The question of whether a system of ethics can be developed from existentialist principles has been long debated. One co
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German Pages 562 [564] Year 2013
Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Alle Philosophie ist Existenzphilosophie
Existenzphilosophie ohne Ethik?
Teil I: Existenzphilosophie in Auseinandersetzung mit traditionellen Ethiken
Moral und Freiheit. Kants Begründung moralischer Pflichten
Works of Love: Towards a Reconsideration of Kierkegaard’s Ethical Standpoint
Nach der Sünde – Reflexionen über ein modernes Tabu. Kierkegaard als postsäkularer Aufklärer
Ethik und Ethikkritik. Philosophie der Existenz bei Kierkegaard und Nietzsche
Die Bedeutung existenzphilosophischen Denkens für die Ethik – exemplifiziert an Kierkegaard und Karl Jaspers
Freiheit, Wert und Sittengesetz – die Ethik Sartres im Zusammenhang mit Kant und Scheler
Teil II: Gibt es eine Ethik der Existenzphilosophie?
In welchem Sinn es nur in der Existenzphilosophie eine Ethik gibt, und sonst nirgends – und was das Problem mit diesem Sinn ist
Umriss einer existenzialistischen Ethik
Existenzphilosophie als Ontologie moralischer Phänomene?
Praxis als Inkommensurabilität bei Søren Kierkegaard
Ethik im Existenzialismus? – Tragisch reformuliert
Person und Passion bei Schelling und Nietzsche, oder: Wie ist Freiheit nach Golgatha möglich?
Eine existenzphilosophische Gefühlsethik?. Versuch über Angst und Verzweiflung bei Kierkegaard
Truth and Normativity in Kierkegaard and Heidegger
The Question of Ethics in Heidegger’s Being and Time
The Space of Pathos: Heideggerean Angst and Ethics
Der Begriff des Dämonischen bei Karl Jaspers. Von der (methodischen) Phänomenologie zur (theologischen) Existenzphilosophie
Diskursive Aberration als Grundlage des Gelingens. Zur existenzialistischen Ethik bei Sartre
Sartre: Urwahl versus Indifferenzfreiheit
Teil III: Ist Authentizität ein Wert?
The Ethics of Authenticity in Kierkegaard and Heidegger
Is Authentic Being a Virtue?
Selbsttäuschung, Selbstbestimmung und Authentizität bei Sartre
Vom Wert der Unaufrichtigkeit
Teil IV: Das Problem der Gewalt im Daseinsvollzug
Die Suspension der Ethik: eine etymologische Erklärung
Existenz, Körpertechniken und Gewalt bei Sartre. Skizzen zu einer politischen Anthropologie der Emotionen
Heidegger und Benjamin über Gewalt
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Personenregister
Sachindex
Existenzphilosophie und Ethik
Existenzphilosophie und Ethik
Herausgegeben von Hans Feger und Manuela Hackel
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-033102-8 e-ISBN 978-3-11-033110-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die Frage, ob die Existenzphilosophie eine explizite Ethik hervorgebracht hat, ist umstritten. Kritiker der Existenzphilosophie beantworten diese Frage zumeist negativ mit dem Argument, dass sich die Existenzphilosophie bereits durch ihren Ausgang vom Einzelnen und dessen Selbstwahl methodisch den Blick für ethische Fragestellungen verstellt und solchermaßen ihre ethische Relevanz verspielt habe. Dem wird vonseiten der Existenzphilosophie und ihrer Anhänger entgegengehalten, dass – umgekehrt – die Frage nach dem rechten Handeln es gerade notwendig mache, auf den Menschen als Einzelnen einzugehen und diesen in seiner konkreten Freiheit und Verantwortlichkeit zu verstehen, wohingegen die allgemein-abstrakte Rede über den Menschen die Freiheit und das Handeln des Einzelnen verfehle und folglich gar nicht erst zum eigentlichen Gegenstand der Ethik gelangen könne.Von existenzphilosophischer Seite lässt sich überdies behaupten, dass die Selbstwahl durchaus den Kontext sozialer Faktizität und Sinngebung berücksichtigt, indem der Einzelne gerade nicht in seiner Isolation und bloßen Einzigartigkeit gesehen wird, sondern zugleich auch als jemand, der – in seiner jeweiligen „Lebensverstricktheit und Abstandnahme“¹ – seine Wahl von den individuellen und sozialen Gegebenheiten ausgehend zugleich auch in diesen vollzieht und in diesem Bezogensein erst seine Konkretion erlangt. Und mehr noch, der existenzphilosophische Ansatz ist von dem Anspruch getragen, den Einzelnen nicht nur in seiner Singularität hervorzuheben, sondern zugleich auf seine allgemeinmenschlichen Strukturen hin zu überschreiten und in diesen selbst die der menschlichen Existenz immanente ethische Struktur aufzuzeigen. So sei es als das spezifische Verdienst der Existenzphilosophie zu betrachten, dass sie jene Doppelbewegung aus der konkreten Lebenspraxis heraus in die theoretische Reflexion über die Bedingungen und Möglichkeiten ethischer Normativität und zurück vollziehe und solchermaßen beide Seiten der Ethik gleichermaßen einbinde. Doch, so entgegnen die Kritiker, führe gerade der Ansatz beim Begriff einer rational nicht eingeholten² und folglich auch nicht in ihrer allgemein-normativen Verbindlichkeit aufzeigbaren Wahl eine tiefere Willkürlichkeit mit sich und begründe das Scheitern existenzphilosophischer Ethikansätze bzw. erlaube
So der treffende Titel einer Monographie Günter Figals (Günter Figal, Lebensverstricktheit und Abstandnahme. „Verhalten zu sich“ im Anschluß an Heidegger, Kierkegaard und Hegel. (Phainomena. Hg. v. Dietmar Koch. Bd. 11.) Tübingen: Attempto 2001). So wertet beispielsweise Alasdair MacIntyre den Begriff der Wahl in Kierkegaards „EntwederOder“ als ein „criterionless choice“ (Alasdair MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory. 3. Aufl. Notre Dame: University of Notre Dame Press 2007, S. 42 f.) ab.
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Vorwort
es allenfalls, sie als bloße ‚Situationsethik‘ aufzufassen, deren Erkenntnisgewinn für systematische Fragestellungen der Ethik höchst fragwürdig ist. Die Ergebnisse scheinen den Kritikern Recht zu geben. Tatsächlich bleibt die Haltung der Existenzphilosophen zu der Frage, ob sich im Ausgang vom Einzelnen und seiner Wahl eine universale ethische Normativität begründen lässt, selbst ambivalent, und keiner dieser Autoren beansprucht für sich, eine Ethik entwickelt zu haben – im Gegenteil: Kierkegaard weist zwar auf die immanenten Schwierigkeiten traditioneller Ethiken hin, arbeitet jedoch kein eigenes Ethik-Konzept aus.³ Heidegger lehnt bekanntlich jede ethische oder moralisierende Ausdeutung seiner ontologischen Begrifflichkeiten ab, schließt allerdings die Möglichkeit einer auf ihnen fußenden Ethik prinzipiell nicht aus. Camus zieht aus dem Absurden die Konsequenz, auf Wertbestimmungen gänzlich zu verzichten. Und auch Sartre kann am Ende seines philosophischen Hauptwerks nur Fragen formulieren, ohne jedoch die Verbindung zwischen seinen phänomenologisch-ontologischen Analysen des Menschen und deren ethischen Implikationen einsichtig machen zu können; seine ursprünglich geplante moralphilosophische Schrift bleibt zeitlebens unveröffentlicht. Sind Existenzphilosophie und Ethik folglich zwei Dinge, die nicht zusammengehören? Helmut Fahrenbach gibt in den abschließenden Überlegungen seines Buches „Existenzphilosophie und Ethik“ eine klare Antwort: Wenn auch einzuräumen sei, dass auf existenzphilosophischer Seite Versäumnisse und Verkürzungen der ethischen Problematik zu beobachten sind, so liege die eigentliche Schwierigkeit dennoch in der Natur der Sache selbst begründet. Fahrenbach beobachtet ein Spannungsverhältnis „zwischen dem Unbedingtheitsanspruch ethischer Forderungen und dem Bewußtsein ihrer geschichtlichen Wandelbarkeit“⁴. Was zusammenpralle, sei einerseits die Erfordernis, Entscheidungen zu treffen und diese in praktischer Verantwortlichkeit zu tragen, und andererseits die Unverfügbarkeit objektiver Werte und Normen als praktische Orientierungshilfen. Im Unterschied zu anderen, auch zeitgenössischen Ethiken übergehe die Existenzphilosophie die Problematik nicht dadurch, dass sie eine der beiden Seiten dieser Spannung aufgebe. Vielmehr bemühe sie sich um ihre Vermittlung, sodass „den Ansätzen existenzphilosophischer Ethik – trotz ihrer Mängel eine sachliche Relevanz, ja an einigen Punkten eine sachliche Überlegenheit in der gegenwär-
Zumindest bleibt es innerhalb der Forschung eine strittige Frage, ob Kierkegaard das im Begriff Angst erstmals angekündigte Projekt einer ‚zweiten‘, religiösen Ethik in seinen späteren Schriften, etwa in Der Liebe Tun, tatsächlich ausgearbeitet hat. Immerhin spricht er in Furcht und Zittern (1843) von einer „teleologischen Suspension des Ethischen“. Fahrenbach (1970), S. 177.
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tigen ethischen Diskussion zukommt, die auch für künftige Fragestellungen philosophischer Ethik von Bedeutung bleibt.“⁵ Wir haben Fahrenbachs Titel in Form einer Frage wieder aufgegriffen und zum Gegenstand eines dreitägigen Symposiums gewählt, auf dem im März 2011 an der Freien Universität Berlin gestandene Experten der Existenzphilosophie und Nachwuchswissenschaftler aus aller Welt, die ein Call for Paper zusammengebracht hat, über Ethikverbundenheit und Ethikferne der Existenzphilosophie diskutiert haben. An die Ansätze Søren Kierkegaards, Martin Heideggers, Karl Jaspers‘, Jean-Paul Sartres, Albert Camus‘ und anderer Autoren der Existenzphilosophie wurden u. a. folgende Fragen herangetragen: Welchen Beitrag für die Ethik leistet die Existenzphilosophie durch ihre Kritik an traditionellen ethischen Konzepten, und welcher Erkenntnisgewinn speist sich aus ihrem eigenen Ansatz für die zeitgenössischen Ethikdebatten? Wie erklärt sich das Phänomen, dass aus der Existenzphilosophie trotz ihrer starken Praxisverbundenheit keine nennenswerte ethische Tradition hervorgegangen ist? Versperrt sich Existenzphilosophie durch ihren spezifischen Ansatz von vornherein die Möglichkeit, ethische Fragestellungen zu beantworten? Oder wird die Existenzphilosophie an einer zu engen Auffassung von Ethik gemessen? Lassen sich vom gelungenen Selbstverhältnis des Einzelnen Rückschlüsse auf Formen des guten zwischenmenschlichen Zusammenlebens ziehen? In welchem Verhältnis stehen Authentizität als ‚Grundwert‘ der Existenzphilosophie und soziales Engagement zueinander? Die Ergebnisse der Diskussionen sind in diesem Sammelband vereinigt, der in seinem Aufbau den vier Themenschwerpunkten des Symposiums folgt. Unser Dank richtet sich an die Fritz Thyssen Stiftung, die das Projekt mit ihrer großzügigen Unterstützung erst ermöglicht hat; ebenso gilt er dem Universitätsaußenamt der Freien Universität Berlin sowie dem Hochschulattaché für die fünf neuen Bundesländer und Berlin, Philippe Wellnitz, und dem Dänischen Kulturinstitut in Bonn. Ein besonderer Dank ergeht an die Sartre Gesellschaft e.V., an die Übersetzer sowie an Svenja Behrens und Christinia Landry für die Textkorrekturen. Manuela Hackel Hans Feger
Fahrenbach (1970), S. 208.
Inhalt Volker Gerhardt Alle Philosophie ist Existenzphilosophie Annemarie Pieper Existenzphilosophie ohne Ethik?
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Teil I: Existenzphilosophie in Auseinandersetzung mit traditionellen Ethiken Tilo Wesche Moral und Freiheit Kants Begründung moralischer Pflichten
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Nicolae Irina Works of Love: Towards a Reconsideration of Kierkegaard’s Ethical 53 Standpoint Christoph Schmidt Nach der Sünde – Reflexionen über ein modernes Tabu 67 Kierkegaard als postsäkularer Aufklärer Philipp Schwab Ethik und Ethikkritik Philosophie der Existenz bei Kierkegaard und Nietzsche
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Anton Hügli Die Bedeutung existenzphilosophischen Denkens für die Ethik – exemplifiziert 113 an Kierkegaard und Karl Jaspers Dániel Bíró Freiheit, Wert und Sittengesetz – die Ethik Sartres im Zusammenhang mit Kant 139 und Scheler
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Inhalt
Teil II: Gibt es eine Ethik der Existenzphilosophie? Richard Raatzsch In welchem Sinn es nur in der Existenzphilosophie eine Ethik gibt, und sonst 153 nirgends – und was das Problem mit diesem Sinn ist Thomas Wachtendorf Umriss einer existenzialistischen Ethik
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Henning Nörenberg Existenzphilosophie als Ontologie moralischer Phänomene? Philipp Meyer Praxis als Inkommensurabilität bei Søren Kierkegaard Hans Feger Ethik im Existenzialismus? – Tragisch reformuliert
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Steffen Dietzsch Person und Passion bei Schelling und Nietzsche, oder: Wie ist Freiheit nach 271 Golgatha möglich? Deng Zhang Eine existenzphilosophische Gefühlsethik? Versuch über Angst und Verzweiflung bei Kierkegaard Poul Lübcke Truth and Normativity in Kierkegaard and Heidegger Saulius Geniusas The Question of Ethics in Heidegger’s Being and Time Francey Russell The Space of Pathos: Heideggerean Angst and Ethics
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Liangkang Ni Der Begriff des Dämonischen bei Karl Jaspers Von der (methodischen) Phänomenologie zur (theologischen) 341 Existenzphilosophie
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Inhalt
Rainer E. Zimmermann Diskursive Aberration als Grundlage des Gelingens 355 Zur existenzialistischen Ethik bei Sartre Juliette Simont Sartre: Urwahl versus Indifferenzfreiheit
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Teil III: Ist Authentizität ein Wert? Vincent A. McCarthy The Ethics of Authenticity in Kierkegaard and Heidegger Witold Płotka Is Authentic Being a Virtue?
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Kathi Beier Selbsttäuschung, Selbstbestimmung und Authentizität bei Sartre Manuela Hackel Vom Wert der Unaufrichtigkeit
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Teil IV: Das Problem der Gewalt im Daseinsvollzug Gloria Dell’Eva Die Suspension der Ethik: eine etymologische Erklärung
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Grégory Cormann Existenz, Körpertechniken und Gewalt bei Sartre Skizzen zu einer politischen Anthropologie der Emotionen Christian Martin Heidegger und Benjamin über Gewalt
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Personenregister Sachindex
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Alle Philosophie ist Existenzphilosophie 1. Der Titel meines Vortrags könnte den Eindruck erwecken, ich wollte der Tagung gleich zur Eröffnung die Spitze nehmen: Anstatt der Erleichterung Ausdruck zu geben, dass endlich die lange Zeit als bedeutungslos übergangene Existenzphilosophie das Thema einer eigenen Tagung ist, wird gleich zu Beginn erklärt, von Besonderheit könne keine Rede sein, denn alle Philosophie sei Existenzphilosophie. Ich gebe zu: Das ist nicht werbewirksam. Aber es entspricht der Wahrheit. Und wenn es so ist, sollte es auch am Anfang stehen. Diese Wahrheit hat den Vorteil, das nun schon seit fünfzig Jahren anhaltende Schweigen über die Existenzphilosophie nicht bloß als eine Achtlosigkeit gegenüber ihren Vertretern kritisieren, sondern darin auch einen Verrat an der Philosophie überhaupt namhaft machen zu können. Ein weiterer Vorteil der Gleichung zwischen Philosophie und Existenzphilosophie ist, die Initiative zu dieser Tagung nicht nur historisch, sondern auch systematisch legitimiert zu sehen. Denn mit der Gleichsetzung fällt die Erinnerung an die historische Formation der Existenzphilosophie mit der Vergegenwärtigung der philosophischen Aufgabe überhaupt zusammen. Da alle Philosophie mit dem eigenen Denken neu beginnt, da nur das „Selbstdenken“, wie Kant es seinen Hörern und Lesern wiederholt erklärt, den Titel des „Philosophierens“ verdient, ist die Vergewisserung der Eigenart der Philosophie zu keinem Zeitpunkt eine abgeschlossene historische Aufgabe. Sie hat vielmehr in jedem Schritt des philosophischen Denkens gegenwärtig zu sein. 2. Die Gleichung zwischen der seit Sokrates auf Selbsterkenntnis und Selbstdenken setzenden Philosophie und der das Wagnis der individuellen Existenz exponierenden Existenzphilosophie hervorzuheben, empfiehlt sich auch mit Blick auf den zweiten Themenbegriff dieser Tagung. Hier lässt sich deutlich machen, dass die Existenzphilosophie ein geschärftes Bewusstsein für die bereits von Sokrates gelehrte und gelebte Individualität der Ethik hat. Montaigne und Kant haben sie nachhaltig verstärkt, indem sie ihr einen exemplarischen Charakter gegeben haben. Ethik kann nicht länger nach dem Vorbild des mosaischen Gesetzes, sondern nur nach dem Modell der beispielgebenden Selbstverpflichtung verstanden werden. Unter den Denkern des 20. Jahrhunderts hatten dafür, wenn ich es recht sehe, nur Ludwig Wittgenstein und Karl Jaspers einen Sinn. Für Wittgenstein (in absurder Selbstverleugnung nur am Ideal der exakten Wissenschaft orientiert) war das der Grund, auf eine philosophische Lehre von der Ethik zu verzichten. Für
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Jaspers ist sie im Gründungsdokument der Existenzphilosophie, der 1919 publizierten Psychologie der Weltanschauungen, der Grund, die Ethik in den Mittelpunkt zu stellen. Darin wird er der Ethik eher gerecht als es jede andere Konzeption im 20. Jahrhundert vermag, stamme sie nun von Moore oder Schlick, Hare oder Singer, Bergson oder Lévinas, Rawls, Habermas oder Hans Jonas. Somit kann am Beispiel der Ethik auch die Aktualität des Existenzialismus anschaulich werden. Wie hilfreich, ja nötig das ist, zeigt ein Seitenblick auf die Ethik-Diskussionen, wie sie gerade einmal wieder in Deutschland geführt werden. Im Kampf gegen die PID, in der Abwehr des Rechts auf den eigenen Tod oder in der Behinderung der Freiheit der Forschung kommt es zu einer beispiellosen Primitivisierung der Ethik. Politikern und Verbandsfunktionären ist jedes nach einem ethischen Argument aussehende Mittel recht, um sogenannte „Dammbrüche“ zu verhindern. Ohne Rücksicht auf methodologische Standards, in Verleugnung historisch längst verbürgter Einsichten und in totalitärer Gleichsetzung mit dem Recht, wehrt man selbst erzeugte Fluten ab, ohne zu bedenken, welche Schäden die Missachtung der Selbstbestimmung und die Aufhebung der Verantwortung für das eigene Leben anrichtet. 3. Meine Überzeugung von der Gleichung zwischen Philosophie und Existenzphilosophie gründet sich auf die Gemeinsamkeit im Ausgangspunkt alles philosophischen Denkens beim selbstbewussten Individuum. Wenn Sokrates sich vor Gericht, das ihn zum Tode verurteilen wird, auf den initialen Imperativ des Delphischen Orakels beruft, sucht er gewiss nicht, von seinem als abnorm und riskant empfundenen Verhalten abzulenken. Er möchte es vielmehr begründen. Er nimmt etwas ernst, was für die meisten nur den Status einer rituellen Reinigung haben dürfte, nämlich das „Erkenne dich selbst“. Das 20. Jahrhundert hat viel Gelehrsamkeit aufgeboten, um zu belegen, dass diese Selbsterkenntnis nicht so gemeint gewesen sein kann, wie wir sie heute verstehen. Die Antike habe die Individualität noch nicht gekannt; folglich sei auch die sokratische Selbsterkenntnis ganz anders gemeint gewesen. Die naturphilosophisch grundierte Korrespondenz von Seele, Kosmos und Theos habe dem Selbst einen objektiven Status gegeben, sodass die existenzielle Vereinsamung des modernen Ich noch nicht im Horizont des antiken Denkens gelegen haben könne. Diese Auffassung hält der Prüfung nicht stand. Bereits durch die ägyptische Literatur aus der Zeit um 2000 v.Chr. sind uns Formen verzweifelter Selbstprüfung hoch individualisierter Schreiber bekannt, die nicht nur unter der Ungerechtigkeit der Steuereintreiber, sondern auch unter den Wechselfällen des Schicksals gelitten haben. Ihr Notschrei ist individuell und existenziell und folgt dennoch den literarischen Stilprinzipien ihrer Epoche.
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Die Odyssee, die uns 1200 Jahre näher liegt, wird längst als ein Dokument der Suche ihres Helden nach sich selbst gedeutet. Und die frühen Dialoge Platons, uns weitere 400 Jahre näher, sind inzwischen als Kunstwerke der schonungslosen Analyse von Dispositionen und Motivationen von Individuen erkannt, die sich nur im sozialen Kontext wirklich selbst erfahren können. 4. Sokrates belässt es nicht bei der rituellen Befolgung des gnothi s’auton zum Zweck des Tempelbesuchs. Er zieht sich auch nicht nach Art der Orphiker und Pythagoreer aus dem Leben zurück, um allein eine Selbsterkenntnis zu leben, die vom Gottesdienst nicht mehr zu unterscheiden ist. Gerade weil er sagen kann, das Göttliche sei der Seele am nächsten, und weil er weiß, dass eine Seele sich wahrhaft nur im Auge eines Anderen erkennen kann, praktiziert er seine Selbsterkenntnis im Angesicht seiner Mitmenschen, die ihn nicht nur in seinen Worten, sondern auch in seinen Taten erfahren. Im öffentlichen Vollzug eines Denkens erfüllt sich seine Existenz, ohne damit durchsichtig für jedermann zu werden. Die Ironie, die ein moderner Vorläufer der Existenzphilosophie erneut zum Selbstschutz verwendet, versteckt das Eigene als Eigenes vor jedermann. In den Auftritten des Sokrates finden wir nicht die Spur von Harmlosigkeit oder Naivität. Der moderne Gigantomachismus des katastrophischen Alltagsbewusstseins, das die größten Übel allein für sich reklamieren möchte, neigt zwar zur Annahme des Gegenteils. Aber die Ahnungslosigkeit liegt hier eher auf der Seite der Modernen. Die uns überlieferten Gespräche des Sokrates sind von einem Mann geschrieben, der dreimal politisch auf Leben und Tod gescheitert ist, der auf einem Sklavenmarkt zum Kauf feil geboten wurde, und dort nur durch Zufall entdeckt und freigekauft werden konnte. Das Ende des Sokrates ist bekannt. Und das, was uns von diesem Ende überliefert ist, muss als die tiefste und schmerzlichste Ironie angesehen werden, zu der ein bewusst bis zum Ende gelebtes Leben fähig ist: In drei Anläufen beweist Sokrates die Unsterblichkeit der Seele auf dem Verständnisniveau seiner im Gefängnis um ihn versammelten Anhänger. Dabei zeigt sich, wie sehr jede einzelne Seele in den Prozess des kollektiven Erkennens und Erinnerns eingelassen ist, dass sie aus einem Stoff bestehen muss, der dem Umschwung der Elemente zugehört und sich in deren Kombinatorik mal stärker und mal weniger stark individualisiert, und dass diese Seele an nichts so sehr gebunden ist, wie an die Gegenwart von ihresgleichen. Und während die gelehrte Forschung auch nach zweieinhalbtausend Jahren immer noch prüft, ob die tiefsinnigen und vieldeutigen Beweise auf dem Niveau der damaligen Natur- und Seelenlehre stichhaltig sind, entgeht ihr der existenzielle Beweis, den Sokrates durch seine Haltung im eigenen Sterben erbringt, und der, wie die Wirkung beweist, bis heute unverändert gültig ist: Wer so stirbt wie
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Sokrates, der hat in der Tat und mit seinem Beispiel bewiesen, dass der Tod einer Seele, die ihn im Leben nicht fürchtet, auch nach dem Tod nichts anhaben kann. Dieser unscheinbare und gleichwohl denkbar größte Heroismus im eigenen Dasein ist der Kern einer Ethik, die den Anspruch erhebt, tatsächlich existenzielle Bedeutung zu haben. 5. Die Kant-Forschung hat der Tatsache wenig Beachtung geschenkt, dass ihr Autor wiederholt auf die wegweisende Bedeutung des Sokrates für sein eigenes Verständnis von Ethik hingewiesen hat. Der sachliche Zusammenhang ist offenkundig, wenn Kant wiederholt erklärt, dass man alle Tugenden in einer einzigen zusammenfassen könne, nämlich in die der Wahrhaftigkeit. So gut wie noch gar nicht beachtet wurde die systematische Verankerung der kritischen Ethik im exemplarischen Selbstverständnis des einzelnen Menschen. Wenn der „kategorische Imperativ“, den, wohlgemerkt, stets der einzelne Mensch an sich selbst zu richten hat, darauf zugespitzt wird, dass jedes Individuum, die „Menschheit in seiner Person“ zu achten habe, dann erscheinen „Selbstbestimmung“ und „Autonomie“ noch viel zu schwach, um die singuläre Stellung der Einzelnen auszuzeichnen. Jeder hat von sich selber auszugehen, jeder hat für sich zu entscheiden und jeder muss im eigenen Tun ein Beispiel für die Befolgung seiner eigenen Einsicht geben. Wenn wir bedenken, dass die Bedeutung von Menschheit überhaupt nur in den exemplarischen Leistungen Einzelner hervortreten kann, ist sofort zu sehen, welche Beweislast Kant dem Individuum aufbürdet. So wird die individuelle Existenz zur Legislative, Jurisdiktion und Exekutive ihres eigenen Lebensvollzugs. Was in der Politik als diktatorische Machtkonzentration verworfen werden muss, ist in der Ethik ohne jede Alternative, wenn die „Zurechenbarkeit“ von Handlungen überhaupt einen Sinn haben soll. Liebe, Freundschaft und mitmenschlicher Beistand werden dadurch weder abgewehrt noch abgewertet. Aber sie zählen in ethischer Perspektive nur, wenn sie tatsächlich auf dem Verständnis des Einzelnen, seinem eigenen Entschluss und seiner freiwillig erbrachten Bereitschaft beruhen. Die Radikalität, in der Kant den guten Willen (und die mit ihm gepaarte eigene Vernunft) des Individuums zur recht- und machthabenden Instanz der Ethik erhebt, erscheint den Vertretern des naturalistischen und utilitaristischen Paternalismus, der heute die kirchennahe Bioethik beherrscht und auf Vertreter aller Parteien abfärbt, wie das entfesselte Böse mangelnder Solidarität. Daran ist so viel richtig, als Kant genötigt ist, die Eigenständigkeit des Menschen im Gegenzug zur Unbeweisbarkeit Gottes zu verstärken. Das geht bis in den Gebrauch des Existenzbegriffes hinein. In den frühen Schriften Kants ist der Begriff der Existenz vornehmlich für das Dasein Gottes
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reserviert. Je mehr er sich aber zu der Einsicht durchringt, dass wir dieses Dasein mit keinem der Philosophie zur Verfügung stehenden Mittel beweisen können, umso stärker dringt die Rede von der Existenz des Menschen vor. Für die Karriere des Begriffs im 20. Jahrhunderts ist das nicht ohne Bedeutung, auch wenn damit über das Verhältnis, das der Mensch zu einem von den Fesseln einer physischen Existenz definitiv befreiten Gott hat, noch nichts gesagt ist. Tatsächlich wird der Mensch ja dadurch erst, wie ebenfalls Karl Jaspers lehrt, zum Glauben befreit. 6. Wenn es so ist, dass der Glaube an Gott nicht durch die Säkularisierung gefährdet ist, sondern vielmehr durch jene, die Wissen und Glauben nicht voneinander trennen können, muss hervorgehoben werden, dass die Auszeichnung der Existenz des Menschen nicht primär an das Schicksal der Beweisbarkeit Gottes gebunden werden kann. Anders wäre auch kaum zu verstehen, warum sie bereits durch den platonischen Sokrates vorgelebt werden konnte und damit zu einer Zeit, in der man noch nicht auf den abwegigen Gedanken eines Gottesbeweises gesetzt hat, das Göttliche aber in jeder Vergegenwärtigung der kosmischen Ordnung für evident gehalten wurde. Entscheidend ist allein das Selbstbewusstsein des Menschen, der selbst aus demütigenden Misserfolgen mit einem Gewinn an Einsicht hervorgehen kann – und sei es auch nur die Einsicht in seine eigenen Grenzen. Das kommt beim vorkritischen Kant in einer Formel zum Tragen, auf die ich bereits zum Beleg für die Gleichung zwischen Philosophie und Existenzphilosophie verwiesen habe und deren existenzielle Rücksichtslosigkeit uns direkt ins 20. Jahrhundert versetzt. In seiner um Hörer werbenden Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im Winterhalbenjahre 1765/66 schreibt der vierzigjährige, immer noch als Privatdozent lehrende Kant, der Student der Philosophie solle „nicht Gedanken, sondern denken lernen“. Es sei überhaupt unmöglich, „Philosophie [zu] lernen“, weil das,was man da lernt, nur die historisch überlieferten Gedanken anderer, und somit keine Philosophie sei. Die finde man nur dort, wo man „selbst nachdenkt“ und „selbst zu gehen“ vermag. Zusammen mit der Aufforderung zum „Selbstdenken“ und zum „Mut, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen“ gehören diese Formeln längst zum Bildungsgut, des Wissens über die Aufklärung, sodass nur zu leicht vergessen werden kann, dass sie, einmal ausgesprochen, historisch gar nicht mehr still gestellt werden können. Kant ist das bewusst, wenn er in seiner auch als Anleitung zum wissenschaftlichen Studium der Philosophie gedachten Vorlesungsankündigung erklärt, dass es in ihr gar keine „Gelehrsamkeit“ geben könne, wie man das von der
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„Geschichte, Rechtsgelehrtheit und Mathematik“ sehr wohl sagen könne. Der Grund dafür sei, dass die auf historisches Wissen und allgemein anerkannte Verfahren gestützten Disziplinen einen „gemeinschaftlichen Maßstab“ haben. In der Philosophie hingegen „habe jeder seinen eigenen“. Schärfer kann man es nicht sagen: In der Philosophie hat jeder sein eigenes Maß; es ist allein dadurch bestimmt,was jeder selbst zu denken vermag und was er sich im eigenen Dasein zutraut. Damit wird jede disziplinäre Verbindlichkeit verworfen. Kein Kanon des Wissens, kein Organon der Methode kann als allgemein verpflichtend angesehen werden. Die Philosophie ist allein auf die Logik ihrer Einsicht, auf die Konsequenz ihres Wissens und den Mut, sich diesem Wissen zu stellen, gegründet. Damit ist sie die existenzielle Disziplin par excellence, die vom Einzelnen fordert, nicht nur eigenständig zu denken, sondern auch selbstbestimmt zu handeln. Die Kritische Philosophie macht daraus ein Programm, das sich, nach dem Willen ihres Urhebers, selbst aufhebt, sobald eine Schule daraus wird. Also kommen wir zu folgender Bilanz: Kants Kritische Philosophie nimmt den individualitätstheoretischen Radikalismus des Sokrates auf, erneuert ihn unter den Bedingungen der neuzeitlichen Wissenschaft und setzt die Philosophie von allen historischen und methodologischen Ansprüchen frei. So stellt auch sie den „Werth“ unter Beweis, den „wir unserem Leben selbst geben“. Dieser Existenzialismus ist nur der eigenen Vernunft verpflichtet. Er kommt aus dem emphatischen Anspruch auf die menschliche Freiheit und bleibt in seinem Antrieb wie in der Erfahrung seiner Grenzen an das Leben gebunden. Dem Menschen eröffnet sich damit, wie mit Kant vor allem Wilhelm von Humboldt und die Künstler unter seinen Lesern wissen, die Chance, auf den Versuch hin zu leben. Das „Experiment der Vernunft“ kann man freilich jeder Kultur, ja, der Menschheit als ganzer zuschreiben. Kant wird nicht müde, die Geschichte selbst als eine Macht zu exponieren, die den Einzelnen wie ein Werkzeug erscheinen lässt, das in seiner begrenzten Wirksamkeit, notwendig unvollendet bleibt. Aber wenn wir sehen, dass die Vernunft immer nur durch das Handeln von Individuen in die Geschichte kommt, und wenn wir ernst nehmen, dass jeder Einzelne ein Zweck an sich selber ist, der die „Menschheit in seiner Peron“ zur Geltung zu bringen hat, dann ist klar, dass alles, worauf es ankommt, im Handeln des Individuums liegt. Es ist daher nicht zufällig, dass im Umfeld dieses in jeder Hinsicht kritischen Denkens erstmals von „Lebensphilosophie“ die Rede ist, und Friedrich Schlegel vom Programm einer „Experimentalphilosophie“ spricht. Und es versteht sich von selbst, dass nach Kant auch der Begriff der individuellen Existenz des Menschen philosophische Karriere macht.
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7. Die Tatsache, dass sich die Kantianer bis heute nicht als Existenzphilosophen begreifen, könnte vermuten lassen, dass der Ausgangspunkt Kants alsbald in Vergessenheit geraten ist. Tatsächlich hat Kant der Philosophie derart viele Anregungen gegeben, dass sie sich bis heute bequem mit den zahllosen Einzelproblemen der Konstitution des Wissens, der Begründung der Ethik, der Geltung des Rechts, der Eigenart des Schönen, den Konzeptionen einer mechanischen und einer organischen Natur, der Dynamik der Geschichte, des Begriffs der Kultur, der Perspektive des Friedens oder der Aufgabe der Religion befassen kann, ohne den Ausgangspunkt im denkenden und handelnden Ich zu problematisieren. Das muss keineswegs für oberflächlich gehalten werden. Denn mit Rücksicht auf die stets in Anspruch genommene Begrifflichkeit gibt es immer Gründe genug, das Einzelne und Individuelle nur für den Fall eines Allgemeinen zu halten, ohne das sich nichts Singuläres aussprechen, geschweige denn erkennen ließe. Vom „Ich“ einer Existenz kann in der Tat nur die Rede sein, weil sowohl das Ich wie auch die Existenz begrifflichen Charakter haben. Mit ihm wird etwas Allgemeines gedacht, das verstanden werden muss, wenn man den individuellen Ausdruck sinnvoll verwenden will. Und wenn sich die Philosophie, was sie zweifellos immer auch ist, als Wissenschaft vom Allgemeinen versteht, kann sie mit bestem Gewissen ausschließlich vom Allgemeinen handeln, ohne auch nur das Geringste von dem aufzunehmen, worum es jeweils in ihm geht – nämlich um die Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung dieses bestimmten Wesens mit seinem individuellen Verständnis seiner selbst. Wer wollte bestreiten, dass es über „das Ich“, „das Selbst“ und „die Existenz“ als solche Treffliches und Wissenswertes zu sagen gibt? Auch in ihnen haben wir Begriffe, die etwas Allgemeines bedeuten, dessen Sinn und Reichweite man auslegen kann. In der bloßen Analyse der Begrifflichkeit kann man sich damit begnügen und durchaus Bedeutsames zutage fördern. Nur: Wenn jemand allein dem Allgemeinen nachgeht, ohne zu beachten, dass jemand sein Ich meint, aus dem heraus er seinem Leben einen Wert geben will, der verfehlt nicht nur den existenziellen Impuls der individuellen Aussage, sondern auch den immer auch auf Individuelles gerichteten Erkenntnisanspruch des Philosophierens. Mehr noch: Er verrät diesen Anspruch, wenn er dem konkreten Ich, wie der Wittgenstein des Tractatus, zu schweigen gebietet, oder ihm, wie es in der Philosophischen Untersuchungen mit etwas mehr Lebensklugheit, aber kaum verminderter Ignoranz gegenüber der Philosophie geschieht, eine Therapie zum Vergessen der Frage empfiehlt.
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Wittgenstein ist kein Einzelfall. Auch die Phänomenologie hat sich in ihren Anfängen Schaden zugefügt, indem sie die existenziellen Probleme in die Psychologie abschob. Die sprachanalytische Philosophie des 20. Jahrhunderts hat noch einiges mehr als bloß die existenziellen Probleme verdrängt. Wenn aber der Kantianismus der letzten fünfzig Jahre sich mit der analytischen Philosophie besonders gut vertragen hat, muss er sich bei aller Wertschätzung für seine historisch-sytematischen Leistungen den Vorwurf gefallen lassen, dass er es von Kant her besser hätte wissen sollen. Denn Kants exemplarische Ethik stützt ihren hoch elaborierten begrifflichen Apparat auf nichts anderes als auf die „subjektive“, d. h. die durch und durch individuelle „Maxime“ des Einzelnen. Seine drei Fragen: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, Was darf ich hoffen?“ gehören nicht in die Psychologie. Es sind vielmehr die so schon in der Antike gestellten Ursprungsfragen der Philosophie. 8. Den dominierenden Kantianismen zum Trotz muss man hinzufügen, dass Kants Existenzialphilosophie von seinen aufmerksamen Lesern keineswegs übersehen und auch nicht vergessen worden ist. Wilhelm von Humboldt ist an erster Stelle zu nennen. Er hat Kants Ansatz als einer der ersten verstanden und seine frühe Individualitätsphilosophie darauf gegründet. Wenig später nimmt Fichte das Ich zum Ausgangspunkt einer Neubegründung des gesamten Wissens, verstellt sich den Weg jedoch, indem er das Ich in der Abgrenzung gegenüber dem Nicht-Ich immer von Neuem logifiziert. Schleiermacher bleibt Kant im individuellen Bewusstsein einer „schlechthinnigen Abhängigkeit“ von einer göttlichen Macht besonders nahe und bewahrt den existenziellen Impuls auch später sowohl in seiner an Sokrates und Platon orientierten dialogischen Ethik wie auch in seinen auf die Erfassung des Individuellen gerichteten Verfahren der Hermeneutik und der Dialektik. Verfolgt man diesen Entwicklungsstrang, dann ist die Romantik keineswegs bloß als Bewegung gegen die Aufklärung und gegen Kant zu verstehen. Wenn sie das geschichtlich Konkrete und das Individuelle zu ihrem Ausgangspunkt erhebt, steht sie alles andere als gegen Kant. Denn er geht in der Naturerkenntnis vom sinnlichen Datum der Erfahrung aus, das in Raum und Zeit immer nur individuell sein kann. In der Ethik dreht sich alles, wie schon gesagt, um die Selbstbestimmung des Einzelnen. Die Ästhetik beruht auf einem Reflexionsbegriff für das Individuelle. Und in der Theorie des Lebens ist alles auf die Organisation des Individuellen im Organismus abgestellt. Allerdings beachtet Kant, was vielen Romantikern entgeht: Das Individuelle ist nur unter den Auspizien des Universellen zu erfassen. Ohne Vernunft lässt sich kein Begriff des Individuellen fassen. Der Fehler der Romantik, wenn ich das einmal unter Auslassung von Schelling, Schopenhauer und Kierkegaard so allgemein sagen darf, liegt somit darin,
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die Vernunft irrigerweise als Gegeninstanz des erlebten Individuellen anzusehen. Die Enttäuschung und Erbitterung über den Ausgang der Revolution von 1789, für die alsbald die Vernunftaufklärung verantwortlich gemacht wird, verstellt den Romantikern den rationalen Existenzialismus, wie ihn Sokrates und Kant vertreten. Hegel hat Kants Ansatz vermutlich am besten durchschaut. Jedenfalls hat er den Individualitätsimpuls hellsichtig aufgenommen. Deshalb konnte er auch erkennen, dass sich der Subjektivismus der Romantiker und der Skeptizismus der Empiristen ebenfalls aus dieser Quelle speisen. Und um zu verhindern, dass sich die Kraft des Individuellen von der begrifflichen Organisation des Geistes löst, fügt er sie in eine Logik ein, die der Existenz des Individuums das volle Gewicht eines substantiellen Wesens gibt. Doch statt sie dadurch, wie es seine Absicht war, zu ihrer konkreten geschichtlichen Wirksamkeit zu befreien, hat er die Existenz des Einzelnen unter dem monumentalen Wellengang seiner Systemphilosophie so gut wie unsichtbar gemacht. Goethe freilich vermochte sie dort noch zu erkennen und der aufmerksame Leser kann in der Bewegung des Geistes bis heute die treibende Kraft des Individuellen am Werke sehen. Doch Hegels frühen Lesern, vor allem Schopenhauer und Kierkegaard, blieb sie verborgen. Dieses Missverständnis haben sie produktiv gemacht: In ihrer romantischen Opposition gegen die Dialektik des Systems konnten sie wesentlich dazu beitragen, die Existenzialität des menschlichen Daseins bewusst zu machen: Schopenhauer negativ, indem er das Dasein zur Gefangenschaft im principium individuationis erklärte, aus dem uns nur die Kunst und das Mitleid einen Ausweg weisen. Endgültig aber kann uns nur der Tod aus dem Kerker der individuellen Existenz befreien. Kierkegaard versucht es positiv, indem er die Extroversionen des objektiven Geistes bekämpft. Die entäußerlichten gesellschaftlichen Mächte behaupten „Versöhnung“, wo der wahrhaft denkende und glaubende Mensch nur „verzweifeln“ kann. Also setzt er gegen das übermächtige gesellschaftliche Außen die „Innerlichkeit“ seiner ausdrücklich sogenannten „Existenz“, die ihren Sinn in der Verweigerung findet. Im Widerstand gegen das Oberflächliche und Gewöhnliche sucht sie ihren persönlichen Zugang zum Göttlichen und kann, wenn überhaupt, nur darin Erfüllung finden. Der Heros dieser ethischen Praxis einer wahrhaft ernst genommen Existenz ist Sokrates, der sich die Zumutungen des Zeitgeistes durch Ironie vom Leibe hält. So setzt Hegels Dialektik des Systems eine Dialektik des realen Widerspruchs in Gang, die er nicht gebilligt hätte, die ihn aber stärker bestätigt, als es die Erfüllung der prognostischen Momente in der Spekulation über den absoluten Geist jemals hätte tun können.
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Volker Gerhardt
9. Nietzsche, der Zeit seines Denkens gegen Hegel polemisiert, treibt diesen Prozess des gelebten Widerspruchs auf die Spitze. Er ist der letzte und nach Kant wichtigste Existenzphilosoph avant la lettre. Er räumt alle allgemeinen metaphysischen Fragen beiseite und empfiehlt, sich um den Sinn des Ganzen gar „nicht [zu] kümmern“: [A]ber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn des Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein „Dazu“ vorsetzest, ein hohes und edles „Dazu“. Gehe nur an ihm zu Grunde – ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen […] zu Grunde zu gehen.
Das ist die gegen die Metaphysik und gegen jedes System gerichtete, gleichermaßen ethische wie ästhetische Losung, die im Jahrzehnt nach Nietzsches Tod für Kierkegaards „existenzielles Pathos“ empfänglich macht und für einen Zeitraum von nicht ganz fünfzig Jahren die alsbald auch sogenannte Existenzphilosophie zu einer Bewegung anwachsen lässt, die bereits mit ihrem ersten Auftritt, die Grenzen der Schulphilosophie zu sprengen vermag. Schopenhauers, Kierkegaards und Nietzsches philosophische Bedeutung liegt auch darin, dass sie durch das Nachdenken über die Leiden, Ängste und heroischen Hoffnungen ihrer individuellen Existenz dem Hegelschen Diktum, Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken gefasst“, das Substantielle der einzelnen Existenz entgegenzusetzen vermochten. Verzichtet man, worauf sich die Hegelsche Linke viel zugute hält, auf den geisttheoretischen Kern des Systems, bleibt von Hegel nur eine aktualistische Geschichtsphilosophie, die sich darauf beschränkt, den Standort der Gegenwart zu vermessen. Dann liegt die ganze Wahrheit der Philosophie in dem Bewusstsein, dass sich etwas verändert hat, und in den Mutmaßungen darüber, was das für die Zukunft bedeutet. 10. Die Philosophie des 20. Jahrhunderts ist voll von Urteilen über die eigene Zeit und die Spekulation darüber, ob die Moderne noch andauert oder schon zu Ende ist. Der Unterhaltungswert solcher Mutmaßungen ist groß, der philosophische Erkenntniswert geht eher gegen Null. Dem hat sich das existenzielle Denken von Anfang an zu entziehen vermocht, weil es nach einer Bestimmung des Menschen auch im Widerstand gegen die geschichtlichen Gegebenheiten sucht. Deshalb greifen auch Erklärungen zu kurz, die versuchen, die Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts aus historischen Konditionen zu extrapolieren. Natürlich haben der Autoritätsverfall der Kirchen, der Aufstieg der Wissenschaften, die technische Revolution, die tiefgreifenden Prozesse des sozialen Wandels, die große Ernüchterung nach dem Ersten Welt-
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krieg sowie das Triumphgeheul kollektivistischer Ideologien die Besinnung auf die Kraft des Individuellen verstärkt. Aber ableiten lässt sich der Existenzialismus daraus nicht. Er hat eine Kraft sui generis, die er aus den originären Impulsen des Philosophierens zieht.Wenn man ihn im Kontext des 20. Jahrhunderts auszeichnen will, dann hat man darauf zu verweisen, dass er in einem Umfeld entsteht, in dem die Wissenschaft auch in der philosophischen Theoriebildung dominiert. Methodologische Fragen der Einteilung und Abgrenzung der Disziplinen, Freges Innovation der Logik, die Grundlagenkrise der Mathematik, die Etablierung der Phänomenologie als reiner Wissenschaft, neue Formen des historisch, semiotisch, pragmatistisch oder symbolisch gefassten Transzendentalen beherrschen die Diskussion. Und da kommt die Existenzphilosophie und macht Ernst damit, die Philosophie erneut als Praktische Philosophie zu etablieren. Sie rückt, wie Sokrates es tat, die Ethik wieder in die zentrale Stelle ein, und die praktische Vernunft erhält, wie bei Kant, erneut den Primat zuerkannt. Es ist somit auch aus historischen Gründen zu begrüßen, dass die Wiederbeschäftigung mit der zu Unrecht vergessenen Elementarphilosophie unter dem Titel Existenzialismus und Ethik steht.
Annemarie Pieper
Existenzphilosophie ohne Ethik? Abstract: In contradistinction to traditional ethics, existentialism asks how singular individuals succeed in becoming a self by performing free and responsible actions. While Kierkegaard considered the moral choice of oneself to enable the transition from the aesthetic to the ethical mode of existence, Nietzsche conversely priviledged the aesthetic mode of existence because it promotes the individual development of sensual beings and motivates them to create their own values. In the 20th Century existentialist ethics still relied on the concept of freedom, although Jaspers and Heidegger analyzed the problems of freedom within the scope of a general theory of being. On the other hand, Sartre and Camus embedded questions concerning morals and morality in a narrative context which forces individuals to decide whether or not to change their lives.
Einleitung Wer in der Existenzphilosophie eine Ethik vermisst, hat entweder die Texte nicht genau gelesen oder seine Lektüre von einem Ethik-Konzept leiten lassen, das dem existenzphilosophischen Anliegen nicht gerecht wird. Dieses Anliegen steht in einem engen Zusammenhang mit der Kritik an der traditionellen abendländischen Philosophie, die von der klassischen Metaphysik bis zu den Systementwürfen des deutschen Idealismus essentialistisch ausgerichtet war. Die Existenzphilosophie polemisierte gegen die Essenzphilosophie von Platon bis Hegel, weil über der Fokussierung auf das allgemeine Wesen der Dinge und der sie reflektierenden Subjekte deren Besonderheit und Individualität aus dem Blick geraten waren, mitsamt den Entwicklungs- und Werdensprozessen, in deren Verlauf ein singulärer Mensch als solcher entsteht. Eingeschlossen in die Metaphysik- und Systemkritik der Existenzphilosophen war die Kritik an der herkömmlichen Ethik und Anthropologie. Wenn nicht der Mensch an sich, sondern das Individuum als Handlungssubjekt interessiert, dann macht es keinen Sinn, ethische Appelle an ein abstraktes Vernunftsubjekt zu richten, vielmehr müssen moralische Überlegungen narrativ in den lebensweltlichen Kontext eingebettet und im Zusammenhang mit der Geschichte einer konkreten Person aus situativen Konstellationen heraus prototypisch entwickelt werden. Wie eine solche individualethisch orientierte Moralphilosophie ihre Position argumentativ und methodisch verteidigt und welche Probleme sie aufwirft, möchte ich in einem ersten Anlauf an den beiden Urvätern der Existenzphiloso-
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Annemarie Pieper
phie – Kierkegaard und Nietzsche – zu zeigen versuchen, die noch eine explizite Ethik entwickelt haben, während ihre Nachfolger einer impliziten Ethik zuneigten. Leitfaden wird der Begriff der Freiheit sein, dessen zentrale Bedeutung sowohl in der Existenzphilosophie als auch in der Ethik außer Frage steht.
I Kierkegaards Analyse der ethischen Selbstwahl Søren Kierkegaard gilt nicht zu Unrecht als Begründer der Existenzphilosophie. Sein Vorbild war Sokrates, der auf den Markt ging und mit den Leuten, die er dort antraf, philosophische Gespräche führte, anstatt wie Hegel ein System des Absoluten zu konstruieren, in welchem die Individuen als quantité négligeable abgetan werden. Kierkegaard machte die Kategorie des Einzelnen zur Grundlage seiner Überlegungen, aber auch dieser Begriff war ihm noch zu abstrakt. Die naheliegende Möglichkeit, seine eigene Person ins Spiel zu bringen, verwarf er (außer in den Tagebüchern), weil er sich weder Autorität noch exemplarische Bedeutung anmaßen wollte. Um unterschiedliche Lebensformen authentisch darstellen zu können, erfand er deshalb pseudonyme Verfasser, die für ihre Position werben und sich verantwortlich fühlen sollten, ohne dass Kierkegaard selber dafür haftbar gemacht werden konnte. In Entweder/Oder werden zwei Lebensformen – die ästhetische und die ethische – miteinander konfrontiert, die erstere vertreten durch A (alias Johannes der Verführer), letztere durch B (alias Gerichtsrat Wilhelm). Strittig zwischen den beiden ist der in der traditionellen Ethik unter dem Stichwort „Autonomie“ verhandelte Freiheitsbegriff, den beide Kontrahenten für ihre Lebensführung geltend machen, wobei sie sich weniger auf Begriffsanalysen als auf ihre Selbsterfahrung stützen. Während A für das Genussprinzip plädiert und unter Freiheit beliebiges Tun- und Lassenkönnen versteht, setzt B auf eine sich an der Freiheit der anderen begrenzende Freiheit. Aus B’s Perspektive handelt A verantwortungslos, insofern er seine Mitmenschen ausschließlich daraufhin taxiert, inwieweit sie als Genussmittel taugen, während umgekehrt bei A die Vorstellung, sich in Ehe, Beruf und freundschaftlichen Beziehungen als verlässliches Mitglied der Gesellschaft zu erweisen, gähnende Langeweile hervorruft. A orientiert sich als Ästhetiker an der künstlerischen Freiheit, die sich grenzenloser Phantasie verschreibt und sinnliche Qualitäten bevorzugt, was einer hedonistischen Einstellung Vorschub leistet. Die Kontroverse zwischen A und B betrifft im Kern das Verhältnis von Moral und Glück. A verweigert sich der Moral, durch deren Regeln und Vorschriften er seine Autonomie beschnitten sieht. Autonomie heißt für ihn: sein Begehren uneingeschränkt auszuleben. In seiner Rolle als Verführer zum Beispiel vermag er das Glück zu verdreifachen: Die Vorfreude auf den sexuellen Genuss wird abgelöst
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durch die im Vollzug des Beischlafs genossene Freude, die ihrerseits in der Erinnerung aufbewahrt zur Quelle der Nachfreude wird. Wenn es A dann noch gelingt, dieses Glück dichterisch in Worte zu fassen und damit der Lust einen dauerhaften Ausdruck zu verleihen, hat er sein Ziel erreicht und kann sich nach neuen Genuss versprechenden Abenteuern umsehen. Seltsamerweise ist A, wie aus seinen Diapsalmata ad se ipsum überschriebenen Notizen¹ hervorgeht, entgegen seinen Beteuerungen nicht glücklich. Er klagt über seine Schwermut, die Leere und Sinnlosigkeit seines unendlich langweiligen Lebens.² Was er eigentlich begehrt, ist ein dauerhaftes Glück, doch die ästhetische Lebensform reißt ihn abwechselnd in ekstatische Höhen und lustlose, von einem Sinnvakuum ausgefüllte Tiefen. „Zur Erkenntnis der Wahrheit bin ich vielleicht gelangt; doch wahrlich nicht zur Seligkeit“³, konstatiert er niedergeschlagen. Dieses Leben zwischen Extremen zerreißt ihn, ohne dass er eine Möglichkeit sieht, wie er sein Glücksverlangen anders befriedigen könnte. Es ist B, der ihm den Spiegel vorhält und ihm zu zeigen versucht, dass er einem falschen Freiheitsverständnis aufgesessen ist. Anstatt seinen Willen autonom zu bestimmen, habe er sich abhängig gemacht von seinem Begehren. Er lasse sich fremdbestimmen durch den Drang nach Lust und Genuss und habe damit der Natur das Diktat in seinem Seelenhaushalt überlassen, die auf geistige Interessen nur insoweit Rücksicht nimmt, als sie sich für Strategien zur Luststeigerung instrumentalisieren lassen. Man kann aus den Positionen von A und B unschwer Grundthesen der Kantischen Pflichtenethik herauslesen, die dem Verlangen nach Glück einen Riegel vorschiebt. Das Streben nach Glückseligkeit entmündigt nach Kant den Menschen, weil es ihn zum Sklaven seiner Begierden und Triebe macht. Erst die Moral erhebt ihn über die naturale Bedürfnisbefriedigung, die er mit anderen, nichtmenschlichen Lebewesen teilt, und macht ihn frei für eigene, unter dem Gesichtspunkt von Gut und Böse gewählte Zielsetzungen. Kierkegaard hat B, den Gerichtsrat, als Pflichtenethiker konzipiert, der nicht nur seinen moralischen Standpunkt einsichtig zu vermitteln weiß, sondern von diesem aus auch die Unzulänglichkeit des von A vertretenen Hedonismus zu begründen vermag. Denn ursprünglich war auch er dem Genuss verfallen, wie alle Menschen als körperverhaftete Bedürfniswesen anfänglich dem hedonistischen Prinzip gehorchen. Doch er hat diese durch hoch aufschießende Emotionen und quälende Selbstzweifel geprägte Phase überwunden und sein Glück in zwischenmenschlichen Søren Kierkegaard: Entweder/Oder, Erster Teil, in: Gesammelte Werke, übersetzt von Emanuel Hirsch, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1964, S. 17– 46. Ebd., S. 21, 38, 40. Ebd., S. 38.
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Annemarie Pieper
Beziehungen gefunden. Es ist nicht auszuschließen, dass es ein und dieselbe Person ist, die Kierkegaard in verschiedenen Phasen ihres Autonomwerdens schildert: Wer A sagt, muss auch B sagen. Die Frage, wie der Übergang vom ästhetischen zum ethischen Selbstverständnis gelingt, wird von Kierkegaard durch die Begriffe „Selbstwahl“ und „Sprung“ erläutert, die beide den autonomen Freiheitsvollzug beschreiben. Dass der Übergang nicht von selbst geschieht, indem man kontinuierlich Schritt für Schritt seinen Weg geht, sondern abrupt erfolgt, deutet das Bild des Sprunges an. Wer springt, muss loslassen, Anlauf nehmen und sich in die Höhe katapultieren. Für einen Moment verliert er die Bodenhaftung,wenn er das Übersprungene hinter sich zurück lässt, und selbst wenn ihm eine sichere Landung glückt, ängstigt ihn die Ungewissheit, wie er auf dem neuen Weg vorankommen wird. Es braucht Mut zur Freiheit, und das Wagnis des Sprunges geht man nur ein in der festen Überzeugung, dass das Ziel sich lohnt. Deshalb versucht B seinen Freund A dazu zu bewegen, sich selbst loszulassen, sich aus seiner Fixiertheit auf das Genussglück zu befreien um eines anderen Glücks willen, das zu erstreben aus ihm einen neuen Menschen macht, ja ihn eigentlich erst zum Menschen umschafft. Dieses Ziel, zu seinem wahren, autonom über sich verfügenden Selbst zu gelangen, kann nur durch eine Wahl erreicht werden, die ihrem Wesen nach Entscheidung für ein Prinzip ist, auf dessen Grundlage man in Zukunft sein Leben führen will. Zwar eröffnet auch das ästhetisch-sinnliche Genussprinzip eine Vielfalt an Wahlmöglichkeiten, doch diese verdanken sich einer faktischen Unfreiheit, da das Prinzip selber nicht gewählt, sondern vorgegeben ist. Erst durch die Wahl des ethischen Prinzips als willensbestimmender Norm schlechthin löst sich der Mensch aus den Kausalketten der Evolution und wird sein eigener Gesetzgeber: ein auto-nomes Individuum. B rekonstruiert den Akt seiner persönlichen Selbstbefreiung als absolute Selbstwahl. Das Prinzip, das er seinem Lebensentwurf neu zugrunde legt, ist das Moralprinzip, mit dem er sich dazu verpflichtet, seine Ziele unter dem Gesichtspunkt von Gut und Böse zu beurteilen und sich nach jeweils durchgeführter moralischer Evaluation für die Verfolgung des als gut beurteilten Ziels zu entscheiden, unangesehen des damit möglicherweise verbundenen Verlusts an Genuss. Die Auswirkungen der Wahl des Moralprinzips als absolut gültiger Norm erstrecken sich auf die gesamte Lebenszeit. Zum einen hat B damit beschlossen, seine künftigen Handlungen jederzeit am ethischen Maßstab auszurichten; zum anderen erkennt er seine vergangenen, als ästhetische allesamt heteronom bestimmten Handlungen als die seinen an und übernimmt damit Verantwortung für die Person, die er aufgrund dieses Handelns geworden ist. Um seine Vergangenheit in den Kontext seiner nunmehr dem Moralprinzip unterstellten Geschichte integrieren zu können, muss er seine ästhetische Vorgeschichte geradezu „um-
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leben“⁴, das heißt: sie unter dem Gesichtspunkt von Gut und Böse als unmoralisch bewerten und ihre Faktizität bereuen. Die Reue öffnet beim Rückblick die Augen dafür, wie die bisherige Geschichte B’s hätte verlaufen sollen und realiter hätte verlaufen können, wenn er sich schon früher vom Genussprinzip losgesagt und für das Moralprinzip entschieden hätte. Die durch die Wahl des Moralprinzips markierte Zäsur zwischen ästhetischem und ethischem Selbst wird aufgrund der nachträglichen ‚Moralisierung‘ des Ästhetischen durch die Reue eingezogen. B bezeichnet diesen Vorgang individueller Selbstaneignung als Konkretwerden. Das Ich muss gleichsam mit sich selbst zusammenwachsen, indem es sich als Ganzes dem selbst gewählten Moralprinzip unterstellt und damit sowohl nach vorwärts wie nach rückwärts als eine Einheit generiert, welche die Identität seiner Person verbürgt. Diese Identität trägt nicht mehr den Stempel der Natur, sondern der Freiheit. Das Moralprinzip bindet zwar die Person ebenfalls, aber es determiniert sie nicht, da es kein Naturgesetz ist, sondern eine selbst gesetzte Norm. A steht vor einer schwierigen Entscheidung. Theoretisch hat er begriffen, dass es an ihm liegt, etwas Grundlegendes in seinem Leben zu verändern. Zwar könnte er alles so lassen, wie es ist, aber dann bleibt er in dem unbefriedigenden Zustand, in welchem er sich zwischen dem Wechsel von Lust und Unlust aufreibt. Er könnte sich auch definitiv für das Genussprinzip entscheiden und die Lustmaximierung ausdrücklich als sein Lebensprinzip deklarieren, doch das würde bedeuten, dass er sein Leben bewusst auf Unfreiheit gründet, und diesen Widerspruch könnte er noch weniger aushalten, auch wenn er durchaus kein Problem damit hätte, sich als amoralischen Menschen charakterisieren lassen zu müssen. Was Kierkegaard am Beispiel von A und B durchspielt, könnte man als narrative Umsetzung der Kantischen Ethik bezeichnen. Kant macht sich wenig Gedanken darüber, wie man jemanden dazu bringen kann, sich moralisch zu verhalten. Wie Sokrates, der davon überzeugt war, dass niemand wissentlich das Falsche tue und die Menschen nur genügend aufgeklärt werden müssten, um gut zu handeln, so begnügt sich auch Kant mit einem Vernunftappell, der rational denkende Menschen am Leitfaden stichhaltiger Argumente zur Moral führen soll. Allerdings räumt er ein, dass die Erkenntnis der Gesolltheit einer moralischen Lebensführung keineswegs automatisch in eine solche mündet. Man kann das Gute erkennen und trotzdem dessen Gegenteil wollen. Das Extrem ist die diabolische Lebensform. Wie man Menschen dazu bewegt, das, was sie als das Gute
Søren Kierkegaard, Entweder/Oder, Zweiter Teil, übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1957, S. 175.
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eingesehen haben, auch tatsächlich zu tun, dies sei, so Kant, der Stein der Weisen.⁵ Der Ethiker B gibt sich alle Mühe, diesen Stein zu wälzen und A die Selbstwahl schmackhaft zu machen. Wie Sokrates versucht er sich in der Hebammenkunst und rät A, den ästhetischen Imperativ „[d]u sollst im Genuss dich selbst genießen“⁶ durch den ethischen Imperativ „[d]u sollst […] dich selbst gebären“⁷ zu ersetzen. Doch A fällt es schwer, auf sein altes Leben zu verzichten, da er anders als B nur das „Entweder“ kennt, die Freuden echter Autonomie, die das „Oder“ ihm verheißt, aber noch nicht erlebt hat, ja sich nicht einmal vorstellen kann, dass die moralische Selbstverpflichtung ein Freiheitsakt ist, der ihm das Tor zum ersehnten dauerhaften Glück aufstößt. Trotzdem kann nur er und niemand anders, stellvertretend für ihn, den Sprung wagen, durch den er sich, wie B es ihm versichert, in sein wahres, „geläutertes“ Selbst verwandelt.⁸ Doch auch der Ethiker ist noch nicht bei der höchsten Form menschlichen Selbstseins angelangt. Kierkegaard lässt auf die vorethische Lebensform des Ästhetikers und die ethische Lebensform des Moralisten noch eine dritte folgen, nämlich die des Christen, und so wiederholt sich beim Übergang von B nach C das Ringen um persönliche Freiheit. Kierkegaard hat für diese dritte Lebensform keine repräsentative Figur C eingesetzt, aber man könnte ohne Weiteres auf Jesus verweisen, der in seiner Person die christliche Ethik exemplarisch vorlebt. Was den Übergang von B nach C noch schwerer macht als den von A nach B, ist die Zumutung, die mit der Generierung des Moralprinzips mühsam errungene Autonomie verneinen zu sollen und die Freiheit als ein Geschenk Gottes zu akzeptieren. Der Kampf um Selbstbestimmung setzt sich fort, sobald dem Menschen die Urheberschaft für das Freiheitsprinzip bestritten wird von Seiten einer sich allmächtig gebärdenden Instanz, die diese Urheberschaft für sich beansprucht, aber bereit ist, sie an den Menschen abzutreten unter der Bedingung des Glaubens an den Mensch gewordenen Gott. Wie der Einzelne mit dem Ärgernis dieses Paradoxes fertig wird und den Sprung in den Glauben wagt, um fortan als Christ und dennoch autonom zu existieren, schildert Kierkegaard in Philosophische Brocken. ⁹ Die Anfechtungen, denen der Christ ausgesetzt ist, legt Kierkegaard in Furcht und
Immanuel Kant 1773 in einem Brief an Markus Herz. Kierkegaard (1957), S. 203. Ebd., S. 219. Ebd., S. 178. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken oder ein Bröckchen Philosophie, übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1960.
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Zittern ¹⁰ am Beispiel Abrahams dar. Obwohl die Werte der traditionellen Moral auch für den Christen verbindlich sind, kann im Extremfall Gott von ihm etwas fordern, das aus ethischer Sicht streng verboten ist: Abraham soll seinen Sohn töten, was ethisch als Mord, christlich als Opfer gilt. Die Tötung Isaaks kann nur gerechtfertigt werden durch eine mit den Mitteln der Vernunft nicht nachvollziehbare „teleologische Suspendierung“ von Moral und Ethik.¹¹ Einzig der Wille Gottes kann eine moralische Norm außer Kraft setzen und vom Einzelnen etwas fordern, das die Ethik als eklatante Verletzung der Menschenrechte geißelt.
II Nietzsches Genealogie des Menschen Friedrich Nietzsche, der erst spät durch den dänischen Literaturhistoriker Georg Brandes auf Kierkegaard aufmerksam wurde, aber nicht mehr dazu kam, seine Schriften zu lesen, hat sich wie dieser kritisch gegen das essentialistische Erkenntnisinteresse der abendländischen Philosophie gewendet, das die Bedeutung des Individuums ausblendete und dessen Besonderheit in einer abstrakt-allgemeinen Reflexion des Subjekts zum Verschwinden brachte. Auch Kierkegaards Bemühen, den Kampf des Individuums um Autonomie narrativ in den Blick zu rücken, findet bei Nietzsche eine Entsprechung, zum einen in der Darstellung exemplarischer Individuen – Dionysos und Zarathustra –, zum anderen in der Methode der Genealogie, die Nietzsche in seinen moralphilosophischen Schriften benutzt. In der Ethik jedoch geht Nietzsche andere Wege als Kierkegaard, denn den Kantischen Autonomiebegriff verwirft er ebenso wie den christlichen. Aus diesem Grund kehrt Nietzsche die Abfolge der drei Lebensformen, die sich auch bei ihm finden, um. Während Kierkegaard die ästhetische und die ethische Existenz als zu überwindende Vorstufen zur christlichen Existenz, als der höchsten Form menschlichen Daseins, auffasst, versucht Nietzsche, die ästhetische Lebensform als die autonomen Individuen einzig angemessene zu erweisen. Um sie zu erreichen und damit dem Gebot „Werde, der du bist!“ nachzukommen, müssen zuerst die christliche, dann die ethische Vorstufe überwunden werden. Wie dies geschehen kann, hat Nietzsche in Zarathustras Rede „Von den drei Verwandlungen“¹² entwickelt. Die drei Stadien, die jemand durchlaufen muss, um er selbst zu werden, bezeichnet Zarathustra als Kamel-, Löwe- und Kindstufe, was
Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern, übers. von Emanuel Hirsch, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1962. Ebd., S. 57. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), München: dtv 1980. KSA 4, S. 29 – 31.
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darauf hinweist, dass die ersten beiden Stufen noch tierische Vorformen des Menschen sind, der als Mensch, und zwar als dieser sich selbst bestimmende individuelle Mensch, erst auf der Kindstufe auftaucht. Die erste Verwandlung führt zur Kamelhaltung. Zur Demut abgerichtet, bekundet man Ehrfurcht gegenüber einem allmächtigen Willen, vor dem man gehorsam niederkniet, um sich mit der drückenden Last von Werten zu erheben, die der göttliche Wille als angeblichen Schatz auf sein unterwürfiges Geschöpf geladen hat, um dessen Eigenwillen zu ersticken. Das Kamel, autoritätsgläubig und fremdbestimmt, befolgt selbst-los die Weisungen seines von ihm als Herr anerkannten Gebieters, der es in die Wüste schickt. In der Wüste – ein Bild für die entwertete, jeglichen Sinns beraubte irdische Welt – soll das Kamel seine himmlischen Schätze abladen und die nunmehr mit göttlichen Oasen ausgestattete Einöde zu einer fruchtbaren Lebenswelt machen. Doch da geschieht die zweite Verwandlung. Nachdem das Kamel seine Last abgeschüttelt hat, beginnt sich in ihm der bislang unterdrückte Eigenwille zu regen. Es schaut sich in der Wüste um, und sein vormaliger Herr erscheint ihm nun als ein großer Drache, der dem aufkeimenden Eigenwillen mit einem drohenden „du sollst“ Einhalt gebietet. „Du sollst“ liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein Schuppenthier, und auf jeder Schuppe glänzt golden „Du sollst!“ / Tausendjährige Werthe glänzen an diesen Schuppen, und also spricht der mächtigste aller Drachen, „aller Werth der Dinge – der glänzt an mir.“¹³
Sollte sich das Kamel einschüchtern lassen durch die Berufung auf altehrwürdige Wertvorstellungen und die damit verbundene Tradition des Befehlens und Gehorchens, wird es sich fügen und den Drachen wieder als seinen Herrn anerkennen. Doch wenn es darauf beharrt, selbst darüber zu entscheiden, was für es Wert haben soll, verwandelt es sich in einen Löwen. Der Löwe setzt in einem ersten Akt der Selbstbehauptung dem ‚Du sollst‘ des Drachen sein ‚Ich will‘ entgegen, dem der Drache jegliche Berechtigung abspricht, weil er sich als der alleinige der Urheber aller Werte behauptet, die keiner Ergänzung mehr bedürften. Der Löwe beharrt in seinem Drang nach Autonomie gleichwohl auf dem Recht, eigene Werte zu generieren. Doch erschöpft sich seine Kraft im Protest gegen die repressive Moral des Christentums, die er als Sklavenmoral brandmarkt und destruieren möchte. Sein ursprüngliches ‚Ich will eigene Werte schaffen‘ – jenseits der christlichen Interpretation von Gut und Böse – wird absorbiert von der permanenten Abwehr heteronomer Einflüsse: ‚Ich will mich nicht an Werten orientieren, die andere mir aufzwingen.‘
KSA 4, S. 30.
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Als Moralkritiker vertritt der Löwe eine negative Ethik, die alles, was bisher als wertvoll gegolten hat, ablehnt, ohne sich auf etwas festzulegen, was für ihn gelten soll. Er begnügt sich mit einer halbierten Autonomie, mit der Freiheit von (Fremdbestimmungen aller Art), unter Verzicht auf die durch die Freiheit zu ermöglichte Hervorbringung eines eigenen Wertespektrums. „Neue Werthe schaffen – das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.“¹⁴ Zum selber Kreativwerden des auf sein Selbstbestimmungsrecht pochenden Löwen bedarf es noch einer dritten Verwandlung, die das Rudelverhalten (Kamelstufe) und die Aggressivität des wilden Einzelgängers (Löwenstufe) überwindet. Zarathustra nennt sie die Verwandlung zum Kind. „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.“¹⁵ Wie Kierkegaards Ethiker B, der seinen Freund A aufforderte, sich selbst zu gebären und dadurch vom ästhetischen zum ethischen Standpunkt zu springen, spricht auch Nietzsches Zarathustra von einer Selbstgeburt, allerdings nicht beim Übergang von A nach B, sondern von B nach C. Erst wenn die christlich-religiöse und die ethische Lebensform überwunden sind, beginnt die ästhetische Existenz, mit welcher der Mensch als autonomes Individuum in Erscheinung tritt, das ungebunden, unabhängig, spielerisch von seinem Wollen Gebrauch macht, wie es das Bild des aus sich rollenden Rades signalisiert. Repräsentative Figur für die ästhetische Existenz ist Dionysos, Ziegenbock und Gott in einer Gestalt. Er hat das Un-Heil seines christlichen und ethischen Erbes, das ihn innerlich spaltete und halbierte, „vergessen“. Als „Kind“ hat er sein ästhetisches Potential entdeckt: Anstatt unkontrolliert wilde Bocksprünge zu vollführen, beginnt er zu musizieren und zu tanzen. Seine Selbstinszenierungen und Improvisationen sind Ausdruck seiner höchst eigenen Autonomie, einer „heiligen“, ihn von allen durch Fremdeinflüsse verursachten Verletzungen heilenden Selbstbejahung. Dass Nietzsche das Wort „Übermensch“ für die Charakterisierung des Dionysos als ästhetischem Typus wählte, hängt eng mit der dritten Verwandlung zusammen. Betrachtet man Nietzsches Verlaufsschema vom Ende her, so ist das „Kind“ der erste Mensch, der sich als solcher nach „Kamel“ und „Löwe“ selbst zur Existenz bringt.Vom Anfang her gesehen handelt es sich jedoch bereits auf der Kamel- und der Löwenstufe um humane Lebewesen, die eine christlich bzw. ethisch begründete Moral internalisiert haben. Im Vergleich mit den Kamel- und Löwen-Menschen ist das „Kind“ kein Mensch mehr. Es hat deren
Ebd. Ebd., S. 31.
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Menschenbild über-wunden und muss entsprechend als Über-Mensch bezeichnet werden. Zarathustra ist auf dem Weg von B nach C und befindet sich wie Kierkegaards Ethiker in einem Zwischenstadium, das es beiden erlaubt, als Lehrer der Existenz aufzutreten. Doch ihre Programme sind so verschieden wie ihre Schüler. Der Ethiker möchte den Ästhetiker dazu bringen, sich für das Moralprinzip zu entscheiden und das Genussprinzip hintan zu stellen. Er verbürgt sich persönlich dafür, dass Freiheit nur auf dem Boden moralischer Selbstbestimmung einen dauerhaften Sinn zu generieren vermag, ist aber selber noch nicht zur christlichen Sinnorientierung vorgestoßen. Zarathustra hingegen gibt sich als Lehrer mit Menschen auf der Kamelstufe gar nicht erst ab. Sie zählen für ihn zur Spezies des „letzten Menschen“, der nicht einmal mehr das Lustprinzip befolgt, sondern Anstrengungen aller Art vermeidet und sich mit einem „Lüstchen für den Tag“ und einem „Lüstchen für die Nacht“ begnügt.¹⁶ Zarathustra sucht sich Schüler, die wie er die Löwenstufe erreicht haben und diese zu überwinden trachten. Indem er sie mittels seiner Reden dazu anhält, sich auf die Suche nach dem „Kind“ in ihnen zu machen, wird auch ihm selbst der Weg zu seiner persönlichen Autonomie immer klarer. Die von Zarathustra in seinen Vorträgen verwendeten Gleichnisse und Bilder und auch der aphoristische Stil sind bereits Ausdruck jenes Spiels, als welches ein ästhetisch Existierender nach selbst gesetzten Spielregeln oder frei improvisierend sein Leben organisiert. In seinen moralphilosophischen Schriften führt Nietzsche aus, wie jemand philosophieren muss, um sich auf das „Kind“ vorzubereiten, wenn er den Aufruf „Werde, der du bist!“ ernst nimmt. Er muss genealogisch vorgehen und als erstes mit all den kulturellen Vor-Urteilen aufräumen, die er als sein Denken und Handeln bestimmende Orientierungsmuster übernommen hat. Als zweites muss er die Herkunft dieser normativen Konstrukte auskundschaften, um herauszufinden, welche Wertüberzeugungen den Ausschlag dafür gegeben haben, dass gerade sie sich durchsetzen konnten. Als drittes schließlich muss er die Wurzel freigelegen, aus welcher die abendländische Tradition gewachsen ist, und den Nachweis erbringen, dass daraus statt des Essentialismus auch eine andere Art, die Welt zu deuten, hätte hervorgehen können, die sich den Blick bewahrt hätte für das vom Essentialismus Ausgeschlossene, in keinen allgemeinen Raster Passende: das Zufällige, Besondere, Einmalige, das sich nur erzählen lässt als die Geschichte einer individuellen Selbstwerdung im Ringen um Autonomie.
Ebd., S. 20.
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III Existenzphilosophie und Ethik im 20. Jahrhundert Kierkegaard und Nietzsche waren die Wegbereiter für existenzielle und existenzialistische Denker des 20. Jahrhunderts, auf die ich am Leitfaden des Stichworts Autonomie nurmehr kursorisch eingehe. Aus einschlägigen Schriften Jaspers’ und Heideggers einerseits, Sartres und Camus’ andererseits lässt sich eine implizite Ethik herauslesen, in welcher der Freiheitsbegriff als eine Kategorie der Bewegung entwickelt wird und damit auf Überlegungen der „Klassiker“ der Existenzphilosophie zur Selbstwahl und zum Selbstwerden zurückgeführt werden kann. Ein Unterschied, der zwischen den deutschen und den französischen Existenzphilosophen auffällt, zeigt sich darin, dass letztere ihre philosophischen Abhandlungen durch literarische Texte (Dramen, Romane, Erzählungen) ergänzt und damit das nur narrativ darstellbare Geschichtlich-Konkrete des individuellen Entwicklungsprozesses stärker mit einbezogen haben als die ersteren. Karl Jaspers hat sich unter dem Titel Vernunft und Existenz ¹⁷ mit beiden Urvätern der Existenzphilosophie beschäftigt und außerdem Nietzsche eine aus Vorlesungen hervorgegangene umfangreiche Schrift gewidmet.¹⁸ Unter Jaspers’ Werken findet sich keines, das den Titel „Ethik“ trägt, doch der für die Ethik zentrale Begriff der Freiheit spielt in seinen existenzphilosophischen Analysen eine wichtige Rolle. Jaspers benutzt das Bild des Umgreifenden¹⁹, um auf dessen Folie die Existenz und die Weisen des Menschseins (Dasein, Bewusstsein, Geist) als etwas Ganzheitliches charakterisieren zu können: Nicht wir be-greifen das mit Existenz Gemeinte, etwa durch dessen Lokalisierung in einem Begriffssystem, sondern die Existenz umgreift uns in der Gesamtheit unseres Seins und ermöglicht uns jene Bewegung des Transzendierens, die ein Herausgehen aus dem eigenen Ursprung ist, eine Selbstüberschreitung, durch welche zugleich das Selbst allererst als eine Sinnganzheit entsteht. Jaspers hat die Kategorie des Sprunges von Kierkegaard übernommen und den Ur-Sprung als Freiheitsakt ausgelegt, in dem gleichsam die Menschwerdung geschieht dadurch, dass der Einzelne seine mögliche Existenz ergreift und sich von ihr umgreifen lässt.
Karl Jaspers, Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen, München: Piper 1960. Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin und New York: de Gruyter 1974. Jaspers (1960), S. 42– 70.
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Gelangt der Mensch als Dasein durch Bewusstsein und Denken in das Licht, dann erfährt er seine freie Existenz, sich geschenkt von der Transzendenz. Existenz und Transzendenz werden ihm zu einer einzigen Grundwirklichkeit.²⁰
„Freiheit, Hellwerden des Unbedingten, Gemeinschaft selbstseiender Wesen – das ist dasselbe“, heißt es an einer anderen Stelle.²¹ „Die Freiheit“, so Jaspers weiter, spricht zur Freiheit, geht auf Erweckung des Anspruchs an Menschenwürde, auf die Erhellung des Denkens des Möglichen, horcht auf die Sprache der Transzendenz.“²² Es kann also nach Jaspers niemand für sich allein im einsamen Kämmerchen frei sein. Unter lauter Unfreien ist auch der Einzelne nicht frei, egal wo er sich aufhält. Individuelle Freiheit und soziale Freiheit bedingen einander und machen damit Freiheit als solche zu einer öffentlichen Angelegenheit. Das Ethos der Gemeinschaft verbindet deren Mitglieder durch den Anspruch des Unbedingten, der von ihnen allen in gleicher Weise ein menschlichen Wesen angemessenes Verhalten und damit Menschenwürde verlangt. Mit Nietzsche verbindet Jaspers die Absage an eine Religiosität, die das Göttliche in irgendeiner Weise personalisiert oder institutionalisiert. Was Jaspers an Nietzsche jedoch abstößt, ist dessen Gottlosigkeit. Die Destruktion des Christentums führt nach Jaspers nicht automatisch zum Atheismus. Jaspers, der für einen philosophischen Glauben plädiert, ist davon überzeugt, dass menschliches Selbstsein ohne Transzendenz, ohne Bezug auf einen Gott, der begrifflich unbestimmt bleiben muss, sich selbst verfehlt. Alle Vernunft gründe sich auf Transzendenz. Nietzsche habe Zuflucht in einem selbst erdachten Glauben und in selbst gemachten Symbolen gesucht, bei Ersatzgöttern wie Dionysos und dem Übermenschen, doch: [S]ein nihilistisches Transzendieren erreicht nicht die Ruhe im Sein. Daher ist Nietzsches Gottlosigkeit die sich steigernde Unruhe eines sich vielleicht nicht mehr verstehenden Gottsuchens.²³
Jaspers hält Nietzsches Verständnis von Freiheit für verfehlt, weil sie eine „Freiheit ohne Transzendenz“ sei. „Freiheit, die Nietzsche anerkennt und behauptet, ist transzendenzloses Insichgegründetsein und Aussichleben.“²⁴ Die Schwierigkeit, Jaspers’ Einwand zu verstehen, liegt darin, dass er den Begriff der Transzendenz in
Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München/Zürich: Piper 1962, S. 220. Ebd., S. 136. Ebd., S. 137. Jaspers (1974), S. 433. Ebd., 155.
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einer doppelten Weise verwendet. Zum einen ist mit Transzendenz die Bewegung des Herausgehens aus dem Ursprung gemeint, im Sinn des lateinischen Verbs transcendere, das ein Überschreiten bedeutet und damit auf das Gehen eines Weges verweist, der seinen Anfang in der Freiheit hat. Die Freiheit als der Ursprung des menschlichen Seinsvollzugs bringt den Menschen auf den Weg. Soweit stimmt Jaspers mit Nietzsche überein. Auch darin, dass dieser Weg zunächst wegführt vom traditionell für gültig Gehaltenen und insofern einen Bruch mit althergebrachten Idealen und Wertvorstellungen herbeiführt. Freiheit ist in ihrem ersten Schritt Freiheit von: nämlich von jeglicher Fremdbestimmung. In einem zweiten Schritt muss diese negative Freiheit, die sich von ihren genealogischen Wurzeln abgeschnitten hat, positiv werden: Freiheit zu: nämlich zu eigenen Wertund Sinnschöpfungen. Genau an diesem Punkt wendet sich Jaspers von Nietzsche ab. Nietzsche habe die positive Freiheit qua Freiheit zu in einem Schaffen verankert, das sich allein aus seinem Selbstursprung speise und entsprechend der im Freiheitsakt vollzogenen Bewegung des Transzendierens weder Richtung noch Ziel vorgebe. Diese Weise des sich selbst aus seinem Ursprung Hervorbringens bezeichnet Jaspers als „Freiheit ohne Transzendenz“²⁵. Und hier meint er nicht mehr die Bewegung des transcendere, des Heraustretens aus dem Ursprung, sondern verwendet den Ausdruck „Transzendenz“ substantivisch als Pendant des Begriffs Immanenz. Jenseits des Lebensweltlich-Immanenten befindet sich die Transzendenz, traditionell ausgedrückt: der Gott. Die Transzendenz markiert eine Grenze, die nicht überschritten werden kann, gleichwohl aber auf einen ewigen Sinn verweist, der die Immanenz übersteigt und dem nach Sinn suchenden Menschen eine Orientierungshilfe gibt. Jaspers, so könnte man zusammenfassend sagen,vertritt eine Position, die der des Kierkegaardschen Ethikers B nahesteht, die christliche Existenz jedoch (Position C) ebenso ablehnt wie Nietzsches Konzept einer ästhetischen Existenz als höchster Lebensform. Martin Heidegger hat Kierkegaard wenig Reverenz erwiesen, obwohl sich Sein und Zeit ²⁶ über weite Strecken als ein Kommentar zu Kierkegaards Analysen der menschlichen Existenz lesen lässt. Wie Jaspers hat auch Heidegger Vorlesungen über Nietzsche gehalten und diese in zwei Bänden veröffentlicht.²⁷ Zum Thema Freiheit hat er sich relativ selten geäußert und noch seltener zur Frage der Notwendigkeit einer philosophischen Ethik Stellung genommen. Dies hängt damit
Ebd., S. 155 ff. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1963. Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen: Neske 1961.
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zusammen, dass er der neuzeitlichen Philosophie der Subjektivität Seinsvergessenheit vorwarf und seine vordringliche Aufgabe darin sah, zu den Wurzeln der Metaphysik in der vorsokratischen Philosophie zurückzukehren, um von dorther eine Fundamentalontologie zu entwerfen, die als existenziale Analytik des Daseins tragfähige Aussagen über den Sinn des Seienden als solchen ermöglicht. In Sein und Zeit schließt Heidegger an eine Charakterisierung des alltäglichen Selbstseins und des „Man“ (Nietzsches Kamelstufe) eine Begründung für die Selbstverfehlung an, die er nicht auf die „‚Gleichgültigkeit der Willkür‘ (libertas indifferentiae)“ zurückführt, sondern auf das Verpassen von Möglichkeiten: Das Dasein ist als wesentlich befindliches je schon in bestimmte Möglichkeiten hineingeraten, als Seinkönnen, das es ist, hat es solche vorbeigehen lassen, es begibt sich ständig der Möglichkeiten seines Seins, ergreift sie und vergreift sich. Das besagt aber: das Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit. Das Dasein ist die Möglichkeit des Freiseins für das eigenste Seinkönnen.²⁸
Das „Geworfensein“ verweist auf die Zufälligkeit und Endlichkeit des Daseins, das im Wissen um seine „Freiheit zum Tode“²⁹ verantwortlich ist für das Gelingen seines Selbstseins. Aus seinem Brief Über den Humanismus, geschrieben im Herbst 1946 an Jean Beaufret³⁰, geht hervor, warum Heidegger eine neben der Ontologie zu etablierende Ethik ablehnt. Wer Ethik betreibe, wertet. Wertungen verkürzten jedoch das Sein, insofern es nicht in seiner Gänze an sich selbst bedacht werde, sondern nur hinsichtlich seiner Bedeutung für das Subjekt in den Blick gelange: [D]urch die Einschätzung von etwas als Wert wird das Gewertete nur als Gegenstand für die Schätzung des Menschen zugelassen. Aber das, was etwas in seinem Sein ist, erschöpft sich nicht in seiner Gegenständigkeit, vollends dann nicht, wenn die Gegenständlichkeit den Charakter des Wertes hat. Alles Werten ist, auch wo es positiv wertet, eine Subjektivierung. Es lässt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten lässt das Seiende lediglich als das Objekt seines Tuns – gelten.³¹
Die Ethik fördert nach Heidegger noch die Verstiegenheit des Menschen in die Subjektivität und verdrängt die Einsicht, dass das Wesen des Menschseins aus der Wahrheit des Seins insgesamt zu denken sei. Indem die Fundamentalontologie diese Wahrheit entbirgt und zur Sprache bringt, macht sie eine Ethik überflüssig, weil sich von selbst versteht, dass die „humanitas des homo humanus“ darin
Heidegger (1963), S. 144. Ebd., S. 266. Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann o.J. Ebd., S. 34 f.
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besteht, sich im Sein aufzuhalten und in dessen Wahrheit zu wohnen, wie es die ursprüngliche Bedeutung von Ethos nahelegt.³² Heidegger verwirft im Grunde sowohl das Kierkegaardsche als auch Nietzsches Dreistufenmodell, weil beide aus der Perspektive des Subjekts entworfen sind, unter Ausblendung des Seins als jener Ursprungsdimension, welcher auch das ek-sistere des Menschen die Möglichkeit der Selbstentfaltung verdankt. Jean-Paul Sartre hat seinen atheistischen Existenzialismus weniger im Anschluss an die klassische Existenzphilosophie als an die Phänomenologie Edmund Husserls entwickelt. Dennoch weist seine These, dass die Existenz der Essenz vorausgehe,³³ eine gewisse Nähe zu Kierkegaard und Nietzsche auf: Der Mensch muss zuerst einmal sein, bevor er daran gehen kann, sein Wesen zu bestimmen. Dieses Wesen ist nicht bereits (durch göttliche Schöpfung oder die Natur) in ihm angelegt, sodass er es nur in die Wirklichkeit überführen muss, sondern es entsteht allererst als das, was ein Mensch in Freiheit aus sich macht. Zur Freiheit verurteilt, hat das Individuum nur die Wahl, sich selbst zu bestimmen oder sich von anderen bestimmen zu lassen. So oder so ist es das Resultat seiner Wahl, denn auch die Entscheidung, nicht zu wählen, ist eine Wahl. Im Kapitel über die Freiheit in Das Sein und das Nichts ³⁴ entfaltet Sartre die Struktur des „ich selbst als Transzendenz“³⁵, indem er das Hervorbrechen der Freiheit mit den Zielen und Zwecken verknüpft, an deren Verfolgung ein Individuum seinen Lebensentwurf festmacht. Im Zuge der Umsetzung und ständigen Anpassung des Initialentwurfs an veränderte Interessen und wechselnde Situationen bildet sich das Wesen der handelnden Person heraus, die verantwortlich ist für alles, was aus ihr geworden ist. Die Kontingenz menschlichen Seins entlastet das „ich“ nicht von der Verpflichtung, für seine Entscheidungen geradestehen zu müssen, denn es trifft seine Wahl stets in einem lebensweltlich verankerten Kontext, sodass es als alleiniger Urheber seines Handelns rechtfertigungspflichtig ist gegenüber den von dessen Auswirkungen Betroffenen. Dies ist der Punkt, an dem die Ethik ins Spiel kommt.
Ebd., S. 41 ff. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, übers. von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek: Rowohlt 1991, S. 761. Vgl. auch JeanPaul Sarte „Ist der Existentialismus ein Humanismus?,“ in: Drei Essays, Frankfurt am Main/ Berlin/Wien: Ullstein 1983, S. 7– 51, hier S. 9. Sartre (1991), S. 753 – 955. Ebd., S. 760.
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Der Mensch schafft sich, er ist nicht von Anfang an fertig geschaffen; er schafft sich, indem er seine Moral wählt, und der Druck der Umstände ist derartig, dass er nicht anders kann, als eine wählen.³⁶
Die Wahl der Moral erfolgt nicht beliebig, sondern „im Angesicht der andern“³⁷, deren Freiheit die eigene Freiheit ermöglicht und umgekehrt, sodass Freiheit als der höchste von Menschen geschaffene Wert jenen Humanismus begründet, den Sartre als das soziale Fundament seines Existentialismus verstanden wissen wollte. Wie wichtig Sartre die Ethik im Allgemeinen, das Autonomieprinzip im Besonderen war, geht aus den fast 1000 Seiten umfassenden Entwürfen für eine Moralphilosophie ³⁸ hervor, die üppiges Material für eine von Sartre nicht ausgearbeitete Ethik enthalten. Sartres Position weist Ähnlichkeiten mit der des Kierkegaardschen Ethikers auf, dessen Analyse der Selbstwahl ebenfalls die soziale Vernetzung von „ich“ und „wir“ im Freiheitsvollzug herausarbeitet. Allerdings stellt Sartres rigorose Streichung der religiösen Dimension und der Möglichkeit des Sprunges in die christliche Lebensform eine Verbindung zu Nietzsche her. Doch der ästhetischen Existenz des „Kindes“ fehlt aus Sartres Sicht wiederum der soziale Bezug zu den Mitmenschen. Die Fokussierung auf die Selbstüberwindung blendet aus, dass dieses „Selbst“ trotz aller berechtigten Kritik an der „Kamel“- und der „Löwen“Einstellung die Freiheit seines Schaffens nicht isoliert in einem wir-losen Robinson-Dasein ausübt, sondern in einer Gemeinschaft mit anderen, die ebenfalls Anspruch auf ihre Autonomie erheben und als Mitspieler im Spiel des Lebens akzeptiert werden müssen, was die Vereinbarung von kollektiv verbindlichen Spielregeln notwendig macht. Die Selbstwerdung des „ich“ muss für Sartre immer auch die „wir“-Werdung der anderen, letztendlich die Autonomwerdung der Menschheit insgesamt im Auge behalten. Albert Camus war nicht einverstanden mit Sartres These, dass die Existenz der Essenz vorausgehe. Aber auch die Apriorität der Essenz lehnte er ab. „Sie gehen und erheben sich beide im gleichen Schritt.“³⁹ Sein und Wesen sind gleichursprünglich und bedingen einander wechselseitig. Das Sein definiert sich im Leben je schon über Wesensbestimmungen, so wie umgekehrt das Wesen je schon dem
Sartre (1983), S. 30. Ebd., S. 31. Jean-Paul Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, übers. von Hans Schöneberg und Vincent von Wroblewsky, Reinbek: Rowohlt 2005. Albert Camus, Tagebuch 1951 – 1959, übersetzt von Guido G. Meister, Reinbek: Rowohlt 1991, S. 95.
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Sein inhäriert. Im Grundwert der Freiheit fallen Sein und Wesen zusammen: Freiheit existiert nur als gesollte im Akt der Selbstautorisierung des Willens. Camus hatte nicht viel übrig für die Ethik. Als Dreiundzwanzigjähriger hielt er noch in seinem Tagebuch fest: Wenn ich hier eine Morallehre schreiben müsste, würde das Buch hundert Seiten umfassen, und davon wären 99 leer. Auf die letzte würde ich schreiben: „Ich kenne nur eine einzige Pflicht, das ist die Pflicht, zu lieben.“⁴⁰
Als er doppelt so alt war, notierte er: Ich habe den moralischen Standpunkt aufgegeben. Die Moral führt zur Abstraktion und zur Ungerechtigkeit. Sie ist die Mutter des Fanatismus und der Verblendung. Wer tugendhaft ist, muss Köpfe abschneiden. […] Die Moral zerteilt, trennt, zehrt ab. Man muss sie fliehen […].⁴¹
Trotz seiner Vorbehalte gegen den Unbedingtheitsanspruch und die Kategorizität ethischer Forderungen, die zu Fanatismus und Fundamentalismus verführen, hat Camus durchwegs Freiheit und Gerechtigkeit als die höchsten menschlichen Werte verteidigt. In seiner Version des Sisyphosmythos,⁴² der die Autonomwerdung des Einzelnen im Kampf gegen die absurden Ausgangsbedingungen der menschlichen Existenz erzählt, werden Freiheit und Gerechtigkeit sogar gegen die Götter als unabdingbare, die Menschenwürde verbürgende Werte eingeklagt. Nicht einmal allmächtige Wesen dürfen sich das Recht anmaßen, den Menschen seiner Würde zu berauben. Indem sie Sisyphos bar jeder Gerechtigkeit zu einer sinnlosen Tätigkeit verurteilten, haben sie sich als Götter disqualifiziert, und daraus leitet der Delinquent die Befugnis ab, sie zu verachten und ihre Absicht zu durchkreuzen. Sisyphos nimmt sein Schicksal selbst in die Hand. Zwar muss er auch weiterhin seinen Stein wälzen, und er kann nicht verhindern, dass dieser immer wieder vom Gipfel herabrollt, aber er vermag das Ziel der Götter zu ignorieren. Er will nun nicht mehr, dass der Stein oben liegen bleibt und die ewige Plackerei ein Ende hat. Sein Ziel ist jetzt der Weg, und jeder Schritt, den er mit seinem steinernen Gefährten erfolgreich zurücklegt, ist ein Ankommen. So erreicht er in jedem Augenblick, was er sich vorgenommen hat, sein Leben ist nicht mehr sinnlos, nachdem er selbst darüber bestimmt, was ihm wertvoll ist, und sich nicht mehr
Albert Camus, Tagebücher 1935 – 1951, übers. von Guido G. Meister, Reinbek: Rowohlt 1972, S. 36. Camus (1991), S. 339. Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, übers. von Vincent von Wroblewsky, Reinbek: Rowohlt 1999.
