgeschichte passiert ist, dass Geschichte

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rückwirkend verändert wird, dass Menschen aus verschiedenen Gründen aus der Geschichte geschnitten werden. Diejenigen, die Kriege gewonnen haben, haben die Kultur der letzten Jahrhunderte maßgeblich geschrieben. Ich denke, mit der Blockchain-Technologie hat man als Normalsterblicher die Möglichkeit, dagegen vorzugehen und dafür zu sorgen, dass diese Datensätze und die historischen Ergüsse von Künstlern wie Fred einfach dauerhaft existieren. Wir haben mit Fred schon eines seiner beeindruckendsten Kunstwerke digitalisiert. Mein Freund Fabian Scharf war bei der Digitalisierung und der dazugehörigen Korrespondenz mit Fred auch mit im Boot. Das Bild ist ein fast 10 m breites und zweieinhalb Meter hohes Kunstwerk. Wir haben es digitalisiert, dann als sein eigenes NFT gemintet und als Genesis NFT veröffentlicht. Das Kunstwerk heißt ja auch Genesis, von daher ist es im Prinzip genau das Narrativ, was man konservieren sollte. Er hat das Bild in seiner Paris-Zeit in den 70er Jahren über zwei Jahre hinweg ausgearbeitet. Das Original ist bei ihm in München und das digitale NFT liegt bei SuperRare zur Auktion. Wir haben es noch nicht großartig beworben, es geht auch erstmal nur darum, ihn in die NFT-Welt zu bringen und wie sich der Markt um ihn herum dann entwickelt, ist erstmal sekundär. Das ist ein tolles Projekt. Vielen Dank für diese ausführliche Antwort, es bestätigt mein Gefühl, dass NFTs in naher Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden. Smart Contracts helfen Vorgänge klarzustellen und das ist erstmal etwas Gutes und nachhaltiges für die Gesellschaft. Ja! Es ist auf jeden Fall sehr teuer bis unmöglich, die Sicherheit von Blockchains oder auch von Bitcoin zu knacken oder zu manipulieren, sodass man Geld doppelt ausgibt. Es kostet Milliarden, um eine einzige Attacke auf dieses Netzwerk zu machen, mit einer Erfolgswahrscheinlichkeit, die so gering ist, dass es sich einfach nicht lohnt, dies zu tun. Wie sieht deine Zukunftsvision für NFT und Web3 aus? Ganz allgemein für NFT. Ich denke, es ist ein bisschen wie „the genie in the bottle“ wenn diese Technologie erst einmal freigesetzt wurde und die Adaption in verschiedenen Bereichen von verschiedenen Firmen stattfindet und es immer mehr wird, dass zum Beispiel Firmen wie Nike und andere große Marken darauf aufspringen und auch Plattformen wie Instagram und Facebook das Thema für sich erkennen, das heißt, die Adaption dieser Technologie kann nicht mehr zurückgedreht werden. Beispielsweise hat Twitter NFTs im vergangenen Jahr integriert. Das Sammeln von Game Assets – allerdings noch ohne NFTTechnologie – findet seit Jahren statt, wie z. B. in Fortnite oder

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anderen Games, wo die Spieler jetzt schon tausende von Euro zahlen. Selbst Kinder, die noch gar kein Geld verdienen und trotzdem hunderte von Euros von ihren Eltern im Jahr quasi „verpulvern“, für digitale looks und skins, um ihre Identität während des Zockens auszudrücken, gegenüber ihren Mitspielern und Gegnern, dann ist es für mich nicht wegzudenken, dass wenn die ersten Plattformen diese Technologie so adaptieren, dass sie Skins und Avatare als digitale NFTs, die auch nachdem das Spiel offline gegangen ist, weiter existieren lassen und auf einer Blockchain speichern. Damit jemand, der fünf Jahre seiner Zeit in Fortnite investiert hat, auch 20 Jahre später zeigen kann, was er damals gemacht hat. Wenn man mal einer der besten Fortnite-Spieler war, hat das, glaube ich, heute einen echten Wert. Das hat zum Teil auch gegenüber Arbeitgebern einen höheren Wert als ein normaler Lebenslauf. Wenn ich jetzt noch nachweisen könnte, was für ein Level ich in World of Warcraft hatte, was ganz klar Eigenschaften wie Ehrgeiz und Zielstrebigkeit reflektiert, welche sich teils sicherlich auf die Arbeit und andere Dinge übertragen lassen, dann wäre ich heute sehr glücklich darüber. Aber ich kann es nicht beweisen, weil diese Fortschritte, die ich damals erspielt habe, nicht auf einer Blockchain gespeichert sind, sondern auf dem Server von Blizzard und der ist klassisch offline gegangen oder es kamen irgendwelche Updates. Sie sind jetzt weg und ich kann außerhalb der Plattform nicht vorweisen, was für Leistungen erspielt wurden. Ich sehe in Zukunft die Plattformen, die NFTs adaptieren, im Vorteil, und zwar diejenigen, die der Spielerbasis ermöglichen, ihr Erspieltes ins Web3 mitzunehmen, was dann dazu führt, dass andere Entwickler von Spielen, virtuellen sozialen Erlebnissen im Metaverse usw. genau das Gleiche machen müssen, also NFTs adaptieren, weil sie sonst nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Der Mehrwert dieser Technologie ist für den Spieler extrem hoch. Kaum jemand kann sich das heute wirklich vorstellen, wenn er sich nicht, wie ich zum Beispiel, schon seit fünf Jahren mit dem Thema beschäftigt. Aber trotzdem wächst die Überzeugung der Technologie auch im Mainstream von Tag zu Tag, je mehr Menschen sich damit auseinandersetzten. Das zeigt mir persönlich, dass, wenn sich andere mit dem Thema beschäftigen, es ähnlich laufen wird, weil eben diese Mehrwerte so extrem überwiegen. Leider ist das Verständnis dafür noch nicht so breit im Mainstream angekommen und auch leider nicht im akademischen Raum.

22 Blockchain und das Metaverse

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Aber wenn die ersten universitären Kurse zu diesen Themen starten und damit auch ein bisschen mehr offizielle „Credibility“ hinter diesen Themen steht, dann kann ich mir sehr gut vorstellen, dass diese Themen einfach nicht mehr wegzudenken sind und es immer mehr wachsen wird. So wie das Internet in den 2000er Jahren anfangs sogar totgesagt wurde. Was ich mir damals auch nicht hätte vorstellen können, dass jemand, der sich immer darüber gefreut hat, ins Internet zu gehen und mit Menschen auf der ganzen Welt zu kommunizieren, das Internet nicht gut findet. Genauso wenig kann ich mir vorstellen, dass die neue Schicht des Internets, das Web3, das im Grunde genommen Virtualität mit digitalen Eigentumsrechten verbindet, dass sich die Menschen dies wegnehmen lassen. Einfach dieses Bauchgefühl, dieses spezielle Gefühl ist da. Man kann es gar nicht richtig beschreiben, aber ich hatte es schon, als ich das erste Mal „online“ gegangen bin, damals noch mit ISDN oder Modems. Damals hat es bei mir Klick gemacht und genau dieses Gefühl habe ich jetzt wieder und das bestätigt für mich, wohin die Reise im Metaverse mit Blockchain, NFT und VR gehen kann. Vielen Dank René, für Deine Zeit und das Interview.

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VR und Kunst Bolela Likafu

Interview mit Reiner Opoku und Prof. J¨org Liebold, CEOs von Mirror + Sparks

Zusammenfassung

Kunst, Gestaltung, Ausstellung und Kommunikation haben durch die Jahre der Pandemie eine sehr bewegte Zeit hinter sich gebracht. Museen und Kultureinrichtungen wurden mehrheitlich in Lockdowns geschlossen. „Digital und virtuell“ war teils die einzige Möglichkeit den Zugang zu Kulturgut und Bühnen zu sichern. Welche Vorbehalte und Chancen haben sich hierbei ergeben und was bedeuten darüber hinaus für Kunst und Gesellschaft diese neuen Medien-Technologien? Reiner Opoku ist ein internationaler Kulturberater und -produzent. Seine Erfahrung umfasst mehr als drei Jahrzehnte Arbeit in der Kunstwelt. Seit den frühen 1980er Jahren hat er zahlreiche Kunstausstellungen kuratiert und seitdem verschiedene Ausstellungsbücher und kuratorische Projekte für Künstler wie David LaChapelle, Julian Schnabel und Sigmar Polke produziert, um nur einige zu nennen. Er war Gründungsdirektor der St. Moritz Art Masters in der Schweiz und Mitbegründer von Parley for the Oceans in New York City. Seit 2013 leitet Reiner Opoku das kunstbezogene Engagement von Parley for the Oceans im Umweltkontext. Reiner Opoku lebt in Berlin. Prof. Joerg Liebold verfügt über langjährige praktische und theoretische Erfahrung im Bereich Virtual Reality und Augmented Reality. Im Laufe seiner Karriere war er an der Entwicklung vieler B. Likafu (B) a1-consulting GbR, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_23

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preisgekrönter Filme beteiligt. Seine Arbeiten wurden in das permanente Filmarchiv des Museum of Modern Art New York aufgenommen. Jörg ist Professor für VFX, Animation an der Macromedia Hochschule in München.