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von fremden Wertvorgaben beirren lässt. Sein Lebensentwurf ist geglückt, deshalb „müssen [wir] uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“⁴³ Camus hat in seinem Werk Der Mensch in der Revolte ⁴⁴ den Sisyphosmythos durch den Prometheusmythos ergänzt und den Blick auf die absurde Existenz des einsam um seine Autonomie ringenden Kämpfers erweitert, indem er Sisyphos entdecken lässt, dass er nicht allein ist, sondern sein Schicksal mit anderen Menschen teilt, die ebenfalls ihren Stein wälzen. Die gemeinsame Qual verbindet und erzeugt Solidarität. Wo Freiheit und Gerechtigkeit verteidigt werden müssen, haben die Menschen nur sich als Garanten für die Rechtmäßigkeit ihres Protestes gegen die Unzumutbarkeit ihrer Lebensbedingungen. Die kollektive Empörung begründet eine Ethik der Solidarität, die von jedem Einzelnen fordert, auf Gewalt zu verzichten und sein Verlangen nach Freiheit und Gerechtigkeit nicht zu verabsolutieren, sondern zu begrenzen. „Die absolute Freiheit ist das Recht des Stärkeren zu herrschen. Die absolute Gerechtigkeit schreitet über die Unterdrückung jedes Widerspruchs: sie zerstört die Freiheit.“⁴⁵ Camus plädiert daher für eine moralische Einstellung, die sich auf ein „Denken in relativen Größen“ gründet⁴⁶ und – inspiriert durch „Nemesis, die Göttin des Maßes“⁴⁷ – dem „ich“ eine Grenze am „wir“ setzt. „Ich empöre mich, also sind wir. […] Wenn wir nicht sind, bin ich nicht.“⁴⁸ Die implizite Ethik, die Camus’ gesamtes, auch das literarische Werk, durchzieht, enthält eine klare Kritik an anderen existenzphilosophischen Positionen. Gegen Kierkegaard, aber auch gegen Jaspers und Heidegger erhob Camus den Vorwurf, sie hätten „philosophischen Selbstmord“ begangen.⁴⁹ Durch den „Sprung“ in ein irrationales Jenseits hätten sie sich den Widersprüchen des Daseins zu entziehen versucht, um „sich in den vertrauten Kulissen des Ewigen zu beruhigen.“⁵⁰ Camus hält diese Flucht für unredlich, weil dadurch das einzig Verlässliche, die klare Vernunft des Menschen, desavouiert und alle Bemühungen um einen ‚irdischen‘ Sinn entwertet würden. Noch schärfer zieht Camus gegen den Existenzialismus Sartrescher Provenienz zu Felde. In der Weltanschauung „aggressiver Greise“ sei das Mitleid völlig ausgelöscht worden. Als „Intellektuelle des Fortschritts“ seien sie zu „Strickerinnen der Dialektik“ geworden. „Bei jedem
Ebd., S. 160. Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, übers. von Justus Streller, Reinbek: Rowohlt 1953. Ebd., S. 233. Ebd., S. 238. Ebd., S. 240. Ebd., S. 21, 228. Ebd., S. 35 ff., 42 ff. Ebd., S. 66.
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Kopf, der fällt, nehmen sie die Maschen der von den Tatsachen zerrissenen Überlegung wieder auf.“⁵¹ Die Utopie einer freien und gerechten Menschheit als Endzweck rechtfertigte aus Camus’ Sicht in keiner Weise den Einsatz von Gewaltmitteln. Lässt sich Gewalt in Form von Notwehr nicht vermeiden, kann diese nicht moralisch gutgeheißen werden, denn es bleibt trotzdem eine Schuld, die als solche anerkannt werden muss, um die Gültigkeit der Regel, prinzipiell keine Gewalt auszuüben, zu bezeugen. Am meisten beeinflusst war Camus von Nietzsche. Der Zorn des Löwen macht sich im Protest des empörten Menschen unüberhörbar Luft. Zarathustra kehrt in der Figur des Sisyphos wieder: Beide zeichnen durch ihre Bewegungen hinauf und hinab in ewiger Wiederkehr des Gleichen ihre Kreise ins Gebirge ein, auf der Suche nach ihrem Sinnmittelpunkt, dem „Kind“ in ihnen. Beide haben Dionysos vor Augen, aber ihnen fehlt noch dessen tänzerische Leichtigkeit und Eleganz. Existenzphilosophie und Ethik, so hat die Analyse des Freiheitskonzepts von Kierkegaard bis Camus gezeigt, gehören untrennbar zusammen, weil das Selbstwerden des Einzelnen sich nicht als Aneinanderreihung von Willkürakten vollzieht, sondern am Leitfaden eines selbst erhobenen moralischen Anspruchs erfolgt. Eingebettet in die Darstellung unterschiedlicher individueller Lebensformen kommen die Prinzipien moralischen Verhaltens zur Sprache und lassen sich unabhängig vom narrativen Kontext einem bestimmten Typus von Ethik zuordnen. Allen Existenzphilosophen ist jedoch gemeinsam, dass sie kein eigenes, von der Existenzphilosophie losgelöstes System der Ethik entwickelt haben, was wiederum mit ihrer kritischen Einstellung gegenüber dem Essentialismus der traditionellen Philosophie zusammenhängt. Moral ist zwar eine normative Grundlage menschlichen Existierens schlechthin, aber gelebte Moral lässt sich im Rahmen einer abstrakten Ethik nicht situieren. Sie hat ihren Ort in Entwicklungsgeschichten von Einzelpersonen, die ihre höchst eigenen Freiheitskämpfe ausfechten.
Camus (1991), S. 137, 251.
Teil I: Existenzphilosophie in Auseinandersetzung mit traditionellen Ethiken
Tilo Wesche
Moral und Freiheit Kants Begründung moralischer Pflichten Abstract: I will argue for two points: first, that autonomy is the source of obligation; and second, that the knowledge of autonomy is constituted by a source which is not the object of knowledge. The argument follows Kant with strong modifications inspired by Schelling and Kierkegaard.
Einleitung Die Tatsache, dass Kants Ethik von Anbeginn einen Meilenstein markierte, um den keine ernsthafte Beschäftigung mit Moral forthin herumkommt, verdankt sich weniger seinen Lösungen als den Problemen, denen sich eine Ethik stellen muss. Mit unbestechlichem Blick wirft Kant Fragen auf, auf die, wie immer sie im Einzelnen beantwortet werden, Ethik eine Antwort finden muss. Sie betreffen das Programm einer Begründung von moralischen Forderungen. Moralischen Forderungen zufolge soll eine bestimmte Handlung getan oder unterlassen werden. Solche normativen Forderungen berechtigen dazu, dass ihre Zustimmung erwartet und eine Abweichung von ihnen kritisiert werden darf. Ihnen kommt somit die legitimationsbedürftige Autorität zu, Handlungen gebieten und verbieten zu können. Die Frage nach dem Grund des moralischen Sollens untersucht, wie moralische Forderungen aus der Ich-Perspektive begründet werden. Kants Frage ‚Was soll ich tun?‘ richtet sich auf den Grund, den ich dafür habe, mich bestimmten Geboten und Verboten zu unterwerfen. Der Grund wird also nicht stellvertretend aus der Theorieperspektive unbeteiligter Beobachter dargelegt, sondern aus der unvertretbaren Teilnehmerperspektive von moralischen Akteuren. Kants Ethik besitzt drei auffällige Merkmale. Das erste ist der gute Wille, worunter Kant versteht, dass im Wohlergehen oder der Unversehrtheit anderer der Grund moralischen Handelns liegt. Im Unterschied zu prudentiellen Tätigkeiten erfolgen moralische Handlungen nicht aus den selbstbezogenen Gründen einer Vorteilserwartung oder einer Abwendung von Nachteilen. Vielmehr dürfen sie gefordert werden, weil das Wohlergehen oder die Unversehrtheit der anderen Person für sich gut ist, weil, in Kants Ausdrucksweise, wir den anderen als Zweck an sich achten oder ihn als Person respektieren. Wir verstehen, was ‚moralisch‘
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bedeutet, wenn wir erklären können, weshalb das Handeln zugunsten anderer ein Gut an sich ist.¹ Kants Begriff des moralischen Gesetzes bildet das zweite Merkmal und betrifft die willensunabhängige Geltung der Forderungen. Moralische Gebote und Verbote besitzen einen willensunabhängigen Verpflichtungscharakter. Sie nehmen die Gestalt von Gesetzen an, weil ihnen eine Geltung unabhängig vom Willen der Adressaten zukommt. Ihre Verbindlichkeit hängt nicht von der Zustimmung der Akteure ab und tritt demnach schon vor deren Willen in Kraft. Nicht die Akteure entscheiden darüber, ob moralische Gebote – beispielsweise die Beistandspflicht – und Verbote – beispielsweise das Tötungsverbot – für sie bindend sind oder nicht. Trotzdem muss sich die moralische Autorität für die Akteure als legitim erweisen. Dieser Begründungsanspruch unterscheidet ihre autoritative Verbindlichkeit vom autoritären Charakter traditionalistischer Ethiken, die sich auf überlieferte Wertbindungen, religiöse Überzeugungen oder zeitlose Menschenbilder zu berufen versuchen. Gemäß der modernen Ethik müssen die Akteure die moralische Autorität anerkennen können. Die willensunabhängige Verbindlichkeit muss also aus der Teilnehmerperspektive einsehbar, das heißt gegenüber den Akteuren begründbar sein. Kants Begründung des moralischen Gesetzes durch Freiheit ist das wohl wichtigste, dritte Merkmal. Mit dieser Begründungsstrategie reagiert Kant auf das Erfordernis, dass das Prinzip, aus dem die moralische Geltung begründet wird, keine moralische Eigenschaft sein darf. Denn ansonsten würde die moralische Verbindlichkeit aus etwas abgeleitet werden, das bereits moralisch verbindlich sein soll. Warum ich moralische Rechte anderer achten und mich deren Forderungen unterwerfen soll, würde aus der bereits verbindlichen Achtung der Rechte und Anerkennung begründet werden. Die Begründung würde sich damit im Kreis bewegen. Damit dieser Zirkel vermieden wird, muss die Quelle der moralischen Autorität ein vor-moralisches Prinzip sein. Kant betrachtet die Freiheit als einen solchen vor-moralischen Grund für die Verbindlichkeit von moralischen Geboten und Verboten. Die folgenden Überlegungen widmen sich allein dem dritten Merkmal und richten den Fokus auf die Frage, inwieweit Freiheit bei Kant eine tragfähige Grundlage für die Begründung moralischer Forderungen bietet. Ich werde zunächst die einzelnen Argumente rekonstruieren, derer sich Kant bei der Begründung der Pflicht durch Freiheit bedient (I). Sodann untersuche ich Kants zweiten Argumentationsschritt, den Wert der Freiheit durch das moralische Handeln zu
Diese Auffassung wird von Ernst Tugendhat vertreten in: Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, 5. Vorlesung.
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begründen (II). Dieser Begründungsgang stellt bei Kant sozusagen die argumentativ unvermeidbare Kehrseite des ersten dar. Die Begründungen des moralischen Gesetzes durch Freiheit und dieser durch jenes gehen untrennbar Hand in Hand. Schließlich werde ich in einer Kritik am zweiten Argumentationsschritt die Bruchstelle in Kants Begründung aufzeigen und dabei mich auf Einwände stützen, die sich der Philosophie Kierkegaards entnehmen lassen (III).
I Kants Begründung der Pflicht durch Freiheit Im berühmten IV. Lehrsatz der Kritik der praktischen Vernunft unterscheidet Kant zwischen negativer und positiver Freiheit. Die Begründung der Pflicht durch Freiheit kommt erst dann ins Ziel, wenn beide Seiten unterschieden werden und in der Pflicht zugleich zur Deckung kommen. „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten […]. In der Unabhängigkeit nämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß, besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und als solche, praktischen Vernunft, ist Freiheit im positiven Verstande. Also drückt das moralische Gesetz nichts anders aus als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft.“² An späterer Stelle kommt Kant auf diesen Freiheitsbegriff zurück, in dem sich die Unabhängigkeit von Eigeninteressen und Pflichtethik kreuzen. „Freiheit und das Bewußtsein derselben, als eines Vermögens, mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist Unabhängigkeit von Neigungen.“³ Kants Begründung der Pflicht durch Freiheit baut auf zwei Annahmen auf.⁴ Beiden Annahmen liegt eine Prämisse zugrunde. Um die Argumentationsstruktur
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 2003, S. 44,24– 45,8 (AA V, 33). Die folgenden Ausführungen werden von mir in einem größeren Kontext dargestellt in: Tilo Wesche, Wahrheit und Werturteil. Eine Theorie der praktischen Rationalität, Tübingen: Mohr Siebeck 2011. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, ebd., S. 158,31– 34 (AA V, 117); vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1999, S. 53,33 – 37 (AA IV, 430). Die einzelnen Theorien, die sich Kants Begründung der Pflicht durch Freiheit widmen, und vor allem ihre Unterschiede kann ich hier nicht im Detail diskutieren. Ihr Konvergenzpunkt besteht darin, dass unter „Begründung“ nicht die subjektive Motivation, sondern die objektiven Gründe für die Geltung einer moralischen Lebensform verstanden wird. Vgl. Marcus Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart / Weimar: Metzler 1992; Christine Korsgaard, The Sources of Normativity, Cambridge: Cambridge University Press 1996; Rainer Forst, „Moralische Autonomie und Autonomie der Moral. Zu einer Theorie der
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von Kants Begründung zu rekonstruieren, müssen also diese Annahmen und die Prämisse erörtert werden. Die beiden Annahmen betreffen Kants Begriffe der negativen und der positiven Freiheit. Kants Argument lautet, dass Freiheit sich im Handeln aus Pflicht realisiert, und ist wie folgt aufgebaut: 1. Freiheit beinhaltet die Einschränkung des Eigeninteresses. Diese erste Annahme wird von Kant mithilfe des Begriffs der negativen Freiheit erklärt. 2. Das Eigeninteresse wird eingeschränkt (und damit Freiheit realisiert) nur durch die Anerkennung der Rechte, die die Interessen anderer Personen schützen.⁵ Der Erklärung dieser zweiten Annahme dient der Begriff der positiven Freiheit. Kant führt den Begriff der negativen Freiheit ein, um die Annahme zu begründen, dass Freiheit die Einschränkung von Eigeninteressen beinhaltet. Negative Freiheit bedeutet die Fähigkeit, unabhängig von Eigeninteressen zu handeln. Diese Unabhängigkeit von selbstbezogenen Interessen ist zentraler Bestandteil der Freiheit. Denn wenn Freiheit die Unabhängigkeit von notwendigen Faktoren bedeutet, und wenn Eigeninteressen durch Notwendigkeit gekennzeichnet sind, dann erfüllt sich Freiheit als die Unabhängigkeit von solchen Eigeninteressen. Kants Begriff der negativen Freiheit liefert demnach das Argument für die geforderte Einschränkung selbstbezogener Interessen und erklärt, warum wir dies überhaupt sollen. Wir sollen Eigeninteressen einhegen, weil sich dadurch Freiheit realisiert. Das Sollen gründet demnach auf der Freiheit. Kants Begriff der positiven Freiheit dient argumentationsstrategisch dem Ziel, dem Sollen sein moralisches Leben einzuhauchen. Negative Freiheit erklärt zwar, weshalb freie Wesen Eigeninteressen einschränken sollen, nicht aber, warum sich hieraus Konsequenzen für die Moral ergeben. Damit das Sollen ein moralisches Sollen wird, bedarf es der positiven Freiheit. Negative Freiheit allein ist moralisch leer. Sie lässt im Dunkeln, weshalb die Forderung nach Selbstbeschränkung dem sozialen Miteinander zugutekommt und beispielsweise die Pflicht impliziert, anderen in Not zu helfen. Negative Freiheit lässt den Klärungsbedarf ungedeckt, warum Eigeninteressen dann und nur dann eingeschränkt werden, wenn die Rechte anderer anerkannt werden. Das Sollen besitzt ein moralisches Gewicht deshalb, weil die geforderte Einhegung von Eigeninteressen nur in der Form eines moralischen Handelns zugunsten anderer bewerkstelligt wird. Wir schränken unser Eigeninteresse ein, indem wir uns der Geltung moralischer Rechte anderer unterwerfen. Eigeninter-
Normativität nach Kant“, in ders., Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 74– 99. Kants Vorstellung von unvollkommenen Pflichten, also Pflichten, denen keine Rechte korrespondieren, ist in Bezug auf Pflichten gegenüber anderen irreführend und scheint für Kant ohnehin von systematischem Gewicht nur in Bezug auf die Pflichten gegen sich selbst zu sein.
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essen werden nur dadurch eingeschränkt, dass sie der Anerkennung allgemeiner Rechte untergeordnet werden. Denn sofern Eigeninteressen einen notwendigen Antrieb bilden, können wir uns ihrer nicht kurzerhand entledigen. Stattdessen bedarf es einer anderen Größe, der ein Vorrang gebührt und der die Eigeninteressen untergeordnet werden können. Diese Größe ist die Gleichheit mit den Anderen als vernunftbegabte und verletzbare Wesen. Die eigenen Ansprüche etwa auf Hilfe in Not besitzen ein äquivalentes Gegengewicht in dem gleichen Recht, das andere Personen wahrnehmen können. Uneigennütziges Handeln gelingt nicht durch Entsagung oder Unterdrückung von Eigeninteressen, sondern mit deren Einschränkung, indem wir Personen als Rechtsträger anerkennen und ihre Ansprüche respektieren. Der Grund des moralischen Sollens ist also die Freiheit, die wir allein dadurch realisieren, dass wir uns der Autorität moralischer Ansprüche unterwerfen. Kants Verknüpfung von Pflicht und Autonomie setzt eine Prämisse voraus. Die anthropologische Prämisse besteht in der Auffassung, dass Eigeninteressen durch Notwendigkeit gekennzeichnet sind. Die Prämisse notwendiger Eigeninteressen drückt Kant terminologisch durch den Gegensatz zwischen Natur und Freiheit aus. Neigungen und Bedürfnisse werden der Natur und Kausalität zugeordnet, die im Gegensatz zur Freiheit stehen. Kants Ansicht von der Notwendigkeit des Eigeninteresses steht in einer Linie mit Hobbes’ Bild vom notwendigen Antrieb der individuellen Selbsterhaltung und Schopenhauers Idee des unverfügbaren principium individuationis. a) Die Prämisse, dass Eigeninteressen durch Notwendigkeit gekennzeichnet sind, betrifft zunächst die negative Freiheit. Die Prämisse wird vorausgesetzt, weil nur unter ihrer Bedingung der Gedanke stichhaltig ist, dass Freiheit die Unabhängigkeit von Eigeninteressen einschließt. Denn Freiheit erfüllt sich nur dann als Freiheit von selbstbezogenen Interessen, wenn diese Interessen eine Notwendigkeit charakterisiert, die der Freiheit entgegensteht. Zwei Merkmale kennzeichnen die Notwendigkeit des Eigeninteresses: Zwang und Zufall. Eigeninteressen gehören erstens zu einem Begehrungsvermögen, das als Zwang erfahren wird. Die Lebensführung ist unfrei im Hinblick auf den „Zwange selbst wahrer Bedürfnisse“⁶, nach deren Befriedigung gestrebt werden muss. Das unausweichliche Streben nach der Befriedigung von Neigungen und Bedürfnissen ist eine Eigenschaft der sinnlichen Natur des Menschen. Eigeninteressen gehören zur menschlichen Natur und sind notwendige Antriebskräfte, die wir nicht kurzerhand ausknipsen können. Das Handeln frei von Eigeninteressen ist deshalb bei Kant keineswegs gleichbedeutend mit einem Rigorismus, ohne Eigeninteressen zu
Kant, Kritik der praktischen Vernunft, ebd., S. 213,29 – 30 (AA V, 160).
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handeln, sondern bedeutet recht verstanden, dass Eigeninteressen eingeschränkt werden können.⁷ Eigeninteressen dürfen, in Kants Worten, keine bestimmenden, aber affizierenden Bewegursachen unseres Begehrens sein.⁸ Die Realisierung eines Handlungsziels hängt zweitens von kontingenten „Glücksumständen“ ab.⁹ Zu solchen Umständen zählen unverfügbare Bedingungen, deren Urheber nicht der Akteur ist; beispielsweise Talente, günstige Zeitumstände und äußere Güter wie ererbter Reichtum. Ob ein Lebensplan glückt oder scheitert, hängt wesentlich von solchen kontingenten Bedingungen des Handelns ab. Die Freiheit, über das eigene Schicksal zu bestimmen, verlangt deshalb nach einer Lebensform, in der Umstände, die nicht in unserer Hand liegen, eine möglichst geringe Rolle spielen. Im Kontrast zu Aristoteles, der die vita contemplativa als effektivste Eindämmung des Zufalls veranschlagt,weist Kant der moralischen Lebensform diese Leistung zu.¹⁰ Die moralische Lebensform realisiert sich in der Gesinnung, die moralischen Rechte der anderen anzuerkennen und dadurch das Eigeninteresse einzuschränken. Dass die moralische Lebensform realisiert wird unabhängig von Handlungsfolgen, deren Erfolg von zwangsläufig kontingenten Handlungsbedingungen mit abhängt, macht das Wesensmerkmal der deontologischen Ethik aus. b) Die Prämisse, dass Eigeninteressen durch Notwendigkeit charakterisiert sind, wird auch von der positiven Freiheit vorausgesetzt. Die Annahme, dass das Eigeninteresse allein durch die Anerkennung der Rechte anderer eingeschränkt wird, ist zwingend nur unter der Voraussetzung, dass Eigeninteressen unvermeidlich sind und nicht anders – etwa durch Verzicht, Entsagung oder Unterdrückung – als durch die einschränkende Autorität der Rechte eingehegt werden. Wir können zwar einzelne Interessen aufgeben, nicht aber das Eigeninteresse selbst fallen lassen und uns von ihm lösen. Das Eigeninteresse ist ein unausweichliches Verlangen, das man ebenso wenig abstreifen kann, wie man aus seiner Haut steigen kann. Wir können unsere sinnliche Natur zwar nicht ablegen, aber uns – so Kants terminus technicus – über sie „erheben“¹¹. Wir erheben uns über unser Eigeninteresse dann und nur dann, wenn es von den anerkannten Rechten anderer eingeschränkt wird.
Den Vorwurf des Rigorismus weist nachdrücklich zurück: Stephen Engstrom, The Form of Practical Knowledge. A Study of the Categorical Imperative, Cambridge/Mass.: Harvard University Press 2009, bes. S. 25 – 94. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, ebd., S. 158,34– 159,2 (AA V, 117). Ebd., S. 214,15 (AA V, 161); vgl. S. 25,12; 25,32; 33,7; 34,3; 83,28 – 29 (AA V, 20, 21, 25, 26, 61). Aristoteles, Nikomachische Ethik 1177a28 – 35. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, ebd., S. 109,28 (AA V, 80).
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Kants Begründung der Pflicht aus der Freiheit sichert seiner Ethik einen moralischen Minimalismus. Freiheit soll einerseits eine tragfähige Grundlage bieten, die robust genug ist, um moralische Forderungen zu begründen. Andererseits soll Freiheit ein schlankes Konzept bieten, welches eine zu große Kluft zwischen Moraltheorie und moralischer Praxis verhindert. Die Erklärung des moralischen Sollens durch nicht mehr als Freiheit schützt vor der Regulierungsphantasie, das gute Leben der anderen zum Bestandteil des eigenen Strebens zu machen. Kants ethischer Minimalismus straft das gängige Vorurteil Lügen, seine Pflichtethik gelte als Prototyp einer Moral abstrakter Appelle. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Der Minimalismus gilt als ihr unwiderstehlicher Vorzug, als Zeichen des Realismus ihres moralischen Anspruchs. Indem moralische Forderungen in die eigene Freiheit verankert werden, wird ein ethischer Minimalismus gewährleistet, der vor normativ allzu aufgeladenen Geboten schützt. Kants ethischer Minimalismus macht äußerst schmallippige Aussagen über die menschliche Natur und geht von möglichst schwachen Vorannahmen aus, die die breiteste Zustimmung erlauben. Er wird durch zwei Eigenschaften verbürgt. Kants Begriff der negativen Freiheit stellt zum einen sicher, dass Pflichten im innersten Kern Forderungen zu nicht mehr als zur Einschränkung des Eigeninteresses sind. Pflichten gründen auf einer negativen Freiheit und sind insoweit wesentlich negative Pflichten. Sie kommen als Verbot zum Zuge, Eigeninteressen zum obersten und alles bestimmenden Handlungsgrund aufzuspreizen. Sie verpflichten nicht zu etwas Positivem, sondern zu einer Negation: zur Einschränkung von Eigeninteressen. Der ethische Minimalismus wird zum anderen dadurch gewährleistet, dass Pflichten mit einer vormoralischen Eigenschaft begründet werden. Die Freiheit von Zwang und Zufall ist eine Eigenschaft, die aller moralischen Bedeutung zuvorkommt. Kants Begründung der Pflichten durch Freiheit geht deshalb nicht von einer moralischen Vorannahme, sondern einer vormoralischen Eigenschaft aus.
II Kant über die Evidenzerkenntnis der Freiheit Wir haben bisher Kants Begründung des moralischen Gesetzes aus der Freiheit rekonstruiert. Betrachten wir nun die andere Seite der Medaille und fragen, wie Freiheit begründet wird. Wenn Freiheit der Grund für das moralische Sollen ist, was ist dann wiederum der Grund für die Annahme der Freiheit? Kant schiebt dem infiniten Begründungsregress einen Riegel dadurch vor, dass Freiheit nicht aus einem Dritten, das wiederum einer Begründung bedürfte, sondern allein aus dem moralischen Gesetz begründet wird. Und den Fallstricken des Begründungszirkels entkommt Kant, indem er zwischen der ratio essendi und der ratio cognoscendi
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unterscheidet. Während Freiheit der Seinsgrund für das moralische Gesetz ist, ist das moralische Gesetz der Erkenntnisgrund der Freiheit. Demzufolge hängt die Geltung der Freiheit von nichts anderem als ihr selbst ab. Freiheit ist mit anderen Worten ein intrinsischer Wert oder ein oberstes Ziel, das um seiner selbst willen erstrebt wird. Dennoch bleibt die Frage, wie wir zur Einsicht in die Geltung der Freiheit als oberstes Ziel gelangen. Freiheit wird, so Kant, als erstrebenswertes Ziel im moralischen Handeln erkannt. Kants Primat der praktischen Vernunft ergibt sich daraus, dass Freiheit in der theoretischen Betrachtung nur als ein problematischer Begriff – Freiheit ist nicht unmöglich –, ihre Möglichkeit und Wirklichkeit jedoch in der Selbstachtung des moralisch Handelnden erkannt wird. Freiheit lässt sich weder als ein Ziel von Neigungen noch von Bedürfnissen begreiflich machen. Denn dessen Befriedigung wäre ein Eigeninteresse, das jedoch keine Quelle des moralischen Sollens ist. Ist Freiheit, wie dargelegt, der Grund des moralischen Sollens, dann ist sie das erstrebenswerte Ziel nicht eines empirischen Interesses, sondern des Vernunftinteresses. Freiheit wird im Rahmen von Kants moralischem Konstruktivismus als Vernunftidee erkannt. Unter Vernunftideen versteht Kant ein Ergebnis der Erkenntnisleistung, das, obwohl kein empirischer Beobachtungsbegriff, dennoch von unbestreitbarer Geltung ist. Seine Geltung hängt nicht von empirischer Überprüfbarkeit ab, sondern von dem Beweis, dass die Fähigkeit seiner Erkenntnis ein täuschungsfreies Vermögen ist. Wir erkennen demzufolge Freiheit als oberstes Ziel, wenn wir unabhängig von Hindernissen und Täuschung urteilen. Nun hängt freilich alles davon ab, zu zeigen, dass die täuschungsfreie Erkenntnisfähigkeit nicht selbst ein konstruiertes Produkt, sondern wirkliche Erkenntnis ist. Die Konstruktion der Vernunftidee beruht selbst auf einer Grundlage, die nicht konstruiert, sondern ein Faktum ist. Zwar wird Freiheit als ein allesleitendes Ziel konstruiert, nicht aber das täuschungsfreie Wissen, mithilfe dessen wir dieses Ziel erkennen. Das Wissen um die Freiheit wird von der Selbstachtung verkörpert. Die Selbstachtung ist die Achtung vor der eigenen Freiheitsfähigkeit. Sie ist „die Achtung für uns selbst im Bewußtsein unserer Freiheit.“¹² Personen achten sich selbst hinsichtlich der Fähigkeit, Eigeninteressen freiwillig durch die Anerkennung der Rechte anderer einschränken zu können. Von dieser Achtung hängt das Selbstwertgefühl, der „Wert der Person“ ab.¹³ Der Selbstachtung wohnt eine Norm inne, deren Entsprechung gefordert wird und ein Selbstwertgefühl bewirkt;
Ebd., S. 214,20 – 21 (AA V, 161). Siehe zum Freiheitsbezug der Selbstachtung: Thomas E. Hill, Autonomy and Self-Respect, Cambridge: Cambridge University Press 1991; Henning Hahn, Moralische Selbstachtung. Zur Grundfigur einer sozialliberalen Gerechtigkeitstheorie, Berlin / New York: De Gruyter 2008. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, ebd., S. 99,30 (AA V, 73).
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ebenso wie deren Abweichung kritisiert werden darf und einen Verlust des Selbstwertgefühls verursacht. Wird der Norm entsprochen, stabilisiert sich das Selbstwertgefühl. Weichen dagegen Handlungen von der Norm ab, droht dessen Verlust. Diese Norm ist die Freiheit. Moralische Handlungen entsprechen einer Norm, indem sie Freiheit realisieren. Selbstachtung ist weder ein empirisches Interesse noch eine konstruktive Idee, sondern ein „moralisches Gefühl.“¹⁴ Im Unterschied zu empirischen Interessen wie Neigungen und Bedürfnisse ist sie eine „moralische“ Disposition, weil sie sich auf die Einschränkung der Eigeninteressen zugunsten anderer bezieht.Wir würden uns im Kreis bewegen, wenn wir die Disposition, Eigeninteressen einzuschränken, als ein Eigeninteresse erklärten. Selbstachtung ist wiederum keine Idee, sondern ein „Gefühl“. In der Erfahrungsform des Gefühls kommt sie nicht nur als ein gefordertes, anzustrebendes oder mögliches Wissen zur Geltung, sondern als wirkliches Wissen. Das Wissen, das sich in der Selbstachtung manifestiert, zeichnet sich durch Evidenz aus. Freiheit wird als erstrebenswertes Ziel erkannt, wenn wir ohne Täuschungen urteilen. Ein solches täuschungsfreies Wissen drückt sich in der Selbstachtung aus. Dass Freiheit ein erstrebenswertes Ziel ist, gibt sich in ihr als evident zu erkennen. Selbstachtung ist eine Erfahrung von Evidenz, da sich in ihr ein täuschungsfreies Wissen über den intrinsischen Wert der Freiheit zur Geltung bringt. Kant betont den Evidenzcharakter des moralischen Wissens vielerorts.¹⁵ So wird das Bewusstsein (!) des moralischen Grundgesetzes (der kategorische Imperativ) unter dem Namen des Faktums der Vernunft als evidente Gewissheit beschrieben: Das moralische Grundgesetz ist „unleugbar“, es „[dringt] sich für sich selbst uns auf“ und wird jeder Person „beständig und richtig vor Augen“¹⁶ gehalten. Die „Stimme der Vernunft [ist] in Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüberschreibbar, selbst für den gemeinsten Verstand so vernehmlich.“¹⁷ Forderungen aus Pflicht sind „für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen.“¹⁸ Die Realität des moralischen Gesetzes ist „apodiktisch gewiß“ und steht, obwohl nicht empirisch beweisbar, „dennoch für sich selbst Ebd., S. 54,9; 102,17; 109,3; 122,11 (AA V, 38, 75, 80, 90). Ich verwende den Evidenzbegriff nicht in der Bedeutung Kants, der ihn im Sinne eines empirischen oder mathematischen Belegs gebraucht. Dennoch ist es berechtigt, das unmittelbare Bewusstsein und dessen apodiktische Gewissheit Evidenz zu nennen. Siehe dagegen: Michael Wolff, „Warum das Faktum der Vernunft ein Faktum ist. Auflösung einiger Verständnisschwierigkeiten in Kants Grundlegung der Moral“, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), S. 511– 549. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, ebd., S. 42,25; 42,9; 44,13 – 14 (AA V, 31 f.). Ebd., S. 48,11– 13 (AA V, 35). Ebd., S. 50,19 – 20 (AA V, 36); vgl. S. 49,22; 94,37; 95,15 (AA V, 70).
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fest.“¹⁹ Auch die Achtung ist eine „unbezweifelte“ Kraft²⁰. Kant beschreibt hier als Evidenzerfahrung die Art und Weise, in der das Prinzip des moralischen Handelns – also Freiheit – dem Akteur aus der Ich-Perspektive sich zeigt. Diese Evidenzerkenntnis der Freiheit wird von Kant mithilfe der Gedankenfigur eines Faktums der Vernunft näher erklärt. Die Evidenzerkenntnis stellt keine ideale Bedingung für moralisches Handeln dar, der wir uns erst annähern müssten, sondern eine realisierte Bedingung. Kant bezeichnet die Gegebenheit der Bedingung als das Faktum der Vernunft.²¹ Die Evidenzerkenntnis der Freiheit ist kein unverwirklichtes Ideal, sondern eine gegebene Tatsache, eben ein Faktum. Doch weshalb verknüpft Kant die Selbstachtung mit dem Faktum der Vernunft? Selbstachtung wird erstens mit der Vernunft in Verbindung gebracht, weil sich in ihr eine Erkenntnisfähigkeit ausdrückt: die Fähigkeit, Freiheit als ein oberstes Ziel zu erkennen. Mit einem Faktum zweitens steht die Selbstachtung in Zusammenhang, weil sich diese Erkenntnis mit Notwendigkeit Geltung verschafft. Die Evidenzerkenntnis ist eine bestehende und bleibende Einsicht, über die Akteure verfügen, und muss nicht erst von ihnen eingefordert werden. Weder muss noch kann das Bewusstsein der Freiheit gefordert werden, weil es jeder absichtsvollen Einstellung schon zuvorkommt. Gefordert werden vielmehr Handlungen, die dem Bewusstsein der Freiheit gerecht werden, also Handlungen, die die Selbstachtung verdienen. Das Bewusstsein der Freiheit ist eine unhintergehbare und konstante Einsicht. Man kann in Übereinstimmung mit ihr oder im Widerspruch zu ihr handeln. Unmöglich aber ist es, die Einsicht zu haben oder nicht zu haben, weil sie ein Faktum der Vernunft ist. Das Wissen um die Freiheit als Norm, der man gerecht werden soll, ist ein unentrinnbares Selbstbewusstsein. Freiheit ist im praktischen Wissen sozusagen ein Fixpunkt, in dessen Licht dem Akteur seine Überzeugungen und Handlungen zwangsläufig erscheinen. Im Lichte der Freiheit erscheinen sie ihm je entweder als achtenswert oder als verachtungswürdig. Dieses Entweder-Oder ist unhintergehbar, weil die Erkenntnis der Freiheit sich notwendig Geltung verschafft. Die unvermeidliche Erkenntnis der Freiheit als einer Norm, der man gerecht werden soll, geht auf die Notwendigkeit zurück, mit der die Erkenntnisfähigkeit zur Ausübung drängt. Damit gelangt die Rekonstruktion der Kantischen Einheit von Moral und Vernunft ins Ziel. Kants Auffassung der Freiheit als ratio essendi besagt: Das
Ebd., S. 64,20; 64,29 (AA V, 47),vgl. S. 192,2– 3 (AA V, 142). Ebd., S. 106,19 (AA V, 78). Siehe: ebd., S. 42,4– 19; 64,18 – 22; 75,18 – 21; 124,11 (AA V, 31, 47, 55, 91).
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moralische Sollen gründet auf der Freiheit als der Norm, in deren Licht Akteure Handlungen wechselseitig erwarten und ihre Unterlassung kritisieren dürfen. Denn Personen werden ihrer Freiheit gerecht, indem sie ihre Eigeninteressen einschränken durch die Anerkennung des gleichen Rechts anderer, beispielsweise in Not Hilfe erwarten zu dürfen. Kants Grundlegung der Moral durch Vernunft bedeutet nun, dass die Vernunft als die Fähigkeit zur Erkenntnis der Freiheit das Grundprinzip des moralischen Sollens ist. Neben der Norm (Freiheit) bedarf es ihrer Erkenntnisfähigkeit (Vernunft). Die Grundlage für die Anerkennung moralischer Pflichten besteht in der Erkenntnis der Freiheit als der Norm, der Akteure gerecht zu werden haben. Die Erkenntnis der Freiheit besitzt nach Kant eine unentrinnbare Geltung, sofern die Fähigkeit dieser Erkenntnis mit Notwendigkeit aktualisiert wird. Die Grundlage des moralischen Sollens besteht also, jedenfalls laut Kant, in der Notwendigkeit, mit der eine Erkenntnisfähigkeit zu ihrer Ausübung gelangt.
III Kritik an Kants Freiheitsbegriff In der folgenden Kritik an Kant werde ich erstens eine Beobachtung machen, zweitens einen Einwand formulieren und drittens einen Vorschlag unterbreiten. Kants Ethik lässt, so die Beobachtung, eine Unterscheidung von drei Handlungstypen zu: Moralische Handlungen erfolgen erstens im Einklang mit der Selbstachtung. Unmoralische Handlungen stehen dagegen, zweitens, im Widerspruch zur Selbstachtung und werden vom Akteur selbst als verachtungswürdig erfahren. Die „radikal böse“ Handlung steht drittens weder im Einklang mit noch im Widerspruch zur Selbstachtung und bildet einen eigenständigen Handlungstyp des Immoralismus, den Kant in seiner Religions-Schrift das radikal Böse nennt. Radikal böse Handlungen verletzten die Selbstachtung nicht, weil dem Immoralisten eine Selbstachtung schlicht fehlt, mit der seine Handlung in Konflikt geraten könnte. Das Fehlen der Selbstachtung kann nur durch äußere Umstände verursacht sein, die die Vernunftfähigkeit gewaltsam an ihrer Ausübung hindern und den Immoralisten seine Selbstachtung verkennen lassen. Kants Ethik schließt einen vierten Handlungstypus aus: die Unaufrichtigkeit. Eine unaufrichtige Person handelt eigennützig im Einklang mit der moralischen Selbstachtung. Ihr gelingt es, ein Gefühl der Selbstachtung auch dann aufrecht zu erhalten, wenn sie etwa die Ansprüche Hilfsbedürftiger ignoriert und ihren Eigeninteressen freien Lauf lässt. Ihre intakte Selbstachtung kann als eine unaufrichtige Selbstachtung beschrieben werden. Der Unaufrichtige vermag die Meinung über seine intakte Selbstachtung für begründeter zu halten, als sie ist. Er beruhigt sein Gewissen und hält am Bild seiner Selbstachtung fest, ohne dass die
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Unaufrichtigkeit – im Unterschied zum radikal Bösen – durch äußere Umstände gewaltsam verursacht wird. Unaufrichtigkeit geht aus Freiheit hervor und wird in der philosophischen Tradition auch als Selbsttäuschung und Unredlichkeit beschrieben. Selbsttäuschungen bilden gegenüber Irrtümern und Zwangsvorstellungen eine eigenständige Grundform der Täuschung. Irrtümer widerfahren unverschuldet (sie sind Verfehlungen, die nicht beabsichtigt sind), sind Ausdruck eines Informationsmangels (der verkannte Sachverhalt ist komplexer, als angenommen) und gehen aus Irregularitäten hervor (eine berechtigte Erwartungshaltung wird von kontingenten Umstände durchkreuzt). In Zwangsvorstellungen dagegen werden Überzeugungen zum „Schutz des Ichs“ (Freud) fälschlich für begründet gehalten aufgrund eines inneren Zwangs, unter dem Vorstellungen abgewehrt werden, die ein verletztes Selbst bedrohen. Selbsttäuschungen wiederum gehen vom Betroffenen selbst aus, lassen sich aber nicht auf eine intentionale Absicht zurückführen. In Selbsttäuschungen gibt man sich ohne Not oder Zwang mit einfachen Antworten zufrieden. Wer sich selbst täuscht, versucht, vermeintlich sichere Selbst- und Weltbilder für begründeter zu halten, als sie sind, und sich von einer näheren Erkenntnis zu entlasten. Diese kognitive Entlastung hat ihren Ort zwischen der Intentionalität absichtlichen Täuschens – etwa der Lüge oder Intrige – und dem unwillentlichen Unterlaufen von Irrtümern. Selbsttäuschungen kennzeichnet eine aktive Passivität, mit der wir sie geschehen machen.²² Als kognitive Entlastungen, die aus Freiheit hervorgehen, charakterisiert sie eine Urheberschaft vereinfachter Selbst- und Weltbilder, für die man verantwortlich zeichnet. Sie gehen aus Freiheit hervor und bilden deshalb eine eigenständige (wenn auch nicht gleichrangige) Kraft gegenüber der Vernunft. Sie lassen sich insofern nicht als Dysfunktion, Defekt oder Mangel einer Vernunftfähigkeit begreifen, die von sich aus zur Ausübung strebt und nur durch äußere Umstände gewaltsam daran gehindert werden kann.²³ In Abgrenzung zu einem deprivativen Begriff des Scheins beschreibt Hegel sie vielmehr als Widerspruch: als der Widerspruch einer eigenständigen Kraft des Negativen gegenüber der eigenständigen Kraft des Positiven. Sein und Schein stehen sich als ein Widerspruch gegenüber, Siehe zum Phänomen der Selbsttäuschung: Brian P. McLaughlin, Brian P. / Amélie Oksenberg Rorty (Hrsg.) Perspectives on Self-Deception, Berkeley etc.: University of California Press 1988; Annette Barnes Seeing through Self-Deception, New York: Cambridge University Press 1997; Alfred R. Mele Self-Deception Unmasked, Princeton/Oxford: Princeton University Press 2001. Mele allerdings vernachlässigt die Aktivität, die der Selbsttäuschung zugrunde liegt. Die Gegenthese wird von Kathi Beier in ihrem bemerkenswerten Buch Selbsttäuschung vertreten. „Selbsttäuschung ist ein privatives Phänomen und damit etwas, das sich begrifflich nicht anders denn als Mangel oder als defizitäre Realisierung der uns Menschen zukommenden vernünftigen Vermögen bestimmen lässt.“ Kathi Beier, Selbsttäuschung, Berlin / New York: De Gruyter 2010, S. 9, vgl. Kap. 5.
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sofern Selbsttäuschungen aus Freiheit hervorgehen und deshalb gegenüber dem Sein eine eigenständige Kraft bilden. Hegel deutet das vorwissenschaftliche Bewusstsein in der Phänomenologie des Geistes als Form der Selbsttäuschung, Bekanntes für ein Erkanntes halten zu wollen. „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt voraus zu setzen, und es sich ebenso gefallen zu lassen.“²⁴ Die Gestalten des Bewusstseins werden von Hegel als Formen einer kognitiven Entlastung ausgeführt, in denen freiwillig am Bekannten festgehalten und vor einer Erkenntnis zurückgewichen wird, in deren Licht sich die Dinge anders und komplexer zeigen könnten. Diese „Furcht“ oder „Angst vor der Wahrheit“²⁵ ist das Grundmerkmal des vorwissenschaftlichen Bewussteins. Unter Beleihung Hegelscher Motive beschreibt Kierkegaard Selbsttäuschung als eine ‚Angst vor der Wahrheit‘ folgendermaßen.²⁶ Es sei bei weitem nicht so, „dass die Menschen im Allgemeinen das Verhältnis zum Wahren, dies, dass man sich zum Wahren verhält, für das höchste Gut ansehen, gar bei weitem nicht so, dass sie nach Art des Sokrates Befangensein in einem Irrtum für das größte Unglück halten […]. Wenn z. B. ein Mensch vermeintlich glücklich ist, sich einbildet glücklich zu sein, während er im Lichte der Wahrheit betrachtet doch unglücklich ist, so ist es allermeist sehr weit davon entfernt, dass er aus diesem Irrtum herausgerissen zu werden begehrt. Im Gegenteil er wird erbittert, er sieht den, der dies tut, für seinen ärgsten Feind an, er betrachtet es als einen Überfall, etwas, was fast einem Morde gleichkommt, auf diese Art, wie man sagt, sein Glück zu morden.“²⁷ In der Selbsttäuschung orientiert man sich an verbreiteten und (vermeintlich) sicheren Selbst- und Weltbildern, ohne sie sich durch eine unvertretbare Beurteilung anzueignen. Die Geltung einer Lebensform beruht hier allein auf ihrer
Hegel Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, S. 25; vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik. Die Lehre vom Sein, Hamburg 1990, S. 11. Hegel Phänomenologie des Geistes, ebd., S. 58, 59, 63. In Hegels Deutung der Selbsttäuschung als Angst und Furcht wird, so der berechtigte Einwand, das Phänomen „allerdings weitgehend mit einem psychologischen Vokabular“ beschrieben; Dina Emundts / Rolf-Peter Horstmann G.W.F. Hegel. Eine Einführung, Stuttgart: Reclam 2002, S. 43. Hegel erkennt zwar die Herausforderung, die die Selbsttäuschung für eine Rationalitätstheorie darstellt, verfügt aber über keine Theorie der Selbsttäuschung. Eine epistemologische Erklärung des Phänomens wurde erstmals von Sartre ausgearbeitet; vgl. Jean-Paul Sartre Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 119 – 160. Siehe zur Selbsttäuschung bei Kierkegaard: Michael Theunissen Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 22– 55; Tilo Wesche Kierkegaard. Eine philosophische Einführung, Stuttgart: Reclam 2003, S. 58 – 85. Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Düsseldorf/Köln 1985, S. 40.
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allgemeinen Akzeptanz, nicht aber auf dem Urteil, ob und welche Bedeutsamkeit sie für das eigene endliche Leben hat. Heidegger wiederum erörtert die Selbsttäuschung in Sein und Zeit unter dem Stichwort der „Seinsentlastung“²⁸ und beschreibt sie als „Uneigentlichkeit“, das „Man“²⁹ und ein „Verfallen“³⁰. In der Spätphilosophie spricht Heidegger gelegentlich von „Selbsttäuschungen“³¹, dem „Nichtwissenwollen“, dem „Ausweichen vor der Besinnung“ und „der Wahrheit des Seyns“, der „Flucht in die Begebenheiten und die Machenschaften“, dem „organisierte[n] Augenschließen“, der „Angst vor dem Denken, das bedenkt, was ist“, einer „Beruhigung“ und „Entlastung“, der „Blindheit des Nichtfragenwollens“³². Der greifbarste Einfluss Kierkegaards auf Heidegger besteht wahrscheinlich in der Diagnose solcher Selbsttäuschungen, denen man aus freien Stücken zugunsten (vermeintlich) sicherer Selbst- und Weltbilder einwilligt und denen gegenüber das Sein nicht einen zeitlosen Vorrang besitzt, sondern einen Vorrang erst im Widerstreit mit ihnen gewinnt. Das Freiheitsmoment, das Selbsttäuschungen von Irrtümern und Zwangsvorstellungen unterscheidet, wird von Sartre in seiner Konzeption der mauvaise foi hervorgehoben, in der Täuscher und Getäuschter zusammenfallen.³³ Das Selbst, das am Begriff der Selbsttäuschung heraussticht, bezeichnet je das Wen und das Wer des Täuschens. Erstens benennt es den Getäuschten. Nicht ein anderer, sondern man selbst wird getäuscht. Zweitens gibt das Selbst den Täuscher an. Die Täuschung geht nicht von etwas anderem oder einem anderen, weder von Umständen noch von zweiten oder dritten Personen aus, sondern von einem selbst. Der Unaufrichtige selbst ist Akteur der Täuschung, von der er befangen ist. Dass jemand selbst sich täuscht, verweist auf den Täuscher als jemanden, der aus Freiheit täuscht und nicht aufgrund eines Zwangs oder einer Not. Damit kommen wir zum Einwand. Für die Ausgrenzung der Unaufrichtigkeit aus dem Spektrum denkbarer Handlungstypen ist Kants Konzeption eines spontanen Vernunftvermögens verantwortlich zu machen. Laut Kant kommt die Fähigkeit, den Wert der Freiheit zu erkennen, spontan zur Geltung. Die Vernunft-
Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1986, S. 127 f.; vgl. 268. Ebd., S. 114, 126 – 130, 167. Ebd., S. 139, 175 – 180, 254. Martin Heidegger, „Wozu Dichter?“ in: Holzwege, Frankfurt am Main: Klostermann 1980, S. 265 – 316, hier: S. 290. Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie, Frankfurt am Main: Klostermann 1989, resp. S. 100, 24, 203, 118, 139, 62, 255, 266, 433. Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, ebd., S. 122 f.
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fähigkeit zeichnet sich durch die Spontaneität aus, mit der sie aus sich selbst zur Ausübung gelangt. Ihre Ausübung ist der Fähigkeit als ein inneres Ziel eingeschrieben und kann nur durch äußere Umstände gewaltsam blockiert werden. Das Abweichen von dieser inneren Ausrichtung lässt sich hinreichend als ein Defekt beschreiben, der, wie beim radial Bösen, durch äußere Umstände verursacht wird. Niemals aber kann die Ausübung der Vernunftfähigkeit aus Freiheit – ohne Not oder Zwang – unterlassen werden. Kants Spontaneitätskonzeption der Vernunft verengt also das Phänomenspektrum so sehr, dass die Unaufrichtigkeit keine Berücksichtigung finden kann. Die Kritik an Kant zielt auf den Gedanken eines Faktums der Vernunft und lässt den der Evidenz unberührt. Die Bruchstelle verläuft in seiner Moralphilosophie zwischen der Evidenzerkenntnis und dem Faktum der Vernunft. Einerseits ist Kants Konzeption einer Evidenzerkenntnis zu übernehmen, wonach Freiheit als objektive Norm in der Ich-Perspektive des moralischen Akteurs erkannt wird. Andererseits wird sie nicht mit den Mitteln von Kants Transzendentalphilosophie eingeholt, wenn denn dem Phänomen der Unaufrichtigkeit Rechnung getragen werden soll. Die Evidenzerkenntnis lässt sich nicht als die spontane Ausübung ihrer Fähigkeit erklären. Die Bedingungen, unter denen die Evidenzerkenntnis möglich wird, sind nicht mit ihrer Fähigkeit bereits gegeben; sie sind kein Faktum der Vernunft. Der Fähigkeit wohnt die Spontaneität ihrer Ausübung nicht selbst inne. Denn wenn die Erkenntnisfähigkeit vor allen absichtsvollen Einstellungen zur Ausübung strebt und es in der Unaufrichtigkeit zugleich möglich ist, sich von dieser Ausübung zu entlasten, dann können die Entstehungsbedingungen der Evidenzerkenntnis, die an die Stelle der Unaufrichtigkeit tritt, nicht innerhalb ihrer Fähigkeit liegen. Erkenntnis und Unaufrichtigkeit würden auf ein und dieselbe Fähigkeit zurückgehen. Es wäre somit blanker Zufall, welche von beiden zur Geltung käme. Ob sich jemand aufrichtig oder unaufrichtig selbst achtet, wäre eine Laune des Schicksals. Dem Zufallsverdacht wird so Tür und Tor geöffnet, obwohl ihn Kant mithilfe der Begründung des moralischen Gesetzes durch Freiheit einzudämmen versucht. Abschließend soll ein Vorschlag unterbreitet werden, wie sich das aufgezeigte Problem in den Griff bekommen lässt. Die evidente Einsicht in den Wert der Freiheit, so lautete der Einwand, wird nicht von einer Erkenntnisfähigkeit verbürgt, die sich spontan und durch sich selbst verwirklicht. Vielmehr muss die Einsicht in die Freiheit überhaupt entstehen und aus dem Kontrast zur möglichen Unaufrichtigkeit hervorgehen. Die Evidenzerkenntnis der Freiheit hängt somit von Entstehungsbedingungen ab, die nicht in ihre Fähigkeit fallen. Diese stellen weder ein Ideal noch ein Faktum dar. Die Entstehungsbedingungen werden von realen Praktiken verkörpert und sind insoweit kein abstraktes Ideal. Ebenso wenig sind
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sie ein Faktum der Vernunft. Denn die realen Praktiken sind Bedingungen, unter denen die Fähigkeit zur Evidenzerkenntnis erst entsteht. Zu den Praktiken, die eine Evidenzerfahrung ermöglichen, zählen Kunstwerke, bestimmte Gebilde der Kultur und Formen der Kommunikation. In Artefakten und Prozessen der Kunst, Kultur und Kommunikation objektivieren sich Praktiken, die für eine aufrichtige Selbstachtung empfänglich machen, statt sie als eine konstante Einsicht vorauszusetzen. Sie sind in der Lage, Unaufrichtigkeit auszuhebeln und eine unverfälschte Selbstachtung an ihre Stelle treten zu lassen; wenngleich sie es nicht erzwingen können. Zu solchen Praktiken zählt Kierkegaard bestimmte Sprachpraktiken, kraft derer Selbsttäuschungen ausgehebelt und in eine Wahrheitsorientierung überführt werden. Zu diesen Sprachpraktiken gehört die indirekte Mitteilungsmethode. Kierkegaards indirekte Mitteilung stellt eine mögliche Variante der ästhetischen, kommunikativen und kulturellen Sprachpraktiken dar, die zum aufrichtigen Selbstverhältnis befähigen. Sie vermag Befangenheiten zu lösen und für ein unbefangenes Urteilen zugänglich zu machen; wenngleich dies nicht erzwungen werden kann. „Einen Menschen zwingen zu einer Meinung, einer Überzeugung, einem Glauben, dass kann ich in alle Ewigkeit nicht, aber […] ich kann ihn zwingen, aufmerksam zu werden. Dass dies eine Wohltat ist, darüber ist kein Zweifel; aber es darf auch nicht vergessen werden, dass es ein Wagestück ist. Indem ich ihn zwinge, aufmerksam zu werden, komme ich dazu, ihn zum Urteilen zu zwingen. Nun urteilt er. Aber wie er urteilt, steht nicht in meiner Macht. Vielleicht urteilt er gerade umgekehrt, als ich es wünsche.“³⁴ Mit Hilfe der indirekten Mitteilung soll der Adressat zu jenen unvertretbaren Werturteilen befähigt werden, von denen er sich zugunsten (vermeintlich) gesicherter Lebensentwürfe dispensiert. Indirekte Mitteilung zeichnet sich dadurch aus, dass eine Offenheit auf Seiten ihres Adressaten nicht bereits vorausgesetzt wird. Sie richtet sich an Rezipienten, die sich von jener Selbstverständigung entlasten, zu der sie kraft der Mitteilung bewegt werden sollen. „‚Direkte Mitteilung‘ ist: direkt das Wahre mitteilen. ‚Mitteilung in Reflexion‘ ist: Hineinbetrügen in das Wahre.“³⁵ Für die Mitteilung wird der Adressat vorab im
Søren Kierkegaard, Schriften über sich selbst, Köln 1985, S. 44. Ebd., S. 6. Siehe u. a.: James Conant, „Putting Two and Two Together: Kierkegaard, Wittgenstein and the Point of View for Their Work as Authors“, in The Grammar of Religious Belief, edited by D.Z. Phillips, St. Martins Press, NY: 1996; George Pattison Kierkegaard: The Aesthetic and the Religious, 1999; Mariele Nientied Kierkegaard und Wittgenstein. „Hineintäuschen in das Wahre“. Kierkegaard Studies. Monograph Series 7, Berlin / New York 2003; Philipp Schwab, „Direkte Mitteilung des Indirekten? Zum Begriff der Mitteilung in Kierkegaards Gesichtspunkt und Über meine Wirksamkeit als Schriftsteller“, in Kierkegaard Studies. Yearbook 2010, S. 427– 456.
Moral und Freiheit
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Medium des Betrugs zugänglich. Damit wird betont, dass beim Adressaten gerade nicht mit einer Offenheit zu rechnen ist, sondern im Gegenteil mit der Haltung, sich gegen bessere Einsichten abzuschirmen. Die Empfänglichkeit für die Mitteilung wird weder vorausgesetzt, noch zu etwas mystifiziert, auf das der Autor – Kierkegaard – keinen Einfluss hätte. Die indirekte Mitteilung erzeugt vielmehr eine Empfänglichkeit für sie mit. In der Fluchtlinie von Kants Moralphilosophie ist also an der Einsicht festzuhalten, dass die Vernunft das Grundprinzip des moralischen Sollens ist. Das moralische Sollen gründet auf der Freiheit ebenso sehr wie auf der Fähigkeit ihrer Erkenntnis. In Abweichung von Kants Transzendentalphilosophie sollten wir jedoch die Illusion aufgeben, dass wir einen leistungsfähigen Begriff der Vernunft mithilfe eines Konzepts der spontanen Vernunftfähigkeit gewinnen könnten. Wenn der Unaufrichtigkeit als ein möglicher Handlungstyp Rechnung getragen werden soll, dann kann die Evidenzerkenntnis der Freiheit nicht durch ihre spontane Fähigkeit erklärt werden. Vielversprechender ist der Versuch, ästhetische, kulturelle und kommunikative Praxisformen als normativ gehaltvolle Ressourcen zu begreifen, aus denen sich die Kritik an Unaufrichtigkeit und das Entstehen unverfälschter Selbstachtung speisen.
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Works of Love: Towards a Reconsideration of Kierkegaard’s Ethical Standpoint Abstract: The intention of my present inquiry is to challenge the view that Kierkegaard sacrifices all notions of ethical responsibility before an uncompromising understanding of faith. Reconsidering the significance of Kierkegaard’s (in)famous “teleological suspension of the ethical” (Fear and Trembling) requires a close analysis of his account of the “love of neighbour / the other” (Works of Love). I claim that there is yet a great deal to be accounted for in terms of re-evaluating a more inclusive perspective upon Kierkegaard’s views on ethical responsibility, which are notably more in agreement, in fact, with contemporary developments in continental thought, like Levinas’ ethics of alterity. Rebutting the misleading traditional theory that Kierkegaard advocates faith in the detriment of ethical responsibility, I contend that even Levinas’ own critique is the result of a common misreading of Kierkegaard’s ethics, confining its significance merely to Kierkegaard’s pseudonymous works, especially Either/Or and Fear and Trembling.
I Introduction: Research Questions and Premises First of all, I would like to thank our hosts for their organizational efforts, as well as the audience for showing support for the presence of English-language presentations at this conference. By way of introduction, I must confess that, when I decided to work on this topic for my dissertation, I was trying to sort out the significance of an all too current tension. Puzzling uncritical justifications of “ethical” claims and acts, based on unquestioned religious convictions, are still colliding with philosophical attempts to determine moral principles, even when the latter are also based on theological considerations. Indeed, there is a point of convergence: both such players refer one way or another to a divine world order. The two different approaches, despite the undeniable divide in terms of justificatory practices and enactments, are just two versions of a moral discourse that invokes, paradoxically, the same moral groundwork more or less saturated with divine command theory. Therefore, the implications of the discussions around Kierkegaard’s “teleological suspension of the ethical” rest, in fact, at the basis of this debate, because the Danish thinker’s discourse
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deals with the very core of the cornerstone used by the two sides, that is, the ethical subject’s relation to the divine. More to the point, the intention of my present inquiry is, first and foremost, to challenge the entrenched view that Kierkegaard sacrifices all notions of ethical responsibility before an uncompromising view of religious faith. A reconsideration of Kierkegaard’s ethical views and of the significance of his “teleological suspension” (Fear and Trembling) requires a close analysis of Kierkegaard’s account of the “love of neighbour / the other” (Works of Love). This area of investigation is actually part of an ongoing revision of Kierkegaard’s place in the development of continental philosophy, from German idealism to phenomenology. There is yet a great deal to be accounted for in terms of re-evaluating Kierkegaard’s views on ethical responsibility and it is my contention that a more comprehensive reading of Kierkegaard can uncover some of his ethical tenets that are notably more in agreement, in fact, with various contemporary developments in continental thought, like Emmanuel Levinas’ ethics of alterity. Thus, rebutting the misleading traditional theory that Kierkegaard advocates faith in the detriment of ethical responsibility, I contend that Levinas’ own critique of Kierkegaard is the result of a common misreading of Kierkegaard’s ethics. Such a curtailed reading confines the significance of Kierkegaard’s ethics merely to his pseudonymous works, especially Either/Or and Fear and Trembling. Indeed, there has been a tendency to expeditiously and inappropriately squeeze Kierkegaard within the category of the advocates of dogmatic religious beliefs, based primarily on his pseudonymous endorsement of the “teleological suspension of the ethical.”¹ In the official record, as Kevin Hoffman puts it, “the Kierkegaardian religious individual is frequently reduced to a silent, detached figure, alone before God, decidedly void of compelling normative significance.”² The Call for Papers for this conference also points out, as you all know, that one common objection is that “Kierkegaard [closes] himself off from any form of sociability through a closed-off individual communication with God.” One can certainly agree that Levinas, for instance, albeit largely influenced by Kierkegaard’s thought, clearly embraces this view when he holds that Kierkegaard’s “suffering truth does not open us out to others, but to God in isolation,” that is, to a kind of existence that “participates in the violence of the modern world.”³
See Søren Kierkegaard, Fear and Trembling, Princeton: Princeton University Press 1983, p. 54. Kevin Hoffman, “Suffering and Discourse Ethics in Kierkegaard’s Religious Stage,” in The Journal of Religion, vol. 82, no. 3, 2002, p. 402. Emmanuel Levinas, “Existence and Ethics,” in Kierkegaard: A Critical Reader, ed. by Jonathan Ree and Jane Chamberlain, Oxford: Blackwell 1998, p. 30.
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In fact, as I aim to show, Kierkegaard’s ethical stance owes much to the broader context of the debates between the German idealists, in which Hegel and Fichte played an important part. It seems to me that it is precisely this interplay that gives shape to what profoundly underlines Kierkegaard’s own understanding of one’s ethical responsibilities towards the others, which the significance of Fichte’s discussions of “infinite striving” of ethical responsibility unveils. Thus, I tend to agree with Hoffman when he argues that, in contrast to the official record, “the divine summons each Kierkegaardian figure responds to, and the religious presuppositions each [orders his or her life] around, immediately give rise to an inner dialogue that unfolds an essentially intersubjective, secular dimension of the self.”⁴ Moreover, although one can find clear indications that integrating Kierkegaard’s relations to German idealism into a dialogue with Levinas’ ethics of alterity is indeed crucial, to my knowledge, no such systematic effort was undertaken. I only hope to add something to the suggestion that such a path is worth pursuing. Much of my dissertation research cannot be covered adequately in this presentation and there is certainly even more ground to be explored. But, let me try to focus on getting across some of the key points and only briefly outline the main areas of my investigation. Since this is primarily a work-in-progress presentation of my doctoral research project, any suggestions and/or recommendations are invited and will be appreciated highly.⁵ That being said, let me briefly summarize my project in what follows. My first point is that the overall ethical implications of Kierkegaard’s relation to German idealism, in my view, reveal themselves in some of the themes of contemporary ethical phenomenology. I argue that Fichte’s perspective on faith and the infinite striving to realize the divine moral world-order played a significant role in Kierkegaard’s formulation of the nature of faith and ethical responsibility. Secondly, in order to come to grips with Kierkegaard’s understanding of the relationship of the “unique individual” (Dan., den Enkelte) with God and of one’s ethical responsibilities towards the others, it will be crucial to identify Kierkegaard’s perspective on faith, and to evaluate the significance of the Abrahamic figure and the notorious “teleological suspension of the ethical.” Finally, in order to evaluate and showcase the impact of Kierkegaard’s ethico-religious
Hoffman (2002), p. 402 f. My thanks go to many of the conference participants, in particular to Richard Raatzsch, Vincent McCarthy, Saulius Geniusas, Gloria Dell’Eva, Christian Martin and others for their very useful feedback, interesting comments and questions. Some of their suggestions are reflected in a revised version of my Ph.D. research project.
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thought on contemporary ethical phenomenology, it will be of major importance to go beyond Levinas’ criticism of Kierkegaard’s Fear and Trembling, to which he apparently restricts Kierkegaard’s ethics. Assessing the value of that criticism requires a more complete image of Kierkegaard’s ethical-religious thought, which would necessarily have to include Works of Love.
II The Nature of Faith in German Idealism Let me try to focus on some of the details, in each of the aforementioned areas. Again, I first argue that Fichte’s perspective on faith and the infinite striving to realize the divine moral world-order played a significant role in Kierkegaard’s formulation of the nature of faith and ethical responsibility. Actually, my starting point was Peter Thielke’s contention about the influence of Hume’s skepticism in Germany: “not just Kant, but J. G. Hamann, F. H. Jacobi, and G. E. Schulze (who wrote under the pen-name Aenesidemus), among many others, were deeply affected by Hume, and in particular with what they saw as the skeptical challenge he presented.”⁶ Hume, as we all know, was questioning the application of the causal concept in theistic metaphysics. In his criticisms of the “argument from design,” Hume indicates “problems with theological anthropomorphism and with using the principle ‘like effects prove like causes’,” as Gary Hatfield very concisely puts it.⁷ Similarly, Hume’s influence is reflected in Kierkegaard’s understanding of faith, as well. Kierkegaard was introduced to the Scottish philosopher through his early reading of J. G. Hamann,⁸ and, as Michelle Kosch indicates, it is uncontroversial that Kierkegaard’s grasp of the relation of Christianity to rationality was “definitively shaped by this encounter.”⁹ In order to see how Hume’s influence is reflected within the German idealist debates and developed in Kierkegaard’s standpoint on faith, it will be necessary to follow the train of thought Peter Thielke, “Apostate Rationalism and Maimon’s Hume,” in Journal of the History of Philosophy, vol. 46, no. 4, 2008, p. 591. Gary Hatfield, “Translator’s Introduction,” in Immanuel Kant, Theoretical Philosophy after 1781, ed. by Henry Allison and Peter Heath, Cambridge: Cambridge University Press 2002, p. 43. Kierkegaard cites Hamann’s remarks about Hume in one of his journal entries dated September 10, 1836. See Pap. I A 100 in Søren Kierkegaards Papirer, vols. I-XI-3, ed. by Peter Andreas Heiberg, Victor Kuhr and Einer Torsting, Copenhagen: Gyldendal 1909 – 48. In fact, it was Hamann, Kant’s friend and former student who first presented Kant with a draft of his abbreviated translation of Hume’s Dialogues Concerning Natural Religion. Cf. Hatfield (2002), p. 42. Michelle Kosch, Freedom and Reason in Kant, Schelling, and Kierkegaard, Oxford: Oxford University Press 2006, p. 186.
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that eventually carried the skeptical imprint. One of the necessary stops along the way, which I will discuss here, is Fichte’s interpretation of Kant’s moral postulates. But first, let me insist on the importance of Fichte’s considerations in “On the Basis of Our Belief in a Divine Governance of the World.” This is the essay that ignited the very consequential, at least for Fichte’s carrier, “atheism controversy” (Germ., der Atheismusstreit). Fichte engages here in a critique of the pretension of theoretical constructions of the proofs of God’s existence, emphasizing the mere explanatory role of philosophy in matters of faith. All that philosophy can do, he claims, is simply to explain the fact of our belief in God¹⁰ and, in doing so, to derive the main characteristics of this belief from the very conviction of the believer. For Fichte, “our conviction concerning our own moral determination or vocation is itself already the result of a moral disposition and is a matter of belief or of faith.”¹¹ It is worth mentioning here that Kierkegaard’s Fear and Trembling targets apparently only Kant and Hegel but not Fichte, which is quite relevant for our inquiry. The reason for that is, as Kosch argues, simply because Kierkegaard “did not find [Fichte] to have had anything plainly indefensible to say about faith.”¹² Fichte does not claim that God is the creator of the moral world order that brings about the final end of morality.¹³ Curtis Bowman contends that, instead, Fichte’s God is the moral world order and that such a God cannot be conceived apart from it. The implications of such a view seem to radically transform Kant’s rational defense of theism, which, according to Wayne M. Martin, was an attempt “to use an analysis of moral consciousness to justify belief in God.”¹⁴ Nevertheless, in the Aenesidemus review, Fichte claims to defend Kant’s moral theology
Cf. Johann Gottlieb Fichte, “On the Basis of Our Belief in a Divine Governance of the World,” in Introduction to the Wissenschaftslehre and Other Writings (1797 – 1800), ed. by Daniel Breazeale, Indianapolis: Hackett 1994, p. 143. Fichte (1994), p. 147. Michelle Kosch, “Kierkegaard’s Ethicist: Fichte’s Role in Kierkegaard’s Construction of the Ethical Standpoint,” in Archiv für Geschichte der Philosophie, vol. 88, 2006, p. 282. Kosch adds that Kierkegaard seems to have thought that Fichte had “rather interesting things to say about faith – for instance in The Vocation of Man, which Kierkegaard read at a critical juncture and refers to in the Gilleleje journal entries” of July 29 and August 1, 1835 (Pap. I A 68 and Pap. I A 76). Cf. Curtis Bowman, “Fichte, Jacobi, and the Atheism Controversy,” in New Essays on Fichte’s Later Jena Wissenschaftslehre, ed. by Daniel Breazeale and Tom Rockmore, Evanston: Northwestern University Press 2002, p. 289. Wayne M. Martin, “Transcendental Philosophy and Atheism,” in European Journal of Philosophy, vol. 16, no. 1, 2007, p. 115.
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and its primacy of practice.¹⁵ But, in discussing the Kantian “postulates of practical faith,” and in defending Kant against the objections of Aenesidemus regarding the inference from a judgment of obligation to act morally to a judgment of possibility of the same, Fichte puts more emphasis on the notion of “striving” [Germ., das Streben].¹⁶ Fichte agrees with Kant’s contention that we ought to strive to promote the highest good. As Martin explains, Fichte claims that “what the moral law calls for is not in the first instance acting or refraining but striving”¹⁷ [my italics]. What the moral law requires first and foremost is the striving towards moral action regardless of its efficacy in the natural world, according to Fichte.¹⁸ Nevertheless, there is a sort of efficacy of our moral action, which lies upon this very striving, which, in practical terms, is the proof of our freedom. We make ourselves free through our striving, yet we become conscious of our freedom through the recognition of others, under the condition of intersubjectivity. Self-consciousness thus presupposes interpersonal interaction, according to Fichte, that is to say, the mediation of intersubjectivity. The two free beings enter in a relationship in which they mutually recognize each other. As Williams puts it, “summons and recognition refer to the mediation of the self to itself by the other, through which freedom becomes explicit.”¹⁹ But, recognition also involves reciprocity: it happens only if it is mutual. According to Fichte (in “the first main division” of the Foundations of Natural Right, that is, the deduction of the concept of right): “The relation of free beings to one another is a relation of reciprocal interaction through intelligence and freedom. One cannot recognize the other if both do not mutually recognize each other; and one cannot treat the other as a free being, if both do not mutually treat each other as free.”²⁰ Thus, for Fichte, in the practical sphere, intersubjectivity necessitates a relationship of mutual recognition.
Johann Gottlieb Fichte, “Review of Aenesidemus,” in Early Philosophical Writings, ed. by Daniel Breazeale, Ithaca and London: Cornell University Press 1988, p. 74 f. Fichte describes his ‘practical philosophy’ or ‘philosophy of striving’ (Germ. Strebungsphilosophie), as “a new quasi theoretical philosophy.” Wayne M. Martin, Idealism and Objectivity. Understanding Fichte’s Jena Project, Stanford: Stanford University Press 1997, p. 122. Cf. Fichte (1988), p. 75. Robert R. Williams, Recognition: Fichte and Hegel on the Other, Albany, New York: State University of New York Press 1992, p. 57. Cf. Johann Gottlieb Fichte, Foundations of Natural Right, According to the Principles of the Wissenschaftslehre, ed. by Frederick Neuhouser, Cambridge: Cambridge University Press 2000, pp. 42 ff.
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Furthermore, James A. Clarke reminds us of the fact that it is now “widely acknowledged that Hegel’s account of mutual “recognition” (Germ., die Anerkennung) is influenced by, and emerges from critical engagement with, Fichte’s account of recognition in the Foundations of Natural Right.”²¹ For instance, Robert R. Williams indicates that Hegel “appropriated and transformed [Fichte’s] concept of recognition and regarded it as the fundamental intersubjective structure of ethical life.”²² Clarke disagrees and suggests that Hegel’s account of recognition in the System of Ethical Life can be interpreted, in fact, as a critique of Fichte’s account (mainly based on the idea that Fichte’s “recognition” cannot be understood as a “moral attitude”). According to Fichte’s principle of right, “I must in all cases recognize the free being outside of me as a free being, i. e., I must limit my freedom through the concept of the possibility of his freedom.”²³ However, as Clarke explains, recognition can be understood as a moral attitude only if indicated through an unconditional command to respect the other. But, he adds, “Fichte explicitly states that the concept of right – which denotes the relationship of mutual recognition – has ‘nothing to do with the moral law’, being ‘deduced without it’.”²⁴ Such ambiguities clearly indicate the need for an accurate understanding of the transition from Fichte’s account of recognition to Hegel’s interpretation and transformation thereof, as this will also help determine the way in which Kierkegaard and Levinas approached the German idealist concept of recognition.
III Kierkegaard’s Perspective All of the above constitute the core of the considerations that will have to be taken into account when trying to indicate the extent of the influence of German idealism on Kierkegaard, on the one hand, and on contemporary ethical phenomenology, on the other. Subsequently, let me turn now briefly to Kierkegaard’s perspective on faith. Hic et nunc, I will focus primarily on the Abrahamic figure and his transgression of the ethical realm, in order to try to throw some light on Kierkegaard’s understanding of the relationship of the “unique individual” with God and of one’s ethical responsibilities towards the others.
James Alexander Clarke, “Fichte and Hegel on Recognition,” in British Journal for the History of Philosophy, vol. 17, no. 2, 2009, p. 365. Robert R. Williams, Hegel’s Ethics of Recognition, Los Angeles: University of California Press 1998, p. 26. Fichte (2000), p. 49. Clarke (2009), p. 371. Cf. Fichte (2000), p. 50.
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One of the keys to Kierkegaard’s understanding of the nature of belief and faith may in fact reside in his contention, in Philosophical Fragments, that “belief is not a knowledge but an act of freedom, an expression of will.”²⁵ Under this voluntary aspect, “belief resolves to believe [even when] it runs the risk that [what it believed] was an error.”²⁶ Abraham’s case is paradigmatic and, as Richard Popkin maintains, Kierkegaard may have realized that “skepticism [is] not necessarily the enemy of religion, but could be, rather, its truest friend and ally.”²⁷ Let me explain this very briefly. Kierkegaard puts “belief” (Dan., Tro) in opposition to “doubt” (Dan., Tvivl).²⁸ They are both “passions,” in Kierkegaard’s terms, but, whereas doubt suspends choice and action, belief facilitates them. From Kierkegaard’s perspective, what separates belief from cognition in relation to doubt is that each looks for and reaches different ends. Cognition seeks to eliminate doubt and reach to a “conclusion” (Dan., Slutning), whereas the conclusiveness of belief is a “resolution” (Dan., Beslutning) that resolves doubt and encourages choice. Doubt is thus reduced to nothing by a resolution. Now, to be sure, the resolution to believe does not overcome the theoretical grounds for skeptical doubt. As Popkin puts it, “the resolution to believe only enables one to affirm on the practical level.”²⁹ The skeptical problem is still open and the objective uncertainty still there, but what resolution does is to cut the Gordian knot of skepticism. Belief is thus a substitute for doubt. Moving on to Fear and Trembling, Kierkegaard poses here the question whether there can be “any ethical justification for Abraham’s conduct and, in particular, whether there can be any moral explanation for the intended action of killing his own son, Isaac, out of obedience to a divine command,”³⁰ as John Donnelly explains. I should remind you from the very beginning that Johannes de Silentio (the pseudonymous author of Fear and Trembling) claims
Søren Kierkegaard, Philosophical Fragments, Princeton: Princeton University Press 1985, p. 83. Kierkegaard (1985), note 53, p. 83. Richard H. Popkin, “Kierkegaard and Scepticism,” in Søren Kierkegaard. Critical Assessments of Leading Philosophers, vol. II, ed. by Daniel W. Conway and K. E. Gover, London and New York: Routledge 2002, p. 237. Kierkegaard clearly opposes belief to doubt: ‘belief’ is the opposite of ‘doubt’. Cf. Kierkegaard (1985), p. 84. Popkin (2002), p. 250. John Donnelly, “Kierkegaard’s Problem I and Problem II,” in Kierkegaard’s ‘Fear and Trembling’: Critical Appraisals, ed. by Robert L. Perkins, Alabama: The University of Alabama Press 1981, p. 117.
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that “Abraham is at no time a tragic [ethical] hero but is something entirely different, either a murderer or a man of faith.”³¹ The main difference lies with the fact that the tragic hero acts within the confines of the ethical realm, whereas Abraham transgresses it. Thus, the “teleological suspension of the ethical” that characterizes Abraham’s act is a deferment of moral principles altogether. De Silentio clearly distinguishes it from the tragic hero’s downsizing of the idea of moral conduct,³² the latter being only a suspension of the duty pertaining to the parental-filial relationship, such as in Greek tragedy. Actually, to further dissociate Abraham from the ancient ethical heroes, I think that it would be helpful here to make a very short comparison with a Greek tragic figure, namely, Agamemnon, who had to sacrifice Iphigenia, his daughter, to the goddess Artemis, for the well-being of his people. The case of Agamemnon’s personal tragedy is contextually comprehensible, which is, to be sure, not the case of Abraham. Therefore, while the tragic hero’s agony elicits tears, Abraham’s endeavor can only be approached with horror religiosus, as Johannes de Silentio puts it.³³ What unites them, up to one point, is the infinite movement of resignation, but the story does not end there for Abraham. On the one hand, Agamemnon and Iphigenia heroically reach a tragic mutual understanding and thus their story ends. Iphigenia weeps: “Life is no longer mine,”³⁴ for it is tied to the destiny of her people. On the other hand, Isaac is clueless, and his sacrifice is an indicator only of Abraham’s allegiance to the divine command. Furthermore, Abraham’s story does not end in resignation, for he also makes the movement of faith, “by virtue of absurd,”³⁵ and that is his only consolation. Despite the absurd demand, he trusts God’s initial promise. Thus, as Robert Perkins points out, Abraham acts “outside of the ethical and is possessed by some telos that is nonethical.”³⁶ Again, Abraham’s act is incomprehensible if the attempt to approximate his deed by taking universal and ethical justifications into consideration is not completely abandoned, which is not the case with the tragic heroes. Agamemnon is the unfortunate ethical hero who sacrifices Kierkegaard (1983), p. 57. Cf. Kierkegaard (1983), p. 59. Kierkegaard (1983), p. 61. See line 1281 of Euripides, Iphigenia in Aulis, in The Complete Greek Tragedies, vols. 1– 4, ed. by David Green and Richard Lattimore, Chicago: University of Chicago Press 1858 – 60, vol. 4, p. 362. Kierkegaard (1983), p. 115. Robert L. Perkins, “For Sanity’s Sake: Kant, Kierkegaard, Father Abraham,” in Kierkegaard’s ‘Fear and Trembling’: Critical Appraisals, ed. by Robert L. Perkins, Alabama: The University of Alabama Press 1981, p. 54.
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his daughter on ethical grounds. Yet only the category of faith, as Perkins points out, can make an explanation of Abraham’s act possible, albeit doubtful. For Kierkegaard, Perkins claims, “faith is very much like the ethical striving of the Kantian moral hero, […] because the hero of faith must continue endlessly and forever to attain his faith again and again by obedience.”³⁷ The heroic character of the ethics of continual striving is thus reflected in Kierkegaard’s view of faith, understood as a task for a lifetime.
IV Levinas’ Reading of Kierkegaard Getting one step closer to the end of this short presentation, let me re-emphasize that many of Kierkegaard’s and Levinas’ comments emerge in relation to, and from their critical engagement with, the works of the German Idealists discussed previously. The areas where the two different approaches intersect the most which I will briefly indicate here are Kierkegaard’s “infinite responsibility” and “infinite debt of love to the other,” the necessity of striving, Levinas’ “infinite responsibility for every other,” the radical alterity of the other, and their common rejection of the notion of “reciprocity” in interpersonal relationships. As Jamie Ferreira points out, these commonalities suggest that “it would be fruitful to consider many aspects of Works of Love in the light of Levinas’ other-centered ethic.”³⁸ Like Kierkegaard, Levinas equates the other with the neighbor. In “Ethics as First Philosophy,” he writes that the other “becomes my neighbor precisely through the way the face summons me, calls for me, begs for me, and in so doing recalls my responsibility, and calls me into question.”³⁹ The Levinasian discussion of this summoned, ordered responsibility throws more light, indeed, on Kierkegaard’s considerations on “commanded love” and, as Ferriera suggests, seems to rule out some of the objections to Kierkegaard’s account. For instance, she mentions that Levinas’ idea of responsibility for the other “does not initially raise as many questions as ‘love’ does about the relation between preference and obligation,” because, as Ferreira explains, “obligation
Perkins (1981), p. 58. M. Jamie Ferreira, Love’s Grateful Striving: A Commentary on Kierkegaard’s ‘Works of Love’, Oxford: Oxford University Press 2001, p. 12, my italics. Emmanuel Levinas, “Ethics as First Philosophy,” in The Levinas Reader, ed. by Sean Hand, Oxford: Blackwell 1989, p. 83, my italics.
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and responsibility go together more easily in our minds than obligation and love.”⁴⁰ Although Levinas and Kierkegaard share similar views on a good number of issues, in Proper Names Levinas is quite explicit in his criticism of the implications of what he considers to be unacceptable in Kierkegaard’s thought, namely, the “subordination of the ethical in Kierkegaard’s writings.”⁴¹ Also, in “Existence as Ethics,” as I’ve have pointed out, Levinas argues that Kierkegaard’s “suffering truth does not open us out to others, but to God in isolation.”⁴² However, against the claim that the Kierkegaard’s emphasis on the individual reduces the import of interpersonal relationships, Kierkegaard’s message in Works of Love is very clear: “Throughout all ages everyone who has deeply pondered human nature has acknowledged [the] innate need for companionship.”⁴³ Finally, I would like to state once again that Levinas’ critique of Kierkegaard is the result of a quite frequent misinterpretation of Kierkegaard’s ethics, largely restricted to his pseudonymous works. Ferreira has repeatedly indicated quite clearly: Those interested in discovering what Kierkegaard has to say on ethics or relationships between people most often turn to Either/Or II and Fear and Trembling. But these books are written by pseudonyms, authors created by Kierkegaard, who present partial perspectives on the ethical. Although in the pseudonymous writings one may discern important anticipations of the ethic found in Works of Love, I suggest that they can only be appreciated properly when seen in relation to this work. Without moving forward to Works of Love, scholarship can only unfairly evaluate Kierkegaard’s various contributions to ethics; yet some of the most popular accounts of Kierkegaard’s place in the history of ethics have been done solely from the limited perspective of the pseudonymous works.⁴⁴
Kierkegaard discusses his use of pseudonyms in various contexts, for instance, in the appendix to the Concluding Unscientific Postscript. ⁴⁵ In this context, it
Ferreira (2001), p. 48. Ferreira (2001), p. 127. See Emmanuel Levinas, “A Propos of ‘Kierkegaard Vivant’,” in Proper Names, Stanford: Stanford University Press 1996, p. 76 f., and Emmanuel Levinas, Totality and Infinity, Pittsburgh: Duquesne University Press 1969 [1961], pp. 40, 305. Levinas (1998), p. 30. Søren Kierkegaard, Works of Love, Princeton: Princeton University Press 1995, p. 154. Ferreira (2001), p. 5. Søren Kierkegaard, Concluding Unscientific Postscript to ‘Philosophical Fragments’, vol. 1, Princeton: Princeton University Press 1992, pp. 625 – 630. See also Kierkegaard’s notes in his journals and papers (JP VI 6786 / Pap. X 6 B 145) and, especially, his The Point of View: On My Work as an Author; The Point of View for my Work as an Author; Armed Neutrality, Princeton: Princeton University Press 1998. For the journal entry (JP VI 6786), see Søren Kierkegaard’s
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should be clearly re-emphasized that the pseudonymous production reflects only an incomplete image of Kierkegaard’s ethical tenets, being just a significant and diverse piece in Kierkegaard’s attempt to accomplish his “Socratic task,”⁴⁶ that is, to indirectly expose the misunderstandings related to the nature of faith and its ethical requirements.
V Concluding Remarks I pointed out briefly above that Kierkegaard has a volitionalist understanding of faith, in the actualization of which one’s will plays a determinant role. The role of the will is indeed crucial not in relation to the acquisition of belief, but rather to its actualization. Kierkegaard claims that the will enables us to move, through choice, from a set of belief possibilities characterized by “objective uncertainty” to the subjective actuality of belief and existential commitments. Furthermore, I argued that it is of major importance in Kierkegaard’s ethical perspective that one assumes and reiterates, through choice, an infinite debt towards the divine. The ethical dimension of faith is determined as an ethical task to continuously strive to enact the “commanded love” of the other (Works of Love). For Kierkegaard, one’s self-consciousness does not necessarily demand the recognition of others, as in Fichte’s sense. One only needs to recognize oneself in his or her “eternally established essence” (Dan., den evige anlagte Vaesen) granted by God as a gift. When put this way, God’s gift is Kierkegaard’s foundation of natural right, not the reciprocal, intersubjective recognition. One’s individuality is not a socially mediated concept, dependent on the social praxis of reciprocal recognition. We are all equal in front of God, and equally indebted to God. The reciprocal aspect of this relationship only comes into play as an indication of the necessary interplay between the divine gift of faith and one’s infinite debt towards the divine to recognize it and assume it. However, on the practical level, the relationship to the divine does imply the need to enact the commanded love and its ethical responsibilities towards the other that faith summons one to. But, as Ferreira explains, the real question is whether, in Kierkegaard’s view, becoming a self only allows concern for others or whether it re-
Journals and Papers, vol. 1– 6, ed. by Howard V. Hong and Edna H. Hong, Bloomington and London: Indiana University Press 1967– 78. This confession, which can be found in “My Task,” dated September 1, 1855, is included in Kierkegaard’s unfinished manuscript for the tenth (and last) issue of Kierkegaard’s Øieblikket. Cf. Søren Kierkegaard, The Moment, Princeton: Princeton University Press 1998, p. 341. See also JP IV 4728.
Works of Love: Towards a Reconsideration of Kierkegaard’s Ethical Standpoint
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quires it. I tried to indicate some of the reasons why the latter is true of Kierkegaard’s ethics. I suspect that the implications of German idealism for the debates regarding the nature of ethical responsibility for the other, and, in particular, the critical analysis of the transition from Fichte’s introduction of the terminology of recognition to Hegel’s interpretation and transformation thereof, will help determine the way in which Levinas reworked the concept of mutual recognition. Moreover, the complexity of Kierkegaard’s relation to Levinas definitely can be put in a different perspective, as I have attempted to suggest, if based on a careful consideration of the fruitful dialogue of the former with German idealism, as well. It is thus my conclusion that the philosophical inquiry could definitely follow through in the direction of Kierkegaard’s mediation between German idealism and contemporary themes in ethical phenomenology.
Christoph Schmidt
Nach der Sünde – Reflexionen über ein modernes Tabu Kierkegaard als postsäkularer Aufklärer Abstract: A short analysis of Heinrich Heine’s strategy of the liquidation of sin and its failure serves as an introduction for the discussion of Kierkegaard’s concept of sin. When Kierkegaard turns the concept of sin against the various versions of absolute freedom in German Idealism and Romanticism, he in fact wants to save the concept of freedom for a dialogical form of enlightenment which is based on Gotthold Ephraim Lessing’s critical theological writings. With this, Kierkegaard does not only anticipate the present postsecular relation debated between Habermas and Ratzinger as a new relation between secular philosophy and religious dogma. He in fact prepares the therapeutical turn of present French philosophy (P. Hadot, the late M. Foucault). Moreover, his reduction of sin to the act of a “refusal of love” seems to be perfectly commensurable with the latest French phenomenology (J. L. Marion) which intends to reduce being and thought to the event of love, gift and givenness.
I Heinrich Heines Utopie von der Abschaffung der Sünde und ihr Scheitern „Jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat.“¹
Die Sphinx, deren Rätsel der junge Aufklärer Heinrich Heine hier gelöst haben will, ist die Epoche der christlichen Religion. Es ist die Epoche, die die Sünde erfunden hat, um in einer theologischen Konspiration mit den politischen Mächten die ursprüngliche Freiheit und Erotik des Menschen zu boykottieren. „Ich spreche von jener Religion, die […] durch die Lehre von der Verwerflichkeit aller irdischen Güter […] die erprobte Stütze des Despotismus geworden ist.“²
Heinrich Heine, Die romantische Schule, in Werke, Bd. IV, Frankfurt am Main: Insel 1968, S. 169. Vgl. D. Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Sünde, Hamburg 1972. Wolfgang Hädecke, Heinrich Heine. Eine Biographie, München: Hanser 1985. Jörg Aufenanger, Heinrich Heine in Paris, München: DTV 2005. Heinrich Heine, Die romantische Schule, ebd., S. 169.
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Mit der Dekodierung des Rätsels ist nicht nur der Sturz der Sphinx, der Epoche der Herrschaft der Religion und des Dogmas von der Sünde eingeleitet,wie dies die Devise von der Aufklärung als Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit vorsah, sondern tatsächlich der Auszug aus der Schuld selbst: die Abschaffung der Sünde. Damit aber war die Kritik an Theologie und Dogma schon auf dem Weg, eine eigene Theologie auszubilden. Heines Vision vom Anbruch eines neuen Zeitalters wollte mit der Abschaffung der Sünde und der theologischen Dogmatik insgesamt den unter dieser Dogmatik verschütteten wahren, d. h. messianischparadiesischen Kern der religiösen Botschaft – die Verkündigung des Reiches Gottes – nunmehr in die reale politische Tat einer Befreiung des Menschen, eben von Sünde, Dogma, Kirche und Herrschaft umsetzen. Mit dem Sturz der Sphinx sollte also nichts weniger als der direkte Zugang zum Paradies von Freiheit und Eros zurück erkämpft werden, das die religiösen und politischen Engel mit ihrer Dogmatik von der Erbsünde verstellt hatten. Dieses Projekt der modernen Eliminierung der Sünde leidet indes unter einer Art permanentem Aufschub. Anders als Immanuel Kant, der den Auszug in die politisch-ethische Idee vom Reich Gottes noch durch eine Anthropologie des radikalen Bösen bzw. durch die Lehre von der selbst-verschuldeten Unmündigkeit auszubalancieren suchte, und damit die Abschaffung der Sünde in einen unendlichen Kampf des Ichs mit seiner eigenen radikalen Anlage zum Bösen umwandelte, haben radikalere Visionäre, wie Heine und Bakunin, dieses Reich im Zeichen einer Offenbarung und Apokalypse der wahren Menschheit „jenseits der Sünde“ imaginiert, die die Sünde exklusiv dem Feind zuweist, der sich gegen deren Verwirklichung stellt. Der Auszug aus der Unmündigkeit wurde für sie tatsächlich zu einem endgültigen Auszug aus der Schuld. Wo sie für sich selbst eine Art apriorische Sündenfreiheit des Subjekts schon jetzt in Anspruch genommen hatten, sahen sie die epochale Abschaffung der Sünde für eine unmittelbar bevorstehende Zukunft vor, die sich mit der Abschaffung des Feindes einstellen würde. Wo Heines ästhetisch-erotische Utopie schon in Kirche und Staat den politisch-theologischen Feind erkannt hatte, der für die Einführung der Sünde verantwortlich war, sollte ein politischer Utopist wie Bakunin zu einer exklusiven Identifikation der Sünde mit dem herrschaftlichen Feind übergehen und damit die Abschaffung der Sünde tatsächlich von der Eliminierung dieses Feindes abhängig machen. Die politische Befreiung von der Sünde erforderte also einen Endzeitkrieg mit Kirche und Staat, dem eschatologischen Feind, dem Katechon, der die messianische Wiedereroberung des Reiches Gottes aufhielt. Tatsächlich hat diese Form der politischen Eschatologie ihre eigene Genealogie und Geschichte ent-
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faltet, die sich bis zu Herbert Marcuses Erotologie³ oder Giorgio Agambens Aufnahme des eschatologischen Projekts⁴ verfolgen lässt: als Konstruktion des Katechons, der das eschatologische Ziel der Abschaffung der Sünde der Herrschaft und damit der Herrschaft der Sünde verhindert. Der politische Mechanismus der Transferenz von der internen Sünde zum externen absoluten Bösen und Feind führte damit aber nicht nur zu der Entfesselung einer eschatologischen Gewalt, deren Ziel tatsächlich die Vernichtung dieses Feindes war, sondern er bedingte immer wieder den Aufschub der Befreiung von der Sünde, die eben ganz zur Funktion der Existenz und Resistenz des äußeren Feindes wurde: des Katechons. Gegen diesen Feind musste eine Art permanenter Revolutionskrieg geführt werden, weil er in immer neuen Fronten der Konterrevolution aufgespürt werden musste, um damit allerdings schon für das Scheitern der utopischen Hoffnung von der Abschaffung der Sünde zu kompensieren. „Bei einer paradiesischen Sache“, schreibt Bakunin, „haben wir uns der Notwendigkeit der Gerechtigkeit zu unterwerfen und uns der permanenten, gnadenlosen Zerstörung zu widmen, bis zu einem Crescendo, in dem keine bestehende Form von Zerstörung übrigbleibt.“⁵ Als Bakunin dieses Credo zum Terror schrieb, hatte Heinrich Heine längst seine Geständnisse verfasst und zu einer aufgeklärten Form von Religion zu Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Siegmund Freud, in H. Marcuse Schriften, Bd. V, Frankfurt Main: Suhrkamp 1979 (1955) setzt mit der Utopie der „Tilgung der Ursünde“ auf einen permanenten Kampf gegen den Feind, der dieser Tilgung verhindert. Dem entspricht bei Marcuses politischer Eschatologie auf freudianischer Grundlage eine Perpetuierung des ödipalen Konflikts zwischen dem revolutionären Sohn und dem Vater als Repräsentanten der Herrschaftsordnung. Tatsächlich ist der Vater der Katechon, der sich dem messianischen Werk des Sohnes entgegenstellt. Vgl. meinen Essay Jenseits von Herrschaft und Schuld. Marcuses politische Theologie zwischen Ödipus und Christus: Politische Theologie, ästhetische und erotische Eschatologie, in Naharaim 2012, 6, S. 247– 268. Vgl. Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung, Frankfurt Main: Suhrkamp 2010. Der ganze Text ist auf eine Auseinandersetzung mit der herrschaftlichen politischen Theologie von Carl Schmitt und vor allem von Erik Peterson angelegt, zumal mit dessen Buch der Engel, Leipzig 1935. Beide Formen politischer Theologie werden bei Agamben zum Prinzip des Katechons, das sich der Aufnahme des eschatologischen Projekts der Moderne in den Weg gestellt hat. Vgl. meinen Essay, „Die Rückkehr des Katechons. Giorgio Agamben contra Erik Peterson“, in Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, hrsg. von G. Caronello, Berlin: Duncker und Humblot 2012, S. 609 – 632. Hier zitiert nach Eric Voegelin, Die Krise. Zur Pathologie des modernen Geistes, München: Fink 2008, S. 336. Voegelin gehört zu denjenigen politischen Philosophen, die eben diese Logik der Transferenz des Bösen auf den Feind für die Moderne sehr genau rekonstruiert haben. Seine Verwendung des Begriffs der Gnosis in The New Science of Politics, Chicago: Univ. of Chicago Press 1953, bevor er zu der Debatte mit Hans Blumenberg über Gnosis und Moderne geführt hat, galt der Darlegung dieses Zusammenhangs von revolutionärem absoluten Wissen und Feindprojektion.