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Wie wichtig ist für euch das Storytelling im Zusammenhang mit XR? Sehr wichtig! Wenn die Story nicht passt, dann ist das Medium egal. Passt bei dem Buch die Story nicht, ist das Buch langweilig! Beim Film ist es genauso. Bei jedem einzelnen Foto, bei jedem gemalten Bild, bei jedem Plakat ist eine gute Story wichtig. Ich erinnere mich, in New York zwischen all den Menschen, Autos und sonstigem Lärm diesen einzigen roten Hydranten am Straßenrand entdeckt zu haben. Den habe ich aus irgendeinem Grund fokussiert und daraus eine Story entwickelt. Dann lief davor ein Hund hin und her. Wo läuft er hin? Wer ist der Besitzer oder die Besitzerin dieses Hundes? Aus solchen Fragen können sich wahnsinnig tolle Geschichten ergeben. Dem Betrachter ein neues Universum zu öffnen, das ist für mich der Reiz von VR – auch in Sachen Kunst. Wobei es hier tricky wird, denn Storytelling in der Kunst findet auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt. Die Herausforderung ist, die Arbeit der Künstler zu respektieren und zu verstehen, ohne selbst zu viel reinzuinterpretieren. Was sind eure Erfahrungen in der Kunstwelt durch den Einsatz von Virtual Reality?

23 VR und Kunst

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Man kann eine Ausstellung über Extended Reality viel besser darstellen als z. B. über einen Film. Man hat ganz andere Perspektiven, viel mehr Möglichkeiten und neue Optionen für das Storytelling. Es gibt noch ein ergänzendes Element, die Unterstützung beim Kuratieren. Der Kurator muss nachdenken, überlegen, abwägen und entscheiden. Kuratieren hat immer etwas mit Korrespondenzen zwischen Bildern zu tun, mit Blick, Achsen und solchen Dingen. Und das kann man in Virtual Reality einfach viel besser nachstellen als in jedem anderen Medium. Man kann sich in VR um sich selbst drehen und sehen, welches Bild mit dem Bild gegenüber kommuniziert und so weiter. Dies war mein erster Ansatz und ich würde sagen, der erste Gedanke, den ich hatte. Es liegt in meiner Natur, offen zu sein. Ich bin offen für neue Wege und ich wusste, wie es funktionieren könnte. Wenn wir jetzt über Erfahrungen in der Kunstwelt sprechen, dann sehe ich das auf zwei Ebenen. Die eine Ebene ist, dass ich zum Beispiel weiß, wie etwas in diesem Moment ist, und die andere Ebene ist, dass ich sehr dokumentarische Arbeiten mache. Das heißt, ich habe eine Ausstellung und ich erlaube den Betrachtern, die nicht vor Ort sind, diese Ausstellung zu besuchen, wann immer sie wollen und können. Jetzt stellt sich die große Frage: Was ist der Unterschied zwischen dem Video und dem 360-Grad-Erlebnis? Ich denke, dass Kuratoren und Künstler ihre Ausstellungen so planen, dass sie von den Besuchern in ihrem Sinne gesehen werden können. Und für den Raum und für das Licht vor Ort. Jetzt kommen wir wieder auf dieses Wort, dass so oft verwendet wird, die Experience, dieses Erleben. Ich denke, es ist ganz klar, dass man durch den 360-GradRaum ganz andere Möglichkeiten hat, Räume und Ausstellungen zu erfahren und zu verstehen. Die Herausforderung ist, wie ich vorhin schon erwähnt habe, dass wir zum einen technische Restriktionen in der Betrachtung haben, das heißt, wir brauchen immer noch diese schweren und unkomfortablen Headsets und zum anderen, dass die Betrachter die neue Technologie noch nicht gewohnt sind. Es wird auch immer hinterfragt, wie wir uns diese Themen, diese Erfahrungen, die wir gemacht haben, erschlossen haben. Das zeigt, wie immens wichtig doch diese Möglichkeiten sind, aber auch wo momentan die Herausforderung liegt. Auch das Erstellen von Kunst mit XR-Technologie ist eine Herausforderung. Ich sehe die Technologie in einer Evolution. Wir können ganz von vorne beginnen, aber ich beginne jetzt der Einfachheit halber bei der Fotografie: Es wurde die Fotografie erfunden, die Fotografie

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war am Anfang schwarzweiß und ist dann irgendwann farbig geworden. Dann ist das Bewegtbild dazugekommen und auch das Bewegtbild war zu Beginn schwarzweiß und ist später farbig geworden. Die Qualität und die Auflösung sind immer besser geworden. Nur wir Menschen haben immer wieder dieses Grundbedürfnis, irgendwo hinzukommen. Ich glaube, dass gerade in der Fotografie und im Film eines der Grundbedürfnisse ist, einfach immer tiefer zu werden. Die Fotografie hat eine Tendenz, sie kann fotorealistisch sein und das ist etwas, dass uns Betrachter begeistert und es ist nicht die einzige Qualität. Ich glaube auch, dass dieser Fotorealismus bei weitem noch nicht so weit ist, dass man wirklich von Fotorealismus sprechen kann. Das heißt, was wir eigentlich wollen, ist ein wenig Genialität zu empfinden und das passiert auch noch durch direkte Kopie, die auch hier und da verwendet wird. Und jetzt eben durch das 360-Grad-Bild und die Immersion in VR. Die Künstler werden es und wollen es auch nutzen. Sie werden dieses neue Medium Virtual Reality ganz gezielt als künstlerisches Ausdrucksmittel ausweisen. Auch der andere Aspekt, der mit Virtual Reality einhergeht, ist Augmented Reality, das wiederum von vielen Künstlern bereits genutzt wird, um einerseits dem Betrachter weitere Ebenen zu geben, um das Bild oder etwas, was zum Bild gehört, zu betrachten und um die Geschichte des Bildes zu erzählen. Das ist eine unterstützende Technologie für die Erweiterung des Horizonts eines Künstlers, wenn ich das mal so nennen darf. Es gibt zum Beispiel auch Künstler wie Tim Berresheim der sich seit 2002 mit den Thema Augmented Reality beschäftigt hat, um seine Bilder zu erstellen. Er kommt aus der Malerei und hat es auch studiert. Er fügt sozusagen eine gesamte Ebene, die er mittels AR-Technologie erzeugt, in seine Werke ein. Diese Bilder werden dann von seinem Computer hochgerechnet, sodass die Bilder auch geplottet werden können. Dann setzt er sich nochmal dran, um argumentierte Reality Features zu erstellen, sodass man die Bilder noch tiefer erleben kann. Es stellen sich Fragen wie z. B. Was ist wirklich richtige Kunst und was ist ein reines Gadget? Was ist der Status quo oder wie geht Digitalisierung in der Kunstwelt? Ich denke, es ist ganz wichtig, Technologie immer im Fluss zu sehen. Technologie verändert sich und es verändert sich immer schneller. … und es ist nicht so, dass man sagt VR oder AR ist das Nonplusultra, sondern es ist im Prinzip ein Snapshot aus dieser Entwicklung. Und ich glaube, es wird ganz wichtig für uns, dass auch so zu sehen und