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rückgefunden. Er hatte nämlich mittlerweile auch das Rätsel der revolutionären Sphinx entziffert und deren bittere Ironie durchschaut: Sie verspricht eine Befreiung von der Religion der Sünde und vollstreckt ihre eigene rücksichts- und gnadenlose Apotheose als Gewalt. Nach dem Sturz der Sphinx der Religion stand für Heine damit nunmehr der Sturz der revolutionären Sphinx, des hegelianischen Gottmenschen an, den Heine jetzt tatsächlich als die moderne Inkarnation der Sünde wiedererkannte: als Rebellion gegen Gott: „Ich war so übermütig wie der König Nebukadnezar vor seinem Sturz“, schreibt der späte Heine, „Wie oft denke ich an die Geschichte dieses biblischen Königs, der sich selbst für den lieben Gott hielt, und von der Höhe seines Dünkels erbärmlich herabstürzte, wie ein Tier am Boden kroch und Gras aß.“⁶ Heine hat mit dieser politisch theologischen Dialektik der radikalen Aufklärung nicht nur die möglichen politischen Effekte von Terror und Gewalt bzw. die existenziellen Effekte von Angst und Verzweiflung erkannt, die dieser radikalen Utopie von der Gottwerdung des Menschen und der Abschaffung der Sünde geschuldet sind. Er ahnte nicht nur, dass „nach dem Sieg des Kommunismus […] ein freier Hirt mit eisernem Hirtenstabe […] eine gleichgeschorene, gleichblökende Menschenherde regieren [werde]“⁷, sondern er sah die Entstehung eines dogmatischen Säkularismus voraus, der auch noch nach dem Zeitalter der Revolutionen eine bestimmte aufgeklärte, sich gegen jeden Wahrheitsanspruch der Religion immunisierende Intelligenz bestimmen würde. Das Ausbleiben der Parusie der Sündenfreiheit würde hier zur Ausbildung einer säkularen Kirche mit einer eigenen säkularen Dogmatik der Selbstgerechtigkeit, Unfehlbarkeit und Inquisi-
Heinrich Heine, Religion und Philosophie in Deutschland, 2. Vorrede, in Werke, Bd. IV, S. 47. Vgl. hierzu Heines Geständnisse, ebd., S. 502 ff: „Ich war nie abstrakter Denker, und ich nahm die Synthese der Hegelschen Doktrin ungeprüft an, da ihre Folgerungen meiner Eitelkeit schmeichelten. Ich war jung und stolz, und es tat meinem Hochmut wohl, als ich von Hegel erfuhr, daß nicht, wie meine Großmutter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residiert, sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei. […] meinen ehemaligen Klienten habe ich mit frommer Demut angezeigt, daß ich nur ein armseliges Menschengeschöpf bin, eine seufzende Kreatur, die mit der Weltregierung nichts mehr zu schaffen hat, und daß sie sich hinfüro in Not und Trübsal an den Herrgott wenden müßten, der im Himmel wohnt, und dessen Budget eben so unermeßlich wie seine Güte ist, während ich armer Exgott sogar in meinen göttlichsten Tagen, um meinen Wohltätigkeitsgelüsten zu genügen, sehr oft den Teufel an dem Schwanz ziehen mußte“. Vgl. Wolfgang Hädecke, Heinrich Heine. Ein Biographie, München: Hanser 1985 hat diese Stelle aus Heines Lutetia, II. Teil, 46. Brief vom 12. Juli 1842 zitiert. Heines Vision ahnt hier in den zukünftigen Tyrannen im Namen der kommunistischen Gesellschaft apokalyptische Wesen, die tatsächlich die apokalyptischen Tiere der Johannesoffenbarung bei Weitem in den Schatten stellen würden. Die Engführung der Utopie mit der Apokalypse ist Ausdruck der Einsicht des späten Heine vom Wesen seiner eigenen radikalen politischen Utopie von der Gottwerdung des Menschen und der Abschaffung der Sünde.
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tion gegen diejenigen Theologen ausbilden, deren Sünde darin besteht, dass sie die Sünde erfunden haben. „Wir haben jetzt fanatische Mönche des Atheismus, Großinquisitoren des Unglaubens, die den Herrn von Voltaire verbrennen lassen würden, weil er doch im Herzen ein verstockter Deist gewesen.“⁸ Mit seiner religiösen „Kehre“ hat Heine dabei, anders als viele seiner romantischen und rechtshegelianischen Wiedergänger, keineswegs die Ideen von Aufklärung und Freiheit widerrufen, sondern nur deren Exzesse als Formen einer fehlgeleiteten politischen und erotischen Religion bzw. eines radikalen, selber dogmatischen Säkularismus entlarven wollen. Wenn der Fall des göttlichen Nebukadnezar ihm zu einer existenziellen Allegorie für all die eschatologischen Visionen der Aufklärung wurde, die den Auszug aus der selbstverschuldeten Aufklärung mit einem Auszug aus Schuld und Sünde überhaupt verwechselt haben, so wollte er offensichtlich für eine andere Form von Aufklärung „jenseits der Delegitimation“ der Religion plädieren, wie diese Aufklärung eine Religion voraussetzen musste, die, wenn sie das Problem von Schuld und Sünde zur Sprache bringen würde, dabei die moderne Idee der Freiheit immer voraussetzen würde. Als ginge es nunmehr darum, aus dem „skeptischen Schlummer“ zu erwachen, formulierte Heine die Forderung nach einer Art „Kritik der reinen säkularen Vernunft“, in der Philosophie und Religion aufeinander angewiesen wären und in einen kritischen Dialog treten müssten, um den Allein- und Absolutheitsanspruch des jeweils Anderen zurückzuweisen, aber auch, um sich in dieser Auseinandersetzung über die je eigene Position bessere Klarheit zu verschaffen. Es war Heines jüngerer Zeitgenosse Søren Kierkegaard, der eben diese Forderung eingelöst hat, als er mithilfe des tabuisierten Begriffs der Sünde das Projekt des absoluten Idealismus zu dekonstruieren versuchte. Frei von jedem Moralisieren wollte Kierkegaard die eigentliche Bedeutung des Begriffs der Sünde für die Konstitution von Freiheit und Subjektivität geltend machen, als er die für Religion und Philosophie gleichermaßen verhängnisvolle absolute Synthese von Gott und Subjekt (und deren politische und erotische Inkarnationen) demontierte und damit den Horizont auf eine post-idealistische Dialogik zwischen den beiden Lebensformen, der sokratisch-philosophischen und der christlich-religiösen Subjektivität eröffnete. 1. Gegen die absolute Synthese von Philosophie und Religion, aber auch gegen deren absolute Differenz und Antithese, wie sie die erste große Phase der Kierkegaardrezeption der zwanziger Jahre zwischen einer antimodern gestimmten
Heinrich Heine, Geständnisse, in Werke IV, ebd., S. 496.
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Orthodoxie und einem atheistischen Existenzialismus bestimmte,⁹ hat Kierkegaard sein therapeutisches Denkprojekt als eine dialogische Form von Aufklärung verstanden, die er tatsächlich an Gotthold Ephraim Lessing, zumal an dessen theologiekritischen Schriften bewunderte. Mit diesem Aufklärer nimmt Kierkegaard die kritische Ausarbeitung einer Aufklärung über die Aufklärung vorweg, wie sie heute – nach ihren letzten politisch-theologischen Exzessen – in der Debatte zwischen Jürgen Habermas und Kardinal Ratzinger¹⁰ als post-säkulare Relation zwischen säkularer Philosophie und orthodoxer Religion jenseits ihrer Usurpationen, gegenseitigen Exklusionen und Delegitimationen erst nur programmatisch eingefordert ist. 2. „Wahrlich er soll noch erscheinen, auf beiden Seiten soll er noch erscheinen“, schreibt Lessing, nämlich „der Mann, welcher die Religion so bestreitet, und der, welcher die Religion so verteidigt, als es die Wichtigkeit und Würde des Gegenstands erfordert.“¹¹ Kierkegaard wollte in diesem Dialog tatsächlich die Rolle des Theologen einnehmen, um die Religion, der Würde des Gegenstands entsprechend, gegenüber der Philosophie zu verteidigen. 3. Mit Lessing hat Kierkegaard Philosophie und Religion nicht einfach als zwei legitime Wahrheitsansprüche gelten lassen, sondern tatsächlich als zwei dialogisch aufeinander bezogene, im Leben zu bewährende Wahrheiten und als Therapien des Selbst konstruiert, um damit auch die aktuelle „therapeutische Wende“¹² der Philosophie (Pierre Hadot, Michel Foucault und Martha Nussbaum) gleichsam vorwegzunehmen.
Karl Barth, Römerbrief, München: Chr. Kaiser 1922 und Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1928 bezeichnen die auseinanderstrebenden Pole dieser Rezeptionsform zwischen atheistischer Philosophie und Theologie, die dann im Sinne einer schematischen Konstruktion ihre theologische Fortsetzung etwa bei Friedrich Gogarten, Politische Ethik, Jena: Eugen Diederichs 1932 und ihre philosophisch-atheistische bei Jean Paul Sartre, Sein und Nichts, Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg: Rowohlt 1991 [1943] findet. Was diese Form kennzeichnet, ist die radikale Dichotomie und Differenz, die Kierkegaards dialogisch angelegtes Projekt tatsächlich destruiert. Joseph Ratzinger/Jürgen Habermas, „Vorpolitische Grundlagen eines freiheitlichen Staates“, in Zur Debatte. Katholische Akademie Bayern, Nr. 1, München 2004. Es ist immerhin vorstellbar, dass beide Repräsentanten in dieser Debatte sich als Kritiker der politisch theologischen Exzesse der Aufklärung (die radikal antidemokratische Front der Leninisten von ’68) bzw. der marxistischen Extreme der Befreiungstheologie begriffen haben. In beiden Fällen ging es um politische Transpositionen der Reich-Gottes-Lehre in die real politische Praxis. Gotthold Ephraim Lessing, Theologiekritische Schriften, in Werke VIII, München: Carl Hanser 1970 – 76, S. 21. In der Tat zeichnet sich heute eine solche „therapeutische“ Wende ab, die über die Rückbesinnung auf die antike, an der Figur des Sokrates orientierte Philosophie, zumal am Beispiel der stoischen, epikuräischen und kynischen Schule, eine neue Perspektive auf die verschiede-
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4. Zugleich hat Kierkegaard in diesem Dialog die Rolle des religiösen „Wahrheitssprechers“ eingenommen, um das Prinzip des therapeutischen Dialogs zuletzt über den kritischen Begriff der Sünde auf dessen eigentlichen Urgrund zurückzuführen: die Liebe. Indem Kierkegaard die Sünde in letzter Instanz als einen Akt der „Liebesverweigerung“ auffasst, vollstreckt er in vielerlei Hinsicht auch schon die gegenwärtige „erotische Reduktion“ bei Jean Luc Marion,¹³ die Reduktion der Philosophie auf den Begriff der Liebe als ein das Denken immer schon überforderndes Ereignis.
II Kierkegaards Kritik der reinen säkularen Vernunft Weil es Kierkegaard eben um die Rettung der Freiheit gegen ihre idealistischen Hypostasen geht, setzt er in seiner Kritik der modernen Philosophie der Freiheit und ihres radikalen Idealismus zunächst die ästhetische Subjektivität als Ausgangspunkt ein. Es ist die Ästhetik, die, anders als die Logik, das individuelle Selbst, die konkrete menschliche Erscheinung in ihrer Unmittelbarkeit, Erotik und Reflexivität, also vor ihrer Subsumierung unter den universalisierenden Begriff thematisiert, mit dem das Individuum untergeht bzw. sich opfert. „Selbstmord ist die einzige Existenz – Konsequenz des reinen Denkens“¹⁴. Das ästhetisch-indinen modernen philosophischen Tendenzen von Existenzialismus, Dialogismus und Psychoanalyse gewinnt. Tatsächlich erlaubt die therapeutische Wende aus der Perspektive der sokratischen „Sorge um das Selbst“ eine Integration dieser Tendenzen. Vgl. Pierre Hadot, Philosophy as a Way of Life. Spiritual exercises from Socrates to Foucault, Oxford: Blackwell 1995. Michel Foucault, Fearless Speech, Los Angeles: MIT Press 2001. Ders., Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt Main: Suhrkamp 2009. Martha Nussbaum, The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton: Princeton University Press 1995. Dabei verfolgen diese therapeutischen Ansätze, mit der Ausnahme von Pierre Hadot, die Tendenz einer Ausklammerung der theologischen Therapeutik in der patristischen Theologie, um so die Dichotomie von Philosophie und Theologie zu perpetuieren, die Kierkegaards Denken selbst immer schon unterläuft. Vgl. Jean Luc Marion, The Erotic Phenomenon, Chicago: University of Chicago Press 2005. Die phänomenologische Strategie einer „erotischen Reduktion“ (nach Heideggers ontologischer Reduktion) bestimmt Marions Denken seit seinen Anfängen in God without Being, Chicago: University of Chicago Press 1991 und dann systematischer seit: Reduction and Givenness. Investigation into Husserl, Heidegger and Phenomenology, Evanston: Northwestern University Press 1998. In den verschiedenen Ansätzen Marions geht es immer wieder um die Einsicht in ein dem Denken vorhergehendes und das Denken überforderndes Gegebensein, ein „Geschenk“, dessen Ausdruck Marion immer wieder im Phänomen der Liebe verortet. Søren Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift II, in Gesammelte Werke VII, Jena: Eugen Diederichs 1925, S. 7.
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viduelle Selbst, das seine eigenen existenziellen Möglichkeiten zu leben versucht, um sich seiner Freiheit bewusst zu werden, verständigt sich über sich selbst und den Anderen, im Modus einer narrativen Sprache, die sich immer schon mit den Zwängen des objektiven Denkens auseinandersetzt und von diesem, mit der Bewusstwerdung der eigenen Freiheit, abzusetzen versucht. „Subjektivität mißt sich (geradezu) daran, welches Gewicht die Objektivität hat, die (sie) abwerfen muß.“¹⁵ Dieses literarisch-ästhetische Apriori von Kierkegaards Philosophie stellt nicht nur die philosophische Konzeptualisierung in Frage, sondern wendet sich aus dieser literarischen Perspektive gegen die Tendenz des Denkens überhaupt, sich gegenüber der Individualität absolut zu setzen. Hegels System ist die aktuelle Form dieser Tendenz des Denkens, das nicht nur den objektiven Begriff von Subjektivität und Freiheit realisiert haben will, sondern diesen Begriff in der Synthese von Begriff und Dogma, Philosophie und Theologie verabsolutiert.¹⁶ Als eine notwendige begriffliche Struktur und Totalität ist dieses Subjekt in sich (ab‐)geschlossen, d. h. Resultat und Produkt seiner geschichtlichen Vergangenheit, das seine eigene Potenzialität, „Unendlichkeit“ und Offenheit für eine Zukunft schon konsumiert hat. Während die systematische Philosophie diese „Unendlichkeit“ in einer absoluten „Totalität“ ein- und verschließt, befindet sich die philosophisch begründete Ästhetik, die Kierkegaard als Ausgang wählt, in einer anderen Gefahr: anstatt die Subjektivität im systematischen Begriff einzu-
Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken. Auch ein bisschen Philosophie. Von Johannes Climacus. Herausgegeben von S. Kierkegaard. Abschließende Nachschrift I, in Gesammelte Werke VI, Jena: Eugen Diederichs 1925, S. 150. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in Werke XVI, Frankfurt Main: Suhrkamp 1980. Tatsächlich verteidigt Hegel die patristische Dogmatik gegen die moderne theologische Tendenz ihrer historischen und psychologischen Auflösung, wenn er diese Dogmatik in ihrer dialektischen Logik auf den Begriff bringen will. So stellt er in der Verhältnisbestimmung von Philosophie und Theologie (S. 44 f.) fest: „Selbst die Theologen, die noch in jenem Stadium der Eitelkeit zu Hause sind, haben es gewagt, die Philosophie ihrer zerstörenden Tendenz wegen anzuklagen, Theologen, die nichts von dem Gehalte mehr besitzen, der zerstört werden könnte. Um diese nicht nur unbegründeten, sondern auch leichtfertigen und gewissenlosen Einwürfe zurückzuweisen, brauchen wir nur kurz zuzusehen, wie die Theologen vielmehr alles getan haben, um das Bestimmte der Religion aufzulösen, indem sie 1. Die Dogmen in den Hintergrund geschoben oder für gleichgültig erklärt haben, oder dieselben 2. nur als fremde Bestimmungen anderer und als bloße Erscheinungen einer vergangenen Geschichte betrachten. Wenn wir also auf die Seite des Inhalts reflektiert und gesehen haben, wie diese die Philosophie wiederherstellt und vor den Verwüstungen der Theologie sicherstellt, werden wir 3. auf die Form jenes Standpunktes reflektieren […]“. Tatsächlich tritt Hegel also als Retter der christlichen Dogmatik vor ihren vermeintlichen Repräsentanten auf, freilich nur, um sie auf ihren dialektischen Gehalt hin als absoluten Begriff des seines selbst bewussten Selbstbewusstseins zu übersetzen.
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schließen, überlässt sie die begrifflich offene und unbestimmte Subjektivität eben im Namen der individuellen Freiheit dem Schicksal einer reinen und gänzlich unbestimmten Unendlichkeit und Möglichkeit: eben weil das Individuum ästhetisch jenseits des Begriffs verortet ist und prinzipiell unbestimmbar bleibt, befindet es sich nunmehr in der Gefahr, sich als reine Möglichkeit absolut zu setzen. Beide Formen der absoluten Subjektivität, das Subjekt der Notwendigkeit und das Subjekt der Möglichkeit, gehorchen einer Logik, die den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und so das Entweder-Oder, das die Situation der individuell gelebten Freiheit bestimmt, suspendiert hat. Wo das absolute Subjekt Hegels jedoch nur als Rückblick, d. h. in einer Vergangenheit ohne Zukunft existiert, verfügt das absolute ästhetische Subjekt immerhin schon über einen Horizont auf Möglichkeit und Zukunft, ohne diese durch eine Entscheidung in die Realität umsetzen zu können. Beiden Modalitäten des Subjekts, der reinen Notwendigkeit wie der reinen Möglichkeit, mangelt es also an Aktualität und Wirklichkeit. Der Philosoph kann nur sein System in seinen verschiedenen dialektischen Schritten rekapitulieren, während der radikale Ästhet sich mit seiner unendlichen Potenzialität gleichsam immer schon selbst „dekonstruiert“ und so den Zugang zu einer konkreten Entscheidung verstellt.¹⁷ In beiden Formen dieses radikalen Idealismus, der vollendeten Identität und der reinen Differenzialität, findet sich das Individuum tatsächlich paralysiert. Die Freiheit, zu der es sich den philosophischen Zugang verschaffen wollte, erweist sich als Unfreiheit. Absolute Identität und absolute Differenz des Subjekts verhindern also die Aktualisierung der Freiheit, in deren Namen diese Versionen der Subjektivität entworfen worden sind. Aus der Perspektive dieser absoluten Polarisierungen der Freiheit als absolute Aktualität oder Potenzialität, in denen das Subjekt sich als faktisch ohnmächtiges Absolutes, als eine Art ohnmächtiger Gott paralysiert findet, entwickelt Kierkegaard zunächst eine objektive Definition des individuellen Selbst als eine „metaxologische“ Synthese, ein „Dazwischen“ von Unendlichkeit UND Endlichkeit, Möglichkeit UND Wirklichkeit. Damit sind nicht nur absolute Identität und absolute Differenz der Subjektivität gleichermaßen dekonstruiert, sondern es ist eine Art Post-subjektivität konzipiert, die als „Dazwischen“ von „Totalität und Unendlichkeit“ einige ihrer Möglichkeiten in der Zeit realisiert, aber hinsichtlich ihrer Zukunft zugleich offen für andere Möglichkeiten bleibt. „Der subjektiv existenti-
Es ist hier nicht der Ort, die Debatte über Jacques Derridas Dekonstruktion als Form eines radikalen Ästhetizismus zu entfalten. Ob man wie etwa John D. Caputo, „Either/Or, Undecidability, and Two Concepts of Irony, Kierkegaard and Derrida“, in Elsebet Jegstrup, The New Kierkegaard, Bloomington: Indiana University Press 2004, Derrida vom ästhetizistischen Vorwurf freizusprechen will oder nicht, die Analogie zwischen Kierkegaards ästhetischer Ironie und Derridas Dekonstruktion wird offenbar als etablierte Tatsache vorausgesetzt.
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elle Denker, der die Unendlichkeit in seiner Seele hat“, stellt Johannes Climacus fest, „er hat sie immer, und darum ist seine Form beständig negativ.“¹⁸ Diese „Wunde der Negativität“¹⁹ des Unendlichen gegen Wirklichkeit und Form muss der existenzielle Denker tatsächlich „beständig offen“ halten, wenn er sich von den Versuchungen, „das reine Sein als Aufenthaltsort“²⁰ zu wählen, befreien will. Aber diese Definition der Existenz als Negativität führt Kierkegaard zu einer Untersuchung darüber, warum die Philosophie der Freiheit sich tatsächlich in die erwähnten Widersprüche des Denkens verstrickt. Der Umschlag der Freiheit in Zwang und Unfreiheit, der Souveränität in Ohnmacht entspringt zwar philosophischen Fehlleistungen, sie beruhen aber, wenn das Apriori der individuell zu lebenden Freiheit gelten soll, auf einer Entscheidung des Philosophen. Absolute Identität und absolute Differenz werden zunächst als Funktionen eines Begehrens und Willens transparent, um den Ungewissheiten des fundamentalen Nichtwissens über die Zukunft und damit der Negativität zu entgehen, wie sie ein souveränes Subjekt zu konstruieren versuchen, d. h. um sich gegenüber der mit diesem Unwissen gegebenen konstitutiven Schwäche des Selbst zu immunisieren. Beide erzeugen eine fundamentale Angst des Selbst, das daher dazu tendiert,²¹ seine Freiheit, und damit in letzter Instanz seine individuelle Subjektivität in einem Denksystem abzusichern oder in einer ästhetischen Imagination aufzulösen, also in beiden Fällen zu widerrufen. Kierkegaard enthüllt damit einen fundamentalen Mechanismus der Existenz, der die Logik von Unendlichkeit und Endlichkeit immer schon beherrscht, nämlich die, wie der frühe Heidegger sagen würde: „ruinante“²² Tendenz dieser Existenz, vor der Freiheit und damit vor sich selbst zu desertieren. Anstatt sich selbst als Freiheit zu übernehmen und anzunehmen, Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I, ebd., S. 165. Ebd., S. 166. Ebd., S. 161. Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst. Eine simple psychologisch-wegweisende Untersuchung in der Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde, von Vigilius Haufniensis, in Gesammelte Werke V, Jena: Eugen Diederichs 1923, S. 36 ff. ist immer schon grundsätzlich zwischen der ursprünglichen Angst vor der Freiheit und den späteren Verdrängungen der Angst vor der Freiheit zu unterscheiden, die dem Phänomen der Melancholie zugrundeliegt. „Die Angst, welche in der Unschuld gesetzt ist, ist nun fürs erste keine Schuld, fürs andere keine beschwerende Last, kein Leiden, das sich mit der Seligkeit der Unschuld nicht vereinigen ließe. […] Die Angst hat hier dieselbe Bedeutung wie die Schwermut auf einem viel späteren Punkte, wo die Freiheit die unvollkommenen Formen ihrer Geschichte durchlaufen hat und nun im wahrsten Sinne des Wortes zu sich selbst kommen soll.“ (ebd., S. 40 f.). Vgl. Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, in Gesamtausgabe 61, Frankfurt Main: Vittorio Klostermann 1985, S. 136 f.
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weicht das Selbst vor dieser Freiheit aus, indem es sich – wie im hegelianischen System – in sich selbst verbarrikadiert, oder – wie in der reinen ästhetischen Differenz – in imaginären Formen des Selbst auflöst. Es „hat sich selbst gefangen – und keiner ist so schrecklich gefangen, keine Gefangenschaft so unmöglich zu brechen, wie die, worin das Individuum sich selbst gefangen hält.“²³ Aber auch die Negativität der existenziellen Reflexion selbst kann, wenn sie ihre Negativität verabsolutiert, zum Selbstverlust führen, den Kierkegaard mit den verschiedenen pseudonymen Autoren auf der Suche nach dem wahren Eigennamen als das eigentliche Problem seines Schreibens zu demonstrieren und dadurch auch zu heilen sucht.²⁴ Im Licht dieser Fluchtbewegung in die Selbstverschließung oder die Verunendlichung bezeugt das Selbst, dass es eigentlich nicht „es selbst sein will“. So befindet es sich immer schon in einer spezifischen Verzweiflung, die Kierkegaard gegenüber dem objektiven cartesianischen Zweifel als Ausdruck eines permanenten Selbstzweifels des Subjekts abhebt. „Zweifel ist die Verzweiflung des Gedankens, Verzweiflung ist Zweifel der Persönlichkeit“²⁵, erklärt der Richter Wilhelm in seinem unendlichen Brief an den anonymen ästhetischen Dandy. Solange Verzweiflung die Fluchtbewegungen des Selbst beherrscht, entfaltet sich dieser Zweifel gegenüber sich selbst potenziell in verschiedenen Intensitäten und Pathologien, die der Therapeut Kierkegaard in letzter Instanz als Sünde be-
Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, ebd., S. 15. Søren Kierkegaard, Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller, in Gesammelte Werke X, Jena: Eugen Diederichs 1922, ist ein einziger Versuch, die Autorenschaft der Pseudonyme als eine von Anfang an intendierte christliche Therapeutik des Publikums zu stilisieren, während Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung von Anti Climacus, hrsg. von Søren Kierkegaard, in Gesammelte Werke VIII, Jena: Eugen Diederichs (Ohne Jahresangabe), S. 72 ff. explizit die Aporie des religiösen Schriftstellers konstruiert und damit das therapeutische Schreiben als einen Prozess der Selbstheilung darstellt: „Christlich betrachtet ist [trotz der Ästhetik] jede Dichterexistenz Sünde; die Sünde, daß man dichtet, statt zu sein; daß man sich nur in der Phantasie mit dem Guten und Wahren beschäftigt, statt existentiell danach zu streben es zu sein.“ Søren Kierkegaard, Entweder Oder. Ein Lebensfragment, hrsg. von Victor Eremitae, Zweiter Teil (B‘s Papiere), in Gesammelte Werke II, Jena: Eugen Diederichs (Ohne Jahresangabe), S. 179. Der Brief von Richter Wilhelm an den anonymen Ästheten über „Das Gleichgewicht des Ästhetischen und des Ethischen in der Ausarbeitung der Persönlichkeit“ lässt sich als die lange Antwort des in Goethes Werther stummen Adressaten Wilhelm an den Künstler-Vagabunden auffassen, der sich, aus Mangel an Entscheidungskraft, eben nicht das Leben genommen hat und gealtert ist.
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zeichnen wird, um damit dem Subjekt tatsächlich zuzumuten, die Stimmung der Verzweiflung als seine eigene Handlung, als einen Akt der Freiheit, zu erkennen.²⁶ Aus der Perspektive der existenziellen Reduktion lässt sich das Versagen der vollständigen Vergöttlichung der Subjektivität also nicht mehr als Unfall oder Unaufmerksamkeit des Denkens beschreiben, das sich in der Ironie der Philosophie darstellt, die Freiheit meint, sich aber in Unfreiheit verkehrt.Vielmehr muss ihr Versagen als Resultat eines selbständigen Willens begriffen werden, den man über die Motive der Angst und Verzweiflung nur als eine bewusste Schuld beschreiben kann, für die das Subjekt sich als verantwortlich erkennen muss, um damit seine Freiheit zu übernehmen. „Du mußt die Verzweiflung nur bewußt übernehmen!“ ruft Richter Wilhelm dem ästhetischen Dandy als seinem alter Ego zu. „Man kann überhaupt nicht verzweifeln, ohne verzweifeln zu wollen; um in Wahrheit zu verzweifeln, muß man die Verzweiflung in Wahrheit wollen; will man aber in Wahrheit verzweifeln, so ist man in Wahrheit über die Verzweiflung hinaus.“²⁷ 1. Das Selbst muss diese Verzweiflung also in das Bewusstsein seiner Schuld übersetzen können. Die Ironie der absoluten Freiheit wird aus der Perspektive der existenziell-individuellen Freiheit zu der Handlung, die immer schon gegen das bessere Verstehen die Bedingungen der Definition der Sünde erfüllt, wie sie der Apostel Paulus im Römerbrief (7:19) prägnant formuliert: Das Gute, das ich will, tue ich nicht. Das Böse, das ich nicht will, tue ich. 2. Dabei erscheint der Wille, die Freiheit absolut zu konstruieren, nicht nur als eine Funktion der Flucht vor dem individuellen Leben, sondern er entspricht der Tendenz, das Selbst als Autopoiesis, als Ursprung seiner selbst zu setzen, d. h. es zu verabsolutieren. Damit erweist sich dieses Selbst nicht nur an sich selbst immer schon als „theologisch“, d. h. es bezieht sich als individuelles Selbst immer schon auf einen Horizont des Absoluten (Dasein ist, heideggerisch gesprochen, an sich „theologisch“²⁸), sondern dieser Bezug auf das Absolute erweist sich aus der Perspektive der dogmatischen Theologie in den philosophischen und ästhetischen Formen der Selbstverabsolutierung immer schon als ein fehlgeleiteter Be-
Vgl. Søren Kierkegaard, Der Begriff der Angst, ebd., S. 36. Aber auch Entweder Oder II, ebd., S. 156: „Schwermütig ist ein Mensch nicht dadurch, daß er unter Kummer und Sorge leidet, und vielleicht bis zu dem Grade leidet, daß er des Leidens lebenslang nicht mehr ledig wird: das kann sogar wahr und schön sein. Schwermütig wird ein Mensch, nicht durch auferlegtes Leiden, nur durch eigene Schuld.“ Søren Kierkegaard, Entweder-Oder II, ebd., S. 181. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 1984, S. 12: „Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es an sich ontologisch ist.“ Das heißt, es versteht sich immer schon in seinem Bezug zum Sein, auch dann, wenn dieser nicht explizit ist.
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zug, d. h. als Usurpation des Absoluten, und das heißt als die Sünde schlechthin, die die Theologen als Sünde gegen den heiligen Geist bezeichnen. Als bewußte Leugnung von … und Rebellion gegen … Gott bringt sie im Sinn der Theologie erst die verschiedenen Formen der „desperatio“ (=Verzweiflung an Gott) hervor, von der „impugnatio“ (=Widerstreben gegen die erkannte Wahrheit) und „obstinatio“ (=Verstocktheit) bis zur „impoenitentia“ (=Unbußfertigkeit) hervor. Kierkegaards Analyse der Stimmungen von der Langeweile, über die Melancholie bis zu Verzweiflung und Wahnsinn, sucht in diesem Sinn, den Bann dieser fehlgeleiteten Tendenz des an sich theologischen, d. h. des auf das Absolute hin orientierten Daseins zu brechen, das sich selbst negiert, wenn es sich als göttliches Idol konstruiert. Mit Luther geht Kierkegaard davon aus, daß der Mensch gar nicht wollen kann, daß Gott Gott ist, eben weil er „naturaliter“ selbst Gott sein will.²⁹ Kierkegaard will dem an sich theologischen Selbst damit tatsächlich zumuten, diese Stimmungen bewusst zu wählen und d. h. als aktive Handlungen der Freiheit und des Widerstands gegen Gottes Souveränität, die seiner Verantwortung unterstehen, zu begreifen und zu ergreifen. Die Analyse der idealistischen Logik der Freiheit führt also zunächst zu der Demonstration des fundamentalen Widerspruchs und der Ironie der Philosophie der Freiheit, die sich in der unerträglichen Differenz von Wahrheit und Leben darstellt. Diese Ironie beruht existenziell auf der Angst vor der Freiheit, und entspricht damit derjenigen Flucht des Subjekts vor sich selbst, die sich in der letzten, der theologischen Instanz als Rebellion gegen Gott, als persönliche Schuld mit dem Bewußtsein von Gott erweist, als Sünde.³⁰
III Kierkegaards Theorie vom indirekten kommunikativen Handeln Der entscheidende Punkt ist hier natürlich, dass die theologisch-dogmatische Dimension, die mit dieser Analyse erreicht wird, eben nicht als ein alternatives Begriffssystem präsentiert werden kann, das als logische und psychologische Martin Luther, Disputatio contra Scholasticam theologiam, Thesen 17 und 18 in Werkausgabe I, hrsg. von W. Härle, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2006, S. 22: „Non potest homo maturaliter velle deum esse deum. Immo vellet se esse deum et deum non esse deum.“ Kierkegaard definiert die Sünde primär als Verzweiflung vor Gott. Vgl. Die Krankheit zum Tode, ebd., S. 72: „Verzweiflung ist die Sünde. Sünde ist: daß man vor Gott (oder mit der Vorstellung von Gott) verzweifelt nicht man selbst, oder verzweifelt man selbst sein will. Sünde ist also die potenzierte Schwachheit oder der potenzierte Trotz: ist die Potenzierung der Verzweiflung.“
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Lösung der existenziellen Widersprüche dienen könnte. Diese Dimension kann nur auf der individuell-existenziellen Ebene, also durch das Leben des Kritikers selbst verifiziert werden. Das Problem der Freiheit kann also auch vom dogmatischen Standpunkt aus nicht „objektiv“ behandelt, sondern nur auf der Ebene des eigenen Lebens, d. h. als Aktualisierung der Freiheit aus dogmatischer Perspektive realisiert werden. Was für das systematische Denken gilt, gilt auch für das dogmatisch begründete Denken: „Die Reflexion der Innerlichkeit ist die Doppelreflexion des subjektiven Denkens. Denkend denkt (d)er (Denker) das Allgemeine, indem er aber in diesem seinem Denken existiert, indem er es in seiner Innerlichkeit erwirbt, isoliert er sich subjektiv immer mehr.“³¹ Das Selbst, das sich an der Dogmatik orientiert, enthüllt also nicht nur die logischen Widersprüche, existenziellen Symptome und theologisch motivierten Pathologien der Freiheit, sondern es ist selbst einbezogen in einen Dialog, der es selbst genauso existenziell betrifft wie seinen Adressaten: den Anderen. Der Dogmatiker kann, will er der kritischen Reduktion ad hominem treu bleiben, also nur in der ersten Person Singular sprechen, die die Wahrheit der Dogmatik in ihrem Leben zu leben versucht, so, wie seine Kritik am philosophischen und ästhetischen Idealismus sich auch nur an eine zweite Person Singular hinter den Kulissen dieser Figurationen wenden kann. „Will er [= der Denker] die Spekulation sein, die reine Spekulation, so muß ich es aufgeben, mit ihm zu reden; denn in demselben Augenblick wird er für mich, das schwache, sterblich Auge eines Menschen, unsichtbar.“³² Wenn die Subjektivität tatsächlich die Wahrheit sein soll, muss sie als offener Weg gedacht werden, von dem aus das philosophische und das dogmatische Ich sich vor sich selbst und dem Anderen Rechenschaft ablegen können. Die Wahrheit der Subjektivität erweist sich über diese Reduktion des Denkens ad hominem immer schon als dialogisch und apologetisch zugleich. Gerade weil der Dogmatiker die Freiheit als persönliche Entscheidung ernst nimmt, kann es ihm nicht nur um eine „Dekonstruktion“ oder eine „bestimmte Negation“ gehen, mit der dieser Idealismus erweitert, verbessert oder umgeschrieben wird, sondern es geht ihm um den Autor selbst, der sich mit seinem Denken in die Anonymität des Systems oder in die Pseudonymität der ästhetischen Imagination flüchtet. Indem er sich also als Ich an das Ich des Anderen richtet, um in diesem Dialog die existenziellen Bedingungen, Schwierigkeiten und Probleme mit der Freiheit zu erwägen, ist der Theologe nicht nur dem
Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I, ebd., S. 156. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I, ebd., S. 185.
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philosophischen Idealisten als möglichen Deserteur des eigenen Selbst auf der Spur, sondern er schreibt gegen diese Tendenz bei sich selbst an. Mit der Demontage des identitären Systems und der ästhetischen Differenz, die sich als Widerspruch zwischen der intendierten Freiheit und ihrer realen Möglichkeit darstellen, ist aber tatsächlich auch die systematische Identität von Philosophie und Theologie, von Begriff und Glauben endgültig demontiert, sodass unter den Trümmern des Systems nunmehr der Philosoph und der Theologe als zwei aufeinander bezogene Lebensformen hervortreten, die jede auf ihre Weise Wahrheit im Leben zu verwirklichen suchen. Gegen den Versuch, Philosophie und Dogmatik als dialektische Synthese zu konstruieren, finden sich diese beiden Formen einer Post-subjektivität zunächst immer schon in einer gemeinsamen dialogischen Koalition der Freiheit gegen alle Formen der Verabsolutierung und Idolisierung des Subjekts, sei es als Wissen, Kunst, Macht, Erotik oder Glauben (1). Dabei unterscheiden sie sich aber hinsichtlich ihres existenziellen Ausgangspunktes in Wissen und Glauben, bzw. Wahrheit und Sünde voneinander (2), um möglicherweise hinsichtlich dieser Differenz, aber immer auf der Grundlage der vorausgesetzten Idee der Freiheit, in eine dialogisch polemische Konkurrenz einzutreten, die jedoch die Legitimität des Wahrheitsanspruchs des Anderen nicht in Frage stellen wird (3). Die dialektische Identität und Differenz von Philosophie und Theologie im absoluten Begriff entfaltet sich also unter post-systematischen Bedingungen tatsächlich in einem kommunikativen Handeln, das seine eigene „dialogische“ Dynamik von Identität und Differenz aufweist: I Im Sinn von Michel Foucaults späten Untersuchungen zur existenziell-therapeutischen Dimension der antiken „parrhesia“³³ kann man beide, Philosoph und Theologen, als „Parrhesiastes“, als „Sprecher der Wahrheit“ beschreiben, die darin übereinkommen, daß Freiheit nur aus der individuell existenziellen Perspektive als ein Leben verstanden werden kann, das sich praktisch an der jeweiligen existenziellen Wahrheit orientiert (1). Auf diese Weise beziehen beide dieselbe kritische Position gegenüber der Tendenz der Subjektivität, sich in Wissen, Imagination, Macht, Eros oder auch im Glauben absolut zu setzen, womit das Selbst sich selbst und den Anderen „verlieren“ würde. (2) Beide Wahrheitssprecher kommen darin überein, dass sie diese Freiheit als Wahrhaftigkeit des Lebens nicht nur in einem objektiven Diskurs lehren, predigen oder beweisen, sondern immer auch in einem situativen Leben und Sprechen aktualisieren müssen. Dieses Sprechen ist an sich „ironisch“, weil es die Bestimmungen des
Michel Foucault, Fearless Speech, Los Angeles: MIT Press 2001. Ders., Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt Main: Suhrkamp 2009.
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Denkens immer wieder hinsichtlich ihres Bezugs zur eigenen Existenz reflektiert. Es ist ironisch, d. h. es verstellt die eigene Wahrheit, um damit nicht nur ihren problematischen Status für den Sprecher selbst zu kennzeichnen, sondern dem Zuhörer die Wahl und damit die Freiheit zu überlassen, über diese Wahrheit selber zu entscheiden. Eine konsequente Dialogik kann demzufolge für beide zuletzt nur „indirekt“ erfolgen, wenn sie ihre eigenen Bedingungen in der Freiheit über die Doppelreflexion ernst nehmen will. Beide gehen davon aus, dass eine direkte Präsentation der Wahrheit, zumal wenn sich diese Wahrheit direkt auf das Selbst des Anderen bezieht, potenziell nur Widerstand, also das Gegenteil von der Absicht dessen, der die Wahrheit ausspricht, erzeugen kann. (3) Damit aber erweist sich der Dialog dieser beiden Wahrheitssprecher zuletzt als genuin therapeutisch motiviert, insofern beide alle denkbare Mühe investieren, um die Idee der Freiheit ohne Absolutheitsanspruch als eine existenziell zu lebende Wahrheit dem Anderen zu vermitteln versuchen. In Wahrheit ist diese Dialogik, weil sie noch nicht über die Wahrheit als Ganzes verfügt, stets auf die Wahrheit des Anderen angewiesen. Die Seele bedarf, der sokratischen Einsicht zufolge, immer schon der anderen Seele als Spiegel, um sich selbst kennenzulernen, weil sie wie das Auge wohl alles, nur nicht sich selbst sehen kann.³⁴ Ist der Andere die Bedingung der Selbsterkenntnis, so kann dieser Dialog auch hier sich gar nicht anders denn als Therapeutik entfalten, in der beide Seiten in den Prozess der existenziellen Wahrheitsfindung miteinbezogen werden. (4) II Wo allerdings der philosophisch-sokratische Lebensentwurf, im Sinne von Kierkegaards Typologie, den Primat der Wahrheit und der Vernunft behauptet und damit davon ausgeht, dass die wirklich verstandene Wahrheit auch zu einem entsprechenden Handeln überleitet, bedient sich der christliche Wahrheitssprecher für diesen Fall einerseits einer fundamentalen Skepsis, wie er durch den Begriff der Sünde angezeigt ist, andererseits des Glaubens, der das sündige Selbst entlastet. Wo der Sokratiker also den Widerspruch zwischen der Wahrheit und dem Leben aufweist und mit der vollen Einsicht in die Wahrheit ein entsprechendes Handeln voraussetzt und einfordert, enthüllt der Dogmatiker zunächst den Willen des Selbst und damit die Selbstliebe als die problematischen Instanzen, die eben diese Konsequenz des Übergangs von der Wahrheit zu einem ihr
Plato, Alkibiades, in Werke I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978, 132 d-e: „Sokrates: Wenn jemand unserem Auge wie einem Menschen den Rat gäbe und sagte: Besiehe Dich selbst, wie würden wir doch glauben, daß er das fordere? Nicht daß es dahin schauen sollte, wohinein das Auge schauend sich selber sehen würde? / Alkibiades: Offenbar doch, o Sokrates, im Spiegel und dergleichen.“ Tatsächlich ist das Auge des Anderen der Spiegel, in dem das Auge, hier Metapher für die Seele, sich nur wieder erkennen kann. Vgl. hierzu auch Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit, Frankfurt Main: Suhrkamp 2010, S. 208 ff.
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gemäßen Handeln immer schon gefährden. Auch die vollkommenste Einsicht kann ein ihr entsprechendes Handeln nicht verbürgen. Eben diese Situation, die Kierkegaard mit dem theologischen Begriff der Sünde beschreibt, ist nicht nur der letzte ontologische Grund für alle Ironien, Komödien und Tragödien des Lebens, in denen das bessere Verstehen durch die Realität des Lebens je auf eigene Weise widerlegt wird, sondern sie erlaubt es dem Theologen, diese Ironien und Widersprüche des Lebens ethisch als Schuld aufzufassen, aber auch den Absolutheitsanspruch der Vernunft zu entlasten, die meint, ihr Handeln restlos rationalisieren zu können. Es ist nun gerade diese theologische Deutung der Schuld als eines ontologischen Ausnahmezustands, die so nicht nur eine skeptische Vertiefung der Problematik von Wahrheit und Freiheit, sondern eine existenzielle Analyse dieses Ausnahmezustands aus der Perspektive des Glaubens erlaubt, und d. h. für Kierkegaard: des Glaubens an die göttliche Liebe. Wo nämlich der Sokratiker Wissen und Wahrheit für das Leben einfordert, weiß der Dogmatiker diese in letzter Instanz in Glauben und Liebe verankert, um damit die eigentlich therapeutische Dimension zu vertiefen.³⁵ Schon die Analyse der Pathologien des Selbst, die sich in den Stimmungen von Langeweile, Melancholie und Verzweiflung darstellen, zeigt an, dass die Selbstflucht als Folgeerscheinung einer gescheiterten Selbstbeziehung zu begreifen ist. Dass das Selbst aber nicht es selbst sein will und deswegen in die Imagination desertiert, bedeutet tatsächlich, dass es sich selbst, so wie es in seinem Sein an sich „ist“, nicht annehmen kann, dass es sich ablehnt, verachtet und d. h. zuletzt: sich nicht lieben kann. Damit ist nicht nur eine letzte Motivation des Selbst, sondern auch das eigentliche Ziel der Selbstflucht benannt: alle Versuche des Selbst, sich als Wissen, Kunst und Souveränität zu verabsolutieren, sind ebenso „erotisch“ motiviert; sie sollen einer Restauration der gescheiterten Selbstliebe entgegenwirken, die unter diesen Voraussetzungen nur das ursprüngliche Scheitern amplifiziert. Wo dieser Versuch, Selbstliebe aus und durch sich selbst herzustellen und sich damit gegenüber dem Anderen zu emanzipieren, an dem Umschlag von Freiheit in Zwang, Wissen in Unwissen, Macht in Ohnmacht endgültig in Verzweiflung und Wahnsinn endet, indiziert er negativ immerhin schon eine intakte Intention des Selbst zum Absoluten als Liebe: diejenige Bewegung, die die Umkehrung der Flucht wäre und zu dem Selbst zurückführen würde, das sich als Die Parallelisierung von Sokrates und Christus bestimmt Kierkegaards „Denkprojekt“ spätestens seit den Philosophischen Brocken, wird aber nicht zufällig am Beispiel des Begriffs der Sünde in Die Krankheit zum Tode, im Kapitel: „Die sokratische Definition“ (S. 82 ff.) entfaltet, d. h. dem christlichen Begriff entgegengestellt.
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endliches Selbst und damit auch den Anderen annehmen könnte, ohne die Position des Absoluten zu usurpieren. Es wäre diejenige Bewegung, in der die Selbstermächtigung als Wissen, Genialität und Souveränität sich zurücknehmen ließe, um das Selbst als Schwäche und Verletzlichkeit „sein zu lassen“. Es wäre die Bewegung desjenigen Absoluten, das sich seiner eigenen Absolutheit begeben könnte, um mit dieser Bewegung eine neue Dimension des Selbst als Liebe und das heißt existenziell: als solidarischer Dienst an dem Anderen vorzuleben. Die Ironie dieser Umkehrung würde also darin bestehen, dass das Selbst alles daran setzt, den endlichen Bedingungen des Selbst dadurch zu entrinnen, dass es sich absolut, als Gott setzt, während Gott selbst alles daran setzt, sich seiner absoluten Göttlichkeit zu begeben, um Mensch zu werden und dem verzweifelten Selbst zu dienen, indem es ihm den Weg der Wahrheit als Liebe anzeigt. Kierkegaards theo-therapeutisches Denken bewegt sich zwischen den beiden Polen dieses Chiasmus: Wo das Selbst schwach ist und sich als absolute Macht verstellt, ist Gott die Macht, die sich als Schwäche verstellt. Die Ironie der Macht verkehrt sich in die Ironie der Liebe, Selbstermächtigung in die Kenosis und Selbstentleerung, Souveränität in Demut und Selbstverleugnung. Es ist nichts anderes als der theologische Chiasmus von Sünde und Vergebung, Schuld und Liebe. In Wahrheit verbirgt sich hier eine letzte Ironie, vielleicht ihr Höhepunkt, besteht doch diese Kenosis als Selbstverleugnung im Namen der Liebe eben darin, dass sich das Selbst jetzt nicht mehr als Wille zur Macht vergöttlicht und eben damit sich selbst und den Anderen eliminiert, sondern gerade in der Liebe zum Anderen dieses Selbst verleugnet. Es kommt also bei Kierkegaard zuletzt nur auf die richtige Form der „Selbstflucht“ an. Aber diese Bewegung der Umkehrung der Ironie erscheint aus der Perspektive des Selbst als das schlechthin Undenkbare, das Absurde. Bezeichnet die Kenosis die Bewegung der Evakuierung, in der sich Gott seines göttlichen Seins begibt, um damit als Mensch das Göttliche zu aktualisieren, so widerspricht diese Bewegung nicht nur dem Willen des Selbst, das selbst Gott sein will und sich nicht vorstellen kann, warum Gott überhaupt Mensch werden wollen könnte. Sie wird aus dieser Perspektive des Willens zum Zeichen des Widerspruchs, das die Grenzen der menschlichen Vernunft und d. h. das Fassungsvermögen des Selbst überschreitet, zum Zeichen eines unerträglichen Ärgernisses, das nur geglaubt werden kann. Wo das Selbst als Vernunft und Wissen auf Grund seines Wahrheitsverständnisses Ärgernis nehmen muss, erweist es sich aber tatsächlich als das, was es in letzter Instanz immer schon war: als Liebesverweigerung. Der Sinn und Grund von Schuld und Sünde IST also Liebesverweigerung. Das Selbst ist tatsächlich so unglücklich über sich selbst, dass es sich die Liebe zu sich selbst, so wie es in seinem Sein an sich ist, nicht zutraut, nicht gönnt und deswegen eben an ihr
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Skandal nehmen muss. Eine solche Liebe sprengt die Grenzen der Vernunft, weil sie nicht anders denn als Exzess oder, um mit dem Phänomenologen Jean Luc Marion zu reden, als „saturiertes Phänomen“³⁶ gedacht werden kann: als ein absolutes Zuviel an Liebe, als göttliche Liebe also, die dem Selbst nicht zusteht und das sich diesem letzten Grund von Sein, Vernunft und Wahrheit widersetzen muss. In diesem Sinn lässt sich Glauben bei Kierkegaard als diejenige Offenheit für die Möglichkeit der Liebe auffassen, die den Horizont des im Selbst begründeten und von ihm bestimmten Denkens notwendig durchbrechen muss. „Weiter, auch um dieses Menschen Schuld willen kommt Gott zur Welt, läßt sich gebären, leidet, stirbt; und dieser leidende Gott bittet und fleht nahezu diesen Menschen an, doch die Hilfe entgegenzunehmen, die ihm angeboten wird! Wahrlich, wenn es etwas gibt, worüber man den Verstand verlieren kann, dann doch wohl dies!“³⁷ 1. Das bedeutet natürlich zunächst, dass Kierkegaard die dogmatische Existenz über die philosophisch-ethische Existenz stellt, weil erst über die Dimension der Liebe tatsächlich der letzte, Sein, Wahrheit und Vernunft, transzendierende Grund des Existierens erhellt werden kann. Dieser entspricht nicht nur einer Wahrhaftigkeit und Treue zu sich selbst, sondern er bewährt sich in der Existenz als theo-therapeutische Praxis an sich selbst und dem Anderen. Liebe entspricht also einer existenziellen Kenosis, in der das Selbst die Logik der Selbstflucht und die Grenzen des eigenen Selbstbezugs durchbricht, um sich dem Anderen zu stellen. Jede therapeutische Intervention, wenn sie vorsichtig und „ironisch“ dem anderen die Wahrheit über sich selbst nahebringen will, bedarf nicht nur der philosophischen Verstellung als Unwissen, sondern sie bedarf der Liebe, die die Wahrheit als Urteil und Verurteilung des Anderen suspendiert. 2. Zugleich aber gilt für diese dogmatische Existenz, dass sie ihre Wahrheit genauso wenig „hat“ wie der Philosoph und der sokratische Lehrer. Sie ist sich dessen bewusst, dass sie ihre Wahrheit mit der Existenz immer wieder und von Neuem bewahrheiten muss, und damit, wie der sokratische Philosoph zuerst immer dem ethischen und sokratischen Kriterium untersteht. Kierkegaard ist, nach seinen eigenen Worten, nur insofern Christ, als er eben noch kein Christ ist. Mit Glauben und Liebe kann sich auch die christliche Existenz nicht dem sokratischen Prinzip der „parrhesia“ entziehen, der Forderung also nach einer Bewährung der Wahrheit im Leben, nach einer Abstimmung von Bios und Aletheia. 3. Damit treten beide, Philosoph und Theologe, nicht nur in ihrer gemeinsamen Koalition gegen die Grenzübertretungen der metaphysischen Vernunft an;
Vgl. Jean Luc Marion, The saturated Phenomenon, in Philosophy Today, Frühling 1996, 40, S. 103 – 121. Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 80.
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sie bedürfen einander, um den ihnen jeweils auf besondere Weise eignenden Tendenzen der Verabsolutierung ihrer Ansprüche entgegenzuwirken, aber auch, um dem Anderen „auf die Sprünge“ zu helfen. Weder kann die Vernunft aus den Kriterien ihrer Wahrheit die Delegitimität des Glaubens ableiten, noch der Glaube sein Prinzip derart absolut setzen, dass er die Legitimität der Vernunft leugnen könnte. Aber der Glaube vermag mit seiner dogmatischen Voraussetzung im kritischen Sündenbegriff auf die rationalistische Illusion hinzuweisen, sie könne mit der direkten Ableitung aus den richtigen Voraussetzungen des Denkens der Schuld entkommen, wie der Philosoph den Dogmatiker daran erinnern wird, dass er es sich mit seiner Erlösung von dieser Sünde nicht zu leicht nehmen darf, wenn er die Idee der Freiheit nicht verraten will. „Sokrates, Sokrates, Sokrates, sollte es möglich sein, daß dieser Mensch verstanden hat, was er verstanden zu haben behauptet?“³⁸, fragt Anti Climacus den christlichen Priester, der von Jesus Verachtung, Leiden und Kreuzestod predigt, und sich mit seiner Predigt nur ein höheres Ansehen vor seiner Gemeinde verschaffen will. 4. In diesem dialogisch-kritischen Sinn hat Kierkegaard gegen jede systematische Integration und jede exklusive Delegitimation des Anderen an ein Modell von dialogischer Aufklärung appelliert, das er tatsächlich an Gotthold Ephraim Lessings situativer und ironischer Praxis der Kommunikation bewunderte und von ihm zunächst im Namen von Johannes Climacus adoptierte. Lessing hat das System der absoluten Identität von Sein und Dasein im Sinne Kierkegaards tatsächlich vor seiner eigentlichen Konstruktion demontiert, als er die Wahrheit dem Trieb zur Wahrheit gegenüberstellte: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, vergib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“³⁹ Aus diesem Zitat folgert Kierkegaard, dass sich das System nur als System Gottes selbst denken lässt. Lessings Ironie gegenüber jeder etablierten Wahrheit wird für Kierkegaard zum Modell für eine Doppelreflexion, die sich tatsächlich je von Neuem darin „mißt, welches Gewicht die Objektivität hat, die die Subjektivität abwerfen muß.“⁴⁰ Indem er damit die Wunde der Negativität beständig offenhält, erinnert er tatsächlich nicht nur an die Differenz zwischen Sein und Dasein, System und Subjektivität, sondern er erkennt eben den Graben und Abgrund, der sich zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Vernunft und Glauben auftut. Gerade weil Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, ebd., S. 87. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken. Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I, ebd., S. 183. Ebd., S. 150.
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Lessing sich selber weigerte, „mit jener historischen Wahrheit [von Christi Offenbarung] in eine ganz andere Klasse von Wahrheiten [der metaphysischen oder dogmatischen Vernunft] herüber zu springen“ (VIII 13), hatte er den Glauben als den existenziellen Sprung erkannt, der, weil er nicht durch die Vernunft zu begründen ist, deswegen keineswegs an Wahrhaftigkeit verliert. „Das, das ist der garstige breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe.“⁴¹ Damit erweist sich Lessings situatives, therapeutisches Denken als dialogische Konstellation, die sich der Grenzen der bloßen Vernunft bewusst ist, ohne damit den dogmatischen Glauben den Gesetzen der Vernunft zu unterwerfen. Ihre Legitimität erhalten Vernunft und Glauben nur durch den existenziellen Bezug zu ihrer Wahrheit, der sich in der dialogischen Handlung als Respekt für (…) und Kritik an der anderen Position bewährt, um sich über diese Konfrontation je von neuem Klarheit über die eigene Position zu verschaffen. „Ich bin mit der Hochachtung, welcher Untersucher der Wahrheit gegeneinander zu tragen, sich nie entbrechen“⁴², versichert Lessing gegenüber seinem theologischen Kritiker, um sich damit der Logik zu verweigern, die „jeden Gottesgelehrten zum Pfaffen“ und jeden „Weltweisen zum Gottesleugner“⁴³ herabwürdigt. „Wahrlich, er soll noch erscheinen, der Mann, welcher die Religion so bestreitet, und welcher die Religion so verteidigt, als es die Wichtigkeit und die Würde des Gegenstandes erfordert.“⁴⁴ In der Kontroverse Lessings mit dem Pastor Goetze hat Kierkegaard in gewisser Weise die Rolle dieses Theologen übernommen, um allerdings aus der Perspektive der dogmatischen Existenz sowohl die Problematik der Aufklärung wie die der institutionalisierten Theologie kritisch weiterzudenken. Das aber heißt, dass er die Dimension der Freiheit nicht nur für die dogmatische Existenz voraussetzt, sondern aus deren Perspektive eben an die Gefahren in der Selbstverabsolutierung und Selbstverschließung gegenüber dem Anderen erinnert. Diese Phänomene diagnostiziert der Theologe aus der Perspektive seiner dialogischen Therapeutik als Symptome von Liebesverlust und Liebesverweigerung, das heißt: er interpretiert sie als Symptome einer genuinen Verdrängung, deren theo-psychologischer Name eben tabuisiert, aber deswegen auch nach seiner Abschaffung nicht minder relevant ist. Die Einsicht in die Bedeutung des Begriffs der Sünde weist tatsächlich nicht nur auf Kierkegaards Aktualität im Kontext der Debatte über eine post-säkulare Beziehung zwischen säkularer Philosophie und
Gotthold Ephraim Lessing, Theologiekritische Schriften, Werke VIII, München: Carl Hanser 1980, S. 13. Ebd., S. 9. Ebd., S. 21. Ebd.
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Theologie; sie erlaubt immer auch schon eine therapeutische Vertiefung dieser Beziehung über die für Philosophie und Theologie jeweils repräsentativen Horizonte von Wahrheit und Liebe.
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Ethik und Ethikkritik Philosophie der Existenz bei Kierkegaard und Nietzsche Abstract: This paper examines the relationship between ethics and ethical criticism against the backdrop of two thinkers crucial to the development of existential philosophy: Kierkegaard and Nietzsche. The main goal of this paper is to examine the methodological aspects of Kierkegaard’s and Nietzsche’s respective analyses of ethics and thereby shed light on the dilemma as to whether there is such a thing as ‘existential ethics’. In both thinkers the concept of the ethical is: firstly, essentially linked to a critique of traditional ethics; and secondly, only apparent within the framework of their experimental and indirect method of thought. Bearing this in mind, it becomes evident that a ‘positive’ and ‘systematic’ approach to ethics is problematic within a philosophical tradition influenced by Kierkegaard and Nietzsche. The paper concludes by offering some criteria that may outline a structure for existential ethics as well as drawing attention to a central concept in both Kierkegaard’s and Nietzsche’s ethical thought: the category of repetition.
Hinführung Eine wesentliche Zusammengehörigkeit der Philosophien Kierkegaards und Nietzsches ist der heutigen Forschung zu beiden Autoren weitestgehend fremd.¹
Vgl. aus der neueren Forschung zu beiden Autoren insbesondere: Gerd-Günther Grau, Vernunft, Wahrheit, Glaube. Neue Studien zu Nietzsche und Kierkegaard, Würzburg: Königshausen und Neumann 1997 (Nietzsche in der Diskussion); James Kellenberger, Kierkegaard and Nietzsche. Faith and Eternal Acceptance, Basingstoke, London: Macmillan 1997; John Lippitt, „Nietzsche, Kierkegaard and the Narratives of Faith,“ in Nietzsche and the Divine, hrsg. v. dems. und Jim Urpeth, Manchester: Clinamen Press 2000, S. 77– 95; Alastair Hannay, „Nietzsche / Kierkegaard: Prospects for Dialogue?,“ in ders., Kierkegaard and Philosophy. Selected Essays, London, New York: Routledge 2003, S. 207– 217; Wenche Marit Quist, „Nietzsche and Kierkegaard. Tracing Common Themes,“ in Nietzsche-Studien, Bd. 34, 2005, S. 474– 485; Tom P. S. Angier, Either Kierkegaard / Or Nietzsche. Moral Philosophy in a New Key, Aldershot, Burlington: Ashgate 2006 (Intersections: Continental and Analytic Philosophy); Giulia Longo, Kierkegaard, Nietzsche: Eternità dell’istante, istantaneità dell’eterno, pres. di Eugenio Mazzarella, Milano: Mimesis Edizioni 2007; Thomas P. Miles, „Kierkegaard and Nietzsche Reconsidered,“ Kierkegaard Studies. Yearbook 2007, S. 441– 469; John Keith Hyde, Concepts of Power in Kierkegaard and Nietzsche, Farnham, Burlington: Ashgate 2010 (Ashgate New Critical Thinking in Religion, Theology and
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Zu deutlich auch erscheinen sie auf den ersten Blick als Antipoden: Während Kierkegaard der ‚Verwirrung der modernen Zeit‘ die Innerlichkeit des ChristlichReligiösen und den viel zitierten, wenn auch bei ihm wörtlich nirgends nachweisbaren ‚Sprung in den Glauben‘ entgegenstellt,² versteht sich Nietzsche als schärfster Kritiker der abendländischen und insbesondere der christlichen Tradition, begreift diese als ein Symptom der décadence und sucht sie in seiner ‚Umwertung aller Werte‘ zu überwinden. In der Hochphase der deutschsprachigen ‚Existenzphilosophie‘ und ‚Existenzialphilosophie‘ allerdings kommt, allen greifbaren Differenzen zum Trotz, der Duplizität ‚Kierkegaard und Nietzsche‘ eine entscheidende Bedeutung zu. Karl Jaspers kann in der Vorrede zur 4. Auflage der Psychologie der Weltanschauungen mit Recht sagen, die Verbindung beider Denker, die er „trotz ihrer scheinbaren Fremdheit (Christ und Atheist)“ in seinem Buch von 1918 vorgenommen hatte, sei „[h]eute“ – das ist 1954 – „so selbstverständlich geworden, daß der Name des einen an den des anderen denken läßt.“³ Die Zusammengehörigkeit von Kierkegaard und Nietzsche ist dabei nicht ein philosophiehistorisches ‚Sachthema‘ unter anderen, sie ist vielmehr gerade für die Selbstverständigung der eigenen Zeit von zentraler Bedeutung. Beide seien, so Jaspers in Vernunft und Existenz von 1935, die „nicht mehr ignorierbaren Philosophen unserer Zeit“⁴; und ausführlicher heißt es dort: Die gegenwärtige philosophische Situation wird durch die Tatsache bestimmt, daß zwei Philosophen, Kierkegaard und Nietzsche, die, zu ihren Lebzeiten nicht gerechnet, dann noch lange in der Philosophiegeschichte ohne Geltung blieben, in ihrer Bedeutung ständig wachsen.⁵
Auch Heidegger hat sich – zunächst von Jaspers angeregt⁶ – mehrfach, aber im Zuge seiner vertiefenden Auseinandersetzung mit Nietzsche in den 1930er Jahren zunehmend kritisch, zur Frage der Zusammengehörigkeit Kierkegaards und
Biblical Studies); vgl. für einen Überblick zu den jüngsten Publikationen auch Jaanus Sooväli, „Was ist das souveräne Individuum? Neuerscheinungen zu Nietzsche und Kierkegaard,“ Nietzsche-Studien, Bd. 38, 2009, S. 477– 485. Vgl. Alastair McKinnon, „Kierkegaard and the ‚Leap of Faith‘,“ Kierkegaardiana, Bd. 16, 1993, S. 107– 125. Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 4. Aufl., Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer 1954, S. X. Karl Jaspers, Vernunft und Existenz. Fünf Vorlesungen, München: Piper 1960, S. 13. Ebd. S. 12. Vgl. Martin Heidegger, Wegmarken, in ders., Gesamtausgabe, Abt. 1– 4, Bd. 1– 102, Frankfurt a.M.: Klostermann 1975 ff., Abt. 1, Bd. 9, S. 11.
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Nietzsches geäußert. So heißt es in der Schelling-Vorlesung von 1936 noch ambivalent, „die jetzt üblich gewordene Zusammennennung von Kierkegaard und Nietzsche“ sei zwar „in mancher Hinsicht berechtigt, aber im Grunde philosophisch unwahr und irreführend“.⁷ In dem Text „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“ von 1943 notiert Heidegger dann eindeutig, die „üblich gewordene, aber deshalb nicht minder fragwürdige Zusammenstellung Nietzsches mit Kierkegaard“ verkenne, dass „Nietzsche als metaphysischer Denker die Nähe zu Aristoteles wahrt“; Kierkegaard hingegen sei „kein Denker, sondern ein religiöser Schriftsteller und zwar nicht einer unter anderen, sondern der einzige dem Geschick seines Zeitalters gemäße“⁸. Dass sich aber Heidegger gerade in dieser Hinsicht um eine nachdrückliche Abgrenzung von Jaspers und der ‚Existenzphilosophie‘ bemüht,⁹ zeigt, wie prominent die Duplizität ‚Kierkegaard und Nietzsche‘ in der deutschsprachigen Philosophie besonders der 1930er bis 1950er Jahre gewesen ist; Karl Löwith hat beiden Denkern eigene Untersuchungen gewidmet,¹⁰ und selbst Theodor W. Adorno, der schon in seiner 1933 erschienenen Habilitationsschrift über Kierkegaard eine Kritik an der Existenz- und Existenzialphilosophie formuliert, hat in einem wichtigen Begriff, auf den zurückzukommen sein wird – dem der ‚Wiederholung‘ –, eine sachliche ‚Kommunikation‘ zwischen Kierkegaard und Nietzsche eingeräumt.¹¹ Es ist im Folgenden die leitende These, dass gerade die Zusammenstellung von Kierkegaard und Nietzsche die Frage nach einer Ethik der Existenzphilosophie zu beleuchten vermag. Nicht nur ist Fahrenbachs These zuzustimmen, dass die Existenzphilosophie den Impuls Kierkegaards gewissermaßen durch den Filter von Nietzsches Denken und besonders seiner Moralkritik aufgenommen habe.¹² Martin Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), in Heidegger (1975 ff./42), S. 43. Martin Heidegger, Holzwege, in Heidegger (1975 ff./5), S. 209 – 267, hier S. 249. Vgl. hierzu auch ders., Nietzsche. Zweiter Band, in Heidegger (1975 ff./6.2), S. 432– 438, bes. S. 437. Vgl. zur Auseinandersetzung Heideggers mit Jaspers unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung Kierkegaards sowie der Frage, ob Sein und Zeit der Existenzphilosophie zugerechnet werden könne, v. a. Martin Heidegger, Die Metaphysik des Deutschen Idealismus: Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), in Heidegger (1975 ff./49), S. 18 – 76. Karl Löwith „Kierkegaard und Nietzsche oder philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus,“ in ders., Sämtliche Schriften, Stuttgart: Metzler 1981– 88, Bd. 6, S. 53 – 74; ders., „Kierkegaard und Nietzsche,“ in Löwith (1981– 88/6), S. 75 – 99. Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Äshetischen, in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1– 20, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, Bd. 2, S. 118. Vgl. Helmut Fahrenbach, Existenzphilosophie und Ethik, Frankfurt a.M.: Klostermann 1970 (Philosophische Abhandlungen, Bd. 30), S. 5 – 7.
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Entscheidender ist vielmehr, dass sich anhand von Nietzsches und Kierkegaards Reflexionen über das Ethische ausmessen lässt, welche Rahmenbedingungen methodologischer Art bei der Frage nach einer Ethik der Existenzphilosophie zu beachten sind. Insbesondere ist dabei in den Blick zu bringen, weshalb von einer Philosophie, die wesentlich an diese beiden Denker anschließt, kein ausgearbeitetes und durchgeführtes System der Ethik erwartet werden darf. Ein solches wäre – um eines der zentralen Ergebnisse der Untersuchung bereits vorwegzunehmen – im Horizont Kierkegaards und Nietzsches gerade eine unethische und den existenziellen Vollzug unterschlagende Zugriffsform auf das Ethische. Den Hintergrund für die folgenden Ausführungen zum Verhältnis von Ethik und Existenzphilosophie bildet die Annahme, dass die Zusammenstellung von Kierkegaard und Nietzsche in wenigstens drei Hinsichten für das Verständnis der nachidealistischen Moderne mit ihren Ausläufern bis in die heutige philosophische ‚Situation‘ fruchtbar gemacht werden kann. Damit soll freilich keineswegs eine ‚Identität‘ Kierkegaards und Nietzsches behauptet werden. Beide unterscheiden sich in ihrer Ausgangsposition, in ihren Fragestellungen und noch mehr in ihren Antworten grundsätzlich und im Ganzen.¹³ Dennoch lassen sich im Rahmen ihrer je verschiedenen denkerischen Ansätze wesentliche Gemeinsamkeiten ausweisen, die gerade in der wechselseitigen Lektüre und Beleuchtung des jeweils einen durch den jeweils anderen in den Blick kommen: 1. Kierkegaard und Nietzsche begreifen sich selbst als denkerische Exponenten einer Umbruchssituation; beiden werden überkommene Denkformen und Denkinhalte fragwürdig, und beide unterziehen die philosophische Tradition einer Kritik. Dass dies auch für Kierkegaard schon zutrifft, zeigt sich besonders von Nietzsche her. Aus dieser Feststellung folgt freilich keineswegs, dem Pathos des Umsturzes, das beiden eignet, ungebrochen folgen zu müssen. Zweifelsohne verdanken Kierkegaard und Nietzsche der Tradition mehr als sie selbst ausdrücklich machen; zweifellos aber auch gewinnt die Selbstkritik der Philosophie in beiden eine neue, vertiefende Dimension. 2. Beide analysieren die Existenzbedingungen und Existenzmöglichkeiten des Einzelnen angesichts einer geschichtlichen Situation, in der tradierte Sinn- und Wertesysteme zusehends an Fraglosigkeit verlieren; beide fragen mithin nach der Stellung des Menschen in einem unsicheren und offenen Horizont. Beide mobilisieren gegen eine Orientierung an der ‚Allgemeinheit‘ des Begriffs, die sie in der Tradition und insbesondere der neuzeitlichen Philosophie zu erkennen meinen, das Pathos des Individuellen und des Singulären, den je konkreten und nicht
So auch Deleuze, vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, aus d. Franz. v. Joseph Vogl, 2., korr. Aufl., München: Fink 1997, S. 20.
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delegierbaren Vollzug von Leben und Existenz. Dass auch Nietzsches Frage nach der ‚Überwindung des Nihilismus‘ in dieser Hinsicht wesentlich ‚existenzphilosophisch‘ motiviert ist, zeigt sich wiederum besonders unter Kierkegaardscher Belichtung. 3. Der Ungesichertheit der geschichtlichen Situation entspricht schließlich die beiden Philosophen gemeinsame Methode eines Denkens in gebrochenen Perspektiven. Beide verstehen ihre denkerischen Entwürfe – wenn auch unter je verschiedenen Voraussetzungen – als Gegenmodelle zur tradierten Form der Philosophie, dem System; beiden ist es gemeinsam, dass die experimentelle und unabgeschlossene Vollzugsform ihres Denkens nicht äußerliche Zutat oder bloße literarische Einkleidung ist, sondern in die Substanz des Gedachten selbst hineinreicht. Bei beiden steht die gebrochene Denkform – bei Kierkegaard unter dem Titel der ‚indirekten Mitteilung‘ verhandelt, bei Nietzsche mit den Worten ‚Experimentalphilosophie‘, ‚Perspektivismus‘ und ‚Schule des Verdachts‘ bezeichnet – für die unhintergehbare perspektivische Gebundenheit jeglichen Erkennens und für die Offenheit eines prozessualen Denkens, das sich der systematischen Schließung im Gebilde eines Ganzen ebenso widersetzt wie dem definitiven, nicht mehr infrage zu ziehenden Resultat. Die genannten Vergleichspunkte des Verhältnisses ‚Kierkegaard – Nietzsche‘ geben für die folgende konkrete Untersuchung zum Zusammenhang von Existenzphilosophie und Ethik vorab drei wesentliche Hinweise: Erstens erhellt aus der angezeigten Umbruchskonstellation, dass die philosophischen Entwürfe Kierkegaards und Nietzsches zunächst aus der kritischen Diskussion mit der Tradition entspringen – und dies derart, dass die Fragwürdigkeit tradierter Denkformen nicht durch einen fundierenden und tiefer gehenden ‚Neuansatz‘ still gestellt wird, sondern sich der Bewegung des eigenen Philosophierens unhintergehbar und permanent einschreibt. Eine Ethik wird sich demnach bei beiden nur in einem ständigen und unaufhebbaren Zusammenklang mit einer Ethikkritik abzeichnen. Zweitens ist für beide – was aus der Existenzbezogenheit ihres Denkens unmittelbar folgt – Ethik stets eine Ethik des individuellen Vollzugs; bei beiden wird sich eine tief gehende Skepsis gegenüber allen allgemeinen Formulierungen des Ethischen im Sinne von ‚überindividuellen‘ Gesetzen, Normen und Regeln nachweisen lassen. Drittens werden die ‚positiven‘ ethischen Ansätze Kierkegaards und Nietzsches nur vor dem Hintergrund ihrer methodologischen Reflexionen im Sinne der jeweiligen Experimentalphilosophie sichtbar. Von hier aus erhellt nochmals, inwiefern das definitive Resultat einer etwa in Grundsätzen und Regeln ausgeführten ethischen Systematik von Kierkegaard und Nietzsche nicht zu erwarten ist. Es wird vielmehr aufzuzeigen sein, dass sich die Unabgeschlossenheit und der Experimentalcharakter ihrer jeweiligen Denkform in den ethischen Reflexionen Kierkegaards und Nietzsches abspiegelt und ‚wiederholt‘.
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Die folgenden Überlegungen vollziehen sich in vier Schritten: Zunächst ist bei Kierkegaard der Zusammenhang von ‚ethischem Existenzstadium‘ und Ethikkritik auszumessen (I); sodann ist Nietzsches Moralkritik nachzuvollziehen (II). In einem dritten Schritt ist skizzenhaft zu umreißen, welchen Rahmenbedingungen ein ‚positiver‘ ethisch-existenzphilosophischer Entwurf im Horizont Kierkegaards und Nietzsches genügen müsste (III); abschließend und ausblickhaft sollen anhand des Begriffs der ‚Wiederholung‘ einige Parallelen in den konkreten ethischen Ansätzen Kierkegaards und Nietzsches aufgezeigt werden (IV).
I ‚Ethisches Existenzstadium‘ und Ethikkritik bei Kierkegaard Fragt man bei Kierkegaard nach dem Komplex von Ethik und Ethikkritik, so tritt zunächst die Konzeption des ethischen Stadiums bzw. der ethischen Existenzform in den Blick.¹⁴ Nach dem Schema der Existenzstadien – das freilich seine eigene Problematik aufweist und die Vielgestaltigkeit von Kierkegaards Werk keineswegs bruchlos abbildet – soll die Sphäre des Ethischen die mittlere zwischen der ästhetischen und der religiösen ausmachen. Ihre erste Formulierung gewinnt diese Existenzform im zweiten Teil von Entweder/Oder (1843), und zwar, bezeichnenderweise, als Antwort auf die im ersten Teil der Schrift vorgeführte ästhetische Existenzhaltung. Aus der Perspektive des Ethikers B zeigt sich diese Konstellation folgendermaßen: Gegen das haltlose, indifferente und augenblicksverhaftete Nicht-sich-entscheiden-Wollen des am bloßen Genuss orientierten Ästhetikers A stellt die Ethik die Wahl des Selbst, die Selbst-Wahl in absoluter Bedeutung.¹⁵ Diese Perspektive des Ethikers wird allerdings dem Ästhetiker nicht vollends gerecht.¹⁶ Dieser ist nämlich keineswegs ein einfaches ‚Nicht-wählen-Wollen‘ aus subjektiver ‚Verfehlung‘ oder
Zur Frage der Ethik bei Kierkegaard vgl. insbes. Helmut Fahrenbach, Kierkegaards existenzdialektische Ethik, Frankfurt a.M.: Klostermann 1968 (Philosophische Abhandlungen, Bd. 29); Friedrich Hauschildt, Die Ethik Soeren Kierkegaards, Gütersloh: Mohn 1982 (Studien zur evangelischen Ethik, Bd. 15); Wilfried Greve, Kierkegaards maieutische Ethik. Von „Entweder/Oder II“ zu den „Stadien“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990; Smail Rapic, Ethische Selbstverständigung. Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Ethik Kants und der Rechtsphilosophie Hegels, Berlin, New York: De Gruyter 2007 (Kierkegaard Studies. Monograph Series, Bd. 16). Vgl. zur detaillierten Rekonstruktion der einzelnen Momente dieser Selbstwahl Fahrenbach (1968), S. 60 – 126. Vgl. zur Auseinandersetzung des Ethikers mit dem Ästhetiker in spezifisch ethischer Perspektive bes. ebd. S. 60 – 72; Greve (1990), S. 37– 76; Rapic (2007), S. 180 – 330.
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bloßem Mangel am Ernst. Insbesondere an den Stimmungsbildern der „Diapsalmata“ des ersten Teils von Entweder/Oder wird sichtbar, dass sich in der spätromantischen Schwermut des Ästheten gleichsam eine geschichtliche Situation abspiegelt, die er selbst in seiner Analyse des Tragischen als ‚Verlust aller substanziellen Bestimmungen‘ bezeichnet.¹⁷ Der Ästhetiker suspendiert nicht aus bloßer Exaltiertheit oder Unverantwortlichkeit die absolute Wahl, er findet sich vielmehr in einer Situation vor, in der eine absolute Wahl oder die Wahl eines Absoluten als unmöglich erscheint. In Nietzschescher Terminologie gewinnt im Ästhetiker die geschichtliche Konstellation des Nihilismus als ‚Entwertung der obersten Werte‘ Gestalt.¹⁸ Auf die existenzielle Grunderfahrung der Sinnferne oder Sinnleere, die der Ästhetiker diagnostiziert, eine Antwort zu geben, ist die Aufgabe, die Kierkegaards Existenzphilosophie in Bewegung hält¹⁹ – ja sein gesamtes Werk kann als Reihe divergierender Bewältigungsversuche der Gegenwartsdiagnose gelesen werden, die sich im ersten Teil der pseudonymen Frühschrift – sozusagen dem ‚Entweder‘-Teil – ausspricht. In einer späten Journalaufzeichnung notiert Kierkegaard hierzu selbst: „Welche Reihe von Bestimmungen betreffs dessen, was unter meinem ‚Oder‘ verstanden werden soll, habe ich nicht schon durchlaufen!“²⁰ Bereits der Ästhetiker skizziert seinerseits in dem wichtigen Text „Die Wechselwirtschaft“²¹, der gewissermaßen der ‚theoretische Traktat‘ des ersten Teils ist, eine seiner Gegenwartsdiagnose korrespondierende und in sich durchaus
Vgl. bes. Kierkegaard, Entweder/Oder 1, GW Abt. 1 (= EO1), S. 29, 36, 160 / SKS 2, S. 36, 43, 148 [Kierkegaard wird zitiert nach der neuen dänischen Ausgabe Søren Kierkegaards Skrifter, Bd. 1– 14 u. Bd. 17– 27, hrsg. v. Niels Jørgen Cappelørn u. a., Kopenhagen: Gad 1997 ff. (= SKS). Die erste Angabe verweist auf: Søren Kierkegaard, Gesammelte Werke und Tagebücher, Abt. 1– 38, Bd. 1– 32, hrsg. v. Emanuel Hirsch u. a., Düsseldorf, Köln: Diederichs 1950 – 74 (= GW); die Übersetzung ist durchgehend v. Verf. modifiziert]. Vgl. zum Zusammenhang des Ästhetikers mit Nietzsches Nihilismus-Begriff Hinrich FinkEitel, „Kierkegaard und Foucault. Frag-würdige Gemeinsamkeiten zweier ungleicher Denker,“ Kierkegaardiana, Bd. 16, 1993, S. 7– 27. Vgl. hierzu bes. Wilfried Greve, „Künstler versus Bürger. Kierkegaards Schrift ‚Entweder/ Oder‘,“ in „Entweder – oder“. Herausgefordert durch Kierkegaard, hrsg. v. Jörg Splett und Herbert Frohnhofen, Frankfurt a.M.: Knecht 1988, S. 38 – 62, hier S. 61, wo es heißt, das „Grundanliegen Kierkegaards“ bestehe darin, auf die „Heillosigkeit der Existenz, wie sie A prägt und das Ästhetische insgesamt, eine möglichst überzeugende Antwort zu finden.“ Vgl. auch Greve (1990), S. 73 f.; diese These ist wohl erstmals von Sløk vertreten worden, vgl. Johannes Sløk, Shakespeare og Kierkegaard, Kopenhagen: Berling 1972, S. 172. Kierkegaard, NB26:110 (Tagebücher 5, GW Abt. 38, S. 115 / SKS 25, S. 104). Vgl. zu diesem Text bes. Poul Lübcke, „Kierkegaard: Aesthetics and the Crisis of Metaphysics,“ in Kierkegaard – Poet of Existence, hrsg. v. Birgit Bertung, Kopenhagen: Reitzel 1989 (Kierkegaard Conferences, Bd. 1), S. 75– 83.
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konsequente nihilistische Existenzlehre als ‚Bewältigungsversuch‘: Wenn kein umgreifender Sinnhorizont sich zeigt und die Existenz sich in die leere Abfolge bloßer Augenblicke auflöst, so bleibt nichts übrig, als dem Augenblick als vergänglichem jeweils die größtmögliche Intensität abzuringen. Mit dieser Antwort allerdings zahlt der Ästhetiker einen hohen Preis: die Aufgabe einer jeglichen existenziellen Kontinuität mit sich. Gerade diese aber in der absoluten Wahl seiner selbst als möglich zu erweisen, ist das vordringlichste Anliegen des Ethikers. Diese Kontinuität soll zunächst dadurch erlangt werden, dass der Mensch sich „in [s]einer ewige[n] Gültigkeit“²² wählt; die Wahl zielt mithin auf den Anteil des Menschen am ‚Ewigen‘ oder ‚Unendlichen‘, kraft dessen er sich als das zu ergreifen vermag, was er ist. Diese Bestimmung, die offensichtlich in der Tradition der klassischen deutschen Philosophie seit Kant steht²³ und im Besonderen auf Fichte rekurriert,²⁴ ist für Kierkegaards Denken im Ganzen höchst charakteristisch: Bei aller emphatischen Fokussierung auf die konkrete und vollzugshafte Existenz zeigt sich immer wieder – insbesondere in den Bestimmungen des Menschen als Synthesis, etwa im Begriff Angst und der Krankheit zum Tode – der Rekurs auf einen ‚kernhaften‘ und gewissermaßen dem Werden enthobenen Anteil des Selbst. Wenn es auch zur geistigen Physiognomie des Ehemanns und Gerichtsrats B gehört, philosophische Erörterungen weitestgehend zugunsten des ethischen Appells zurückzustellen, so wird doch hinlänglich deutlich, dass er diese Wahl allerdings keineswegs als Hinter-sich-Lassen des Endlichen und des Werdens denkt: Zwar ist die Selbst-Wahl klar als ausgezeichneter Augenblick hervorgehoben, sie muss aber zugleich an die Endlichkeit zurückgebunden werden. Keineswegs behauptet der Ethiker, die Kontinuität sei in der Selbstwahl ein für alle Mal und abschließend erreicht, die Definition des Ethischen bezeichnet vielmehr eine Kontinuität im Werden: Das „Ethische im Menschen ist das, wodurch er wird, was er wird“.²⁵ Diese Bestimmung – ‚Kontinuität im Werden‘ – ist für die abschließenden Überlegungen festzuhalten. Für den Gerichtsrat in Entweder/Oder ist allerdings mit der ethischen Kontinuität des Selbst die Hoffnung verbunden, das Individuum auch mit dem Allgemeinen, insbesondere den ‚substanziellen Mächten‘ von Familie und Staat zu
Kierkegaard, Entweder/Oder 2, GW Abt. 2 (= EO2), S. 227 / SKS 3, S. 205; vgl. auch EO2, S. 201– 203, 219 / SKS 3, S. 183 f., 198. Vgl. zum Verhältnis von Kierkegaards Ethik zur Philosophie Kants und des deutschen Idealismus bes. Fahrenbach (1968), S. 163 – 172; Rapic (2007), S. 67– 179. So auch Michelle Kosch, „Kierkegaard’s Ethicist: Fichte’s Role in Kierkegaard’s Construction of the Ethical Standpoint,“ Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 88, 2006, S. 261– 295. Kierkegaard, EO2, S. 189 f. / SKS 3, S. 173 f.; vgl. auch EO2, S. 270 / SKS 3, S. 241 f.; vgl. hierzu auch Fahrenbach (1970), S. 19.
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versöhnen.²⁶ Diese Hoffnung findet sich, bemerkenswerterweise, auch bereits beim Ästhetiker selbst, und zwar in dem soeben genannten – scheiternden – Entwurf eines modern Tragischen.²⁷ Hier zeigt sich abermals, dass Kierkegaards Antworten auf die Frage, die durch die ‚Entleerung der Substanz‘ hervortritt, durchaus auf traditionelle und insbesondere idealistische Elemente zurückgreifen; beispielhaft hatte schon die Magisterdissertation Über den Begriff der Ironie in ihrem Versuch, die entgrenzte romantische Ironie mit dem Konzept einer ‚beherrschten‘, vermittelnden Ironie einzufangen, offensichtliche Anleihen bei Hegel gemacht.²⁸ Der weitere Fortgang von Kierkegaards Werk wird – wie soeben bemerkt – in einer beständigen Neuevaluation der ‚richtigen‘ Antwort auf die Krisendiagnose des Ästhetikers in Entweder/Oder bestehen. Im Zuge der denkerischen Entwicklung wird dabei einerseits die Vermittlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen problematisch, die der Ethiker noch ungebrochen fordert; damit einher geht andererseits eine zunehmende Differenzierung der Auffassung des Ethischen, die dann mit der Bestimmung des ethischen ‚Stadiums‘ in der Form von Entweder/ Oder nicht mehr einfach identisch ist – und in dieser doppelten Bewegung gewinnt schließlich eine Kritik des Ethischen Gestalt. Einen ersten Schritt in diese Richtung bedeutet die bekannte Formel der ‚teleologischen Suspension des Ethischen‘ in Furcht und Zittern (1843). Hier verbleibt zwar das Ethische noch in seiner Bestimmung einer Vermittlung des Allgemeinen mit dem Einzelnen unter Vorrangstellung des Allgemeinen, es wird aber zugleich zu einem Durchgangsstadium auf dem Weg zur paradox-religiösen Existenz, welche jenseits der ethischen Versöhnung des Einzelnen und des Allgemeinen liegt: Der Glaube sei, so heißt es dort, eben dieses Paradox, dass der Einzelne als der Einzelne höher ist als das Allgemeine, ihm gegenüber berechtigt ist, nicht subordiniert, sondern übergeordnet ist, aber wohlgemerkt derart, dass der Einzelne, der, nachdem er als Einzelner dem Allgemeinen untergeordnet gewesen ist, nun durch das Allgemeine hindurch der Einzelne wird, der als Einzelner ihm übergeordnet ist; dass der Einzelne in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht.²⁹
Vgl. z. B. Kierkegaard, EO2, S. 279 – 283 / SKS 3, S. 249 – 253. Vgl. Kierkegaard, EO1, S. 155 – 157 / SKS 2, S. 144– 146. Vgl. hierzu und zu weiterer Literatur Philipp Schwab, „Zwischen Sokrates und Hegel. Der Einzelne, die Weltgeschichte und die Form der Mitteilung in Kierkegaards Über den Begriff der Ironie,“ Kierkegaard Studies. Yearbook 2009, S. 127– 152. Kierkegaard, Furcht und Zittern, GW Abt. 4, S. 59 / SKS 4, S. 149 f. [Herv. v. Verf.].
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Zwar ‚suspendiert‘ eben die paradox-religiöse Existenz als ‚berechtigte Ausnahme‘ das Ethische und mithin das Allgemeine, aber eben (noch) nicht im Bruch, sondern in einer kontinuierlichen Bewegung durch das Ethische hindurch. Eine erste Ausdifferenzierung des Ethischen findet sich sodann im Begriff Angst (1844), und zwar in Gestalt der Unterscheidung einer ersten und einer zweiten Ethik. Aus dieser komplexen Differenzierung kann hier nur ein Moment hervorgehoben werden: der Gegensatz von Idealität und Wirklichkeit. Die von Vigilius Haufniensis – dem Pseudonym der Schrift – sogenannte ‚erste Ethik‘ scheitert an der Wirklichkeit des Einzelnen, indem sie ihm die Forderung der Idealität entgegenhält, ohne sich darum zu bekümmern, ob diese für den Einzelnen auch erreichbar ist. Entgegen dieser Bewegung ‚von oben herab‘ bedeutet die ‚zweite Ethik‘ die Bewegung ‚von unten herauf‘; ihre Aufgabe besteht darin, den Einzelnen gleichsam in seiner Wirklichkeit abzuholen und zur Forderung der Idealität hinzuleiten.³⁰ Man wird diese Konzeption, die freilich im Einzelnen zu erläutern wäre, im Sinne Fahrenbachs so verstehen können, dass es Kierkegaard weniger um die theoretische Grundlegung der Ethik – die wohl der ersten Ethik zugehören würde – als vielmehr um die praktische Umsetzung und Aneignung des Ethischen gehe.³¹ Dabei wird die Forderung eines ‚unbedingten Sollens‘ und mithin der Gegenstand der ersten Ethik von der zweiten Ethik nicht angetastet; die zweite Ethik zeichnet sich allein dadurch gegenüber der ersten aus, dass sie „ihre Idealität in dem durchdringenden Bewusstsein der Wirklichkeit“ hat.³² Abermals werden in der Auffassung des Ethischen bei aller Modifikation die Anleihen bei klassischen – hier: Kantischen – Konzeptionen des Ethischen greifbar. Zugleich aber tut sich schon im Begriff Angst in der Kontrastierung von Idealität der Ethik als Wissenschaft und Wirklichkeit des existierenden Einzelnen ein Spalt auf, der in einem grundlegenderen Sinne eine Kritik der Ethik andeutet, und zwar als Bruch des Einzelnen mit dem Allgemeinen. Dass mit diesem Bruch zugleich ein Darstellungsproblem verbunden ist, das auf Kierkegaards indirekte Methode verweist, zeigt sich insbesondere dort, wo vom Begriff des Selbst die Rede ist. Im zweiten Kapitel führt Vigilius aus, das Selbst sei erst mit dem Begriff des Einzelnen gegeben, „aber obgleich zahllose Millionen von solchen Selbsten gelebt haben, kann doch keine Wissenschaft sagen, was es [das Selbst] ist, ohne es wieder
Vgl. Kierkegaard, Der Begriff Angst, GW Abt. 11 (= BA), S. 13 – 19 / SKS 4, S. 323 – 329. Vgl. hierzu Arne Grøn, „Kierkegaards ‚zweite‘ Ethik,“ Kierkegaard Studies. Yearbook 1998, S. 358 – 368 sowie ders., Angst bei Søren Kierkegaard. Eine Einführung in sein Denken, aus dem Dänischen v. Ulrich Lincoln, Stuttgart: Klett-Cotta 1999, S. 157– 159. Vgl. Fahrenbach (1970), S. 8 – 12. Kierkegaard, BA, S. 18 / SKS 4, S. 328.