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konstant Entwicklungen weiterzutreiben, um auch den Künstlern die Möglichkeit zu geben und sie zu motivieren, die neuen Technologien verwenden zu wollen, um zu experimentieren, was eigentlich für die bildende Kunst nichts Neues ist. Also es ist eigentlich so, wie es mit der Entwicklung der Fotografie geschehen ist. Als die Fotografie erfunden wurde, kamen Ängste und Ressentiments auf. Die Frage, ob die Fotografie die Malerei ablösen wird, wurde gestellt. Anstatt das Neue zu sehen, wurde die Technologie auch als Bedrohung des Etablierten wahrgenommen. Doch nach einiger Zeit hat sich Fotografie als eigene Kunstform entwickelt, auch weil aus der Malerei gelernt wurde. Der Punkt ist dabei nicht zu kopieren, sondern zu lernen und weiterzuentwickeln. Die Frage der Konkurrenz wurde dadurch obsolet. In ein paar Jahren wird XR eine stark weiter entwickelte Technologie sein, aber die basiert auf dieser. Also es basiert immer alles auf allem. Das ist das Fantastische. Also ich nehme jetzt mal alles in Betracht, was ich gelernt habe, dass ist vor allem diese Empathie untereinander bei Projekten und dass die lineare Zeitlinie in Virtual Reality aufgehoben wird und dann ist noch das Storytelling sehr wichtig, um den Menschen in der VR zu führen, also zu begleiten. Ich finde es gut, dass ihr ein Team seid. Es sind viele mit der gleichen Thematik unterwegs, die den Kunstmarkt überhaupt nicht kennen. Es ist eine Zeit der Verwirrung, die aktuell stattfindet. Es gibt CryptoArt und NFTs und vieles wird verkauft, obwohl die Rechtslage nicht unbedingt immer geklärt ist. Das ist ein bisschen wilder Westen, aber dann ist es auch sehr gut, dass zwei Leute wie ihr, die von beiden Themen, Kunst und Extended Reality, Ahnung haben, als Team zusammenarbeiten. Ich stimme zu, würde aber sagen, es gibt noch weitere Personen, die in diesem VR-Spektrum wichtig sind. Ich sage mal die Nerds, die Entwickler, die Macher und mittlerweile auch die Künstler. Man muss sie alle mitnehmen, damit sie die Möglichkeiten in ihren Arbeiten nutzen können. Also für mich ist es erstaunlich gewesen, dass wir von München aus die Leute in New York dirigieren konnten und dass es trotzdem so ein tolles Produkt war, weil die Partner in New York innerhalb von kürzester Zeit Virtual Reality verstehen und mit all dem verbinden mussten, was sie rüberbringen wollten. Welche Chancen seht ihr für den allgemeinen Wissenstransfer?

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Allein schon die Möglichkeiten für den medizinischen oder schulischen Bereich sind immens. Es ist offensichtlich, dass das eine ganz neue, schnelle und zukunftsweisende Technologie ist, die viele Dinge sehr vereinfachen wird oder schon vereinfacht hat. Da ist der Transfer wirklich sehr wichtig und Extended Reality hat ein riesiges Potenzial, dieses zu unterstützen und uns global noch mehr zu verbinden – genauso wie das Internet selber auch. Das Mächtige an diesen Technologien ist, dass noch mehr Kanäle entstehen. Und je mehr Kanäle wir empfangen können, desto mehr Infos haben wir. Solange es uns nicht überfordert, natürlich. Ja, da ist das Thema Storytelling wieder. Die Dinge werden emotional erzählt und weil ich mich plötzlich in dem Raum befinde, sind die Erfahrungen intensiver. Alles Wissen wird intensiver vermittelt. Und das bietet uns natürlich wahnsinnige Vorteile bei der Wissensvermittlung. Ich denke aber auch, es kommt noch der Aspekt der “Gamification” dazu. Ich befinde mich plötzlich in einer anderen und künstlichen Welt und habe vielleicht auch mehr Spaß, mehr Motivation. Es bietet uns ganz neue Möglichkeiten. Also das heißt, ich bin jetzt erst mal von der Seite des Empfängers gekommen. Das Problem ist momentan die technische Herausforderung, neben der gestalterischen Komponente, die momentan teilweise noch sehr „low level“ ist, aber meiner Meinung nach sich sehr schnell entwickeln wird. Wir haben bereits die Hardware, die immer leichter zu bedienen und von der Qualität her auch immer besser wird. Sie wird in Zukunft weniger stören und bis dahin müssen wir diese Hürde nehmen, natürlich immer in einem Wissenstransfer oder Lehr-Kontext. Vielleicht ist das jetzt „state of the art“? Ob es sich letztendlich durchsetzen und avantgardistische Kunst ist, weiß man nie und bei Avantgarde setzt man immer auf die Zukunft. Es ist auf jeden Fall ein Versprechen in die Zukunft. Ich weiß, dass XR für Schulungen, in der Medizin, in der Automobilindustrie und viele andere Bereiche bereits genutzt wird, aber es ist noch nicht Mainstream, aufgrund von Hardware-Aspekten und mangelndem Wissen über das Medium. Ich muss dazu sagen, dass es am Anfang für mich nicht immer angenehm war, wenn die VR-Experience mit veralteter Software programmiert wurde. Man kennt nie die Hintergründe, aber das ist eben das Volatile. Es gibt Leute, die können drei Stunden in einer Experience sein und es passiert nix, und andere gehen schon nach 12 bis 15 min raus. Das ist halt so.

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Aber ist das nicht das Interessante, dass das gleiche Problem aufgetaucht ist wie damals, als den Leuten das erste Mal ein Film gezeigt worden ist und sie tatsächlich sehr krank wurden oder Probleme bekamen, als sie noch mit Anzug im Film saßen. Das ist ein interessanter Aspekt, das bedeutet, wir in unserer menschlichen Evolution werden von neuen Erlebnissen beeinflusst. Ich denke, wir werden uns technisch immer weiterentwickeln, aber dass die damit einhergehenden sensitiven Veränderungen nicht das gleiche Ausmaß haben werden, wie damals, aber dennoch werden sie einen Effekt haben. Ich finde es interessant zu beobachten, wie wir uns als Menschen über die Zeit hinweg gravierend verändern, anfangen Dinge anders zu betrachten und wo wir uns adaptieren müssen und das ist mit dem Technologieaspekt genauso. Interessanter Punkt. Der Mensch muss sich immer wieder anpassen. Im ersten 35 mm Film der Welt von den Gebrüdern Lumière in 1895, gibt es diese berühmte Szene, dass der Zug auf das Publikum zufährt. Bei den ersten Kinovorführungen hat damals das Publikum deswegen Angst bekommen, soweit ich mich erinnern kann. In dieser Szene sind Leute aus dem Kino gelaufen, weil sie Angst hatten, dass der Zug aus der Leinwand herauskommt. Wir finden das heute amüsant und können uns das gar nicht vorstellen. Aber das bedeutet, dass damals der Film zu immersiv für die Menschen war, sodass sie auf diese Weise darauf reagiert haben. Ja, ich denke, dass das Motion-Sickness-Problem in gewisser Art und Weise auch wichtig für die Entwicklung ist. Es gehört dazu, zu erleben, wie unser Körperr mit diesen neuen Reizen umgeht. Und wann wir Kopfschmerzen oder Schwindelgefühle bekommen. Wenn heutige Jugendliche einen älteren Film anschauen, langweilen sie sich, z. B. bei Actionfilmen aus den Siebzigern. Ältere Menschen bekommen wiederum Kopfschmerzen durch den schnellen Schnitt der neuen Action-Blockbuster. Das ist ein interessantes Thema, da könnte man vielleicht auch ein Buch darüberschreiben. Disney hat dieses Jahr eine Augmented-Reality-Experience in einen Blockbuster Film integriert und der Öffentlichkeit vorgestellt. Man bekommt die Möglichkeit „augmented features“ aus dem Film heraus in den realen Wohnbereich zu verlängern, sodass das Storytelling aus dem Display in die reale Welt gelangt. Das ist so ähnlich wie der Zug, der durch die Leinwand in den Kinosaal reinfährt, aber heute freuen sich die großen und kleinen

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Augmented-Reality-Fans, die solche Phänomene seit Pokemon-Go kennen. Es sind ähnliche Verhaltensmuster zu erkennen. Meine Vision, die ich auch meinen Studierenden gerne erkläre, ist: Stellt euch vor, ihr schaut euch einen Krimi an und könnt selber in diesem Film rumlaufen. Dann seht Ihr plötzlich eine Person, die eine Waffe hinter seinem Rücken versteckt hat. Ab diesem Moment hat man immense Möglichkeiten für das Storytelling. Das ist natürlich sehr interessant, wenn es ein Krimi und Actionfilm ist, aber wie wäre es jetzt beispielsweise im Kunstbereich? Was eröffnet das? Welche Mittel eröffnet dies? Es ist nicht nur die Tatsache, dass man jetzt via AR in das Bild sozusagen „reinfahren“ kann, sondern man kann auf ganz anderen Ebenen nochmal dem Bild die Möglichkeit geben, Dinge auszudrücken. Und das ist doch das Tolle für die Künstler, dass sie jetzt sagen können; „Okay, ich habe eine Arbeit und die wird nochmal auf einer anderen Ebene erfahrbar“. Als Betrachter sehe ich wesentlich mehr Variationen des Ganzen und was dahintersteckt. Ich kann als Betrachter auf alles und in alle Richtungen schauen. Der interaktive Film war im Prinzip der erste Versuch. Ich habe Auswahlmöglichkeiten! Die letzte Frage: Was ist eure Vision bzgl. XR und Kunst? Es gibt mittlerweile viele gute XR-Produktionen, die Künstler arbeiten auch fleißig daran, aber dieses Entwickeln der XR-Filme, das Weiterentwickeln in direkter Zusammenarbeit mit den Künstlern, das möchten wir noch mehr verfolgen. Wir sind bereits in einem sehr großen Langzeit-Projekt involviert und ich wünsche mir, dass wir noch mit vielen spannenden Leuten zusammenkommen und mit ihnen neue Formate entwickeln. Diese neue Szene ist ein komplett anderer Bereich, da wünsche ich mir noch viele weitere Projekte, neben dem, was wir bereits schon machen. Ich bedanke mich für das informative Interview und für eure Zeit.