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ganz allgemein auszusagen.“³³ Der zentrale ‚Gegenstand‘ von Kierkegaards Philosophie – der Einzelne in der Wirklichkeit seines konkreten Selbstvollzugs – ist demnach in seiner Singularität von keiner Wissenschaft, die notwendig im idealen Modus des Allgemeinen handelt, zur Darstellung zu bringen – und konsequenterweise muss dies heißen: auch nicht von der zweiten Ethik, die in ihrem Bezug zur Idealität eben noch Wissenschaft bleibt. Dass dies zugleich eine Kritik einer jeden Ethik impliziert, die ein höchstes Prinzip formuliert und als allgemeines und überpersönliches universell verbindlich macht, ist insbesondere in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift (1846) auszuweisen. Dort begegnet ein Begriff des Ethischen, der weder mit der Bestimmung des ‚ethischen Stadiums‘ noch auch unmittelbar mit der ‚zweiten Ethik‘ identisch ist, aber auf das Zentralstück von Kierkegaards Philosophie verweist. Hierzu heißt es in der Nachschrift: Das Ethische ergreift den Einzelnen und fordert von ihm, dass er sich alles Betrachtens enthalten soll, besonders der Welt und der Menschen; denn das Ethische als das Innere lässt sich überhaupt nicht von jemandem, der draußen steht, betrachten, es lässt sich nur von dem einzelnen Subjekt realisieren, das denn wissen kann, was in ihm wohnt, die einzige Wirklichkeit, die nicht dadurch zu einer Möglichkeit wird, dass sie gewusst wird, und die nicht nur dadurch gewusst werden kann, dass sie gedacht wird[.]³⁴
Das Ethische bedeutet hier nichts anderes als das konkrete Sich-zu-sich-Verhalten im Existenzvollzug selbst. ‚Ethisch‘ heißt das ‚unendliche Interesse‘ am eigenen Existieren – im Unterschied zu einer jeden uninteressierten Betrachtung oder Abstraktion: Jedes Wissen um Wirklichkeit ist Möglichkeit; die einzige Wirklichkeit, um die der Einzelne mehr als wissend ist, ist seine eigene Wirklichkeit, dass er da ist; und diese Wirklichkeit ist sein absolutes Interesse. Die Forderung der Abstraktion an ihn ist, interesselos zu werden, um etwas zu wissen zu bekommen; die Forderung des Ethischen an ihn ist, unendlich interessiert am Existieren zu sein. […] Die wirkliche Subjektivität ist nicht die wissende, denn durch Wissen ist er im Medium der Möglichkeit, sondern die ethisch existierende Subjektivität.³⁵
Ebd. S. 79 / SKS 4, S. 381 [Herv. v. Verf.]. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 2, GW Abt. 16/II (= AUN2), S. 22 / SKS 7, S. 292 [Herv. v. Verf.]. Vgl. hierzu und zum Folgenden Lore Hühn, Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs, Tübingen: Mohr Siebeck 2009 (Philosophische Untersuchungen, Bd. 22), S. 205 – 244, hier bes. S. 205 f. Kierkegaard, AUN2, S. 17 / SKS 7, S. 288.
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Hier gewinnt die ethische Forderung einen merklich anderen Charakter als in den zuvor zitierten Schriften: Verknüpfte sie sich im zweiten Teil von Entweder/Oder mit dem Gedanken der ‚Persönlichkeit in ewiger Gültigkeit‘, und rekurrierte die zweite Ethik im Begriff Angst noch auf eine der Wirklichkeit gegenüberstehende Forderung der Idealität, so ist hier das Geforderte die Wirklichkeit des Existierens in ihrem für sich selbst interessierten Vollzug – und zwar ohne dass diese sogleich durch eine tragende Sphäre von Idealität und Unendlichkeit abgesichert wäre. Mit dem Aufruf der Kategorien Wirklichkeit und Möglichkeit – die greifbar auf Kierkegaards Hörerschaft von Schellings erster Berliner Vorlesung verweisen³⁶ – wird zudem deutlich, wogegen die Polemik von Johannes Climacus – dem Pseudonym der Schrift – sich richtet: gegen das ‚interesselose‘ Denken der Abstraktion, das die Existenz des Einzelnen beständig vergisst und verfehlt. Unethisch ist ein Denken, das dort, wo es sich um den tätigen Vollzug der Existenz handeln soll, bloß betrachtet. Das Begriffspaar von Wirklichkeit (der Existenz) und Möglichkeit (des bloß Gedachten) steht dabei parallel zu den Bestimmungen Innen und Außen bzw. Einzelnes und Allgemeines: Das Einzelne ist als Singuläres in seiner Innerlichkeit von keiner allgemeinen Bestimmung des Außen einzuholen; wird im Modus des Allgemeinen gesprochen, so ist der Existenzvollzug des Einzelnen je schon überflogen.³⁷ Diese Spannung wird nirgends deutlicher als in Climacus’ Ausführungen über den subjektiven existierenden Denker und – bezeichnenderweise – seine Form der Mitteilung. Hierzu notiert Climacus in der wichtigen ersten Lessing-These: „Während das objektive Denken gegen das denkende Subjekt und dessen Denken gleichgültig ist, ist der subjektive Denker als existierender wesentlich an seinem eigenen Denken interessiert und existiert in ihm.“³⁸ Das ‚objektive‘ Denken stelle zudem alles auf das „Resultat“ ab, wohingegen der „subjektive existierende Denker“ sich ganz auf die Unabgeschlossenheit des „Werden[s]“ richte.³⁹ Da aber das objektive Denken den Einzelnen, um dessen Existenz es hier wesentlich zu tun ist, nicht erreicht, muss eine neue Form des Darstellens und Mitteilens entworfen werden, die gerade auf die Inkommensurabilität des Einzelnen für das Allgemeine Vgl. hierzu Hühn (2009), bes. S. 89 – 92, 144– 149 und Philipp Schwab, „‚Das Reich der Wirklichkeit ist nicht vollendet‘. Kierkegaard als Hörer Schellings und Kritiker Hegels,“ in Kierkegaard im Kontext des deutschen Idealismus, hrsg. v. Axel Hutter und Anders Moe Rasmussen, Berlin, Boston: De Gruyter 2014 (in print). Vgl. zu dieser ‚doppelten Dialektik‘ Philipp Schwab, „Innen und Außen. Zu Kierkegaards Auseinandersetzung mit der romantischen Ironie vor dem Hintergrund der Mitteilungsform von Entweder/Oder,“ Kierkegaard Studies. Yearbook 2008, S. 38 – 52, hier bes. S. 50 – 52. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift 1, GW Abt. 16/I (= AUN1), S. 65 / SKS 7, S. 73. Ebd. S. 65 / SKS 7, S. 73.
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aufmerksam ist: die Methode der indirekten Mitteilung.⁴⁰ Was das jeweilige Existieren sei, kann dem Einzelnen auf keinem Weg abgenommen und im Modus des Allgemeinen und Allgemeingültigen resultativ zur Darstellung gebracht werden; es bedarf vielmehr eines Verfahrens, das in doppelter Reflexion einerseits deutlich macht, dass jedes Gedachte die Existenz nicht erreicht, und sich andererseits beständig selbst zurücknimmt und durchkreuzt, damit der Empfänger der Mitteilung statt der Beruhigung durch ein bloß ‚nachzuleierndes‘ Resultat den Stachel der Anreizung erhält. Die zyklische Doppelbewegung des Sich-entgegenArbeitens der indirekten Methode hat also erstens eine Darstellungsebene, auf der die Inkommensurabilität von Denken und Existenz deutlich wird, und zweitens eine spezifisch ethische Ebene, auf welcher der Empfänger der Mitteilung zu Aneignung und Selbsttätigkeit angereizt werden soll. Den Zusammenhang von Ethik und Doppelreflexion macht auch eine Passage in Kierkegaards 1847 entworfenem Vorlesungskonzept Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung deutlich, wo es heißt: „Da es ethisch kein unmittelbares Verhältnis gibt, muss alle Mitteilung durch eine doppelte Reflexion hindurchgehen, die erste ist die, in der sie mitgeteilt wird, die zweite ist die, in der sie zurückgenommen wird“⁴¹. Hierin liegt zugleich Kierkegaards implizite Ethikkritik wie auch die erste und basalste Voraussetzung für den eigenen Entwurf einer existenzphilosophischen Ethik: Kritisiert wird eine Ethik, die im Modus des Allgemeinen formuliert ist und so notwendig am Einzelnen vorbeigehen muss. Ethisch ist es hingegen die Aufgabe des Existierenden, in und durch sich selbst er selbst zu werden – ohne dass dieses Werden in der Endlichkeit jemals in einem definitiven Resultat seinen Halte- und Ruhepunkt fände. Dass eine Ethik, die sich diese Einsicht zum ‚Grundsatz‘ macht, nicht ihrerseits in direkten und systematischen Bestimmungen formuliert werden kann, liegt auf der Hand. Insofern ist in Kierkegaards Horizont nur eine indirekte Ethik denkbar.⁴²
Vgl. hierzu im Ganzen Philipp Schwab, Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und die indirekte Mitteilung, Berlin, Boston: De Gruyter 2012 (Kierkegaard Studies. Monograph Series, Bd. 25). Vgl. Søren Kierkegaard, Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung, aus d. Dän. u. hrsg. v. Tim Hagemann, Bodenheim, Berlin: Philo 1997, S. 27/Søren Kierkegaards Papirer, Bd. I-XI,3, hrsg. v. Niels Thulstrup, 2., verm. Aufl., Kopenhagen: Gyldendal 1968 – 78 [1909 – 48], Bd. VIII 2 B 81,21. Vgl. Lore Hühn, „Sinn und Sinnkritik: Kierkegaards Weg zu einer konkret-maieutischen Ethik,“ in Anfang und Grenzen des Sinns, hrsg. v. Brigitte Hilmer, Georg Lohmann und Tilo Wesche, Weilerswist: Velbrück 2006, S. 93 – 105.
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II Nietzsches Moralkritik Während sich die Ethikkritik Kierkegaards erst aus einer internen Differenzierung des Ethikbegriffs als implizite herausarbeiten lässt, ist Moralkritik bei Nietzsche ausdrücklich und als zentrales Anliegen formuliert. Nietzsche kritisiert die tradierte Moral in ihren Wirkungen wie in ihren Ursachen,⁴³ und insbesondere im Spätwerk spricht sich diese Kritik in aller Deutlichkeit und Schärfe aus: Die abendländisch-christliche Moral führe zum „Niedergang“, zur „Verdorbenheit“⁴⁴ und zur „Vermittelmässigung“⁴⁵ des Menschen; sie sei „schädlich“⁴⁶, ein „niederdrückende[r]“⁴⁷ und „depressive[r] […] Instinkt“⁴⁸; sie beschneide „die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte“⁴⁹ des Menschen, und sie sei insbesondere – dies der zentrale und stets wiederholte Vorwurf – „l e b e n s f e i n d l i c h“⁵⁰ und „Widernatur“⁵¹. Dabei verdanke die Moral selbst sich keineswegs moralischen Motiven. Ihre Herkunft sei vielmehr in der subtilen Selbsterhaltungsstrategie eines geschwächten Willens auszuweisen, sie entspringe dem Geist der ‚Rache‘ und des ‚Ressentiment‘.⁵² Die bisweilen sich überschlagenden Polemiken des Spätwerks gewinnen allerdings ihre methodische Tiefenschärfe erst im Rückgang auf die sogenannte ‚mittlere‘ Phase Nietzsches, die in den typologischen Gestalten des ‚Psychologen‘ und des ‚Freien Geistes‘ Plastizität gewinnt. Nicht umsonst verweist Nietzsche in der Vorrede zur Genealogie der Moral zurück auf Menschliches, Allzumenschliches als erste Formulierung seiner „Gedanken über die H e r k u n f t unserer morali-
Vgl. hierzu Volker Gerhardt, „Die Moral des Immoralismus. Nietzsches Beitrag zu einer Grundlegung der Ethik,“ in Krisis der Metaphysik, hrsg. v. Günter Abel und Jörg Salaquarda, Berlin, New York: De Gruyter 1989, S. 417– 447, hier S. 417– 427. Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christentum (= AC), KSA 6, S. 165 – 254, hier S. 172 [Nietzsche wird zitiert nach: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York: De Gruyter 31999 (= KSA)]. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (= JGB), KSA 5, S. 9 – 243, hier S. 126. Nietzsche, AC, KSA 6, S. 177. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (= GM), KSA 5, S. 245 – 412, hier S. 276. Nietzsche, AC, KSA 6, S. 173. Nietzsche, GM, KSA 5, S. 316. Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt (= GD), KSA 6, S. 55 – 161, hier S. 83; vgl. auch GM, KSA 5, S. 335 sowie AC, KSA 6, S. 174. Nietzsche, GD, KSA 6, S. 82– 87. Vgl. bes. Nietzsche, GM, KSA 5, S. 266 – 274.
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schen Vorurteile“⁵³. In der nachträglichen Vorrede zu diesem Werk wiederum findet sich eine für Nietzsches Moralkritik entscheidende methodische Bestimmung: Nietzsche nennt seine Schriften eine „Schule des Verdachts“⁵⁴. Mit dem Wort ‚Verdacht‘ ist die permanente Vorläufigkeit von Nietzsches Kritik tradierter Begriffe bezeichnet, der Charakter seiner Hinterfragung als ein Denken auf den Versuch hin. So setzt dann auch der erste Aphorismus unter dem Titel „C h e m i e d e r B e g r i f f e u n d E m p f i n d u n g e n“ bezeichnenderweise mit einer Frage an: [W]ie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern?⁵⁵
Nietzsches experimentelles Verfahren besteht ab Menschliches, Allzumenschliches darin, vermeintlich qualitative und letztgültige Gegenüberstellungen und Hierarchisierungen versuchsweise umzukehren und die geheime Spur zu verfolgen, auf der das ‚Hohe‘ aus dem ‚Niedrigen‘ entsteht. Schon die Methode des ‚mittleren‘ Nietzsche ist so Genealogie, Frage nach der Herkunft und Abkunft der Dinge. Die Praxis der versuchsweisen Umkehrung definiert zudem bei Nietzsche den Typus des ‚freien Geistes‘: Dieser „dreht […] um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, w e n n man sie umkehrt“;⁵⁶ und den Effekt seiner Schriften beschreibt Nietzsche als „eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten.“⁵⁷ Diese Linie versuchsweiser Umkehrung lässt sich bis ins Spätwerk verfolgen, wiederholt doch der zweite Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse programmatisch die Eingangsfrage von Menschliches, Allzumenschliches ⁵⁸ und unterstreicht durch die Formulierung der „gefährliche[n] Vielleichts“⁵⁹ den hypothetischen, versucherischen und experimentellen Zug der Kritik im Verdacht. Die Kritik der Moral ist dabei nicht das einzige, aber früh schon ein zentrales Anliegen Nietzsches, das sich allerdings mit anderen Themen, etwa der Kritik von Sprache, Subjekt und Wahrheit, verbindet. In seinem ausdrücklichen Bemühen um eine kritische Revision tradierter Denkformen und Begriffe vermag im Übrigen Nietzsche, GM, KSA 5, S. 248. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band (= MA I), KSA 2, S. 9 – 366, hier S. 13. Ebd. S. 23. Ebd. S. 17 [Herv. v. Verf.]. Ebd. S. 13. Vgl. die teilweise wörtlich gleich lautende Formulierung in Nietzsche, JGB, KSA 5, S. 16. Ebd. S. 17.
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Nietzsches Ansatz den Kierkegaards in mancher Hinsicht zu ergänzen und zu beleuchten. So erhält man bei Kierkegaard auf die Frage, warum und wie genau das Singuläre als Inkommensurables im Allgemeinen niemals aufgehe, an keiner Stelle eine befriedigende Antwort. Nietzsche hingegen stellt diese Frage schon in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) ausdrücklich, und beantwortet sie, indem er den Begriff historisiert und ihn aus der produktiven Reduktion der vielgestaltigen und unbeständigen Wirklichkeit hervorgehen lässt, welcher Umschaffungsakt allerdings hernach vergessen wurde.⁶⁰ Die Permanenz des Verdachts⁶¹ ist allerdings gerade auf dem Feld der Moralkritik hervorzuheben, markiert sie doch die Sicherung Nietzsches gegen einen Rückfall in oder gar hinter das Kritisierte. Der Satz etwa, die Moral sei im starken Sinne an sich lebensfeindlich, wäre im Horizont Nietzsches ein dogmatischer Satz, der kaum über dasjenige hinauszuweisen vermöchte, was er kritisieren soll. Das ‚Problem‘ einer absolut gesetzten Moral, wie Nietzsche sie versteht, besteht hingegen darin, dass sie selbst ihren Charakter als perspektivische, mithin bedingte Interpretation gerade verleugnet.⁶² Die moralische Auslegung der Welt als eine unter mehreren möglichen auszuweisen, ihre ‚Abhängigkeit‘ von oder wenigstens ‚Komplizität‘ mit dem, was sie auszuschließen vermeint, aufzudecken und sie sodann auf ihren ‚Wert‘ zu prüfen – darin besteht das vordringliche Anliegen von Nietzsches Moralkritik. Der von Nietzsche selbst sogenannte „H a u p t s a t z “ aus dem Nachlass, nach dem es „k e i n e m o r a l i s c h e n P h ä n o m e n e “ gibt, „s o n d e r n n u r e i n e m o r a l < i s c h e > I n t e r p r e t a t i o n d i e s e r P h ä n o m e n e “⁶³, ist zusammenzulesen mit der Einsicht aus der Fröhlichen Wissenschaft 374 über „U n s e r n e u e s ‚ U n e n d l i c h e s ‘ “‚ die bemerkenswerterweise selbst als Experiment formuliert ist: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t .“⁶⁴
Vgl. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, S. 873 – 890. Vgl. zur Permanenz des Verdachts Günter Figal, „Verstehen; Verdacht; Kritik,“ in ders., Verstehensfragen. Studien zur phänomenologisch-hermeneutischen Philosophie, Tübingen: Mohr Siebeck 2009 (Philosophische Untersuchungen, Bd. 21), S. 211– 222. Vgl. Michael Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches, Berlin, New York: De Gruyter 2000 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 43), S. 59, der zu Recht festhält: „Die Moral ist im Laufe der Geschichte so dominant geworden, daß sich ihr Entstanden-Sein verbirgt und sie als einzig mögliche Form der Weltauslegung erscheint.“ Die „Historisierung“ habe mithin die Funktion, die „Anmaßung“ einer „Ethikform, ihren unbedingten Geltungsanspruch, zu begrenzen.“ Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885-Herbst 1886, 2[165], KSA 12, S. 149 [i. O. Herv.]. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (= FW), KSA 3, S. 343 – 651, hier S. 627.
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Nietzsches Moralkritik selbst versteht sich dann auch ausdrücklich als Interpretation und in ihrer perspektivischen Beschränkung. Dies wird besonders dort deutlich, wo Nietzsche das Verdachtsmoment auf das eigene Verfahren zurückbeugt, etwa in der Fröhlichen Wissenschaft 344 unter dem Titel „I n w i e f e r n a u c h w i r n o c h f r o m m s i n d “, wo es heißt: Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein m e t a p h y s i s c h e r G l a u b e ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, – dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch u n s e r Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist.⁶⁵
Ausführlicher entfaltet Nietzsche diese Rückbeugung der Kritik auf die eigene Kritik tradierter Denkformen in den abschließenden Abschnitten 24– 27 der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral, wo nicht zufällig auf den eben zitierten Aphorismus zurückverwiesen wird:⁶⁶ Die ‚Gegnerschaft‘ zum asketischen Ideal, die Motive zu dessen Kritik sind von dem Kritisierten nicht schlechthin verschieden – gerade die ‚intellektuelle Sauberkeit‘ und ‚Redlichkeit‘, die Nietzsche seit der Morgenröthe als Grundtugend des freien Geistes anführt,⁶⁷ ist nicht bloßer Gegner, sondern zugleich letzter Ausläufer und „vergeistigte Ausgeburt“⁶⁸ des asketischen Ideals. Noch die Operatoren der eigenen Kritik dieser selbst auszusetzen – darin liegt der zyklische Charakter von Nietzsches perspektivischer Kritik. Sie zeigt sich in dieser Bewegung – um einen schematisierenden und damit eo ipso problematischen Ausdruck zu gebrauchen – als seine ‚negative Experimentalphilosophie‘. Diese beleuchtet, so die hier im Hintergrund stehende These, in einem wesentlichen Sinne auch die ‚großen Theorien‘ des Spätwerks. Sollen diese nicht hinter das Niveau des in der Kritik Erreichten zurückfallen, müssen sie den gleichen Charakter der Flüssigkeit und durchsichtigen Perspektivität aufweisen wie die Vgl. Nietzsche, FW, KSA 3, S. 574– 577, Zitat S. 577. Vgl. Nietzsche, GM, KSA 5, S. 398 – 411. Während der Aphorismus 344 der Fröhlichen Wissenschaft schon durch seinen Titel deutlich macht, dass Nietzsche im „wir“ sich selbst mitmeint, scheint es allerdings in der Genealogie der Moral zunächst so, als würde Nietzsche eine Form der ‚Freigeisterei‘ kritisieren, von der er sich selbst abgrenzt; in den letzten Wendungen dieser Passage aber kommt Nietzsche auch hier wieder zum „wir“ zurück (vgl. bes. Nietzsche, GM, KSA 5, S. 409). Vgl. zu dieser Passage auch Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“, Darmstadt: WBG 1994 (Werkinterpretationen), S. 194– 206. Vgl. z. B. Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, KSA 3, S. 9 – 331, hier S. 244 u. 306. Nietzsche, GM, KSA 5, S. 399.
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kritische Analyse; in Nietzsches Antwort auf den Nihilismus müsste sich demnach der Charakter einer ‚affirmativen Experimentalphilosophie‘ ausweisen lassen.⁶⁹ Im Bezug auf Kierkegaard ist noch ein entscheidender Aspekt von Nietzsches konkreter Durchführung der Moralkritik hervorzuheben, der bereits auf die Frage einer existenziellen Ethik verweist. Schon in der zweiten Unzeitgemässen Betrachtung heißt es: Wozu die „Welt“ da ist, wozu die „Menschheit“ da ist, soll uns einstweilen gar nicht kümmern […]; aber wozu du Einzelner da bist, das frage dich, und wenn es dir Keiner sagen kann, so versuche es nur einmal, den Sinn deines Daseins gleichsam a posteriori zu rechtfertigen, dadurch dass du dir selber einen Zweck, ein Ziel, ein „Dazu“ vorsetzest, ein hohes und edles „Dazu“.⁷⁰
Für Nietzsches Kritik wird die tradierte Moral insofern problematisch, als sie dieses existenziell-singuläre „Dazu“ unmöglich macht, indem sie gleichsam ‚von außen‘ ein überindividuelles Gesetz und Sollen diktiert.⁷¹ Nichts aber, so heißt es im Antichrist drastisch, „ruiniert tiefer, innerlicher als jede ‚unpersönliche‘ Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion.“⁷² Gegen die Abstraktion unpersönlicher Pflichten den konkreten Existenzvollzug des Einzelnen einzuklagen – in dieser Hinsicht trifft sich die Moralkritik Nietzsches mit der Ethikkritik Kierkegaards.
Vgl. zum Begriff der Experimentalphilosophie Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln, Wien: Boehlau 1980 und bes. Volker Gerhardt, „‚ExperimentalPhilosophie‘. Versuch einer Rekonstruktion,“ in ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart: Reclam 1988, S. 163 – 187, hier bes. S. 173 f., der zwischen einem ‚kritischen‘ und einem ‚visionären‘ Teil der Experimentalphilosophie unterscheidet. – Vgl. zur These, dass die ‚affirmative‘ Experimentalphilosophie Nietzsches wesentlich als ‚Philosophie des Tragischen‘ zu lesen sei Philipp Schwab, „Die tragische Überwindung des Nihilismus. Nietzsches ‚Philosophie des Tragischen‘ von der Geburt der Tragödie bis zum Spätwerk,“ in Die Philosophie des Tragischen. Schopenhauer – Schelling – Nietzsche, hrsg. v. Lore Hühn und Philipp Schwab, Berlin, Boston: De Gruyter 2011a, S. 575 – 621, bes. S. 607 f., 614– 616. Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 243 – 334, hier S. 319 [Herv. v. Verf.]. Vgl. zu dieser Stelle Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, 4., aktualisierte Aufl., München: Beck 2006 (Beck’sche Reihe Denker, Bd. 522), S. 77. Vgl. Gerhardt (1989), S. 424 f., 435 f., 443. Nietzsche, AC, KSA 6, S. 177.
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III Methodologische Rahmenbedingen einer existenzphilosophischen Ethik Die bei Kierkegaard und Nietzsche jeweils skizzierte Ethikkritik sollte deutlich gemacht haben, inwiefern und aus welchen Gründen eine im strengen Sinne systematisch durchgeführte Ethik bei beiden Denkern und in ihrem Horizont nicht vorliegt und nicht vorliegen kann. Dies zeigt sich insbesondere in Bezug auf ihre jeweiligen experimentalphilosophischen Entwürfe, wenn diese sich auch in ihren Ausgangsfragen und ihren Bewegungsformen wesentlich unterscheiden: Für Kierkegaard wird die sich selbst durchkreuzende experimentalphilosophische Methode indirekter Mitteilung deshalb notwendig, weil sich zum einen der zentrale ‚Gegenstand‘ seines Denkens, der je konkret und im singulären Vollzug existierende Einzelne, einer direkten Darstellung im Modus des Allgemeinen nicht fügt; und weil zum anderen eben dieser Vollzug nicht ‚gelehrt‘ oder ‚doziert‘, nicht von einem Existierenden dem anderen ‚vorgesagt‘, sondern nur in der undelegierbaren ethischen Eigenverantwortung des Einzelnen von diesem selbst geleistet werden kann. Im Unterscheid hierzu speist sich das zyklische Moment in Nietzsches Experimentalphilosophie zunächst vornehmlich aus einer expliziten Kritik tradierter Denkformen: Nietzsches kritische Revision überkommener Wertsetzungen zielt wesentlich darauf, diese zu dynamisieren und als Interpretationen auszuweisen, deren Interpretabilität aber vergessen und verdeckt worden ist; ein solches Verfahren muss die eigenen kritischen Operatoren zyklisch auf sich selbst zurückbeugen, um seinerseits nicht in einer dogmatischen ‚Entlarvung‘ zu erstarren und die Dynamik der Wertsetzungen durch eine vermeintlich ‚allein gültige‘ Interpretation festzustellen. Die Pointe dieser Bewegung aber kommt dem Motiv der ‚Undelegierbarkeit‘ der Existenz bei Kierkegaard wieder nahe: Sind nämlich die Werte nicht ‚an sich‘ gültige und ‚von außen‘ gesetzte, sondern historisch gewordene und mithin bewegliche, so kommt es wesentlich darauf an, den ‚Zweck‘ und das ‚Ziel‘ des Daseins je konkret erst zu gewinnen und zu gestalten. Obgleich die Reflexion über das Ethische sich bei Kierkegaard und Nietzsche vor diesem Hintergrund als prinzipiell offene und unabgeschlossene Bewegungen zeigen, lässt sie sich dennoch beschreiben – wenn auch eben nicht in der bündigen Form eines systematischen Aufrisses. Die fünf ‚Rahmenbedingungen‘ einer existenzphilosophischen Ethik, die abschließend versuchsweise aus dem bislang Entfalteten abgeleitet werden sollen, sind insofern als prinzipiell vorläufige und je konkretisierungsbedürftige zu lesen: Erstens wird sich eine Ethik im Anschluss an Kierkegaard und Nietzsche grundlegend am Einzelnen orientieren, an seiner jeweiligen Singularität in der Konkretion des Existenzvollzugs; sie wird also Individualethik und mithin exis-
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tenzphilosophische Ethik sein. Daraus folgt zweitens, dass sie indirekte und perspektivische, dabei zugleich aneignungslogische oder ‚performative‘ Ethik sein muss. Die ethische Reflexion bei Kierkegaard und Nietzsche hat stets die Bedingtheit und Vorläufigkeit des eigenen Zugriffs vor Augen; damit ist sie zugleich Ansprache und Überantwortung an den Anderen durch die Zurücknahme des Eigenen. Nietzsches Appell an die Rechtfertigung des Daseins durch das je individuelle ‚Dazu‘ stimmt – wie angezeigt – mit Kierkegaards Begriff der Aneignung zusammen. Die grundlegende Perspektivität des Ethischen bei Kierkegaard und Nietzsche zeigt sich nicht zuletzt darin, dass beide eine regelrechte Typologie verschiedener Lebens- und Existenzformen vorführen: Bei Kierkegaard sind dies nicht nur die Pseudonyme, sondern auch die von diesen analysierten Existenzformen, etwa die moderne Antigone oder der Verführer aus Entweder/Oder, der Phantast und der Spießbürger in der Krankheit zum Tode; bei Nietzsche sind etwa der ‚freie Geist‘, der Übermensch oder auch der ‚vornehme Typus‘ und der ‚Priester‘ in der Genealogie der Moral zu nennen. Zweifellos zeigen sich gerade in der Konkretion der Typologien und noch mehr in der Bewertung des Gelingens oder Scheiterns einer jeweiligen Existenzform gravierende, ja unüberbrückbare Differenzen zwischen Kierkegaard und Nietzsche. In der plastischen Durchbildung verschiedener, konkurrierender Lebensformen aber kommen sie überein. Nirgends wird bei Kierkegaard und Nietzsche geradezu und theoretisch entwickelt, wie gut zu leben sei – vielmehr führen beide eine Vielzahl von Lebensformen vor, unter denen gleichsam als Subtext die Aufforderung an den Leser steht: ‚Nun wähle‘. Drittens wird die existenzphilosophische Ethik eine der Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit sein, die dem Werden der Existenz nicht definitive und unverrückbare Resultate entgegensetzt; d. h. sie wird stets offen bleiben für ihre Reformulierung und Re-Interpretation und ist mithin eine Form prozessualer Reflexion. Offen ist sie auch viertens im Hinblick auf einen Zustoß des Außen, ein Einbrechen des Kontingenten. Gerade weil bei Kierkegaard und Nietzsche alles auf die ‚Subjektivität‘ ankommt – diesen Begriff freilich nicht mehr im idealistischen Sinne genommen –, ist diese nie reines Aus-und-durch-sich-selbst-Sein, kein ‚gepanzertes‘ oder schlechthin spontanes Subjekt. Das Individuum kommt stets so in den Blick, dass seine eigene Geschichte und Geschichtlichkeit, auch sein Innestehen in einem Geschehen, welches es selbst übersteigt, mitgedacht ist – freilich nicht im Sinne bloßen Ausgeliefertseins, sondern verbunden mit der Aufforderung, sich zum Begegnenden zu verhalten. Der fünfte Aspekt einer existenzphilosophischen Ethik zeigt sich vor dem Hintergrund der eingangs benannten Ausgangsstellung Kierkegaards, die noch mehr die Nietzsches ist: einer geschichtlichen Situation, in der tradierte Sinn- und Werthorizonte brüchig zu werden beginnen. Wenn Kierkegaard und Nietzsche vom Einzelnen fordern, ein
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Selbst erst zu werden, so müssen sie ihm zugleich Mittel und Wege weisen, diese Aufgabe gerade unter den verschärften Bedingungen der Moderne zu erfüllen. Die existenzphilosophische Ethik wird also die Möglichkeit einer Kontinuität und Bestimmung des Selbstvollzugs aufzeigen müssen, wenn auch als stets prinzipiell vorläufige und gefährdete, nie resultativ und letztgültig erreichte. Kontinuität und Offenheit – diese Spannung bezeichnet zwar noch nicht eine existenzphilosophische Ethik als solche, vermisst aber wohl ihren Bereich.
IV Die Wiederholung Je konkreter allerdings die Analyse sich den ‚positiven‘ Ansätzen zur Frage des Ethischen bei Kierkegaard und Nietzsche zuwendet, desto deutlicher werden sich die Differenzen beider Denker zeigen. Kierkegaard hält bis zuletzt daran fest, dass sich die Wahl oder ‚Setzung‘ des Selbst und mithin die ethische Bestimmung der Existenz durch einen ‚ewigen‘ oder ‚unendlichen‘ Anteil konstituiert. Nietzsche hingegen denkt die Bestimmung des Selbst und die Konstitution von Werten in radikal endlichem Sinne als Entstehung und Wertschöpfung – worin zugleich liegt, dass die geschöpften Werte stets bedingte sind, die wieder ‚vernichtet‘ oder ‚umgewertet‘ werden können. Im Nachlass der frühen 1880er Jahre heißt es hierzu: Der We r t h d e s L e b e n s liegt in den Werthschätzungen: Werthschätzungen sind G e s c h a f f e n e s , nichts Genommenes, Gelerntes, Erfahrenes. Das Geschaffene muß vernichtet werden, um dem neu-Geschaffenen Platz zu machen: zum L e b e n k ö n n e n der Werthschätzungen gehört ihre Fähigkeit, vernichtet zu werden.⁷³
Das von Nietzsche gedachte tragische Zusammenspiel von Wertschöpfung und Wertvernichtung⁷⁴ müsste in der Perspektive Kierkegaards als geschichtlich unberechtigtes neues Heidentum und vitalistische Variante eines Verzweifelt-manSelbst-sein-Wollens erscheinen; umgekehrt hätte wohl Nietzsche Kierkegaards These, der Mensch sei wesentlich Geist, im Verbund mit dessen sündentheologischer und negativistischer Analyse des Selbstwerdens durch Angst und Verzweiflung hindurch als Symptom der décadence verworfen. In wenigstens einem zentralen Begriff ihres Nachdenkens über das Ethische aber kommen sich Kierkegaard und Nietzsche auch im Konkreten wieder außerordentlich nahe, und zwar durchaus im Sinne der soeben skizzierten ‚Rahmenbedingungen‘ einer existenzphilosophischen Ethik – im Begriff der Wiederho-
Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, November 1882-Februar 1883, 5[1]234, KSA 10, S. 214. Vgl. hierzu Schwab (2011a), S. 611– 618.
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lung. ⁷⁵ Nicht zufällig ist die Wiederholung ein Bewegungsbegriff und spiegelt als zyklische Konzeption bei beiden gleichsam die methodische Grundstruktur ihres Denkens wider. Bei Kierkegaard wie bei Nietzsche bezeichnet die Wiederholung erstens eben eine Bewegung des konkreten Existierens;⁷⁶ sie ist bloß in ihrem Vollzug, als Innestehen im Augenblick, der zugleich das Vergangene und das Zukünftige ineinander schließt, das, was sie ist. In Kierkegaards gleichnamigen Werk Die Wiederholung (1843) wird schon auf den ersten Seiten hinlänglich deutlich, dass die Wiederholung nicht beschrieben, sondern ‚erprobt‘ und vollzogen werden muss;⁷⁷ und der Zwerg in Nietzsches Zarathustra versteht auch deshalb die ‚Ewige Wiederkunft‘ falsch, weil er sich nicht selbst in den Torweg des Augenblicks stellt, sondern ihn bloß unbeteiligt von außen betrachtet.⁷⁸ Zweitens wird die Wiederholung selbst bei beiden Denkern experimentalphilosophisch und in perspektivischen Brechungen eingeführt: Kierkegaards Schrift trägt den Untertitel „Versuch in der experimentierenden Psychologie“⁷⁹ und enthält als solcher nicht einen systematischen Aufriss, sondern mehrfache experimentelle Anläufe zur Erprobung des Begriffs;⁸⁰ Nietzsches erste Darstellung des Gedankens der ewigen Wiederkunft in der Fröhlichen Wissenschaft 341 vollzieht sich als Gedankenexperiment, ⁸¹ und auch im Zarathustra wird der Begriff nicht einfach und geradezu als ‚Lehre‘ entfaltet, sondern in mehreren, divergierenden Anläufen und
Unter diesem Aspekt stellt auch Deleuze Kierkegaard und Nietzsche zusammen, vgl. Deleuze (1997), S. 19 – 27; vgl. aus der neueren Forschung Kellenberger (1997). Im Falle Nietzsche wäre hier freilich zu differenzieren zwischen den ‚kosmologischen‘ und den ‚existenziellen‘ Aspekten der ‚Ewigen Wiederkunft‘; vgl. zu letzterem bes. Bernd Magnus, Nietzsche’s Existential Imperative, Bloomington: Indiana Univ. Pr. 1978 (Studies in Phenomenology and Existential Philosophy) sowie Friedrich Kaulbach, Sprachen der ewigen Wiederkunft. Die Denksituationen des Philosophen Nietzsche und ihre Sprachstile, Würzburg: Königshausen Neumann 1985 (Nietzsche in der Diskussion). – Vgl. zum Wiederholungsbegriff bei Kierkegaard bes. Dorothea Glöckner, Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständnis, Berlin, New York: De Gruyter (Kierkegaard Studies. Monograph Series, Bd. 3); Niels Nymann Eriksen, Kierkegaard’s Category of Repetition. A Reconstruction, Berlin, New York: De Gruyter 2000 (Kierkegaard Studies. Monograph Series, Bd. 5); Elisabeth Strowick, Passagen der Wiederholung. Kierkegaard – Lacan – Freud, Stuttgart, Weimar: Metzler 1999 (M&P: Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung). Vgl. z. B. Kierkegaard, Die Wiederholung, GW Abt. 5 (= W), S. 3, 23 / SKS 4, S. 9, 26 f. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und Keinen (= Z), KSA 4, S. 200. Kierkegaard, W, S. 1 / SKS 4, S. 7. Vgl. hierzu Hans Feger, Poetische Vernunft. Moral und Ästhetik im deutschen Idealismus, Stuttgart, Weimar: Metzler 2007, S. 573 – 587. Vgl. Nietzsche, FW, KSA 3, S. 570.
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in verschiedenen Sprecherperspektiven vorgeführt.⁸² Drittens ist bei beiden die Wiederholung, so sehr sie auch als Bewegung gedacht wird, die durch den Einzelnen zu vollziehen ist, nicht allein vom Subjekt herzustellen – sie bezeichnet vielmehr denjenigen Ort, an dem Zustoß und Tätigkeit, Unverfügbarkeit und Affirmation, Notwendigkeit und Möglichkeit ineinander greifen; überdies kann die Wiederholung auch stets verfehlt oder verkehrt werden. Viertens – und vielleicht am entscheidendsten – bezeichnet die Wiederholung das Zugleich von Kontinuität und Offenheit. Indem sie einen Zusammenhang des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen und dem Zukünftigen stiftet, zeitigt sie eine Kontinuität, die zugleich Verpflichtung ist. Sofern die Wiederholung sich aber nur im Augenblick als dieser Zusammenhang realisiert, bleibt sie stets offen für eine Neuevaluation; und nicht zufällig ist die Wiederholung eine Kategorie, die sich in der Zeit, in ihrer Offenheit vollzieht und die Endlichkeit nicht durch einen Überstieg in Ewigkeit und Idealität hinter sich lässt. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Wiederholung auch philologisch einen Berührungspunkt Nietzsches mit Kierkegaard bezeichnet. Ist bislang davon ausgegangen worden, dass Nietzsche erst 1888 durch Georg Brandes auf Kierkegaard aufmerksam gemacht worden ist, so konnte in der neueren Forschung überzeugend nachgewiesen werden, dass Nietzsche schon früher durch sekundäre Quellen Kenntnis von Kierkegaards Denken gehabt hat. Der wohl eindringlichste Erweis für diese Hypothese findet sich in Nietzsches Exemplar von Harald Høffdings Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung von 1887. Dort setzt er neben den folgenden, von ihm unterstrichenen Satz Høffdings ein „NB“ für Notabene: „Deshalb ist für S. Kierkegaard die Möglichkeit der Wiederholung das ethische Grundproblem.“⁸³
Vgl. Nietzsche, Z, KSA 4, S. 197– 202, 270 – 277; für einen interpretierenden Durchgang durch die verschiedenen Formulierungen der ‚Ewigen Wiederkunft‘ vgl. Martin Heidegger, Nietzsche. Erster Band, in Heidegger (1975 ff./6.1), S. 225 – 423. Harald Høffding, Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung, Leipzig: Fues 1887, S. 354 f.; vgl. Thomas H. Brobjer, „Nietzsche’s Knowledge of Kierkegaard,“ in Journal of the History of Philosophy, Bd. 41, 2003, S. 251– 263, hier S. 259.
Anton Hügli
Die Bedeutung existenzphilosophischen Denkens für die Ethik – exemplifiziert an Kierkegaard und Karl Jaspers Abstract: The renaissance of Aristotelian practical philosophy and the rediscovery of the concept of care of self (cura sui) have reopened the central theme of existentialism, namely becoming a self and cultivating a self. This renewal also brings into focus the historical significance of this theme. In this paper, the issues that are raised by becoming and cultivating a self (understood existentially) are examined through the works of Kierkegaard and Jaspers. This includes: an investigation of the problem of transcendence; the question as to why cultivating a self must necessarily be an ethical choice; and the role of the universalization of moral judgements in an existentialist ethics, which understands itself as situational ethics.
I Existenzphilosophie und Ethik: eine unglückliche Konstellation „Existenzphilosophie und Ethik“ lautet der Titel dieses Symposions. Geht es nun, so meine erste Frage, um die Rolle der Ethik in der Existenzphilosophie oder um die Rolle der Existenzphilosophie in der Ethik? Sowohl die eine wie die andere Version dürfte nicht eben inspirierend sein. Die erste Version – „Ethik in der Existenzphilosophie“ – wirkt wie eine Fehlanzeige: Für die unter diesem Etikett subsumierten Denker¹ ist Ethik als System oder Disziplin kaum ein Thema, keine der von ihnen veröffentlichten Hauptschriften trägt diesen oder einen in diese
Zu den Schwierigkeiten mit dieser Etikettierung vgl. Urs Thurnherr, „‚Existenzphilosophie‘ und ‚Existenzialismus‘ oder kurze Geschichte ‚eines‘ Etiketts,“ in Lexikon Existenzialismus und Existenzphilosophie, hrsg. von Urs Thurnherr / Anton Hügli, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 9 – 17. Ein prinzipieller Grund, ein Symposion über Existenzphilosophie, gleichgültig in welcher Hinsicht, für nicht eben inspirierend zu halten, könnte natürlich darin liegen, dass diese Philosophie eine doch schon recht abgelebte philosophie-geschichtliche Strömung zu sein scheint, die schon zu ihren Blütezeiten von gewissen ihrer Kritiker für tot erklärt wurde (vgl. etwa Fritz Heinemann, Existenzphilosophie lebendig oder tot?, Stuttgart: Kohlhammer 1953). Aufzuzeigen wie viel Leben in dieser totgesagten Philosophie noch immer steckt, ist ein Hauptziel dieses Artikels.
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Richtung weisenden Titel. Sartre z. B. hat die von ihm angekündigte moralphilosophische Schrift nie vollendet (es ist bei Entwürfen geblieben²), Jaspers und Heidegger haben sich strikt geweigert, eine Ethik zu schreiben. Auch die zweite Version des Symposion-Titels – „Existenzphilosophie in der Ethik“ – sieht nicht verlockender aus. Das gespannte Verhältnis der Existenzphilosophen zur Ethik beruht auf Gegenseitigkeit: In der Geschichte der Ethik haben die Existenzphilosophen bis heute kaum nennenswerte Spuren hinterlassen, und ich fürchte, auch weitere historische Forschung wird dieses Bild nicht ändern können.³ Meine Erklärung dafür: Die beiden Größen – Ethik und Existenzphilosophie – standen zur Zeit der Hochblüte der Existenzphilosophie in einer – für eine fruchtbare Begegnung – nicht eben günstigen Konstellation. Nicht wie es damals war, sondern wie es – unter anderen Auspizien – hätte sein können, ist darum für mich die eigentlich interessante Frage. Und diese anderen Auspizien scheinen mir heute gegeben: Der gegenwärtige ethische Diskurs ist auf überraschende Weise wieder anschlussfähig geworden an die Fragestellungen der Existenzphilosophie und ermöglichte endlich auch den Dialog, der bisher nicht stattgefunden hat. Im Licht dieses Dialogs könnte auch deutlicher werden als zuvor, in welchem Ausmaß es in der Geschichte der Ethik bereits ein existenzphilosophisches Denken avant la lettre gegeben hat. Ich beeile mich, diese Thesen für den Rest des Artikels kurz zu explizieren. Des bemessenen Raumes wegen mit Kierkegaard und Jaspers im Zentrum.
II Die Wiederentdeckung der Willensethik als Chance zu einem neuen Dialog Beginnen wir mit einer kurzen Exploration des Feldes des Ethischen und des Moralischen. Das Wort „Moral“ geht bekanntlich auf das lateinische Wort mos zurück, das seinerseits als Übersetzung dient für das, was im Griechischen „Ethik“
Vgl. Jean Paul Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophi, Reinbek: Rowohlt 2005. Die einzige weiterführende Linie, die bereits Helmut Fahrenbach in seiner noch immer wegweisenden Studie (Existenzphilosophie und Ethik, Frankfurt am Main: Klostermann 1970, S. 3, 180 ff.) ausmachen zu können glaubt, ist die Frage einer anthropologischen Begründung der Ethik. Diese Linie dürfte aber, trotz des Engagements von Thomas Rentsch (vgl. Die Konstitution der Moralität: transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, Frankfurt M.: Suhrkamp 1990), eher eine Domäne der auslaufenden Erlanger Schule geblieben sein (grundlegend etwa: Wilhelm Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim: Bibliographisches Institut 1973), die sich – abgesehen von gewissen Heidegger-Anleihen – eher in Opposition zur Existenzphilosophie als im Einklang mit ihr entwickelt hat.
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heißt. Der Rekurs auf die ursprüngliche Bedeutung von „Ethik“ trägt einiges zur Klärung dieses Wortfeldes bei. „Ethik“ hat zwei Wurzeln. Zum einen kommt es von èthos: gewohnter Ort des Lebens, Sitte, Brauch, zum andern hat es zu tun mit êthos – den Charaktereigenschaften, der Haltung, die man erwirbt, wenn man an einem bestimmten Ort aufgewachsen ist. Diese Doppelbedeutung erinnert daran, dass Ethik zwei Aspekte aufweist: einen sozialen und einen individuellen. Auf der einen Seite geht es um das Phänomen, dass es in jeder Gesellschaft ein System von gegenseitigen Verhaltenserwartungen, einen moralischen Kodex gibt – als Inbegriff dessen, was die Mitglieder der Gesellschaft gegenseitig voneinander erwarten und mit wechselseitigem sozialem Druck auch durchzusetzen versuchen. Auf der anderen Seite geht es um die Art und Weise, wie Individuen mit diesem sozialen Druck umgehen, das heißt, wie sie Moral „verinnerlichen“ und insofern selber „Moral“ resp. „Moralität“ haben. Diese beiden Aspekte hängen eng zusammen. Sie lassen sich scheinbar auch von derselben Frage leiten, der Frage: Was sollen wir, was soll ich tun? Aber das „Sollen“ hat einen andern Sinn, je nachdem, ob es nun um das uns alle einschließende Wir oder um das Ich meiner Person geht. Beim Wir haben wir es mit den Forderungen zu tun, die wir gegenseitig aneinander richten. Wir fragen nach den Normen und Handlungen, die im Interesse aller und gleichermaßen gut für alle sind. Anders aber, wo es um mich selber geht. Die entscheidenden Fragen lauten hier: Was ist das für mich Gute? Welche Art von Person möchte ich sein? Welches Leben habe ich zu führen, wenn es ein gutes Leben sein soll? Ob und in wieweit die Erfüllung normativer Wir-Erwartungen mit zu einem guten Leben gehört, ist zwar eine wichtige, aber eine durchaus offene Frage. Gemäß der heute gängigen Terminologie – so bei Habermas, Forst, Tugendhat u. a. – gehören Wir-Fragen zum Kontext der Moral, die Fragen nach dem für mich Guten zur Ethik im engeren Sinn. Manche sprechen aber auch, wenn es um Moral geht, von Sollensethik, wenn es um das gute Leben der einzelnen Person geht, von Willensethik oder Strebensethik⁴. Diese Unterscheidung zwischen moralischem und ethischem Diskurs hat erst im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte Eingang in die philosophische Diskussion gefunden. Sie kann gesehen werden als das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, die – in der Ultra-Kurzfassung – sich ungefähr wie folgt präsentiert: Die antike Ethik – exemplarisch die Tugendethik von Aristoteles – stand unter dem Vorzeichen der Frage des guten Lebens, die neuzeitliche Ethik – exemplarisch dafür die Vertragstheorien der Gesellschaft – stellte die moralischen Normen in den Mittelpunkt und marginalisiert alle Fragen des Glücks und des guten Lebens. Die maßgeblichen moralphilosophischen Theorien der Neuzeit, der Utilitarismus
So Hans Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 75 ff.
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auf der einen, die Kantische Ethik auf der andern Seite, sind darum reine Sollensethiken. Bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus, also auch zur Zeit der Existenzphilosophie, beherrschen sie noch immer das Feld – in der Gestalt des Neu-Kantianismus auf dem Kontinent, in Form der verschiedenen Spielarten des Utilitarismus in England und in den USA. Mit der Rehabilitierung der praktischen Philosophie⁵ und mithin auch der aristotelischen Ethik in Deutschland und mit Pierre Hadots und Michel Foucaults Wiederentdeckung der „Selbstsorge“ als eines Schlüsselbegriffs der Antike in Frankreich rückt nun abrupt auch die Frage nach dem Glück und dem guten Leben wieder in den Mittelpunkt philosophischer Debatten. Man entdeckt dabei, dass diese Frage keineswegs verstummt ist, sondern – unter dem Deckmantel unterschiedlichster Begriffe, etwa dem der Selbstverwirklichung und Selbstaktualisierung, der Identität und Authentizität, der Gesundheit oder der Lebensqualität – sich bloß versteckt gehalten hat, so – im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert – in der Psychoanalyse, der humanistischen Psychologie, im Marxismus und in der kritischen Theorie, zuallererst aber und an vorderster Stelle bei Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche und in der Existenzphilosophie. Und damit bin ich bei der erwähnten glücklichen Konstellation: Eine Rehabilitierung der Existenzphilosophie zumindest als Strebens- oder Willensethik steht auf dem Plan.⁶
III Kant und die Frage nach dem, was der Mensch aus sich machen kann und soll Wenn es ein durchgehendes Thema gibt unter den sogenannten Existenzphilosophen, dann wohl dies: dass es entscheidend darauf ankomme, wie wir uns selber verstehen und wer wir selber sind. Selbstsein (seltener auch Selbstverwirklichung) ist darum so etwas wie die existenzphilosophische Glücksformel. Das Bemerkenswerte an diesem Thema: Obwohl die Frage nach dem Selbstsein sich an den jeweils Einzelnen wendet, ist es nicht bloß eine individuelle Frage – wie ich, dieser bestimmte Ich-Sagende, es mit mir selbst halten will – sie richtet sich vielmehr an den Einzelnen, der ein jeder sein kann – an den Einzelnen als So der Titel des von Manfred Riedel herausgegebenen voluminösen Werks (Freiburg: Rombach 1971). So dezidiert Hans Krämer: „Was historisch Existenzphilosophie war, muss heute in Strebensethik aufgehoben und zurückgenommen werden.“ (Krämer (1992), S. 196) Einer der ersten Interpreten, der diesem Aufruf – in Bezug auf Jaspers – gefolgt ist, ist Franz-Peter Burkhard, „Existenzphilosophie und Strebensethik,“ in Jahrbuch der Österreichischen Karl Jaspers Gesellschaft 12 (1999), S. 29 – 41.
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Menschen. Darum ist auch die „Wir-Form“ der Frage legitim. Aber es ist nicht das Wir der moralischen Gemeinschaft, sondern das Wir aller jener, die dieselbe subjektive Perspektive haben wie ich und die sich, wie ich selbst, als Menschen verstehen. Eine anthropologische Frage mithin, eine Frage des Menschseins.⁷ Diese Anthropologie ist jedoch nicht zu verstehen als „empirische Wissenschaft“ vom Menschen. Es geht vielmehr um die Art von Anthropologie, die Kant „Anthropologie in pragmatischer Absicht“ nennt und die, gemäß seiner Formel, nicht das zum Gegenstand hat, was die Natur aus dem Menschen macht, sondern „was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“⁸. In dieser Anthropologie – und ihrer Frage nach dem Menschen – kulminieren die Fragen, welche Kant als die philosophischen Grundfragen bezeichnet: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Mit Absicht erwähne ich hier Kant, denn Kant – obwohl als Sollensethiker verschrien – dürfte einer der heimlichen Bezugspunkte sein, an dem die Existenzphilosophen ihrerseits wiederum anknüpfen. Deutlich zu Tage tritt diese innere Verwandtschaft in dem Nachdruck, den Kant auf die Moralität der Gesinnung legt im Kontrast zu der bloßen Legalität von Handlungen. Kants kategorischer Imperativ ist denn auch, genau besehen, kein Test für die Legalität, sondern für die Moralität der von mir gewählten Maximen. Zu prüfen ist mein Motiv, meine innere Grundausrichtung. Um Kants Standardbeispiel zu nehmen: Nicht, ob man ein falsches Versprechen geben dürfe, ist die Frage, sondern ob ich ein falsches Versprechen auch dann nicht geben darf, wenn ich in Bedrängnis bin.⁹ Die Reinheit meines Wollens, der Mensch, der ich sein will, steht auf dem Prüfstand. Dies hat nicht nur eine ethische, sondern auch eine religiöse Dimension. Am klarsten zeigt sich dies in Kants Spätschrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in der Kant dem Menschen einen Hang zum „radikal Bösen“ attestiert, d. h. einen „natürlichen Hang“, die moralischen Maximen den der natürlichen Selbstliebe entspringenden „Triebfedern“ des Handelns unterzuordnen.¹⁰ Dass der Mensch durch „eine allmählige Reform“ aus dieser grundsätzlichen „Verkehrung seiner Gesinnung“ je wieder herausfinden könne, hält Kant für unmöglich.Was es brauche, sei eine „Revolution in der Gesinnung“, „eine Art von Wiedergeburt gleich als durch eine neue Schöpfung“, durch die der Mensch in „einer einzigen unwandelbaren Entschließung“ zur bedingungslosen Unterord-
Vgl. dazu Ernst Tugendhat, Anthropologie statt Metaphysik, München: Beck 2006, S. 36 ff. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akad. Ausg., hrsg. von Preußische Akademie der Wissenschaften Bd. 7 (1907/17), S. 119. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akad. Ausg. Bd. 4. (1903/11), S. 422. Instruktiv für diese Deutung: Otfried Höffe, Ethik und Politik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 84– 119. Kant, Akad. Ausg. Bd. 6 (1907/14), S. 20, 21, 28 ff.
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nung unter die moralischen Maximen einen „wahrhaft moralischen Charakter begründe“.¹¹
IV Das Thema der Selbstwahl bei Kierkegaard Kierkegaards Interesse an der Ethik setzt genau bei diesem Punkt ein: Wie kommt der Einzelne zu einer solchen „Entschließung“ oder „Herzensänderung“, wie Kant auch sagt. In Kierkegaards Sprache: Wie kommt der Einzelne dazu, sich selbst in seiner „ewigen Gültigkeit zu wählen“? Der Begriff „Wahl“ ist hier der Schlüsselbegriff, und er bleibt es auch für die Existenzphilosophie.¹² Die Schrift Entweder/ Oder thematisiert diese Wahl, indem sie zwei „Lebensanschauungen“ aus der individuellen Sicht zweier pseudonymer Existenzen einander gegenüberstellt, die ästhetische und die ethische. Assessor Wilhelm, der den ethischen Standpunkt vertritt, macht deutlich, dass dies eine Wahl ganz andrer Art ist, als man sie bisher verstanden hat. Wahl wurde seit Aristoteles als prohairesis, als Präferenzwahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten verstanden, die jeweils geleitet wird von der Überlegung (bouleusis) darüber, welche dieser Optionen die für meine Zwecke geeigneten Mittel sind. Für Assessor Wilhelm aber geht es gerade nicht um eine solche Wahl zwischen diesem oder jenem – zu heiraten z. B. oder nicht zu heiraten –, denn gäbe es nur diese Art von Wahl, wäre das Leben nach seiner Ansicht Verzweiflung.Wählen heißt für ihn, wie die ominöse Formel lautet, sich selbst wählen, und das heißt, genauer besehen, die Lebensform – oder, in Kierkegaards Sprache, das Stadium der Existenz – wählen, das mir erst ermöglicht, ich selber zu sein. Ein mythischer Vorläufer einer solchen „Lebenswahl“ ist die im Schlussmythos von Platons Politeia geschilderte Szene, in der die im Hades versammelten Seelen jeweils vor dem nächsten Weltumlauf aufgefordert werden, ihre künftige Lebensweise selbst zu wählen – zu ihrem künftigen Heil oder Unheil.¹³ Am nächsten kommt der Kierkegaardschen Wahl aber vielleicht eher noch Pascals berühmte „Wette“, welche den Agnostiker vor die sein ganzes Leben bestimmende Entscheidung stellt, ob er sich allein auf dieses irdische Leben hin ausrichten oder ob er – aller Ungewissheit des Ewigen zum Trotz – auf ein die ewige Seligkeit versprechendes jenseitiges Leben setzen will. Wählte der Agnos-
Ebd. S. 47 f. Für eine ausführlichere Darstellung der zentralen Bedeutung der Wahl bei Kierkegaard vgl. Anton Hügli, Søren Kierkegaard – Der Einzelne, das Ethische und die Freiheit, in: Klassiker der Philosophie heute, hrsg. von Ansgar Beckermann und Dominik Perler, Stuttgart: Reclam 2004, S. 439 – 458. Platon, Politeia 616 b ff.
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tiker die zweite Option, dann hätte er die Wahl getroffen, die Kierkegaards Assessor Wilhelm (allerdings ohne jeden Anflug von Kalkül) in Entweder/Oder vor Augen hat: Er hätte sich selbst „in seiner ewigen Gültigkeit“ gewählt. Was aber unterscheidet die zwei Leben, zwischen denen zu wählen ist? Das Entweder/Oder, um das es dem Assessor geht, ist die Option zwischen einem Leben, das keine solche Wahl kennt, und einem Leben, das aus einer solchen Wahl hervorgeht. Gemäß seiner Terminologie: zwischen einem ethischen Leben, das erst mit der Wahl beginnt¹⁴, und einem ästhetischen Leben, in dem zwar auch dauernd gewählt wird – im Sinne der Präferenzwahl –, in dem aber von einer Selbstwahl keine Rede sein könne, weil nicht ich es sei, der wähle, sondern Kräfte innerhalb oder außerhalb meiner selbst. Mich selbst wähle ich gemäß dem Assessor nur, wenn ich ethisch, d. h. das Ethische wähle. Inhaltlich bleibt das, was hier das Ethische heißt, seltsam unterbestimmt.Von ihm wird gesagt, es sei das, was allgemein gilt – das also, was Kierkegaards Pseudonyme in Anlehnung an den Hegelschen Sprachgebrauch das Allgemeine nennen: die bestehende Moral, die gelebte Sittlichkeit. Deren Legitimation und theoretische Reflexion scheint dem biederen Assessor aber kaum von Belang. In Bezug auf das von ihm vorausgesetzte ethische System begnügt er sich mit dem Hinweis auf ein damals in den dänischen Schulen gebräuchliches Religionslehrbuch von Balle, zu dem er, wie er sagt, nur noch ein paar Anmerkungen habe schreiben wollen¹⁵. Er übernimmt auch Balles traditionelle Einteilung der Tugenden in Pflichten gegen sich selbst – die an erster Stelle kommen müssten –, Pflichten gegenüber den anderen und Pflichten gegenüber Gott, die vor allem darin bestehen, dass der Mensch jeweils mit Blick auf Gott den persönlichen und sozialen Pflichten nachkommt. Alle diese drei „Stadien“, „die persönlichen, die bürgerlichen, die religiösen Tugenden“, gelte es in seinem Leben zu entwickeln, und sein Leben vollbringe man dadurch, dass man „sich fort und fort aus dem einen Stadium in das andre übersetzt. Sobald man meint, ein einziges dieser Stadien reiche hin, […] hat man nicht sich selbst ethisch gewählt, sondern die Bedeutung entweder der Vereinzelung (Isolation) oder des Zusammenhangs (der Kontinuität) übersehen“.¹⁶ Assessor Wilhelm unterstreicht damit einmal mehr, was für ihn – in allen seinen Briefen und Abhandlungen – an vorderster Stelle steht: nicht die Frage
Søren Kierkegaard, Enten/Eller, in Samlede Vaerker, hrsg. von H. P. Drachmann, J. L. H Heiberg, H. O. Lange, 2. Ausg. (I – XV), Kopenhagen: Gyldendal 1920, Bd. 2, S. 180; dt. Søren Kierkegaard, Entweder/Oder, 2 Bde., Gesammelte Werke, übers. von E. Hirsch, Düsseldorf/Köln 1957, Bd. 2, S. 177. Ebd. S. 348. Ebd. S. 282, dt. 279.
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nach der Legitimität meiner moralischen oder ethischen Pflichten, sondern die Frage nach der Art und Weise, wie ich mich mit meinen Pflichten verbinde, die Frage meiner Moralität eben, wie Kant sagen würde. Das, worauf es allein ankomme, sei ihm schon als kleine Junge aufgegangen, als er von seinem Lehrer die Aufgabe bekommen habe, eine Seite aus Balles Lehrbuch auf den nächsten Tag auswendig zu lernen.¹⁷ Es sei ihm auf einmal bewusst geworden, dass es nur dies und eben dies sei, was er nun zu tun habe, und dass ihn nichts von dieser Verpflichtung entbinden könne, selbst wenn Himmel und Erde einstürzten. Denn nicht auf das, was ich tue, komme es an, nicht darauf, ob ich etwas Gewöhnliches oder Ungewöhnliches tue und ob ich dabei viel oder wenig ausrichte, sondern auf das Wie, die Intensität, den Ernst, das Pathos,¹⁸ mit dem ich das Gewählte zu meiner „Aufgabe und meiner Pflicht“, meine Arbeit z. B. zu meinem Beruf, meine Liebe zu meiner Ehe mache.¹⁹ Für die ethische Wahl gilt, dass sie unbedingt, d. h. von keinen (äußeren oder inneren) Bedingungen und keinem weiteren Zweck abhängig ist. In ihr geht es nur um eines: ob ich das, was mir aufgrund meiner Lebensgeschichte in der gegenwärtigen Situation zugefallen ist, in Verantwortung übernehmen will oder nicht. Die ethische Wahl ist darum in gewisser Weise eine Wahl für das schon Entschiedene, und doch kommt durch die Wahl etwas hinzu und entsteht erst durch die Wahl: nämlich die Absolutheit, mit der ich wähle und durch die ich mich selbst wähle in meiner Absolutheit.²⁰ So wähle ich mich denn selbst – als das konkrete, zufällige Ich, das ich bin, in der Notwendigkeit seines Gewordenseins, aber ich wähle dies alles – aus Freiheit, indem ich Ja sage zu dem, was ich bin. Es ist eine ethische Wahl, sofern ich mich mit ihr unter die ethischen Bestimmungen von Gut und Böse stelle. Diese Wahl kann mich, wie Assessor Wilhelm betont, freilich nicht daran hindern, dass ich, nachdem ich das Ethische und mithin das Gute gewählt habe, im nächsten Moment schon das Unrechte wähle.²¹ Der Selbstwahl wohnt die eigentümliche Dialektik inne, dass ich zwar selbst das Absolute bin, das wählt, aber weil ich mich nicht selbst gesetzt habe – und darin liegt das religiöse Moment des Ethischen –, begegne ich „im Augenblick meiner Wahl“ der „ewigen Macht“, welche das gesamte Dasein allgegenwärtig durchdringt.²² Assessor Wilhelm sagt darum von der ethischen Wahl, sie sei für
Ebd. S. 287, dt. S. 284. Ebd. S. 181, dt. S. 178. Ebd. S. 272, 287, 321, dt. S. 268, 284, 317 f. Ebd. S. 229, dt. S. 226 f. Ebd. S. 181, dt. S. 178. Ebd. S. 191, dt. S. 188. Hier zeigt sich eine besondere Nähe Kierkegaards zu Kant. Dass es einen Bezug zwischen ethischem Handeln und absoluter Macht geben muss, mehr noch, dass,
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den Einzelnen „der Ausdruck für seine absolute Abhängigkeit und seine absolute Freiheit in ihrer Identität miteinander“²³. In der Wahl setzt der Einzelne das Absolute, das ihn setzt. In diesen Umschreibungen der Selbstwahl sind alle Probleme schon angelegt, an denen sich existenzphilosophisches Denken (und damit meine ich nicht nur das Denken der Existenzphilosophen) abzuarbeiten hat: Was ist der Ursprung und das Wesen dieses Müssens, aus dem heraus ich die von mir übernommenen Normen, Pflichten und Aufgaben zu den meinen mache? Was gibt ihnen ihre Autorität? Wie weit ist meine Wahl bestimmt durch mich selbst, wie weit bin ich selber durch etwas bestimmt, was über mich hinausgeht und nicht in meiner Macht steht? Aber von welcher Art denn ist diese angeblich „höhere“ Macht? Wie weit und inwiefern ist die existenzielle Wahl mit einem Allgemeinwerden und insofern mit der moralischen Lebensform verbunden? Der Existenzphilosoph, der den Selbstwahl-Gedanken Kierkegaards wohl am konsequentesten weitergeführt hat, ist Karl Jaspers mit seinem Begriff der existenziellen Wahl²⁴ resp. des existenziellen Entschlusses. Dass dieser Begriff ohne den der Transzendenz undenkbar ist, steht für Jaspers von Anbeginn – seit seiner Psychologie der Weltanschauungen (1919) – fest. Die Frage, wie diese Verknüpfung zu verstehen ist, wird für ihn zum Anstoß zu immer weiteren Erhellungsversuchen, die im Hauptbegriff seiner späten Philosophie, dem des philosophischen Glaubens, kumulieren. Fragmentarisch geblieben ist jedoch, was er zum Ethischen zu sagen hat.²⁵ Man kann darin einen weiteren Beweis für die Unzulänglichkeit der Existenzphilosophie gegenüber der Ethik sehen, man kann es aber auch umgekehrt deuten: als Hinweis auf das Scheitern der Ethik in der von Jaspers aufgezeigten Grundsituation menschlicher Existenz. Ich neige zu der zweiten Deutung.
wer wahrhaft moralisch handelt, gleichsam einen Gottesbeweis führt, war für Kant unbestritten. Auch wenn seine Lehre von Gott und Unsterblichkeit als Postulate der praktischen Vernunft für uns nur noch von historischem Interesse sein mag, bewegen uns die Worte noch immer, die Kant dem rechtschaffenen Mann in den Mund legt, der sich an das moralische Gesetz gebunden weiß: „Ich beharre darauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen“, dass es einen Gott und ein ewiges Leben geben muss, „denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weil ich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteil unvermeidlich bestimmt“. (Kritik der praktischen Vernunft, Akad. Ausg. Bd. 5 (1908/13), S. 143.) Ebd. S. 291, dt. S. 288. Existenzielle Wahl ist nach Jaspers „der Entschluß, im Dasein ich selbst zu sein“. Das Entscheidende dieser „Wahl ist, daß ich wähle“ (Karl Jaspers, Philosophie (1932), 4. Aufl. Berlin und Heidelberg und New York 1973, Bd. 2, S. 181,180). Instruktiv dafür: Hans Saner, „Zum systematischen Ort der ethischen Reflexion im Denken von Karl Jaspers,“ in Jahrbuch der Österreichischen Karl Jaspers Gesellschaft 12 (1999), S. 9 – 27.
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Um sie zu erhärten, bedarf es allerdings einer eingehenden Explikation – auf den Spuren des von Jaspers eingeschlagenen Denkwegs.
V Die Stellung des Ethischen in Karl Jaspers’ „Psychologie der Weltanschauungen“ Während bei Kierkegaard die Selbstwahl mit der Wahl des Allgemein-Ethischen zusammenfällt, gibt es für Jaspers zumindest so etwas wie eine notwendige Verknüpfung zwischen existenzieller Wahl und dem Ethischen als dem „Allgemeingültigen“ im Handeln.²⁶ Diese Verknüpfung folgt aus der „Grundsituation des Menschen“: dass der Mensch „als einzelnes, endliches Wesen existiert“, das „zugleich eines Allgemeinen […] sich bewusst ist“²⁷ und das darum in seinem Leben die Aufgabe zu lösen hat, zu jener „Gestalt des Selbst“ zu werden, die „als Einzelnes zugleich das Allgemeine ist“. ²⁸ Das Allgemeine umfasst nach Jaspers allerdings mehr als bloß das Ethisch-Allgemeine. Seine Grundformen sind das „abstrakt Allgemeine“ und das „konkret Allgemeine“. Das „abstrakt Allgemeine“ ist zum einen das Allgemeingültige („die Imperative, die objektive Wahrheit, die geltenden Werte“), zum andern das Allgemeinmenschliche (das Naturgemäße, Durchschnittliche, Gewöhnliche) und das Notwendige („der Naturmechanismus und das Schicksal, von dem ich abhängig bin“). Das konkret Allgemeine umfasst die Ganzheiten und Totalitäten, in denen der Mensch als einzelnes Glied steht: 1) „der Mensch überhaupt, die Idee alles Menschlichen“, 2) die „soziologischen Ganzheiten (Familie, Nation Staat)“, 3) die Welt oder Gott.²⁹ Aber in Bezug auf jede dieser Formen des Allgemeinen gilt: Die Aufgabe, als Einzelner das Allgemeine zu sein, ist ein Widerspruch in sich selbst, eine Antinomie. Sie stellt den Einzelnen vor die Frage, worauf es ihm nun ankomme: aufzugehen im Allgemeinen in Gehorsam und Unterwerfung (unter Preisgabe seines individuellen Selbst) oder sich ihm entgegenzustellen in Ablehnung und Trotz (unter Preisgabe des Allgemeinen) oder sich – in einem Prozess des ständigen Werdens – zum Allgemeinen hin zu erweitern, Einzelner zu werden durch das Allgemeine (so wie man Persönlichkeit wird, indem man ein Allgemeines zu seiner „Sache“ macht) – und dabei in die Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, Berlin und Göttingen und Heidelberg, 5. Aufl. 1960, S. 387. Ebd. S. 379. Ebd. S. 411. Jaspers hält sich damit sehr eng an die Bestimmung des Selbst in Kierkegaards Krankheit zum Tode: „Selbst bedeutet eben den Widerspruch, daß das Allgemeine als das Einzelne gesetzt ist“ (419). Ebd. S. 381.
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Gefahr zu geraten, bald sich, bald das Allgemeine zu verabsolutieren.³⁰ Wenn man diese Aufgabe als Denkaufgabe versteht im Glauben, es gelte, sich „abstrakt“, aus der Perspektive des „Betrachters“ – ein für allemal gleichsam –, für eine dieser Haltungen entscheiden zu müssen, versteinern die drei Haltungen zu Weltanschauungen wie die des Universalismus oder des Individualismus, d. h. zu einseitigen „Gehäusen“, die durch ihre Konsequenz und rationale Eindeutigkeit für die rationale Einstellung zwar befriedigend sein mögen, aber das Leben des „lebendigen, Halt im Unendlichen suchenden Menschen“, nie zu fassen vermögen. „Das Entweder-Oder der lebendigen Persönlichkeit“ sei immer nur „konkret, individuell, einzeln und absolut“.³¹ In Bezug auf das Allgemeingültige im ethischen Handeln – dessen Pathos im kategorischen Imperativ Kants seinen Ausdruck gefunden habe – , zeigt sich nach Jaspers die unauflösbare Antinomie darin, dass dieses Allgemeingültige eine rein „formale Bestimmung“ bleibt, ohne die zwar nichts Gültiges bestehen kann, die aber dem Einzelnen inhaltlich nie sagen könne, was er zu tun hat.³² Die konkreten Grundsätze, Forderungen und Pflichten müssten darum vom Einzelnen immer wieder formuliert, eingeschmolzen und aus lebendigen Impulsen neu geschaffen werden. Sobald man – wie gewisse Ethiker und Denker mit ihren Systemen vermeintlicher Richtigkeiten – diese inhaltlichen Forderungen selber schon als allgemeingültig deklariere, würden sie zu „vergewaltigenden Gehäusen“, in welchen „nun der Einzelne Ruhe in der Unterordnung findet, indem er sich als Individuum aufgibt“.³³ Was aber hindert den Einzelnen daran, in solchen „Gehäusen“ zu erstarren? Welches sind die von Jaspers erwähnten „lebendigen ethischen Impulse“, die den Prozess des immer wieder neuen Suchens nach dem Allgemeinen in Gang halten und den Einzelnen daran hindern, sich mit einer festen Formel zu beruhigen, weil für ihn das Allgemeine „die individuelle Gestalt […] in Entfaltung ist“?³⁴ Der Weltanschauungspsychologe Jaspers glaubt auf diese Frage keine Antwort geben zu können, der bloße Betrachter (der er hier sein will) erfahre „hier, wie immer, dass wir das Leben selbst nicht fassen, sondern nur seine Produkte, seine Versteinerungen“.³⁵ Indirekt aber gibt Jaspers sehr wohl zu erkennen, wo er das Zentrum dieses (nicht erkennbaren) Lebens sieht: dort, wo es um die Frage des Heils des Menschen und mithin um die Haltung gegenüber Gott, dem Einen, dem
Ebd. S. Ebd. Jaspers Ebd. S. Ebd. S. Ebd. S.
382. (1960), S. 387. 388. 390. 383.
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Absoluten geht, dem also, was in den späteren Schriften von Jaspers dann Transzendenz heißt als umfassendste Bezeichnung für das Sein, in dem ich selber meinen Grund habe, und das alle immanenten Seinsweisen von Subjektivität und Objektivität übersteigt.
VI Der existenzielle Entschluss als Weg zur Transzendenz Jaspers unterscheidet am Schluss seiner Psychologie der Weltanschauungen zwei mögliche Haltungen gegenüber der Transzendenz:³⁶ Entweder gehe ich davon aus, dass dieses Eine, dieses absolute Sein jederzeit voll gegenwärtig ist und dass es nur darum geht, mit ihm hier und jetzt, in diesem Leben schon, zu verschmelzen, oder ich halte daran fest, dass ich das absolute Sein nie direkt haben kann, sondern nur in Form der Aufgabe, mich dafür einzusetzen, dass es in dieser meiner Welt „wirklich“ wird – aber im vollen Wissen darum, dass dieses Sein nur eine im Unendlichen liegende Idee ist, die in der Welt niemals Realität werden kann. Die erste Haltung ist die der Mystik mit dem Erlebnis der mystischen Einheit, der Verschmelzung des Selbst mit dem Absoluten im Zentrum, die zweite ist der Weg des von dem Streben nach der Idee erfüllten Lebens, der „ideenhaften Existenz“. Jaspers sieht, wie sich in seinen späteren Schriften noch deutlicher zeigt, für uns, für uns Abendländer, nur diesen zweiten Weg. Wer in Raum und Zeit lebe, für den könne das Absolute nur auf eine Weise Wirklichkeit werden: dadurch, dass sie dem Einzelnen und Endlichen „einen Sinn und ewige Bedeutung“ verleiht. Das Absolute sei nur da im Augenblick der Entscheidung, der nun absolute Wichtigkeit bekomme, „als ob das Ewige hier erst entschieden würde, von dieser zeitlichen Entscheidung abhänge“. Das Absolute sei darum immer inkorporiert im Endlichen, nicht selbst und nicht direkt gegeben. Im Mystischen kann der Mensch das Absolute, Gott, die Menschheit, das Nichts lieben, kann er gegenstandslos lieben, in dem Leben der Idee liebt er den einzelnen Menschen, ein Konkretes und Einzelnes, eine Sache, eine Aufgabe, ein Werk.³⁷
Wie aber kann ich wissen, was das Absolute von mir fordert, was meine Aufgabe und meine Sache ist? Die (spätere) Antwort des Existenzphilosophen Jaspers lautet in Kürze: Da kein Gott leibhaftig in dieser Welt ist und es keine Instanz gibt,
Ebd. S. 440 ff. Ebd. S. 460 f.
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die den Anspruch erheben kann, Stimme der Transzendenz zu sein, bleibt mir nur eine Möglichkeit: Ich muss mir die Antwort selber geben, indem ich in Kommunikation mit dem Anderen,³⁸ mich selber erforschend und mit mir selber ringend nach dem frage, was es nun eigentlich ist, was ich tun, was ich für immer lieben und wofür ich kämpfen will. Und wenn dabei jener glückliche Augenblick kommt, in dem mir, oft nach langen Zweifeln und ratlosem Schwanken, klar wird, dass es – notwendigerweise – eben dies und nur dies ist, was ich zu tun habe, kann mir diese Gewissheit zum möglichen – jedoch immer zweideutig bleibenden – Zeichen dafür werden, dass ich in einem „transzendenten Grund“ gebunden bin. Es ist eine – immer wieder neu zu erringende – innere Gewissheit, die in mir wächst und die sich darin äußert, dass alles Fragen aufhört.³⁹ Dieser Zustand wird erfahren als ein Nicht-Anders-Können, wie es exemplarisch zum Ausdruck kommt in dem berühmten Luther-Wort: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. Nicht zu handeln, wie ich glaube, handeln zu müssen, würde für mich heißen, zu nichts zu werden, mich selbst zeitlebens verachten zu müssen. Dieser Aspekt des absoluten Müssens, des Kategorischen weist nach Jaspers darauf hin, dass hier eine andere Art von Notwendigkeit spricht als eine logische Notwendigkeit oder eine Naturnotwendigkeit: Es ist kein bloßes Überwältigtwerden durch einen momentanen Gefühlszustand, keine plötzlich auflodernde Leidenschaft oder, mythisch gesprochen, kein unberechenbarer Dämon, der mich packt, es ist auch kein nackter Daseinswille, der sich geltend macht, und noch weniger ein zwanghaftes Tun, denn alle diese Notwendigkeiten würden jene – über alle wechselnden Situationen hinweg – immer wieder neu zu erringende Kontinuität und Treue zu sich selbst, die den unbedingten Entschluss kennzeichnen, nie schaffen können. Es ist ein Entschluss aus Freiheit, aber aus einer Freiheit, die mit innerer Notwendigkeit zusammenfällt. Von mir allein zwar geht der Entschluss aus, aber dass ich den Anfang überhaupt machen kann, verdanke ich nicht mir, sondern einem anderen, das mich gesetzt hat als einen so und nicht anders Wählenden. Daher immer wieder die formelhafte Jasperssche Wendung: Ich werde mir selbst geschenkt. Und dieses unfassbar Andere, von dem ich mich mir geschenkt wisse, dies eben sei die Transzendenz. Ich wähle mich selbst, als ein von der Transzendenz Gesetzter. Der Glaube, dass es unbedingte Forderungen an mich gibt, ist für Jaspers darum unmittelbar verknüpft mit dem Glauben, frei zu sein und als Freiheit im Absoluten verwurzelt zu sein.
Dass ich nur ein Selbst werden kann in Kommunikation mit dem Andern, ist einer der entscheidenden Punkte, in denen sich Jaspers von Kierkegaard unterscheidet. Die Bedeutung der Kommunikation für die ethische Entscheidungsfindung hebt Jaspers schon in Jaspers (1960), S. 390 hervor. Vgl. Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, München: Piper 1953, S. 54.
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So viel zu der schwierigen Frage nach dem Verhältnis zwischen existenziellem Entschluss und Transzendenz. Aber wie steht nun dieser existenzielle Entschluss zu den moralischen Forderungen und zu der Aufgabe des Allgemeinwerdens im ethischen Sinne? Wie kann eine Entscheidung, bei der es immer nur um das Einzelne, Konkrete in der jeweiligen Situation geht, überhaupt verallgemeinerungsfähig sein? Läuft dies nicht auf die für die Existenzphilosophie typische Situationsethik hinaus, wie sie Jaspers – ohne allerdings diesen Terminus zu verwenden – Nietzsche zuschreibt?⁴⁰ Was Jaspers im zweiten Band seiner Philosophie über das Ethische sagt, kann diese Vermutung nur bestärken.
VII Objektives Sollen und subjektives Müssen Wie schon in der Psychologie der Weltanschauungen ⁴¹ unterscheidet Jaspers auch in der Philosophie zwischen zwei Seiten des Ethischen: dem „objektiven“ Sollen und den Inhalten der existenziellen Entscheidung. Das Ethische tritt „objektiv“ in Erscheinung als „das eine wahre sittliche Handeln, das in seinen allgemeinen Regeln von allen Menschen ähnlich anerkannt wird: du sollst nicht lügen, nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen usw.“⁴² Dieses „objektive“ Sollen hat die Form und den Charakter von Rechtssätzen. Da diesen in ihrer Geltung jedoch „die Zwangsgewalt fehlt, welche den Rechtssätzen eignet“,⁴³ sind diese Sätze nie eindeutig; sie erlauben kein rationales „Subsumieren“ und sind „so weder gültig noch ungültig, vielmehr unberechenbar“.⁴⁴ Gültigkeit bekommen sie nur, wenn der Einzelne sie in Freiheit in seiner Situation anerkennt und sie zu seinem Gesetz, zum Gegenstand seines unbedingten Wollens macht.
Nietzsche bekämpft nach Jaspers „jede in einer allen Menschen gemeinsamen Substanz, in Gott oder der Vernunft“ gegründete Moral, weil er „den Vorrang des Individuums vor allem moralisch und vernünftig Allgemeinen“ wolle. Zugleich sei bei ihm ein anderer Impuls wirksam: Nietzsche wolle „nicht dem vereinzelten Individuum als solchem für seinen beliebigen Eigenwillen freien Raum geben. Sondern Nietzsche drängt in die Tiefe existenzieller Geschichtlichkeit, um das Gesetz in der Gestalt spürbar zu machen, wie es in konkreter Situation der Existenz hörbar wird.“ (Nietzsche, Berlin 1947, S. 147 f.) Vgl. Jaspers (1960), S. 388: „Das Ethische hat den Doppelsinn: Einmal werden damit die Kräfte gemeint, die den materialen Inhalt des Handelns […] geben; dann aber gerade nur die Gestalt, die in Imperativen, im Sollen und in formulierten Grundsätzen vorliegt.“ Jaspers (1973), Bd. 2, S. 360. Ebd. S. 359. Ebd. S. 360.
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Diese These hat zwei Konsequenzen, zum einen in Bezug auf das Verhältnis zwischen objektiver Norm und subjektiver Anerkennung, zum andern in Bezug auf das Verhältnis von Norm und geschichtlicher Situation. Zum ersten Punkt: Moralische Normen gelten nicht einfach per se, sie mögen zwar unmittelbare Evidenz haben und uns in ihrer Wahrheit innerlich ansprechen,⁴⁵ aber Gültigkeit haben sie nur insoweit, als sie von Seiten des Handelnden auch Anerkennung, und zwar – so muss man ergänzen – unbedingte Anerkennung finden.⁴⁶ Bedingt ist die Anerkennung, wenn sie entweder triebhaft oder zweckrational oder vital, d. h. beides zugleich ist, unbedingt dagegen, wenn sie – unter Ausschluss aller dieser bedingten Motive, unter Ausschluss also aller selbstsüchtigen Daseins-, Geltungs- und Machtinteressen – aufgrund einer „existenziellen Wahl“ erfolgt:⁴⁷ dadurch, dass ich mir innewerde, was ich hier und jetzt zu tun habe, und nicht gehorsamer Ausführender einer von außen an mich gerichteten Forderung, sondern mich selbst bestimmender Wählender bin, der diese Aufgabe aus eigenem Antrieb übernimmt. Was ich tun soll, wird dann zu dem, was ich tun muss – aus innerer Notwendigkeit, weil es das ist, was ich selber bin. Objektives Sollen, so können wir darum abgekürzt sagen, bekommt Gültigkeit nur, wo es mit subjektivem Müssen sich trifft.Was aber, wenn sie sich nicht treffen? Dann, so Jaspers’ Antwort, wendet sich das Gesetz des Müssens gegen das Gesetz des Sollens. Denn „als mögliche Existenz habe ich auch die Kraft, gegen jedes objektiv fixierte, als Gesetz ausgesprochene Sollen mich zu wehren, wenn es nicht als dasjenige Sollen an mich kommt, das ich selbst für mich bin.“⁴⁸ Dieser Fall kann z. B. dann eintreten, wenn in einer bestimmten Situation objektive Sollensnormen kollidieren und verschiedene Werte gegeneinander stehen. In diesem Fall muss ich mich voll und ganz der Situation stellen und dieser Situation gerecht zu werden versuchen. Dies bringt die zweite Konsequenz mit ins Spiel: die situationsethische Konsequenz in Bezug auf das Verhältnis zwischen allgemeiner Norm und konkreter Situation. Die Situation, so Jaspers, könne erfordern, objektive Sollensnormen zu durchbrechen, „Ausnahmen“ zu machen. Er erläutert dies am Beispiel der Lüge: Auch wenn ich mich existenziell dem Satz verschreibe, So Jaspers Charakterisierung des Lügenverbots (Ebd. S. 356). Ebd. S. 355. Jaspers erweist sich in diesem Punkt als Präskriptivist avant la lettre. Gemäß dem meta-ethischen Präskriptivismus von Richard M. Hare ist innere Zustimmung ein Definitionsmerkmal von Sollensurteilen: Ein von mir geäußertes Urteil kann nur dann als Sollensurteil gelten, wenn ich mich innerlich dazu verpflichte, gemäß diesem Urteil auch zu handeln. Hare hat darum innerhalb der analytischen Ethik wohl die größte Affinität zur Existenzphilosophie, die er allerdings nur in der Gestalt des Sartreschen Existenzialismus zur Kenntnis genommen hat. Ebd. S. 292 ff. Ebd. S. 355.
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dass ich „eigentlich“ nie lügen will, nie mich selbst, nie den Freund belügen will, muss ich mir, wenn ich wahrhaftig sein will, eingestehen, dass es Situationen geben kann, in denen ich mich zur Lüge gezwungen sehen könnte:⁴⁹ z. B. wenn der Andere meinen Untergang will, mir – in der Haltung des homo homini lupus – als gefährliches Tier begegnet.⁵⁰ Wahrhaftigkeit verlange hier, es zumindest für möglich zu halten, „dass Lügen […] ein wahrhaftes Tun sein kann“.⁵¹ „Objektiv“ zu rechtfertigen aber sei Lügen nie. Man versuche es zwar mit Einschränkungen des Lügenverbots „in objektiven Argumentationen: Notlügen seien erlaubt, wenn sie unentbehrlich im Interesse eines Anderen, z. B. um ihm das Leben zu retten, geschehen. Lügen für das Vaterland seien nicht nur erlaubt, sondern im konkreten Fall zu fordern.“⁵² Aber wer entscheide schon, ob das Wohl des Vaterlandes, ob das Leben eines Anderen die Lüge erfordere. Das Gesetz „du sollst nicht lügen“ dagegen „gelte unausweichlich“.⁵³ Es bleibe darum, wenn ich „aus eigentlichem Selbstsein“ die Ausnahme mache, die objektiv nicht zu rechtfertigende Schuld.⁵⁴ Und dieser Entschluss könne weder vorbildhaft sein noch als Forderung an andere vermittelbar, außer in einem Prozess der wechselseitigen existenziellen Kommunikation. Diese steht ihrerseits unter unabweisbaren (strebens-ethischen) Forderungen: nämlich offen, wahrhaftig,verlässlich und nicht abstrakt rational zu sein, mit dem einzigen Anspruch an den Andern, dass er sich ebenso darum bemühe, „in seiner Wahrheit er selbst zu sein“ wie ich selbst, dem existenziellen Imperativ folgend: „Folge nicht mir nach, sondern folge dir selbst!“⁵⁵ Diese Absage an die Objektivierbarkeit existenzieller Entscheidungen hat Konsequenzen auch für die von Jaspers hypothetisch gestellte Frage nach der „Möglichkeit einer philosophischen Ethik“. Falls man eine Ethik erwarte, die das Wahre künde, „mit festen Geboten und Verboten, die rational wie Richtsätze denkbar und anwendbar sind“, sei „aus dem Philosophieren aus möglicher Existenz“ keine Ethik möglich. Denkbar sei nur eine Ethik, die das Sollen ergreift „in der Daseinswirklichkeit der Gemeinschaft der Familie, der Gesellschaft des Staates, aus dem Anspruch der Religion“, indem sie die „Möglichkeiten des Tuns in der geschichtlichen Welt nach allen Seiten“ durchschreitet und „sich in der Konkretheit wirklichen Gehalts“ durch „dialektische Erörterung“ und „objektiv
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
S. 359. S. 358. S. 359. S. 356 f. S. 357. S. 360. S. 436.
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nicht fixierbare, aber alles menschliche Leben durchdringende Abgestuftheit […] an die Ursprünge des Menschen in seinem Selbstsein“ wende.⁵⁶ Es fällt schwer, sich auch nur in Umrissen vorzustellen, wie eine Ethik gemäß diesem Phantombild aussehen könnte, geschweige denn, sie zu rekonstruieren. Völlig unklar aber bleibt die grundlegende Frage: Wenn die Kriterien des „objektiven“ Sollens nicht ausreichen, um subjektive (existenzielle) Entschlüsse zu rechtfertigen, oder mit diesen sogar in Widerspruch geraten können, was ist dann – bezogen auf das existenzielle Müssen – das letztlich maßgebliche Entscheidungsprinzip? Jaspers verweist uns auf einen existenziellen Imperativ als Maßstab für die „geschichtlich sich bindende Freiheit“: Was ich tue, soll so sein, „daß ich das, was ich in meinem Tun bin, ewig sein will“.⁵⁷ Es ist ein Imperativ, dessen Deutung wiederum alles offen lässt – die Nietzscheanische Version: so zu handeln, dass man bereit ist „zum Wiederholen in ewiger Wiederkehr“, eine an Sartre erinnernde: „daß ich die Verantwortung für alle möglichen Folgen mit hineinzunehmen gewillt bin“, und schließlich die Kierkegaard-Jaspersche: „dass ich in dem Tun als Erscheinung den Ausdruck eines darin sich offenbarenden eigentlichen Seins ablese“.⁵⁸ Aber wie verhält sich dieser Imperativ zu dem von Jaspers ebenfalls hochgehaltenen (leicht umformulierten) Kantischen Imperativ des Handelns: „Was ich tue, soll so sein, dass ich wollen kann, die Welt überhaupt sei so, dass es überall geschehen müsse“?⁵⁹ Falls der Imperativ des Handelns die Kriterien für Gut und Böse vorgibt, steht dann der existenzielle Imperativ jenseits von Gut und Böse? Kann man nicht auch – für alle Ewigkeit, in voller Identität mit sich selbst – sich gegen die Sollensmoral überhaupt entscheiden und „unbedingt“ böse sein wollen? 1932, in seiner Philosophie, scheint Jaspers dies für möglich zu halten. Das Böse – das nur ein „böser Wille“ sein könne – , sei, so die von Jaspers entwickelte „Konstruktion“,⁶⁰ nicht das Triebhafte, nicht die Unentschiedenheit und nicht der Mangel an Unbedingtheit, sondern eine „andere Unbedingtheit: gegen das Sein“. Es sei ein Wille, der nicht das mögliche Selbstsein der Existenz, sondern das empirische „Eigendasein in seiner Nichtigkeit will“, „der Widerspruch: in voller Klarheit das Nichts zu wollen, in der Leidenschaft des Vernichtens von Anderem sich selbst vernichten zu wollen“.⁶¹ Dieses Böse in der „Radi-
Ebd. S. 362 f. Ebd. S. 269. Ebd. Ebd. Konstruktion darum, weil das Böse keine empirische Realität in dieser Welt ist. Jaspers (1973), Bd. 2, S. 171.
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kalität seines Zerstörens“ sei nicht ohne Größe, wenn auch nur gegenüber „dem Lauen und Unentschiedenen“.⁶²
VIII Der existenzielle Entschluss und die Unbedingtheit des Guten – eine Absage an die Situationsethik? Aufgrund seiner Erfahrungen mit dem realen Bösen des Hitlerschen Verbrecherstaats scheint Jaspers die Gefahr erkannt zu haben, die darin liegt, auch dem Bösen noch Unbedingtheit zu attestieren: die Gefahr nämlich, das Böse zu einer dämonischen Macht empor zu stilisieren, die gleichrangig neben dem Guten steht und die nicht am Maßstab von Gut und Böse, sondern allein an dem der Größe gemessen sein will – groß zu sein im „tapferen Tun“ des Bösen, preiswürdig in seinem Heroismus.⁶³ Der Mensch, so formuliert Jaspers 1946 nun scharf, macht sich fälschlich zum Gott, wenn er sich über den Gegensatz von Gut und Böse erhaben glaubt. Denn: „Nur Gott ist, für uns unvorstellbar, ohne Wahl, weil über allen Entscheidungen.“ Nur er ist weder notwendig noch frei. Der Mensch dagegen ist frei und darum immer in der Entscheidung, immer „im Kampf zwischen gut und böse“.⁶⁴ Unbedingtheit könne nur Unbedingtheit des Guten sein. Und das unbedingt Gute müsse immer wieder neu errungen werden in dreistufigem Kampf. Erstens: im Kampf gegen das „moralisch Böse“, d. h. gegen „die unmittelbare und uneingeschränkte Hingabe an Neigungen und sinnliche Antriebe, an die Lust und das Glück dieser Welt“, ohne dieses Tun und dieses Glück „unter die Bedingung des moralisch Gültigen“, das „allgemeine Gesetz des moralisch richtigen Handelns“, zu stellen. Zweitens: im Kampf gegen das „ethische Böse“, gegen die „Verkehrung, wie Kant sie verstand: dass das Unbedingte der moralischen Forderung zwar gewollt, im Gehorsam gegen das Gesetz des Guten jedoch nur soweit befolgt wird, als es unter der Bedingung einer ungestörten Befriedigung der sinnlichen Glücksbedürfnisse möglich ist“.⁶⁵ Drittens: im Kampf gegen das „me-
Ebd. S. 172. Jaspers nimmt eine der ersten Nummern der von ihm ab 1945/46 mit herausgegebenen Monatsschrift Die Wandlung zum Anlass, auf diese Frage zurückzukommen. Sein Artikel „Das Unbedingte des Guten und das Böse“ wird hier zitiert nach dem Sammelband: Karl Jaspers, Das Wagnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze zur Philosophie, hrsg. von Hans Saner, München: Piper 1996, S. 86 – 98., zit. 91,97. Ebd. S. 97 f. Ebd. S. 86.