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Das Metaverse, Extended Reality und das Leben in der Virtualität Simon Graff

Zusammenfassung

Die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verschwimmen zusehends. Getrieben durch die fortschreitende Digitalisierung und nicht erst seitdem das Schlagwort Metaverse in den Medien omnipräsent ist, verbringen Millionen von Menschen ihre Zeit in virtuellen Welten. Als Avatare besuchen sie Orte der Kommunikation, des Entertainments, des Konsums und der Kreation. Während die Ursprünge dieser Entwicklung im Kern zutiefst menschlich sind, zeichnen sich die Tendenzen der Auswirkungen auf unser virtuelles Leben und die Gesellschaft erst langsam ab. Die wachsende Relevanz und Verbreitung von XR-Schlüsseltechnologien, wie Virtual Reality, wird diese Art von Erfahrungen noch deutlich intensivieren und eine neue Form von virtuellem Lifestyle an der Schnittstelle zwischen Realität und Virtualität prägen, der sich bereits heute an verschiedenen Beispielen erahnen lässt.

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Metaverse: Hintergrund, Herkunft und Status Quo

Spätestens seitdem Facebook-Gründer Mark Zuckerberg dem US-Konzern Facebook mit Meta nicht nur einen neuen Namen, sondern eine gänzlich neue Ausrichtung gab, ist das Wort Metaverse ein geläufiger Begleiter in den Medien und vielen Industrien. In einer 90-minütigen Keynote – einer inhaltichen Tour de Force zum Thema XR – eröffnete Zuckerberg am 28. Oktober 2021 vielen Menschen und Mitbewerber:innen die Neuausrichtung seines Unternehmens. Zuckerberg zeichnet ein umfassendes Bild der virtuellen S. Graff (B) Next Reality HH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Likafu und C. Malterer (Hrsg.), Extended Reality in Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Medien, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42441-1_24

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Zukunft, in der er ein Konglomerat an Technologien und Trends in einer ganzheitlichen Vision, dem Metaverse, vereint. Ein Spektrum unterschiedlichster Technologien und Trends, wie Virtual Reality, Augmented Reality, Avatare, Identitäten und neue Formen von Kommunikation und Commerce spielen für Meta eine integrale Rolle dessen, wie der Konzern die Kommunikation der Zukunft betrachtet. Zentral ist für das Unternehmen vor allem, wie diese Entwicklung unser Leben in allen Bereichen, von Arbeit, über Bildung bis zur Unterhaltung, nachhaltig beeinflussen wird (Meta, 2021). Für Branchenkenner war diese Entwicklung, die spätestens mit der Akquisition von OculusVR durch Facebook im Jahr 2014 als hypothetische künftige Ausrichtung des Konzerns wahrgenommen wurde, nicht gänzlich unerwartbar, jedoch in ihrer Konsequenz und Intensität überraschend: Der größte Social-Media-Konzern der Welt wandelt sich in eine „Social Technology Company“ (Meta, 2021) und verschreibt sich unter der Vision des Metaverse der nächsten Generation des Internets und einem Paradigmenwechsel in der MenschComputer-Interaktion – weg vom „klassischen” Bildschirm, hin zum Spatial Computing via Extended-Reality-Technologien. Auffällig ist der Ursprung des Begriffs Metaverse, der aus dem 1992 erschienenen Roman Snow Crash von Neal Stephenson stammt. In dieser Cyberpunk-Narration beschreibt das Metaverse einen Virtual-Reality-basierten Nachfolger des Internets, in dem Nutzer:innen mit Avataren interagieren und primär vor der dystopischen Realität flüchten (Stephenson, 1992). Die internationale Presse reagierte auf diesen Umstand mit einer Mischung aus Verwunderung und Kritik, sowie mit der Frage, ob dies die Zukunft sei, die Zuckerberg und sein Team sich wünschten (Huddlestone, 2021). Selbstverständlich zeichnen Zuckerberg und seine Firma in ihrer Präsentation die Entwicklung deutlich positiver und positionieren die eigenen Anwendungen und Lösungen als Ergänzung und nicht als Substitut der Realität (Meta, 2021). Als wissenschaftliche, distinkte Definition ist die Beschreibung des Metaverse nach Stephenson schwer verwertbar. Der US-Investor und Metaverse-Experte Matthew Ball stellt das Phänomen Metaverse auf ein breiteres definitorisches Fundament. Er beschreibt das Metaverse als ein persistentes, skalierbares, live-berechnetes, interoperables Netzwerk virtueller, dreidimensionaler Welten (Ball, 2022, S. 29), das jedoch nicht zwangsläufig an das Medium der Virtual Reality gekoppelt ist, sondern ebenfalls durch andere Endgeräte rezipiert und damit erlebt werden kann (Ball, 2022, S. 35 f.) Vielen älteren Leser:innen könnte das Phänomen Metaverse in diesem Kontext bereits bekannt vorkommen. In Form von Second Life entwickelte sich zwischen 2003 und 2008 ein Hype um eine 3D-Social-Plattform, die viele der damaligen wirtschaftlichen Akteur:innen anzog, die daraufhin virtuelle Präsenzen und Erfahrungen auf der Plattform einrichteten. Second Life galt als die Zukunft des Internets und der Kommunikation. Eine virtuelle Ökonomie, Präsenzen von Mode- und Medienmarken, virtuelle Events, eine virtuelle Welt mit unlimitierten Business-Potenzialen (Terdiman, 2008, S. 10 f.), bis die Plattform an Relevanz verlor, weil sie die hochgesteckten Erwartungen nicht erfüllen konnte. Viele Parallelen zu den heutigen Metaverse-Trends sind direkt erkennbar. Trotz

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dieser sich mutmaßlich wiederholenden Geschichte, ist die Ausgangslage heute eine gänzlich andere: Computer und Internetzugang sind demokratisiert, das Mobiltelefon hat die Art und Weise, wie das Internet genutzt wird, massiv verändert. Aller Kritiken und validen, offenen Fragen zum Trotz räumt Bloomberg dem wiederkehrenden Trend Metaverse als neuer, holistischer Tech-Plattform ein enormes wirtschaftliches Potenzial ein, welches mit 800 Mrd. US$ beziffert wird (Bloomberg, 2021). Zentral für die Einordnung dieser Bewertung ist jedoch, dass Meta nicht alleine am Metaverse bzw. im Bereich des Spatial Computing arbeitet. Unternehmen rund um die Welt, Microsoft, EPIC Games, NVIDIA, Niantic, Google, sowie die chinesischen Akteure Alibaba, Tencent und Baidu arbeiten an eigenen Lösungen für “das Internet der Zukunft” (Ball, 2022, S. 18 f.). Ein weiterer Aspekt ist zudem, dass einige Elemente des künftigen Metaverses bereits existieren und bewertet werden können. Der aktuelle Status der Erlebbarkeit des Metaverse wird oft unterschätzt und die Bedeutung des Wortes selbst in seiner Einordnung als Vision eher überschätzt – insbesondere in Hinblick auf den Status Quo der aktuellen Technologien, Trends und Verhaltensmuster und Konsumgewohnheiten von Nutzer:innen. Viele Belege hierfür lassen sich bereits in unserer heutigen digitalen Realität finden. Auf Videospiel- und Social-3D-Plattformen wie Fortnite, Roblox, Minecraft oder Zepeto lässt sich bereits heute erfahren, wie 3D-basierte Kommunikation von Menschen untereinander und Interaktion mit digitalen Experiences und Konsumgütern aussehen kann. Die besagten Plattformen verfügen über viele Millionen Nutzer:innen, erleben virtuelle Konzerte der Superlative, netzwerken in globalen Communities, kaufen virtuelle Güter und unterstützen Creators, die bereits heute vom Erstellen digitaler Inhalte auf besagten Plattformen ihren finanziellen Lebensunterhalt bestreiten können (Huddlestone, 2021). Nicht umsonst werden diese Plattformen oft als “Proto-Metaverses” tituliert, denn für die Nutzer:innen dieser Plattformen sind Teile der von Zuckerberg proklamierten Zukunft längst alltäglich.