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taphysische Böse“: gegen „den Willen zur Zerstörung als solcher, den Antrieb zum Quälen, zur Grausamkeit, zur Vernichtung […] von allem, was ist und was Wert hat“. Das unbedingt Gute verwirklicht sich auf jeder dieser drei Stufen: als „Beherrschung der unmittelbaren Antriebe durch den Willen, der dem sittlichen Gesetz folgt“; als „Wahrhaftigkeit der Motive“ und „Reinheit des Unbedingten gegen die Verkehrung des Bedingungsverhältnisses“; „als Liebe gegen den Hass“.⁶⁶ Jede Stufe aber, so führt Jaspers weiter aus, erfordere zu ihrer Verwirklichung einen existenziellen Entschluss auf der je folgenden Stufe: „Die Richtigkeit des Guten hat ihren verlässlichen Grund erst in dem Gehalt der Liebe der dritten Stufe. […] Denn ohne den Gehalt der Liebe keine Reinheit der Motive und keine inhaltliche Erfüllung des moralischen Gesetzes.“⁶⁷ Mit dieser Stufentheorie beantwortet sich – zumindest im Prinzip – auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen existenziellem Entschluss und „objektiver“ Norm: Das „moralisch Gültige“ – was immer Jaspers darunter verstehen mag, ob den Kategorischen Imperativ Kants, die von ihm früher als „mechanisch und tot“ bezeichneten „Sollenssätze“ oder die mithilfe des Kategorischen Imperativs gerechtfertigten Handlungsmaximen – wird auch auf Stufe drei nicht infrage gestellt, sondern nur mit „Gehalt erfüllt“. Wo aber bleibt nun die in den früheren Schriften dominierende Spannung zwischen objektivem Sollen und existenziellem Entschluss, wo der Appell des Situationsethikers Jaspers zur Entscheidung in geschichtlicher Situation? Aus heutiger Distanz könnte man sagen: Jaspers’ Insistieren auf das „individuelle Gesetz“ in konkreter Situation war von Anbeginn mit einer Konfusion belastet. Man kann es verstehen als dramatische Zuspitzung des schlichten Sachverhalts, dass kein Begriff, keine Norm und keine Regel auch schon die Regel ihrer Anwendung auf den Einzelfall enthält⁶⁸ und dass darum meine Verpflichtung auf einen Begriff oder eine Norm mir keineswegs das Nachdenken und das immer wieder neue Urteil darüber erspart, ob ein vorliegender Einzelfall nun darunter zu subsumieren sei oder nicht. Unfähigkeit zu eigenem Urteil kann darum mit Recht als jener verhängnisvolle moralische Defekt angesehen werden, den (die Jaspers-Schülerin) Hannah Arendt – mit ihrer provozierenden Formel von der Banalität des Bösen – Eichmann attestiert hat. Der Mut zum eigenen Urteil ist auch durch die sogenannten Anwendungs-Diskurse nicht zu ersetzen, die für
Ebd. S. 87. Ebd. S. 88. Andernfalls gerieten wir in den unendlichen Regress, dass auch diese Regel der Anwendung wieder einer Regel der Anwendung bedürfte usf. Man vgl. dazu die von Wittgenstein ausgelöste Diskussion der Frage, was es heißt, einer Regel zu folgen resp. in Übereinstimmung mit einer Regel zu handeln.
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einige Zeit – inzwischen ist es um sie wieder ruhiger geworden – die moral-philosophische Diskussion Deutschlands beherrschten. Ein Urteil in einem Einzelfall aber, der sich der Anwendung bisheriger Regeln widersetzt – bei der Kollision z. B. zwischen Lügenverbot und Pflicht, ein bedrohtes Leben zu retten –, kann nur dann nicht als willkürlich gelten, wenn auch dieses Urteil wiederum eine Verpflichtung auf eine nunmehr modifizierte Regel einschließt: die Regel z. B., zwar nie zu lügen, aber lügen in all jenen Situationen für erlaubt zu halten, die in relevanter Hinsicht gleich sind wie die hier und jetzt gegebene Situation. Darum ist hier ja auch, Kantisch gesprochen, nicht die bestimmende, sondern die reflektierende Urteilskraft gefragt, das Vermögen vom Einzelfall zur Regel zu kommen. Dies dürfte letztlich auch Jaspers gemeint haben, wenn er von den moralischen Inhalten des Handelns sagt, sie seien nicht aus dem Gesetz zu deduzieren, sondern im Blick auf die mögliche Allgemeinheit aus der konkreten Erfahrung der geschichtlichen Existenz zu gewinnen. Nicht der Allgemeinheitsgrad meiner Regeln ist dann entscheidend – nicht, ob die Regel ganz allgemein lautet, nie zu lügen, oder, spezifischer, nie zu lügen, außer wo ein Leben auf dem Spiel steht – sondern ob ich überhaupt bereit bin, mich unter Regeln zu stellen, die ich, Kantisch gesprochen, zum Gesetz erheben, resp., wie man heute sagen würde, universalisieren kann: Indem ich nicht nur für hier und jetzt sage, was zu tun ist, sondern für jede relevant gleiche Situation.⁶⁹ Dennoch – und diesen Punkt hat Jaspers mit Recht ins Zentrum gehoben – besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen den allgemein anerkannten einfachen moralischen Sätze von der Art des „Du sollst nicht lügen“, die mit „objektiver“ Macht sprechen und von denen abzuweichen ein mit Schuldgefühlen behafteter Tabubruch zu sein scheint, und den aufgrund der reflektierenden Urteilskraft in einem schwierigen Einzelfall gewonnen tentativen
Universalisierbarkeit (in diesem Sinn) ist in Hares Präskriptivismus neben der Präskriptivität das zweite Grundmerkmal moralischer Urteile. Die Begriffe „universal“ und „allgemein“ gilt es dabei klar auseinanderzuhalten: Universal ist ein Urteil, das – im Gegensatz zu einem partikularen Urteil – keine Individuenkonstanten, d. h. keine Eigennamen, Demonstrativa oder Kennzeichnungen wie „Schüler von Platon“ enthält. Universalität ist darum keine Frage des Grades, sondern des Entweder-oder. Die Allgemeinheit eines Urteils dagegen ist bestimmt durch den Begriffsumfang der verwendeten Prädikate: Die Forderung, nie einen Menschen zu belügen, ist allgemeiner als die Forderung, nie ein Kind zu belügen, und diese wiederum allgemeiner als die, nie die eignen Kinder zu belügen. Hier gibt es offensichtlich Unterschiede im Allgemeinheits- resp. Spezifikationsgrad. Es ist eines der Verdienste von Richard M. Hare, besonderen Nachdruck auf diese Unterscheidung gelegt zu haben. Vgl. etwa Freedom and Reason, Oxford: University Press 1961, S. 30 – 50 oder zuletzt wieder: Sorting Out Ethics, Oxford: Clarendorn Press 1997, S. 96 f., 142.
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und zumeist strittigen Urteile.⁷⁰ Strittig nicht darum, weil diese Modifikationen der einfachen moralischen Normen nicht zu rechtfertigen wären – in diesem Punkt ist Jaspers wiederum zu dramatisch –, sondern weil ihre Rechtfertigung eine umfassende Situationsklärung, einen unbestechlichen Blick für die Fakten und Konsequenzen und eingehende Überlegungen verlangt, die in besonderem Maße anfällig sein können für sophistische, von Eigeninteressen getrübte Argumentationen. Umso wichtiger wird darum die von Jaspers betonte existenzielle Kommunikation, die vor allem eines impliziert: dass ich mich von dem, was ich faktisch bin, den Vorlieben und Neigungen, Sympathien und Antipathien, Werturteilen und Vorurteilen meines empirischen Selbst distanziere und mich auf ein erst noch zu ermöglichendes, für den Anderen offenes Selbstsein hin „transzendiere“: durch meine Bereitschaft, mich in der existenziellen Kommunikation vom Anderen von Grund auf infrage stellen zu lassen und nach einem Urteil zu suchen in „Solidarität“ mit dem Andern.⁷¹ Existenzielle Kommunikation kann darum auch verstanden werden als das Medium, das die Universalisierbarkeit meines Urteils ermöglichen könnte – Universalisierbarkeit in jenem dreifachen Sinn, den John Mackie von einem wahrhaft universalisierbaren Urteil verlangt: dass ich dem Urteil nicht nur in jeder relevant gleichen Situation zuzustimmen bereit bin, sondern auch dann, wenn ich in eben dieser Situation an der Stelle des Anderen wäre und wenn ich überdies auch die Vorlieben, Ideale und Neigungen des Andern hätte.⁷² Um aber auch zu diesem letzten Schritt fähig zu sein – in meinem Urteil solidarisch zu sein mit dem Andern in seinem Anderssein, ihm die Freiheit zu geben, die ich für mich selber will – bedarf es dann wohl in der Tat jener dritten,
Hilfreich zur Klärung dieses Unterschieds ist Hares Unterscheidung zwischen zwei Stufen des moralischen Denkens: dem intuitiven und dem kritischen Denken. Im intuitiven Denken folgen wir den einfachen moralischen Regeln, die wir uns in unserer Sozialisation angeeignet haben, kritisches Denken ist erforderlich in allen moralisch strittigen Fällen, in denen wir nicht weiter wissen und die darum gründliches Nachdenken erfordern. Um zu dem moralisch richtigen Urteil zu kommen, wären nach Hare das Wissen und das unparteiische Denkvermögen eines Erzengels erforderlich. (Vgl. Moral Thinking. Its Levels, Method and Point, Oxford: Clarendon 1981, S. 44– 64.) Jaspers (1996), S. 64 f. John L. Mackie, Ethik. Die Erfindung des moralisch Richtigen und Falschen, Stuttgart: Reclam 1981, Kap. 4. Dass Universalisierbarkeit im moralisch relevanten Sinn alle diese Stufen umfassen muss, hat auch Hare, entgegen Mackies Kritik (S.123), durchaus gesehen. Hares Universalisierbarkeitstest für die Richtigkeit moralischer Urteile begnügt sich aber immer wieder mit der reichlich mystisch anmutenden Formel, ich müsse mich in die Schuhe des von meiner Handlung betroffenen Anderen versetzen – ohne jeden Hinweis, wie dies nun vonstatten gehen soll. Der Andere in Jaspers’ existenzieller Kommunikation ist vermutlich in den seltensten Fällen zugleich auch der von meiner Handlung Betroffene, aber indem ich mich auf den mit mir existenziell verbundenen Menschen hin öffne, bleibe ich auch offen für jeden weiteren Anderen.
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„metaphysischen“ Stufe des Jaspersschen existenziellen Entschlusses: der Liebe. Mit Jaspers mag mir dann aufgehen: Liebe ist ein Ursprung, aus dem heraus ich will, aber Liebe selber kann ich nicht wollen. Ich erfahre sie, als würde ich mir selbst geschenkt in meinem Liebenkönnen.⁷³ Ich kann darum nicht lieben, ohne auch jenes umfassende Sein zu lieben, das mich und meine Liebe trägt.⁷⁴ Aber dieses Ja zu dem umfassenden Sein hat seinen Preis: Zwischen ihm und mir liegt eine Erfahrung, die der Mensch nur auf dieser Stufe machen kann: die Erfahrung, gerade durch seine Liebe auf moralisch schuldlose Weise unausweichlich schuldig zu werden. Jaspers nennt sie – in seiner Schrift zur Schuldfrage – die metaphysische Schuld. Und worin besteht diese Schuld?
IX Das Scheitern der Moral und die irritierende Frage nach der Transzendenz Das Einzelne, Konkrete lieben kann ich nur, indem ich all das bekämpfe, was dieses Einzelne bedroht, in der mildesten Form: indem ich all das Andere ausschließe, das ich auch noch lieben könnte. Damit werde ich schuldig an diesem Anderen, das ja immer diese andern Menschen sind. Bereits die existenzielle Kommunikation lässt mich auf diese Weise schuldig werden: Sie schafft zwar „eine unbedingte Gemeinschaft“ zwischen zweien, aber diese Gemeinschaft ist wesentlich „nicht universal“.⁷⁵ Die „unbedingte Solidarität“, die die beiden Partner verbindet, bleibt allen andern Menschen – die ebenfalls „mit mir mögliche Existenzen“ sein könnten – vorenthalten.⁷⁶ In dieser Verengung liegt schon die Schuld.⁷⁷ Die Schuld spitzt sich noch zu in einer „Situation, wo Unrecht und Verbrechen geschehen“, wo andere getötet werden und ich nicht – wie ich es tun würde, wenn es den mit mir existenziell verbundenen Menschen träfe – meine Leben opfere, um dies zu verhindern. In dieser Situation kann in mir die Stimme sich melden, die
Jaspers (1996), S. 88. Ebd. S. 89. Wörtlich: „Was ich liebe, von dem will ich, daß es sei. Was eigentlich ist, das kann ich nicht erblicken, ohne es zu lieben. Die Fülle der gegenwärtig werdenden Wirklichkeit ist die Fülle der Liebe. Daher ist das Gute gebunden an das Seinsbewusstsein im Ganzen. Wie mir Wirklichkeit aus dem metaphysischen Grund fühlbar wird, das ist die Weise, wie ich liebe, und ist der Gehalt meiner Liebe.“ Jaspers (1973), Bd. 2, S. 427. Erhellend dazu: Dominic Kaegi, „Was ist metaphysische Schuld,“ in Jahrbuch der Österreichischen Karl Jaspers Gesellschaft, 14 (2001), S. 9 – 40, bes. 26 ff. Jaspers (1973), Bd. 2, S. 247. Ebd. S. 60.
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Jaspers zu hören glaubt und die ihn nach dem Zusammenbruch der Nazi-Herrschaft – öffentlich – bekennen lässt: „daß ich noch lebe, ist meine Schuld“ – meine metaphysische und nicht meine moralische Schuld, denn: „Moralisch besteht keine Forderung, das Leben zu opfern bei sicherem Wissen, dass damit nichts erreicht wird.“⁷⁸ Im Wissen um diese Grenzsituation der Schuld dennoch zu lieben und Ja zu sagen zu dem umfassenden Sein, das mich nicht nur lieben, sondern auch schuldlos schuldig werden lässt: Das ist der Sprung, den die dritte Stufe des existenziellen Entschlusses mir abverlangt. Dieser Sprung setzt das Eingeständnis voraus, dass die moralische Lebensform als solche zum Scheitern verurteilt ist. Für Kierkegaard und seine Pseudonyme ist der Zusammenbruch des Ethischen im absoluten Schuldbewusstsein der Anlass zum Sprung ins Religiöse und – durch Transformation des Schuldbewussteins in das Sündenbewusstsein – zum Sprung ins Paradox-Christliche; für Jaspers der Grund, von jeder Form der moralischen und ethischen Selbstgerechtigkeit, des Moralismus und „Richtertums“ über andere, Abstand zu nehmen,⁷⁹ „vermeidbare Schuld auch wirklich zu meiden, um zur eigentlichen, tiefen, unvermeidbaren Schuld zu kommen“ und, durch Anerkennung meines Schuldigseins, den „Aufschwung“ zu wagen zu dem Bewusstsein, dass unser schuldhaftes Dasein auf uns unbegreifliche Weise mit dem umfassenden Sein verknüpft ist. Dieses Seinsbewusstsein könne mir zwar für den Augenblick Gelassenheit schenken, aber weil die Unruhe bleibt, werde es mich immer wieder neu dazu anspornen, nun vollends zur Klarheit zu bringen, was ich hier und jetzt zu tun habe und was ich eigentlich will in dieser Welt.⁸⁰ Damit sind wir ein weiteres Mal bei dem für die zeitgenössische Ethik wohl irritierendsten, aber – angesichts der in den letzten Jahren auf voller Breite wieder erwachten philosophischen Aufmerksamkeit auf die Frage der Religion in einem säkularen Zeitalter – vielleicht auch interessantesten Punkt der Jasperschen Lehre: der Verbindung zwischen existenziellem Entschluss und Transzendenz. Sie stellt uns vor die Frage eines auch heute noch haltbaren Begriffs und Verständnisses dessen, was hier Transzendenz heißt. Jaspers’ religionsphilosophisches Spätwerk könnte auch in dieser Frage wegweisend sein.⁸¹ Nicht eben inspirierend Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg: Schneider 1946, S. 64. Jaspers (1996), S. 90, 98. Jaspers (1973), Bd. 2, S. 248 f., 252 ff., 291. Wie viel Potential in Jaspers Religionsphilosophie liegt, zeigt etwa der zum 125. Geburtstag von Karl Jaspers erschienene, seinem religionsphilosophischen Werk gewidmete Sammelband Glaube und Wissen – Croire et Savoir, in Studia Philosophica 67 (2008). Zu dem Versuch einer Verortung von Jaspers Religionsphilosophie im Kontext seiner Spätphilosophie vgl. Anton Hügli, „Jaspers’ Vorlesung ‚Die Chiffern der Transzendenz‘ im Kontext seines Schaffens während seiner Basler Zeit,“ in Karl Jaspers: Die Chiffern der Transzendenz, hrsg. von Anton Hügli und Hans Saner, Basel: Schwabe 2011, S. 115 – 134.
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jedenfalls dürfte die „deflationistische“ Deutung von Transzendenz sein, die uns Habermas anbietet: Die „transzendierende Macht“ begegne uns schon in den Kommunikationsformen der sprachlich strukturierten Lebenswelt, in denen wir uns über die Dinge in der Welt und über uns selbst verständigen; kein einzelner Teilnehmer könne die „Struktur oder gar den Verlauf von Prozessen der Verständigung und der Selbstverständigung kontrollieren“. „Im Logos der Sprache“ verkörpere „sich eine Macht des Intersubjektiven, die der Subjektivität der Sprecher voraus- und zugrunde liegt.“⁸² Mit dieser Macht des Intersubjektiven sind wir zwar ziemlich weit von dem entfernt, was bei Kant und Kierkegaard Gott und bei Jaspers Transzendenz heißt, wohl aber bei einem weiteren, letztlich auch die Transzendenz noch transzendierenden Medium, das Jaspers in seinen späteren Schriften in aller Deutlichkeit gesehen und in seinem Großprojekt einer philosophischen Logik zu explizieren versucht hat.⁸³ Die Notwendigkeit, sich diesem Medium zuzuwenden, zeigt sich schon im Zusammenhang mit der Jaspersschen Darstellung der drei Stufen des existenziellen Entschlusses: Wenn ich mich des existenziellen Entschlusses in allen seinen Abstufungen vergewissern will, bedarf ich nicht nur der moralischen Reflexion und der der Existenzerhellung dienenden existenziellen Kommunikation, sondern – zur Erhellung des Seinsbewusstseins auf der dritten Stufe im Zusammenhang mit den übrigen Stufen insgesamt – der Kommunikation im Raum des umfassendsten und selber wieder in der Existenz gründenden Erkenntnisvermögens, dem der philosophischen Vernunft. Was als gut gelten soll, muss letztlich vor der Vernunft selber bestehen können. Das Gute, so Jaspers, ist nicht auflösbar in die moralischen Gesetze,wenn es auch ohne sie sich nicht verwirklichen kann. Es ist […] nicht wirklich ohne die durch Existenz getragene grenzenlose Bewegung der Vernunft[.]⁸⁴
Dass auch die Vernunft selber in der Existenz gründet, heißt auf den einfachsten Nenner gebracht: Die Frage, auf welche Weise ich denke, welcher Logik ich folge, welche Kategorien ich benutze, welche metaphysischen Annahmen ich treffe, ist selber wieder eine ethische, an meine Verantwortung appellierende Frage: ob ich Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 25 f. Diese Logik, von der er selbst nur den ersten Band, das 1947 erschienene Monumentalwerk Von der Wahrheit, veröffentlicht hat, sollte zum eigentlichen Organon werden für das Denken der sich selbst reflexiv erhellenden Vernunft. In welchen Dimensionen Jaspers diese Arbeit geplant hat, zeigt der Nachlass zur Philosophischen Logik (vgl. Nachlass zur Philosophischen Logik, hrsg. von Hans Saner und Marc Hänggi, München: Piper 1991). Jaspers (1996), S. 90.
Die Bedeutung existenzphilosophischen Denkens für die Ethik
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auch einzustehen bereit bin für die Art und Weise, wie ich denke und urteile, und für das, was ich glaube oder verwerfe. Die von Jaspers entwickelte, der Klärung des Wahrheitssinns und der Disziplinierung der Vernunft dienende philosophische Logik versteht sich darum konsequent als „Ethik des Denkens“.⁸⁵ Diese Ethik aber hat, schlicht ausgedrückt, nur ein Ziel: Vernunft in die Welt zu bringen. Es ist dieses eine Ziel, dem Jaspers mit seiner Philosophie nach Kräften zu dienen versucht hat: mit seinen theoretischen Schriften ebenso wie mit seinen politischen, in denen Politik und Moral sich durchdringen bis zur Untrennbarkeit. Man ist versucht zu sagen: Jaspers brauchte keine Ethik zu schreiben, weil seine Philosophie selber schon diese Ethik ist. Und eben darin liegt vielleicht – über alle noch zu explorierenden Einzelbezüge hinaus – ihre höchste Aktualität: gegenüber einer immer technischer werdenden, in disziplinäre Mikrodiskurse zerfallenden Philosophie das Bewusstsein wieder wecken zu können, dass Ethik nicht bloß eine Disziplin der Philosophie unter anderen ist, sondern dass Philosophie – wenn sie eine Philosophie der Freiheit sein will – selber nicht anders als ethisch sein kann. Primat der praktischen Philosophie vor der theoretischen hat das mal geheißen; Anthropologie – die eingangs erwähnte kantisch-pragmatische nämlich – statt Metaphysik, heißt dies neuerdings.
Karl Jaspers: Von der Wahrheit (1947), München: Piper 1958, S. 8, 10.
Dániel Bíró
Freiheit, Wert und Sittengesetz – die Ethik Sartres im Zusammenhang mit Kant und Scheler Abstract: I shall investigate the specific character of Sartrean ethics, by interpreting them in distinction to two alternative ethical outlines: the pure ethics of Immanuel Kant and the non-formal ethics of value of Max Scheler. These comparisons are not meant to give priority to a historical connection, but rather to envision a systematic one. They permit the formulation of two crucial premises of Sartrean ethics: (1) human beings strive for good and (2) this striving contradicts itself in manifold ways. On this basis, I shall sketch out Sartre’s ethics. Although I am targeting a Sartrean ethics as a whole, I will concentrate on his so called ‘first’, ‘early’, or ‘existentialist’ ethics, which are investigated by him in connection with Being and Nothingness (1943).
Einleitung Die leitenden Fragestellungen der folgenden Überlegungen lauten: Was heißt Ethik im Sinne von Sartre? Was wollen wir wissen, wenn wir ethische Überlegungen im Sartreschen Verständnis anstrengen? Um was für einen Typus von Ethik handelt es sich dabei? Diese Fragen werde ich beantworten, indem ich zwei Prämissen der Sartreschen Ethik herausarbeite. Zugegebenermaßen ist diese Herangehensweise abstrakt, und ich werde hier nicht mehr leisten können, als ein bestimmtes Schema der Sartreschen Ethik zur Diskussion zu stellen. Die beiden im Untertitel genannten Autoren, Kant und Scheler, d. h. ihre moralphilosophischen Denkentwürfe einer reinen Ethik bzw. einer materialen Wertethik, dienen mir dabei als Absetzungspunkte, um diese zwei Prämissen sichtbar zu machen. Die erste, die ich in Auseinandersetzung mit Kant gewinne, lautet: Der Mensch strebt nach dem Guten. Die zweite, welche ich durch eine Absetzung von Scheler motiviere, besagt: Dieses Streben nach dem Guten gerät mit sich selbst in Widerspruch. Diese beiden Prämissen sind schon die Prämissen von Sartres erstem Hauptwerk Das Sein und das Nichts, in welchem er die abstrakte Struktur des menschlichen Strebens nach dem Guten, das mit sich selbst in Widerspruch gerät, auf verschiedenen ‚Konkretionsebenen‘ untersucht. Ich werde also abschließend behaupten (und demonstrieren), dass die phänomenologischontologischen Untersuchungen zugleich den Kerngehalt der Sartreschen Ethik
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Dániel Bíró
ausmachen und diese also nicht, wie Sartre manchmal suggeriert, erst noch zu schreiben gewesen wäre; was Sartre schließlich, obwohl er hier mehrere Anläufe unternommen hat, nicht in einer Weise gelungen ist, dass ‚die Ethik‘ als ein eigenständiges, systematisches Werk hätte veröffentlicht werden können. Diese These entwickle ich hier mit Hinblick auf seine ‚frühe‘ oder auch ‚erste‘ Ethik. Ob und inwiefern sich diese Auffassung auch auf die sogenannte ‚zweite‘ Ethik der sechziger Jahre übertragen lässt (wovon ich ausgehe), ob also das Projekt einer strukturalen Anthropologie, welche Sartre in der Kritik der dialektischen Vernunft entworfen hat, ebenso wie jenes der phänomenologischen Ontologie selbst in gewissem Sinne als eine Ethik zu verstehen ist, muss hier offenbleiben.
I Kant Traditionellerweise versteht man unter philosophischer Ethik oder Moralphilosophie Theorien, die sich mit ‚Gut‘ und ‚Böse‘ auseinandersetzen. Gefragt wird also etwa nach Natur und Bestimmung, nach der Möglichkeit, der Herkunft oder auch den Kriterien des Guten und des Bösen, insbesondere in ihrer Bezogenheit auf den Menschen: Was ist gut und böse? Was macht etwas gut oder böse? Wo sind solche ‚Prädikate‘ überhaupt zu lokalisieren (Person, Willensakt, Handlung etc.)? Diese Fragen haben oft auch eine praktische Dimension, die einerseits die Feststellbarkeit des Guten und des Bösen, andererseits aber ihre Erreich- bzw. Vermeidbarkeit betrifft. Bekanntlich ist eines der Hauptparadigmen neuzeitlicher Moralphilosophie, das systematisch und umfassend Antworten auf solche Fragen formuliert, die Ethik Immanuel Kants. Unter ihren Prämissen steht nach wie vor auch noch ein Großteil der gegenwärtigen Ethik-Diskussionen. Diese Einschätzung wurde auch schon von Sartre geteilt, davon zeugt seine bekannte Abhandlung Der Existentialismus ist ein Humanismus. Diese Schrift ist ursprünglich eine in defensiver (apologetischer) und popularisierender Absicht gehaltene Rede. Hier spart Sartre bekanntlich nicht mit ‚kantianisierenden‘ Unter- und Obertönen. Er formuliert hier etwa: „Wenn wir sagen, der Mensch wählt sich, verstehen wir darunter, jeder von uns wählt sich, doch damit wollen wir auch sagen, sich wählend wählt er alle Menschen. In der Tat gibt es für uns keine Handlung, die, den Menschen schaffend, der wir sein wollen, nicht auch zugleich ein Bild des Menschen hervorbringt, wie er unserer Ansicht nach sein soll.“¹
Jean-Paul Sartre, „Der Existentialismus ist ein Humanismus,“ in Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943 – 1948, in Gesammelte Werke in Einzelaus-
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Nun tauchen anlässlich dieser und ähnlicher Behauptungen Sartres, die den kategorischen Imperativ in seinen eigenen existenzialistischen Jargon zu übersetzen scheinen, schwerwiegende Zweifel auf: Ist das mit den Bestimmungen der menschlichen-Realität, die Sartre im drei Jahre zuvor erschienenen Das Sein und das Nichts gegeben hat, überhaupt verträglich? Ist das wirklich der Kerngehalt seiner dort angekündigten Ethik? Und vor allem: Ist dieser ‚sartreanisierte‘ Kant ein sinnvoller Ansatz für die Moralphilosophie? Kritische Vertreterinnen und Vertreter der Sartreforschung knüpfen an solche Fragen an und entscheiden sie tendenziell zu Ungunsten Sartres. Gekoppelt sind diese Argumentationsstrategien oft mit einer Lektüre von Das Sein und das Nichts, die dieses Werk als Ausdruck von ‚Pessimismus‘ oder gar ‚Nihilismus‘ versteht. Zwar halte ich ein solches Verständnis von Sartres Denken für grundsätzlich verfehlt, aber die genannten negativen Konsequenzen für Sartres Ethik haben unter der hier stillschweigend gemachten Voraussetzung, dass nämlich diese Ethik an jener Kants zu messen sei, durchaus eine gewisse Plausibilität. Meine These aber lautet: Diese Voraussetzung selbst muss aufgegeben werden, wenn wir verstehen wollen, was Sartres Ethik ist. Um das zu demonstrieren, möchte ich mich einem positiven, d. h. Sartre wohlgesinnten Rekonstruktionsversuch zuwenden, der jedoch unter der oben erwähnten Voraussetzung steht, Helmut Fahrenbachs exzellenter Studie Existenzphilosophie und Ethik. ² Fahrenbach zeichnet hier eine Traditionslinie von Ethik nach, die bei Kant abhebt und sich über das ‚existenzdialektische Korrektiv‘ Kierkegaards und eine tief greifende Erschütterung des moralphilosophischen Problemhorizontes durch Nietzsches skeptische Moralkritik bis zu den Existenzphilosophen des zwanzigsten Jahrhunderts durchzieht, insbesondere eben zu Sartre. Unter dieser Perspektive, die grundsätzlich berechtigt und erhellend ist, ist es verständlich, dass Fahrenbach den ‚kantianisierenden‘ Sartre von Der Existentialismus ist ein Humanismus wählt, wenn er von dessen Ethik spricht. Dabei halte ich eine Verteidigung Sartres durch Fahrenbach für äußerst wichtig. Diese betrifft allerdings schon den Ontologen von Das Sein und das Nichts und nicht erst den ‚Ethiker‘. Fahrenbach weist hier ein ‚individualistisches Missverständnis‘ von Sartres Lehre zurück. Hiernach würde also Sartres Behauptung, wonach der Grundsatz der existenzialistischen Ethik darin bestehe, die Freiheit zum höchsten Wert zu nehmen, bedeuten, je meine Freiheit zum höchsten Wert zu erklären. Von daher bliebe es also zweifelhaft, warum ich zugleich, wie Sartre hier in der Existenzialismusschrift nunmehr behauptet, die Freiheit der Anderen als höchsten gaben, hrsg. v. Vincent von Wroblewsky, Philosophische Schriften, Bd. 4, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 150 f. Vgl. Helmut Fahrenbach, Existenzphilosophie und Ethik, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1970.
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Wert ansehen sollte. Eine solche Leseweise übersieht, so weist Fahrenbach überzeugend nach,³ dass die Kategorie des Für-Andere-seins, für das was Sartre die menschliche-Realität nennt, unableitbaren (nämlich vom ‚Subjekt‘ unableitbaren) und konstitutiven Charakter hat. Die Konsequenz hieraus aber ist, dass es schlichtweg keinen Sinn macht, von einer Freiheit (in numerischer Identität) zu sprechen, wenn diese nicht als in einem unauflöslichen Zusammenhang mit anderen Freiheiten verstanden wird. Das ist also das eine, das ich zu Fahrenbachs Ausführungen positiv festhalten möchte und betrifft die Ontologie Sartres. Meine zweite Beobachtung, die nunmehr kritisch ist, zielt auf das ab, was Fahrenbach als Sartres Ethik rekonstruiert, genauer gesagt, auf das Thema der Universalität, der Allgemeinheitsdimension einer Wahl. Der Autor knüpft hier an solche Aussagen Sartres an wie: „Ich erschaffe das Allgemeine, indem ich mich wähle.“⁴ Fahrenbachs Strategie besteht darin, zugleich die Unterschiedlichkeit und die Gemeinsamkeit von Kant und Sartre in den Blick zu nehmen, indem er nämlich behauptet: Auch die Sartresche Ethik sei auf Universalität bezogen, allerdings in einer anderen Weise als bei Kant; während bei Kant die ‚allgemeine Vernunftstruktur‘ des Menschen als etwas a priori Gegebenes, das heißt als ein quasi-ewiger (überzeitlicher) ‚Maßstab‘ vorausgesetzt wäre, dem der Mensch in seinen einzelnen Handlungen entsprechen ‚soll‘, wäre der Mensch bei Sartre, der einen solchen apriorischen Maßstab ablehnt, auf Universalität als eine ‚Aufgabe‘ bezogen, die es je zu realisieren gilt. Das hieße also, Universalität wäre für Sartre relevant als ein Allgemeinheitsanspruch an die eigene Wahl, unter welchen sich der einzelne Wählende qua Für-Andere-sein als gestellt zu akzeptieren hat und den er auch selbst stellt.⁵ Ich möchte die Plausibilität dieser Rekonstruktion hier nicht weiter diskutieren und ihre weiteren Einzelheiten nicht weiter verfolgen. Denn ich denke, dass schon ihre Konsequenz, sofern es sich hier nämlich um den Kerngehalt ⁶ der Sartreschen Ethik handeln soll, sie demgegenüber, was Sartre selbst als seine Ethik verstanden hat, als prinzipiell verfehlt ausweist: Sartre hat nach eigenen
Vgl. ebd. S. 151– 155. Sartre (2000), S. 167. Vgl. Fahrenbach (1970), S. 155 – 168. Mit der hier vorgetragenen Interpretation will ich keineswegs die Bedeutung von Universalität für die Ethik leugnen, auch nicht für die Sartresche. Mir geht es lediglich um die Behauptung, dass ihr hier nicht jene zentrale Rolle zukommt wie z. B. in einer Kantischen Konzeption und dass die Schwäche der Existenzialismusschrift gerade darin besteht, das Problem der Universalität in den Vordergrund zu stellen und es auf der anderen Seite nicht dementsprechend zu lösen.
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Angaben in der Phase der Neuorientierung nach Das Sein und das Nichts ⁷ (die dann schließlich zur Kritik der dialektischen Vernunft geführt hat) nach einer konkreten Ethik gesucht. Und es ist klar, dass Sartres Ethik in der Fahrenbachschen Perspektive als eine Variante ‚abstrakter‘, formalistischer Prinzipienethik⁸ figuriert, die aufgrund der von Sartre behaupteten Unbestimmtheit oder auch ‚Wesenslosigkeit‘ der Freiheit⁹ als eine verschärfte Form, nämlich als eine Art UltraFormalismus, erscheinen kann. Darunter verstehe ich eine mögliche prinzipienethische Position, die nicht nur den Grundsatz der Freiheit als höchsten Wert aufstellt, sondern sich in dieser Behauptung erschöpft, weil sie es ablehnt, den Begriff der Freiheit näher (nämlich inhaltlich) zu spezifizieren. Dass eine solche Interpretation, wie sie Fahrenbach hier herausarbeitet, durch diese Schrift, in der sich Sartre glaubt an Kant ‚anlehnen‘ zu müssen, nahegelegt wird, darin besteht nach meinem Verständnis ihre Problematik, die Sartre im Nachhinein die Publikation dieses Vortrages auch bereuen ließ. Und doch hält Sartre auch in der Existenzialismusschrift daran fest, dass eine ‚abstrakte‘ Ethik, die auf ein Prinzip von Moralität abzielt, seinem Ziel einer konkreten Ethik nicht dienlich sein kann.¹⁰ Eine solche konkrete oder auch ‚realistische‘ Ethik schwebt Sartre zwar auch hier vor, aber aufgrund der Voraussetzung, die er seinen Kritikern einräumt, dass nämlich für die Ethik ‚Universalität‘ das Zentralphänomen sei, kann der Eindruck entstehen, es handle sich bei seiner existenzialistischen Ethik um eine denkbar
Diese dokumentiert sich in posthum veröffentlichten Manuskripten. Vgl. Jean-Paul Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005; Jean-Paul Sartre, Wahrheit und Existenz, in Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Vincent von Wroblewsky, Philosophische Schriften, Bd. 10, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998. Ein Ethiktypus, den Sartre in dieser Zeit wiederholt kritisiert. Vgl. z. B. „Es gibt keine abstrakte Moral. Es gibt nur eine Moral in Situation, also eine konkrete Moral. Denn die abstrakte Moral ist die des guten Gewissens. Sie setzt voraus, dass man in einer von Grund aus amoralischen Situation moralisch sein kann. Die Moral ist Aufhebung dieser Situation. Aber bei ihrer Aufhebung bewahrt sie sie auf. Die Moral ist die Idee, dass man ohne Veränderung der Situation gut sein kann, kurz ‚es läuft ja doch alles auf das Gleiche hinaus‘. Es ist die Idee, dass man ‚sein Gewissen für sich haben‘ kann. Die Moral ist also Desinteresse, wenn sie abstrakt ist. Es ist eine Art, sich aus der Affäre zu ziehen. Es ist auch die Annahme, dass das Heil im Absoluten möglich ist.“ (Sartre (2005), S. 47) Es gilt, diese Tendenz in Sartres Denken ernst zu nehmen, will man sein Ethikkonzept verstehen, auch wenn solche Charakterisierungen z. B. mit Bezug auf Kants Ethik teilweise oder auch gänzlich unzutreffend sein sollten. Vgl. hierzu „Die Freiheit hat […] kein Wesen. Sie ist keiner logischen Notwendigkeit unterworfen […]: In ihr geht die Existenz der Essenz voraus und beherrscht sie.“ (Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, in Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Vincent von Wroblewsky, Philosophische Schriften, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 761) Vgl. Sartre (2000), S. 157 f., 173.
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abstrakte, nämlich ‚ultraformalistische‘, die sich in einem allgemeinen ‚Appell an einen blinden Aktivismus‘ erschöpfen würde. Und wie auch immer man eine solche konkrete oder realistische Ethik im Einzelnen zu charakterisieren haben wird, sie wird auf jeden Fall nicht in der Aufsuchung eines Prinzips der Moralität, eines Sittengesetzes bestehen. Um uns nun diese Sartresche Ethik mit dieser bislang noch unklaren Forderung nach Konkretheit besser veranschaulichen zu können, sollten wir auf eine in Der Existentialismus ist ein Humanismus scheinbar nur beiläufig hingeworfene Behauptung Sartres achthaben. Relativ zu Beginn dieses Textes heißt es hier: „Wählen, dies oder das zu sein, heißt gleichzeitig, den Wert dessen, was wir wählen, zu bejahen, denn wir können niemals das Schlechte wählen; was wir wählen, ist immer das Gute[.]“¹¹ Ich denke, dass Sartre hier die erste Prämisse seiner Ethik ausspricht. Und die Kantische Moralphilosophie zeichnet sich in meinem Verständnis gerade nicht dadurch aus,von dieser Prämisse auszugehen, wonach also der Mensch ‚von Natur aus‘ bzw. notwendigerweise nach dem Guten strebt. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, dass Universalität, nämlich als Universalisierbarkeit (als etwas den ‚Neigungen‘ prima facie Äußerliches) zum ersten und auch zum Zentralproblem der Ethik erhoben wird. Für Kant ist, grob gesprochen, die Welt unserer primären Neigungen in ethischer Hinsicht eine Welt des Chaos: von sich aus weder gut noch böse, sondern ‚moralindifferent‘. Und unter dieser Voraussetzung besteht das ‚moralische Problem‘ darin, in diese moralindifferente, animalischtriebhafte Sphäre der Neigungen zuallererst eine formierende (vernünftige) Ordnung hineinzubringen, deren Prinzip sich in dem von Kant aufgesuchten kategorischen Imperativ als Universalisierungsprinzip manifestiert.Wenn es nun aber, wie ich behaupte, nicht dieses ‚Problem der Allgemeinheit‘ ist, zu welchem wir von Sartre Lösungen erwarten sollten, welches dann? Und was hat es mit der Forderung nach Konkretheit auf sich? Um auf diese Fragen antworten zu können, möchte ich mich nun der zweiten Prämisse der Sartreschen Ethik zuwenden.
II Scheler Damit komme ich zu meinem zweiten Vergleichsmoment, zur Ethik Max Schelers. Ein Seitenblick auf Scheler bietet sich insofern an, als dieser sich zumindest in der hier relevanten Werkperiode, nämlich seiner sogenannten ‚mittleren‘, ebenso wie
Ebd., S. 151.
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Sartre als Phänomenologe verstanden hat.¹² Dies ist nicht der Ort, auf die sich hieraus ergebenden Gemeinsamkeiten mit Bezug auf Methode, Überzeugungen oder Themenschwerpunkte einzugehen. Deshalb, weil ich für meine Zwecke hier auf eine bestimmte Differenz zu Sartre hinweisen möchte. Zu den Gemeinsamkeiten gehört aber das, was ich als erste Prämisse der Sartreschen Ethik bezeichnet habe. Auch für Scheler strebt der Mensch per definitionem nach dem Guten. Interessanterweise ist diese Auffassung bei Scheler gerade auch mit einer spezifisch phänomenologischen Kritik an Kants praktischer Philosophie¹³ verknüpft. Diese Fundamentalkritik, die gut ein Drittel seines Werkes Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913/1916) ausmacht, ist im Einzelnen äußerst problematisch und kann nicht als eine erfolgreiche immanente Kritik Kants gelesen werden. Dies deshalb, weil Scheler hier mit einer massiven Umdeutung der Grundbegrifflichkeiten (insbesondere formal/material und a priori/a posteriori) operiert. Im Wesentlichen scheint diese Kritik, die auf eine alternative, phänomenologische Konzeption der Ethik hinausläuft, gerade jene Voraussetzung Kants zu treffen, die auch Sartre ablehnt. Und das betrifft die oben schon erwähnte Auffassung unserer primären Neigungen als eines prä-vernünftigen, mithin ordnungsbedürftigen Chaos. Sehr eindringlich weist Scheler auf das empiristische Menschenbild hin, das Kant übernommen und lediglich überformt hätte, wenn er sagt, dass es gerade und allein der ‚humeanische‘ und ‚hobbesianische‘ Mensch sei, der einer Vernunft, z. B. als praktischer in Form der Verpflichtung, bedürfe, um ‚gut‘ zu sein.¹⁴ Was Scheler dem positiv entgegensetzt, ist ein alternatives Menschenbild. Ebenso wie Sartre (aber wie sich gleich zeigen wird, in einem anderen Sinne) sieht auch Scheler den Menschen schon in seinen primitivsten Lebensäußerungen auf Werte, und das heißt: auf das jeweils Gute ausgerichtet. Mit anderen Worten: Er negiert das dualistische Menschenbild Kants (Vernunft- und Sinnenwesen) und mithin eine prä-humane, moralindifferente ‚reine‘ Natur des Menschen. Soviel zu der Gemeinsamkeit; jetzt möchte ich mich der Differenz zwischen Scheler und Sartre zuwenden. Diese wird sich am einfachsten in Form einer möglichen Sartreschen Kritik an Schelers Position formulieren lassen. Und damit meine ich nun nicht die gängige Kritik an Scheler, die man hier vielleicht erwarten könnte, aufgrund seines angeblich ‚platonisierenden Wertobjektivismus‘. Was ich
Deshalb wähle ich für diese Absetzung Scheler, und nicht Aristoteles, der sich hier natürlich der Sache nach anbieten würde. Scheler kritisiert aber auch Kants theoretische Position. Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, hrsg. v. Manfred Frings, Studienausgabe, in Max Scheler Gesammelte Werke, Bd. 2, Bonn: Bouvier 2009, S. 85.
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hier vielmehr im Visier habe, möchte ich an zwei Punkten erläutern: Das eine betrifft die ethische Leitdifferenz, d. h. das Gute und das Böse. Scharf formuliert, lautet hier die hypothetische Kritik, dass Scheler mit seinem Ansatz diese Differenz im Unklaren lässt. Eine Ethik, die wie die seine davon ausgeht, dass der Mensch ‚von Natur aus‘ auf das Gute ausgerichtet ist, muss ja erklären, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass das Böse in der Welt auftaucht. Gewiss kann man mit Scheler Antworten des folgenden Typus anbieten: Die einzelne Person als Mikrokosmos sei stets auf den ‚idealen Ordo Amoris‘¹⁵, das heißt also, auf die geordneten Liebenswürdigkeiten der Dinge dieser Welt, so wie sie ‚an sich‘ sind, ausgerichtet. Dieses ‚An-sich‘ sei die ‚makrokosmische Wahrheit‘ der Welt, d. h. so, wie sie in den Augen Gottes ist. In irgendeiner Hinsicht muss also der menschlichpersonale, nämlich ‚individuelle Ordo Amoris‘ (also das je eigene Wertsystem oder die je eigene Wertwahrnehmung) als beschränkt gedacht werden.Worin aber diese Beschränkung konkret besteht, bleibt bei einem solchen theonomischen Ansatz (wie mir scheint, notwendigerweise) im Dunkeln, denn um diese bestimmen zu können, wäre es ja notwendig, über Gottes Perspektive zu verfügen, die aber per definitionem jede menschliche Perspektive unendlich übersteigt. Diese problematische Sachlage manifestiert sich auch darin, dass Schelers Bestimmungen von Gut und Böse im Rahmen seiner sonst minuziösen phänomenologischen Beschreibungen als seltsam ‚formalistisch‘ herausstechen: Gut, so nämlich Scheler in Reminiszenz an Franz Brentano, sei derjenige Akt, welcher die Realisierung des jeweils höheren bzw. höchsten Wertes intendiert (und Böse das Gegenteil hiervon).¹⁶ Diese abstrakten Formeln für Gut und Böse bleiben aber, so meine hypothetische, Sartre in den Mund gelegte Kritik, phänomenlogisch ungedeckt. Mit anderen Worten: Es bleibt bei einer rein hypothetischen, metaphysischen Theorie des Bösen. Diese Kritik wird vielleicht besser verständlich, wenn wir sie von einer etwas anderen Perspektive aus betrachten. Das ist der zweite Punkt, auf den ich hier hinweisen möchte, und er betrifft die Tatsache, dass Freiheit – als Vermögen zum Guten wie auch zum Bösen – in der materialen Wertethik so gut wie keine Erwähnung findet. So spiegelt sich aber in dieser Schelerschen Ethik gerade das nicht wieder, was man als das ‚Drama der Freiheit‘ bezeichnen könnte, nämlich die Tatsache, dass Moralität für den Menschen wesentlich ein Problem darstellt: In seiner (wie ich glaube, grundsätzlich berechtigten) Kritik Kants ist Scheler insofern zu weit gegangen, als dass er nicht nur die Problemformulierung Kants ne Vgl. Max Scheler, „Ordo Amoris,“ in Max Scheler Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, Zur Ethik und Erkenntnistheorie, hrsg. v. Maria Scheler, in Max Scheler Gesammelte Werke, Bd. 10, Bern: Francke 1957. Vgl. Scheler (2009), S. 48.
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giert hat, sondern es versäumt hat, eine intelligible, alternative Problemformulierung anzubieten. Es lässt sich also festhalten: Ein Ansatz, der davon ausgeht, dass der Mensch notwendigerweise auf ‚das Gute‘ ausgerichtet ist, muss eine sinnvolle Auskunft darüber geben können, wie das ‚Nicht-Gute‘, das Böse, als die Verkehrung des Guten in die Welt kommen kann, und nicht nur einen unklaren und hypothetischen Vergleich mit dem Absoluten. Die Besonderheit des Sartreschen Ansatzes liegt nach meinem Verständnis darin, dass dieser auch die Existenz des Bösen (des Schlechten, des Verwerflichen) aus der primären Bezogenheit auf das Gute verstehen möchte. Und so lautet nach meiner Interpretation die zweite Prämisse der Sartreschen Ethik: Das Streben nach dem Guten gerät mit sich selbst in Widerspruch. Sowohl das Gute als auch das Böse sind nach diesem Ansatz also menschlichen Ursprungs. So sind Gut und Böse auch nicht im Sinne eines ‚Manichäismus‘ voneinander zu trennen, sondern bezeichnen zwei notwendige und unzertrennbare Aspekte des menschlichen Strebens überhaupt. Und zusammengenommen sind diese zwei Prämissen zugleich die Grundprämisse von Sartres Ontologie, die davon ausgeht, dass die menschliche-Realität notwendigerweise auf das Gute bezogen ist, diese Bezogenheit dabei (ebenso notwendigerweise) eine in sich gebrochene ist. In Sartres Terminologie: Die Begierde des Für-sich ist jene nach dem An-sich-Für-sich als dem Wert, von dem es heimgesucht wird und der ihm und seiner konkreten Situation ihren Sinn verleiht. Doch dieses Ideal ist ein widersprüchliches, und das Streben der menschlichen-Realität ist deshalb zum Scheitern verurteilt.¹⁷
III Sartre Nun möchte ich abschließend auf einige Präzisierungen dieser Sartreschen Prämissen und der Ethik, die sich auf ihrer Grundlage ergibt, zu sprechen kommen. Die ursprüngliche Bezogenheit des Menschen auf das Gute, welche durch die Struktur der menschlichen-Realität ‚zunächst und zumeist‘ eine gebrochene Bezogenheit darstellt, wird von Sartre bereits in seiner Ontologie als Scheitern¹⁸ und in der Folge als ‚Hölle der Inauthentizität‘¹⁹ untersucht. Und dies, wie ich eingangs gesagt habe, auf verschiedenen ‚Konkretionsebenen‘. Insbesondere zwei dieser Ebenen werden von Sartre in Das Sein und das Nichts genauer beleuchtet: einer-
Vgl. hierzu Sartre (2007), S. 181– 199, S. 956 – 1052. Vgl. ebd., S. 188 f. Vgl. Sartre (2005), S. 972 ff.
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seits die Inauthentizität der intrapersonalen Ebene, die Unaufrichtigkeit;²⁰ zum anderen die Grundstrukturen der Inauthentizität auf der Ebene der Interpersonalität, als die in ihrer Ursprünglichkeit ‚konflikthaften‘ konkreten Beziehungen zu Anderen.²¹ Es handelt sich hier freilich um verschiedene Ebenen, die von Sartre in ihrem jeweiligen Eigenrecht untersucht werden. Aber beide weisen eine durch die zwei genannten Prämissen markierte Struktur auf, einen gemeinsamen Nenner, der es erlaubt, diese ‚natürlichen Fehlformen‘ menschlicher Existenz unter einem Begriff, nämlich dem der Inauthentizität, zu subsumieren. (1) Es handelt sich jeweils um Untersuchungen von primären oder ursprünglichen Existenzstrukturen der menschlichen-Realität. Mit Kierkegaard könnte man diese als ästhetische bezeichnen. (2) Es handelt sich näherhin immer um die Untersuchung von zwei gegensätzlichen Extremen (Unaufrichtigkeit im engeren Sinn und die Gutgläubigkeit bzw. die Haltungen der Objektivierung und der Assimilation gegenüber anderen). Diese werden jeweils als auf ein Ideal (ihren ‚Wert‘) ausgerichtet verstanden, welcher sich aufgrund der Seinsweise der menschlichen-Realität als unrealisierbar erweist. Mithin handelt es sich hierbei um jeweils notwendig scheiternde (weil in sich widersprüchliche) Bezogenheiten auf ein Ideal. (3) Da das Scheitern der einen Haltung dem Einnehmen der anderen Haltung als Motiv dient, handelt es sich, diese zwei Extremhaltungen zusammengenommen, um ein zirkuläres, wie Sartre sagt, metastabiles oder auch oszillierendes Motivationsgeflecht, aus dem es auf dieser Ebene der Ursprünglichkeit ‚kein Entrinnen‘ gibt. (4) Eine adäquate (der frühe Sartre würde sagen: authentische) Bezogenheit auf das Gute erscheint nun jeweils erst auf der Grundlage dieses ‚primären Scheiterns‘, nämlich überhaupt als ein mögliches Problem, als eine konkrete, jeweils situationsspezifische Aufgabe, die motiviert ist von einer Auffassung dieses zirkulären Motivationsgeflechtes als eines Ganzen. Das in dieser Schrift solcherart systematisch erkundete Scheitern verweist also von sich aus auf die Möglichkeit und die Notwendigkeit der Überwindung dieses Scheiterns. D.h. aber, das ‚moralische Problem‘, dem sich diese durch die beiden Prämissen konstituierte Sartresche Ethik verschreibt, besteht nicht darin, ein ‚moralisches Ideal‘, etwa ein ‚Existenzideal der Authentizität‘ zu postulieren und dessen normativen Anspruch argumentativ zu begründen; sondern vielmehr darin, von diesem primären Scheitern ein adäquates, möglichst unverstelltes und konkretes Verständnis zu erlangen.
Vgl. Sartre (2007), S. 119 – 160. Vgl. ebd., S. 633 – 719.
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Nach Imperativen im Gegensatz zu den Indikativen der Ontologie, wie sich Sartre am Ende von Das Sein und das Nichts,²² wie ich meine, unglücklich ausdrückt, wird man in Sartres Ethik umsonst Ausschau halten. Anders gesagt: Die Authentizität (es handelt sich natürlich um einzelne, bestimmte authentische Weisen und Modi des Existenzvollzuges) muss nicht (von außen) ‚befohlen‘ werden, sondern motiviert sich ‚innerlich‘ durch die scheiternden zirkulären Strukturen des ästhetischen Existierens selbst, wenn²³ dieses unverstellt (Sartre sagt: rein) reflektiert wird. Es ist also unangemessen, die Ontologie als ein ‚theoretisches‘ Grundlagenwerk z. B. nach dem Vorbild von Kants Kritik der reinen Vernunft zu lesen, dem noch eine Kritik der praktischen Vernunft zur Seite zu stellen gewesen wäre. Eine solche Trennung von Theorie und Praxis ist Sartre, und darin manifestiert sich sein phänomenologisches Erbe, fremd. Gewiss vertritt Das Sein und das Nichts als ein phänomenologisches Werk einen deskriptiven Anspruch, aber nach meiner Interpretation ist auch Sartres Ethik eine deskriptive, und keine normative. Natürlich ist die in Das Sein und das Nichts verhandelte Wirklichkeit die eine, nämlich ‚normative‘ Wirklichkeit und keine ‚pure‘, rein ‚faktische‘ Realität, sondern gerade menschliche Realität. Insofern denke ich, dass diese deskriptiven Beschreibungen²⁴ zugleich konstitutiv für die Ontologie sind und eine realistische und konkrete Ethik begründen. Realistisch nämlich im Gegensatz zu einer idealistischen, normativen Ethik, die mit ihren Reflexionen bei einem abstrakten Aspekt der menschlichen-Realität nämlich bei Idealen (z. B. im Sinne eines idealen Endpunktes oder eines idealen Anfangspunktes wie im Falle eines hypothetischen ‚Schleiers der Unwissenheit‘) ansetzt. Der Angelpunkt von Sartres Ethik sind dagegen Beschreibungen der konkreten menschlichen-Realität, in welcher sich faktische und ideale Aspekte in einer unauflöslichen Einheit zeigen. Nun weist aber Das Sein und das Nichts bezüglich der Forderung nach Konkretheit eine bestimmte Mangelhaftigkeit auf: Die hier verhandelte menschlicheRealität erscheint zwar nicht als ein ‚isoliertes Individuum‘, wie das genannte ‚individualistische Missverständnis‘ vermutet, aber trotzdem als ein relativ abstrakter Begriff. Ich denke, Sartre war zur Zeit der Abfassung dieses Werkes noch im Unklaren, worin diese Mangelhaftigkeit genau besteht. Die verschlungenen Wege des Versuchs, hier Klarheit zu erlangen, dokumentieren sich unter anderem in seinen Entwürfen für eine Moralphilosophie. Hier treten zunehmend Untersuchungen der menschlichen-Realität auf den nunmehr konkreteren Bestim-
Vgl. ebd., S. 1068. Dies muss vorausgesetzt werden und legitimiert zugleich die Behandlungsweise eines theoretisch-philosophischen Zugriffs. ‚Deskriptiv‘ ist hier natürlich nicht im Sinn der an reduzierten Fakten orientierten empirischen Wissenschaften gemeint, sondern im phänomenologisch-eidetischen Sinn.
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mungsebenen von Historizität und konkreter Sozialität in den Vordergrund. Diese führen schließlich zu einer Reformulierung des phänomenologisch-ontologischen Programms als einer strukturalen Anthropologie, die über die relativ abstrakte ‚existenzialistische‘ Thematisierung der menschlichen-Realität weit hinausgeht und nunmehr die Untersuchung von konkreten Formen der kooperativen menschlichen Praxis in den Fokus stellt. Auch hier können wir aber die Wiederholung der primär an ihren Idealen scheiternden menschlichen-Realität beobachten, nunmehr weniger in Kierkegaardschen und Heideggerschen, sondern in Marxschen Begriffen, wie jenem der Entfremdung. Diese Wiederholung scheint mir aber ein Indiz dafür zu sein, dass der Sartre der Kritik der dialektischen Vernunft die eidetischen Gesetzmäßigkeiten der sozial-historisch bestimmten menschlichenRealität weiterhin unter den Prämissen, Methoden und auch Ergebnissen, d. h. auf dem Boden einer Existenzphilosophie, untersucht, die, zumindest in ihrer Sartreschen Prägung, immer auch und zugleich eine Ethik ist.
Teil II: Gibt es eine Ethik der Existenzphilosophie?
Richard Raatzsch
In welchem Sinn es nur in der Existenzphilosophie eine Ethik gibt, und sonst nirgends – und was das Problem mit diesem Sinn ist Abstract: For some philosophers existentialism contributed to the tradition of philosophy by directing philosopher’s attention to some hitherto neglected phenomena. For instance, moral philosophers took the existence of a moral consciousness for granted. The world had to wait for the arrival of existentialism to see that this presupposition is problematic. Such a view underestimates not only the power of earlier philosophies, but also existentialism’s radicalism. Although existentialists made remarkable discoveries, what they uncovered was not just an addition to what had already been discovered, but rather without their discoveries (so-called) ethics was no (real) ethics. This is where the pendulum reaches its turning point; I argue that it is this point that we need to reach in order to truly understand existentialism’s contribution to the tradition of philosophy.
I „Ethik“ und „Philosophie“ Offensichtlich enthält der Titel meines Vortrages einen Pleonasmus; und da auf diese Tatsache im Moment gerade hingewiesen wird, ist das ebenso offensichtlich Absicht. – Die Verstärkung durch den Pleonasmus dient der Blockade eines Einwandes, der einem angesichts der im Titel angedeuteten These leicht in den Sinn kommt. Dieser Einwand könnte folgendermaßen formuliert werden: Ethik ist so etwas wie der Utilitarismus, die Pflichtenlehre, der Perfektionismus oder auch wie die Tugendethik. Angesichts dieser Liste ist es völlig unklar, wenn nicht gar unsinnig, zu sagen, dass es einen Sinn gibt, in dem es nur in der Existenzphilosophie eine Ethik gibt. Eher schon gibt es in der Existenzphilosophie überhaupt keine Ethik. Dieser Einwand trifft, richtig verstanden, durchaus einen wichtigen Punkt. Seine Schwäche ist jedoch, dass er die Dinge in mehr als einer Hinsicht einfacher aussehen lässt, als sie sind. Er trivialisiert das Problem, oder besser, weil die Sache am Ende tatsächlich einfach ist, er trivialisiert es zu schnell, auf zu einfache, triviale Weise.
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Man kann eine Hinsicht dieser falschen Vereinfachung deutlich machen, indem man eine Überlegung aufgreift, welcher der Einwand Vorschub leisten könnte. Diese Überlegung besagt, dass der Existenzphilosoph nur als Privatmensch, oder Bürger, eine Ethik haben kann, aber eben nicht als Existenzphilosoph. Die unmittelbare Entgegnung auf diese Überlegung ist: Das kann der Existenzphilosoph nicht. Denn entweder man spricht vom Existenzphilosophen als solchem, und dann wechselt man einfach das Thema, wenn man vom Privatmenschen im Unterschied zum Existenzphilosophen redet. Oder es gibt gar keinen entsprechenden begrifflichen Unterschied, und dann ist der Existenzphilosoph einfach inkonsequent, wenn er eine, oder eben auch keine, Ethik hat, je nachdem, wie zutreffend der Einwand ist, und man spricht dann auf unvollständige, irreführende Weise. Natürlich klingt die Trennung des Existenzphilosophen vom Privatmenschen nicht von vornherein schon ungereimt. Das hängt zunächst damit zusammen, dass, zum Beispiel, Existenzphilosophen blond, schüchtern oder Stotterer sein, ein Aquarium, Kinder, Schulden und Kopfschmerzen haben können, dass sie also, kurz gesagt, in zahllosen Hinsichten so sein können wie die, an welche man wohl zuerst denkt, wenn man das Wort „Privatmensch“ hört. In dem Sinn, in dem man all dies auch von Philosophen sagen kann, sind sie Privatmenschen. Aber so ohne Weiteres, hat es, wie Hegel in einem ähnlichen Zusammenhang anmerkt, etwas „Mattes, Ödes und Überflüssiges“¹, dies zu sagen. Man könnte sich zwar Umstände ausdenken, unter denen das anders wäre, aber man muss sich solche Umstände eben auch ausdenken; und vielleicht würde man in Hinsicht auf solche Umstände dann nicht mehr von „Philosophen“ sprechen wollen. Wie auch immer, unter den üblichen Umständen haben beide insoweit nichts miteinander zu tun, als der Privatmensch, nicht aber der Philosoph, als jemand bestimmt ist, von dem etwas Wichtiges ausgesagt werden kann, wenn von ihm gesagt wird, dass er blond ist und ein Aquarium hat. Es gibt allerdings auch wenigstens einen wesentlichen Berührungspunkt zwischen dem so verstandenen Philosophen und dem Privatmenschen. Dieser Punkt führt schon zu einer zweiten Hinsicht, in welcher der Einwand oben zu einfach gestrickt ist. Chesterton übertreibt diesen Punkt m. E., macht ihn aber gerade dadurch sichtbar, wenn er schreibt:
G. W. F. Hegel, Ästhetik, Berlin und Weimar: Aufbau 1984, Bd. 2, S. 131. Es geht Hegel an dieser Stelle um Darstellungen von Herder und Wieland, auf denen „ihre Hosen, Strümpfe und Schuhe zu sehen [sind] und vollends ihre gemächliche, selbstgefällige Haltung auf einem Sessel, wo sie die Hände behaglich über dem Magen zusammenlegen.“
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Für eine Wirtin, die einen Mieter ins Auge fasst, ist es zwar wichtig, dass sie sein Einkommen kenne, noch wichtiger aber ist es für sie, dass sie seine Philosophie kenne. Für einen Feldherrn, der einen Feind zu bekämpfen hat, ist es zwar wichtig, dass er die Truppenzahl des Feindes kenne, aber noch wichtiger ist es für ihn, dass er die Philosophie des Feindes kenne. Ja, es ist … gar nicht die Frage, ob die Weltanschauung eines Menschen auf seine Umgebung einen Einfluss ausübt, es fragt sich vielmehr, ob etwas anderes als die Weltanschauung einen solchen Einfluss ausübt.²
Die Frage ist hier nicht so sehr, ob Chesterton recht hat. Es reicht, dass er es könnte. Denn das Wichtige an seiner Bemerkung für unsern Zweck ist nicht ihr Wahrheitsgehalt, sondern die in ihr zum Ausdruck kommende Bestimmung der Philosophie.Was diesen Begriff angeht, kehrt Chesterton die Beziehung im Vergleich zu oben beinahe um: Privatmensch und Philosoph fallen zwar nicht zusammen, aber das Philosophische ist sozusagen der Kern des Privaten. Nun kann man zwar sagen, dass diese Zuordnung vor allem dann plausibel klingt, wenn Chesterton unter „Philosophie“ vor allem das versteht, was gewöhnlich „Moral“ resp. „Ethik“ genannt wird. Insofern ist die Frage des Wahrheitsgehaltes auch nicht völlig belanglos. Aber es hieße doch, sein Aperçu zu entschärfen. Das wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass er, im Englischen Original, statt von „philosophy“ auch von „view of the universe“ und der „theory of the cosmos“ spricht. Man würde wohl keine dieser beiden Wendungen mit „Fundamentalontologie“ übersetzen, aber noch weniger einfach mit „Moral“ oder eben „Ethik“. Was also übrig bleibt, ist, aus der Sicht, aus der man etwa zwischen Ethik und Metaphysik oder zwischen Utilitarismus und Tugendethik unterscheidet, eine, wenn auch etwas diffuse, Bestimmung von „Philosophie“ derart, dass diese, in jener anderen Terminologie gesprochen, etwas Einheitliches bezeichnet. Sie reicht sozusagen
Mit diesem Zitat beginnt William James sein Pragmatism, New York 1907; nach der deutschen Übersetzung von Wilhelm Jerusalem, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden, hrsg. v. Klaus Oehler, Hamburg: Meiner 1994. Das Zitat ist aus der Vorrede von: Gilbert K. Chesterton, Heretics, New York City: Lane 1919; zitiert nach Gutenberg Ebook #470, 2008. Das Original: „But there are some people, nevertheless – and I am one of them – who think that the most practical and important thing about a man is still his view of the universe. We think that for a landlady considering a lodger, it is important to know his income, but still more important to know his philosophy. We think that for a general about to fight an enemy, it is important to know the enemy’s numbers, but still more important to know the enemy’s philosophy. We think the question is not whether the theory of the cosmos affects matters, but whether in the long run, anything else affects them.“ Iris Murdoch schreibt: „How we see and describe the world is morals too – and the relation of this to our conduct may be complicated.“ („Metaphysics and Ethics,“ in dies., Existentialists and Mystics. Writings on Philosophy and Literature, hrsg. v. P. Conradi, London: Chatto & Windus 1997a, S. 73; siehe auch: dies., „The Sovereignty of Good Over Other Concepts,“ in dies. (1997b), S. 363 – 385, passim)
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von einer Fundamentalontologie bis mindestens hin zu einer Ethik. Sie spiegelt so gewissermaßen die Einheit in der Vielfalt des Lebens. Es gehört zu dieser Bestimmung von Philosophie, dass jeder Versuch zu zeigen, dass die Existenzphilosophie – oder auch jede andere Philosophie – keine Ethik hat oder haben kann, der Versuch wäre zu zeigen, dass die Existenzphilosophie gar keine Philosophie ist oder sein kann!³ Über die Form dieser Einheit ist damit noch nichts entschieden. – Und das ist ein wichtiger Punkt, denn er kennzeichnet jene weitere Hinsicht, in welcher der Einwand oben zu einfach ist. Indem über diese Form noch nichts entschieden ist, steht insbesondere auch nicht fest, ob jene Ethik, ohne die es keine Philosophie geben kann, eine, wie ich es nennen möchte, selbständige Form haben muss. Warum soll sie, um es etwas dramatisch auszudrücken, ihre Existenz nicht gerade darin haben, ausdrücklich nicht zu existieren? Das wirft ein Licht auf jenen angeblichen Unterschied innerhalb der Familie der Existenzphilosophen, der manchmal so ausgedrückt wird, dass man sagt, einige Existenzphilosophen hätten eine Ethik, andere keine. Die Betonung der Form einer Ethik erweitert die logische Multiplizität der Lage derart, dass diese Darstellung erkennbar unvollständig wird. Insbesondere kann diese Unterscheidung sich, wenn vervollständigt, als die Lage verzerrend erweisen. Das scheint mir auch der Fall zu sein.Was die Form einer Ethik angeht, bestehen tatsächlich große Unterschiede zwischen verschiedenen Existenzphilosophen. Aber man müsste sich selbst philosophisch unempfindlich machen, um nicht mehr zu bemerken, dass einige der Existenzphilosophen, die angeblich keine Ethik haben, ethisch alles andere als irrelevant sind.⁴ Dass sie zum Teil selbst von sich gesagt haben, sie hätten keine Ethik, versteht sich dann vor dem Hintergrund der Berücksichtigung der Form der Ethik leicht. In einer Weise ausgedrückt, die dem eingangs formulierten Einwand nahe kommt, könnte man ihre Zurückweisung der Unterstellung, sie hätten eine Ethik etwa folgendermaßen ausdrücken: Wenn so etwas wie der Utilitarismus ein Muster der Ethik ist, dann haben wir mit Ethik nichts zu tun.
Eine Variante dieser Bestimmung zeigt sich, wenn z. B. aus der sog. Gebrauchstheorie der Bedeutung darauf geschlossen wird, dass moralische Ausdrücke die und die Rolle spielen, statt nachzusehen, wie es sich mit ihnen verhält; oder wenn der Emotivismus als „largely […] the byproduct of a theory of meaning whose most proper application was in other fields“, gekennzeichnet wird; beides in Murdoch (1997b), S. 61 f., meine Hervorhebung. Vgl. hierzu Andreas Luckner, „Wie es ist, selbst zu sein. Zum Begriff der Eigentlichkeit,“ in Martin Heidegger. Sein und Zeit, hrsg. v. Thomas Rentsch, Berlin: Akademie Verlag 2001, S. 149 – 168. Eine Ethik, deren Witz u. a. darin besteht, auf etwas Nichtethisches, Höheres zu verweisen, wäre insofern ein Zwischenglied.
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Und wie könnte man bestreiten, dass der Utilitarismus oder, soweit es darauf ankommt, auch die Tugendethik oder die Pflichtenlehre Muster dessen sind, was wir in der neueren Zeit „Ethik“ nennen? – Indem man aber in Bezug auf das, was gemeinhin als „Ethik“ gilt, nichts zu sagen hat, erkennt man nicht nur diese Muster an, sondern distanziert sich zugleich von ihnen, soweit man philosophiert. – Die Muster sind das Problem! Das deutet an, wie man den Satz von den Mustern der Ethik lesen muss, damit ihn auch diejenigen Existenzphilosophen unterschreiben können, die tatsächlich eine Ethik haben. Anders gesagt, soweit ihre Ethiken zur Existenzphilosophie gehören, wie jene Nichtethiken, muss man sie auch in bestimmter Weise auffassen. Um dieser Weise näherzukommen, lohnt sich ein Blick auf die Besonderheit der Existenzphilosophie als solcher.
II „Existenzphilosophie“ Es gibt mindestens zwei Arten, das Besondere an der Existenzphilosophie, oder ein wichtiges Element dieses Besonderen, zu fassen. Die erste Art sieht das Besondere in der Existenzphilosophie in einer Reihe von „Entdeckungen von Wohlbekanntem“, die zweite Art ist radikaler. Die erste Art geht mit dem Hinweis auf einen Mangel in den (bis dahin) üblichen, den traditionellen philosophischen Kategorien, einher.⁵ Das Ensemble dieser Kategorien weist sozusagen Lücken auf. Es muss zu den bekannten Kategorien etwas hinzukommen. Leib und Seele, Vernunft, Denken, Begierde, Zweck, Substanz und so weiter reichten nicht aus, es müsse auch über Angst, Sorge, Authentizität, Verzweiflung, Entscheidung usw. gesprochen werden, heißt es. Die philosophische Tradition hat etwas übersehen; die Existenzphilosophen vervollständigen die Tradition, korrigieren im schlimmsten Fall Fehlurteile, die ihren Grund in einem Mangel an Aufmerksamkeit für bestimmte Phänomene haben. – Offensichtlich ist diese Charakterisierung (des Besonderen) der Existenzphilosophie nicht völlig verfehlt. Ohne Zweifel haben Existenzphilosophen die (philosophische) Aufmerksamkeit auf eine Vielfalt an Begriffen oder, wenn man so will, Phänomenen gerichtet, von denen frühere Philosophen kaum oder gar nicht Notiz genommen hatten. Denken wir, neben dem schon Genannten, nur an die (Bedeutung von) Langeweile und Leere, Plötzlichkeit, Unmittelbarkeit der Reak-
So etwa Helmut Fahrenbach, Existenzphilosophie und Ethik, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 1970.
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tion,Verstellung, der Verzweiflung, dem Beobachten bis hin zum Voyeurismus, der Unruhe usw. Man muss kein Phänomenologe sein, und vielleicht schadet dies sogar, um die ungeheure „philosophische Beobachtungsgabe“ – oder, was hier nur ein anderes Wort für die gleiche Sache ist: ihr Problembewusstsein, denn es handelt sich ja um „Entdeckungen von Vertrautem“ – vieler Existenzphilosophen bewundern zu können. Ohne Zweifel haben sie Fenster aufgestoßen und frische Luft in die Kammer gelassen. Aber die Charakterisierung der Existenzphilosophie als einer Ergänzung der Tradition hat auch eine Schwäche. Denn wenn Angst, Sorge, Authentizität usw. zu Leib, Seele, Vernunft, Denken, Begierde usw. einfach hinzukommen, kann die Existenzphilosophie kaum als substantielle Alternative zu anderen Philosophien betrachtet werden. Das aber geschieht am sichtbarsten, indem man sie, den andern damit zur Seite stellend, „Existenzialismus“ nennt. Es reicht also nicht, der Existenzphilosophie insgesamt bedeutsame philosophische Entdeckungen zuzugestehen. Die Form, in der diese mit sich selbst und schon Entdecktem vermittelt sind, kann nicht einfach die einer Hinzufügung sein. – Und natürlich wird sie auch selten so vorgetragen. Damit sind wir bei der zweiten Fassung des die Existenzphilosophie Auszeichnenden. Nach dieser Fassung ist die Form des existenzialistischen Argumentes nicht: Hier fehlt noch was, nämlich …, sondern diese: Wer nicht von … ausgeht (es versteht, berücksichtigt, in den Mittelpunkt rückt, zur Grundlage macht …), versteht nicht einmal das richtig, wovon er spricht. Wenn etwa gesagt wird, Existenz bedeute, sich zu sorgen, und nicht einfach da zu sein, dann heißt dies nicht, dass Existenz Dasein plus Sorge wäre.Was immer es bedeutet, formal betrachtet, versteht man nicht einmal das Dasein, wenn man nicht zuvor oder zugleich damit verstanden hat, was es mit Sorge, Angst, Verzweiflung usw. auf sich hat, und umgekehrt. Und wer hatte das vor den Existenzphilosophen schon verstanden? Es würde auch nicht helfen, zu sagen, Existenz werde konstituiert durch Faktizität und Transzendenz. Denn was heißt hier „und“? Und was heißt „auch“, wenn man etwa meint, dass es Dinge geben mag, die in sich selbst existieren, der Mensch jedenfalls existiere auch für sich. – Das Problem mit der ersten Auffassung ist weniger, dass Seele, Substanz, Akzidenz usw. in Wirklichkeit keine Rolle spielen, sondern dass die Form ihrer Einheit mit sich und etwa mit der Sorge im Unklaren belassen wird. So als würde es ein mixtum compositum auch tun. In einem solchen stehen die Dinge in einem äußeren Verhältnis zueinander. Nicht nur, dass Äußerlichkeiten die Philosophie nichts angehen, sondern man schließt, solange die Art ihrer Einheit mit Anderen nicht geklärt ist, auch nicht aus, dass man, zumindest zu weiten Teilen, ein Jedes für sich bestimmen kann. Das aber ist gerade der Punkt, in dem die zweite Auffassung von der ersten differiert, wenn sie etwa die Sorge in den Mittelpunkt rückt. Denn
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dass sie dies tut, liegt nicht einfach daran, dass nun endlich auch einmal von ihr die Rede sein sollte. Sondern erst von ihr aus sollen jene anderen Begriffe eigentlich verständlich werden. Der Witz dieser Auffassung vom Besonderen des Existenzialismus betrifft also, von jener Ergänzungs-Position aus betrachtet, das Verständnis des Zusammenhangs von Vernunft usw. einerseits und Angst usw. andererseits, von In-sich und Für-sich u. a.m. Die Einheit ist nicht derart, dass man Dinge zusammenführt, die man auch für sich verstanden haben kann. Sie ist aber auch nicht einfach holistisch. Man versteht dasjenige, was in diesem Zusammenhang steht, zwar nicht richtig, sondern falsch oder verzerrt,wenn man es nicht in diesem Zusammenhang sieht, aber es gibt in diesem Zusammenhang auch mehr und weniger Fundamentales, eben im Mittelpunkt Stehendes. Das hebt die Einheit des Ganzen als vorrangig gegenüber den Bestandteilen nicht auf. Denn Fundament ist etwas in Bezug auf etwas auf ihm Errichtetes, Mittelpunkt etwas in Relation zur Peripherie, nicht an sich. Nüchtern gesprochen, von etwas zu sagen, es sei fundamental, und dann auf die Frage, wofür oder in Hinsicht worauf es fundamental ist, keine Antwort zu haben, zeigt nur die Leere der ursprünglichen Behauptung. Diese zweite Auffassung braucht und hat außerdem eine Antwort auf die Frage, warum es dann überhaupt so aussehen kann, als sei das Hauptverdienst der Existenzphilosophie, auf etwas hingewiesen zu haben, was bis dahin übersehen oder für unproblematisch gehalten wurde: Mit dem philosophischen Aufmerken auf solche Phänomene wie etwa dem der Angst wird auch schon deutlich, wie das Übersehen derselben jene Phänomene, die zuvor Beachtung fanden, so erscheinen lassen, wie sie bisher erschienen. Wenn man, grob gesagt, die Freiheit übersieht, betrachtet man den Menschen leicht nach einem Muster, nach dem man auch Öfen ansieht. Was an dieser Stelle noch fehlt, ist ein Verständnis dessen, wie es überhaupt dazu kommt, dass etwas zunächst nicht so erscheint, wie es ist. Hier spielt die Existenzphilosophie eine der Stärken aus, die sie etwa mit dem Pragmatismus teilt: die Einsicht, dass die Tatsache, dass uns etwas so oder so auffällt und erscheint, ebenso anzeigt, wie es um uns bestellt ist, wie es dieses Um-uns-bestelltsein stützt und perpetuiert. Existenzphilosophie reicht bis an den Grund unserer selbst, sie ist radikal.
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III „Existenzphilosophische Ethik“ Die Radikalität zeigt sich auch in der Ethik, und dort am deutlichsten, wo es heißt, dass die Existenzphilosophie Bedingungen dessen aufdeckt, was das moralisch Gute und Böse überhaupt möglich macht.⁶ – Wenn diese Selbsteinschätzung richtig ist, dann scheint die Tatsache, dass das, was wir gemeinhin „Ethik“ nennen, tatsächlich etwas mit Moral zu tun hat, nicht mehr als ein glücklicher Zufall zu sein. Denn dem, was wir gemeinhin so nennen, ist der Gedanke einer Bedingung dessen, dass es das Moralische gibt, entweder fremd oder jedenfalls nicht in seiner existenzphilosophischen Form eigen. Man redet von Moral, soweit man davon redet, ohne eigentlich zu wissen, wovon man redet, weil man gar keinen adäquaten Begriff dessen hat, wovon man redet. Es ist, als würde man sagen, die Farbe der Zahl drei ändere nichts daran, dass sie eine ungerade Zahl sei. Das wiederum bedeutet, dass selbst dann, wenn der Existenzphilosoph über diese Bedingungen der Möglichkeit des moralisch Guten und Bösen zur Ausarbeitung einer eigenen Ethik fortschreitet, diese ganz allein ihm gehört. Das zeigt sich, scheinbar, am deutlichsten in den Fällen, in denen er zu Urteilen über den Status anderer Ethiken kommt. Wie etwa Nietzsche, wenn er schreibt: Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus. Ob Eudämonismus: alle diese Denkweisen, welche nach Lust und Leid, das heißt nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweise und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich gestaltender Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird.⁷
Es liegt auf der Hand, dass Nietzsche hier nicht einfach „konditional spricht“. Hedonismus, Utilitarismus usw. sind Naivitäten, Punktum. Dass er die Sache dennoch konditional ausdrückt, hat freilich einen tieferen Grund. Denn der Begriff der Naivität ist, wie der des Fundaments, ein Relationsbegriff: Nichts ist an sich naiv, sondern naiv ist etwas im Vergleich zu etwas anderem. Naivitäten mögen dem, im Vergleich womit sie naiv sind, zeitlich vorangehen, begrifflich sind sie ihm nachgeordnet. Das zeitlich Spätere wäre das der
Siehe für das Folgende Martin Heidegger, Sein und Zeit, Erste Hälfte, Sonderdruck aus Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band VIII, hrsg. v. E. Husserl, zitiert nach der sechsten unveränderten Auflage, Tübingen: Neomarius Verlag 1949, 2. Abschnitt, 2. Kapitel. Man beachte die Zeichensetzung, etwa auf S. 286. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Bd. 5, München: DTV, de Gruyter 1999, § 225, S. 160. Vgl. auch David Cooper, Existentialism, Malden, MA et al.: Blackwell 1999, S. 189 f.
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Sache nach Erste. – In diesem hiermit angedeuteten Sinn nun gibt es nur in der Existenzphilosophie, und sonst nirgends, eine Ethik. Was es sonst noch gibt, ist eben glücklicher Zufall, oder parasitär. – Damit kommen wir zu dem Problem mit diesem Sinn.
IV Simplex sigillum veri Blicken wir zunächst auf den Anfang zurück, dann zeigt sich jetzt, in welchem Sinn der Einwand unphilosophisch ist, und zwar ganz allgemein. Denn wer könnte eigentlich eine hinweisende Definition der Ethik wie die von oben geben? – Es sind nicht die Vertreter dessen, was unter sie fällt. Natürlich muss z. B. ein Utilitarist nicht bestreiten, dass Tugendethik ihren Namen zu Recht trägt. Aber das liegt einfach daran, dass der Satz „Die Tugendethik ist (k)eine Ethik“, wenn aus dem Munde des Utilitaristen kommend, zu einfach ist. (Das ist sie auch aus dem Munde des Tugendethikers kommend, jedoch aus dem entgegengesetzten Grund, ähnlich dem Gegensatz von Tautologie und Kontradiktion.) Das merkt man u. a. daran, dass in den Augen des Utilitaristen der Tugendethiker, als solcher, wenn er etwas falsch macht, eine andere Art von Fehler begeht als ein Utilitarist, der, als solcher, etwas falsch macht. Denn genau genommen macht der Tugendethiker – meint der Utilitarist – auch dann etwas falsch, wenn er nichts falsch macht, und unter Umständen macht er gerade dann den größten Fehler. Dieser Widerspruch – dass er etwas oder am meisten falsch macht, wenn er nichts oder am wenigsten falsch macht – deutet auf das eigentliche Problem: dass Tugendethiker (keine) Ethiker sind, ist insofern zu einfach, als diese Bemerkung es so aussehen lässt, als wäre die Bestimmung dessen, was Ethik ist, sozusagen vorethisch. Als könne man wissen, was Ethik ist, ohne schon wenigstens eine Ethik zu haben. Ähnlich dem, dass manche Ethiker, oder „Ethiker“, glauben, man könne eine reine Ethik vor jeder Anwendung derselben entwickeln. Natürlich gibt es einen Sinn, in dem man sagen kann, was Ethik ist, ohne damit schon Ethik zu treiben. Aber diesen Sinn nicht als den entscheidenden anzuerkennen, gehört gerade zu dem, was den Utilitaristen zum Ethiker macht. Und, soweit es um diesen Punkt geht, auch den Tugendethiker oder welchen Ethiker immer. Um es an einem (anderen) Beispiel anzudeuten: Der Utilitarist zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er sich von dem Satz, dass bestimmte Dinge einfach nicht erlaubt sind, egal wie es um ihren Nutzen steht, nicht prinzipiell beeindrucken lässt. Für ihn ist z. B. der Gerechtigkeitssinn vielmehr so etwas wie eine Konstruktionsaufgabe: Wie kann man ihn so aus den utilitaristischen Grundsätzen entwickeln, ihn so im Geiste des Utilitarismus auflösen, dass, erstens, sichtbar
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wird, dass er keine Bedrohung für den Utilitarismus darstellt und, zweitens, verständlich wird, warum es den gegenteiligen Anschein hat. Beide Aufgaben gehören in dem Sinne zusammen, dass es ohne den Anschein des Gegenteils auch keine Bedrohung gäbe. An dieser Stelle nun kommt auch der Privatmensch wieder ins Spiel. Denn für wen hat es den Anschein, dass der Gerechtigkeitssinn, jedenfalls innerhalb sehr weiter Grenzen, blind für den Nutzen ist? Nicht für den Utilitaristen als Utilitaristen! Aber auch nicht für seinen Gegner auf dem Felde der Ethik. Denn für diesen hat es nicht einfach den Anschein, für ihn ist es so. Dass etwas den und den Anschein hat, ist nicht etwa die Grundlage dafür, dass es so und so ist, vorausgesetzt, es kommt zu dem Anschein etwas hinzu. Sondern dass etwas den und den Anschein hat, ist parasitär gegenüber dem, dass etwas so und so ist. Nur in der Ordnung des Erkennens, nicht in der Ordnung der Sache selbst, kann der Anschein dem Sein zuweilen vorangehen und somit einer Ergänzung bedürftig sein, um sich zur Erkenntnis des Seins zu vervollständigen. Allerdings ist auch dem Privatmenschen der philosophisch verstandene Unterschied zwischen Anschein und Sein fremd. (Deshalb auch sein Hang zu Listen als Definitionen.) Denn ihn zeichnet gerade aus, nicht prinzipiell zu sein. Darum steht er nicht nur nicht vor der Aufgabe, sein Prinzip mit einem scheinbaren Gegenbeispiel in Einklang bringen zu müssen, sondern für ihn gibt es keine Gegenbeispiele. Gegen was denn? Gegen philosophische Prinzipien, die er per definitionem nicht hat? Allerdings taucht neben der Verschiedenheit von Philosoph und Privatmensch auch hier wieder deren Zusammenhang auf. Denn wenn es dem Utilitaristen gelingt, zu erklären, wieso es nur so aussieht, als wäre das Gerechte eine Bedrohung für das Primat des Guten, dann hebt er gerade damit ja den Schein der Bedrohung auf. Also, er mag zwar glauben, dass er eine Konstruktion liefern kann, aber warum sucht er überhaupt eine? – Hier ist die Antwort, dass der Philosoph den Privatmenschen nicht wirklich loswird, so wie auch dieser jenen in sich trägt. (Das ist ein Verhältnis!) Das heißt, der Anschein der Unabhängigkeit des Gerechten vom Guten besteht nur für den Privatmenschen als Utilitaristen resp. für den Utilitaristen als Privatmenschen. Was das Bedürfnis nach einer Konstruktion angeht, so hat dieses Bedürfnis sozusagen der Bürger im Utilitaristen, was den Glauben an die Möglichkeit einer Konstruktion, also an die Möglichkeit der Befriedigung des Bedürfnisses angeht, so hat diesen der Utilitarist im Bürger. Hätten beide nichts miteinander zu tun, hätte der Eine das Bedürfnis befriedigt, welches der Andere hat – hätte das Bedürfnis also gerade nicht befriedigt. Man sieht diese Einheit des Verschiedenen, von Philosoph und Privatmensch, sehr deutlich, wenn man sich an Gertrude Anscombes Reaktion auf den Gedanken erinnert, jemand könne wirklich „im vorhinein denken, es sei fraglich, ob man nicht doch so eine Handlungsweise wie die gerichtliche Aburteilung und Hin-
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richtung eines Unschuldigen in Erwägung ziehen sollte“: „[Ich] möchte […] nicht weiter mit ihm diskutieren; er zeigt eine schlechte Gesinnung.“⁸ In einer Fußnote, die am Wort „vorhinein“ hängt, fügt sie dann hinzu: „Wenn er in der konkreten Situation so denkt, ist er natürlich nur ein normalen Versuchungen unterworfener Mensch.“ – Diese Reaktion deutet auf ein Problem. Versuchungen erliegt oder widersteht man. Dieses ist ein Zeichen für Charakterstärke, jenes für die entsprechende Schwäche. In keinem Fall wird man ohne weiteres von einer schlechten Gesinnung sprechen. Soweit der Zustand, in dem man jener Versuchung unterworfen ist, darin besteht, dass man jene Erwägung anstellt, ist dies also kein Erwägen im herkömmlichen Sinn. Denn es hat nur in der Hinsicht einen offenen Ausgang, als nicht klar ist, wie es um die Stärke des Charakters des Erwägenden bestellt ist.Was richtig und was falsch ist, um es so zu nennen, steht die ganze Zeit fest. Natürlich soll man der Versuchung widerstehen, soll man zu dem Ergebnis kommen, dass man einen Unschuldigen nicht hängen kann. Wenn nur der erwägt, für den nicht schon feststeht,was richtig ist und was nicht, dann haben wir es hier gar nicht mit einem richtigen Fall von Erwägen zu tun. Dieses Erwägen ist vielmehr ein Ausdruck der Not, in der sich, in dieser Situation, der Erwägende befindet. Beinahe wie ein Schmerzausdruck. – Genau das aber kann eine Überlegung im Vorhinein nicht sein. Das wäre, als würde ich auf die Frage, warum ich jetzt stöhne, antworten: weil ich morgen Zahnschmerzen haben werde. Man wird Anscombe also so verstehen müssen, dass sie auf den Unterschied zwischen einer Überlegung aus ist, die Teil eines „normalen“ Handelns ist, und einer Überlegung, die gewissermaßen leerläuft. Wenn ich in der konkreten Situation jene Möglichkeit erwäge, bin ich nur normalen Versuchungen ausgesetzt. Andernfalls zeige ich eine schlechte Gesinnung. Wenn wir aber einen solchen Unterschied machen und wenn wir hinzufügen, dass Anscombes Rede von „der konkreten Situation“ insofern irreführend ist, als sie es so aussehen lässt, als gäbe es auch abstrakte Situationen – was ist Ethik dann, wenn nicht ein, wenn auch ausgefeilter, Leerlauf? Zu sagen, dass die Existenzphilosophie Bedingungen dafür aufdeckt, dass das moralische Gute und Böse überhaupt möglich sind, überträgt das Verdikt der schlechten Gesinnung auch auf sie. Anscombe wäre mit diesem Verdikt vermutlich nicht einverstanden, und zu Recht. Denn wir können den Begriff der schlechten Gesinnung ruhig denen überlassen, die selbige unter normalen Umständen an den
G. E. M. Anscombe, „Modern Moral Philosophy“ in Philosophy XXXIII, 1958, S. 1– 19; zitiert nach der deutschen Übersetzung, in Seminar Sprache und Ethik: zur Entwicklung der Metaethik, hrsg. v. G. Grewendorf und G. Meggle, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 138. Ein wesentliches Anliegen dieses Aufsatzes besteht übrigens darin, die Leser davon zu überzeugen, die Ethik zumindest für eine Weile beiseite zu lassen.
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Tag legen. Da kommt dieser Begriff her, und da gehört er hin. Aber der Unterschied, auf den Anscombe auf diese bemerkenswerte Weise aufmerksam macht, verschwindet dadurch nicht. Wenn man diesen Unterschied mit jenem Begriff von Philosophie verbindet, nach dem diese, wie es oben hieß, der Kern des Privatmenschlichen ist, dann lösen sich verschiedene Spannungen im Vorhergehenden auf: 1. Oben hieß es, für den Existenzphilosophen seien die Muster dessen, was als Ethik gilt, das eigentliche Problem. Jetzt können wir sagen, dass dies Muster für den sind, der noch nicht diese oder jene Ethik vertritt – und insoweit macht sich, wenn der Existenzphilosoph dies vertritt, seine Verankerung im Privatmenschen, besser: im normalen Leben, bemerkbar. Es ist, gewissermaßen, das Leben selbst, was sich gegen die bestehenden Systeme der Ethik auflehnt. 2. Andererseits, dass überhaupt von einer existenzphilosophischen Ethik gesprochen wird, belegt, dass diese mit dem, was sie ablehnt, innerlich verbunden ist. Und zwar ist sie mit dem, was von außerhalb der Ethiken als ihre Alternativen erscheint, über den Umweg über das normale Leben verbunden. 3. Oben hieß es ebenfalls, dass die Existenzphilosophie bis an den Grund unserer selbst reicht, dass sie radikal ist. – Jetzt sehen wir, wieso das für jede (gute) Philosophie gilt. 4. Das zeigt nun auch, inwiefern auch diejenigen einen tiefen Punkt haben, die das Besondere an der Existenzphilosophie in deren Ergänzung der philosophischen Tradition sehen. Denn wenn alle Muster der Ethik am Ende aus dem Leben entspringen, dann zeigt jedes neue Muster – und nur als akzeptiertes ist es ein solches – dass im Ensemble der bisherigen Muster tatsächlich etwas fehlte. 5. Was wir also auseinanderhalten müssen, sind System und Entdeckung. Ob man jedoch die Entdeckungen – oder, wenn man so will, alles das, was zählt – in einer philosophisch unschuldigen Weise darstellen kann, ob, mit andern Worten, eine rein beschreibende Philosophie möglich ist, das ist eine offene Frage.⁹ Mir scheint, zumindest die beiden in meinen Augen bedeutendsten
Siehe hierzu Richard Raatzsch, „Das Wesen der Welt sichtbar machen,“ in Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 3/2004, S. 445– 465. Die vorstehenden Ausführungen könnten, wie auch Poul Lübcke bemerkt hat, in ähnlicher Weise für andere Ethiken vorgetragen werden. Das liegt natürlich zum Teil in der Natur des Themas, zum Teil in der Art seiner Behandlung. Dass es nur in „ähnlicher Weise“ auf andere Ethiken zutrifft, liegt u. a. an der oben bemerkten Besonderheit der Existenzphilosophie, die sie dem Pragmatismus ähnlich macht. Mein Dank gilt Poul Lübcke und vor allem Andreas Luckner, mit dem ich das Thema des Vortrages und verwandte Themen seit etlichen Jahren diskutieren darf.
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Existenzphilosophen geben, durch ihr Leben, auf je eigene Weise, in dieser Hinsicht eher Grund zur Skepsis.
Thomas Wachtendorf
Umriss einer existenzialistischen Ethik Abstract: Existentialism mainly lacks an ethical theory, because it is subject-centered. So for instance the duty to decide and the responsibility for one’s decisions are strictly and solely bound to each single subject. There seems to be no (theoretical) connection between the single subjects. Nevertheless there is a common way of acting which follows from the subject’s reaction to the existential challenges like the own’s or other’s death, fear, illness or pain. But it is an insight of the philosophy of language that every way of acting produces its own dependent Weltbild consisting of a common ground of undoubted beliefs (including values). In conclusion, every individual way of getting along with the world finally leads to a change of the Weltbild and thereby influences the common values. Finally, the Weltbild is dependent on the subject’s intention of acting. So an ethics of motives seems to suit best existentialism.
I Ethik und Existenzphilosophie? Die Existenzphilosophie hat keine eigenständige und ausformulierte ethische Theorie hervorgebracht,¹ vielmehr: keine eigene ethische Tradition etwa in Form einer Schule, wie das beispielsweise bei der Philosophie Kants der Fall ist. Diese Tatsache ist insofern erstaunlich, als dass es sich bei der Existenzphilosophie um eine durchaus große philosophische Strömung handelt, die sich explizit mit dem Sein des Menschen befasst.Was, diese Frage drängt sich förmlich auf, könnte denn sonst ethisch sein, wenn nicht das Sein des Menschen respektive dessen Konstitution? Es ist auch nicht so, dass sich die existenzphilosophischen Autoren nicht mit ethischen Fragen beschäftigt hätten. Jedoch gelingt es ihnen nicht, eine Theorie zu entwickeln. Von grundsätzlichem Desinteresse kann sicherlich meistenteils nicht die Rede sein, da sich verschiedentlich Passagen in den Texten finden, die sich mit der Möglichkeit oder dem Platz einer Ethik innerhalb der Existenzphilosophie befassen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass den Autoren der Existenzphilosophie ethische Überlegungen nicht fremd waren. Dies legen im Falle Sartres beispielsweise auch die erst nach seinem Tod veröffentlichten
Vgl. Helmut Fahrenbach, Existenzphilosophie und Ethik, Frankfurt am Main: Klostermann 1970.
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Überlegungen zur Moralphilosophie² nahe, aus denen hervorgeht, dass Sartre sich zeitlebens mit ethischen Fragen beschäftigt hat. Die folgende systematische Untersuchung soll einerseits einen Beitrag zur Aufklärung leisten, warum dennoch bisher keine zufrieden stellende Ethik des Existenzialismus’ vorliegt, und andererseits sollen die Ergebnisse dieser Untersuchung dazu benutzt werden, unter Zuhilfenahme einiger Überlegungen Ludwig Wittgensteins einen Vorschlag zu unterbreiten, wie eine solche Ethik aussehen könnte.
II Die ethische Sackgasse der Existenzphilosophie Der Frage nach der Möglichkeit oder der Gestalt einer Ethik der Existenzphilosophie kann man sich nicht rein philologisch-interpretatorisch annähern, da aus den Texten selbst keine große Hilfe zu erwarten ist. Denn entweder ist darin die Möglichkeit einer Ethik nach Meinung des jeweiligen Autoren nicht gegeben (Heidegger) oder ein Zugang derart verstellt, dass eine Interpretation sehr schwierig ist (Sartre). Auch ist es nicht sinnvoll, aus den Texten verschiedener Autoren einzelne Elemente herauszulösen, um diese dann zu einer quasi idealtypischen Existenzphilosophie zu kompilieren. Der meines Erachtens sinnvollste Zugang zur Beantwortung der Frage ist, durch eine systematische Untersuchung, ausgehend von zentralen Aspekten existenzphilosophischer Theorie, die Gründe aufzudecken, die eine existenzphilosophische Ethik unmöglich zu machen scheinen. Ich werde mich dabei hauptsächlich auf Texte Sartres stützen, gleichwohl an einigen Stellen Passagen anderer Autoren – wie Heidegger, Jaspers und Kierkegaard – verwenden, die mir als sinnvolle Ergänzung erscheinen oder eine markante andere Position vertreten. Die auf diese Weise entdeckte – und bestenfalls alle Existenzphilosophien kennzeichnende – systematische Lücke gilt es dann vor dem Hintergrund der zentralen Elemente einer ethischen Theorie zu betrachten. Der dadurch aufscheinende Weg, der beschritten werden müsste, um eine existenzphilosophische Ethik zu konstituieren, wird gleichzeitig die Möglichkeit zur Prüfung bieten, ob er auch gangbar ist und eine existenzphilosophische Ethik fundieren kann.
Vgl. Jean-Paul Sartre, Entwürfe für eine Moralphilosophie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005a.
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II.1 Systematische Vorbemerkungen Um mit einer systematischen Untersuchung beginnen zu können, müssen zunächst allgemeine – selbstverständlich verkürzte, aber für diese Zwecke hinreichende – und vorläufige Bestimmungen von Ethik und Existenzphilosophie gegeben werden.
II.1.1 Existenzphilosophie So verschieden die Ansätze der existenzphilosophischen Autoren auch sein mögen, etwas müssen ihre Theorien doch gemeinsam haben, um noch unter den Begriff der Existenzphilosophie fallen zu können. Dieser allen gemeinsame Kern lässt sich recht kurz fassen. Existenzphilosophie ist demnach die Reflexion auf die Begriffe der Existenz und des Seins mit dem Ziel, das eigentliche Existieren beziehungsweise Sein des Menschen, das zum Beispiel als Dasein bezeichnet wird, insbesondere vor dem Hintergrund von dessen Tod zu erhellen. Den Menschen zeichnet danach unter allem Seienden aus, dass er sich seiner Existenz bewusst sein und die Frage nach seiner Verfasstheit stellen kann.³ Dass er sich diese Frage (und die damit zusammenhängenden Fragen wie etwa die nach dem Tod) stellt, auf welche Weise er das tut und welche Konsequenzen (in Form von Entscheidungen) für seine Handlungen er daraus zieht, bringt ihn in ein besonderes Verhältnis zu seiner eigenen Existenz und macht ihn erst zum eigentlichen Subjekt: zur Essenz. Verzichtet der Mensch darauf, seine eigene Existenz zu erhellen, verbleibt er in der Uneigentlichkeit. Es lassen sich mit den Autoren Kierkegaard und Jaspers, Heidegger sowie Sartre und den französischen Existenzialisten drei existenzphilosophische Schulen einteilen. Die Unterschiede der Schulen treten jedoch in Bereichen zu Tage, die für diese Untersuchung nicht von oberster Priorität sind. Ich werde
Vgl. beispielsweise: Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998 [1952], S. 37 (Hervorhebungen im Original entfernt, T.W.): „[D]as Bewußtsein ist ein Sein, dem es in seinem Sein um sein Sein geht, insofern dieses Sein ein Anderessein als es selbst impliziert.“ Martin Heidegger, Sein und Zeit, 7. Auflage, Halle (Saale): Max Niemeyer Verlag 1953 [1927], S. 12: „Es [das Dasein, T.W.] ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.“ Karl Jaspers, Philosophie II – Existenzerhellung, 4. Auflage, Berlin u. a.: Springer 1973 [1932], S. 201 f. (Hervorhebungen im Original entfernt, T.W.): Der Mensch befindet sich immer in Situationen. Eine Situation ist eine „Wirklichkeit für ein an ihr als Dasein interessiertes Subjekt“.
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deshalb nicht weiter darauf eingehen und im Folgenden insgesamt von Existenzialismus sprechen.⁴
II.1.2 Ethik Es scheint von vorn herein aussichtslos, eine kurze, präzise und gleichermaßen tragfähige Definition von Ethik zu geben. Im Laufe der Geschichte sind bereits unzählige Ethiken vorgelegt und verworfen oder gar die Unmöglichkeit von Ethik behauptet worden, so dass der Eindruck entstehen könnte, es bestehe hinsichtlich der Auffassung von Ethik gänzlich Uneinigkeit. Aber auch für die Ethik gilt das im Falle des Existenzialismus Gesagte: damit die Rede über Ethik verständlich ist, muss sie irgendetwas Bestimmtes bezeichnen. In der Tat müssen alle ethischen Theorien einige Mindestanforderungen erfüllen, um als Ethik angesehen werden zu können. Eine derartige Minimaldefinition lautet wie folgt: eine ethische Theorie produziert in Hinsicht auf ein definiertes Kriterium eine Klasse von (universell gültigen) Wertungen über definierte Gegenstände gemäß der Dichotomie gut/ schlecht. Die Gegenstände können beispielsweise Handlungen (oder Unterlassungen), Sätze, Folgen von oder Motive für Handlungen (oder Unterlassungen) sein; als Kriterium fungieren Normen, Werte oder Ideale.⁵ Üblicherweise wird das Ergebnis der Beurteilung – als Antwort auf die Frage: Was soll ich tun? – mit einer Verpflichtung verbunden: die als gut beurteilten Gegenstände sind zu befördern, die schlechten zu verhindern (Mit der Verpflichtung ist die Frage nach der – universellen – Geltung ethischer Urteile verbunden). Erklärungsbedürftig ist an dieser Stelle außerdem, warum jemand einer solchen Verpflichtung zu ethischem Handeln folgen sollte (dies ist die Frage nach der Motivation zu ethischem Handeln). Die ethische Theorie selbst ist in dieser Systematik die verbindende Klammer, die angibt, anhand welchen Kriteriums die ethischen Urteile über welche Art von Gegenstände gefällt werden. Eine solche Klassifikation ist rein systematisch-for-
Vgl. Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart und Weimar: Metzler 1995, S. 620 f. und Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg: Meiner 1999, S. 370 ff. Aus der Art respektive dem Inhalt des Kriteriums, das eine Begründung für die jeweiligen Urteile bietet, geht hervor, ob es sich tatsächlich um eine ethische Theorie handelt. Theorien über die Zurichtung von Eisen, als deren Kriterium etwa DIN-Normen zum Einsatz kommen, werden nicht unmittelbar als ethisch betrachtet. Betrifft das Kriterium einer Theorie jedoch das menschliche Leben beziehungsweise dessen Qualität, wird diese eher als ethisch eingestuft.
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mal und sagt freilich noch nichts über die materialen Inhalte einer Ethik aus, abgesehen davon, dass sie den Rahmen umreißt, innerhalb dessen sich diese bewegen können. Aber auch die Inhalte einer Ethik müssen bestimmten Anforderungen genügen, um eine überzeugende Ethik darstellen zu können.
II.2 Materiale Anforderungen an eine Ethik Innerhalb des soeben entwickelten formalen Schemas unterscheiden sich ethische Theorien in mehrfacher Hinsicht bezüglich ihrer inhaltlichen – also materialen – Annahmen beziehungsweise Festlegungen. Diese Unterschiede lassen sich systematisieren. Der erste und grundsätzliche Unterschied ergibt sich aus den Gegenständen, über die Aussagen getroffen werden sollen. Dieser Unterschied ist kategorisch und führt zur Ausdifferenzierung der Ethiken in verschiedene, gleichberechtigte aber inkommensurable Grundtypen: Motivethik, Handlungsethik und Folgenethik,⁶ wobei die Motivethik die Motive einer Handlung, die Handlungsethik die Handlungen selbst und die Folgenethik die Folgen von Handlungen beurteilt. Alle weiteren Unterschiede führen zu einer Binnendifferenzierung innerhalb der einzelnen Theorietypen. Während die ethischen Grundtypen aufgrund ihrer Inkommensurabilität gleichermaßen eine Berechtigung für sich beanspruchen können, sich mehr oder weniger gegenseitig ausschließen und lediglich Plausibilitätsargumente gegen den einen oder anderen Typus vorgebracht werden können, ist dies im Falle der drei folgenden Fragen anders. Jede ethische Theorie muss plausible Lösungen für Probleme der Begründung und Geltung von ethischen Urteilen sowie der Motivation, ihnen zu folgen, angeben können. Ethische Theorien unterscheiden sich außerdem von anderen Theorien dadurch, dass sie über die bloße Beschreibung dessen, was vorfindlich ist, hinausgehen und ferner angeben, was vorgefunden werden soll (wie die Welt sein soll).⁷ Vgl. Holger Leerhoff/Klaus Rehkämper/Thomas Wachtendorf: Einführung in die Analytische Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2010, S. 131 ff.; Jean-Claude Wolf/ Peter Schaber, Analytische Moralphilosophie, Freiburg/München: Alber 1998; Michael Quante, Einführung in die Allgemeine Ethik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 126 ff. Ich zähle solche Ethiken, die sich selbst rein deskriptive Ethiken nennen und vorgeben, lediglich Ethik zu beschreiben, an dieser Stelle nicht zu den Ethiken im hier dargestellten Sinne, weil es bei genauerem Hinsehen tatsächlich keine ausschließlich deskriptiven Ethiken geben kann. Der Grund dafür ist einfach: Auch jede Beschreibung ist bereits dadurch eine Beurteilung dessen, was beschrieben wird, insofern sie das Beschriebene und nicht etwas anderes beschreibt. Selbst wenn man diesen Akt als einen des Zufalls erklären will, ist dennoch nicht zu
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1. 2. 3.
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Folglich bemisst sich die Plausibilität einer Ethik an diesen Fragen: Wie lassen sich ethische Urteile begründen? Was ist der Referenzpunkt dieser Begründungen? Womit ist die (universelle) Geltung der ethischen Urteile zu begründen? Was ist motivierend, den ethischen Urteilen gemäß zu handeln?
Es mag vordergründig nicht so scheinen, dass Antworten auf diese Fragen materialer Art sind. Denn wenn beispielsweise ein wie auch immer geartetes Abstimmungsverfahren als Antwort auf die Frage nach der Geltung der ethischen Urteile gegeben wird, ist zwar dieses Verfahren selbstverständlich formal. Dass in diesem Verfahren aber die Antwort auf die Frage gesehen wird, ist eine durchaus materiale Behauptung, sie drückt nämlich eine Vorstellung davon aus, wie ethische Urteile begründet werden können. Antworten auf die erste Frage stellen üblicherweise auf ein Kriterium ab. Dieses Kriterium kann eine Norm, ein Ideal oder ein Wert mit jeweils ethischem Charakter sein. Als Kandidaten für eine Antwort auf die zweite Frage nach der universellen Gültigkeit ethischer Urteile bieten sich etwa Übereinkunft,⁸ (intrinsische) Wahrheit des ethischen Urteils oder auch ein göttliches Gebot an. Schließlich sieht sich eine jede ethische Theorie noch vor der Herausforderung, erklären zu müssen, warum jemand motiviert ist, ethisch zu handeln. Fakten alleine motivieren nicht, denn es ist ja offensichtlich, dass der Satz „Das Leben des Menschen muss geschützt werden“ lediglich eine bloße Information bleibt, solange bis jemand sein Handeln danach ausrichten will. Woher dieses Wollen kommt, stellt die Antwort auf die dritte Frage dar. Im Laufe der Ethikgeschichte wurden bereits zahlreiche Vorschläge unterbreitet. Sie reichen von eigentlichen Motivationen wie dem Willen, moralisch zu handeln, der sich unmittelbar in Handlungen ausdrückt, oder dem Wunsch, moralisch handeln zu wollen, der eine Absicht enthält, bis hin zu uneigentlichen Motivationen, bei denen eine Handlung nicht auf die Moral abzielt. Zu diesen uneigentlichen Motiven gehören insbesondere Eigenschaften wie Mitleid oder Nächstenliebe oder auch der in seiner
leugnen, dass jede Auswahl ethische Folgen hat (Vgl. dazu: Thomas Wachtendorf, Ethik als Mythologie. Sprache und Ethik bei Ludwig Wittgenstein, Berlin: Parerga 2008 (Wittgensteiniana, Bd. 3), S. 225 ff.). Vgl. dazu beispielsweise: Karl-Otto Apel, Transformation der Philosophie: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973 oder Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 7. Auflage, 2 Bde., Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995 [1981].
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Relevanz nicht zu unterschätzende Konformitätsdruck („Alle machen es so“)⁹ sowie offener Zwang. Dies sind die Herausforderungen, denen sich eine überzeugende Ethik stellen muss. In Bezug auf die Möglichkeit und Gestalt einer existenzialistischen Ethik ergibt sich daraus die Aufgabe, Antworten auf diese Fragen vor dem Hintergrund und auf Basis des Existenzialismus zu suchen.
II.3 Die ontologische Subjektzentriertheit des Existenzialismus Sartre schließt Das Sein und das Nichts mit dem Kapitel „Moralische Perspektiven“. Darin stellt er fest, dass „[d]ie Ontologie […] selbst keine moralischen Vorschriften formulieren“¹⁰ könne. Er übernimmt den Standpunkt der Kritiker wie David Hume, demzufolge aus dem Sein kein Sollen abgeleitet werden könne. Da Sartre in seinem Hauptwerk eine Ontologie entwickelt, kann er folgerichtig darin keine Ethik entwickeln. Immerhin behauptet er nicht, dass eine Ethik gänzlich unmöglich sei. Ja, er schließt sie noch nicht einmal aus seinem Interessensbereich aus, denn er fährt fort, dass diese seine Ontologie immerhin „ahnen [lässt], was eine Ethik sein kann, die ihre Verantwortlichkeiten gegenüber einer menschlichen-Realität in Situation übernimmt.“¹¹ Sartre geht damit bereits über Heidegger hinaus, der sich der Frage nach den Werten – und damit der Ethik – vollkommen entzieht: Bei der Existenzphilosophie handele es sich um Fundamentalontologie, die die Aspekte der Existenzerhellung gänzlich außer acht ließe. Fundamentalontologie betrachtet nur rein formal die Wahrheit des Seins und kann notwendig nur aus der Perspektive des Subjekts geschehen. Das existenzphilosophische Denken „ereignet sich vor dieser Unterscheidung“ (in Ethik, Logik, Ontologie etc.).¹² Vor diesem Hintergrund lassen sich die zentralen drei Fragen, an denen sich die Plausibilität der Ethik bemisst, aus Sicht des Existenzialismus beantworten. Die Antwort auf die erste Frage (1) nach dem Bezugspunkt der Ethik, der als Begründung funktionieren kann, ergibt sich aus der zentralen Stellung des Sub-
Vgl. Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2. Auflage, Berlin: de Gruyter 2007 [2003], S. 279 ff. Sartre (1998 [1952]), S. 1068. Sartre (1998 [1952]), S.1068 f. Martin Heidegger, Über den Humanismus, 10., ergänzte Auflage, Frankfurt am Main: Klostermann 2000 [1949], S. 50.
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jekts im Existenzialismus: Es gibt ihn dergestalt erst einmal nicht. Jedes Subjekt respektive dessen Urteil ist der jeweilige Bezugspunkt.¹³ Daraus folgt zweitens (2), dass es keine Universalität ethischer Werte gibt. Jeder ist für seine eigenen Werte verantwortlich und zugleich deren Urheber: „Ich kann immer wählen, doch muß ich wissen: wenn ich nicht wähle, wähle ich immer noch.“¹⁴ Als Folge dieses Wählens und dieser Entscheidungen wird der Mensch erst zu dem, was er ist. „[D]er Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf, er existiert nur in dem Maße, in dem er sich verwirklicht, er ist also nichts anderes als die Gesamtheit seiner Handlungen, nichts anderes als sein Leben.“¹⁵ Wahl und Entscheidung finden jedoch allererst und ausschließlich auf ihn selbst bezogen statt. Selbst wenn sich jemand entscheidet, ein anderes Subjekt in seine Überlegungen mit einzubeziehen, so ist diese Entscheidung doch wieder allein seine – er könnte sich auch einfach dagegen entscheiden. Was den dritten Punkt (3) bezüglich der Frage nach der Motivation, ethisch handeln zu wollen, angeht, argumentiert Sartre überraschender Weise sehr logisch. Auf die Frage: „[W]arum sollte er [ein beliebiger Mensch, T. W.] sich nicht als unaufrichtig wählen?“, was hier als Beispiel für ein ethisch schlechtes Handeln verwendet wird, antwortet Sartre: „[I]ch habe nicht moralisch über ihn zu urteilen, aber ich definiere seine Unaufrichtigkeit als Irrtum. Hier kann man sich einem Wahrheitsurteil nicht entziehen.“¹⁶ Was hier unterstellt wird, ist zunächst die Annahme, dass Unaufrichtigkeit zu Problemen bei der Interaktion mit anderen Subjekten führt, die sich in Ablehnung durch die anderen ausdrücken kann. Diese Ablehnung, so eine weitere Unterstellung, könne letztlich niemand wollen beziehungsweise aushalten. Das führt am Ende zu der Konklusion: Da niemand von den anderen ausgeschlossen werden wolle, müsse er im eigenen Interesse aufrichtig sein. Da für Sartre als Kriterium der Aufrichtigkeit Kohärenz gilt,¹⁷ ist
Sartre ringt selbst bereits mit dem Vorwurf des Subjektivismus’ – den als Vorwurf zu verstehen ich im Übrigen für misslich halte, wie ich später zeigen werde –, aber obwohl deutlich wird, dass seine Entgegnungen und Entkräftungen durchaus in die richtige Richtung gehen, treffen sie dennoch nicht das Ziel. Den entscheidenden Punkt, worin das allgemeine Moment des Existenzialismus besteht, kann er nicht benennen. Er behauptet schlicht: „Es gibt die Universalität eines jeden Entwurfs in dem Sinn, daß jeder Entwurf für jeden Menschen verstehbar ist“ (Jean-Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, 3. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005b [1965], S. 167). Das verschiebt jedoch nur das Problem, denn die Frage ist dann ja, aufgrund wessen ein derart universelles Verstehen gelingen kann. Sartre (2005b [1965]), S. 168. Sartre (2005b [1965]), S. 161. Sartre (2005b [1965]), S. 171. Vgl. Sartre (2005b [1965]), S. 171.
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folglich jeder motiviert, aufrichtig zu sein und sich kohärent zu verhalten. Die Motivation, ethisch handeln zu wollen, wird demnach aus einem subjektiven Interesse konstruiert, das aus bestimmten Annahmen, die der Existenzialismus über den Menschen und die Rolle der anderen für den einzelnen macht, folgt.¹⁸ Zwar weist diese Motivation bereits über das eigene Subjekt auf andere hinaus, bleibt aber an dieser Stelle noch im Subjekt begründet.¹⁹ Insgesamt ergibt sich das Bild, dass der metaethische Standpunkt, der aus dieser existenzialistischen Position folgt, derjenige des ethischen Egoismus ist. Zu dieser Position mögen sich offen nur wenige bekennen, weil er große Schwierigkeiten hat, bestimmte ethische Phänomene, die von vielen als wesentlich für jede Ethik angesehen werden, adäquat zu beschreiben. Zu diesen Phänomenen gehören beispielsweise Altruismus, Rücksicht, Respekt oder auch ganz allgemeine Eigenschaften wie die universelle Verpflichtung. Der existenzialistische Standpunkt bietet als Erklärung, warum sich jemand auf diese Weise verhält, letztlich nur den im Subjekt liegenden Grund an, aus eigenem Interesse nicht unaufrichtig sein zu wollen (beziehungsweise zu sollen, da die Unaufrichtigkeit der Sache nach deutliche Züge des Pathologischen trägt).²⁰ Offen bleibt aus dieser Sichtweise, wie eine Verbindung zwischen den hier zunächst isoliert erscheinenden Subjekten möglich sein kann. Doch gerade diese Verbindung ist es, die schließlich die Universalität von ethischen Regeln oder Normen begründen kann. Das Unterfangen, eine Ethik rein aus dem Existenzialismus zu entwickeln, erscheint vor diesem Hintergrund mehr als schwierig. Damit dies dennoch gelingen kann, muss ein Ausweg gefunden werden, wie der Betonung des Subjekts und dessen zentraler Stellung beibehalten und gleichzeitig dem Verhältnis des einzelnen zu den anderen widerspruchsfrei und gleichrangig theoretisch-methodisch Rechnung getragen werden kann.
Vgl.: Sartre (1998 [1952]), S. 405 ff. Dieses Verhältnis expliziert Sartre weiter: „als Körper-inSituation erfasse ich die transzendierte-Transzendenz des andern, und als Körper-in-Situation erfahre ich mich in meiner Entfremdung zugunsten des andern“ (Sartre (1998 [1952]), S. 633). Auf diese Weise tritt der Andere als fester Bestandteil in die Subjektivität ein und führt zu Haltungen, die ein Subjekt gegenüber den anderen einnehmen muss. Diese Haltungen sind beispielsweise Liebe, Hass oder Begierde. Allen vorausgesetzt ist jedoch die Aufrichtigkeit, ohne die keine Haltung gelingt. In IV.iii wird gezeigt, unter welchen Bedingungen diese Konzeption tatsächlich über das Subjekt hinausgeht. Vgl. Sartre (1998 [1952]), S. 119 ff.
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III Auswege aus der Sackgasse Ein Ausweg aus dieser subjektiven Sackgasse ergäbe sich, wenn sich etwas finden ließe, das alle Subjekte teilen und das sich insofern als gemeinsame Basis nutzen ließe. Heidegger gibt in seinem Humanismusbrief einen wichtigen Hinweis: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“²¹ Sprache aber, in der also das Sein wohnt und die mithin jedem Subjekt eignet, ist das Mittel, mit dem die Differenz zwischen den Subjekten überbrückt werden kann. Allerdings bleibt die Rolle der Sprache im Existenzialismus unklar, es scheint, als würde sie als gegeben vorausgesetzt. Heidegger unternimmt zwar eine Fundamentalontologie, hinterfragt aber – zumindest explizit – nicht den Einfluss der Sprache auf die Ontologie. Daher können ihm auch systematische Verzerrungseffekte nicht auffallen, die auf die enge Verzahnung von Sprache und Ontologie zurückzuführen sind. An dieser Stelle ist es hilfreich, einen Blick auf die sprachphilosophischen Überlegungen von Ludwig Wittgenstein zu werfen, wie er sie in den Philosophischen Untersuchungen ²² und späteren Schriften entwickelt. Wittgensteins Überlegungen setzen einen Schritt früher ein als die Analysen des Existenzialismus, weil, er bereits die Welt als sprachkonstituiert und damit durch die Sprache vermittelt ansieht.²³ Eine Rede über die Sprache ist damit zugleich eine Rede über die Welt und umgekehrt, wodurch die Differenz zwischen Sprache und Welt (zumindest epistemisch) verschwindet. Denn jede Ontologie ist demnach Sprachanalyse. Heidegger behauptet demgegenüber, wie weiter oben bereits zitiert, das existenzphilosophische Denken „[ereigne] sich vor dieser Unterscheidung“ (in Ethik, Logik, Ontologie etc.).²⁴ Er sieht bei dieser Argumentation nicht, dass jede Rede und jedes Denken (also auch dieses frühe, existenzialistische Denken), das sich ja in Sprache vollzieht, bereits durch die Sprache geprägt beziehungsweise präfiguriert ist. Denn tatsächlich ist jede sprachliche Bezugnahme eine wertende Reduktion²⁵ und somit auch die existenzialistische. Folglich dürfte man, wenn man Heideggers Existenzialismus und dessen Untersuchung des Seins Ernst
Heidegger (2000 [1949]), S. 5. Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914 – 1916, Philosophische Untersuchungen, 8 Bde., 12. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 [1984], Bd. 1. Wittgenstein (1999 [1984]), Philosophische Untersuchungen, Bd. 1, passim. Vgl. auch: Wachtendorf (2008), S. 92 ff. Heidegger (2000 [1949]), S. 50. Wachtendorf (2008), S. 193.
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nimmt, darüber im Grunde nur schweigen, da Aussagen über das reine Sein dieses eben niemals in Gänze erfassen können. Eine solche Schlussfolgerung ergibt sich zwingend aber nur vor dem Hintergrund, dass es einen gleichsam reinen Zugriff auf das Sein gibt, den man erlangen kann, wenn man sich von der insbesondere sprachlichen Objektivierung befreit. Überdies wird die Macht der in der Sprache verankerten und angelegten, unreflektierten und unhinterfragten Annahmen im Existenzialismus nicht erkannt und entsprechend berücksichtigt. Dies führt zu den bisher skizzierten Problemen. Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie²⁶ bietet eine Möglichkeit, diesen Problemen zu entgehen. Um aber eines vorab klar zu stellen: Keineswegs soll der sprachphilosophische Zugriff als dem existenziellen überlegen dargestellt werden. Er geht diesem in einem wesentlichen Sinne auch nicht voraus. Rentsch betont in diesem Zusammenhang: In den existentialen Formen wie in den Formen der Sprache zeigt sich dieselbe Wirklichkeit der condition humaine. […] Ein idealistisch verkürztes Sprachapriori zeugt von philosophischer Existenzvergessenheit, wie ein alleiniges Denken in existentialen Aprioritäten von sprachphilosophischer Naivität zeugt.²⁷
Die Situation des Menschen ist beiden Zugriffen vorgängig und wird von beiden rückwärts erschlossen. Da das Medium der Vermittlung der Welt aber die Sprache ist, ist es aus epistemischen Gründen sinnvoll, zunächst die Sprache zu untersuchen, um zu verhindern, dass eventuelle Unklarheiten in der Sprache sich im existenziellen Blick auf die Welt einschleifen oder gar verstärken. Wittgensteins Überlegungen sind für diesen Zweck besonders interessant, weil nicht nur seine Auffassung von Ethik derjenigen des Existenzialismus sehr ähnlich ist, sondern darin insgesamt dem Subjekt eine ganz ähnlich zentrale Rolle wie im Existenzialismus zukommt. Seine Überlegungen nehmen ihren Ausgang von so genannten Sprachspielen, die als eine Verbindung von Sprache und Tätigkeiten bestimmt sind. Sprache begleitet demzufolge bestimmte Tätigkeiten, die am Fuße des Sprachspiels liegen. Wörter bekommen ihre Bedeutung daher nur in Verbindung mit Tätigkeiten durch den Gebrauch, der von ihnen in den Sprachspielen gemacht wird. Die Bedeutungen hängen folglich eng mit Tätigkeiten zusammen und Tätigkeiten mit den Praktiken des jeweiligen Lebensvollzugs. Wer also gemeinsame Praktiken teilt,
Vgl. für den kommenden Abschnitt über Wittgensteins Sprachphilosophie: Wachtendorf (2008), S. 91– 128. Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein, Neuauflage, Stuttgart: Klett-Cotta 2003 [1985], S. 418.
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teilt damit auch eine gemeinsame Sprache oder man kann auch sagen, eine gemeinsame Lebensweise. Je mehr Praktiken einzelne Subjekte teilen, desto ähnlicher ist ihre Lebensweise. Das Besondere an dieser Konzeption ist das Verhältnis des Subjekts zu den anderen und dessen herausgehobener Stellung, an der Wittgenstein seit seinen frühen Schriften festgehalten hat: „Ich habe die Welt zu beurteilen, die Dinge zu messen.“²⁸ Das Resultat dieser Beurteilung drückt sich in dem Wertesystem, das aus der Reaktion des Subjekts auf die Welt folgt, aus und findet in dessen Verwendung der Sprache seinen Niederschlag. Das wiederum hat Einfluss auf den Gebrauch (und damit die Bedeutung) der Wörter, wodurch das Wertesystem des Einzelnen auf diejenigen der anderen trifft.²⁹ Durch diesen Prozess entstehen die gemeinsam geteilten Werte der jeweiligen Lebensweise. Der Charme dieser Philosophie besteht nun darin, dass einerseits die zentrale und herausgehobene Stellung des einzelnen Subjekts betont wird, gleichzeitig aber die Analyse dessen, was Sprache ist und wie sie funktioniert, aufzeigt, dass nicht ein einzelner eine Sprache entwickeln kann, sondern dass es dazu immer mehrerer bedarf, wodurch die Subjektzentriertheit zugleich überwunden wird. Jedes Subjekt ist, sobald es eine Sprache verwendet, folgerichtig notwendig Teil einer Sprechergemeinschaft mit ihren jeweiligen Werten. Diesen Aspekt hat bereits Kierkegaard zum Ausdruck gebracht: „Jedes Individuum, wie ursprünglich es sei, ist doch Gottes, seiner Zeit, seines Volkes, seiner Familie, seiner Freunde Kind, erst darin hat es seine Wahrheit; will es in dieser seiner ganzen Relativität das Absolute sein, so wird es lächerlich.“³⁰ In der sprachphilosophischen Reformulierung behält die These des Existenzialismus Gültigkeit, dass die einzelnen Subjekte – jedes für sich – in die Welt geworfen sind und diese notwendig zu beurteilen haben. Allerdings sind sie aber durch ihre jeweilige Sprache miteinander verbunden und teilen dadurch sogar verschiedene Werte. Dieser Befund hebt die Differenz zwischen den einzelnen Subjekten auf und weist dadurch über den Existenzialismus hinaus, bei dem es ja so aussieht, als wären die Subjekte auf sich allein gestellt. Darin ist ein Ansatzpunkt zu sehen, um die erwähnten Probleme in Bezug auf eine existenzialistische Ethik zu lösen. Den Herausforderungen einer funktionierenden Ethik nämlich lässt sich im Lichte dieser Sprachphilosophie erheblich plausibler begegnen, als es nur auf Basis des Existenzialismus möglich war:
Wittgenstein (1999 [1984]), Tagebücher, Bd. 1, Eintrag vom 2.9.1916. Wachtendorf (2008), S. 183 ff. Søren Kierkegaard, Entweder – Oder, 2 Bde., München: dtv 1995 [1843], S. 172.
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Der Bezugspunkt der Ethik (Frage 1) ist danach die gemeinsame menschliche Handlungsweise. Jedes Urteil wird auf Basis und vor dem Hintergrund der mit den übrigen Sprechern der Sprechergemeinschaft gemeinsam geteilten Werten vorgenommen, die ihren Ursprung in den gemeinsamen Praktiken – der gemeinsamen Handlungsweise – haben. Auf höchster Verallgemeinerungsstufe ist die gemeinsame menschliche Handlungsweise. Wittgenstein selbst hat diese nie bestimmen können, was sicherlich einen großen Schwachpunkt darstellt. Doch wird sich zeigen, dass dieses Problem mit Hilfe des Existenzialismus zu lösen ist. Die Frage nach der Geltung der Normen (Frage 2) lässt sich ausgehend von (1) beantworten. In der Weise, wie Normen entstehen, wird auch ihre Einhaltung überwacht: in den Sprachspielen. Durch die gemeinsame Praxis und das Sprechen einer Sprache entstehen die Normen einer Gemeinschaft von Sprachspielenden, die auch ethische Normen umfassen. Ihre Gültigkeit ist also jeweils auf eine Gemeinschaft bezogen, die wiederum durch den Grad der gemeinsam geteilten Praktiken bestimmt ist. So gelten bestimmte Normen nur für einzelne oder für Kleingruppen wie Familien oder Freundeskreise oder auch für größere Gruppen wie die Bewohner eines Landes oder gar die gesamte Menschheit. Das Prinzip der Geltung ist in allen Gruppen dasselbe, die Normen jedoch können sich unterscheiden, so sehr sogar, dass es unter den Gruppen zu Streit kommen kann. Universelle Normen sind demnach nur solche, die sich aus der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise ergeben. Das Subjekt kann sowohl aus inneren als auch aus äußeren Gründen zum Handeln motiviert werden beziehungsweise sein (Frage 3). Äußere Gründe stellen etwa Sanktionen durch die anderen dar, wenn gegen Normen verstoßen wird. Eine Sanktion in diesem Sinne ist auch das Nichtverstehen: Wer die Sprache nach anderen als den geltenden Regeln verwendet, wird schlicht nicht verstanden. Hieraus ergibt sich eine innere Motivation: Wenn ein Subjekt verstanden werden will, so muss es den geltenden Normen folgen. Unbehagen gegenüber bestimmten Normen kann jedoch beispielsweise zu einer bewussten Missachtung derselben führen, die Einfluss auf die Norm hat und möglicherweise zu Änderungen führt. Unbehagen ist ebenfalls eine innere Motivation. Der Ursprung der inneren Motivation lässt sich nicht mit sprachphilosophischen Mitteln ableiten. Wittgenstein spricht hier vom Gewissen, das er aus dem Wunsch des Einzelnen ableitet, mit der Welt in Einklang leben zu wollen. Dazu muss der einzelne sein Leben darauf ausrichten, zu erkennen (und das heißt verstehen zu wollen³¹). Es lassen sich aber auch existenzphilosophische Entsprechungen finden (siehe IV.3).
Vgl. Wittgenstein (1999 [1984]), Tagebücher, Bd. 1, Eintrag vom 13. 8.1916.
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IV Anwendung Wie sich gezeigt hat, führt die Ableitung einer Ethik aus dem Existenzialismus zu einem unbefriedigenden und problematischen Ergebnis. Wittgensteins Sprachphilosophie bietet demgegenüber die Grundlage für eine plausible Ethik. Sie ist für das Vorhaben, eine existenzialistische Ethik zu entwickeln, deshalb sehr interessant, weil sie die Stellung des Subjekts in gleicher Weise herausstellt, wodurch sich ein systematischer Anknüpfungspunkt ergibt. Umgekehrt ist die Bestimmung der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise, die für Wittgenstein von zentraler Bedeutung ist, in dessen Philosophie im Grunde ungeklärt. Ein Problem, für das der existenzialistische Ansatz Abhilfe verspricht. Folglich gilt es für das Unternehmen Ethik des Existenzialismus, beide Philosophien diesbezüglich füreinander fruchtbar zu machen.
IV.1 Referenzpunkt der ethischen Begründung Es hat sich bereits gezeigt, dass die Überzeugungskraft ethischer Urteile mit dem Referenzpunkt, auf den sie bezogen sind, steht und fällt. Ein solider Referenzpunkt ist somit notwendiger Ausgangspunkt einer Ethik. Gemäß Wittgensteins Überlegungen ist die gemeinsame menschliche Handlungsweise derjenige Bezugspunkt, auf den die Bedeutungen der Wörter und auch der ethischen Urteile bezogen und von dort ausgehend verstanden werden. Es sind die mit den anderen Menschen geteilten Praktiken, die die Grundlage des Verstehens bilden. So einsichtig diese Analyse ist, bleibt doch unklar, worin eine solche gemeinsame Handlungsweise bestehen kann. Hier hilft der Existenzialismus weiter. Karl Jaspers bestimmt die Grundkonstitution des Menschen als die Situation, „daß ich [also der Mensch, T.W.] immer in Situationen bin.“³² Eine Situation ist eine „Wirklichkeit für ein an ihr als Dasein interessiertes Subjekt“³³ und meint, dass das Subjekt, das immer Teil einer Situation ist, als Dasein an dieser Situation zugleich interessiert ist. Es ist Teil und Urheber der Situationen gleichzeitig. Aus dieser Bestimmung folgt allerdings noch keine gemeinsame Handlungsweise. Jedoch sind einige dieser Situationen von einer besonderen Qualität: ihre jeweilige Negation ist nicht denkbar und sie sind unausweichlich. Jaspers nennt solche Situationen Grenzsituationen. Eine von ihnen ist beispielsweise,
Jaspers (1973 [1932]), S. 203. Jaspers (1973 [1932]), S. 201 f. (Hervorhebungen im Original entfernt).
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„daß ich sterben muss“³⁴, eine andere, dass ich mich durch die Wahl des tätigen Lebens (dem ich mich nicht entziehen kann) für bestimmte Möglichkeiten entscheide und dadurch „unvermeidlich Schuld auf mich nehme“³⁵, dass andere nicht verwirklicht werden.³⁶ „Das Andere aber sind Menschen als mit mir mögliche Existenzen“³⁷, auf deren Möglichkeit der Verwirklichung meine Schuld also immer bezogen ist. Solche Grenzsituationen sind, weil sie unausweichlich sind, „wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern.“³⁸ Es ist nun naheliegend, in derartigen, für alle Menschen gleichen Grenzsituationen die Grundlage zu sehen, auf die zumindest einige Handlungsweisen der Menschen bezogen und ihnen damit gemein sind. Jedes Subjekt muss sich zu den Grenzsituationen verhalten, einen Weg finden, mit ihnen umzugehen. Diese Handlungen sind auf das Wesen des Menschen bezogen, weshalb sie bei Heidegger in Verbindung mit der Sorge stehen: „Wohin anders geht ,die Sorge‘ als in die Richtung, den Menschen wieder in sein Wesen zurückzubringen!“³⁹ Diese Handlungen können als zur gemeinsamen menschlichen Handlungsweise gehörig bezeichnet werden.
IV.2 Geltung Die Geltung ethischer Normen, die bei Wittgenstein aus den Sprachspielen folgt, hat im Existenzialismus einen ganz ähnlichen Ursprung: die Anderen. Allerdings ist die existenzialistische Begründung dieses Punktes nicht in derselben Weise stringent und plausibel, wie das in einer systematischen sprachphilosophischen Herangehensweise geschehen kann. Letztere zeigt schließlich ausgehend allein vom Phänomen der Sprache, dass dazu einerseits mindestens ein anderer Sprecher erforderlich ist und andererseits in der Gemeinschaft der Sprechenden die normsetzende Kraft begründet liegt. Sartre kennt die große Bedeutung der anderen für das Subjekt, dessen Seinsform in der Welt er entsprechend Existenz-in-der-Welt-in-Anwesenheit-anderer nennt.⁴⁰ Den Einfluss der Existenz der anderen auf das Subjekt beschreibt Sartre ganz ähnlich wie Wittgenstein es in der Sprachspiel-Philosophie tut. Durch
Jaspers (1973 [1932]), S. 203. Ebd. Vgl.: Jaspers (1973 [1932]), S. 246. Jaspers (1973 [1932]), S. 247. Ebd., S. 203. Heidegger (2000 [1949]), S. 11. Sartre (1998 [1952]), S. 883.
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die Existenz der anderen gibt es bereits bestimmte Techniken, sich die Welt gemäß gewisser Aspekte, deren Sinn außerhalb des Subjekts – nämlich von den anderen – festgelegt wurde, anzueignen. Die Sprache ist ein Beispiel für eine solche Technik.⁴¹ Je nachdem, von welchen Techniken das Subjekt Gebrauch macht, hängt seine Zugehörigkeit zu den verschiedenen Kollektivitäten (im Sinne Wittgensteins: Lebensweisen) ab, die eben dadurch unterschieden sind, von welchen Techniken in ihnen Gebrauch gemacht wird. Im Falle der Sprache zeigen sich diese Unterschiede in gleichsam sprachlichen Dialekten, die durch provinzielle, professionelle oder familiäre Deformationen der Sprache entstehen.⁴² Sartre ist die wichtige Rolle der Sprache in diesem Prozess durchaus klar. Er betont, dass Wörter nicht vor ihrem Gebrauch existieren, der von ihnen in einem Satz gemacht wird.⁴³ In der Weise, dass Sprache eine Technik ist, deren Regeln von den Subjekten gemacht werden, ähnelt Sartres Analyse also sehr stark der wittgensteinschen. Erst durch den Gebrauch dieser Technik, entstehen deren Regeln, denen die Subjekte wiederum unterworfen sind. Sie sind damit zugleich Urheber und Unterworfene unter diese Regeln. Auch hier wird die Aufhebung des Subjekt-ObjektDualismus deutlich, der sowohl Wittgensteins Philosophie als auch den Existenzialismus charakterisiert. Jedoch mündet diese Aufhebung in beiden Fällen nicht in eine vollständige Auflösung des Subjekts zu Gunsten der Anderen. Vielmehr betont sie dessen herausgehobene Stellung, insofern das Subjekt sich zu den Regeln verhalten muss und sich entscheiden muss, ihnen durch Übernahme zuzustimmen oder sie abzulehnen. Indem [das Subjekt, T.W.] in einer Welt auftaucht, in der [Personen, T.W.] in einer bestimmten Weise sprechen, mit dem Rad oder dem Auto rechts fahren usw., und indem es diese freien Verhaltensweisen zu bedeutenden Objekten konstituiert, macht es, daß es eine Welt gibt, wo man rechts fährt, wo man französisch spricht usw.; es macht, daß die internen Gesetze der Handlung Anderer, die durch eine in einen Entwurf engagierte Freiheit begründet und getragen wurden, objektive Regeln des Objekt-Verhaltens und allgemeingültig für jedes analoge Verhalten werden.⁴⁴
In derselben Weise spricht Heidegger über das Man, um die konstitutive Rolle der Anderen für das Subjekt auszudrücken. Er betont ebenfalls das Wechselverhältnis, dass ich als Teil des Man diesem zugleich unterworfen bin:
Sartre Sartre Sartre Sartre
(1998 (1998 (1998 (1998
[1952]), [1952]), [1952]), [1952]),
S. S. S. S.
895. 884. 887. 898.
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Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehens schon übernommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht. ,Die Anderen‘, die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im alltäglichen Miteinandersein zunächst und zumeist ,da sind‘. Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das ,Wer‘ ist das Neutrum, das Man. ⁴⁵
Die Antwort auf die Frage nach der Geltung ethischer Normen oder Urteile sind im Lichte des Existenzialismus und der Sprachspielphilosophie folglich die Anderen, mit denen zusammen das Subjekt dafür ursächlich ist, Regeln zu entwickeln, ihre Einhaltung zu überwachen und verändernden Einfluss darauf auszuüben. Das Subjekt, die Sprache und die sprachliche Verfasstheit der Lebenswelt sind nicht zu transzendieren und damit auch nicht einige darin verwurzelte fundamentale Annahmen und Glaubenssätze, wodurch die Freiheit und die Möglichkeit der eigenen Wahl immer schon zu einem bestimmten Grad eingeschränkt ist. Das Sprachspiel steht eben da „– wie unser Leben“⁴⁶, hinter das wir ebenfalls nicht zurück können.
IV.3 Motivation Die Frage nach der Motivation zu ethischem Handeln lässt sich mit einigen Überlegungen Sartres und Heideggers interessant und durchaus tragfähig beantworten. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die besondere Situation des Menschen als in die Welt Geworfener: „Ich bin in die Welt geworfen…in dem Sinn, daß ich mich plötzlich allein und ohne Hilfe finde.“⁴⁷ Demnach hat die Geworfenheit die Verlassenheit zur Folge. Der Mensch ist auf sich selbst gestellt und von den anderen getrennt, wodurch seinen Entscheidungen und seinem Handeln eine besondere Bedeutung zufällt. Denn „wenn wir von Verlassenheit sprechen – ein Heidegger teurer Ausdruck –, wollen wir sagen, daß Gott nicht existiert und daß man daraus bis zum Ende die Konsequenzen ziehen muß“⁴⁸, die nämlich darin
Heidegger (1953 [1927]), S. 126. Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe: Bemerkungen über die Farben, Über Gewißheit, Zettel, Vermischte Bemerkungen, 8 Bde., 9. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002 [1984], Bd. 8, Über Gewißheit, § 559. Sartre (1998 [1952]), S. 953 f. Sartre (2005b [1965]), S. 154.
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bestehen, „engagiert in eine Welt [zu sein], für die ich die gesamte Verantwortung trage, ohne mich, was ich auch tue, dieser Verantwortung entziehen zu können.“⁴⁹ Der Mensch ist also nicht nur allein und verlassen, er ist darüber hinaus auch noch verantwortlich für sein gesamtes Tun. Aus dieser großen Belastung, insbesondere daraus, falsche Entscheidungen zu treffen, resultiert als grundsätzlicher Seinsmodus – in Heideggers Worten: als Existenzial – die Angst. Sartre fasst gar den Menschen insgesamt als Angst auf: „[D]er Mensch ist Angst. Das bedeutet Folgendes: der Mensch, der sich engagiert und sich bewußt wird, daß er nicht nur jener ist, der zu sein er wählt, sondern auch ein Gesetzgeber, der mit sich die gesamte Menschheit wählt, dieser Mensch kann dem Gefühl seiner totalen und tiefen Verantwortung nicht entrinnen.“⁵⁰ In der Verlassenheit liegt überdies auch die Ursache der Subjektzentriertheit des Existenzialismus⁵¹ und auch in der Angst spiegelt sich diese wider. Letztlich ergibt es sich aus der Verfasstheit des menschlichen Seins, die Trennung von den Anderen und damit die Verlassenheit zu überwinden beziehungsweise überwinden zu müssen. Mag seine Situation auch die der Verlassenheit sein, so ist der Mensch faktisch nicht allein sondern immer auch unter anderen. Die anderen bewerten das Subjekt fortwährend und beurteilen es, woraus eine Abhängigkeitsbeziehung resultiert. „Insofern ich Objekt von Werten bin, die mich qualifizieren, ohne daß ich auf diese Qualifikation einwirken oder sie auch nur erkennen kann, bin ich in Knechtschaft.“⁵² Da hilft es nichts, dass das Subjekt für sein Handeln verantwortlich ist und sich bewusst für sein Handeln entschieden haben kann. Der wertende Blick der anderen trifft es unnachgiebig, wodurch enthüllt wird, dass man der so Gewertete ist. Der Blick der anderen enthüllt, was man ist, gleichgültig, was man sein will, und das heißt, wozu man sich entwerfen will. Die Diskrepanz zwischen dem eigenen gewollten Entwurf und der Enthüllung dessen, was man tatsächlich ist, ist mehr oder weniger unangenehm: „keiner ist nicht eines Tages in einer verfänglichen oder auch nur lächerlichen Haltung überrascht worden.“⁵³ Die Reaktion darauf sind Gefühle des in seinem Scheitern Bloßgestelltseins, beispielsweise die Scham. „Die Scham enthüllt mir aber, daß ich dieses Sein bin.“⁵⁴ Diese Gefühle versucht das Subjekt zu vermeiden, denn sein Ziel ist es üblicherweise, aufrichtig zu sein. Aufrichtigkeit ist ein zentraler Aspekt des Existenzialismus und bietet eine sehr überzeugende
Sartre (1998 [1952]), S. 953. Sartre (2005b [1965]), S. 152. Vgl. Abschnitt II.1. und II.3. Sartre (1998 [1952]), S. 482. Ebd. Ebd., S. 473.
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Begründung, warum jemand ethisch sein will. Aufrichtigkeit lässt sich von ihrem Gegenteil, der Unaufrichtigkeit her, bestimmen. Während man bei der Lüge voraussetzen muss, dass man die Wahrheit kennt, die man mit der Lüge zu verbergen sucht, ist man gerade dann unaufrichtig, wenn man sich selbst die Wahrheit verbirgt.⁵⁵ Das ist etwas anderes, als sich selbst zu belügen (was in diesem Sinne streng genommen ja auch unmöglich ist) und zumeist psychopathologisch strukturiert. Vielmehr begibt man sich mit der Unaufrichtigkeit in einen – sozusagen: existenziellen – Widerspruch. „Die Unaufrichtigkeit ist natürlich eine Lüge, denn sie verschleiert die totale Freiheit des Engagements“⁵⁶, was zu einem Selbstwiderspruch führt. So ist derjenige unaufrichtig, der, obwohl er allein voll und ganz für seine Handlungen verantwortlich ist, dieses nicht sehen will und Strategien entwickelt, sich darüber hinwegzutäuschen. Sollte es ihm gelingen, in dieser Unaufrichtigkeit zu leben, kann er sich der Verantwortung für sein Handeln tatsächlich aber nicht entziehen. Daraus ergeben sich Probleme derart, dass jemand die Verantwortung für sein Tun nicht erkennt. Solche Probleme entstehen allererst zumeist im Konflikt mit den anderen, münden am Ende jedoch in einen Konflikt mit sich selbst, mit seinem eigenen Entwurf im Angesicht der Strukturiertheit des Seins, der man sich eben nicht entziehen kann (ebenso wenig wie über die Angst kann man sich über den eigenen Tod hinweg täuschen, denn der tritt irgendwann ein). Daraus folgt, dass der Antrieb zu ethischem Handeln darin begründet liegt, aus eigenem Interesse diesen Problemen entgehen zu wollen, mehr noch: zu müssen, um psychopathologischen Konsequenzen zu vermeiden. Also ist die ethische Motivation in der Aufrichtigkeit zu sehen, und „die Haltung strenger Kohärenz [ist] die der Aufrichtigkeit.“⁵⁷
V Eine existenzialistische Ethik Es hat sich gezeigt, dass die Schwierigkeiten, eine tragfähige existenzialistische Ethik zu entwickeln, darin zu sehen sind, dass der Existenzialismus den Subjekten eine herausgehobene Stellung zubilligt, die Verbindung der einzelnen Subjekte untereinander aber nicht befriedigend erklären kann. Die Sprachphilosophie – hier am Beispiel Ludwig Wittgensteins – hat sich an dieser Stelle als brauchbare
Vgl.: Sartre (1998 [1952]), S. 122. Sartre (1998 [1952]), S. 171. Ebd.
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Abhilfe erwiesen. Sie geht von einem ähnlichen Ausgangspunkt – nämlich dem Subjekt – aus und kann konkrete Kriterien für eine plausible Ethik aufstellen, die wiederum vom Existenzialismus erfüllt werden. Die Isolation des einzelnen Subjekts wird darin durch die Sprache überwunden (was im Existenzialismus bereits angedeutet wird). Die so entstehende Verbindung der einzelnen Subjekte resultiert daraus, dass der Sprache gemeinsame Tätigkeiten, die diese begleitet, zu Grunde liegen. Die Bedeutungen der Worte gründen am Ende auf Tätigkeiten, sie werden im gemeinsamen Gebrauch der Sprache festgelegt. In diesem Sinne lässt sich auch die Rolle der Anderen im Existenzialismus verstehen (siehe Abschnitt IV.ii). Je mehr Tätigkeiten verschiedene Subjekte miteinander teilen, für desto mehr Bedeutungen gilt dies ebenso. Um einander verstehen zu können, bedarf es zumindest einer geringen Zahl gemeinsamer Tätigkeiten, die ausgehend von der Konstitution des Menschen bestimmt werden können (siehe Abschnitt IV.i). Eine ausgewiesene Klasse ethischer Sätze folgt daraus vor diesem Hintergrund jedoch nicht a priori, sondern steht vielmehr in Abhängigkeit davon, welchen Tätigkeiten die Subjekte ethischen Charakter zumessen. Welche Tätigkeiten das im einzelnen sind, hängt wiederum von den Urteilen der Subjekte ab (die jeweils einer ethischen Motivation folgen, siehe Abschnitt IV.iii), die dann Eingang in die gemeinsamen Sprachspiele finden. Auf diese Weise bekommen einige Tätigkeiten und mit ihnen die sie begleitenden Sätze ein anderes Gewicht, sie werden zu ethischen Sätzen. Jede Tätigkeit und jeder Satz kann ethisch bewertet werden, jede Tätigkeit und jeder Satz kann grundsätzlich eine ethische Tätigkeit oder ein ethischer Satz sein. Für ethische wie auch für nicht-ethische Praktiken (und damit zugleich auch Sätze) gilt, dass sie entweder bestärkt und dadurch befördert oder abgeschwächt und dadurch an der weiteren Ausbreitung gehindert werden. Letztlich ist genau darin, welche Praktiken und Sätze ethisch bewertet werden, der Ursprung der Ethik zu sehen. Eine solche Auffassung von Ethik hebt die klassische Trennung zwischen ethischen und nichtethischen Sätzen auf und auch der Mythos einer explizit ethischen Theorie mit explizitem ethischen Gegenstand verliert seine Grundlage. Ethik besteht dann nicht mehr im kantischen Sinne darin, auf ethische Begriffe zu reflektieren, sondern vielmehr im praktischen Tätigsein – im Lebensvollzug – im existenzialistischen Sinne und das heißt, Urteile zu fällen und die Welt zu bewerten. Diesen Urteilen liegen Werte zu Grunde, die ihren Ursprung letztlich im Verhältnis des Für-Sich zum An-Sich haben. Das Für-Sich ist nicht das An-Sich, es bestimmt sich fortwährend dazu, es nicht zu sein.⁵⁸ Aus dieser Nichtung entsteht
Sartre (1998 [1952]), S. 183.
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im Für-Sich-Sein ein Mangel, der mit der menschlichen Realität erscheint: „In der menschlichen Welt also ist das unvollständige Sein, das sich der Intuition als Mangelndes darbietet, in seinem Sein durch das Mangelhafte konstituiert – das heißt durch das, was es nicht ist; so verleiht der Vollmond der Mondsichel sein Sichelsein.“⁵⁹ Das Sein transzendiert sich selbst in Richtung auf das Mangelnde, um seinem Mangel abzuhelfen. Das,woraufhin es sich transzendiert, stellt folglich dasjenige dar, von dem das Sein glaubt, dass es seinem Mangel abhelfen können wird. Hier ist der Ursprung des Wertes zu sehen: „Der Sinn des Wertes ist, das zu sein, auf das hin ein Sein sein Sein überschreitet: jede valorisierte Handlung ist Losreißen von ihrem Sein in Richtung auf […]“⁶⁰ Im Wert zeigt sich, worin das Subjekt einen Mangel erkennt und in seinem Entwurf zeigt sich, ob und, wenn ja, was es unternimmt, diesen Mangel zu beseitigen. Aus dem Entwurf des Einzelnen – und damit am Ende aus den Werten – folgt schließlich die Haltung des Subjekts, die dessen Weisen des Weltbezugs bestimmt und zugleich ausdrückt. Dabei handelt es sich um die jeweilige Klasse von Dispositionen, auf die Welt zu reagieren. Die zentrale Rolle des Subjekts für die Ethik hat eine Absage an deren überzeitliche und universelle Gültigkeit zur Folge. Denn jedes Subjekt ist – genau wie seine Urteile – immer auch Kind seiner Zeit und in diese Zeit eingebunden: Eine wichtige Schlußfolgerung hieraus für die Möglichkeit einer allgemeingültigen Ethik ist im übrigen, daß umgekehrt auch Richtlinien für das menschliche Verhalten nie a priori existieren können, sondern nur im Zusammenhang mit den Menschen, die sie in einer bestimmten Situation zu ihren Richtlinien wählen. Diese bildet zwar den Hintergrund für eine solche Wahl, aber auch sie ist gewählt und kann sich mit der Zeit ändern. Selbst, wenn also die Möglichkeit einer für alle verbindlichen Ethik bestünde, würde diese nicht von Dauer sein können, sondern mit der Wahl der beteiligten Personen des Kulturkreises stehen und fallen! Für meine Freiheit stellt sie allerdings eine reale Begrenzung dar, sobald ich mich als den Regeln dieses Kreises unterworfen betrachte.⁶¹
Demnach lässt sich nicht in der einsamen Kammer in Form oder mit Hilfe einer Theorie räsonieren, was zu tun beziehungsweise was gut ist. „Wir können nicht a priori entscheiden, was zu tun ist.“⁶² Die Auffassung, dass die Bestimmung des Guten (respektive einer Ethik) außerhalb der Lebenspraxis unmöglich ist, teilt
Sartre Sartre Sartre Sartre
(1998 [1952]), S. 185. (1998 [1952]), S. 195 f. (1998 [1952]), S. 903. (2005b [1965]), S. 169.
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übrigens auch Wittgenstein: „Man kann die Menschen nicht zum Guten führen; man kann sie nur irgendwohin führen.“⁶³ Eine derartige Ethik stellt anstelle der klassischen ethischen Theorie das Subjekt in den Mittelpunkt und betont dessen herausgehobene Stellung und die ausschlaggebende Relevanz seiner Entscheidungen. Dadurch erhält das Subjekt Verantwortung im vollumfänglichen Sinne. Es ist die Haltung des Subjekts, die das Ergebnis ethischer Überlegungen ist. Folglich ist es auch die Haltung, die allein ethisch zu bewerten ist, drückt sie doch aus,welches Verhalten gegenüber der Welt das Subjekt für richtig hält, was zugleich Ausdruck seiner Auffassung ist, wie man sich verhalten sollte. Doch lässt sich überhaupt feststellen, welche Haltung ein Subjekt hat? Sind Rückschlüsse auf Haltungen möglich? Ein solcher Schluss ist zulässig, wenn man im Sinne eines principle of charity unterstellt, dass das Subjekt im Regelfalle⁶⁴ aufrichtig und vernünftig⁶⁵ handeln wird und kohärent wirken will. Dies muss man allein schon deshalb unterstellen, weil das Subjekt üblicherweise verstanden werden will, wozu Kohärenz eine notwendige Voraussetzung ist. Vor diesem Hintergrund kann man eine Handlung eines Subjekts eindeutig klassifizieren als: 1. vollständig gewollt: In diesem Falle ist sie in vollem Umfang und mit voller Verantwortung dem Subjekt zuzurechnen. Sie ist daher klar Ausdruck einer Haltung, ein Rückschluss auf diese folglich problemlos möglich.⁶⁶ 2. billigend inkohärent: Die Handlung wird durchgeführt, ohne alle dazu relevanten Umstände zu kennen. Dadurch dass das Subjekt es entweder vorsätzlich oder versehentlich unterlassen hat, sich die nötigen Informationen zu beschaffen, ist hier der Rückschluss auf die Haltung möglich. Denn in beiden Fällen ist die Konsequenz ein Widerspruch dahingehend, dass das Subjekt jeweils ausweislich seiner Handlung etwas will, was es eigentlich nicht gewollt hätte,wenn es kundig gewesen wäre. Sich nicht kundig zu machen, führt also zu Inkohärenz, die entweder vorsätzlich herbeigeführt oder billigend in Kauf genommen wird. 3. offen unaufrichtig: Eine Handlung ist offen unaufrichtig, entweder wenn sie durchgeführt wird und das Subjekt gleichzeitig erklärt, etwas ganz anderes als die offensichtliche Konsequenz jener Handlung wäre damit beabsichtigt ge-
Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlass, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 454. Das heißt, sofern kein besonderer Grund beziehungsweise keine besonderen Umstände vorliegen. In einem weiten, auf die Haltung bezogenen Sinn. Vgl.: Sartre (2005b [1965]), S. 170.
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wesen oder wenn jemand angibt, vorgeblich so handeln zu müssen, weil ihn bestimmte Umstände dazu zwängen. Aber die Situation des Menschen ist die freie Wahl und „jeder Mensch, der seine Leidenschaften vorschiebt und sich mit ihnen entschuldigt, jeder Mensch, der einen Determinismus erfindet, unaufrichtig.“⁶⁷ Unaufrichtigkeit selbst kann nicht als Haltung funktionieren, weil sie eine Lüge ist und auf einem Selbstwiderspruch beruht, der die totale Freiheit des Individuums verschleiert. Denn „die Haltung strenger Kohärenz [ist] die der Aufrichtigkeit.“⁶⁸ Gemäß dieser Klassifikation verbleiben nur vollständig gewollte Handlungen als diejenigen, die ein Subjekt sinnvoll ausführen kann. Alle anderen führen zu mehr oder weniger offenen Widersprüchen und damit verbundener Unaufrichtigkeit. Die einzige Ausnahme bilden (aus welchen Gründen auch immer) nicht intentionale („unvernünftige“) Handlungen:⁶⁹ einzig hier ist ein Rückschluss auf die Haltung nur bedingt möglich. Die hier entfaltete Konzeption einer existenzialistischen Ethik lässt sich metaethisch einordnen. Da sich die Haltung in Wort und Tat ausdrückt, ist es klar, dass eine einfache Motivethik, die nur Absichten betrachtet, genau so wenig zielführend ist wie eine einfache deontologische Ethik, die ausschließlich Handlungen untersucht. Die Handlungen müssen mit den Absichten konsistent sein und vice versa, weswegen Wort und Tat, Absicht und Handlung stets gemeinsam Gegenstand ethischer Reflexionen werden müssen. Dieser Anforderung wird eine modifizierte (handlungszentrierte) Motivethik gerecht. Entscheidend ist, wie bei der Motivethik, die Absicht des Einzelnen. Weil ein direkter und unvermittelter Zugriff darauf aber nicht möglich ist, wird als deren Folge die Handlung bewertet. Über den Umweg der Handlung wird dadurch auf die Haltung des Subjekts zurück geschlossen. Gradmesser für die ethische Qualität der Haltung ist die Aufrichtigkeit des Subjekts, deren Kriterien sich aus dem Verhältnis des Einzelnen zu den Anderen in einer jeweiligen Gemeinschaft ergeben. Diese Ethik lässt sich (alltags‐)sprachphilosophisch rekonstruieren und ihr Funktionieren damit aus der Praxis heraus zeigen. Der allen Sprachspielen gemeinsame Referenzpunkt der ethischen Werte und Urteile wird existenzialistisch analysiert und bildet somit das Fundament der Gemeinschaft der einzelnen
Sartre (2005b [1965]), S. 171. Ebd. Ein Beispiel für eine solche Handlung ist etwa der Tanz, dessen Intention (Spaß, Kontemplation, Trance etc.) eben genau nicht darin besteht, worauf die einzelnen Handlungen für sich genommen abzielen.
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ethischen Egoisten, wodurch der je eigene Egoismus auf die Gemeinschaft ausgeweitet wird und so eine gemeinsame Ethik entsteht.
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Existenzphilosophie als Ontologie moralischer Phänomene? Abstract: Traditional existential philosophy, as it is presented in the works of Kierkegaard, Heidegger, Jaspers, and Sartre, is a project of phenomenological ontology that focuses on the analysis of the human self. By analyzing the ethical implications of the existential conscience, I will argue that existential ontology is only somewhat successful in explicating phenomena that is highly relevant to human morality, e. g., guilt, constancy, or communication. Traditional existentialist ontology does not adequately explain the realm of moral phenomena. It does not account for a human understanding of “just” and “unjust” or the feeling of responsiblity for the common world. In order to explicate such phenomena an analysis must also concentrate on the social and political ontology of our being-in-the-world. Therefore, I shall investigate different approaches to man’s “worldliness” suggested by Bonhoeffer, Arendt, Patočka, Løgstrup, and Schmitz who in a certain way continue existential philosophy’s project.
Einleitung Die Existenzphilosophie versteht sich nicht selten als das Projekt einer phänomenologischen Ontologie, deren Untersuchungsgegenstand das menschliche Selbst ist: Unleugbare Phänomene des faktischen In-der-Welt-seins, der alltäglichen menschlichen Wirklichkeit, wie das Verstehen von Welt, Angst, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit, aber gerade auch gewisse, für die Moralität des Menschen bedeutsame Phänomene wie Schuld, Gemeinschaftlichkeit mit Anderen,Treue und Gewissen seien – so die existenzphilosophische These – ohne einen Bezug auf die eigenartige Ontologie des Selbst nicht zu erklären. Nachdem ich in einem ersten Abschnitt den existenzialontologischen Zugang zur Phänomenalität des In-der-Welt-seins ganz grob und allgemein vorgestellt habe, um zu klären, welchen „Ort“ die Existenz im Rahmen der faktischen Lebenserfahrung hat, gehe ich im zweiten Abschnitt der Ontologie des Selbst nach. Diese Ontologie ist das Ergebnis einer methodischen Explikation dessen, was sich diffus, aber durchaus orientierungsstiftend in jenem Phänomen zu verstehen gibt, das man „existenzielles Bewusstsein“, „Bewusstsein möglicher Existenz“ oder
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einfach nur „existenzielles Gewissen“ nennen könnte.¹ Sämtliche Methoden der Existenzerhellung, der existenziellen Psychoanalyse oder der Existenzialontologie liefen ins Leere, wenn dieses Phänomen nicht getroffen werden würde. Die Explikation des existenziellen Gewissenphänomens werde ich nachzeichnen, indem ich mich auf Vertreter der traditionellen Existenzphilosophie wie Søren Kierkegaard, Martin Heidegger, Karl Jaspers oder Jean-Paul Sartre stütze. Dabei werde ich an den entsprechenden Stellen darauf eingehen, auf welche Weise die Bedeutung moralischer Phänomene wie etwa die des Gewissens als durchschnittliches sittliches Verantwortungsbewusstsein in einem tieferen Verständnis des existenziellen Gewissensphänomens fundiert ist. Ein wichtiges Ergebnis wird dabei sein, dass eine derartige Explikation sehr formal bleibt – was kaum überrascht, da die Existenzphilosophie traditionell sehr viel Wert legt auf die Offenheit für viele Möglichkeiten der Konkretion.Vor diesem Hintergrund kann der existenzialontologische Ansatz bestenfalls einen Beitrag zu metaethischen Fragen wie beispielsweise der Frage nach der Bedeutung der Pflicht leisten.² Eine normative Ethik, die konkrete Gehalte der Pflichten zu formulieren versucht, ist mit einer Analytik des existenziellen Bewusstseins allein nicht zu leisten. In einem dritten Abschnitt möchte ich daher Ansätze vorstellen, die durchaus in Anknüpfung an das existenzphilosophische Projekt mögliche Ansprüche an menschliches Handeln spezifizieren, indem sie nunmehr stärker den Blick auf die „Weltlichkeit“ des Menschen und deren immanente Normativität richten. Die grobe Stoßrichtung dieser Ansätze ist es, die Ontologie des Selbst in eine Ontologie der Mit-Welt, d. h. in eine Ontologie des Sozialen, gelegentlich sogar des Politischen einzubetten, um moralische Phänomene wie beispielsweise die Unterscheidung zwischen „Recht“ und „Unrecht“ oder das Bewusstsein einer Verantwortung für die gemeinsame Welt zu explizieren.
Vgl. Karl Jaspers: Philosophie II: Existenzerhellung, München: Piper 1994, S. 64: „entscheidendes Bewußtsein möglicher Existenz“, S. 70: „Gewissen möglicher Existenz“; vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen: Max Niemeyer 2001, S. 290: „Wenn die existenziale Analyse das Gewissensphänomen in seiner ontologischen Verwurzelung freigelegt hat, müssen gerade aus ihr die vulgären Auslegungen verständlich werden.“ Weitere Fragen, zu deren Beantwortung die Existenzialontologie meiner Ansicht nach mit Gewinn herangezogen werden kann, mögen etwa so lauten: Was hat es damit auf sich, dass unserem durchschnittlichen sittlichen Verantwortungsbewusstsein ein gravierender Unterschied zwischen einem „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ und einem „Ich konnte nicht anders, denn ich habe doch nichts gewusst“ so evident ist? Was muss einer sonst noch als wahr gelten lassen, wenn er sich sittlichen Tadel für etwas zuziehen zu können meint, das er nach alltäglichem Verständnis gar nicht „frei“ gewollt hat?
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I Der existenzialontologische Zugang Die Pointe der phänomenologischen Existenzialontologie besteht darin, die faktische Lebenserfahrung selbst als das zu untersuchende Phänomen konsequent zu thematisieren. So gehört etwa der Umstand, dass die Dinge in der Welt mich angehen, dass ich es bin, der verzweifelt ist, sich ekelt, Glück empfindet, dieses gebrauchen kann, jenes meidet, zweifellos zur unhintergehbaren und präreflexiven Gegebenheitsweise der Phänomene im faktischen Leben. Ein weiterer, vom bloßen Betroffensein zu differenzierender Aspekt des faktischen Erfahrungszusammenhangs ist die Art und Weise, wie sich ein Individuum in diesen Zusammenhang einbringt, wie es ihn „vollzieht“, sich selbst in ihm hinnimmt. Wenn ich beispielsweise hungere, kann ich nichts daran ändern, dass es Hunger ist, den ich erlebe, und dass ich es bin, der ihn erlebt – und doch bin ich auch immer schon irgendwie in das Hungern engagiert: Ich mag geduldig, trotzig, wehleidig usw. hungern und dies wiederum charakterisiert das Phänomen des Hungers entscheidend mit. Der frühe Heidegger nennt diesen Aspekt „Vollzugssinn“, Sartre nennt es „projet original“, Hermann Schmitz arbeitet dies unter dem Titel „Gesinnung“ heraus und knüpft damit auf originelle Weise an ethische Theorien Schopenhauers und Schelers an.³ Man könnte diesen vollzugsmäßigen Aspekt des faktischen Erfahrungszusammenhangs aber auch gut und gerne mit Jaspers „Existenz“ nennen.⁴ Anders als die meisten Tiere ist der Mensch fähig, ein wenig mehr Kontrolle über sein Existieren zu gewinnen, indem er sich der konkreten Weise seines wehleidigen oder trotzigen Engagiertseins bewusst werden und sogar mehr oder weniger gezielt auf andere Weisen des Sich-hinnehmens entwerfen kann. Aufgrund seiner kulturellen Disposition kann der Mensch sein Engagiertsein auch in komplexeren Rollen- und Handlungsmustern reflektieren und differenzieren, das nicht zuletzt seinem Tun und Lassen, Leben und Leiden intersubjektiv kommunizierbare Verstehbarkeit verleiht: Eine Person kann sich beispielsweise nicht nur hinnehmen als wehleidig oder trotzig, sondern darüber hinaus als treuer Ehemann von O … oder als Gerichtsrat, sie kann ihr Engagement in der Welt vollziehen, indem sie sich selbst als Märtyrerin oder als Amokläufer versteht.
Vgl. Martin Heidegger, „Einleitung in die Phänomenologie der Religion,“ in Phänomenologie des religiösen Lebens, hrsg. v. Matthias Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, in Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 1– 102, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1975-…, Bd. 60, S. 63; vgl. Jean-Paul Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénonménologique, Paris: Gallimard 1943, S. 534 sowie 530 ff.; Hermann Schmitz, System der Philosophie III-3: Der Rechtsraum. Praktische Philosophie, Bonn: Bouvier 1973, S. 584 f. Vgl. u. a. Jaspers (1994), S. 6.
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In der Art und Weise des faktischen Engagiertseins, des Sich-Hinnehmens in der konkreten Situation zeigt sich etwa der existenzialen Psychoanalyse der projet original, der trotzige, wehleidige oder leichtsinnige „Charakter“ des ursprünglichen Selbst, für den die Person verantwortlich ist.⁵ Dieser Zusammenhang ist für das Verständnis moralischer Phänomene bedeutsam: Das faktisch erlebte Schuldgefühl, das schlechte Gewissen als „vulgäres Phänomen“ bedeutet – existenziell erhellt – nicht eine Reue begangener Taten, sondern die problematische Entdeckung des eigenen Selbstseins: „So einer muss ich also sein, wenn ich dies habe tun, wenn mir jenes so hat geschehen können.“ Die existenzialontologische Analyse des Schuldgefühls macht – mit Heidegger gesprochen – eine Art Tiefenphänomen sichtbar, das sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, daß es seinen Sinn und Grund ausmacht.⁶
Das Tiefenphänomen, um das es hier geht, ist die existenzielle Gewissenserfahrung.
II Das existenzielle Gewissensphänomen Mit den verschiedenen Momenten der existenziellen Gewissenserfahrung sind ethisch relevante Evidenzen eines normativen Wirklichkeitsverständnisses gege-
Vgl. Sartre (1943), S. 534: „Nach unserer Analyse scheint aber auf jeden Fall evident zu sein, daß die Art, wie mein Begleiter seine Müdigkeit erleidet, zu ihrem Verständnis notwendig eine regressive Analyse erfordert, die uns bis zu einem Initialentwurf führt“ (deutsche Übersetzung von Hans Schöneberg u. Traugott König). Jaspers (1994) nennt das, was Sartre mit projet original meint, den Entschluss. Dieser „ist, was sich dem Willen noch als das Geschenk gibt, daß ich wollend eigentlich sein kann: aus dem ich wollen, den ich aber nicht mehr wollen kann. […] Der Entschluß offenbart sich aber in der konkreten Wahl […]. Entschluß und Selbstsein sind eines“ (S. 181). Die von Arthur Schopenhauer („Die beiden Grundprobleme der Ethik“, in Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik [1854], in Arthur Schopenhauer. Sämtliche Werke, Bd. 1– 7, hrsg. v. Arthur Schmücker, 4. Aufl., Mannheim: Brockhaus 1988, Bd. 4, S. 257) angeführten Redeweisen über den Charakter, nach denen sich dieser in „unseren Thaten“ bezeuge (z. B. „Jetzt sehe ich, wie du bist“, oder „Ich bin nicht der Mann, der fähig wäre, Sie zu hintergehn“), zeugen laut Schmitz (1973) davon, „daß in sittlich kritischen Umständen der Handelnde wie der Beurteiler Schuld und Verdienst nicht für frische Erzeugnisse der auf eine Konfliktsituation reagierenden Entscheidung halten, sondern in eine tiefere, dem Menschen zentral zugehörige Gesinnung verlegen, die sich bei solcher Beanspruchung bloß offenbart“ (S. 584). Heidegger (2001), S. 35.
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ben. Ich skizziere im Folgenden die sechs Momente dieser Erfahrung, die mir am wichtigsten erscheinen, nämlich die existenzielle Intimität, das Faktum ursprünglicher Freiheit, das existenzielle Müssen, den Anspruch auf Kohärenz, das Bewusstsein der Endlichkeit und schließlich den Drang zum Offenbarwerden und zur Kommunikation. Die Reihenfolge ist nicht Ausdruck einer ontologischen Hierarchie, sondern entspricht dem Versuch einer thematischen Gliederung des Phänomens. Ich beginne mit dem Moment der existenziellen Intimität. Phänomenologisch gesprochen ist Existenz erhellt, wo einer Person das eigene Engagiertsein im jeweiligen Erfahrungszusammenhang ausdrücklich zum Thema, ja nicht selten zum Problem wird. Der Anteil des je eigenen Engagiertseins am spezifischen So-sein der Situation, das Sich-hinnehmen als wehleidig oder in der Rolle des Gerichtsrats fällt dann so ins Gewicht, dass die Weise des Engagierens als „das Intimste in mir“ erscheint, „das, was am meisten ich ist und bleibt“⁷, auch wenn dies wohl nicht das erste ist, was mir bei einer Selbstbeschreibung einfallen mag. Auf diese Intimität verweist etwa Jaspers, wenn er das, was er unter Existenz versteht, von dem Phänomen des Ungenügens am alltäglichen Welt- und Selbstverständnis des Menschen aus zu erklären versucht, in dem alles als ein bloßer Bestand vorkommt, ohne Rücksicht auf den Anteil des je eigenen Engagiertseins in die Situation: Die Unbefriedigung, die mich befällt, wenn ich theoretisch oder praktisch das Weltdasein Alles sein lasse, ist ein negativer Ursprung, der mich im Abheben der Existenz vom Weltdasein die Wahrheit dieses Abhebens fühlen läßt. […] Diese Unbefriedigung […] ist der Ausdruck des Seins möglicher Existenz, die, wenn sie ihre Unbefriedigung ausspricht, nicht ein anderes versteht, sondern sich selbst.⁸
Ein weiteres Moment der existenziellen Gewissenserfahrung ist das Faktum der ursprünglichen Freiheit. Das existenzielle Bewusstsein, das Jaspers⁹ auf so emphatische Formeln bringt, wie: „es kommt auf mich an“, „ich bin unvertretbar“, oder „es muss entschieden werden“, bezeugt eine Unhintergehbarkeit des je eigenen Engagiertseins im jeweiligen Erfahrungszusammenhang, die sich der methodischen Untersuchung auch in Situationen zeigt, die mit weniger Emphase aufgeladen sind. Das existenzielle Gewissensphänomen macht für einen Augenblick in aller Schärfe explizit, was auch in jeder anderen und alltäglicheren Situation gilt: Weder kann ein Mensch die konkreten Bedingungen, die sein Leben betreffen, ablehnen, noch kann er, und hier liegt die eigentliche Pointe des
Hermann Schmitz, Freiheit, Freiburg: Alber 2007, S. 72; vgl. Schmitz (1973), S. 586. Jaspers (1994), S. 6. Vgl. Jaspers (1994), S. 8, 21, 58.
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Freiheitsfaktums, es ablehnen, sich zu diesen konkreten Bedingungen zu verhalten. Das Sich-hinnehmen in einer konkreten Situation, sei es nun als wehleidig oder tapfer, als treuer Ehemann von O … oder als Don Juan, ist nicht vermeidbar, und dies ist die ursprüngliche Freiheit, zu welcher der Mensch nach Sartre „verurteilt“ zu sein scheint.¹⁰ Dies ist meines Erachtens der Sinn der relationalen Ontologie des Selbst, wie sie auf den ersten Seiten der Krankheit zum Tode entfaltet wird.¹¹ Wo sich der existenzielle Gewissensruf geltend macht, erscheint die konkrete Situation als etwas, das getragen, ja das ganze Leben erscheint als etwas, das geführt werden muss¹² – und zwar nicht nur in diesem besonderen Augenblick, sondern, wie die jeweilige Person zu verstehen meint, eigentlich immer. Bei der ursprünglichen Freiheit geht es mitnichten um ein liberum arbitrium, auch wenn der von Kierkegaard (im Rückgriff auf Fichte) geprägte und von Heidegger, Jaspers und Sartre übernommene Ausdruck „Wahl“ leicht im Sinne eines blanken Dezisionismus missverstanden werden kann.¹³ Die existenzielle Wahl besteht nicht in einem Bevorzugen einer von mehreren Alternativen, über die man gut informiert ist, dem Finden einer objektiv optimalen Lösung eines Dilemmas. Ebenso wenig erschöpft sie sich in einer Entscheidung um der bloßen Entschiedenheit willen, wie sie neben Heidegger vor allem Carl Schmitt unter einem völligen Absehen von irgendeinem sachlichen Gehalt propagiert hat.¹⁴ Oft hat man
Vgl. Sartre (1943), S. 639. Vgl. Søren Kierkegaard, „Sygdommen til Døden,“ in Lilien paa Marken og Fuglen under Himlen, Tvende ethisk religieuse Smaa Afhandlinger, Sygdommen til Døden og „Ypperstepræsten“ – „Tolderen“ – „Synderinden“, hrsg. v. Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Anne Mette Hansen und Johnny Kondrup, in Søren Kierkegaards Skrifter, Bd. 1– 28, hrsg. v. Niels Jørgen Cappelørn, Joakim Garff, Johnny Kondrup, Tonny Aagaard Olesen und Steen Tullberg Kopenhagen: Gads Forlag 1997-…, Bd. 11, S. 129 f. Der Mensch als Selbst sei „ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“. Dieses Verhältnis sei überdies gesetzt durch ein Anderes, da nur dies die Erfahrung erklären könne, dass das Selbst darin scheitert, sich selbst und seine Situation allein nach eigenem Gutdünken, d. h. ohne Berücksichtigung eines vorgängigen Anspruchs auf Wahrhaftigkeit hinzunehmen. Vgl. Jan Patočka: Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften, in Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Klaus Nellen und Jiří Němec, Stuttgart: Klett-Cotta 1988, S. 38. Vgl. Schmitz (1973), S. 566 f. Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München und Leipzig: Duncker und Humblot 1922, S. 50 u. 56: Für die „absolute Dezision“, mit der Schmitt sich auf die „anspruchsvolle moralische Entscheidung“ zu beziehen vorgibt, gibt es keine Rationalität des guten Grundes mehr – der einzige „gute Grund“, der die absolute Entscheidung normiert, ist ein sehr formaler: Er bezieht sich auf die Etablierung und Erhaltung der Existenz der entscheidenden Subjektivität, „weil“, wie Schmitt in seinem De-Maistre-Referat sagt, „es gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, daß entschieden werde, als wie entschieden wird“.
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gar keine Wahl in diesem Sinne, nicht selten heißt es emphatisch: „Ich kann nicht anders.“ Die Wahl ist, worauf auch oft hingewiesen wird, eher eine Selbstwahl, in der sich das Individuum in seinem Tun und Leiden ausdrücklich hinnimmt, sich leidenschaftlich dazu bekennt – und, wie wir später sehen werden, zur Bereitschaft, dafür einzustehen, die Konsequenzen auf sich zu nehmen. Drittens: Die im Gewissensphänomen bezeugte ursprüngliche Freiheit wird noch genauer charakterisiert durch die Evidenz des existenziellen Müssens, die eine Form der Nötigung durch die Realität darstellt: So wie jemand mit einem gebrochenen Knie einsehen muss, dass er in der nächsten Zeit nicht Schlittschuh laufen kann, so schließt sich für den, der sich existierend in der Rolle des Don Juan versteht, die Rolle des treuen Ehemanns von O … aus und umgekehrt.¹⁵ Auf der Geschäftsgrundlage des existenziellen Müssens stellt das Gewissensphänomen viertens den Anspruch auf Kontinuität und Kohärenz im eigenen Selbstverständnis. Dieser Anspruch trifft das intime Selbst in seiner Tendenz zur „Trägheit“ bzw. in seiner „Neigung“ zu dauerhafter Sicherheit (Stabilität)¹⁶ und modifiziert diese im Idealfall zur geschichtlichen „Treue“¹⁷ oder – im schlimmsten Fall – zu jenem aufreibenden Verzweifeltsein, das in dem beständigen Scheitern und erneuten Angehen des Versuchs besteht, sich in einer anderen Weise oder einer anderen Rolle hinzunehmen als derjenigen, die ihm in krasser Intimität auffällt. Das Gewissen gibt dem von ihm Betroffenen zu verstehen, dass er sich hier und jetzt an sein vergangenes Tun und Lassen wie auch in Zukunft an sein aktuelles Verhalten gebunden fühlen muss – freilich nicht in dämonischer Nibelungentreue, sondern gegebenenfalls auch im Eingestehen von Fehlern und Sichkorrigieren-lassen, denn auch hierin zeigt sich ein gewisses Konsequentsein.¹⁸ Die „Treue des Ursprungs“ ist das verantwortungsbewusste Hinnehmen der Bedingungen, unter denen man zu leben hat, sowohl der formalen Bedingung der
Vgl. Heidegger (2001 [1926]), S. 285: „seinkönnend steht es [das Dasein – H.N.] je in der einen oder anderen Möglichkeit, ständig ist es eine andere nicht und hat sich ihrer im existenziellen Entwurf begeben. […] Die Freiheit aber ist nur in der Wahl der einen, das heißt im Tragen des Nichtgewählthabens und Nichtauchwählenkönnens der anderen.“ Freilich findet man eher selten ein offenes Bekenntnis zu dieser leicht „philiströsen“ Seite der Existenzphilosophie, denn im Vordergrund steht zumeist die Geste des Immer-wieder-neuansetzens. Kierkegaard versucht noch, den beständigen Neuanfang mit dem Konzept der Notwendigkeit auszubalancieren, vgl. Kierkegaard (1997-…/11), S. 151 ff., während Sartres Position bereits in vielerlei Hinsicht der des Ironikers ähnelt. Vgl. Jaspers (1994 [1932]), S. 135. Dies hieße meines Erachtens eigentlich „Gewissen-haben-wollen“, Heidegger (2001 [1926]) aber bringt diesen Ausdruck vor allem mit dem Sich-einlassen auf das Müssen in Verbindung, d. h. mit dem „nichtenden“ Ausschluss anderer möglichen Vollzugsweise durch die je aktuelle (vgl. S. 285, 288).
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ursprünglichen Freiheit als auch der konkreten Bedingungen des eigenen Soseins. Sie ist eine existenziale Voraussetzung dafür, dass jemand überhaupt etwas als seine ethische Pflicht versteht: Wenn ich […] keiner Treue lebendig gewiß bin, und mich schon in übermenschlichen ethischen Forderungen an mich und andere bewege, so geschieht mir, daß ich nur eine objektiv ethisch aussehende Handlung tue, aber ihren Sinn in der Tatsächlichkeit meines Alltags nicht einen Augenblick festzuhalten vermag.¹⁹
Jene „Treue“ sichert die Person vielleicht vor Verzweiflung, nicht aber vor dem Unglück faktischer Verschuldung und der Erfahrung katastrophaler Gewissensscham, die anders als konventionelle Scham bis in die Intimität hinein betroffen macht.²⁰ Sie äußert sich, wenn die Person etwa entdecken muss, als wie feige sie sich hat gelten lassen oder in welchem Leichtsinn sie sich in die Situation engagiert hat,²¹ wenn die bisherige Kohärenz und Kontinuität als nicht mehr haltbar erscheint vor der Frage: „Was muss ich für ein Mensch sein, daß ich das habe tun können?“ Bereits das faktische Schamgefühl entdeckt normative Anteile der Wirklichkeit: Es stiftet u. a. die Evidenz, dass das Individuum sich erkennt als Übertreter einer bestimmten Norm, deren Verbindlichkeit es für sich selbst gleichzeitig anerkennen muss. Dass sich die Person jedoch überhaupt im faktischen Schuldgefühl dieser katastrophalen Scham stellen muss, weist allerdings auf das fundamentalere Phänomen der hier gemeinten Gebundenheit hin. Das Bewusstsein dieser Gebundenheit macht es einem auch unmöglich, sich beim Entdecken der eigenen Fahrlässigkeit mit den Worten zu beruhigen: „Ich konnte nicht anders, denn ich wusste es doch nicht besser.“ Ein fünftes Moment besteht darin, dass das existenzielle Gewissen, anders als das faktische, einerseits irgendein implizites oder explizites Verständnis hinsichtlich der unhintergehbaren Endlichkeit und Begrenztheit, ja der Vergänglichkeit des je eigenen faktischen In-der-Welt-seins mitgibt, andererseits aber auch die Möglichkeit, innerhalb dieser Grenzen „voll da“ zu sein.²² Das „Sein zum Tode“ bei
Jaspers (1994), S. 139 f. Vgl. Schmitz (1973), S. 644. Vgl. ebd. S. 559 f. Vgl. das „Ganzseinkönnen“ bei Heidegger (2001 [1926]), S. 310, im Zusammenhang mit dem „Sein zum Tode“: „Die vorlaufende Entschlossenheit ist kein Ausweg, erfunden, um den Tod zu ‚überwinden‘, sondern das dem Gewissensruf folgende Verstehen, das dem Tod die Möglichkeit freigibt, der Existenz des Daseins mächtig zu werden und jede flüchtige Selbstverdeckung im Grunde zu zerstreuen […] Mit der nüchternen Angst, die vor das vereinzelte Seinkönnen bringt, geht die gerüstete Freude an dieser Möglichkeit zusammen. In ihr wird das Dasein frei von den ‚Zufälligkeiten‘ des Unterhaltenwerdens, die sich die geschäftige Neugier primär aus den Welt-
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Heidegger oder die Perspektive der Ewigkeit bei Kierkegaard sollen das in einer konkreten Situation Erscheinende nicht mehr im Lichte der bloß zufälligen oder vorläufigen Möglichkeiten zeigen, sondern die Bedeutsamkeit dieser Situation in Bezug auf das ganze, durch prekäre Begrenztheit qualifizierte Leben. Im Lichte eines solchen Verständnisses erscheint nicht nur die Gunst der Stunde zur Dringlichkeit des Augenblicks zugespitzt. Es bleiben überdies nur noch wenige mögliche Weisen des Engagiertseins übrig, die ernsthaft als Option erscheinen und die sich dann nicht selten mit aller Schärfe und Ausdrücklichkeit als programmatischer Anteil in der Situation, als das hier und jetzt zu Tuende abzeichnen, sodass einer im vollen Ernst von sich sagt: „Ich kann nicht anders.“ Hat der gewissensmäßige Anspruch auf Kontinuität die Tendenz des faktischen Lebens zum Beharren modifiziert zur „Treue“, so bedeutet das existenzielle Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit eine weitere Modifikation dieses Zusammenhangs. Das „ich kann nicht anders“ schließt hier alle anderen Optionen, die faktisch vielleicht offenstünden, gleichsam mit den Worten aus: „So würde ich nicht gelebt haben wollen.“ Hierin liegt ein gewisser Stolz, eine „gerüstete Freude“ (Heidegger), ein positives Bewusstsein für dauerhaften Ruhm – sei es bei den Sterblichen, sei es im ewigen Gedächtnis Gottes – der sich letztlich weniger auf die Größe der Taten bezieht, sondern eher darauf, mit wie viel „Tiefgang“ oder „Gewicht“ einer seine Rolle „gespielt“ hat. Schließlich spricht, sechstens, das existenzielle Gewissensphänomen eine Tendenz des intimen Selbst zum Offenbarwerden, einen „Willen zur Offenbarkeit“ an.²³ Das intime Selbst- und Weltverständnis einer Person – beispielsweise ihre Glaubensüberzeugungen – wollen und sollen im jeweiligen faktischen Engagiertsein offenbar werden. Der Anspruch ist, dass etwa diese Glaubensüberzeugungen in das Handeln und Sprechen der Person in ihrer Rolle des Augustinermönchs, des Lehrers, des Reformators usw. eingehen und für andere wie für die Person selbst den Grund der Verstehbarkeit dieses ihres Handelns und Sprechens bilden, da sie nur so wirklich vollzogen werden können.²⁴ Dieser Tendenz zur „Enthüllung der Person im Handeln und Sprechen“²⁵ steht die Neigung entgegen, sich in einer Rolle hinzunehmen, die zwar aus verschiedenen Gründen attraktiver
begebenheiten verschafft.“ Einen ähnlichen „Gewissensruf“, der ein zu oberflächliches Selbstund Weltverständnis vor dem Standpunkt der Ewigkeit zerstäuben soll, formuliert Kierkegaard (1997-…/11), S. 143 f. Vgl. Jaspers (1994 [1932]), S. 64. Offenbarwerden heißt hier nicht, dass sich das „ursprüngliche“ Selbst als ein bloß Intelligibles im Medium einer Welt der Erscheinungen zeigte. Das „ursprüngliche“ Selbst ist phänomenologisch gesprochen eher eine Modifikation, eine Weise des faktischen Lebens zu sein. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 7. Aufl. München 2008 [1967], S. 213.
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erscheinen mag als diejenige, die das Gewissen als die je intimste aufdeckt, die aber leider mit dieser nicht vereinbar ist: In diesem Fall will jemand als ein anderer erscheinen als er ist. Diese Gegenläufigkeit entspricht einer weiteren Nuance des Phänomens, das bereits im Hinblick auf das Moment der Kontinuität als Verzweiflung bezeichnet wurde. Das Offenbarwerden ist der Aspekt des Gewissensphänomens, der am engsten im Zusammenhang mit der Gegenwart ebenbürtiger Anderer steht, wie sie vor allem Jaspers und Arendt betonen. Kierkegaard und vor allem Heidegger geben sich zumeist einer augustinischen Perspektive hin, sodass ihnen der Andere nicht selten als Gegenstand ihrer existenziell vertieften Fürsorge erscheint, als jemand, der erst noch zur ursprünglichen Freiheit befreit werden muss.²⁶ Darüber hinaus scheinen sie nicht viel mit dem Anderen anfangen zu können. Jaspers hingegen bezieht in seine Analyse des Gewissensphänomens viel konsequenter die Erfahrung ein, dass der ebenbürtige Andere mir etwas geben kann. Hieraus entwickelt er dann das Konzept der existenziellen Kommunikation als Sich-gegenseitig-Offenbarwerden des einen und des anderen im „liebenden Kampf“, in dem die Kämpfenden bereitwillig das Risiko eingehen, sich „rückhaltlos zu zeigen“ und in Frage stellen zu lassen.²⁷ Bewegt von dem Vorgefühl dessen, was Jaspers eine dem Selbstsein ursprüngliche Liebe nennt, das sich unter anderem als ein Ungenügen an alltäglich-oberflächlicher Kommunikation und als Wille zur Offenbarkeit äußert, wird ihnen der Kampf um existenzielle Wahrhaftigkeit zur Gewissensangelegenheit.²⁸
Vgl. u. a. Heidegger (2001 [1926]), S. 298: „Aus dem Worumwillen des selbstgewählten Seinkönnens gibt sich das entschlossene Dasein frei für seine Welt. Die Entschlossenheit zu sich selbst bringt das Dasein erst in die Möglichkeit, die mitseienden Anderen ‚sein‘ zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen und dieses in der vorspringend-befreienden Fürsorge mitzuerschließen. Das entschlossene Dasein kann zum ‚Gewissen‘ für die Anderen werden. Aus dem eigentlichen Selbstsein der Entschlossenheit entspringt allererst das eigentliche Miteinander, nicht aber aus den zweideutigen und eifersüchtigen Verabredungen und den redseligen Verbrüderungen im Man und dem, was man unternehmen will.“ Vgl. Jaspers (1994 [1932]), S. 64 f. Vgl. ebd. S. 70: „Sofern […] Selbstsein erst in der Kommunikation wird, bin weder ich noch der Andere eine feste Seinssubstanz, die der Kommunikation vorherginge.“ Und weiter auf S. 71: „Wenn für die objektive Betrachtung das Nichts der Seinsursprung des Selbstseins ist, so für existenzielles Bewußtsein die Transzendenz in dieser geschichtlichen Gestalt des vorbereitenden Ungenügens, des die Wirklichkeit ermöglichenden Zufalls, der das Selbstsein bewegenden Liebe. Liebe ist noch nicht die Kommunikation, aber ihre Quelle, die durch sie sich erhellt.“ Jaspers (1994 [1932]), S. 73: „Liebe, der substantielle Ursprung des Selbstseins in der Kommunikation, kann Selbstsein als die Bewegung ihres eigenen Offenbarwerdens hervorbringen, nicht zu einem Abschluß sich vollenden lassen.“ Daher, so Jaspers, sei die Selbstwahl ursprünglich kommunikativ (vgl. S. 182).