24.2

Extended Realities: Schlüsseltechnologien des Metaverse

Relevant für die künftige Entwicklung besagter Plattformen und damit für die Vision des Metaverse, sind die eingangs erwähnten Schlüsseltechnologien aus dem Bereich des Spatial Computing: Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR), innerhalb der jeweiligen Industrien oft unter dem Sammelbegriff Extended Reality (XR) zusammengefasst, bilden nutzungsseitig den idealen Modus Operandi des Metaverse – zumindest wenn es nach den Visionen der relevanten, involvierten Unternehmen geht. Idealerweise werden diese Medien über entsprechende Head-Mounted-Displays (HMD) oder Datenbrillen rezipiert und intensivieren die immersiven Erlebnisse, erlauben einen dreidimensionalen Blick in die virtuelle Welt und via dedizierter Controller oder Hand-Tracking einen natürlicheren Umgang mit virtuellen Inhalten, als es über einen zweidimensionalen Bildschirm möglich ist (Ball, 2022, S. 33 f.).

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Idealerweise zu verstehen sind die Technologien als Teil eines graduellen Spektrums des Spatial Computings, auf der sie von einem Extrem, der reinen Virtualität, bis hin zur Realität zu verordnen sind (Milgram & Kishino, 1994). VR steht für das komplette, immersive “Abtauchen” der Nutzer:innen via HMD in live-berechnete, virtuelle Welten, in denen diese sich tatsächlich „vor Ort“ befinden und mit Menschen und Inhalten interagieren können (Jerald, 2016, S. 6 f.). AR und MR hingegen sind Mischformen, die digitale Inhalte in die physische Realität projizieren (Hackl et al., 2022, S. 4 f.), wie z. B. Navigationsrouten (Google Maps) oder Inhalte von Spielen (Pokémon Go). Oft werden beide Begriffe, die nach Milgram und Kishino Überschneidungen aufweisen, synonym und nicht distinkt verwendet. Andere Definitionen differenzieren, was den Rezeptionsmodus (Datenbrille vs. Smartphone) oder die Datengenauigkeit bzw. die physikalische Korrektheit der Einblendungen (Overlay vs. Projektion) betrifft, weswegen im weiteren Verlauf dieses Kapitels der Verständlichkeit halber die Kombination AR/MR als synonyme Abkürzung verwendet wird. Alle XR-Ansätze stehen für eine neue Ära des Internets, welche Räumlichkeit in den Fokus rückt. Ob bei rein virtueller Kommunikation oder Interaktion (VR) oder in Nutzungsszenarien, welche Realität und virtuelle Inhalte (AR/MR) vermischen, die Rezeption via XR-Devices intensiviert diese Nutzungsszenarien. Viele dieser Elemente lassen sich dennoch bereits heute erleben, ihre Verbreitung im Massenmarkt wäre demnach mehr als eine Evolution, denn als eine Revolution zu werten (Ball, 2022, S. 60 f.). Besonders erwähnenswert ist, dass Meta als “Social Technology Company” beide Enden des Spektrums bereits heute mit seinen Anwendungen und Lösungen im Bereich Software, wie auch Hardware, besetzt (Meta, 2021). Speziell unter VR-Konsument:innen ist Meta mit mutmaßlich 15 Mio. verkauften Einheiten des Meta Quest 2 HMD ohne nennenswerte Konkurrenz. Eine offizielle Bestätigung dieser Zahlen seitens Meta gibt es zwar nicht, dennoch lässt sich die vorherrschende Stellung von Meta in diesem Segment nicht leugnen und über diverse Quellen wie Nutzungsstatistiken und Software-Verkäufe belegen (Graham, 2022). Weitere technologische Ansätze und Perspektiven, die aktuell oft mit dem Metaverse gleichgesetzt werden, aber eher technisch-infrastrukturelle Themenkomplexe tangieren, wie z. B. web3.0, NFTs oder Blockchain-basierte dezentrale Social-3D-Plattformen wie Decentraland, The Sandbox oder Cryptovoxels, können an dieser Stelle aus Gründen des thematischen Fokus und Umfangs des Kapitels nicht in der relevanten Tiefe behandelt werden und werden daher bewusst vom Autoren weitestgehend ausgeklammert und nur kontextuell, exemplarisch integriert.

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24.3

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Menschliche Bedürfnisse im Fokus des Metaverse

Ein häufiger Trugschluss bei der Betrachtung von Medien und Technologien ist es, die menschlichen Bedürfnisse, die durch selbige erfüllt werden können, im Diskurs zu vernachlässigen. Insbesondere in Hinblick auf eine potenzielle, weitere Verbreitung von XR-Endgeräten und damit die Intensivierung des generellen Nutzungserlebnisses im Metaverse und seinen Plattformen, wäre dies fatal. Innerhalb der letzten Dekade hat das Differential der Wahrnehmung der Zustände von Online und Offline massiv abgenommen und das Nutzungsverhalten im Internet durch mobile Konnektivität und Always-onMentalität radikal verändert. Diese Entwicklung wird sich im Metaverse fortsetzen, die Erwartungshaltung der Nutzer:innen und deren Bedürfnisse zu verstehen und zu bedienen, wird ein relevanter Erfolgsfaktor für Kommunikation im Metaverse (Ball, 2021). Digital-native Generationen wie Gen Z und Alpha erwarten auf “ihren” Plattformen wie Roblox oder Fortnite ganzheitliche Erlebnisse, kaufen virtuelle Gegenstände und erleben gemeinsam mit einem globalen Publikum Events ihrer Idole. Während ältere Generationen die progressive Entwicklung dieser Art ggf. nicht vollziehen können, primär, weil sie diese nicht selbst erleben, werden derartige Entwicklungen und Verhaltensmuster oft als negativer Aspekt bzw. Einfluss von Technologie gewertet. Dabei handelt es sich trotz der Aktualität des Phänomens Metaverse im Internet-historischen Kontext bereits um ein wiederkehrendes Muster, das bei Second Life und anderen Internet-Applikationen davor beobachtet werden konnte (Terdiman, 2008, S. 10 f.). Der Ursprung dessen und parallel essentiell zu verstehen ist, dass diese menschlichen Verhaltensweisen durch Technologien nicht neu erfunden wurden, sondern über eben jene Technologien und Medien ausgelebt und ggf. verstärkt werden können: Freundschaften finden, pflegen, kommunizieren und Erlebnisse teilen – virtuell, über große Distanzen, auf globaler Ebene, aber auch mit Freunden und Bekannten. Menschen als soziale Lebewesen sehnen sich nach exakt diesen Erfahrungen, suchen im realen, wie im virtuellen Raum nach Nähe, Austausch bis hin zu Intimität (Rubin, 2018, S. 115 f.). Ein weiterer zentralerer Aspekt ist das Ausleben der eigenen Individualität über Avatare und virtuelle Kleidung. Parallel findet, bei aller Sehnsucht nach Nähe, so jedoch Abgrenzung statt. Der eigene Individualismus und damit die Selbstdarstellung rücken in den Fokus für viele Nutzer:innen. Das virtuell gesammelte Prestige und die Bestätigung strahlen auf das Selbstbewusstsein der Nutzer:innen ab, über die Grenzen des virtuellen Raums hinaus (Van Rijmenam, 2022, S. 47 f.). Diese Entwicklung hat allerdings auch eine Kehrseite: Seit 2019 häufen sich Berichte, dass Nutzer:innen, die in dem Videospiel Fortnite lediglich mit einem gratis verfügbaren “Basis-Avatar” unterwegs sind, im realen Leben gemobbt wurden. Eine traurige Analogie zu Verhaltensmustern im Kontext Markenkleidung, die wir bereits aus dem echten Leben kennen (Hernandez, 2019). Ebenfalls in den Diskurs zu inkludieren sind komplexe soziale Effekte wie die Entstehung neuer “Filterblasen” bzw. “Filterwelten”, die sich bereits jetzt abzeichnen. Bezeichnend hierfür

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ist die Entwicklung einer Welt auf der 3D-Social-Plattform Roblox, in welcher jugendliche Spieler:innen ein faschistisches Welt und Werte-System erschufen und bespielten. Mit Menschen erster, zweiter und dritter Klasse und drakonischen Strafen, bis die virtuelle Welt letztlich seitens der Moderation des Plattform-Betreibers Roblox nach einigen Monaten deaktiviert wurde (D’Anastasio, 2021). Wie die meisten Internet-Nutzer:innen aus eigener Erfahrung mit Social Media wissen, wird es weitere Filterwelten geben, die Frage ist, wie gesellschaftlich mit dieser Entwicklung umgegangen werden kann. Die Relevanz von Medienkompetenz und der Wille der Eltern sich damit auseinanderzusetzen, was ihre Kinder im virtuellen Raum rezipieren, mit wem sie virtuelle Erlebnisse teilen, wird in diesem Kontext noch wichtiger und dürfte im Diskurs um die nächste Generation des Internets eine kritische Rolle spielen. Insgesamt sollte die Kommunikation in virtuellen Welten, ob via Bildschirm oder XRTechnologie, als weiterer, ergänzender Kanal in unserer bereits bestehenden digitalen, zwischenmenschlichen Kommunikation gewertet werden. Ein Kanal, den wir akzeptieren und einzuschätzen lernen müssen, inkl. aller positiven, aber auch negativen Aspekte und Effekte. Im Metaverse ist die Welt nicht schwarz oder weiß, sondern menschlich.