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Wiewohl die Anwesenheit ebenbürtiger Anderer als kommunikativer Horizont am auffälligsten im Zusammenhang mit dem Moment des Offenbarwerdens steht, kann sie auch andere Aspekte des existenziellen Gewissensphänomens genauer bestimmen. Die existenzielle Treue als Bindung an die Rolle, in der sich die Person offenbart, und der Anspruch auf Kontinuität, wo sie im Hinblick auf Kommunikativität akzentuiert sind, machen nicht nur die Engagements namens „Versprechen“ und „Verzeihen“²⁹ möglich und nötig, sondern auch das Sich-verantworten vor Anderen. Somit kann und muss derjenige, der im Ernst von sich sagt: „ich kann nicht anders“, immer auch sagen: „hier stehe ich“, d. h. die Person, die sich leidenschaftlich in einer bestimmten Rolle hinnimmt, versteht sich dabei in ihrer Bereitschaft, für die Konsequenzen einzustehen – und zwar auch und gerade vor anderen. Einen durch die Aspekte des Offenbarwerdens und der Kommunikativität geprägten Reflex der im Sein zum Tode eingenommenen Perspektive stellt die berühmte Schlüssellochszene in L’Être et le Néant dar, in der das Ego sich dem Blick des Anderen ausgesetzt findet, der es bei lebendigem Leibe verobjektiviert, dessen intimes Engagiertsein „dingfest“ macht.³⁰ Die Moral der Schlüssellochszene, interpretiert im Zusammenhang mit der vereindeutigenden Funktion des Seins zum Tode,³¹ würde lauten: Jederzeit könnte dich der Blick des Anderen ertappen und festnageln bei dem, was du tust – also gib acht, in welchem Engagement er dich sehen wird.³²
Vgl. Arendt (2008 [1967]), S. 301 ff. Vgl. Sartre (1943), S. 317 ff. Diesen Zusammenhang legt Sartre ja selbst nahe, vgl. Sartre (1943), S. 322 f. sowie S. 624: der Tod als „der Triumph des Gesichtspunkts Anderer über den Gesichtspunkt mir gegenüber“, S. 628: „Welchen ephemeren Sieg man auch über den andern errungen hat, und auch wenn man sich des andern bedient hat, um ‚sein eigenes Standbild zu formen‘, heißt Sterben doch dazu verurteilt sein, daß man nur durch den andern existiert und ihm seinen Sinn und sogar den Sinn seines Sieges verdankt“ (deutsche Übersetzung von Hans Schöneberg u. Traugott König). Diese Perspektive ist freilich plausibel im Zusammenhang mit Phänomenen wie dem Schuldgefühl oder der Gewissensscham – die Beziehung zum Anderen grundsätzlich als ein Ringen um die Oberhand im gegenseitigen Objektivierungsbestreben aufzufassen, wie Sartre es hier tut, ist meiner Ansicht nach jedoch arg übertrieben.
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III Die immanente Normativität menschlichen In-der-Welt-seins Die Existenzialontologie kann in der Tat einen wichtigen Beitrag zur Moralphilosophie leisten, indem sie Fragen wie etwa die nach dem Ursprung und der Bedeutung der Pflicht beantworten hilft oder ein bestimmtes Freiheitsbewusstsein aufdeckt. Sie bleibt jedoch zu formal, um allein aus sich selbst heraus eine tragfähige normative Ethik begründen zu können.Wo dies doch versucht wird, wo beispielsweise die Entschiedenheit zum einzigen normativen Kriterium gemacht wird, walten bekanntlich Gespenster wie etwa der Dezisionismus von Carl Schmitt. Der sachliche Gehalt der konkreten Situation oder „Daseinswirklichkeit“ spielt dann keine maßgebliche Rolle mehr. Ebenso gefährlich ist es, politische Freiheit auf jene Freiheit zu reduzieren, die allein in der Möglichkeit des Akzeptierens oder Verleugnens meiner selbst vor dem objektivierenden Blick des Anderen besteht, wie dies etwa in Friedrich Gogartens „politischer Ethik“ versucht wird.³³ Hier fehlt vor allem das Bewusstsein für die Initiative seitens des Existierenden, die zwar auch in der existenziellen Freiheit gründet, die aber allein aus dem existenziellen Gewissensphänomen nicht erklärt werden kann. Das Tiefenphänomen des existenziellen Gewissens oder Bewusstseins kann aufgrund seiner Unbestimmtheit nicht den alleinigen „Sinn und Grund“ moralisch bedeutsamer Phänomene ausmachen. Es ist, wie etwa Dietrich Bonhoeffer meint, „primär nicht auf ein bestimmtes Tun, sondern auf ein bestimmtes Sein gerichtet“, nämlich das „Sein in der Einheit mit sich selbst“³⁴. Damit muss der existenzialontologische Beitrag zur Moraltheorie allerdings nicht zwangsläufig erschöpft sein. Es mag zunächst ein wenig paradox klingen: Soll die Analyse der immanenten Normativität menschlichen In-der-Welt-seins Aufschluss geben über die Frage nach dem Tun, so ist es ratsam, das In-der-Weltsein des Menschen nicht auf die Existenz zu beschränken – sofern nämlich unter „Existenz“, wie es vor allem Jaspers’ Redeweise nahelegt, hauptsächlich der Aspekt des intimen Engagements in einem faktischen Erfahrungszusammenhang verstanden wird. Die Phänomenalität des In-der-Welt-seins ist viel reicher. Dies schon allein darum, weil die Phänomenalität des In-der-Welt-seins auch das Sein Vgl. Friedrich Gogarten: Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung, Jena: Eugen Diederichs 1932, S. 33. Gogartens Konzept „Hörigkeit“ präfiguriert in der Tat den das Ego verobjektivierenden „Blick des Anderen“, wie Sartre ihn beschreibt, und hinterlässt – trotz bemerkenswerter Vorsichtsmaßnahmen – auch einige Spuren im „Antlitz des Anderen“, auf das Levinas seine Ethik gründet. Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, in Dietrich Bonhoeffer Werke, hrsg. v. Eberhard Bethge et al., Bd. 6, München: Kaiser 1992, S. 277.
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in einer Mit-Welt umfasst. Das Mit-sein ist um nichts weniger durch eine Struktur geprägt, allerdings visieren Existenzialien dieser Art eben nicht so sehr die einzelne Existenz an, sondern eher die Existenz im Plural. Mit seiner Theorie der Kommunikation scheint mir Jaspers innerhalb der traditionellen Existenzphilosophie am weitesten in diesen Problembereich vorzustoßen. Schon vor jedem bewussten Entwurf auf eine Haltung namens „Offenheit zur Welt“ ist der Mensch in der Welt und steht in einem „primitiven“, präreflexiven Kontakt zum Mit-Seienden. Dieser ursprüngliche Kontakt lässt sich in verschiedenen Dimensionen genauer spezifizieren. Im Folgenden greife ich drei dieser Dimensionen auf, indem ich Knud Ejler Løgstrups Vertrauensanalyse, die leibliche Konstitution nach Hermann Schmitz und Jan Patočkas Überlegungen zu den ersten beiden Bewegungen der Existenz umreiße. Bereits derartig „primitive“ Strukturen des In-der-Welt-seins implizieren eine gewisse Normativität. Diese erfährt jedoch noch einmal gewisse Modifikationen, wo die spezifisch menschliche Fähigkeit zu einem bewussten Verhältnis zur Welt ausdrücklich Berücksichtigung findet, wie etwa in Patočkas Begriff der Wahrheit als dritter Bewegung der Existenz oder in den von Hannah Arendt entworfenen politischen Implikationen der menschlichen Vermögen zu versprechen und zu verzeihen. Ein weiterer Aspekt der Phänomenalität des In-der-Welt-seins, mit dem ich dann auch gleich in die genauere Konturierung der verschiedenen normativen MitWelt-Phänomene einsteigen möchte, bezieht sich auf das Problem der Geschichtlichkeit: Wo nicht nur das Dasein, sondern auch die Mit-Welt Träger einer Geschichtlichkeit ist, kann auch das geschichtliche Selbstverständnis einer Kultur als ein Faktor der Gewissensbildung untersucht werden. Beispielhaft für diesen Ansatz steht hier die These des späten Dietrich Bonhoeffer, nach der so etwas wie Mündigkeit der menschlichen Welt als ein impliziter Anspruch der conditio moderna zu verstehen ist. Darüber hinaus sind sich auch Arendt und Patočka bewusst, dass sie zum Teil, etwa indem sie den öffentlichen Raum thematisieren, eher mit Quasi-Existenzialien arbeiten, die zwar durchaus auf einen allgemeinen Zug der conditio humana verweisen, die aber eben nicht unabhängig von einer bestimmten kulturellen Ausprägung der gemeinsamen Lebenswelt ausdrücklich ergriffen werden können. Da solche kulturellen Ausprägungen weder voraussetzungslose noch notwendige geschichtliche Entwicklungen sind, haftet ihnen stärker als den üblichen („echten“) Existenzialien ein Moment des Nicht-Selbstverständlichen an. Wo die conditio moderna zu einer Dominante des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses wird, d. h. wo sie den Status eines Existenzials beanspruchen kann, gibt es die selbstbewusste Zuversicht, die menschlichen Angelegenheiten ohne die Orientierung an einem ersten Beweger oder an der Einbettung in eine organische Teleologie der Schöpfung regeln zu können. Dietrich Bonhoeffer
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spricht in diesem Zusammenhang von einer „mündig gewordenen Welt“ und dem Abschied von der „Arbeitshypothese: Gott“³⁵. Die Kehrseite dieser Entwicklung besteht freilich in dem Verlust aller bis dahin gemeinsam akzeptierten Kriterien des Urteilens.³⁶ Trotz der damit verbundenen Gefahren ist es für diejenigen, deren Gewissensbildung durch die conditio moderna maßgeblich mitgeprägt ist, keine redliche Option, diese Entwicklung zurückzudrehen – ganz zu schweigen davon, dass es wohl nur den wenigsten Gegnern der Moderne gelingt, sie konsequent zurückzuweisen und konsistent an ein vermeintliches Paradise Lost anzuknüpfen. Vor diesem Hintergrund erscheint gerade jener Versuch sinnvoller, dem meiner Ansicht nach ja auch die Existenzphilosophie verpflichtet ist, der Versuch, die immanente Normativität des In-der-Welt-seins auszubuchstabieren. Bezogen auf die conditio moderna heißt das, dass sich die Emanzipation der menschlichen Angelegenheiten als Wert herauskristallisiert, sodass beispielsweise eine maßvolle Emanzipation von der Dringlichkeit des Sündenbewusstseins und der Furcht vor dem Tod – lange Zeit die dominanten Probleme in den menschlichen Angelegenheiten – als gut erscheint,³⁷ weil so neue Möglichkeiten des verantwortlichen Handelns wahrgenommen werden können: Im Mittelpunkt stehen nicht länger nur die einseitige Fixierung auf das individuelle Seelenheil³⁸ oder die „Selbstischkeit“³⁹ der bisherigen ethischen Konzepte, sondern nunmehr zusätzlich die Frage nach der Erhaltung der Mit-Welt – zu der sich neuerdings auch eine Sensibilität für die Problematik der „Umwelt“ gesellt, die sich immer schwieriger von jener Frage trennen lässt. Ein historisch weniger variables, sozusagen „primitiveres“ Grundphänomen des weltlichen Mitseins ist etwa das Vertrauen, wie es vor allem von Knud E. Løgstrup herausgearbeitet wird, und das vor jedem Skeptizismus unser präreflexives Grundverhältnis zur Welt ausdrückt: Zunächst und zumeist neigen
Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, in Dietrich Bonhoeffer Werke, hrsg. v. Eberhard Bethge et al., Bd. 8, München: Kaiser 1998, S. 476 f. Vgl. Hannah Arendt, „Understanding and Politics“ (The Difficulties of Understanding) [1954], in Hannah Arendt: Essays in Understanding. 1930 – 1954. Formation, Exile, and Totalitarianism, hrsg. v. Jerome Kohn, New York: Schocken Books 2005 [1994], S. 310, 313, 318, 321. Es geht in diesem Zusammenhang freilich nicht um die komplette Loslösung von jeglicher Furcht oder jeglichem Bewusstsein für Schuld, denn nicht Tollkühnheit, sondern Tapferkeit ist in menschlichen Angelegenheiten förderlich. Vgl. Bonhoeffer (1998), S. 415: „Ist nicht die individualistische Frage nach dem persönlichen Seelenheil uns allen fast völlig entschwunden? Stehen wir nicht wirklich unter dem Eindruck, daß es wichtigere Dinge gibt als diese Frage […]? Ich weiß, daß es ziemlich ungeheuerlich klingt, dies zu sagen. Aber ist es nicht im Grunde sogar biblisch?“ Vgl. auch ebd. S. 500. Hannah Arendt, Was ist Existenzphilosophie?, Frankfurt am Main: Hain 1990 [1948], S. 47.
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Menschen dazu, das, was sich zeigt, unproblematisch hinzunehmen, und ebenso dazu, einander zu glauben, was im Allgemeinen erst dann auffällt, wenn diese Neigung problematisch wird, weil beispielsweise etwas ganz offensichtlich nicht zusammenpasst, sodass Argwohn und Verdacht sich regen.⁴⁰ So verstanden zeigt sich im Phänomen des Vertrauens ein ganz grundsätzlicher Zug des je eigenen Engagements in einer jeden Situation, was nicht nur von großer Bedeutung für die phänomenologische Erkenntnistheorie ist, sondern nach Løgstrup auch eine „ethische Forderung“, eine Norm, die gemeinsamen Situationen immanent ist, impliziert. In der Neigung zum Vertrauen geschieht nämlich eine „Selbstauslieferung“ an die Welt, die zumeist eine Welt mit anderen ist, wobei diese Selbstauslieferung implizit die Erwartung enthält, dass dieses Vertrauen nicht gebrochen oder enttäuscht werden möge⁴¹ – was sich freilich aus verschiedenen Gründen nicht beständig einlösen lässt, sodass beispielsweise Konventionen einen Beitrag zur Stabilisierung des Mitseins leisten müssen.⁴² Die unausgesprochene „ethische Forderung“, die in der Selbstauslieferung liegt, ist kein simpler Anspruch des einen auf die Willfährigkeit und Nachgiebigkeit des anderen, sondern steht im Spannungsverhältnis mit dem „Willen zur Wahrheit“, d. h. zu einer Art Aufrichtigkeit.⁴³ Genau hier liegt der systematische Anknüpfungspunkt an den „liebenden Kampf“ bei Jaspers: Dem Vertrauen des anderen gerecht zu werden, kann sicher nicht heißen, ihn ohne weitere Problemanzeige in dem belassen zu wollen, was mir selbst als eine Täuschung erscheint.⁴⁴ Zu den Grundphänomenen des „primitiven“ In-der-Welt-seins zählt auch die Leiblichkeit, wie sie neben Sartre und Maurice Merleau-Ponty vor allem Hermann
Knud Ejler Løgstrup, Die ethische Forderung, 3. Aufl., Übers. v. Rosemarie Løgstrup, Tübingen: Mohr 1989, S. 7 f. Vgl. ebd. S. 16. Vgl. ebd. S. 20 f. Vgl. ebd. S. 22. Vgl. ebd. S. 28, wo auch die Warnung vor dem anderen Extrem, dem ideologischen Übergriff, ausgesprochen ist: „Soviel kann daher gesagt werden: wohl soll der einzelne aus seiner eigenen Einsicht heraus das äußern und tun, womit dem anderen am besten gedient ist, aber unter keinen Umständen kommt es ihm zu, sich zum Herren darüber zu machen, wie der andere darauf reagiert. Was der andere mit den Worten und Taten anfängt, die ihm dienen sollen, kann man ihm nicht vorschreiben. […] Die Forderung, das Leben des anderen, das uns ausgeliefert ist, in Schutz zu nehmen ist – zu welchen Worten und Taten sie auch immer Anlaß geben möge – stets gleichzeitig die Forderung, dem anderen Zeit zu lassen und ihm seine Welt so geräumig zu machen wie nur möglich. Die Forderung, die dem Ausgeliefertsein des anderen an mich entspringt, verlangt immer zugleich von mir, daß ich dieses sein Eingesperrtsein sprenge und ihm den Horizont für seinen Blick freimache.“
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Schmitz herausgearbeitet hat, und die in der traditionellen Existenzphilosophie unterbelichtet bleibt. Durch seinen Leib ist der Mensch seiner Welt ausgesetzt und betroffen vom Rhythmus der Bedrängung und Erleichterung, wobei die Tendenz zur Enge das Individuationsprinzip des Leibes darstellt, da sie das Streben in die „Weite und Fülle“, das Aufgehen in der Mannigfaltigkeit der Welt hemmt.⁴⁵ Darüber hinaus ist der Mensch vor allem durch den Leib empfänglich für Gefühle, die ihn ergreifen und ihm Programme möglichen Verhaltens nahelegen,von denen er sich oft nur mit Mühe distanzieren kann.⁴⁶ So kann etwa ein Vertrauensbruch eine Störung im Gefühlsraum bewirken, die sich beispielsweise als Zorn äußert, als ein aus sich herausstürzendes Bestreben nach Reharmonisierung, wogegen die Scham zunächst in einem Rückschlag der eigenen Initiative besteht, die nach diesem Rückschlag als peinlich unangemessen empfunden wird.⁴⁷ Insofern diese beiden Gefühle auf besondere Weise zum Ausdruck kommen lassen, dass etwas fehl am Platze sei, und zum Teil sogar Ansätze zur Bereinigung darstellen wie der Zorn, ist diesen Gefühlen, deren ursprüngliche Gebärden in sozialen Konventionen nachhallen, in der Tat etwas „Richtendes“ zu eigen.⁴⁸ Ein anderes Beispiel für das normierende Potential von Gefühlen ist das πνέυμα, das Paulus in Gal 5,22 f. im Kontext eines komplexen leiblichen Gestimmtwerdens durch „Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Vertrauen, Sanftmut, Selbstbeherrschung“ thematisiert.⁴⁹ Demgegenüber bieten Jan Patočkas Ketzerische Essais weitere Möglichkeiten zur Differenzierung des „primitiven“ Weltbezugs. Zur Phänomenalität des menschlichen In-der-Welt-seins gehört auch, dass die Erfahrung einer Hemmung der verschiedenen expansiven und auf die Welt gerichteten Tendenzen des Daseins – stellvertretend für viele andere seien hier nur das ursprüngliche Vertrauen, das Streben in die „Weite“, der Emanzipation aus der Dringlichkeit der Selbstsorge
Vgl. Hermann Schmitz, System der Philosophie II-1: Der Leib, Bonn: Bouvier 1965, S. 326. Ein Gefühl findet nicht in irgendeiner subjektiven Innenwelt der Person statt – es erscheint vielmehr als eine überpersönliche Atmosphäre, die ein oder mehrere Individuen gemeinsam ergreifen kann, wie etwa kollektive, „ansteckende“ Trauer oder Freude. Vgl. dazu Hermann Schmitz, System der Philosophie III-4: Das Göttliche und der Raum, Bonn: Bouvier 1977, S. 25. Vgl. Schmitz (1973), S. 24 ff., S. 35 ff. sowie Løgstrup (1989 [1959]), S. 8 ff. Vgl. Schmitz (1973), S. 46. Im Zuge der personalen Emanzipation von unmittelbaren leiblichen Regungen wird überdies eine ausgezeichnete und raffinierte Weise des Ergriffenseins von Scham und Zorn (genauer gesagt von der durch ihn mitbedingten Scheu vor ihm) möglich, nämlich latent von ihnen ergriffen zu sein, sodass sich diese ergreifenden Mächte bloß als Drohung abzeichnen, nicht aber in ihrer akuten Unmittelbarkeit – dies nennt Schmitz das Rechtsgefühl, das ein Vorgefühl von einer akuten Störung des Gefühlsraumes gibt, die der so Ergriffene üblicherweise zu vermeiden trachtet (vgl. S. 64 ff.). Vgl. Schmitz: (1977), S. 28 sowie Schmitz (1965), S. 517.
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genannt –, einer Hemmung, die bei der Individuation eine unverzichtbare Rolle spielt, unwillkürlich als Rückschlag der Initiative und – noch dezidierter – als „Grausamkeit“, als „Un-Recht“ (ἀδικία) angesprochen wird.⁵⁰ Patočka argumentiert dafür, dass eine „Wiedergutmachung“ dieses „Un-Rechts“ bestenfalls im Entgegenkommen der anderen erfahren werden kann, die das Individuum in ihre Welt aufnehmen bzw. in dieser akzeptieren. ⁵¹ Dies stellt freilich auch Ansprüche an den Akzeptierten, vor allem den einer grundsätzlichen Reziprozität des Verhältnisses (die aber gewiss nicht jede Form von Hierarchie und Nicht-Ebenbürtigkeit ausschließt, wie sich exemplarisch an der Lebensform der familia zeigen lässt). Mit dem Akzeptieren ist dabei immer auch Selbstpreisgabe verbunden – diese ersten beiden „Bewegungen der Existenz“⁵² werden aber schon ein Stückweit bewusster, ausdrücklicher, aktiver vollzogen als die ursprüngliche Tendenz des Vertrauens und Sich-auslieferns: διδόναι δίκην, das rudimentäre Für-einander-sorgen, ist Arbeit, die ihren Lastcharakter deutlich genug bekundet und damit wiederum eine Hemmung impliziert.⁵³ Der Rhythmus von Bedrängung und Erleichterung bildet auch hier die „Skala des Lebensgefühls, auf der wir uns bewegen, solange wir existieren.“⁵⁴ Der Sinn des Für-einander-sorgens, in das die existenziellen Bewegungen des Akzeptierens und Selbstpreisgebens eingehen, erschöpft sich laut Patočka letztlich in der Teleologie der individuellen oder gemeinschaftlichen Lebenserhaltung und Linderung der Last. Die dritte Bewegung des menschlichen Lebens ist – parallel zum Aufrichtigkeitsmotiv bei Løgstrup – die Bewegung der Wahrheit. Patočka versteht darunter eine Offenheit für die Welt, wie sie sich jenseits der Reduktion auf einen an der bloßen Lebenserhaltung orientierten Verwertungszusammenhang zeigt.⁵⁵ Diese Offenheit ist letztlich motiviert durch das Faktum
Vgl. Schmitz (1965), 326 ff. sowie Patočka (1988), S. 53: „Das Sein des Menschen […] ist von Anfang an nicht-gleichgültig, d. h. es ‚fühlt‘ seine Fremdartigkeit und das ‚Un-Recht‘, die ‚Ungerechtigkeit‘ (ἀδικία), verlangt nach ‚Recht‘ (δίκη) und findet dies tatsächlich im Entgegenkommen derjenigen, Nächsten, die […] die potentielle Wölbung des Raumes bildeten, in den das neue Wesen eingeführt werden kann.“ Vgl. ebd.: „Das menschliche Annehmen ist jenes διδόναι δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς άδικίας, ‚sich gegenseitig Recht tun und Unrecht ausmerzen‘, von dem in dem uralten Ausspruch des Anaximander die Rede ist.“ Vgl. Jan Patočka, Die natürliche Welt als philosophisches Problem. Phänomenologische Schriften I, in Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Klaus Nellen, Jiří Němec und Ilja Srubar, Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 248. Anders als in den Ketzerischen Essais spielt in diesem frühen Ansatz die Dimension der überindividuellen Geschichtlichkeit noch kaum eine Rolle. Vgl. Patočka (1988), S. 53 f. Vgl. ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 56.
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der existenziellen Freiheit, das dem Menschen zwar über weite Strecken unbewusst bleiben kann (und es gemäß der geschichtsphilosophischen These Patočkas im kulturellen Selbstverständnis des Menschen auch tatsächlich eine lange Zeit geblieben ist), das es ihm aber nichtsdestotrotz unmöglich macht, unproblematisch, quasi „existenzlos“ in seinem faktischen Erfahrungszusammenhang aufzugehen wie etwa das Tier.⁵⁶ Die Offenheit für die Welt ist möglich, weil es möglich ist, das eigene Leben nicht allein von der bloßen Lebenserhaltung her zu verstehen, weil es auch möglich ist, „für etwas anderes zu leben“⁵⁷. Gleichzeitig impliziert die Bewegung der Wahrheit bei Patočka ein polemisches Element: „Das Recht ist Streit“, d. h. erst in einer gemeinsamen Kultur des Streits kann sich die Offenheit für die Welt dauerhaft halten (und mit ihr das Bewusstsein der Freiheit), denn erst im Streiten, im Geltendmachen der verschiedenen Perspektiven und im Problematisieren liegt die Chance, schärfer herauszustellen, wie die Dinge liegen, sodass die Anzahl der alternativen Handlungsoptionen und Verstehensmöglichkeiten überschaubar wird.⁵⁸ Mit Arendt sieht Patočka in der Lebensform der griechischen Polis und deren Institutionalisierung des öffentlichen Raums zum ersten Mal in der Geschichte die menschliche Offenheit für die Welt konsequent aktualisiert und die ihr entsprechende Freiheit ausdrücklich ergriffen. Menschliches Handeln als ausdrückliches Entwerfen und Vollziehen des eigenen Verhaltens zum Mit-Sein, ist auch dort, wo es begleitet wird von einer Offenheit für die Welt, niemals frei von der Gefahr der Verfehlung. Dies gehört nun einmal zur Natur der menschlichen Angelegenheiten: Freies Handeln beruht darauf, dass ein vollständig und eindeutig verbindliches Wissen oder Bewusstsein
Auf dieses Nicht-aufgehen-können haben u. a. bereits Kierkegaard mit der unhintergehbaren Bestimmung, Geist zu sein, und Jaspers mit den Phänomenen der Unbefriedigung am faktischen Weltdasein hingewiesen. Patočka (1988) selbst argumentiert hierfür eindrucksvoll am Beispiel des alltäglich erfahrbaren Lastcharakters der Arbeit: „Ihren Lastcharakter hat die Arbeit nicht nur von der physischen Anstrengung her, die daher rührt, daß das Arbeitsfeld kein Vorratslager von Brauchbarem bietet und der Bearbeitung durch den Menschen trotzt, sondern weil uns hier ein bestimmtes Entscheiden aufgezwungen wird und wir es als solches empfinden; die Arbeit läßt uns paradoxerweise unsere Freiheit spüren, ihr Lastcharakter ist abgeleitet von einer ursprünglichen Last, die mit dem menschlichen Leben überhaupt zusammenhängt: Wir können das Leben nicht einfach als etwas Gleichgültiges hinnehmen, sondern wir müssen es immer ‚tragen‘, ‚führen‘ – dafür garantieren, dafür einstehen. So ist die Arbeit, die (nach H. Arendt) immer Arbeit für den Verbrauch ist, nur auf der Grundlage eines freien Da-Seins auf der Welt möglich; zugleich aber ist sie imstande, die Entfaltung eben dieser Freiheit sowie alles Problematische, was damit verbunden ist, zu bremsen und in den Hintergrund zu drängen“ (S. 38). Vgl. ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 66 f. Wenn Patočka sich hier auf den πόλεμος, der nach Heraklit das Gesetz der Polis sein soll, bezieht, schlägt er systematisch gesehen nichtsdestoweniger in dieselbe Kerbe wie Jaspers und Løgstrup.
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um das zu Tuende dem Handelnden nicht zur Verfügung steht.⁵⁹ Gleichzeitig ist menschliches Handeln aufgrund der zeitlichen und sozialen Strukturen des Inder-Welt-seins geprägt von der Unwiderruflichkeit einer einmal geschehen Tat einerseits und andererseits von der Unabsehbarkeit der Folgen einer beabsichtigten Handlung wie auch von der grundsätzlichen Unberechenbarkeit des Handelnden selbst in Bezug auf zukünftige Taten.⁶⁰ Damit steht die Stabilität der Bezüge der Menschen untereinander in einer gemeinsamen Welt laut Arendt vor beträchtlichen Herausforderungen,⁶¹ die sich sicher nicht allein mit der Übersetzung eines allgemeinen Rechtsempfindens in verlässliche Konventionen und entsprechende Disziplinierungsmaßnahmen bewältigen lassen.Wenn etwa eine Verfehlung – die Arendt vom Verbrechen unterscheidet – seitens des Anderen nicht anders als durch rächenden Zorn beantwortet werden kann, der selbst in der Gefahr steht, das rechte Maß zu verfehlen, mag schnell eine nicht enden wollende Vendetta ausgelöst werden, wodurch die Grundlage eines gemeinsamen Handlungsraums auf lange Zeit zerstört würde.⁶² Ebenso mag die Einsicht in die prinzipielle Unberechenbarkeit der Menschen einen Rückzug aus der Mitwelt motivieren, wie auch Unabsehbarkeit der Folgen vor dem eigenen Handeln zurückschrecken lassen.⁶³ Laut Arendt lassen sich aus der spezifischen Phänomenalität des Handelns selbst geeignete Maßstäbe für den Umgang mit den Schwierigkeiten gewinnen, vor die sich das Handeln gestellt sieht. Die spezifischen Handlungen des Verzeihens und des Versprechens sollen hier Abhilfe leisten. Der Sinn von Verzeihen und Versprechen als Modi des Handelns und Sprechens liegt darin, dass „der Han-
Vgl. Hannah Arendt, „Religion and Politics“ [1953], in Hannah Arendt: Essays in Understanding. 1930 – 1954. Formation, Exile, and Totalitarianism, hrsg. v. Jerome Kohn, New York: Schocken Books 2005, S. 370. Vgl. Arendt (2008 [1967]), S. 301: Unwiderruflichkeit bedeutet für Arendt, dass einmal Getanes nicht wieder ungeschehen gemacht werden kann. Die Unabsehbarkeit des Handelns hängt dagegen damit zusammen, dass die existenzielle Dimension des Offenbarwerdens in Handeln und Sprechen dem Handelnden und Sprechenden selbst weitgehend unverfügbar bleibt: „Die Unabsehbarkeit der Folgen des Handelns hängt aufs engste damit zusammen, daß alles Handeln und Sprechen unwillkürlich den Handelnden und Sprechenden mit ins Spiel bringt, ohne daß doch derjenige, der sich so exponiert, je wissen oder berechnen kann, wen er eigentlich als sich selbst zur Schau stellt“ (S. 241), weil er nicht kontrollieren kann, wie andere auf seine Tat reagieren, worauf er wiederum reagieren würde usw. (vgl. S. 311). Die Unberechenbarkeit des Menschen wiederum ist für Arendt ein Index seiner Freiheit: „Daß Menschen nicht fähig sind, sich auf sich selbst zu verlassen oder, was auf dasselbe herauskommt, sich selbst vollkommen zu vertrauen, ist der Preis, mit dem sie dafür bezahlen, daß sie frei sind“ (S. 312). Vgl. ebd., S. 241. Vgl. ebd., S. 306. Vgl. ebd., S. 311.
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delnde von einer Vergangenheit, die ihn auf immer festlegen will, befreit wird und sich einer Zukunft, deren Unabsehbarkeit bedroht, halbwegs versichern kann.“⁶⁴ Es geht also um ein Handeln zur Wahrung von Freiheit und Vertrauen, in deren Rahmen sich so gut wie jedes sinnvolle Handeln in der gemeinsamen Welt vollzieht. Beide Handlungstypen stehen in Funktionszusammenhängen, die geprägt sind von Pluralität, „der Anwesenheit von Anderen, die mit-sind und mit-handeln.“⁶⁵ Das Verzeihen hat im Allgemeinen die Funktion, einen Automatismus der Rache zu unterbrechen, indem es sowohl den Verzeihenden als auch den, dem verziehen wird, von den Folgen einer vergangenen Verfehlung (nicht eines Verbrechens) befreit.⁶⁶ Ihm entspricht als personaler Bezug nicht nur die apolitische Liebe, sondern auch der für das politische Leben kompatiblere Respekt, sodass das Verzeihen nicht auf eine intime Nähe der in einer gemeinsamen Welt lebenden und handelnden Menschen angewiesen ist.⁶⁷ Demgegenüber ist die eine der beiden Hauptfunktionen des Versprechenszusammenhangs die Stabilisierung einer bestimmten Identität.⁶⁸ Das Individuum entwirft sich auf seine Zukunft und wird von seinen Mitmenschen beständig an diesen Entwurf erinnert – so es ihn ändern will, kann es dies nicht sang- und klanglos tun, sondern muss sich den anderen erklären, d. h. vor anderen und damit auch vor sich selbst explizit machen, „was ist“. Das Versprechen, das tunlichst zu unterscheiden ist von einer Garantie, wird so zum Grundmotiv für eine Gemeinschaft, in der sich die Individuen auf die Gültigkeit eines gemeinsamen Grundkonsenses, wie oder in welchem Sinne ihre Angelegenheiten zu regeln sind, vertrauensvoll verlassen können.⁶⁹ Somit besteht die andere Hauptfunktion des Versprechenszusammenhangs in der Bestärkung dazu und darin, dass „man in der Welt Vertrauen haben kann und daß man für die Welt hoffen darf.“⁷⁰
IV Schluss Durch die Explikation dessen, was das existenzielle Gewissensphänomen an Normativität der Wirklichkeit erschließt, zeigt sich eine tiefere Fundierung dessen, was
Ebd., S. 303. Ebd., S. 302. Vgl. ebd., S. 302, S. 307. Vgl. ebd., S. 310: „Jedenfalls bildet der Respekt durchaus einen hinreichenden Beweggrund, jemandem das, was er getan hat, zu vergeben, um dessentwillen, der er ist.“ Vgl. ebd., S. 302. Vgl. ebd., S. 313. Ebd., S. 317.
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dem durchschnittlichen sittlichen Verantwortungsbewusstsein in Sachen Freiheit, Pflicht, Schuld, Verhältnis zu Anderen geläufig ist, in der Ontologie des relationalen und kommunikativen Selbst. Im sittlichen Verantwortungsbewusstsein scheint der Reflex eines Existenzideals auf, das sich an einem bewussten Umgang mit den Momenten der existenziellen Intimität, des Faktums ursprünglicher Freiheit, des existenziellen Müssens, des Anspruchs auf Kohärenz, der Endlichkeit sowie des Dranges zum Offenbarwerden und zur Kommunikation bemisst. Wiewohl das existenzielle Gewissen Gelegenheiten zur Korrektur des sittlichen Verantwortungsbewusstseins bieten mag, geht dieses nicht in jenem auf. In das Moralempfinden gehen überdies auch Ansprüche ein, die sich im Register der „Weltlichkeit“ des Menschen konkretisieren. So implizieren Phänomene des „primitiven“ Weltbezugs wie etwa die Leiblichkeit oder das Vertrauen nicht zuletzt ein grundsätzliches Ausgeliefertsein eines jeden Menschen an die Mit-Welt. Da die verschiedenen Dimensionen des „primitiven“ Weltbezugs niemals ohne Spannungen und Probleme gegeben sind, kommt es zwangsläufig zu Erfahrungen von Störungen, die ein rudimentäres Verständnis von „Grausamkeit“ oder „Unrecht“ einerseits und von der Schutzbedürftigkeit, von einem Anspruch auf „Recht-tun“, „Wiedergutmachung“ oder „Linderung“ vor „Unrecht“ nähren. Nicht zuletzt durch eine Bereicherung des existenziellen Freiheitsbewusstseins durch Erfahrungen der Emanzipation und des Mündigwerdens – dem Freiwerden für eine Verantwortung, die der gemeinsamen Welt gilt – wird eine Orientierung des gemeinsamen Lebens am Motiv der „Wahrheit“ möglich, d. h. der Sinn des freien Handelns wird thematisch – und nicht selten problematisch, sodass um die angemessenere Einsicht in das zu Tuende gestritten werden muss. Belastet wird das Mit-sein, wo durch arge Verfehlungen des zu Tuenden Unrecht entsteht, ebenso durch die prinzipielle Unsicherheit der Einsicht in das Rechte, die das Vertrauen in die gemeinsame Welt stark frustrieren kann. Maßstäbe für den gemeinschaftlichen Umgang mit diesen Problemen bietet bereits das rudimentäre Verständnis des „Recht-tuns“, das dann zumeist auf irgendeine Form der Disziplinierung hinausläuft. Bereichert und modifiziert wird dieses Verständnis jedoch durch die Maßstäbe, die mit der Fähigkeit zu freiem Handeln selbst gesetzt sind, nämlich durch den Anspruch, der in der Möglichkeit und im Akt des Versprechens liegt,wie auch durch die besondere Art Rechtsverständnis, das sich im Verzeihen – einer notwendigen wie unverfügbaren Handlung – ausdrückt. Eine entsprechende politische Kultur kann eine derartige Bereicherung des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses über einen längeren Zeitraum ermöglichen, weshalb in dieser Perspektive nicht nur die Mit-Welt als solche, sondern ihre besondere kulturelle Ausprägung als öffentlicher Raum als normativer Wert erscheint.
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Praxis als Inkommensurabilität bei Søren Kierkegaard Abstract: Kierkegaard is one of the first modern philosophers who suspends the division of theoria and praxis in favour of the latter. The resulting concept of theorizing as praxis thus has to account for the relation between rationality and temporality. Dissatisfied with the Hegelian account of a historical and logic-driven movement of thought, Kierkegaard stresses the mutual exteriority and incommensurability of competing basic attitudes toward human existence. The notion of logical immanence is replaced by one of temporal immanence as the basic condition under which the subject constitutes itself practically without having been prefigured epistemically as an Archimedean point. I will argue that the concept of praxis as incommensurability not only characterizes wide parts of Kierkegaardian thought but is also generally in accordance with the term praxis as it is used by Marx as well as Sartre, whereas its application to constitutional law by Carl Schmitt cannot go without some degree of attenuation.
Einleitung Von seiner Promotionsschrift Über den Begriff der Ironie hat sich Kierkegaard mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer weiter implizit distanziert, insofern als sie in späteren Bilanzen über das eigene Schaffen zumeist nicht aufgelistet wird. Darin findet wohl eine Geringschätzung ihren Ausdruck, die sich auf die schulmäßige Auseinandersetzung mit den Begriffssystemen des Deutschen Idealismus – vornehmlich dem heillos versöhnlichen Hegels – als philosophisch brauchbare Methode bezieht. Was Kierkegaard als seinen eigensten Beitrag zur Philosophie von nun an dem idealistischen Vermittlungs-Betrieb entgegenzusetzen beginnt, ist eine immer stärker werdende Herausstreichung des Inkommensurablen als prägendem Merkmal jeder menschlichen Haltung zur Welt, das Theoretisieren eingeschlossen. Sokrates, der mit seiner wirklichen Existenz inkommensurabel gewordene Ironiker, gilt ihm zunächst noch als eine im Sinne Hegels ausdeutbare Existenz. Die Skepsis gegenüber der Darstellung Hegels, der das Phänomen des radikalen, existenziellen „Heraustretens aus den Reihen seiner Zeit“¹ im Fall So-
Søren Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie – mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 257.
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krates als bloße rhetorische Figur interpretiert und im Fall Schlegel als fehlgeleiteten Exzess einer falsch verstandenen Allmacht des Subjekts geißelt, zeugt aber schon von einer sich im Denken Kierkegaards festigenden Perspektive, unter der sich das Meiste der systematisch-idealistischen Philosophie als nicht mehr bündig erweist.Wenn Kierkegaard also zunächst aus theoretischer Perspektive die performative Haltung eines im Medium des Allgemeinen denkerisch tätigen Subjekts gegen die substanziellen Resultate seiner Tätigkeit abgleicht und zu dem Resultat kommt, dass diese Haltung der Ironie – angemessen interpretiert – eine völlige Diskretion der beiden Sphären erzeugt, geht er danach dazu über, dieses Verhältnis praktisch selbst zu bedienen, anstatt es theoretisch zu verdoppeln. So ist es zu verstehen, dass für Kierkegaard selbst die eigene Philosophie erst mit Entweder – Oder beginnt, also mit der praktischen Ausgestaltung verschiedener performativer Haltungen zum Gesagten. Und zwar indem er Sokrates als einem Beispiel praktischen Theoretisierens (nicht einem mit dem Problem der Praxis befassten Theoretikers) seinerseits praktisch nacheifert. Die Theorie hat nunmehr nicht das letzte Wort, sie kann gewissermaßen nur noch (ähnlich der Hegel’schen Eule der Minerva) rückwärtig davon handeln, was es heißt, dass vielmehr die Praxis ihr gegenüber immer die letzte Tat hat, beziehungsweise dass sie, indem sie sich selbst inwendig begreift, vielmehr selbst eine Tat ist, bevor sie sich retrospektiv als Propositionalität wieder sammeln und zu Sinnen und Bewusstsein kommen kann.² Dass Kierkegaard ein solcher Philosoph der Praxis wird, ergibt sich zunächst aus dem Umstand, dass sein philosophisches Interesse von praktischen Fragestellungen herrührt, wofür auch sein Selbstverständnis als protes-
Diese Betrachtung des Verhältnisses von Handlung und Bewusstsein unter der Optik der Zeitlichkeit hat seine unmittelbare Schnittstelle zum Beispiel in der vortheoretischen Kategorie des Augenblicks, der als Phänomen seinerseits den paradoxen Zusammenschluss von Rezeptivität und Handlung exemplifiziert: „Der Augenblick ist jenes Zweideutige, darin Zeit und Ewigkeit sich berühren“ (Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: Søren Kierkegaard, Gesammelte Werke, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1957, Abt. 11/12, S. 90). Entscheidend ist der Ausdruck der „Berührung“, der gerade keine Vermittlung, sondern eine bleibende Äußerlichkeit zweier Bestimmungen gegeneinander bezeichnet, die trotzdem mit struktureller Notwendigkeit zeitlich und räumlich zusammenfallen müssen. Als eine solche ist der Augenblick eine Art existenzielle Inkommensurabilität. Den Gedanken eines praktischen Akts als Ermöglichungsgrund jeder Art von Theorie verdankt Kierkegaard dabei wohl Fichtes Figur der Tathandlung als konstituierender Vorbedingung für jede Erfahrung – jeder Tatsache: „Wir haben den absolut-ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen oder bestimmen läßt er sich nicht, wenn er absolut erster Grundsatz sein soll. Er soll diejenige Tathandlung ausdrücken, die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewusstseins nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewusstsein zum Grunde liegt, und allein es möglich macht.“ (Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), Hamburg: Felix Meiner 1970, S. 11)
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tantischer Theologe ein wesentlicher Grund ist. Als Letzterer stellt sich für ihn dazu das Problem der Vermittlung, das um die Schwierigkeit kreist, dem Empfänger nicht das Moment der eigenen Freiheit im Ergreifen einer praktischen Haltung zu nehmen – eine Figur, die für sein christologisches Verständnis grundlegend ist. Begrifflich sind die dabei von ihm philosophisch gebrauchten Kategorien des Alltags, der Psychologie oder Medizin nicht um Anschlussfähigkeit mit den großen Begriffssystemen der Naturwissenschaft, Epistemologie oder Ontologie seiner Zeit bemüht, wodurch sich schon eine Art semantische Emanzipation des Praktischen aus dem Kommensurabilitäts-Jargon der Wissenschaft ergibt. Dennoch scheint es für Kierkegaard eine Vermittlung im Unvermittelbaren zu geben, nämlich dort, wo er von Geltung spricht. Kierkegaards Begriff der Geltung kann als Gegenentwurf zu einem theoretisch-kontemplativen Begriff der Wahrheit oder als dessen praktisch revitalisierte Auslegung gelesen werden. Insofern das Sich-Verhalten zu einer Welt bei Kierkegaard die grundlegendste anthropologische Konstante ist, ist Geltung gewissermaßen mit Existenz ursprungsgleich, theoretische Reflexion ihr nachgeordnet. Sobald der Mensch in der Welt ist, gilt ihm etwas. Geltung erfährt er zunächst noch (wie das Tier) als Unmittelbarkeit, mit der sich herausbildenden Reflexion wird sie für ihn verfügbar. Sich-zu-Geltung-Verhalten schließt also Verhalten im behavioralen Sinne mit rationalem Handeln unter dem Aspekt eines ständigen, vom Subjekt nicht selbst verfügten Angesprochenseins zusammen. Dieser Zustand einer existenziell-zeitlichen Immanenz, von der es kein Außerhalb der Theorie gibt, wird bei Kierkegaard zu einem neuen Verständnis von Allgemeinheit und das ihm zugehörige Paradigma der Geltung zu demjenigen, von welchem her es sich gehört, zu philosophieren. Der Gesinnungsgemeinschaft des Kommensurablen und Allgemeinen setzt Kierkegaard also das zunächst inkommensurable Moment individueller Praxis entgegen.³ Nimmt man die sogenannte Stadienlehre Kierkegaards ernst, ergibt
„Was die Zeit fordert – ja, wer könnte das je aufzählen, nun da die Weltlichkeit… durch Selbstentzündung Feuer gefangen hat. Was dagegen der Zeit im tiefsten Grunde Not tut, das lässt sich in einem einzigen Wort vollständig ausdrücken: sie braucht Ewigkeit“ (Søren Kierkegaard, Die Schriften über sich selbst, in: Søren Kierkegaard, gesammelte Werke und Tagebücher, hrsg. v. Hayo Geerdes u. Emanuel Hirsch, Gütersloh: Grevenberg 1979, Bd. XIII, S. 97 f.). Weltlichkeit und Ewigkeit stellen hier gewissermaßen zwei Horizonte dar, vor denen sich das Individuum selbst konstituieren kann. Kierkegaards Überzeugung ist es, dass nur indem sich das Individuum als vor dem Hintergrund des Ewigen (des Inkommensurablen) negativ bestimmt begreift, das heißt als dessen Gegenteil, es gemäß der Forderung lebt, die ihm auf positive Art in der Möglichkeit „ein Selbst“ zu werden aufgezeigt wird, nämlich ein formell-reflexiv Bestimmtes Subjekt zu werden, das sich gerade nicht als im wesentlichen mit seiner Umgebung (Weltlichkeit, Substanzialität) in einem Verhältnis der Kontinuität stehend begreift. Vielmehr fordert die Unmög-
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sich eine Figur, in der das Ethische als Medium artikulierbarer Allgemeinheit reine Durchgangsstation ist; sowohl das ästhetische Stadium (als Unterschreiten in der Individualität), als auch das Religiöse (als Überschreiten im Bezug auf Transzendenz) entziehen sich dem Begriff des Allgemeinen. Der damit beschrittene Gang ist also einerseits zirkulär, andererseits linear: er führt im ersten Sinne aus der Sphäre des Inkommensurablen in die des Allgemeinen, um dann wieder in Erstere zurückzukehren. Im zweiten Sinne ist die Entwicklung die einer notwendigen Reihenfolge, deren letztes Stadium keineswegs mit dem ersten identisch ist. Zudem ist einerseits die christologische Figur der Selbstentäußerung Gottes an die Sphäre der Endlichkeit und der damit für die Menschheit hergestellte Transzendenz- (das heißt auch: der Inkommensurabilitäts‐) Bezug nachweisbar, andererseits die Trias der Hegel’schen Dialektik als Identität von Nichtidentität und Identität (die Korrelation dieser beiden Einflüsse untereinander nicht zu vergessen). Die religiöse Existenz ist in dritter Hinsicht zudem die Summe der beiden ihr vorausgehenden Stadien, insofern sie die praktische Ausrichtung des Ethischen unter dem (zunächst der ästhetischen Existenz eignenden) Aspekt des Inkommensurablen auslegt. In dieser „zweiten Ethik“ erst kommt Kierkegaard zu der Verbindung von Praxis und Inkommensurabilität, die sich – so die These – aus einer Radikalisierung des Hegel’schen Immanenzdenkens auf zeitlich-existenzieller Ebene ergibt. Kierkegaards Distanzierung von der Hegel’schen Philosophie anhand des Begriffs der Immanenz bezieht sich demnach wesentlich auf die restriktive Vorstellung von Erkenntnis als begrifflich immanent. Das Kierkegaard’sche Subjekt als praktisch-emanzipatorischer Vollzug schält sich dagegen erst aus der Unverfügbarkeit seiner Selbst in der existenziell-praktischen Immanenz des Handelns heraus, worin eine Ähnlichkeit mit dem Praxisbegriff bei Marx und Sartre liegt. Das Phänomen (man könnte sagen „Existenzial“), anhand dessen sich dieser Prozess festmachen lässt, ist das der Ironie, als die einer immanenten Praxis (einer Praxis also, die ihre Geltungskriterien erst im Vollzug erzeugt) zugehörige Haltung negativer Performativität bezüglich bestehenden Geltungsansprüchen der Theorie. Dass Kierkegaard philosophisch letztlich bei einem Sublichkeit eines archimedischen Punktes in der subjektiven Bestimmung des Handelns in der eigenen Existenz eine Abstoßbewegung, die wiederum die Bedingung für ein ungetrübtes Verhältnis des Subjekts zur Transzendenz (zu der das Subjekt eben nicht in einem weltlichen also kontinuierlichen, sondern in einem wesentlich diskontinuierlichen Verhältnis steht) bereitet. Diese Isolation des Individuums angesichts inkommensurabler Verhältnisse trägt Kierkegaard wiederum eine Kritik aus dem Lager des Politischen ein: „Wer jeden Eingriff in die äußerliche Realität als Abfall vom rein inwendigen Wesen ahndet, der muß die gegebenen Verhältnisse sanktionieren, wie sie sind“. (Theodor W. Adorno, Kierkegaard noch einmal, in: Michael Theunissen u. Wilfried Greve, Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 562)
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jektbegriff von Kantischer Festigkeit endet, hat seinen Grund paradoxerweise darin, dass er das Subjekt als theoretische Grundlage zugunsten eines noch um die Bestimmung der Zeitlichkeit radikalisierten Hegel’schen Subjekt-Objekts als praktischem Immanenzzusammenhang verneint. Aus der Unmöglichkeit von Analytizität (beim Problem der Subjekt-Objekt-Differenz angefangen) in der Immanenz des Handelns ergibt sich eine Ethik der Inkommensurabilität, die in der politischen Theologie Carl Schmitts eine staatsrechtliche Positivierung erfahren hat.
I Die Bedeutung der Hegel’schen Philosophie für Kierkegaards Praxisbegriff – Der Anfang in der Immanenz Kierkegaard setzt sich also – so die These – von Hegel unter Gebrauch eines aufgewerteten Praxisbegriffs ab. Aber noch mit Hegel setzt er sich von einem oberflächlich gefassten Begriff des Allgemeinen ab, der zur Negativfolie für sein normatives Konzept des Einzelnen wird. Dabei bedient sich Kierkegaard eines grundlegenden Zuges der Hegel’schen Dialektik, nämlich der Überwindung desjenigen Erkenntnisbegriffs, der eine gesetzesartige Vermittlung von Phänomenen nur leisten kann, indem diese, gerade um vermittelt werden zu können, als begrifflich „gleichgültig gegeneinander“⁴ – das heißt analytisch – vorgestellt werden. Dieses Prinzip – das letztlich jeder nomothetischen Wissenschaftspraxis zugrunde liegt – versteht Allgemeinheit als die Vermittlung des gegeneinander Separierten unter Verstandeskategorien. Ist besagte Separiertheit nicht gegeben, sind also die Phänomene als Begriffe nicht trennscharf operationalisiert worden, mindert das die Erklärungskraft und damit den sinnvollen Bezug des einen auf den anderen. Kierkegaard verwendet dafür wie Hegel den pejorativ gebrauchten Ausdruck der Reflexionsphilosophie. Natürlich nur dann,wenn das Paradigma sich zum Maßstab für Erkenntnis auch jenseits seines legitimen Betätigungsfeldes aufschwingt. Hegel schlägt die Reflexionsphilosophie der Verstandeserkenntnis zu, die als solche gewissermaßen nur ihr eigenes Paradigma wiederholt: Aber dieser innere Unterschied fällt nur erst noch in den Verstand; und ist noch nicht an der Sache selbst gesetzt. Es ist also nur eine eigene Notwendigkeit, was der Verstand ausspricht; einen Unterschied, den er also nur so macht, daß er es zugleich ausdrückt, daß der Unter-
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 125.
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schied kein Unterschied der Sache selbst sei. Diese Notwendigkeit, die nur im Worte liegt, ist hiemit die Hererzählung der Momente, die den Kreis derselben ausmachen; sie werden zwar unterschieden, ihr Unterschied aber zugleich, kein Unterschied der Sache selbst zu sein, ausgedrückt und daher selbst sogleich wieder aufgehoben; diese Bewegung heißt: Erklären.⁵
Der Schritt über die bloße Verstandeserkenntnis hinaus zum dialektischen Vernunftgebrauch, der die Bewegung in der Sache selbst und ein Fortschreiten im Ganzen wahrnimmt, ist bekanntlich Hegels Schritt über Kant hinaus. Den monolithischen Kant’schen Kategorientafeln stellt er deren prozessuale Verflüssigung entgegen, die in der gegenseitigen definitorischen Konstitution zweier jeweils opponierender Bestimmungen das Movens ihrer dialektischen Kreisbewegung – die dadurch zugleich eine Entwicklung ist – hat. Für Kierkegaard ist diese Kritik an der Vermittlung des Einzelnen im Medium gesetzesartiger Allgemeinheit auch ohne einen positiven Gegenentwurf, als rein negative Aussage ein Denkanstoß. Der späte Kierkegaard zieht zudem auch die Hegel’sche Philosophie unter dem Generalverdacht einer erkünstelten Vermittlung des nicht Vermittelbaren mit der Reflexionsphilosophie Kants zusammen.⁶ Eine methodische Konsequenz, die sich für Hegel aus seiner Kritik der Kant’schen Kritik ergibt, ist allerdings beim frühen wie beim späten Kierkegaard noch wiederzufinden; nämlich das Problem des Anfangs in der Immanenz. Hegels Projekt erobert gegen Kant den maximalen Betätigungsraum philosophischer Spekulation zurück. Ausdrücklich aber nicht, indem das Rad hinter die Metaphysikkritik Kants zurückgedreht und sich der Begrifflichkeiten der vorkritischen rationalistisch-objektivistischen Metaphysik in wiedergewonnener Naivität bedient wird, sondern durch die Versöhnung des Subjekts mit der für es verloren gegangenen Objektivität. Die Vermittlung von Subjektivität und Substanzialität als jeweils bestimmte Negation des anderen wird dabei zu einer Instanz der dialektischen Grundfigur selbst. Kants Projekt dagegen beginnt mit dem gewissermaßen intentionalen Akt des kritischen Vorhabens. Das Resultat der transzendentalen Frage, die es ihm zu prüfen gilt, scheint sich schon in der gebrauchten Methode zu finden. Kant stellt die Vernunft vor die Vernunft hin, damit Erstere Letztere untersuche. Als Ergebnis zeigt sich ein eingeschränkter Begriff der Vernunft (genitivus obiectivus), nämlich ein an die Grenzen des Subjekts gebundener Kompetenzbereich. Die vorgeordnete Bedeutung des Subjekts für den Begriff der Vernunft
Ebd. Dazu wiederum Adornos Kritik: „Daß der Begriff aus sich heraus in seinen Widerspruch umschlägt, heißt in Hegel’scher Sprache: der Begriff ist in sich selbst vermittelt. Kierkegaard jedoch verkannte simpel die Hegel’sche Vermittlung als ein Mittleres zwischen den Begriffen, einen moderantistischen Kompromiß.“ (Adorno [1979], S. 564)
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insgesamt findet sich derweil deshalb in der Ausgangskonstellation der Unternehmung wieder, weil die Vernunft als Kritisierende sich schon damit, dass sie in der reflexiv-kritischen Figur einer Subjekt-Objekt-Spaltung innerhalb ihres eigenen Begriffs die Stelle des Subjekts einnimmt, als das transzendentale Subjekt vordisponiert, das als gleichermaßen positiv konstatierbares und einschränkendes Charakteristikum der Vernunft insgesamt aus der Untersuchung resultiert. Seitdem hat die meiste Philosophie Kantianischer Tradition mit einem Subjektbegriff gearbeitet, der sich in etwa durch drei Hauptmerkmale beschreiben lässt: (1) Er geht von einem jenseits jeder empirischen Erkenntnis existierenden Subjekt aus (Transzendentale Apperzeption); (2) Gerade in dessen formaler Getrenntheit von allem Empirischen ist die Fähigkeit positiver und verbindlicher Erkenntnis begründet, insofern der Bezug des Subjekts auf die Welt durch den einseitigen Zugriff desselben geregelt ist, es also ein klar definiertes Vorgehen und keine Unsicherheiten durch dem Subjekt sich seitens der Welt angetragene Erkenntnis gibt, die ihm seinen Status alleiniger Aktivität streitig machen könnten; (3) diese methodisch komfortable Situation innerhalb eines gesicherten Erkenntnisbereichs fordert als Tribut die völlige Aufgabe desjenigen, an dem das methodische Paradigma aporetisch scheitert (Paralogismen/Antinomien der reinen Vernunft).⁷ Im Problem des Anfangs verdichten sich diese drei Bestimmungen. Die Subjektphilosophie Kant’scher Prägung ermöglicht für die Philosophie das geregelte Anfangen als das intentionale Anfangen, das zumindest den formellen Verlauf seines Erkenntnisvollzugs in der Hand hat. Wiederum ist Kants kritisches Projekt laut Hegel bereits ein Anfangen im Sinne seines Ergebnisses. Bevor Kant in seiner Abhandlung zum Begriff der transzendentalen Apperzeption kommt, ist diese schon im Titel der Kritik der reinen Vernunft als genitivus subiectivus vorhanden. Sein Anfangen ist also, bevor es die Reflexionsphilosophie als Traktat zeitigt, für Hegel schon Verstandeserkenntnis im schlechten Sinne. In der Hegel’schen Dialektik kehren sich die Vorzeichen der drei Hauptmerkmale ziemlich genau um: (1) Das subjektive Erkennen ist schon in seiner formellen Konstitution nicht isoliert vorzustellen, sondern steht immer im Spannungsverhältnis zur Objektivität (subjektiver Geist/objektiver Geist). Die Vermittlung beider ist der Fluchtpunkt des absoluten Geistes; (2) Im Verzicht auf die formale Getrenntheit von Subjekt und Welt liegt gerade die Schwierigkeit des Anfangens, für die keine Vorabbestimmungen gegeben werden können, eine Orientierung findet eher am Telos der Bewegung statt, zudem wird der sich entwickelnden Wirklichkeit als Konkretion der Idee gewissermaßen ein erkenntnistheoretisches Initiativrecht
Vgl.: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg: Meiner 1980, S. 368 – 547.
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eingeräumt.⁸ (3) Durch den Verzicht auf eindeutige beim Subjekt angesiedelte methodologische Kompetenzen und eine resultierende Unsicherheit, was den Forschungsvollzug angeht, bleibt der Anspruch, das Wahre als das Ganze zu fassen, erhalten, weil die Möglichkeit der Erkenntnis nicht mit der Möglichkeit subjektiver Erkenntnis identifiziert und eingegrenzt wird. Von der Vorstellung eines immer schon Eingelassenseins subjektiven Erkennens in die objektive Welt der Dinge im Gegensatz zur Abstraktheit des aus dem Raum seiner rein formellen Konstitution sich der Welt bemächtigenden transzendentalen Subjekts ist Kierkegaards Denken offenkundig nachhaltig geprägt. Trotzdem endet er philosophisch bei einem geradezu solipsistischen, sich reflexiv zu einem Punkt zusammenziehenden Subjektbegriff, der sich trotzig von der Welt abkehrt, weil niemand ihn vorher gefragt hat, „ob man hinein will“⁹. Zur Erklärung gilt es zwei Auffassungen von Immanenz zu unterscheiden, von denen die erste – diejenige Hegels – eine idealistische ist, insofern als sie von einer gesamtgeistigen Durchwirktheit dessen, was in Immanenz (in der Vereinigung von Subjektivität und Substanz entgegen ihrem analytischen Widerspruch) zusammengeschlossen ist, ausgeht. Die Kierkegaard’sche Immanenz ist ebenfalls ein Zusammenschluss, aber einer in der faktischen Existenz, der seitens des Subjekts als unorganisch und erzwungen empfunden werden muss – oder höchstens noch religiös als Prüfung.¹⁰ Die Einwirkungsrichtung im Verhältnis von Subjekt und Objekt ist sozusagen die Umkehrung der Kant’schen Konzeption: Das Subjekt ist einem permanenten
Kontrovers illustriert im Diktum: „Was wirklich ist, ist vernünftig“. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972, S. 11) Søren Kierkegaard, Entweder – Oder, München: DTV 1980, S. 27. – Für die Apologeten Hegels lässt sich hier gegen Kierkegaard einwenden, dass es so scheint, als würde das im Spannungsfeld von durchaus dialektisch anmutenden Konstellationen (unendlich-endlich; möglichwirklich; unbewusst-bewusst) entstehende Subjekt Kierkegaards, den Schritt dazu, die eigene Bestimmung in Spannung zum Objektiven zu setzen, grundlos verweigern und damit letztlich in eine unproduktive Version des Kant’schen Subjekts zurückzufallen: „Die Tragik des bürgerlichen Individuums, das eben vermöge des Allgemeinen das Individuum ist, als welches es das Allgemeine negiert, gibt sich die Weihe, die später ontologisch heißt. Das Subjekt als unglückliches Bewusstsein bringt unfreiwillig an den Tag, was das Subjekt als rationales, als transzendentales schon war: Instanz der Vernichtung von Wirklichkeit als deren Rationalisierung und Klassifikation, als Degradation zur chaotischen Mannigfaltigkeit, deren Ordnung es sich vorbehält […] Die prinzipielle Schwierigkeit ist die einer undialektischen Dialektik, welche sich in dem Inbegriff der Paradoxie Gestalt gibt“. (Hermann Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation – eine Verteidigung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 19) Letzteres ist eine treffende Formulierung für die Ansiedlung von Allgemeinheit auf der praktischen Ebene des Sich-Verhaltens, auf welcher der dialektische Widerspruch kein produktiver ist. Weiter unten wird dazu der Marx’sche Begriff einer materiell-gesellschaftlichen Immanenz behandelt.
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Störfeuer aus seiner objektiven Umwelt ausgesetzt, mit der es qua Existenz äußerlich verwachsen ist. Umgekehrt tut sich durch jeden Versuch, der substanziellen Geltung des Faktischen durch subjektive Reflexion einen Aspekt von Wahrheit zu entlocken, entweder nur eine weitere idiosynkratische Perspektive oder ein schaler Begriff des Allgemeinen auf, in dem es sich als Individuum nicht recht leben lässt. Man sieht, dass auch für die Frage danach, was bei Kierkegaard im Unterschied zu Hegel Immanenz bedeutet, Kierkegaards Begriff einer praktisch-existenziell bestimmten Allgemeinheit, Erklärungskraft hat. Die sich dem Individuum gegenüber geltend machende Empfindung eines unvermittelten Bestehens von eigener Subjektivität und konkreter historischer Wirklichkeit (im nicht Hegel’schen Sinne) auf der praktischen Ebene bedeutet nicht mehr, als dass das Individuum beiden Geltungsparadigmen eine Realität zusprechen kann, ohne die Metakategorie zu finden, unter der sich aus beiden eine kohärente Geltung synthetisieren ließe. Diese dem Individuum aus der Konstellation seiner Existenz als praktischer Mischform von reflexiver Unmittelbarkeit und Substanzialität entgegentretende Geltung behandelt Kierkegaard zuerst unter dem Begriff der Ironie.
II Ironie So, wie aus der Perspektive dialektischer Philosophie Kierkegaard ein Unverständnis für das Allgemeine im Phänomen des Widerspruchs vorgeworfen wird, lässt sich der Tradition Hegel’scher Dialektik ebenso eine gewisse Ignoranz gegenüber dem Phänomen echter Disparität vorwerfen, das sich auf ein Außerhalb der in der Dialektik allumspannenden Sphäre des Begriffs bezieht. Trotzdem hat Ironie als emergentes Symptom einer Nicht-Vereinbarkeit dessen, was doch in der partikularen Existenz durch Gleichzeitigkeit verbunden ist, im Geschichtsverständnis Hegels zunächst ihren berechtigten Platz. Denn es gilt: Die Philosophie fängt mit dem Untergange einer reellen Welt an […] Der Geist flüchtet in die Räume des Gedankens, und gegen die wirkliche Welt bildet er ein Reich des Gedankens.¹¹
In diesem Sinne lässt sich die zunächst subjektive Negation objektiver Verbindlichkeiten als philosophiegeschichtliches Momentum spekulativ einfangen. In der Darstellung, die Hegel in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von Sokrates gibt, ist dessen Ironie (nach der Lesart Kierkegaards) zumeist aber in den
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke [in 20 Bänden], Franfurt a. M.: Suhrkamp 1971, Bd. 18, S. 71.
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Passagen wieder zu erkennen, in denen Hegel, ohne dabei von Ironie zu sprechen, an der Person des Sokrates den dialektischen Umschlagspunkt von Substanzialität in Subjektivität, der im Ethischen den Umschlag von Sittlichkeit in Moralität bedeutet, festmacht. Die ironische Haltung erscheint diesem präreflexiven Zweck gegenüber als bloße „Manier der Konversation“, also als etwas Intentionales. Dasjenige in der Person des Sokrates, worin Kierkegaard Ironie als eine nicht verfügte Selbstverzehrung wirken sieht, wird in Hegels Beschreibung etwas mystisch als eine Art „Somnambulismus“ beschrieben, worin er als sinnliches Bewusstsein ganz abgestorben war, – ein physisches Losreißen der innerlichen Abstraktion vom konkreten leiblichen Sein, ein Loßreißen, in dem sich das Individuum von seinem innersten Selbst abschneidet. Und wir sehen aus dieser äußeren Erscheinung den Beweis, wie die Tiefe seines Geistes in sich gearbeitet hat.¹²
Es ist nicht zu übersehen, dass der Umschlagpunkt einer sich geistesgeschichtlich vollziehenden Dialektik,wenn er sich am Wirken eines Individuums zeigen soll, zu einem Problem in der konkreten Beschreibung dieses Vorgangs führt. Um die Möglichkeit der Erkenntnis dessen, das da im Kommen ist, nicht Kantisch an das Subjekt allein zu binden und somit der gegenseitigen Durchdringung von Substanzialität und Subjektivität den Weg abzuschneiden, kann Sokrates kein intentional Handelnder sein.¹³ Hegel kommt so zu der obigen, leicht morbiden Auffassung eines die Subjektivität medial empfangenden Sokrates, die fast wie eine evolutionstheoretische Interpretation von Subjektivität als Mutation anmutet.¹⁴ Kierkegaards Vorhaben ist es, diese unbefriedigende Lücke im Hegel’schen System zu kitten, indem er die von Hegel nur als rhetorische Figur der Verstellung oder, im Falle der romantischen Schule um Schlegel, als Abfallen von einem Wirklichkeitsbezug, in dem Subjektivität und Substanzialität gleichermaßen ihr Recht erfahren, behandelte Ironie für eben diese Schwierigkeit des sich in der konkreten Wirklichkeit eines Individuums vollziehenden dialektischen Umbruchs
Ebd., S. 449. In der Phänomenologie heißt es dazu: „Sich des Einfallens in den immanenten Rhythmus der Begriffe entschlagen, in ihn nicht durch die Willkür und sonst erworbene Weisheit eingreifen, diese Enthaltsamkeit ist selbst ein wesentliches Moment der Aufmerksamkeit des Begriffs“. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, S. 56) So dass man den Gedanken einer nicht-intentionalen (weder menschlich noch göttlich angeleiteten) Entwicklung als die Geistesverwandtschaft verstehen könnte, die Friedrich Nietzsche meint, wenn er zu der Behauptung kommt: „Ohne Hegel kein Darwin“. (Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, fünftes Buch, in: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1988, Bd. 3, S. 597)
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fruchtbar macht. Aus diesem sehr versöhnlichen Bestreben¹⁵ Kierkegaards erklärt sich auch das etwas gewaltsame Zusammenziehen des eigenen und des Hegel’schen Ironiebegriffs unter der Formel der „unendlichen und absoluten Negativität“¹⁶. Der Ausdruck wird von Hegel ein einziges Mal gebraucht und das nicht so sehr definitorisch als vielmehr im Umfeld seiner Behandlung des Ironiebegriffs in der Ästhetik. Bezeichnenderweise (und daran wird Kierkegaard seinen Anstoß genommen haben) ist dies einer der wenigen Fälle, in denen Hegel Ironie als auch in einem spekulativen Kontext bedeutsam würdigt, damit also Kierkegaards Grundintention einer Aufwertung des Phänomens jenseits seiner romantisch-ästhetischen Verwendung nahe kommt. In der Passage geht es um den Gebrauch des Begriffs bei Solger, den Hegel ausdrücklich aus der Sippenhaft des romantischen Zirkels um Tieck und die Gebrüder Schlegel ausnimmt: Solger war nicht wie die Übrigen mit oberflächlicher Bildung zufrieden, sondern sein ächt spekulatives innerstes Bedürfnis drängte ihn in die Tiefe der philosophischen Idee hinabzusteigen. Hier kam er auf das dialektische Moment der Idee, auf den Punkt, den ich „unendliche absolute Negativität“ nenne, auf die Tätigkeit der Idee, sich als das Unendliche und Allgemeine zu negieren zur Endlichkeit und Besonderheit und diese Negation ebenso sehr wieder aufzuheben und somit das Allgemeine und Unendliche im Endlichen und Besonderen wiederherzustellen.¹⁷
Man sieht, dass, was für Hegel hier den Absolutheitscharakter jener unendlichen absoluten Negativität als dem dialektischen Moment der Idee ausmacht, der Umstand ist, dass sich in ihr die gesamte Kreisbewegung (Negation der Negation) des (negativ-vernünftigen) dialektischen Prozesses aus der Unbestimmtheit des Unendlichen und Allgemeinen hin zum Endlichen und Besonderen und durch dessen abermalige Negation wiederum ins Allgemeine vollzieht und so zur Positivität der (positiv-vernünftigen) Spekulation gelangt. Dieses positiv Spekulative wird von Solger verfehlt, er verliert sich – gemäß Hegels Darstellung – in einem seiner Aspekte und nimmt diesen für das Ganze. Wie im Fall der Somnambulismus-Diagnose in seiner Sokrates-Darstellung finden sich bei Hegel auch in der Passage über Solger einige Bezüge zu eher partikularen Bestimmungen von dessen
Von einem Verständnis Hegels als „Größtem Feind“ Kierkegaards (vgl. Paul Ricoeur, Philosophieren nach Kierkegaard, in: Michael Theunissen; Wilfried Greve, Materialien zur Philosophie Søren Kierkegaards, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 580) kann daher, wenn überhaupt jemals, zu diesem Zeitpunkt keine Rede sein. Søren Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie – mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 9. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke [in 20 Bänden], Franfurt a. M.: Suhrkamp 1971, Bd. 13, S. 98.
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Wirken im Zusammenhang mit seinem Verhältnis zum spekulativen Gedanken. So zum Beispiel das Bedauern über dessen frühen Tod und seine Beschreibung als ernst, charakterfest und tüchtig, die für den Drang, in die Tiefe der philosophischen Idee hinabzusteigen eine Erklärungsfunktion zu haben scheint. Im Gegensatz zu den übrigen romantischen Ironikern hat also Solger (wie auch Sokrates) ein eher passives Verhältnis zur Negativität, das mehr einem Eingenommensein gleicht als einem intentionalen Gebrauch, während die Jenaer Romantik eine unheilvolle Mischung aus transzendentalem (intentional agierendem) Subjekt und dessen genialischer Entkopplung von seinen Kant’schen Beschränkungen propagiert. Dieser nicht unerhebliche Unterschied wird von Hegel aber jeweils etwas unbefriedigend behandelt, weil er idiosynkratische Konstellationen als Vorbedingung für spekulative Verdienste anführt, ohne dieser Merkwürdigkeit eine theoretische Behandlung widerfahren zu lassen. Aus einer Akzentverschiebung hin zur Rolle des Einzelnen (der später zum Paradigma der Kierkegaard’schen Philosophie avanciert) bei der Betrachtung der Problematik, die sich aus der Hegel’schen Geschichtsauffassung für den Vollzug dialektischer Umschläge auf dem eingeschränkten Horizont eines zeitlich existierenden Bewusstseins ergibt, fördert Kierkegaard also die Ironie als zu unrecht vernachlässigtes und hoch problematisches Phänomen zutage. Als das Sich-Verhalten eines Unwissenden, dessen sprachlich artikulierbare Prämissen ihm noch von der Zukunft vorbehalten sind, ergibt sich also auf existenzieller Ebene die Figur der ironischen Haltung zunächst aus dem Versuch der Ausbesserung einer Verlegenheitslösung im Hegel’schen System: Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber darf man nicht den anderen Satz vergessen, daß es vorwärts gelebt werden muß.¹⁸
Dieses „Muss“ bezeichnet letztlich einen sich aus dem Hegel’schen Erkenntnisbegriff für das Individuum konstruierenden Primat der Praxis. Er ist eine dem Individuum aus seiner Existenz entgegentretende Geltung jenseits jeden Inhalts, die zunächst einmal nur ein „Dass“ vom Individuum fordert und noch nicht das „Was“¹⁹. Diesem ersten Gebot wird keine sprachliche Tätigkeit gerecht, denn es Søren Kierkegaard, Die Tagebücher – Bd. IV, in: Søren Kierkegaard, gesammelte Werke und Tagebücher, hrsg. v. Hayo Geerdes und Emanuel Hirsch, Gütersloh: Grevenberg-Verlag 1979, S. 164. Kierkegaard greift hier die Kritik des späten Schelling an Hegel auf, der das erklärungsbedürftige Phänomen von Positivität als solcher, jenem bloßen „Dass“, als nicht deduzierbar aus den – schon eine Art Sein voraussetzenden – Bestimmungen der Hegel’schen Logik fasst, deren Voraussetzung es aber gleichsam bildet. Zudem weist auch Schelling auf die Notwendigkeit
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gilt nichts festzustellen. Im Resumee der Ironieschrift kommt Kierkegaard denn auch im Abschnitt über beherrschte Ironie, die man als eine noch Hegel-konforme Form der radikalen Ironie, um welche es Kierkegaard später zu tun ist, verstehen kann, zu dem Schluss: ‚Die Wirklichkeit empfängt daher ihre Giltigkeit [sic] durch Handeln.²⁰‘
Man muss daher wohl auch Praxis bei Kierkegaard als möglichen Ausdruck einer ironischen Haltung verstehen. Die Ironie des Sokrates’ ist die performative Negation einer inhaltlichen Position, in der das Subjekt, dem Begriff sich verweigernd, sich aus der Sphäre des Allgemeinen zurückzieht und damit negativ geltend macht.²¹ Dass auch nicht-sprachliche Praxis unter den Nenner des ironischen
irgendeiner Art tätigen Schaffens als Bedingung jedes echten Fortgangs hin, der strukturell außerhalb des Zugriffs der Kontemplation liegen muss. Ein existenzphilosophisch zu nennender Primat der Praxis als dasjenige, wodurch das Individuum auch im Denken das wird, was es ist, lässt sich also bei Schelling schon finden. „Die Vernunftwissenschaft führt über sich hinaus und treibt zur Umkehr; diese selbst aber kann doch nicht vom Denken ausgehen. Dazu bedarf es vielmehr eines praktischen Antriebs; im Denken aber ist nichts Praktisches, der Begriff ist nur contemplativ, und hat es nur mit dem Notwendigen zu thun, während es sich hier um etwas außer der Nothwendigkeit handelt.“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schriften zur geschichtlichen Philosophie, in: Schellings Werke Bd. 5, München: Beck 1979, S. 747). Heidegger sieht Schellings Problematisierung der Möglichkeit theoretischer Anschauung schon in dessen Freiheitsschrift von 1809 geleistet: „Freiheit, sofern sie geschichtlicher Vollzug des Menschen ist, entzieht sich dem vor-stellenden Begreifen.“ (Martin Heidegger, Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hrsg. v. Hildegard Feick, Tübingen: Niemeyer 1971, S. 26) Søren Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie – mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 322. Zu Recht merkt Hermann Schweppenhäuser zwar in seiner Kierkegaard-Kritik an: „Es ist an solcher Unmittelbarkeit immer soviel Reflexion wie in den Begriffen, worin sie sich zu fassen genötigt ist. „Mein Leben ist völlig sinnlos“ und ist es doch sowenig, wie Reflexion, wie der angestrengt formulierende Ästhetiker unter den sprachlichen Kategorien die sinnvollste – das „völlig“ – auswählen und auf einen Kodex objektiven Sinnes beziehen muß, um die ganze Sinnlosigkeit zu treffen: sie wird fassbar, vermittelt erst durch den Sinn, den sie negiert – wie dieser durch seine Abwesenheit“. (Hermann Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation – eine Verteidigung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 18) Doch dieses Argument greift nur innersprachlich. Selbstverständlich muss die sprachliche Negation von Sinn auf eine Art von Sinn rekurrieren, das tut sie schon qua ihrer eigenen sprachlichen Verfasstheit. Zieht man dagegen den Handlungsaspekt desjenigen, als dessen Äußerung der Satz zunächst erscheint, hinzu, und legt man das Augenmerk auf die verschiedenen Verhältnisse, in denen der sprachlich Handelnde aus der Identität mit seiner Aussage heraustreten kann (so zum Beispiel ironisch), ist diese Bestimmung, die erst die Unterscheidung von Sprechendem und Satz hervortreten lässt, eine rein trennende und nicht näher bestimmte, also in gewissem Sinne eine vorsprachliche Bedingung von Sprache im Gegensatz zum bloßem Text oder Begriffsschema.
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Verhaltens fallen soll, ist zwar zunächst eher kontraintuitiv, zumal jede Handlung gewissermaßen eine Position (also eben keine Negation) konstituiert. Gerade das romantische Verständnis der Ironie, in dem die Möglichkeit als natürliches Habitat des Ironikers der positiv-praktischen Sphäre des Tatmenschen entgegengestellt wird, widerspricht der Assoziation der beiden Begriffe.²² Kierkegaards Begriff des Ironischen gilt aber – in expliziter Abkehr vom Begriff der romantischen Ironie – dem Geltungsanspruch des Begriffs gegenüber der unrubrizierten Sphäre bloßer zeitlicher Praxis, das heißt einer Vorstellung von Praxis als immer schon in begrifflicher Immanenz aufgehoben. Handeln hat also Positivität zur Folge aber nicht zur Ausgangsbedingung. Praxis im Sinne der Philosophie Kierkegaards exemplifiziert gewissermaßen das Moment der Inkommensurabilität in ihrem Begriff. Daraus ergibt sich folgerichtig nicht nur der Ausschluss eines rein zweckrationalen Begriffs von Praxis, sondern auch eines solchen, der die sprachliche Lesbarkeit, die im Falle der intentionalen Handlung im Bewusstsein des Akteurs verortet wird, in eine privilegierte Forscherperspektive verschiebt, aus der heraus die einzelne Handlung als Regelfall im Licht generalisierender Modelle erscheint, deren Güte sich wiederum allein nach der Datenlage bezüglich vergleichbarer Fälle bemisst. In beiden Fällen ist die Sprache dem Geschehen vorgeordnet, einmal als Absicht, einmal als mindestens hypothetische Forscherperspektive. Die jeweils auf sie angewandten Kategorien bestehen bereits als die Arten von Geltung, denen sich Praxis fügen muss, insofern sie im kommunikativen Raum nur in den Codierungen ihres jeweiligen Vokabulars Bedeutung bekommt und erkennbar wird. Dieses Verhältnis scheint Kierkegaard bemüht zu Gunsten der Praxis aufzubrechen und greift damit den gleichen wunden Punkt im System Hegels an, anhand dessen sich auch Marx vom Hegel’schen Idealismus löst.
Dass bei Carl Schmitt das „Ironische“ nach wie vor ausschließlich an die Unterscheidung von passivem Verharren in einer durch subjektive Reflexion ausgewalgten Sphäre des Möglichen und dem tätigen Sich-Verhalten gemäß der weltlichen Sphäre endlicher Bestimmungen gebunden bleibt, wird für seine politische Auslegung des Kierkegaard’schen Begriffs der Inkommensurabilität noch von Bedeutung sein.
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III Zwei mögliche Praxisbegriffe der Marx’schen Idealismuskritik In der praktischen Umformung, die Marx an der Hegel’schen Dialektik vornimmt, geht das Momentum begrifflicher Negation im praktischen Momentum der Arbeit vollständig auf: Das große an der Hegel’schen „Phänomenologie“ und ihrem Endresultate – der Dialektik der Negativität als dem bewegenden und erzeugenden Prinzip – ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß faßt, die Vergegenständlichung als Entgegenständlichung, als Entäußerung und als Aufhebung dieser Entäußerung; daß er also das Wesen der Arbeit faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als Resultat seiner Arbeit begreift.²³
Die Formulierung gibt Anlass zu einem gängigen Vorwurf Marx gegenüber, nämlich mit seiner berechtigten Idealismuskritik die Hegel’sche Philosophie insgesamt materialistisch verflacht zu haben. Das bei Hegel vernachlässigte Problem der Praxis scheint in das der Arbeit überführt und damit nur scheinbar gelöst zu werden,weil diesem wiederum eine theoretische Erkenntnis, nämlich die historisch-ökonomische Verdiesseitigung des Hegel’schen Entwicklungsgedankens, vorausgeht. Damit geht auch eine erneute Trennung der theoretischen Sphäre von der praktischen einher, durch die eine Ausrichtung der Praxis an der Theorie wieder möglich wird. Das falsche Bewusstsein bildet sozusagen ein Residuum des rückwärtig erkennenden und vorwärtig handelnden Menschen bei Kierkegaard, der gegen seine eigene Unmittelbarkeit als die ihm zur zweiten Natur gewordene Prägung durch gesellschaftliche Strukturen aber nun das Therapeutikum der Kritik objektiv beschreibbarer ökonomischer Umstände aufwenden kann. Ein derartiger Triumph der ratio über die subjektive Plausibilität empfundener Unmittelbarkeit reiht sich paradigmatisch in die Geschichte theoretischer Aufklärungen (von der Selbstbindung Odysseus²⁴ über Kopernikus bis hin zu Kant) ein. Die Arbeit des Begriffs wird also zur physischen Arbeit des Menschen an den materiell vorhandenen Ressourcen, derer er zur Subsistenz bedarf. Die Begrifflichkeiten zur Erfassung dieser Arbeit, die selbst nicht mehr die des Begriffs sondern des Menschen ist, sind in ihrer Anwendung nun nicht mehr reflexiv (deshalb nicht mehr Begriff im Hegel’schen Sinne), weil sie sich auf materielle
Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW, Berlin: Dietz 1962, Bd. 40, S. 574. Vgl. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer 1973.
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nicht ihrerseits auf (ideelle) Begriffe beziehen. Marx macht – konsequent materialistisch – den ersten Schritt der Selbstentäußerung des Geistes bei Hegel nicht mit, der gewissermaßen erst die tätige Welt (auch die Welt der Materie), in der etwas konstituiert werden und Bestimmungen haben kann, ermöglicht. Aber auch Marx beginnt in der Immanenz, die bei ihm der Strukturzusammenhang gesellschaftlich geformter Materialitäten ist, von deren Rückwirkung auf das gesellschaftliche Individuum und dessen Begriffsapparat nicht abstrahiert werden darf. Weil die Immanenz des Gesellschaftlich-Ökonomischen als das historische Faktum des Zusammengeschlossenseins zweier disparater ontologischer Strukturen (des „An-Sich“ der Materie und des [historisch kontrafaktischen aber für eine teleologische Ausrichtung als regulative Fiktion notwendigen] „Für-Sich“ der Subjekte) die analytische Teilung zweier Sphären aber mindestens hypothetisch wieder ermöglicht, scheint Marx die Transzendenz der Theorie begrifflich eher zu bekräftigen. Die prinzipielle Möglichkeit zu theoretischer Kritik entspricht gewissermaßen dem Kant’schen transzendentalen Subjekt, insofern beide einen theoretischen Angelpunkt bilden, auf den sich Praxis rückbeziehen lässt. Denn Marx’ Trennung des materialistischen vom idealistischen Entwicklungsgedanken ist keineswegs in dem Sinne absolut, dass der Mensch als normativ Wertender aus dem von ihm erkannten Vollzug der geschichtlichen Kräfte ausgeschlossen wäre (sofern er zunächst lernt seine eigenen, unmittelbaren normativen Überzeugungen und diejenigen des common sense angesichts ihrer Wechselwirkung mit einer materiellen Basis als prinzipiell problematisch zu empfinden). In dieser Perspektive muss der einzelne Akteur seinen unmittelbaren Intentionen zwar zu misstrauen lernen, kann aber in theoretischer Abstraktion die Vernunftperspektive eines durchaus positiven Erkenntnisprozesses einer historisch-sozialwissenschaftlichen Avantgarde jenseits jeder gesellschaftlichen Immanenz einnehmen und von ihrer Warte aus über die bestehenden Verhältnisse theoretisch urteilen. Die Ambivalenz des vorwärtig Handelnden und rückwärtig Erkennenden wird zugunsten von Eindeutigkeit und Entscheidbarkeit aber unter Umständen zu Ungunsten der Gewissenhaftigkeit in einer Abbildung der Eigenlogik des hermeneutischen Prozesses aufgelöst, in dem das Kollektivsubjekt der Menschheit unter der Bestimmung des Geistes in der Bezugnahme auf sich selbst seine Entwicklung erfährt. Eine andere Auffassung von Marx’ Verständnis des Problems der Praxis ergibt sich, wenn man seinen Arbeitsbegriff als Einebnung der Unterscheidung von Idealität und Materialität fasst. Als einen philosophischen Grundbegriff also, der das spezifisch Menschliche in der Wechselwirkung von Objektivität und Subjektivität, von „An-Sich“ und „Für-Sich“ begreift, und der die lähmende Wirkung des Hegel’schen Systems auf jede Art Praxis dadurch zu beheben sucht, dass er die Welt der erstarrten Objektivationen des „An-Sich“ in die Sphäre des praktisch
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Zugänglichen verlegt, wo sie nicht länger unter der Ägide eines allumfassenden Geistesbegriffs passiv ihrer Vermittlung harren müssen.²⁵ Für eine solche Auffassung spricht der von Marx in den Thesen über Feuerbach entwickelte Begriff von Praxis. Die dort gegen den Feuerbach’schen Materialismus vorgebrachte Kritik ähnelt in vielem jener, die dem (Vulgär‐)Marxismus seinerseits vorwirft, das Problem der Praxis, anstatt es als Phänomen sui generis gegen das Hegelianischidealistische Paradigma abzugrenzen, deflationistisch auf materielle Bestimmung zurückzuführen. Feuerbachs Materialismus wird von Marx als ein „anschauender“²⁶ gefasst. Als ein Materialismus also, der den Primat der Kontemplation behauptet und damit sowohl das Faktische positiv sanktioniert (darin hat er seine politische Dimension)²⁷ als auch dem theoretischen Standpunkt zugeordnet bleibt, unter dessen Anleitung Praxis begriffen wird.²⁸ Eine normative Handlungstheorie, die in der theoretischen Erkenntnis historisch-ökonomischer Strukturen das gegebene Maß jeder Praxis behauptet, scheint also nicht der übergeordnete Gedanke zu sein, unter dessen Eindruck die Thesen stehen. Gegen die materialistische Demaskierung des Idealismus wird Letzterem ein mit seiner Kritik zu verschwinden drohender Bezug zum Problem des Praktischen zugesprochen, der wesentlichen aus der Hegel’schen Figur der Immanenz als Einheit von Substanz und Subjektivität im Gegensatz zur Kant’schen Spaltung von Subjekt und Objekt als Voraussetzung jeder theoretischen Position argumentiert:
„Die Natur abstrakt genommen, für sich in der Trennung vom Menschen fixiert, ist für den Menschen nichts.“ (Karl Marx, Frühschriften, zitiert nach: Ante Pazanin, Überwindung des Gegensatzes von Idealismus und Materialismus bei Husserl und Marx, in: Phänomenologie und Marxismus 1 – Konzepte und Methoden, hrsg. von Bernhard Waldenfels, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 105 – 128) Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW 3, S. 5. „Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft.“ (Ebd., S. 7) Feuerbach selbst schreibt in Das Wesen des Christentums: „Die praktische Anschauung ist eine schmutzige, vom Egoismus befleckte Anschauung, denn ich verhalte mich in ihr zu einem Dinge nur um meinetwillen […] Die theoretische Anschauung dagegen ist eine freudenvolle, in sich befriedigte, selige Anschauung, denn ihr ist der Gegenstand ein Gegenstand der Liebe und Bewunderung, […] die Anschauung der Theorie ist eine ästhetische Anschauung, die praktische dagegen eine unästhetische.“ (zitiert nach: Georges Labica, Karl Marx – Thesen über Feuerbach, Berlin: Argument 1998, S. 29). Feuerbachs Bestimmung der Theorie ähnelt hier stark der Kant’schen Definition des Schönen als des ohne Interesse Gefallenden und dessen Auslegung bei Schopenhauer als reiner Kontemplation, die den Sabbath von der Zuchthausarbeit des Wollens darstellt. Beide Konstrukte vom Modus der Anschauung als heilsam grenzen sich dabei von einem dezidiert intentionalistischen Praxisbegriff ab, von dem es im rezeptiven Eingenommensein vom Objekt noch ein Außerhalb gibt. Dieses Außerhalb würden sowohl Kierkegaard als auch Marx bestreiten.
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Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus von dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt [wird].²⁹
Am Problem der Praxis scheitern also das idealistische und das materialistische Paradigma gleichermaßen. Der Idealismus, weil er auch noch in seinem Begriff von Konkretion abstrakt bleibt, der Materialismus, weil er das, was es zu fassen gilt (den Gegenstand, die Wirklichkeit, die Sinnlichkeit) nur anschauend und arretierend als Objekt fasst. Praxis in dem Sinne, wie sie Marx hier verstanden sehen will, ist dagegen sowohl sinnlich als auch Tätigkeit. Damit scheinen in ihrem Begriff Aktivität und Rezeptivität, Subjekt und Objekt wieder Hegelianisch zusammenzufallen. Der emphatische Begriff von Praxis ist eher einer von der Tat selbst – von demjenigen „Dass“, welches sich auch bei Kierkegaard findet – als Ursprung von jeder Wirklichkeit – von jedem „Was“. Dazu hat die Figur, indem sie die Wirklichkeit als wesentlich „menschlich“ ausweist, die Konnotation einer Orientierung am Kierkegaard’schen existenziell-praktischen Begriff von Allgemeinheit, innerhalb dessen eine Ausrichtung nicht am Allgemeinen als einem kollektiv Vorgestellten – dem Objektiven der theoretischen Anschauung – stattfindet (zu dem sich auch der Beobachter bereitwillig selbst zählt), sondern an dem allgemein menschlichen Faktum der jeweiligen eigenen Präzedenzlosigkeit im Sich-Verhalten zur objektiven Welt als Welt des „An-Sich“ und der reflexiven Potenzierung dieses Verhältnisses. Das allgemein Menschliche ist es, dass der Mensch sich ohne theoretische Vorabbestimmung von Resultaten praktisch aus dem zu jedem historischen Zeitpunkt gegebenen begrifflich arretierten Zustand gesellschaftlicher Faktizität bewegen kann. Marx scheint also auf dem gleichen schmalen Grad wie Kierkegaard zu wandeln, indem er versucht, das nicht im Gattungswesen aufgehende subjektiv-existenzielle Verhalten des konkreten historischen Individuums im Begriff der Praxis mit einer Art von Allgemeinheit zusammenzuschließen, von der sich zu reden lohnt, ohne dass ihre inhaltliche Bestimmung in ihrer semantischen Antizipation vollständig enthalten sein könnte: Feuerbachs Auffassung der sinnlichen Welt beschränkt sich […] auf die bloße Anschauung derselben und andererseits auf die bloße Empfindung, er sagt „den Menschen“, statt die wirklichen historischen Menschen.³⁰
Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW 3, S. 5. Karl Marx, Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, S. 42.
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Gleichwohl stellt sich bei einem Vergleich der Praxisbegriffe von Marx und Kierkegaard als das größte Problem die Frage des Subjekts. Vielleicht ist es angemessen zu sagen, dass bei Marx ein Kollektiv in dem Maße existenziell bestimmt ist (nämlich als zu einem Sich-Verhalten, also zum tätigen Schaffen eines „Dass“ genötigt, bei einer sich nur auf die Vergangenheit beziehenden Möglichkeit theoretischer Anschauung), wie Kierkegaard es allein vom Individuum als Subjekt behaupten würde. Die verfängliche Bestimmung der Abstraktion, derer sich auch der Materialismus schuldig macht, ist die einer Feststellung von Letztkategorien mit fest umrissenen Eigenschaften im Bereich des Gesellschaftlichen. Damit entzieht er sich in seiner Betrachtung des vitalen Elements der Dialektik, die Marx zwar materialistisch umformen aber damit nicht mechanistisch verkürzen will. Die Vermittlungsschleife, aus deren endlos reflexivem Vollzug das Freiheitsmoment entsteht, das sich zur Notwendigkeit steigert, in ihr einen praktischen Bruch zu vollziehen, ist bei Kierkegaard das Verhalten des Subjekts zu sich selbst, bei Marx das (erkannte!) Verhältnis von Gesellschaft und Individuum. Dem Sprung aus der reflexiven Verzweiflung in das Verhältnis zum Inkommensurablen, korrespondiert bei Marx gewissermaßen der Sprung aus einem für das Individuum unverfügbaren Vermittlungsregress mit seinen gesellschaftlichen Verhältnissen, von denen es sich begrifflich ebenso wenig abgrenzen kann (denn es ist ihr Teil und ihr Resultat gleichzeitig und immer fort), wie das Subjekt sich in seinem Selbstverhältnis von dem, zu dem es sich verhält. Die Revolution bei Marx erscheint somit wie der christliche Gott bei Kierkegaard als das „Ungedachte der Philosophie“³¹. Sowohl aus der Existenzialdialektik Kierkegaards als auch aus der historisch-materialistischen Dialektik bei Marx führt allein die Praxis als reiner Akt. Voraussetzung für die Diskontinuität im Kierkegaard’schen Christentum wie für die des Revolutionsbegriffs in den Thesen über Feuerbach ist eine erkenntnistheoretische Ausweglosigkeit des Individuums aus der nicht theoretisch zu bewältigenden Immanenz eines immer schon bestehenden Zusammengeschlossensein mit etwas, über das es nicht verfügt, sei es (rein formal) seine selbstbewusste Existenz oder (materiell) seine gesellschaftliche. Die Frage danach, welche dieser beiden Heteronomie-Bestimmungen des Individuums mehr Beachtung verdient, entscheidet sich daran, ob der sich zu Beweisgründen inkommensurabel verhaltende praktische Akt („In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen“³²) als Sprung in den Glauben oder als Revolution mehr Plausibilität besitzt. Ausschlaggebend ist hier unter Umständen auch, ob sich der
Vgl. Georges Labica (1998), S. 29 ff. Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in MEW 3, S. 5 (These 2).