24.4

Auswirkungen auf den virtuellen Lebensstil

Wie in den vorherigen Abschnitten thematisiert, lassen sich schon heute vielfältige Elemente und Effekte der Kommunikation in virtuellen Welten, speziell in Hinblick auf Trends, Nutzungsverhalten, -bedürfnisse und -erwartungen, und damit potenziell sogar unser virtuelles, soziales Miteinander der Zukunft antizipieren. Die unter Abschn. 24.1 erwähnten „Proto-Metaverses”, wie z. B. Fortnite und Roblox gelten in diesem Kontext als exemplarisch. Täglich verbringen viele Millionen Menschen ihre Zeit dort, nicht nur zum Spielen, sondern auch, um diese Form von räumlicher, sozialer Interaktion zu erleben. Mit über 80 Mio. monatlich aktiven Nutzer:innen auf Fortnite (Iqbal, 2022), über 50 Mio. täglich aktiven Nutzer:innen auf Roblox (Statista, 2022) gelten beide Plattformen als hochgradig relevante Plattformen für die Analyse und Beobachtung der oben genannten Trends und Parameter. Wie interagieren, konsumieren, erleben die Nutzer:innen die virtuellen Welten, wie gestalteten sie diese mitunter selbst, wie interagieren sie als Avatare, wo findet Wertschöpfung im Rahmen virtueller Güter statt, wie resonieren bestimmte Event-Konzepte. All diese Entwicklungen lassen sich perfekt auf diesen Plattformen beobachten und die Erkenntnisse für die Konzeption und Optimierung aktueller wie kommender Metaverse-Plattformen nutzen. In den kommenden Abschnitten soll anhand konkreter Beispiele detaillierter beleuchtet werden, welche Auswirkungen einzelne der zuvor erwähnten Dimensionen, Trends und Phänomene auf den digitalen Lebensstil, die Kommunikation, Interaktion oder auch das Konsumverhalten der Nutzer:innen haben und wie sie sich entwickeln.

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24.4.1 Avatare, die Leinwand unserer virtuellen Identität Eine zentrale Rolle, gerade im Hinblick auf das unter 3. erwähnte Bedürfnis nach Individualität, spielen die Avatare von Nutzer:innen. Avatare gelten als virtuelle Repräsentation unserer eigenen Person, mit ihnen erkunden wir virtuelle Welten im dreidimensionalen Raum. Das Konzept ist seit vielen Jahrzehnten im Bereich von Videospielen weit verbreitet und inzwischen verstärkt im Rahmen allgemeiner, virtueller Kommunikation, auch in vom Spiel gelösten Kontexten anzutreffen. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Lösungen, ebenso wie unterschiedlichste Visualitäten. Von fotorealistischen Darstellung, über leicht stilisierte, fast comichaft anmutende Varianten, bis hin zu abstrakten Konzepten (z. B. der Repräsentation der eigenen Person als Wolke oder Möbelstück) – der Fantasie der Macher:innen und Nutzer:innen im virtuellen Raum sind theoretisch keine Grenzen gesetzt. Sie sind das Epizentrum unserer virtuellen Identität, der erste Eindruck, den andere Nutzer:innen von uns gewinnen. Sie können als Projektionsfläche dessen, wie wir im echten Leben aussehen, dienen, aber genauso darstellen, wie wir uns empfinden oder gerne aussehen würden, um so tiefgehende, individuelle Bedürfnisse jenseits der realen Möglichkeiten zu erfüllen (Van Rijmenam, 2022, S. 47 f.). Einer der relevantesten Anbieter von Metaverse-Avataren ist das estnische Startup Ready Player Me (RPM). Nach eigenen Angaben unterstützt die “Cross-App Avatar Platform” inzwischen über 3.000 unterschiedliche Applikationen und Plattformen. Die Idee der Firma ist dabei vergleichsweise einfach. Durch das Hochladen eines Fotos können Nutzer:innen vollautomatisiert einen stilisierten Avatar von sich erstellen lassen, sowie diesen im Nachhinein ihren Wünschen anpassen. Diese Avatare lassen sich dann bei allen Partner-Plattformen des Unternehmens ohne viel technisches Know-how integrieren. Ein interoperabler Ansatz, dem viel Potenzial innewohnt, gerade für die Macher:innen virtueller Güter, wie z. B. am Avatar getragener, virtueller Mode. Diese können, basierend auf der Verbreitung und Skalierung von RPM, wiederum ihre eigenen Kollektionen auf viele Plattformen skalieren, ohne in individuelle Verhandlungen mit den jeweiligen Betreiber:innen gehen zu müssen – RPM fungiert an dieser Stelle als Multiplikator und Gatekeeper gleichermaßen (Ready Player Me, 2022). Einen ähnlichen Ansatz verfolgte, bis vor kurzem, das US-Startup Genies, welches das Thema Individualität, aber auch Partnerschaften mit internationalen Berühmtheiten, wie Justin Bieber, in den Vordergrund stellte. Zudem waren Marken wie Gucci auf dem offiziellen Marketplace vertreten und eine offizielle Partnerschaft mit der Universal Music Group wurde ausgehandelt, um Künstler:innen aus dem Repertoire des Publishers im Metaverse zu vertreten. Der Fokus der Firma hat sich jedoch noch mehr Richtung Individuum gewandelt. Künftig will das Startup mit ihren “Avatar Ecosystems” Nutzer:innen und auch andere gewinnen, kreativ im Kontext der Individualität, Avatare und Mode zu interagieren – und diese Kreativität zu monetarisieren (Genies, 2022). Diese breit angekündigten Möglichkeiten der unlimitierten Selbstdarstellung werden, je nach System und Plattform, jedoch stark eingegrenzt. So fand das Londoner

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Institute of Digital Fashion im Rahmen ihrer Studie “My Self, My Avatar, My Identity – Diversity and Inclusivity within Virtual Worlds” heraus, dass die Optionen der Avatar-Gestaltung vieler Systeme oftmals bestimmte Personengruppen nicht berücksichtigen würden, beispielsweise BIPOC, geschlechter-diverse Menschen oder Menschen mit Behinderungen. Folglich fühlten sich entsprechende Teilnehmer:innen der Studie, aufgrund der technisch-kreativen Nichtberücksichtigung seitens der Programmierer:innen, nicht korrekt im Metaverse repräsentiert (Institute of Digital Fashion, 2021, S. 40 f.). Bei den Themen Inklusion und Diversität gibt es demnach im echten, wie im virtuellen Leben Handlungsbedarf.

24.4.2 Social Spatial Communication Das größte Potenzial von XR-Technologien sehen viele Expert:innen in der räumlichen Kommunikation, die mit ihr möglich ist. Diese Form von Kommunikation spielt eine große Rolle in der Vision vieler Metaverse-Akteure, wie Meta, aber auch Microsoft. Das Differential zur klassischen “2D Social” Communication, via z. B. dem üblichen Zoom-Call, den viele speziell aus der Pandemie kennen, ist immens. Die immersive Darstellung von Avataren im virtuellen Raum, rezipiert via HMD, live berechnet, akustisch korrekt, räumlich und interaktiv, weckt den Eindruck, als würden Personen sich zeitgleich in einem Raum befinden, obwohl physisch zwischen ihnen theoretisch die ganze Welt liegen könnte. Die nächste Stufe von interpersoneller Kommunikation kann mit aktueller VR-Hardware, wie der Meta Quest 2, eindrucksvoll erlebt werden (Rubin, 2018, S. 107 f.). Aktuell findet die meiste Kommunikation in virtuellen Welten jedoch auf 2DBildschirmen statt. Die zuvor erwähnten “Proto-Metaverses” belegen durch ihre hohen Nutzungszahlen jedoch, dass diese Form der, speziell von den dort vertretenen, tendenziell jüngeren Nutzer:innen, auch in der Breite angenommen wird (Iqbal, 2022). Auch die Plattform RecRoom, ursprünglich eine reine Social-VR-Plattform, also nur mit VR-HMD nutzbar, verfügt inzwischen über 1 Million monatlich aktive, dedizierte VR-Nutzer:innern. Hinzu kommen zwei Millionen weitere Nutzer:innen, welche auf die Plattform, die sich im Laufe der Jahre für eine Multi-Device-Strategie öffnete, mit anderen Endgeräten zugreifen (Takashi, 2022a). Eine Tendenz, die sich ebenfalls auf der VR-nativen und oft kritisierten Plattform Meta Horizon Worlds abzeichnet: Die Metaverse-Plattform von Meta schaffte es in einem halben Jahr auf über 300.000 monatliche aktive Nutzer:innen – obwohl diese nur mit einem VR-HMD und nur in den USA und Kanada für Nutzer:innen verfügbar war (Heath, 2022). Dass die Nutzungszahlen von Horizon Worlds steigen werden, gilt als wahrscheinlich. Inzwischen fand der Rollout der Plattform in das Vereinigte Königreich, in Frankreich sowie in Spanien statt. Zudem soll Horizon Worlds künftig

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ebenfalls einer Multi-Device-Strategie folgen. So wird die Plattform für andere Endgeräte und Nutzer:innen ohne VR-HMD geöffnet und egalisiert so die Limitation der Skalierbarkeit durch die vergleichsweise geringe Verbreitung von VR-HMD. Eine Randnotiz: Die dezentralen Metaverse-Plattformen Decentraland und The Sandbox, die viel mediale Aufmerksamkeit für Millionen-Beträge, die in diese investiert wurden, erhielten, liegen mit je knapp 30.000 monatlich aktiven Nutzer:innen deutlich hinter den oben aufgeführten Beispielen (Wagner, 2022). Trotz der technisch niedrigen Einstiegshürden, bleiben sie den Beleg ihrer Relevanz aus Nutzungsperspektiven weiterhin schuldig. Beispiel

Der Verband nextReality.Hamburg, den der Autor mitgründete, pflegte bis zum Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 diverse Event-Formate. Diese mussten zunächst pausieren, bis sich das Veranstaltungsteam entschied, die Events auf der VR-Plattform AltspaceVR von Microsoft durchzuführen. Diese war zum damaligen Zeitpunkt via VR-Headsets und Desktop-Computer erreichbar, also vergleichsweise niedrigschwellig. Zudem wurden die Events live gestreamt (Facebook u. YouTube), um möglichst vielen Menschen eine Teilhabe zu ermöglichen. Am ursprünglichen Format einer Paneldiskussion mit bis zu 4 Teilnehmer:innen, mit anschließender Q&A-Session und Networking, wurde nichts geändert. Die Teilnehmer:innen lobten das Präsenzgefühl auf der Bühne, aber vor allem auch beim Networking, das sich in seiner Räumlichkeit, speziell mit VR-HMD, sehr natürlich anfühlte (nextReality, 2021).

24.4.3 Virtuelle Entertainment und Eventkultur Die Avatar-basierte Form von Interaktion, das Socializing und die alltägliche Kommunikation wurden bereits in den vorhergehenden Abschnitten thematisiert und werden, nachweislich, von einer großen Anzahl Nutzer:innen regelmäßig genutzt. Betrachtet man vertiefend die weiteren Aktivitäten auf den genannten Plattformen, kann der Themenkomplex von virtuellen Events und speziell virtueller Konzerte nicht ignoriert werden. Ein populäres Beispiel aus der Modebranche, war die diesjährige Metaverse Fashion Week (MVFW), die auf Decentraland stattfand. Über 70 Modemarken präsentierten sich mit eigenen virtuellen Ständen, Installationen als Marke oder im umfassenden Programm des Events als Speaker:innen, auf Runway-Shows und Panels. Trotz einer breiten Berichterstattung in Mode-Fachmagazinen, aber auch darüber hinaus, war die Resonanz der Teilnehmer:innen gemischt, die technischen Unzulänglichkeiten der Plattform störten das

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ganzheitliche Erlebnis massiv. Knapp über 100.000 Nutzer:innen fanden den Weg zum virtuellen Event (McDowell, 2022). Deutlich populärer sind hingegen die Auftritte von internationalen Stars wie Travis Scott, Marshmello oder Ariana Grande auf z. B. Fortnite. Seit Jahren, auch vor dem massiven Nutzungszuwachs durch die Pandemie, wachsen die Zahlen der Teilnehmer:innen (Statista, 2020). Kaum ein musikalisches Event verzeichnet unter 10 Mio. Besucher:innen, parallel. Diese werden aus technischen Aspekten in kleine Gruppen, sogenannte Instanzen, von 100 Besucher:innen unterteilt. In Summe dennoch eine beeindruckende Zahl, die in kein reales Stadion passen würde und klar aufzeigt, wie groß das Skalierungspotenzial von virtuellen Events tatsächlich ist. Die kreativen Ansätze dieser Events reichen von megalomanischen Fantasien, über den Tanz mit den eigenen Idolen als Riesen bis hin zu abstrakten Weltraumflügen – Dinge, die im echten Leben nie möglich wären, die die Faszination der Nutzer:innen immer wieder wecken und diese so zur Partizipation auf den jeweiligen Plattformen animieren (Wong, 2022). Auch Meta hat in diesem Feld offensichtliche Ambitionen und das nötige Kapital für aufsehenerregende Kooperationen. Die ursprünglich separate VR-Plattform Horizon Venues wurde inzwischen in Horizon Worlds integriert und wird mit Live-Auftritten oder zumindest Aufzeichnungen von Musiker:innen wie u. a. Billie Eilish, Steve Aoki oder Post Malone und auch Sportübertragungen wie NBA-Matches, mit hochwertigen Inhalten versorgt und gezielt als VR-Event-Plattform positioniert (Malik, 2022). Wie relevant die Entwicklung um virtuelle Events in den vergangenen Jahren geworden ist, zeigt sich am Beispiel der MTV Video Music Awards, die mit der Kategorie “Best Metaverse Performance” in diesem Jahr eine eigene Kategorie für derartige MetaversePerformances etablierten (Kuhnke, 2022). Neben einem Auftritt der US-amerikanischen Rapper Snoop Dogg und Eminem (Quiroz-Gutierrez, 2022), waren in der neuen Kategorie u. a. Ariana Grande (Fortnite), Charie XCX (Roblox), Justin Bieber (Wave) und die südkoreanische Boygroup BTS (Minecraft) nominiert. Eine Vielfalt an Akteur:innen und Plattformen, die sehr gut abbilden, wie musikalisch und technisch divers und vor allem relevant Auftritte im Metaverse sein können bzw. bereits heute sind (Kuhnke, 2022).

24.4.4 Konsum und Kreation: Wertschöpfung in der Direct-2-Avatar-Ära Avatare benötigen Kleidung – aus diesem Ansatz ist in den letzten Jahren eine riesige Industrie entstanden. Sogenannte Virtual Goods, rein immaterielle Güter, wie Skins, virtuelle Mode und andere Gegenstände, die keinerlei spielerischen Vorteil gewähren, sondern nur die Optik der Avatare verändern, sind bereits ein Multi-Milliarden-Markt. Direct-2Avatar (D2A) als Analogie zu Direct-2-Consumer-Modellen etabliert sich als Begriff für

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die rein virtuelle Wertschöpfungskette (Hackl, 2020). Die Ökonomie um Avatare, virtuelle Güter und Experiences macht ein Gros der Umsätze von Plattformen wie Fortnite und Roblox aus (Ganti, 2020). Aus Nutzungssicht hat diese Entwicklung verschiedene Seiten, die relevant sind: Der Konsum und die Kreation. Eine große Rolle spielen beim Konsum bspw. offizielle Kollaborationen mit großen Marken, u. a. Gucci, Balenciaga, aber auch die NFL sind auf den genannten Plattformen vertreten. Allein die NFL-Kollektion, virtuelle Varianten der Trikots der Teams der amerikanischen Football-Profiliga NFL, generierte über 50 Mio. US$ für das Unternehmen Epic Games, das Entwicklungsstudio hinter Fortnite (Tassi, 2021). Verkauft werden virtuelle Güter oft in Preiskategorien zwischen 0,99 e bis 19,99 e; skaliert durch die immensen Nutzerzahlen generieren die Kollektionen dann hohe Umsätze. An dieser Stelle zeigt sich erneut die Verzahnung von Realität und Virtualität und wie virtuelle Güter reales Kaufverhalten und auch Prestige-Denken wecken können. Die Kreation von Inhalten ist der nächste kritische Aspekt für den Erfolg der „ProtoMetaverses”. Speziell auf Roblox werden fast alle Inhalte, ob Experiences oder virtuelle Güter, von der Community selbst erstellt und verkauft. Eine prototypische MetaverseÖkonomie, wie es sie, in deutlich kleinerer Variante, bereits in Second Life gab. Die Top-Creator sammeln Millionen von Follower:innen auf Roblox: Fans, die deren virtuelle Produkte kaufen und den Creators somit, wie bei anderen Sozialen Medien, den Lebensunterhalt einspielen können. Nicht die Regel, aber ein guter Indikator, wohin sich dieser Markt mit wachsender Relevanz der virtuellen Ökonomien entwickelt, ist der 22jährige US-Amerikaner Samuel Jordan, der als Designer mit seinen virtuellen Gütern monatlich 90.000 US$ verdient und Kollaborationen mit großen Modemarken wie Burberry vorzuweisen hat (Wang, 2022). Auf der anderen Seite der virtuellen Welt, auf der südkoreanischen Metaverse-Plattform Zepeto, die Roblox ähnlich ist, verdient die 28jährige Kanadierin Monica Quin ebenfalls eine sechsstellige Summe – ohne vorher einen großen Namen oder Kontakte auf der Plattform gehabt zu haben. Die Menschen würden ihre Designs lieben und sie liefere stetig nach, so ihre Aussage (Mozée, 2021). Beide gehören zu den Top-Verdienern ihrer Plattformen, stehen also nicht exemplarisch für die durchschnittlichen Creator auf selbigen. Beide Beispiele belegen jedoch, wie viel wirtschaftliches Potenzial in der rein virtuellen D2A-Ökonomie auf Plattformen mit großer Nutzerschaft liegen kann. Die unter 4.2. erwähnte Plattform RecRoom ermöglicht ihren Nutzer:innen eine ähnliche Wertschöpfungskette, zahlte im ersten Quartal des Jahres 2022 erstmals 1 Mio. US$ an die Top-Creator (kumuliert) aus (Takashi, 2022b). Auch der angesprochene Pivot des US-Startups Genies hat den unter 4.1. thematisierten Kurswechsel der Firma, hin zu einem Community-fokussierten „Avatar-Creation-Ökosystem“, mutmaßlich auf Basis dieser Entwicklungen bei der Konkurrenz gewählt. Mit scheinbarem Erfolg oder zumindest attestierten Vertrauen seitens der Investor:innen: In der letzten Finanzierungsrunde sammelte das Unternehmen, basierend auf einer Firmenbewertung von 1 Mrd. US$, insgesamt 150 Mio. US$ an frischem Kapital ein (Takashi, 2022a).

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Wie essentiell der Ansatz der Kombination von Community-basierter Kreation und Konsumverhalten für die Wertschöpfung ist, hat selbstverständlich auch Meta erkannt (Mitchell, 2022). Nicht nur stehen auf der Meta-eigenen Plattform Horizon Worlds mächtige Creator-Tools zum Erstellen virtueller Inhalte im zentralen Fokus, Creator sollen diese selbst erstellten Inhalte ebenfalls monetarisieren können. Unterstützt wird dieses Vorhaben mit einem 10 Mio. US$ Creators Fund, der Top-Creator ansprechen soll. Allerdings plant Meta ebenfalls, 48 % der Creator-Umsätze als Plattformgebühren einzubehalten, wofür es seitens der Creator-Community massive Kritik gab (Peters, 2022). Auch ein offizieller Meta-Avatar-Fashion-Store wurde bereits angekündigt, zu den offiziellen Partnern gehören neben großen, bekannten Modemarken wie Balenciaga oder Prada auch das relativ unbekannte „Virtual fashion only”-Label DRESSX (Hirschmiller, 2022). Unternehmen wie DRESSX, THE FABRICANT, aber auch das Hamburger Unternehmen ABOUT YOU mit ihrem Projekt HYPEWEAR, lassen die Grenze zwischen Virtualität und Realität endgültig verschwimmen. Sie bringen den Trend von virtueller Mode in unsere Realität und kombinieren reale Bilder der Käufer:innen mit rein virtuellen Kollektionen. Käufer:innen shoppen, wie sie es im Web gewohnt sind, am Browser, erwerben den virtuellen Gegenstand, laden ein Foto von sich hoch, auf dem sie diesen tragen wollen – und erhalten das modifizierte Bild inkl. virtueller Mode zurück (Schroder, 2022). Ein Ansatz, der aktuell über händische Anpassung durch 3D-Designer:innen erfolgt, aber perspektivisch auch via Künstlicher Intelligenz und AR/MR automatisiert werden wird, wie z. B. die DRESSX mit ihrer Metacloset App bereits aufzeigen (DRESSX 2022) – und damit die Skalierbarkeit des Ansatzes “virtuelle Mode für alle” deutlich erhöht und damit viele neue Nutzer:innen ansprechen wird. Die Virtualität gewinnt reale Wertigkeit, weckt reale Kaufbedürfnisse, löst Prestigedenken aus und generiert große Umsätze – und die Grenzen zwischen Realität und Virtualität verschwimmt zunehmend, insbesondere durch die weitere Verbreitung von XR-Endgeräten. Diese könnten virtuelle Güter, ob Mode oder Dekorationsgegenstände, live projiziert auf Menschen oder in Räume erlebbar und noch deutlich relevanter machen, als sie derzeit bereits sind.

24.5

Fazit und Ausblick

Aktuell beschreibt das Metaverse primär eine Vision. Eine Vision, deren einzelne Elemente und Einflüsse auf unsere Kommunikation und virtuelles Miteinander sich allerdings bereits heute greifen lassen – an exemplarischen „Proto-Metaverses” und den auf ihnen gelebten Trends. Für viele Millionen Nutzer:innen ist das Metaverse in jener Form in gewisser Weise bereits eine alltägliche Realität, ein Ort der Kommunikation, des Entertainments, des Konsums und der Kreation. Eine kombinierte Betrachtung der in diesem Kapitel thematisierten Perspektiven zeigt deutlich, dass die Grenzen zwischen Realität und Virtualität bereits verschwimmen und zutiefst menschliche Bedürfnisse und Interessen

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die Nutzer:innen motivieren zu partizipieren. Speziell junge Generationen differenzieren weniger zwischen online und offline Aktivitäten – sie betrachten Virtualität nicht als Substitut, sondern als einen relevanten Kanal der Kommunikation, als logische Weiterentwicklung des Internets, der mit positiven wie negativen Wechselwirkungen der Realitäten behaftet ist, wie andere digitale Kommunikationskanäle vor ihr. In diesem Kontext wird es spannend und auch kritisch zu beobachten, welche Entwicklung eine weitere Verbreitung von XR-Endgeräten auslösen wird. Denn aktuell findet eine Verschmelzung der Realitäten primär auf Endgeräten statt, die eine technische Barriere, den Bildschirm, aufweisen. XR-Technologie egalisiert diese Barriere, lässt Menschen komplett in virtuelle Welten abtauchen und damit wortwörtlich Realität und Virtualität verschmelzen. Die in diesem Kapitel geschilderten Phänomene werden durch diese Entwicklung unweigerlich intensiviert. Eine Indikation dessen, wie sich diese „neue virtuelle Welt” oder „das Internet der Zukunft” durch solche XR-Endgeräte anfühlen, kann ebenfalls heute, wenn auch in kleineren Nutzungsdimensionen als bei den „Proto-Metaverses”, beobachtet und sogar erlebt werden. Leistungsfähige VR-HMD mit umfassenden Inhalten und Anwendungen, von Kommunikation, über Sport bis zur Kreation, stehen bereits vielen Millionen Menschen zur Verfügung – Tendenz steigend. Welchen Einfluss diese Entwicklung auf unser individuelles Leben, aber auch unsere Gesellschaft als Ganzes tatsächlich haben wird, ist noch nicht absolut antizipierbar, aber Ansätze und Tendenzen lassen sich erahnen. Wie bei jedem Diskurs um die Etablierung neuer Medien und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Implikationen, Chancen und Herausforderung, wird es kritisch sein, offen über diese Entwicklung zu sprechen, sowie zu beobachten, welche Akteure sich mit ihren Lösungen etablieren. Zwar erscheint Meta in diesem Kontext aktuell omnipräsent, aber eine Vielzahl von großen Unternehmen von San Francisco, über London bis nach Shanghai, haben in das Thema investiert – und verfolgen jeweils eigene Interessen. Wer die Entwicklung um das „Internet der Zukunft” oder auch Metaverse letztlich entscheidend prägt und die Elemente der Metaverse-Vision zu einer konkreten (virtuellen) Realität verbinden wird, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt unbeantwortet. Fest steht lediglich, dass die kommenden Jahre an der Schnittstelle zwischen Realität und Virtualität versprechen, spannend zu werden.

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Simon Graff ist ein erfahrener Experte für Metaverse-Technologien - wie Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) oder Mixed Reality (MR) – und schafft in seinen Rollen als Berater und Stratege Mehrwerte an den Schnittstellen zwischen Technologie, Trends und relevanten Use-Cases. Er arbeitete seit 2014 in verschiedenen Positionen, vom Creative Technologist, über Head of Immersive Media bis zum Director Innovation, bevor er im Jahr 2021 die strategische Metaverse Beratung FOR REAL?! gründete. Seit 2014 gibt Simon sein Wissen und seine Leidenschaft für innovative Technologien auf der Bühne und in Workshops weiter – als Speaker, Beirat aber auch Mentor verschiedener Programme und ist darüber hinaus seit 2019 Vorsitzender des Hamburger XR-Fachverbandes nextReality e.V.