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philosophische Ansatz eher in Richtung einer anthropologischen Axiomatik (wie bei Marx) bewegt, in der zum einzeln existierenden Individuum immer die Bestimmung des Menschlichen insgesamt hinzutritt, oder ob das Faktum der Existenz jenseits seiner Bedeutung als eine spezielle conditio humana (wie zum Beispiel bei Heidegger als Dasein) seinen eigenen ontologischen Kontext begründet oder (bei Kierkegaard) einen Bezug zur Transzendenz beibehält. Kierkegaard verweigert bekanntlich den Ausweg aus der Verzweiflung im Selbst zugunsten eines gesamtmenschlichen Projekts. Ebenso wenig findet sich bei ihm das fundamentalontologische Projekt angelegt, das aus der Analyse der Existenzialien, als deren Erfinder Kierkegaard zweifellos gelten kann, eine Kontinuität zum Sinn von Sein als einer der menschlichen Reflexion zugänglichen Größe herzustellen vermag. Im Abgleich mit Marx’ Praxisbegriff ergibt sich also bei durchaus vorhandener Ähnlichkeit als entscheidendes Trennungskriterium einmal mehr die enge Bindung der Kierkegaard’schen Philosophie an den Einzelnen als das reflexive und damit in seiner reinen Formalität unumstößlich geistige (nicht materiell) verfasste Subjekt. Die Paraphrase des wahren Christentums nach Kierkegaard, sich in der Endlichkeit für die Unendlichkeit zu entscheiden, ist nicht vielmehr als eine Akzentsetzung, die genau das, worin der historische Materialismus seinen Angelpunkt hat, als reines Epiphänomen durchstreicht.
IV Inkommensurabilität als Zeitlichkeit und historische Offenheit – der post-idealistische Praxisbegriff Kierkegaards und Marx’ bei Sartre In der jeweils eigenen Interpretation von Praxis (als eines in der Hegel’schen Philosophie eher spärlich ausgedeuteten Problems) liegt also eine Bestimmung des Schismas der Nach-Hegelianischen Schulen, deren Ahnherren Kierkegaard und Marx jeweils bilden. Den Versuch einer erneuten Zusammenführung der unterschiedlich verorteten Begriffe von Praxis als historisch-kollektiv beziehungsweise formal-subjektiv unternimmt Jean-Paul Sartre in seiner Kritik der Dialektischen Vernunft. Unabhängig davon, ob die Überführung der in Das Sein und das Nichts eingeführten Unterscheidungen einer an Subjekt und Objekt ohne dritte Vermittlungsgröße orientierten, also weitestgehend zweistelligen, Sozialphilosophie in eine Theorie kollektiven Handelns gelingt,³³ verdeutlicht Sartres Inter-
Klaus Hartmann spricht von einer „Sozialphilosophie von Paaren“ und formuliert das Telos des Marxismus als Aufhebung der Entfremdung im Vokabular Sartres als die Vorstellung „von
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pretation des Problems von Praxis als in der Synchronizität von Handlung und verstehender Einordnung bestehend den Zusammenhang der beiden Denkschulen, in deren Tradition sein Ansatz unter anderem steht. Die Frage nach der Möglichkeit echten (das heißt – dem Sartre’schen Begriff nach – „freien“) Handelns im historischen Kontext, kann sich dabei auf eine persönliche oder eine menschheitsgeschichtliche Historie gleichermaßen beziehen. Durch die intrinsische Unverträglichkeit des Sartre’schen Existenzialismus mit jeder Art von Teleologie, muss er die Vermittlung mit Marx über eine Interpretation von dessen Theorie herstellen, die (wiederum eine ökonomistische Interpretation des Marxismus abweisend) dessen Fluchtpunkt aller Praxis von einem konstatierbaren Zustand gesellschaftlich-materieller Verhältnisse in einen Zustand maximaler Befähigung der einzelnen Subjekte umdeutet, deren Resultat ein wiederum offener historischer Horizont ist.³⁴ Sartre bringt in seinem Begriff der Gruppe das subjektive Freiheitsmoment (als aus der Struktur des „Für-Sich“ resultierende Möglichkeit zur Negation des Objektiven) mit einem Begriff kollektiven Handelns zusammen, der dadurch zunächst seinen ökonomistisch-mechanistischen Charakter verliert, gleichzeitig in seiner Bestimmung als kollektive Freiheit aber immer prekär bleibt und permanent Gefahr läuft, in die geronnene Struktur des „Praktisch-Inerten“ zurückzufallen. Ein in existenzialistischer Tradition stehender Begriff von Praxis (als im eigenen Subjekt-Sein begründetes Aufgefordertsein des Sich-Verhaltens zum Gegebenen in der Immanenz einer jeweils eigenen aber nicht frei gewählten zeitlichen Existenz) erhält bei Sartre über die Auseinandersetzung mit dem Praxisbegriff des Marxismus also auch wieder eine historische Behandlung, wie sie erstmals bei Kierkegaard in Über den Begriff der Ironie erscheint. Dort ebenfalls als Versuch, die Evidenz der Hegel’schen Dialektik als Movens der Geschichte mit der Bewahrung einer am Christentum orientierten gewichtigen Rolle des einzelnen Subjekts als eines wirklich handelnden zu vermitteln, indem die Negation als das bewegende Element der Hegel’schen Logik als freie menschliche Praxis gewissermaßen zu echter Vitalität findet. Gegen Idealismus und Materialismus behaupten also sowohl Kierkegaard als auch Sartre das Recht auf ein Verständnis von Praxis als Negation, die weder eine bloße Funktion
menschlicher Gesellschaft als Bei-Sich-Sein im Anderen.“ (Klaus Hartmann, Sartres Sozialphilosophie – eine Untersuchung der „Critique de la Raison Dialectique I, Berlin: De Gruyter 1966, S. 43) Demnach kann auch für Sartre die Dialektik, wenn sie als lebendig-praktisch, das heißt auf die Zukunft gerichtet, begriffen wird, nicht innerhalb einer kontemplativen Vernunft verstanden werden. „Der Existenzialismus erscheint deshalb als ein „aus dem Wissen herausgefallenes Systemfragment.“ (Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft I – Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983, S. 194)
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einer überzeitlichen Ideenwelt, noch einer Dialektik der Natur ist.³⁵ Ein solcher dritter Weg, der mit dem Paradigma bricht, dass, was sich vom Menschen verstehen lässt, sich aus einem nicht-menschlichen Prinzip deduzieren lassen muss ([Seins]Logik oder empirisch-materielle Welt), ist der Schnittpunkt, in dem nicht nur Kierkegaard und Sartre übereinkommen, sondern auf dem auch Marx’ Begriff von Praxis als sinnlich menschliche Tätigkeit ³⁶ aus den Thesen über Feuerbach liegt. In der post-idealistischen Philosophie Kierkegaards und Marx’ findet sich also eine gemeinsame Abkehr sowohl von der kritischen Philosophie Kants und dessen rein kontemplativem Subjektbegriff als auch von der idealistischen Dialektik Hegels entlang eines neuen Begriffs des Praktischen wieder, die auch das theoretische Vokabular des Existenzialismus des 20. Jahrhunderts prägt. Mit Hegel stimmen Kierkegaard und Marx in der Kritik der Transzendentalphilosophie Kants überein, die noch mit dem Fluchtpunkt der Möglichkeit einer theoretischen Erkenntnis gesetzesartiger normativer Aussagen bei geregeltem epistemologischen Status des Subjekts befasst war, also nur mit der Möglichkeit der Erkenntnis von Objektivem im Medium des Handelns. Dabei wird die Opposition von Subjekt und sich ihm gegenüber geltend machendem Objektiven (sei es als Systemstruktur oder normativ reflektiertes Gesetz) in der Zeit selbst nicht als konstitutives Moment für Subjektivität begriffen, an welcher wiederum jedes soziale Artefakt (jede Norm, jedes Gesetz) potentiell seine Grenze als An-Sich-Gültiges findet. Der Bruch mit Hegel vollzieht sich nun, verkürzt gesagt, anhand der Ungereimtheit, die sich aus der logischen Einhegung der Bewegung ergibt. Hegels Verständnis von Dialektik als geordnetem Vollzug, als Vermittlung des Disparaten innerhalb eines Begriffs von Logizität, der die diachrone Struktur des Übergangs, der Diskontinuität, des Bruchs in der Sphäre des Abstrakten aufzunehmen vorgibt, ist der Punkt, an dem die Plausibilität seiner ontologisch-metaphysischen Logik durch Überlastung ihr Ende findet.³⁷ Hegel scheitert also auch am Problem der Zeitlichkeit und dessen Implikationen für das handelnde Subjekt. Die Reflexivität des subjektiven Geistes als Möglichkeit zur permanenten Negation seiner eigenen
Sartres Kritik gegen einen verknöcherten Materialismus gilt denn auch eher Engels’ dialektischem Materialismus, denn Marx’ historischem Materialismus, der als sinnlich menschliche Praxis eher Anlass dazu gibt, als ein „Materialismus von innen“ verstanden werden zu können. Vgl. Fußnote 29. Kierkegaard dazu: „Abstrakt gesprochen ist alles und wird nichts. So kann in der Abstraktion die Mediation unmöglich ihren Platz finden“. (Søren Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken I, in: Søren Kierkegaard, gesammelte Werke und Tagebücher, hrsg. v. Hayo Geerdes und Emanuel Hirsch, Gütersloh: Grevenberg 1979, Abt. 16, S. 188)
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Objektivation (bei Hegel als „schlechte Unendlichkeit“ verfemt) bekommt als zeitlich verfasste eine neue Bedeutung, nämlich die eines offenen historischen Horizonts, der einerseits das metaphysische Obdach eines letztlich in sich selbst kreisenden und in sich zurückkehrenden Ganges der Welt begrifflicher Immanenz, deren Fundus an möglichen Bestimmungen ein endlicher und damit ein sich in sich selbst abrundender ist, verwehrt, andererseits die Möglichkeit des Neuen zulässt. Die dem Menschen in der Zeit gegebene Welt, zu der er sich tätig in Beziehung setzen kann, eignet sich dafür vor allem deshalb, weil sie selbst – auch als sich dem Menschen gegenüber objektiv geltend machende – als eine menschliche erkannt ist. In der historischen Perspektive wird somit menschliche Praxis reflexiv. Praxis ist, auch wenn sie auf scheinbar Fixiertes einwirkt in der Sphäre der faits sociaux immer mit sich selbst befasst. Ein angemessenes Verständnis des Menschen als sich individuell und kollektiv zu geronnener Praxis seinerseits praktisch verhaltend, büßt also den theoretischen Angelpunkt ein, aus dessen Warte Praxis auf etwas Konstantes, Nicht-Historisches, Nicht-Menschliches bezogen werden kann. Damit fällt die Möglichkeit theoretischer Erkenntnis der sozialen Welt zeitlich mit ihrem praktischen Gemacht-Werden als Sich-Verhalten des jeweiligen Akteurs zusammen. Praxis wird zu einem Inkommensurabilitätsverhältnis, insofern sie ihren eigenen Maßstab permanent selbst hervorbringt.³⁸ Für einen theoretischen Umgang mit diesem neuen Begriff von Praxis bemüht Sartre die Heisenberg’sche Unschärferelation als analoges Beispiel aus der Physik für die Grenzen reiner Kontemplation: Die einzige Erkenntnistheorie, die heutzutage Gültigkeit beanspruchen darf, ist die auf die Einsicht der Mikrophysik gegründete: daß der Experimentator selbst in die Versuchsanordnung einbezogen ist. Dies ist die einzige Theorie, auf Grund derer man allen idealistischen Illusionen entgehen kann, die einzige, die den wirklichen Menschen in der wirklichen Welt zeigt. Aber dieser Realismus impliziert notwendig einen reflexiven Ausgangspunkt, d. h. die Enthüllung einer Situation erfolgt durch die Praxis, die sie verändert. Wir setzen die Bewußtheit nicht als Ursprung der Handlung an, sondern sehen darin ein notwendiges Bestandstück der Handlung selbst: die Handlung erhellt sich im Laufe ihres Vollzuges selbst.³⁹
Karl Jaspers formuliert eine ähnliche Auffassung so: „Eigentliche Wahrheit bleibt unbedingt, nicht Standpunkt; existenziell, nicht allgemein; miteinander, nicht isoliert; geschichtlich, nicht zeitlos gültig; auf dem Wege, nicht vollendet“. (Karl Jaspers, Philosophie II – Existenzerhellung, Berlin / Göttingen / Heidelberg: Springer 1956, S. 428) Jean-Paul Sartre, Marxismus und Existentialismus, Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1964, S. 29. Ähnliches notiert auch Carl Schmitt 1947: „heute weiß jeder Physiker (was früher nur den guten Erkenntnistheoretikern klar war), daß das beobachtete Objekt sich eben durch die Beobachtung verändert […] In abnormen Zeiten und für abnorme Sachverhalte kann das Ergebnis immer nur eine Fälschung sein.“ (Carl Schmitt, Glossarium – Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951, hrsg. v. Eberhard v. Medem, Berlin: Duncker & Humblot 1991, S. 56)
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Die Schwierigkeit eines neu zu bestimmenden Verhältnisses von Kontemplation und Praxis liegt also im Problem der Synchronizität beider. Indem bei Sartre und Kierkegaard die Bestimmung existenzieller Zeitlichkeit als Aufschichtungsprozess praktisch-subjektiver Selbstbezüglichkeiten ihren zirkulären Charakter verliert und den einer Selbststeigerung annimmt, gerät die begriffliche Welt insgesamt – nicht nur die der Hegel’schen Dialektik – unter den Verdacht, in einem strukturell unzulänglichen Verhältnis zur menschlichen Existenz zu stehen, insofern die Idealität eines jeden Begriffs in einem gewissen Widerspruch zu der Instabilität einer sich permanent aktualisierenden subjektiven Reflexivität steht. Der Begriff der „Existenz“ verfehlt gewissermaßen immer sein Signifikat und mit dem bloßen Begriff des „Dass“ als Positivität ohne Wesensbestimmung lässt sich kein sinnvoller Satz mit einem negierbaren Wahrheitswert bilden. Beide sind alogische Bestimmungen, mit denen sich theoretisch nicht arbeiten lässt.⁴⁰ In der an Kierkegaard anschließenden existenzialistischen Philosophie erfährt Praxis als unvordenklicher Daseinsvollzug also eine Aufwertung zur hermeneutischen Kategorie, die dem Menschen als dem zu Erkennenden in dessen eigenem Medium – dem der Zeitlichkeit – begegnet. Eine in dieser Hinsicht an Marx und einen kollektiven Praxisbegriff anschließende Philosophie, die auf ähnliche Weise in der zeitlichen Reflexivität menschlicher Praxis ein Moment der Emanzipation aus den zu einem Zeitpunkt vorherrschenden Letztkategorien sozialer Realität und Theoriebildung erkennt, ist dagegen eher teleologisch orientiert.⁴¹ Sowohl Kierkegaard als auch Marx fassen aber Praxis – und darin liegt der paradigmatische Bruch mit Hegel – als einen Schritt aus der Immanenz des Begrifflichen heraus, der in einer für menschliche Praxis unabweisbaren Immanenz des Zeitlichen seine Befähigung hat. Kierkegaard selbst entwickelt in Die Wiederholung erstmalig systematisch den Gedanken der Inkommensurabilität von Praxis und begrifflicher Idealität:⁴²
Ernst Bloch sieht die Aufmerksamkeit dafür, dass das Alogische die Bedingung jeder Art von Logizität bildet, wiederum erstmalig bei Schelling geäußert: „Das ist in der Kritik enthalten, die Schelling an Hegel anstellte: das Rationale darf nicht mit dem Realen, der logische Faktor nicht mit dem subjekthaft-intensiven verwechselt werden.“ (Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt. a. M.: Suhrkamp 1971, S. 398) So etwa im Messianismus Walter Benjamins oder im Utopismus Ernst Blochs. Zur Bedeutung der Zeitlichkeit für die Philosophie Kierkegaards vgl.: Hans Feger, Die Wiederholung. Kierkegaards Kritik am Vermittlungsdenken Hegels und Fichtes, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus Bd. 6, Romantik, hrsg. v. Karl P. Ameriks, Fred Rush u. Jürgen Stolzenberg, Berlin / New York: De Gruyter 2008, S. 280 – 300.
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Die Dialektik der Wiederholung ist leicht, denn was sich wiederholt, ist gewesen, sonst könnte es sich nicht wiederholen; aber eben dies, dass es gewesen ist, macht die Wiederholung zu dem Neuen.⁴³
Aus einer das Subjekt einschließenden immanenten Sphäre des Begriffs führt nur der rein praktische Umgang mit diesem, in dem Sprache nicht aus Sprache verstanden wird, sondern unter der Optik ihres Komplementärphänomens ihrer Unfragwürdigkeit und deshalb unmittelbar bindenden Geltung enthoben wird. Auf ähnliche Weise verhält es sich mit der Entgegenstellung von Ironie und Zweifel unter der Vermutung Kierkegaards, dass der Zweifel immer in die Welt hinein möchte, die Ironie dagegen immer hinaus.⁴⁴ Auch hinter dieser Unterscheidung steht eine Differenz, die in der Sprache schon nicht mehr getroffen werden kann, weil in ihr dieser unbedingte Wille zur Positivität allgegenwärtig ist. Existenzielle Praxis kann, wenn sie reine Praxis bleibt, noch das Negative wählen, nämlich indem sie sich dem Begriff verweigert. Vielleicht ist es daher erlaubt, die Negativität Sokratischer Ironie und die Kierkegaard’sche Wiederholung als zwei Arten des außersprachlichen Umgangs mit Sprache zu fassen. Durch die Wiederholung einer konstativen oder performativen Äußerung wird sprachlich nichts geleistet. Es vergeht allein Zeit oder der Kontext wandelt sich. Die Wiederholung als Rekontextualisierung oder Iteration ist also gewissermaßen die Inversion der CeterisParibus-Bedingung als Forderung an die experimentelle Versuchsanordnung der positiven Wissenschaften, wo gerade durch die Arretierung der Randbedingungen die eindeutige Bestimmung eines noch diffusen Phänomens erreicht wird. Liest man die Kierkegaard’sche Wiederholung also mit seiner Bestimmung der Ironie bei Sokrates zusammen, ergibt sich eine Aushebelung der begrifflichen Sphäre durch Praxis, die einmal passiv – durch das ironische Zurücktreten des Subjekts hinter die Substanz seiner Äußerungen und einmal aktiv – durch praktische Iteration des mit sich selbst identischen Begriffs oder begrifflich beschreibbaren Vorgangs – auf ein Jenseits der semantischen Sphäre verweist und das Verfügungsverhältnis von begrifflich-kommensurabler Welt und Subjekt umkehrt. Im Licht der ostentativ auf kommunikativen Sinn verzichtenden Praxis (als Ironie oder Wiederholung) erscheint Sprache dann als eine zum Geltungsanspruch demontierte vormalige Geltung, die ihre auf naivem Zugang basierende Verbindlichkeit ebenso einbüßen kann, wie die sittliche Substanzialität der antiken Polis durch Sokrates. Wenn durch das Kenntlichwerden des Subjekts als Träger jeder Art von ethischer Sub-
Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, in: Søren Kierkegaard – gesammelte Werke 5/6, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1955, S. 22. Vgl. Søren Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie – mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 255 – 267.
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stanz – also gewissermaßen durch ein Sichtbarmachen des Mediums – diese ihre unmittelbare Plausibilität verliert, kann unter Umständen analog durch das Aufzeigen von Performativität, die letztlich jedem scheinbar rein konstativen Sprechakt anhaftet – von der es also kein Außerhalb gibt – das Medium der Sprache als ein Sekundäres – als eine Verdoppelung des ursprünglichen Phänomens praktischer Geltung – erlebt werden. So erhält das Subjekt einen Zugriff auf das Außerhalb der kommensurabel normierten Geltungssphäre des Begrifflichen durch einen unterminierenden Umgang mit dieser. Die existenzielle Immanenzbestimmung des Menschen als Unmöglichkeit sich theoretisch außerhalb seines eigenen zeitlichen Daseinsvollzuges zu setzen ist gleichzeitig der Weg seiner eigenen Emanzipation als Subjekt gegenüber der Sphäre des ObjektivKommensurablen. Die doppelte Bedeutung des Sartre’schen „Für-Sich“ als Freiheit und Verantwortung – ohne jemals eins der beiden als Existenzmodus wählen zu können – hat hier ihre Wurzeln. Die gängige Ansicht also, wonach sich Kierkegaards allmähliche Distanzierung von der Hegel’schen Philosophie über die Ablehnung des Begriffs der Immanenz vollzieht erhält so ihre genauere Bestimmung. Noch einmal soll darauf hingewiesen werden, dass zwei Arten von Immanenz unterschieden werden müssen, um auch Kierkegaards Abgrenzung von Hegel noch in dessen Tradition fassen zu können; eine Immanenz des Handelnden und eine Immanenz des Erkennbaren. Im Hegel’schen System kommen diese beiden Bestimmungen noch zur Deckungsgleichheit, darin liegt seine Geschlossenheit begründet. Das Charakteristikum sowohl Marx′ als auch Kierkegaards (und Sartres) praktischer Philosophie ist es, das sich über die Bestimmung von Praxis als Akt in gesellschaftlicher oder subjektiv-reflexiver Immanenz die Möglichkeit eines Außen auftut, insofern es die Immanenz des begrifflich Erkennbaren zugunsten des Zukünftigen aufbricht.
V Carl Schmitts politische Anknüpfung an Kierkegaards Ethik der Inkommensurabilität Indem Kierkegaard seine Untersuchung der Erbsünde unter psychologischen Vorzeichen in Der Begriff Angst als im Dienste einer dogmatischen Ethik stehend ausweist, gewinnt das Verhältnis von Immanenz und Wiederholung in ethischer Hinsicht – damit nicht mehr nur als Emanzipation durch Negation – systematische Bedeutung. Gemäß seiner Unterscheidung kann man unter „erster Philosophie“ (im Sinne der prima Philosophia – der Aristotelischen Metaphysik)
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die wissenschaftliche Ganzheit verstehen, die man die heidnische nennen könnte, deren Wesen die Immanenz ist, oder griechisch geredet die Erinnerung und unter zweiter Philosophie, secunda philosophia, die verstehen, deren Wesen die Transzendenz oder die Wiederholung ist.⁴⁵ Der Begriff Sünde ist also eigentlich keiner Wissenschaft zugehörig, nur die zweite Ethik kann ihr Offenbarwerden behandeln, nicht ihr Entstehen.⁴⁶
Wiederum stellt die Immanenz des Begrifflichen das zu überkommende Paradigma dar, gebrochen an dem nur praktisch realisierbaren, in der Theorie nicht überwindbaren Immanenzverhältnis des Daseinsvollzugs, aus dem erst die Möglichkeit zur eigenen Differenz gegenüber einer in Deckungsgleichheit von Idealität und Realität verwalteten Welt als Freiheitsmoment erwächst. Die Befähigung zu echter zeitlich-subjektiver Praxis ist also der Weg des Menschen aus der Kommensurabilität, innerhalb derer er als Handelnder nicht über den Status des Erfüllungsfalls eines Gesetzes (sei dies ein normatives oder ein deskriptives) hinauskommt. Eine in diesem Sinne außer-wissenschaftliche Ethik dagegen ermöglicht wirkliche Freiheit und Verantwortung erst dadurch, dass sie sich am Inkommensurablen – dem nicht Positivierbaren – ausrichtet. Aus der Verbindung dieser Bestimmungen ergibt sich die Bedeutung der christlichen Dogmatik als Fluchtpunkt der Kierkegaard’schen Philosophie. Sie nimmt nicht so sehr die Leerstelle ein, die Kierkegaards negativistische Philosophie in den Bereichen des Ästhetischen und Ethischen letztlich immer zeitigt, sondern exemplifiziert die Art dieses Scheiterns. Das Paradigma des Kommensurablen in Praxisdingen als Paradigma des Verfügbaren für das intentional agierende Subjekt wird in der christlichen Anthropologie als Bestimmtheit des Menschen durch die Erbsünde und in der christlichen Liebesethik als Agape entgrenzt. Beide Bestimmungen haben schlechthin kein Maß. Weil der Mensch, indem er wesentlich praktisch – also zeitlich – existiert, in einem verantwortlichen Verhältnis zum Neuen als dem Nicht-Begriffsimmanenten, Zukünftigen steht, muss seine praktische Ausrichtung eine sein, die in gewissem Sinne nicht-intentional ist. Der vorwärtig Handelnde, der (mit Hegel) nur rückwärtig erkennt, erfährt seine praktische Intentionalität für gewöhnlich als eine funktionale Zuordnung über die Zeit, in der das Zukünftige (als Telos) des Handelns am Vergangenen (seiner Intention) gemessen wird. Im „Transzendenz“ hat hier den zeitlich-praktischen (!) Sinn, in dem Sartre den Begriff in Das Sein und das Nichts als Komplementärphänomen zur „Faktizität“ gebraucht: „Da meine Möglichkeiten als der Sinn dessen, was ich bin, zugleich als ein Jenseits des An-Sich, bei dem ich Anwesenheit bin, auftauchen, steht die Zukunft des An-Sich, das sich meiner Zukunft enthüllt, in direkter und enger Beziehung zu dem, bei dem ich Anwesenheit bin.“ (Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, Hamburg: Rowohlt 1982, S. 289) Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: S. Kierkegaard – Gesammelte Werke, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1955, S. 18 – 19.
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„psychologischen Experiment“ der Wiederholung neutralisiert Kierkegaard genau diesen Effekt, indem er, seine ideelle Intention mehr als einmal realisierend, notwendigerweise über die Zeit eine Differenz in den verschiedenen Realisierungen der einen Intention feststellen muss – also eine in der begrifflichen Intention nicht fassbare Differenz, die doch erfahrbar ist. Erfahrbar wird sie aber nur, indem sie vollzogen wird. Die „sich selbst erhellende Praxis“ Sartres erhellt sich also in Abgrenzung zu dem, als das sie projektiert wurde. Für eine Bewältigung dieses Schismas zwischen dem sich auf seine zukünftige Praxis intentional beziehenden Menschen und „dem Neuen“⁴⁷, in das ihn der praktische Vollzug hineinträgt, bedarf es eines Handlungsgrundsatzes, der in seiner Intentionalität nicht scheitern kann. Scheiternsanfällig angesichts des Neuen ist aber jede Art kommensurable Ethik, das heißt jede Ethik, die für eine definierte Menge von Anwendungsfällen eine definierte Sanktion, ein bestimmtes Maß vorsieht – damit also jede angewandte Ethik, die vom Allgemeinen zum Besonderen deduziert, also subsumierend verfährt. Auf der anderen Seite lässt eine Ethik der Inkommensurabilität kein beschreibbares Verhältnis zwischen Anwendungsfall und Handlung zu. Sie suspendiert damit die Intentionalität als Reflexion der Handlung gemäß des Verhältnisses von Mittel und Zweck. Eine inkommensurable Ethik kann aus keinem Prinzip erwachsen und muss doch durchführbar sein (oder sich in dem Maße der Durchführbarkeit entziehen, wie der Mensch – christlich gesprochen – in der Erbsünde steht). Die christliche Agape ist dieses paradoxe Verhältnis eines Gesetzes, das nicht als Gesetz erfüllt werden kann.⁴⁸ Der, der den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn: Nicht sollst du ehebrechen, nicht töten, nicht stehlen, nicht begehren und jedes andere Gebot wird in diesen Worten rekapituliert: Du wirst den Nächsten lieben wie dich selbst.⁴⁹
Das Gebot, als positiv formuliertes Gesetz erscheint hier als Effekt einer ethischen Haltung, die sich aber nicht aus ihm versteht. Das Medium des Gesetzes als des praktisch Kommensurablen wird suspendiert durch eine inkommensurable Praxis, die als Objektivation ein positives (das heißt beschreibbares – sogar sozialwissenschaftlich erfassbares) Gesetz zeitigt. Das Wesen des Ethischen aber als sich in dessen Objektivation erschöpfend zu begreifen ist die Verfehlung, auf die es
Søren Kierkegaard, Die Wiederholung, in: Søren Kierkegaard – gesammelte Werke 5/6, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1955, S. 22. Giorgio Agamben spricht von einer „Unausführbarkeit und Unformulierbarkeit des Gesetzes“. (Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt – Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 121) Röm 13,8.
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Kierkegaard im Verständnis von Ethik im Medium des Allgemeinen ankommt. Das Ethische entzieht sich seiner begrifflichen Einhegung und seiner intentionalen Verfügbarkeit. In diesem Sinne geht es Kierkegaard um eine religiöse Suspendierung der Ethik, nämlich indem er sie an die Grenzen ihrer positiven Durchbuchstabierungen bringt. Die Auseinandersetzung Kierkegaards mit der christlichen Liebesethik trägt denn auch den Titel „Der Liebe Tun“ – schließt also schon im Titel das Ethische mit dem rein Praktischen zusammen und bezieht sich auch inhaltlich eher auf das Problematische an einem Begriff des Ethischen als Handeln gemäß aus einem obersten Prinzip deduzierter Normen. Die äußerliche Bezugnahme auf die Objektivationen ethischen Handelns – das Analogon zum konstatierbaren positiven Gesetz – ist als kontemplative Haltung für eine ethische Praxis von unerheblicher Bedeutung: Doch wenn man sagt, dass die Liebe an den Früchten erkannt wird,⁵⁰ dann sagt man damit zugleich, daß die Liebe selbst in gewissem Sinne im Verborgenen wohnt, und gerade deshalb nur an den offenbarmachenden Früchten erkannt werden kann. Eben dies ist auch der Fall. Ein jegliches Leben, so denn auch das der Liebe ist als solches verborgen […].⁵¹
Das Ethische als das Sich-Entziehende schlägt sich also in Objektivationen nieder, ist aber von diesen her nicht zu konstruieren, ist also nie da, wo begrifflich oder intentional angeleitet – theoretisch – gehandelt wird. Diese Figur der inkommensurablen Bedingtheit einer kommensurablen Sphäre (bei Kierkegaard also die Bedingtheit der positiv konstatierbaren Sphäre ethischer Interaktion durch das präreflexive Prinzip der theoretisch entgrenzten reinen Praxis aus Liebe) hat bekanntlich Carl Schmitt Anlass dazu gegeben, das Problem positiver Gesetzlichkeit auf der Ebene politischer Praxis auszubuchstabieren. Auch Schmitt setzt damit ein eher formales, denn inhaltliches Charakteristikum der christlichen Lehre in Zusammenhang mit einer Figur sozialer Organisation. Die These, dass alle „prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre […] säkularisierte theologische Begriffe“⁵² seien, kann historisch gelesen werden. Zu einem Problem der politischen Theorie wird sie aber erst, wenn sich in ihr die Skepsis gegenüber einer autonomen reflexiven Organisation von Kollektiven jenseits eines Transzendenzbezuges – also jenseits eines Außen – ausspricht. Gemäß des Diskurses eines im Nachhinein unter dem generischen Begriff der
Kierkegaard nimmt Bezug auf das Diktum des Lukasevangeliums: „Ein jeglicher Baum wird an seiner eigenen Frucht erkannt.“ (Luk. VI, 44) Søren Kierkegaard, Der Liebe Tun, in: Søren Kierkegaard – Gesammelte Werke, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1955, S. 10 f. Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin: Duncker und Humblot 1996, S. 49.
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konservativen Revolution ⁵³ gefassten intellektuellen Umfeldes wendet sich Schmitts Vorbehalt zunächst vornehmlich gegen einen positivistischen und ökonomistischen Erkenntnisbegriff und dessen Vordringen in geistes- und sozialwissenschaftliche Sphären. In seiner Kritik an einer zur Verstandeswissenschaft verkommenen Vernunft, die politisch gewendet in gleichem Maße antikapitalistisch wie antikommunistisch ist, schließt er ideengeschichtlich im Prinzip an den Anspruch des Deutschen Idealismus, das Wahre als das Ganze zu denken, und an die Hegel’sche Kritik der Kant’schen Reflexionsphilosophie an. Für jede Art politischer Ordnung, die sich nicht in der bloßen Wechselwirkung von Partikularinteressen erschöpft und so ihre Integrität einbüßt, muss also laut Schmitt ein Verhältnis zum Transzendenten in irgendeiner Art bestehen bleiben. Eine Ähnlichkeit mit Kierkegaard besteht durchaus in der philosophischen Aufbereitung des Problems von Transzendenz angesichts des Scheiterns ihrer begrifflichen Vermittlung mit dem Immanenten – zum Beispiel angesichts des Hegel’schen Systems. Die funktionale Äquivalenz von Kierkegaards Begriff der Agape als Grundlage der Ethik und Schmitts Souveränitätsbegriff als Grundlage der staatlichen Ordnung liegt daher darin, dass beide ein Maß für eine soziale Sphäre begründen, mit dem sie selbst – als gründende Prinzipien – nicht erfassbar sind. Eine positive Struktur – bei Schmitt eine im Medium des positiven Gesetzes formulierte Ordnung, bei Kierkegaard die Objektivationen der Tuns der Liebe als a posteriori konstatierbare Taten (im Gleichnis des Lukasevangeliums die Früchte der Bäume) – verdankt ihre Geltung einer den eigenen Begrifflichkeiten nach inkommensurablen Bedingung. In der staatlichen Praxis ist der Souverän das inkommensurable Prinzip, das nicht Teil einer staatlichen Ordnung ist und dennoch deren Geltung erst ins Werk setzt.⁵⁴ In der Abwesenheit und Unerreichbarkeit des Souveräns für den Buchstaben des Gesetzes liegt also paradoxerweise auch dessen Stabilität begründet. Dieses Verhältnis, wie es Kierkegaards Ethik und Schmitts politischer Theorie zugrunde liegt, ist zudem das Verhältnis einer Art von Praxis zu der durch sie begründeten theoretischen Anschauung. Und wiederum entzieht sich das Praktische als das Inkommensurable in actu der per definitionem verspäteten theoretischen Kontemplation, die sich nur noch an eine bereits erkaltete, inerte Struktur heften kann. Dass Schmitt es polemisch auf jede Art von Positivität als einer anämischen Verdoppelung des Praktischen abgesehen hat, wird nicht nur angesichts seiner Frontstellung gegen die staatsrechtliche Tradition des Rechtspositivismus (und deren Hauptvertreter Hans Kelsen) deutlich, sie er Vgl.: Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. Der Souverän „steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr.“ (Schmitt (1996), S. 14)
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streckt sich (darin wiederum Kierkegaard nicht unähnlich) auch auf das Problem positiver Gesetzlichkeit in der Ethik, bis hin zur annähernden Ablehnung der Positivierung praktischer Phänomene durch bloßes zur Sprache bringen derselben. So schreibt er über Kant: Der kategorische Imperativ ist in der Tat das Gesetz um des Gesetzes willen.⁵⁵
Und über Machiavelli: Das Miserable an Machiavelli ist die Halbheit, die darin besteht, von der Macht überhaupt zu sprechen, sie zum Gegenstand des Geredes zu machen. Die Macht ist und bleibt Geheimnis. Die öffentliche Macht ist das undurchdringlichste Geheimnis.⁵⁶
Die zeitlich verflüssigte Konstitution von Geltung als praktische Aktualität eher denn als Potentialität (und erst recht nicht als Potentialität im Sinne legaler Befähigung), die ihre ideengeschichtlichen Wurzeln im scholastischen Begriff des actus purus als Identität von Wirklichkeit und Möglichkeit göttlicher Praxis hat, ist der gemeinsame Fluchtpunkt, den Schmitt nicht ganz zu unrecht für den existenzialistischen Praxisbegriffs Kierkegaards und seine eigene theologische Konzeption des Politischen ausmacht.⁵⁷ Von einem emphatischen Praxisbegriff ausgehend, richtet sich seine Kritik in Politische Romantik zunächst daher auch mit Kierkegaard gegen die politische Spielart des romantischen Subjekts als einer Entgrenzung des Menschen im Medium des Möglichen und bewegt sich damit entlang der theoretischen Position, die Kierkegaard – Hegel folgend – in Über den Begriff der Ironie bezieht. Die Opposition von Endlichkeit und Unendlichkeit – als den Sphären der Immanenz einerseits und der Transzendenz andererseits zugeordnet – gilt es demnach anzuerkennen, um in der menschlichen Existenz überhaupt zur Tat fähig zu sein. Schmitt bezieht sich damit auf das Ironische in seiner Bedeutung als In-der-Schwebe-Halten der Dinge noch in ihrer Gegensätz-
Carl Schmitt, Glossarium – Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951, hrsg. v. Eberhard v. Medem, Berlin: Duncker & Humblot 1991, S. 57. Zudem ist die Unterscheidung einer inkommensurablen Ethik der reinen Praxis in Abgrenzung zu einer am Wesen des Gesetzes orientierten bei Schmitt immer religiös überformt, insofern Erstere meist an die Paulinische Prägung des Christentums gebunden ist, Letztere für ihn eine ideengeschichtliche Manifestation des „Jüdischen“ darstellt. So ist dem obigen Zitat bezüglich Kant der Zusatz „Judentum post Chr. n.“ (ebd.) beigefügt. Schmitts Antisemitismus steht also in Kontinuität zur theologischen Fundierung seiner politischen Theorie. Ebd., S. 49. „Un existentialisme sans Kierkegaard le chrétien n’est plus qu’une représentation du „Hamlet“ sans le prince de Danemark“. (ebd., S. 80)
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lichkeit innerhalb der subjektiven Reflexion, damit auf einen Abfall von der endlichen Sphäre der Immanenz – der definitiven politischen Entscheidung –, als subjektive Hybris. Er kommt also nicht, anders als Kierkegaard, zu einer Weiterentwicklung des Ironischen, als im Dienste einer Emanzipation der Praxis stehend. Schmitts Begriff von Praxis als Setzung eines Außerhalb gegenüber dem Gegebenen scheint sich vielmehr eher noch im Dienste dieses Gegebenen zu begreifen, insofern er es als permanent prekär denkt und zwar prekär in seinem bloßen Status als Ordnung jenseits einer näheren inhaltlichen Bestimmung. Indem es ihm aber um die Konstitution von Geltung innerhalb einer im Prinzip beliebigen Struktur zu tun ist, scheint Praxis mindestens als die praktische Implementierung eines individuellen Formwillens auf ein ungeordnetes Kollektiv eingegrenzt werden zu können. Die Souveränität Schmitts ist also gewissermaßen die per definitionem inkommensurable Ausprägung der Macht (im Gegensatz zur kommensurablen Macht des positiven Gesetzes), während man die christliche Agape als inkommensurable Ausprägung persönlicher Ohnmacht verstehen könnte (im Gegensatz zum kommensurablen Machtverzicht, den ein inhaltlich bestimmtes moralisches Gesetz vorschreibt), das heißt als das Sein-Lassen im Verzicht des identifizierenden begrifflichen Zugriffs. Der Unterschied zwischen dem Schmitt’schen Praxisbegriff, der zwar auf keine konkrete Ordnung abstellt, aber sehr wohl den Modus der Konstitution derselben als einen der Willensimplementierung eines souveränen Subjekts vordisponiert, und dem Kierkegaard’schen als einem auch in dieser Hinsicht offenen Begriff, der dadurch auch ein hermeneutischer ist, ist vielleicht der Unterschied zwischen einer philosophischen und einer politischen Spielart des Christlichen als Praxis jenseits des Gesetzes. Das Problem der Schmitt’schen Theorie zeigt dabei zudem die Schwierigkeit jeder Theorie der Inkommensurabilität auf: Indem Schmitt die inkommensurable Figur des Souveräns anempfiehlt, positiviert er seinen Typus aus der Sphäre der politischen Theorie heraus. Weil handlungsleitende Theorie aber zwangsläufig Positivität impliziert, ordnet sie dessen Geltung damit ungewollt einen theoretischen Geltungsanspruch über. Auch unter diesem Aspekt ist Schmitts Begriff einer an der Unterscheidung von Freund und Feind⁵⁸ orientierten Praxis in erster Linie Dezisionismus, das heißt die reine Anerkennung der Notwendigkeit, sich zum Dasein tätig zu verhalten, ohne darin auch ein Bezug zur Erkenntnis desselben zu sehen. Das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz findet sich in einer Art Re-entry in der Immanenz selbst wieder. Schmitt scheint die Art von Verdoppelung vorzunehmen, die er Machiavelli vorwirft, indem er den
Als Chiffre für eine Entscheidung um der Entscheidung willen, da weder Freund noch Feind inhaltliche Bestimmungen sind.
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Souverän als einen die Immanenz konkreter positiver Geltungsverhältnisse transzendierenden Ersatzgott in die Immanenz säkularer politischer Prozesse im Allgemeinen normativ einführt.⁵⁹ Eine Verbindung von Praxis und Ironie müsste Schmitt seinem Vokabular nach eigentlich möglich sein. Es scheint aber die dezidiert ordnungspolitische Ausrichtung zu sein, die verhindert, dass sein Begriff inkommensurabler Praxis sich negativ-ironisch als hinter die Sphäre positiver Geltung verweisend zeigt und stattdessen an ihrer Suspension nur durch vehementes Position-Beziehen eines Subjekts wirken kann. Unter der Bestimmung eines Ansatzes in der Immanenz, die bei Hegel eine geistige, bei Marx eine gesellschaftlich-materielle, bei Sartre zudem eine zeitliche und bei Schmitt eine politische ist, hebt sich Kierkegaard insofern noch von diesen ab, als sein in der Immanenz als der bloßen Existenz ansetzender Praxisbegriff zwar die Möglichkeit der Emanzipation in einer rein formellen Struktur des Selbst ⁶⁰ bietet, damit aber jedwede Bestimmung verlorengeht. Die Bestimmung der Inkommensurabilität besagt genau das: Im Denken seiner selbst in der Welt ist es dem Menschen nicht möglich in irgendeiner Hinsicht berechtigterweise eine analytische Trennung vorzunehmen und trotzdem liegt in dieser Verwobenheit kein Heil. Der zweite Halbsatz bildet den Gegensatz zu Hegel und Marx, der erste den zu Descartes und Kant. Mit Sartre und Schmitt würde Kierkegaard wohl schon eher darüber übereinstimmen, dass jeder die Immanenz transzendierende Schritt in den nächsten Zustand der Verstrickung führt. Wo nicht analytisch geschieden werden kann, ist das deshalb der Fall, weil es kein Kriterium, also kein die Unterscheidung lenkendes letztes Prinzip gibt, von dem her deduziert werden kann. Die Prinzipien des Bewusstseins, des Subjekts und in einer analytischen Betrachtung der Handlung das der Intentionalität bilden in philosophischen Ansätzen, die ihr eigenes denkerisches Beginnen nicht als in Immanenz an sein Betrachtungsobjekt gekoppelt begreifen, einen festen Grund. Ohne diesen stellt sich die Frage, wie sich überhaupt irgendeine Aussage oder Tat begründen ließe, ohne dabei einer bloßen Konvention die Ehre des zeitlos Gültigen anzudichten. Der Kierkegaard’sche Existenzialismus der Praxis ist im Gegensatz zur (sich Den Schmitt’schen Souverän kann man daher auch als die ungewollte Reproduktion des omnipotenten Subjekts der romantischen Ironie sehen, das Schmitt aus der Sphäre romantischer Kontemplation in die der Tat transponiert. Dazu: Christoph Schmidt, Ironie und Kenosis. Von Kierkegaards zu Schmitts Kritik der romantischen Ironie“, in: Walter Benjamin und die romantische Moderne, hrsg. v. Heinz Brüggemann u. Günter Oesterle, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009. Vgl.: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“. (Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Søren Kierkegaard, Gesammelte Werke, Düsseldorf: Eugen Diederichs 1957, Abt. 24/25, S. 8)
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notwendigerweise auf wahrheitsfähige Aussagen, also Sprache beschränkenden) skeptizistischen Tradition wesentlich durch die Unterscheidung von Sprache und Handlung in dieser Hinsicht geprägt. Erstere kann der Mensch zeit seines Lebens zur Not vermeiden, Letztere nicht. Somit ist Kierkegaards praktisch-existenzieller Begriff von Allgemeinheit einer, der die Praxis gegenüber der Theorie als das ursprünglichere Phänomen vorordnet. Die Kierkegaard’sche Abstoßbewegung gegenüber Hegel, die sich entlang dessen Begriff von Geist als gewissermaßen glücklicher Immanenz des Denkens vollzieht und zur Inkommensurabilität als deren unglücklichem Gegenpart kommt (aus Hegelianischer Sicht also zum sogenannten unglücklichen Bewusstsein), ist schon zu einem Großteil – obwohl sich Idealismus-kritisch gebärdend – Skepsis gegen die Sprache. Hegels Sympathie für die Vermittlung von Form und Inhalt findet ihr Ende an der Vermittlung des Handlungscharakters einer Aussage und ihrem propositionalen Gehalt. Ironie ist darum für ihn schlechthin Verstellung oder erkenntnistheoretische Anmaßung. Kierkegaard koppelt die beiden Aspekte des Gesagten und des Sich-VerhaltenMüssens des Sagenden zur höheren Synthese einer Praxeologie, in der etwas nur gilt, insofern es auch als Sich-Verhalten begriffen wird. Insofern jede Grundlagenkrise (ob in der Mathematik, der Sprache oder in der Ethik) letztlich um die Problematik reflexiver Selbstbestimmung kreist, in der aus einer Sphäre der Immanenz heraus ein Prinzip für diese selbst gewonnen werden muss, wird der Anspruch zur Kommensurabilität selbst zum Problem. Für Praxis im Immanenzzusammenhang als notwendig inkommensurabel ist der entgrenzende Begriff der Agape der letzte, wenngleich paradoxe Anker praktischer Positivität. Die Notwendigkeit zum praktischen Sich-Verhalten in zeitlich-existenzieller Immanenz hat als negativ-emanzipatorische Spielart die Demontage des Gegebenen in ironischer Negation, welche – zum Beispiel durch Wiederholung – hinter die kulturell zugerichtete Welt positiver Geltung führt. Damit schlägt Kierkegaard jenseits von Religion und Vernunft einen Weg ein, der eigentlich aus dem Alltag durch diejenige Bruchstelle zurück ins Metaphysische steigen möchte, aus der für Hegel die geistige (sprachliche, kulturelle) Tätigkeit des Menschen erst ermöglicht wird, nämlich die Schnittstelle, an der sich der Schritt vom Unbestimmten ins Bestimmte vollzieht und mit dem der dialektische Prozess bei Hegel anhebt. Zurück zu diesem Unbestimmt-Inkommensurablen führt für Kierkegaard keine Bestimmung, weder eine des Geistes, noch eine der Sprache. Ihm ist nur tätig beizukommen.
Hans Feger
Ethik im Existenzialismus? – Tragisch reformuliert Abstract: In what follows I will attempt to show that the return to the Good Will in Kant’s philosophy of autonomy in the critical reception of the 19th century in no ways led to a “moral philosophy” that is opposed to the existential sense of engagement and authenticity. Despite their obvious difference, moral self-determination and the choice of authenticity are extreme positions that point to each other. This becomes clear if we interpret Schelling’s “philosophy of the tragic” as a deepening of Kant’s moral philosophy and regard the elevation of this tragic in Kierkegaard’s “theology of sin” as the last attempt to connect freedom and truth to each other. Because then we can reach the existentialist problematic that engagement and authenticity can only recognize themselves tragically, even then, when freedom no longer knows direction or scale.
Einleitung Ich möchte mit einem Beispiel beginnen: Das erste, bekanntere Beispiel findet sich in einem kurzen Aufsatz Kants: Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797).¹ Es lautet: Gesetzt den Fall, ein Mensch mit Mordabsichten erkundigt sich bei mir nach dem Aufenthalt des Opfers. Um das Opfer zu retten, lüge ich und schicke diesen Menschen an einen anderen Ort. Der Mörder macht sich nun auf, aber das Opfer hat sich, was ich nicht weiß, ebenfalls dorthin begeben, wo ich den Mörder hingeschickt habe. In der Konsequenz meiner Lüge wird der Mord, den ich durch die Lüge habe verhindern wollen ausgeführt, und Kant folgert, dass ich gerade wegen meiner Lüge für den Mord auch verantwortlich sei, denn du [kannst] mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. Denn hättest du die Wahrheit, so gut du sie wußtest, gesagt: so wäre vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen und die That verhindert worden. Wer also lügt, so gutmüthig er dabei auch gesinnt sein mag, muß die Folgen davon, selbst vor dem bürgerlichen Gerichtshofe, verantworten und dafür büßen, so unvorhergesehen sie auch immer sein mögen: weil Wahrhaftigkeit eine Pflicht ist, die als die Basis aller
Kant Akad.-Ausg. VIII, 429 ff. (=Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen).
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auf Vertrag zu gründenden Pflichten angesehen werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird.²
Der französische Schriftsteller und Staatstheoretiker Benjamin Constant hat Kant vorgeworfen, dass an diesem Beispiel die ganze Problematik sichtbar werde, in die Kant gerät, wenn er mit der Universalisierung des kategorischen Imperativs zugleich auch alle Anwendungsprobleme, also die sogenannten „mittleren Grundsätze“ ausschließen will. Kant aber kommt es auf etwas anderes an. Kant beruft sich hier ausdrücklich auf den Selbstwiderspruch, der eintritt, wenn die Lüge verallgemeinert würde. „Die Lüge, bloß als vorsätzlich unwahre Declaration gegen einen anderen Menschen definirt, bedarf nicht des Zusatzes, daß sie einem anderen schaden müsse; wie die Juristen es zu ihrer Definition verlangen […]. Denn sie schadet jederzeit einem Anderen, wenngleich nicht einem anderen Menschen, doch der Menschheit überhaupt, indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht.“³ Für Kant gibt sich Benjamin Constant mit seiner Position der Unrechtsverhütung nur den Anschein, nach einem „mittleren Grundsatz“ zu handeln, kann jedoch gerade den „mittleren Grundsatz nicht kennen, der das Mittel der Anwendung enthält“. Constants Position öffne dadurch dem Zufall Tür und Tor, denn: Es ist doch möglich, daß, nachdem du dem Mörder, auf die Frage, ob der von ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise mit Ja geantwortet hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist, und so dem Mörder nicht in den Wurf gekommen, die Tat also nicht geschehen wäre; hast Du aber gelogen, und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist auch wirklich (obzwar dir unbewußt ausgegangen), wo denn der Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine Tat an ihm verübte: so kannst Du mit Recht als Urheber des Todes desselben angeklagt werden. Denn hättest du die Wahrheit, so gut du sie wußtest, gesagt: so wäre vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen, und die Tat verhindert worden.
Das klingt kasuistisch, ist es aber nicht. Ich will dieses Beispiel kurz mit einem literarischen und etwas weniger bekannten Beispiel abwandeln, um die Pointe hervorzukehren. Jean-Paul Sartre nämlich variiert genau dieses kantische Beispiel in seiner Erzählung Le Mur (1905, erschienen 1937), die vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkriegs spielt: Der von den Falangisten zum Tode verurteilte Freiheitskämpfer Pablo Ibbieta wird in einem letzten Verhör nach dem Versteck des Anführers Ramon Gris befragt. Um ihnen eine Posse zu spielen nennt er den Falangisten ein falsches Versteck, den Friedhof, und wird zu seinem Erstaunen
Ebd. VIII, 427. Ebd. VIII, 429 ff.
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daraufhin nicht, wie erwartet, zur Erschießungsmauer gebracht, sondern unversehrt zurück in das Gefangenenlager geschickt. Denn ohne es zu wissen hat seine „Lüge“ Ramon Gris, der in der Zwischenzeit sein Versteck gewechselt hatte und sich auf dem Friedhof aufhielt, verraten. Sartre macht hier gerade an der tragischen Ausweglosigkeit der Freiheit das existenzialistische Grundgefühl des Ekels deutlich, das alle unsere entschiedenen Handlungen in einer Wirklichkeit begleitet, die ohne transzendentalen Rückhalt ist. Für unseren Kontext ist hier aber auch wichtig zu sehen, was Kant dazu sagt: Gerade weil „die Vernunft […] nicht erleuchtet genug [ist], die Reihe der vorherbestimmenden Ursachen zu übersehen, die den glücklichen oder schlimmen Erfolg aus dem Thun und Lassen der Menschen […] vorher verkündigen […] lassen“⁴, kommt es allein auf die Richtigkeit der moralischen Entscheidung an. Würde man die Entscheidung an die Pragmatik delegieren, würde man den moralischen
Relevant ist dies insbesondere für das Verhältnis von Politik und Moral: Im Unterschied zur Moral benötigt gerade die Politik als ausübende Rechtslehre Urteilskraft – einen Sinn für Erreichbares –, wenn sie als wahre Politik die Möglichkeiten zur Durchsetzung des Rechts eruieren will. Diese (politische) Urteilskraft, so Kant, konfrontiert aber den Politiker, wenn er einen Geltungsbereich relativer Vorhersagbarkeit errichten will, mit dem Problem, zwar „mit Gewißheit entscheiden und verbindlich urteilen“ zu können, letztlich aber nicht zu wissen, was aus seinen Handlungen folgt. Für das rein moralische Handeln ist das kein Problem, denn die Moral hat sich dieses Dilemmas immer schon entledigt, nicht weil ihr die Folgen gleichgültig sind, sondern weil sie sich vom Diktum möglicher Folgen immer schon unabhängig weiß. In diesem Sinne schreibt Kant in der Schrift Zum ewigen Frieden: „Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und obzwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nicht aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten“ (Zum ewigen Frieden. Akad.-Ausg. VIII, 380; B 97). Politik hat also nach Kants Verständnis keine Praktik, sondern eine Praxis zu sein, durch die sich die Grundsätze des öffentlichen Rechts in einer „immer fortschreitende[n] Kultur“ (ebd.) durchzusetzen haben: „Der Grenzgott der Moral weicht nicht dem Jupiter (dem Grenzgott der Gewalt); denn dieser steht noch unter dem Schicksal, d.i. die Vernunft ist nicht erleuchtet genug, die Reihe der vorherbestimmenden Ursachen zu übersehen, die den glücklichen oder schlimmen Erfolg aus dem Thun und Lassen der Menschen, nach dem Mechanism der Natur mit Sicherheit vorher verkündigen […] lassen“ (Zum ewigen Frieden. Akad.-Ausg. VIII, 370; B 73). Volker Gerhardt betont dieses Rangverhältnis zwischen Moral und Politik nachdrücklich: „Also benötigen wir den vollen Selbstbegriff des Menschen als eines „vernünftigen Wesens“ spätestens dann, wenn wir den Begriff einer rechtsfähigen Person auf uns selbst anwenden wollen. Das aber heißt: Wenn es uns ernst ist mit dem Recht, dann müssen wir auch moralisch sein. Die Moral achtet also nur die inneren Konsequenzen der nach außen erhobenen Ansprüche. Es muß der Politik daran gelegen sein, sich dieser Konsequenz nicht zu entziehen“ (Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf „Zum ewigen Frieden“. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 161).
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Standpunkt vollständig aufgeben und einen Konflikt zum Entstehen bringen, der unauflöslich ist.⁵ Ich will im Folgenden zu zeigen versuchen, dass der Rückgang auf den guten Willen in Kants Ethik der Autonomie die vertiefende Kantrezeption des 19. Jahrhunderts keineswegs zu einer „Moralphilosophie“ führte, die dem existenziellen Gefühl des Engagements und der Authentizität entgegensteht. Moralische Selbstbestimmung und die Wahl der Authentizität sind trotz ihrer offenkundigen Unähnlichkeit und divergierenden Ausgangspositionen extreme Standpunkte, die aufeinander verweisen. Dies wird deutlich, wenn man die „Philosophie des Tragischen“ von Schelling als lebensphilosophische Vertiefung der kantischen Moralphilosophie interpretiert und Kierkegaards sündentheologische Aufstufung dieses Tragischen als den letzten Versuch, Freiheit und Wahrheit noch miteinander zu verbinden. Denn dann bekommt man Anschluss an die Problematik des Existenzialismus, dass Engagement und Authentizität sich nur tragisch selbst erkennen können, selbst dann noch, wenn Freiheit keine Richtung und keinen Maßstab mehr kennt. Ich will hierbei in drei Schritten vorgehen: 1. Kants Moralphilosophie als Hintergrund einer Philosophie des Tragischen darstellen, 2. Schellings Philosophie des Tragischen umreißen und 3. Kierkegaards Sprung in die Religion als höchste Aufstufung der tragischen Persönlichkeit darstellen. In der Konsequenz des radikalen Freiheitsverständnisses Kants ist Schellings „Philosophie des Tragischen“ der erste Versuch, das Tragische in ein Spannungsverhältnis von Idealismus und existenzialistischer Daseinsdeutung zu setzen.⁶ „Mit Schellings Deutung des König Ödipus und der griechischen Tragödie
Wenn man die moralische Entscheidung an eine situative Kontrolle binden würde, mahnt Kant, „verschwindet der Pflichtbegriff selbst und zerrinnt in bloße pragmatische Vorschriften“ (Kant, Metaphysik der Sitten. Akad.-Ausg. VI, 483). Symptomatisch für einen solchen Typus von moralischem Konflikt, der unauflöslich ist (und somit auch gar nicht taugt, ein kantisches „Dilemma“ zum Vorschein zu bringen) ist der Konflikt, der in dem Film Sophies Choice (Allan J. Pakula, 1982) dargestellt wird: Eine Mutter wird bei ihrem Transport nach Auschwitz vor die Wahl gestellt, nur eines ihrer beiden Kinder retten zu können. Ein solcher Konflikt ist tragisch, da er moralisch überhaupt nicht aufzulösen ist. Die Tragik dieser Entscheidung kann die kantische Moral nicht aus der Welt schaffen, wohl aber kann sie verhindern, dass Konflikte dieser Art überhaupt erst entstehen können. Vgl. hierzu allgemein: Lore Hühn, Philipp Schwab, Die Philosophie des Tragischen: Schopenhauer – Schelling –Nietzsche, Berlin: De Gruyter 2011. Vgl. hierzu und im Folgenden aus-
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beginnt die Geschichte der Philosophie des Tragischen“⁷, schreibt Peter Szondi. Denn anders als der Ödipus des antiken Dramas deutet Schelling den tragischen Konflikt des sophokleischen Dramas als einen Weltbezug, der die Grenzen menschlicher Erfahrung erweitert, statt sie in ohnmächtigen Wissensschranken zu belassen. Eine Potenzierung des tragischen Vorgangs tritt nämlich dort ein, wo die tragische Selbsttätigkeit nicht Ausdruck des Wissens, sondern Ausdruck der Freiheit des Menschen ist, d. h. wenn in dem gleichen Maße, wie sich Freiheit selbst ermächtigt, sie in ihrem Inneren Selbstgefährdung und Ohnmacht zu erkennen gibt. Diese tragische Hybris steht im Kontext einer Freiheitsproblematik, „die sich selbst Schicksal, sich selber Notwendigkeit“⁸ ist. Im 10. Brief der Philosophischen Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795) legt Schelling erstmals diesen Wechsel von der theoretischen zur praktischen Ausdeutung des tragischen Grundkonflikts dar: Es war ein großer Gedanke, willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen, um so durch den Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit zu beweisen und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen.⁹
Nicht mehr von der Hybris des Wissens um ein Verhängnis ist die Rede, sondern von der Hybris der Freiheit, die als letzte Bedingung des Handelns an dessen eigener Vernichtung arbeitet. In der Sicht Schellings gelangt Ödipus zu der Anerkennung eines schuldhaften tragischen Verstrickungszusammenhangs, obwohl ihm der Vorsatz für ein schuldhaftes Vergehen fehlte, ja er in seinem ganzen Bestreben „die Schuld fliehend“¹⁰ war. „Willig auch die Strafe für ein unvermeidliches […] durch’s Schicksal begangenes Verbrechen“¹¹ zu tragen – gerade dies heißt, die Freiheit in ihrer ganzen Tragweite zu verantworten. Eine Freiheit, die sich nur in ihrer Niederlage ausweisen kann, negiert – zumal im künstlerischen Ausdruck – längst nicht ihre ethische Dimension. Im Gegenteil! Sie verweist auf eine Dimension sittlichen Handelns, die der Selbstursprünglichkeit praktischer
führlich Hans Feger, Poetische Vernunft. Moral und Ästhetik im Deutschen Idealismus, Stuttgart: Metzler 2007, S. 389 – 409. Peter Szondi, Versuch über das Tragische. Frankfurt am Main 1961: Insel, S. 151. So Schelling noch in seiner Weltalterphilosophie. Vgl. F. W. J. Schelling, Die Weltalter, hrsg. von Manfred Schröter, München: Piper 1966, S. 177. Schelling I, 337 (= Philosophische Briefe) [zitiert wird nach Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ausgewählte Werke, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976 ff. (Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe F. W. J. Schellings sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart und Augsburg: Cotta 1856 ff.)]. Schelling V, 696 (= Philosophie der Kunst). Schelling I, 336 (= Philosophische Briefe).
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Subjektivität zuvor besteht. „Die sittlichen Naturgesetze gehen über alle Absichten des Wollens weit hinaus“¹², schreibt schon Karl Wilhelm Ferdinand Solger zum Drama des Sophokles. Ödipus büße für eine Tat, die ihm willentlich nicht zuzuschreiben ist, doch so, als ob er sie ‚gegen sich selbst wütend‘ zu verantworten habe.¹³ Nicht die Handlung, die „schon geschehen ist, und mithin jenseits der Tragödie fällt“, sondern das sich im Willen selbst als Geschehen bemerkbar machende Handeln einer höheren Gewalt ist ausschlaggebend für die tragische Wirkung; ein Geschehen, das sich der rationalen Kontrolle und Berechnung gerade im Moment der praktischen Entscheidung auf eine tragische Weise entzieht. Dieses Geschehen ist von bemerkenswert tragischer Kraft und ausschlaggebend für die Wende zur modernen, „reinen“ Tragödie, zeigt es doch auch, dies hat zuerst Schiller am Ödipus-Modell analysiert, „daß das Geschehene, als unabänderlich, seiner Natur nach viel fürchterlicher ist, und die Furcht, daß etwas geschehen sein möchte, das Gemüt ganz anders affiziert, als die Furcht, daß etwas geschehen möchte“. Kierkegaard orientiert sich an dieser, auf Schellings Freiheitsverständnis zurückgehenden „sündentheologischen Lesart des Autonomiegedankens“¹⁴ so sehr, dass er die Setzung des eigentlichen Selbst mit Sünde gleichsetzt: „Der Begriff Sünde und Schuld setzt eben den Einzelnen als den Einzelnen“¹⁵.
Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Über Sophokles und die alte Tragödie, in K. W. F. Solger, Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, Heidelberg: Lambert Schneider 1973 (ND Ausgabe von 1826), Bd. II, S. 468. „Nun ist es wahr, er war unschuldig, nichts von diesem allen that er mit Wissen und Willen; aber damit beschwichtigte sich nicht die innere, in gewaltiger Wahrheit sich aufdrängende Abscheu der Natur. Es ist geschehen, wir schaudern, daß es geschehen ist, nicht daß es getan ward, und durch wen es geschah, der es nicht that, der muß in solcher innern Entzweiung wohl gegen sich selber wüthen“ (K.W.F. Solger, Über Sophokles und die alte Tragödie. ebd., S. 468). Lore Hühn, „Selbstentfremdung und Gefährdung menschlichen Selbstseins“, in „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grund“. Schellings Philosophie der Personalität, hrsg. von Thomas Buchheim und Friedrich Hermanni, Berlin: Akademie 2004, S. 154; ebenso Friedrich Hermanni, Die letzte Entlastung. Vollendung und Scheitern des abendländischen Theodizeeprojekts in Schellings Philosophie, Wien: Passagen Verlag, 1994, S. 143 ff. Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, S. 100 [zitiert wird nach der Ausgabe Søren Kierkegaard, Gesammelte Werke, hrsg. von Emmanuel Hirsch und Hayo Gerdes, Güterloh: Güterloher Verlag 1993 ff.].
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1 Kants Moralphilosophie als Hintergrund einer Philosophie des Tragischen Untersucht man die Ursprünge dieser Problematik, muss man sich einmal mehr vergegenwärtigen, dass die Moralphilosophie Kants der Hintergrund dieser Philosophie des Tragischen ist – und zwar paradoxerweise gerade dadurch, dass sie in ihrem praktischen Kern völlig untragisch konzipiert ist, ja tragische Konflikte per se ausschließt. Die überragende Bedeutung des kategorischen Imperativs besteht darin, zu verhindern, dass in den Handlungsweisen die Gesinnung des Handelnden sich selbst missversteht und verloren geht. Kants puristische Form der Sollensethik situiert das Gute im autonomen Willen und unterscheidet es sorgfältig von allen empirischen Zwecken, mit denen es zu einer tragischen Kollision kommen könnte, um das Gute nicht durch ein Streben aufzufinden, sondern es durch richtiges Handeln auf sich zukommen zu lassen. Ein allgemeinverbindliches Ziel soll aus einem Handeln nach allgemeinverbindlichen Maximen erst hervorgehen. Kants Konzept einer Ethik der Autonomie geht von einem Freiheitsbegriff aus, durch den eine neue Kette von Kausalität beginnt, die sich der Handelnde im Moment der moralisch-guten Entscheidung in der Form des kategorischen Imperativs selbst auferlegt und dem er unbedingten Gehorsam leistet. Ausschlaggebend ist allein die Achtung vor dem Gesetz. Praktische Folgen können die moralischen Maximen seiner Ethik nicht in Frage stellen, da es in der kantischen Ethik per se einen Konflikt zwischen Absicht und Resultat der moralischen Handlung nicht geben kann. Für die Macht des kategorischen Imperativs ist gerade der moralische Selbstanspruch eines Hiob signifikant, der sich seinem Schicksal nicht beugt.¹⁶ Kant trennt strikt zwischen dem Problem der Begründung und dem Problem der Anwendung des kategorischen Imperativs. Man muss dies als einen entscheidenden Vorzug seiner Ethik anerkennen, schließt doch einzig der kategorische Imperativ in seiner apodiktischen Form aus, dass im Handeln Freiheit sich selbst widerspricht und damit sich selbst zerstört.¹⁷
So schließt Kant seine Hiob-Interpretation in der Schrift Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) mit der Bemerkung: „denn mit dieser Gesinnung bewies er, daß er nicht seine Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete: in welchem Fall dieser, so schwach er auch sein mag, doch allein lauter und ächter Art, d.i. von derjenigen Art ist, welche eine Religion nicht der Gunstbewerbung, sondern des guten Lebenswandels, gründet“ (Kant Akad.-Ausg. VIII, 267). Vgl. Hans Blumenberg, „Kant und die Frage nach dem “, in Studium Generale 7 (1954), S. 554– 570, S. 557: „Indem die reine Vernunft selbst als praktische Freiheit und Norm ist, ergibt sich zugleich die einzige Möglichkeit zu denken, daß Gott und Mensch ein und dasselbe Objekt ihres Willens haben können“.
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Der nachkantische Idealismus, der diese Ethik der Autonomie als eine Errungenschaft feiert, hinter deren Niveau nicht mehr zurückgefallen werden darf, setzt sich gleichwohl mit der Problematik auseinander, dass dieses Freiheitsverständnis zu einer Spaltung zwischen Sollen und Sein führt, zumal die Letztbegründung der Moral im bloßen Willen als unzureichend für ein Handeln in der Wirklichkeit empfunden wird. Weil der spekulativen Vernunft die grundlegende, für die menschliche Praxis entscheidende Erfahrung ihrer Wirksamkeit verborgen bleibt, versucht zunächst Jacobi die kantische Moralphilosophie dahingehend zu erweitern, dass er ihr – um sie als realitätstauglich auszuweisen – eine konstitutive Erfahrung zuspricht („Daseyn zu enthüllen und zu offenbaren“¹⁸). Schon Karl Leonhard Reinhold nennt in seinem Sendschreiben an Fichte dieses Vernunftgefühl „den ursprünglichen Standpunkt der lebendigen Überzeugung des Gewissens“¹⁹. Doch erst Schelling nimmt unter dem Einfluss Schillers die systematische Behandlung dieses Problems in Angriff.²⁰ Schon 1795, in den Briefen über Kriticismus und Dogmatismus, bemerkt er im 5. Brief zur Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft: „Wer mit Aufmerksamkeit gelesen hat, was die Kritik über praktische Postulate sagt, der hat gewiß sich selbst gestehen müssen, dass sie für den Dogmatismus ein Feld offen behalte, auf dem er sein Gebäude sicher und dauerhaft aufführen könnte“²¹. Während Hegel die Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft als „ein ‚Nest‘ von Widersprüchen“²² kritisiert, deckt Schelling im kantischen Freiheitsbegriff eine Problemstellung auf, die den Horizont des Dualismus von theoretischer und praktischer Vernunft auf eine unvordenkliche
Friedrich Heinrich Jacobi, „Über die Lehre des Spinoza“, in Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hrsg. v. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke, Band 1, 1: Schriften zum Spinozastreit, hrsg. v. Klaus Hammacher u. Irmgard Maria Piske, Hamburg: Felix Meiner 1998, S. 29. Karl Leonhard Reinhold, „Sendschreiben an den Herrn Professor Fichte“ (2. Bardili-Rezension), in Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799 – 1807), Quellenband, hrsg. v. Walter Jaeschke, Hamburg: Felix Meiner 1993, S. 129. So schreibt Hegel in den Vorlesungen über die Ästhetik, dass Schelling „diese Einheit […] der Freiheit und Notwendigkeit, der Geistigkeit und des Natürlichen, welche Schiller als Prinzip und Wesen der Kunst wissenschaftlich erfasste und durch Kunst und ästhetische Bildung ins wirkliche Leben zu rufen unablässig bemüht war, […] als Idee selbst zum Prinzip der Erkenntnis und des Daseins gemacht und die Idee als das allein Wahrhafte und Wirkliche erkannt“ hat. „Dadurch erstieg mit Schelling die Wissenschaft ihren absoluten Standpunkt; und wenn die Kunst bereits ihre eigentümliche Würde in Beziehung auf die höchsten Interessen des Menschen zu behaupten angefangen hatte, so ward jetzt auch der Begriff und die wissenschaftliche Stelle der Kunst gefunden und sie, wenn auch nach einer Seite hin noch in schiefer Weise (was hier zu erörtern nicht der Ort ist), dennoch in ihrer hohen und wahrhaften Bestimmung aufgenommen“ (Hegel, Werke, Band 13, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 91 f.). Schelling I, 303 (= Philosophische Briefe). Hegel 20, 371 (= Ästhetik).
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absolute Dimension übersteigt; eine Dimension, in der Freiheit und Notwendigkeit vermittelt sind und die sich nur über eine, den philosophischen Kritizismus invertierende Denkweise ermitteln lässt. Moralität kann nicht selbst das Höchste, kann nur Annäherung seyn zum absoluten Zustande, nur Streben nach absoluter Freiheit, die von keinem Gesetze mehr abweicht, aber auch kein Gesetz mehr kennt als das unveränderliche ewige Gesetz ihres eignen Wesens. (…) Noch weniger ist im Absoluten ein Moralgesetz denkbar. Denn das Moralgesetz, als solches, kündigt sich durch ein Sollen an, d. h. es setzt die Möglichkeit, von ihm abzuweichen, den Begriff des Guten neben dem des Bösen voraus. Dieser aber kann so wenig als jener im Absoluten gedacht werden.²³
Schellings Inversion der analytischen Transzendentalphilosophie Kants sucht nach einer ontologischen Begründung der Freiheit, um der lebensweltlichen Relevanz des Freiheitsbegriffs auf die Spur zu kommen.²⁴ Ein „System der sich selbst lohnenden Moralität“²⁵ nennt er die kantische Moralphilosophie und kritisiert an ihr, dass sie dem isolierten Blick entspringt, der „die ideelle Seite der Philosophie in sich getrennt objektivirt“²⁶ und so durch den eigenmächtigen Glauben, gegen sein Schicksal anrennen zu müssen, zwangsläufig dazu führt, Vollstrecker des eigenen Verhängnisses zu werden. Schelling – und in seiner Nachfolge auch Schopenhauer – decken im kantischen Autonomiebegriff eine tragische Struktur auf, die darin besteht, dass er die Freiheit, die er zu Recht postuliert, aus sich heraus nicht entfalten kann. „Wie Ixion [sich] um sein Rad unaufhörlich bewege“, beschreibt er einen „ewigen Cirkel von Handlungen“²⁷, die immer wieder an den Punkt zurückfinden müssen, von dem sie ausgegangen sind. Erst vor diesem Hintergrund wird Kierkegaards sündentheologische Inversion des Kantischen Autonomiebegriffs verständlich.
Schelling I, 322 u. 324 (= Philosophische Briefe). Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936 setzt hier an: Mit der spezifisch menschlichen Freiheit wird die Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen aufgeworfen. Diese Problematik aber ist für Heidegger nur im Kontext der „Frage nach dem Seyn“ von Freiheit zu beantworten. Vgl. hierzu Thomas Buchheim, „‚Metaphysische Notwendigkeit des Bösen‘. Über eine Zweideutigkeit der Auslegung in Heideggers Auslegung der Freiheitsschrift“, in I. Fehér/G. Jacobs (Hg.), Zeit und Freiheit. Schelling – Schopenhauer – Kierkegaard – Heidegger, Budapest: Kétef Bt. 1999, S. 183 – 191. Kant KdrV B 837. Schelling V, 283 (= Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums). Schelling III, 592 (= System des transzendentalen Idealismus).
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2 Schellings Philosophie des Tragischen Die moderne Tragödie bringt vor das Bewusstsein, was sich dem Bewusstsein radikaler Spontaneität gerade verbirgt: nämlich, dass es „durch seine Schuld“²⁸ so ist. In der schellingschen Sicht ist die Selbstermächtigung des Menschen – nämlich „einen Zustand von selbst anfangen zu können“²⁹ – zunächst die Ausgrenzung einer Voraussetzung, die freies Handeln allererst ermöglicht. So wie Ödipus zum Täter wird, weil er handelt, ist das Handeln aus Freiheit an die (paradoxe) Erfahrung gebunden, sich nur in völliger Determiniertheit erfassen zu können. Zu Bewusstsein kommt Freiheit mithin nur in einem Geschehen, welches das Bewusstsein der Freiheit aufhebt. „In dem Bewußtseyn, sofern es bloßes Selbsterfassen und nur idealistisch ist, kann jene freie That, die zur Nothwendigkeit wird, freilich nicht vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorausgeht, es erst macht […]“³⁰. In diese paradoxe Konstellation tritt eine Erfahrung dazwischen, die das „wahrhaft Tragische in der Tragödie“ zum Gegenstand macht.³¹ Diese paradoxe Grenzerfahrung, die die Tragödie dem modernen Subjekt vermittelt, ist auch anders als fiktiv gar nicht möglich. Nur in der Form der Kunst können Freiheit und Notwendigkeit als gleichrangig dargestellt werden. In diesem Widerspruch steht die Kunst, und ihre höchste Form, die Tragödie, thematisiert diesen Widerspruch sogar noch eigens, um ihn bewusst und damit für das Leben annehmbar zu machen. „Der Streit von Freiheit und Notwendigkeit [ist] wahrhaft nur da, wo diese den Willen selbst untergräbt, und die Freiheit auf ihrem eigenen Boden bekämpft wird“. Dieser Streit ist „nur zum Behuf der Kunst denkbar“, denn nur ein „Titanengeschlecht“³² könnte ihn wirklich ertragen, schreibt Schelling. Erhaben ist das Tragische, nicht das Absolute. „Daß ein Schuldloser durch Schickung unvermeidlich fortan schuldig werde, ist, wie gesagt, an sich das
Schelling VII, 386 (= Freiheitsschrift). Kant KdrV B 561. Schelling VII, 386 (= Freiheitsschrift). „Das Wesentliche der Tragödie ist also ein wirklicher Streit der Freiheit im Subjekt und der Nothwendigkeit als objektiver, welcher Streit sich nicht damit endet, dass der eine oder der andere unterliegt, sondern dass beide siegend und besiegt zugleich in der vollkommenen Indifferenz erscheinen. (…) Ich sage: dieß ist auch das einzig wahrhaft Tragische in der Tragödie. Nicht der unglückliche Ausgang allein. Denn wie kann man überhaupt den Ausgang unglücklich nennen, z. B. wenn der Held freiwillig das Leben hingibt, das er nicht mehr mit Würde führen kann, oder wenn er andere Folgen seiner unverschuldeten Schuld auf sich selbst herbeizieht, wie Oedipus bei Sophokles tut, der nicht ruht, bis er das ganze schreckliche Gewebe selbst entwickelt und das ganze furchtbare Verhängniß selbst an den Tag gebracht hat?“ (Schelling V, 693, 697 f.) Schelling I, 338 (= Philosophische Briefe).
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höchste denkbare Unglück. Aber daß dieser schuldlose Schuldige freiwillig die Strafe übernimmt“, schreibt er weiter, „dieß ist das Erhabene in der Tragödie, dadurch erst verklärt sich die Freiheit zur höchsten Identität mit der Nothwendigkeit“³³. Im Gegenzug wird die griechische Tragödie zu einem Typus des Tragischen depotenziert, der noch – mit dem Ziel, die Vernunft zu demütigen – die „Schrecken der objektiven Welt“³⁴ zeigt. Vom Standpunkt einer modernen Philosophie des Tragischen gehörte dieser Typus einer Zeit an, die „vor dem Lichte der Vernunft verschwunden ist“³⁵. Tragisch ist auch nicht mehr die über Aristoteles und Lessing tradierte affektmodulierende Wirkung des eleos kai phobos; tragisch ist nun die plötzlich zum Vorschein kommende paradoxe Versöhnung von Freiheit und Notwendigkeit. Dieses Ereignis, das nur in der Wirkung des tragischen Geschehens erfahren werden kann, überzeugt uns inmitten der Erscheinungen, dass etwas im eigentlichen Sinne ist. Es ist ein Werden im Vergehen³⁶– oder, anders ausgedrückt, die personale Verfasstheit der menschlichen Freiheit, die zu erforschen sich der Existenzialismus zu Eigen gemacht hat. Zwar ist auch für Schelling die Umformung des Widerspruchs in höhere Vernunft nur als (ästhetische) Wirkung des Erhabenen denkbar, doch bekommt das Erhabene – in diesen Kontext gestellt – einen ontologischen Status. Erhaben ist nicht mehr nur das „Geistesgefühl“, das in der Zweckwidrigkeit eines sinnlich nicht mehr fassbaren Phänomens eine Zweckmäßigkeit für unsere moralische Unabhängigkeit aufdeckt, erhaben ist nun eine Übermacht, deren Unantastbarkeit gerade dadurch vor Augen geführt wird, dass die menschliche Freiheit sich ihr im Kampfe aufopfert – oder in Schellings Worten: die „durch den Verlust seiner
Schelling V, 699 (= Philosophie der Kunst). Schelling I, 337 (= Philosophie der Kunst). Schelling I, 336 (= Philosophie der Kunst). Bei Schopenhauer wird die tragische Schuld auf das principium individuationis zurückgeführt. Das Individuum ist immer schon schuldhaft im Dasein verstrickt, weil der Wille unverfügbar ist: „Ein und derselbe Wille ist es, der in allen lebt und erscheint, dessen Erscheinungen aber sich selbst bekämpfen und sich selbst zerfleischen“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, in Sämtliche Werke. Hrsg. v. W. Freiherr v. Löhneysen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 (2. Aufl.), Bd. 1, S. 353). „Die Individuation ist sowohl Ursünde wie Quelle des Leidens – des Leidens als Strafe wie als Erfahrung der Getrenntheit selber“. Daher deutet Schopenhauer die Individuation auch nicht als einen „moralischen Fehler, sondern als ontologischen Mangel, als Unvollendetheit und Leiden“ (Emil Angehrn, Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 379 f.). Grundsätzlich gilt für Schopenhauer, dass die Tragödie seine Ethik der Willensverneinung präformiert hat, und insoweit basiert Schopenhauers Konzeption der Willensverneinung auf der Freiheitskonzeption des frühen Schelling.
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Freiheit selbst eben diese Freiheit“³⁷ beweist. Der kantische Grundsatz, dass „die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüte enthalten“ ist, bleibt auch für Schelling maßgeblich. Doch ist dies nur die eine Seite, die zur Erhebung des Willens führt; die andere, absolute Seite besteht darin, dass diese Freiheit nur in der Form der Verkehrung erfahrbar ist. Man muss sich hierbei mit Schiller vergegenwärtigen,³⁸ dass es sich um ein fiktionales, nicht um ein reales Geschehen handelt, um ein Geschehen also, das vom moralischen Beurteilungsstandpunkt völlig folgenlos ist. Das Ästhetische erschließt hier eine Dimension von Freiheit, indem es von der Freiheit des Willens absieht. Bei Kant leitet das Ästhetisch-Erhabene zum moralischen Handeln über, ja hat die „Erweckung sittlicher Gesinnungen“ zur Folge. Es hat nicht mehr nur eine symbolische, sondern auch eine inhaltliche Beziehung zur Sittlichkeit. Schelling nimmt durch die ontologische Verankerung des Erhabenen diese Subjektivierung des Erhabenen zurück, um im Erlebnis des Tragischen eine die Subjekt- und Objektsphäre umfassende Identität zum Vorschein zu bringen, und zwar nicht durch eine harmonisierend-auflösende Darstellung, sondern durch eine Auflösung, die durch Entsetzen und äußerste Dissonanz, nämlich durch den tragischen Konflikt allererst zustande kommt. Die Absolutheit und die radikale Ungebundenheit der Freiheit stehen hier nicht hinsichtlich der sittlichen Handlung auf dem Prüfstein, sondern hinsichtlich ihrer eigenen Verankerung in einem absoluten Grund. Der
Schelling III, 107 (= System des transzendentalen Idealismus). Diese Überlegung hat Jean-François Courtine ins Zentrum seiner Überlegungen zur Genese von Schellings Philosophie des Tragischen gestellt. „Es gibt streng genommen keine absolute Anschauung, keine Anschauung des Absoluten. Diese bietet sich uns zwar dar – und ihr Wesen ist nichts anderes als diese Darbietung oder Gabe –, aber immer im Schatten oder Spiegel des Sinnlichen, d. h. des Endlichen. Der Zuschauer, der „das relativ Große außer ihm“ betrachtet, entdeckt darin – dank des Gefühls des Erhabenen – „den Spiegel […] worin er das absolut Große, das Unendliche an und für sich selbst erblickt“ (Schelling V, 46). Schelling zitiert hier erneut Schiller, aber wieder recht frei, ja er verändert dessen Text auf höchst bedeutsame Weise […]. Während Schiller nämlich schrieb, dass in der Erfahrung des Erhabenen das relativ Große der Spiegel wird, worin der Zuschauer „das absolut Große in ihm selbst erblickt“, beseitigt Schelling diesen Bezug aufs Subjekt, der seit Kant fest zur Definition des Erhabenen gehörte: Statt dessen ist es das „Unendliche an und für sich“, das in der Betrachtung des Erhabenen erscheint, einer Betrachtung, die Schiller bereits, ohne jedoch sämtliche Konsequenzen daraus zu ziehen, absolute Contemplation nannte“ (Jean-François Courtine, „Tragödie und Erhabenheit. Die spekulative Interpretation des „König Ödipus“ an der Schwelle des deutschen Idealismus“, in Extase de la Raison. Essais sur Schelling, Paris: Galilée 1990, S. 75 – 111; hier in der Übersetzung v. Lore Hühn, in Jörg Jantzen (Hg.), Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt: Fromann-Holzboog 1998, S. 161– 210, S. 196 f.).
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Preis für den Untergang und die Niederlage ist – ästhetisch gesehen – eine Überhöhung dieses absoluten Grundes. Nicht zu Unrecht ist dieser Zugang zu einer absoluten, dem Widerspruch von Natur und Freiheit überlegenen Sphäre als ästhetischer Absolutismus³⁹ bezeichnet worden. Denn nur als ästhetischer steht dieser Absolutismus Schellings im Dienste der Frage, wie alles Freiheit sei, das heißt, wie die innere Freiheit des moralischen Selbstanspruchs auch äußerlich verwirklicht werden kann. Nicht im spontan handelnden Subjekt liegt die Freiheit begründet, sondern in einem, die Subjekt- und Objektsphäre umfassenden Prinzip. Dieses Prinzip kann nur in der Kunst vollends gegenständlich werden, da allein in der Reflexion über Werke der Kunst das negative Selbstverhältnis überwunden und die Freiheit auf ihre verborgenen Gründe hin durchsichtig wird. Allerdings stellt sich mit der ontologischen Fundierung der Freiheit nun eine heikle Alternative ein, die niemand deutlicher als Jacobi formuliert hat: Hat der Mensch Vernunft oder hat die Vernunft den Menschen – hat der Mensch Freiheit oder nicht vielmehr Freiheit den Menschen. Jacobi, der mit dieser Alternative schon früh Kants Philosophie kritisiert, sieht in dem Autonomiegedanken der reinen Vernunft die Gefahr, dass der Einzelne im autonomen Handeln seinen Weltbezug verliert. Das moralische Gesetz Kants scheitere an der Freiheit, weil es nicht Dasein enthüllen könne, sondern sich vor ihm verschließe. Schelling nimmt diesen Dualismus Jacobis, wendet ihn aber nicht kritisch gegen Kant, sondern – Kant erweiternd – gegen Jacobi selbst, indem er die Tragödie zu dem einzigen Ort (und gleichzeitig einzigen Garanten) erklärt, an dem wahre Freiheit – wenn auch nur im Modus der Verkehrung – erfahrbar sei – und diese Verkehrung keineswegs die kantische Philosophie auf den Kopf stelle, sondern sie erst zu dem mache, was sie wirklich sein will: zu einer Philosophie des konkreten Weltbegriffs.⁴⁰ Für Schelling ist der Dualismus Kants nicht anders als durch eine in ihrem Kern zutiefst selbstwidersprüchliche Konzeption auf einen philosophischen Monismus hin zu überwinden, in dem alles Freiheit ist. Die Pointe dieser Lösung werde sichtbar, wenn man zwei historische Fehlentwicklungen des philosophi Vgl. die heute immer noch lesbare Studie von Bernhard Lypp: Ästhetischer Absolutismus und politische Vernunft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1972. In diesem Sinne ist auch – vorausweisend auf die Thematik der Freiheitsschrift (1809) – die Bemerkung Schellings zu verstehen: „Nur jenes durch eigne That, aber von der Geburt, zugezogene Böse kann daher das radikal Böse heißen, und bemerkenswerth ist, wie Kant, der sich zu einer transcendentalen alles menschliche Seyn bestimmenden That in der Theorie nicht erhoben hatte, durch bloße treue Beobachtung der Phänomene des sittlichen Urtheils in späteren Untersuchungen auf die Anerkennung eines, wie er sich ausdrückt, subjektiven […] Grundes der menschlichen Handlungen, der doch selbst wiederum ein Actus der Freiheit seyn müsse, geleitet wurde […] (VII, 388).
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schen Monismus dagegenhält bzw. miteinander konterkariert. Fichtes Radikalisierung des kantischen Subjektivismus zu der Grundansicht, dass das „praktische Vermögen erst das theoretische möglich mache“⁴¹, unterwerfe sich nämlich der Notwendigkeit einer radikalen Einheitsphilosophie, die alles Objektive ausschließe. Diesen Umstand teile er mit seinem Gegenstück, dem philosophischen Dogmatismus, der das „absolute Seyn“⁴² realisiere, indem er alles aus der Subjektivität ausschlösse. Der fichtesche Kritizismus und der spinozistische Dogmatismus sind die (historisch vorliegenden) Anknüpfungspunkte für Schellings Versöhnungsgedanken. Der Kritizismus nämlich tendiere dahin, jede Bestimmung des Objekts in der absoluten Kausalität der Subjektivität aufzulösen, wohingegen der Dogmatismus umgekehrt verfahre, indem er das „absolute Seyn“ dadurch realisiere, dass er alles aus der Objektivität ausschlösse. Absolute Kausalität (in der Substanzmetaphysik Spinozas) und absolute Freiheit (in der Subjektphilosophie Fichte) markieren Extreme, die nur durch die agonale Struktur des tragischen Geschehens einheitlich ausgelegt werden können – ein Verhältnis, in dem die jeweilige Position, konsequent zu Ende geführt, auch ihr jeweiliges Gegenstück zu erkennen gibt. Schelling integriert sie so in eine philosophische Gesamtkonzeption, dass er sie als zwei Seiten eines Ganzen deutet, die für sich nur vordergründig selbständig sind, hintergründig aber eine paradoxe, in ihrem wechselseitig-widersprüchlichen Verhältnis zueinander homogene Gesamtkonstellation ausmachen. Um das paradoxe Verhältnis der beiden Systemformen von Dogmatismus und Kritizismus in seiner Tiefendimension zu kennzeichnen, greift Schelling im letzten Brief der Philosophischen Briefe über Kritizismus und Dogmatismus von 1795 explizit auf das Modell der sophokleiischen Tragödie zurück. Auf eine tragische Weise nämlich sei der Selbstwiderspruch, den beide Systeme zueinander aufbauten, zu deuten; ein tragischer Konnex, der jedoch nicht in Agonie münde, sondern der einen inneren Streit entfalte, an dessen Ende sich Indifferenz entfalte, da keiner der Kontrahenten gewinnen könne, sondern beide Sieger und Besiegter seien. Dieses Strukturmodell der antiken Tragödie ist von solcher Tragweite für die Deutung des philosophischen Systembegriffs Schellings, dass er noch 1802 in seinen Philosophischen Briefen darauf zurückkommt: „Das Wesentliche der Tragödie ist also ein wirklicher Streit der Freiheit im Subjekt und der Nothwendigkeit als objektiver, welcher Streit sich nicht dadurch endet, dass der eine oder andere unterliegt, sondern dass beide siegend und besiegt zu gleich in der vollkommenen
Johann Gottlieb Fichte, Werke, hrsg. v. I. H. Fichte, Berlin 1971 (Nachdruck der Ausgabe von 1845/46), Bd. 1, S. 126. Schelling I, 328 (= Philosophische Briefe).
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Indifferenz erscheinen“⁴³. Der Totalitätsanspruch, den beide Systeme – das kritizistische ebenso wie das dogmatische – miteinander teilen, wird von Schelling dahingehend relativiert, dass er vor sich eine Abhängigkeit verberge, die die jeweilige Selbständigkeit der Systeme radikal dementiere. Die Theorie der Tragödie muss zu einer Philosophie des Tragischen werden, weil das „Schicksal“ nicht mehr eine sichtbare, objektive Macht des Fatums sein kann, sondern unter den Bedingungen menschlicher Autonomie zu „eine[r] dunkle[n], unbekannt[en] Gewalt“ aufzuwerten ist, „die zu dem Stückwerk der Freiheit das Vollendete oder das Objektive hinzubringt“⁴⁴. Im System des transzendentalen Idealismus (1800) ist das Schicksal „jene Macht, welche durch unser freies Handeln ohne unser Wissen, und selbst wider unser Willen, nicht vorgestellte Zwecke realisiert“⁴⁵. Allein der Kunst, die mitteilt, was sich sonst nur der philosophischen Spekulation erschließt, ist es möglich, Freiheit und Notwendigkeit in Versöhnung zu dokumentieren. Sie ist Darstellung einer Harmonie von Kräften, die sich im Leben nur tragisch auswirken können. In der Philosophie der Kunst (1804/5) heißt es zu dieser „höheren Ansicht“ der Tragödie: „daß die tragische Person nothwendig eines Verbrechens schuldig sey“ – „dieß ist das höchste denkbare Unglück“⁴⁶, das „einzig wahrhaft Tragische in der Tragödie“⁴⁷. Aristoteles’ Deutung, „daß die Schuld […] durch einen Irrthum, als durch den Willen des Schicksals und ein unvermeidliches Verhängniß oder eine Rache der Götter zugezogen sey“, wird damit zurückgewiesen. Schellings moderner Begriff von Tragödie lehnt das Prinzip der Katharsis und dessen moralische Wirkungsüberlegungen ab. Schicksal bezeichnet bei Schelling eine den Menschen besiegende Notwendigkeit, die dessen ungeachtet gerade seiner Autonomie entspringt. Wenn Schelling diese Macht als „unbewußt“⁴⁸ bezeichnet, so verweist er auf eine Dialektik von Natur und Freiheit, die nur einen tragischen Handlungsvollzug zulässt: durch den Verlust der Freiheit eben diese Freiheit zu beweisen. Hölderlins exzentrische Gestalt des Tragischen als In-Erscheinung-Treten des Göttlichen selbst ist von dieser Konzeption radikal unterschieden, geht es doch gerade nicht um höchste Versöhnung, sondern – gegenläufig – um Steigerung menschlicher Autonomie. Unbewusst und unverfügbar vollzieht sich dann ein Geschehen, das
Schelling V, 693 (= Philosophie der Kunst). Schelling III, 616 (= System des transzendentalen Idealismus). Ebd. Schelling V, 695 (= Philosophie der Kunst). Ebd., 697. Ausgelöst „nicht sowohl durch einen Irrthum“, sondern durch „ein unvermeidliches Verhängniß oder eine Rache der Götter […] vollendet sich das Schicksal des Oedipus, ihm selbst unbewußt“ (ebd.).
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seiner traumatischen Aufarbeitung und Verabschiedung durch ein autonomes Ich entgegenwirkt. Freuds Deutung der Ödipushandlung als verdrängte und traumatische Urgeschichte menschlicher Emanzipation ist die konsequente Weiterentwicklung der schellingschen Problematik.
3 Kierkegaards Sprung in die Religion als höchste Aufstufung der Persönlichkeit Kierkegaard hat in den Philosophischen Brocken (1844) und in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift (1846) die Differenz von Kritizismus und Dogmatismus als Differenz von Vernunft und Glauben in einer differenzierten Analyse der Existenzsphären des Menschen dargestellt, der sich an dem Faktum seiner Existenz, das für das Denken undurchdringlich bleibt, abarbeitet. Da aber nur Einzelnes faktisch existiert, ist „der Einzelne“ unhintergehbar. Geht man von der bloßen Faktizität des Einzelnen aus, so ist für das einzelne Selbst sein Selbstsein grundlos. Es ist als Faktum absolute Grenze des Denkens. Das Verhältnis zu der sinnsetzenden und begründenden Transzendenz kann nur als ein durch die Vernunft unausweisbares, individuelles Glaubensverhältnis angesetzt werden. Bis zu dieser Grenze als dem Inbegriff menschlicher Erkenntnismöglichkeit reicht die Philosophie. Sokrates ist seit den Frühschriften Kierkegaards der Lehrer, dessen wissendes Nichtwissen diese mäeutische Form des Vermittelns von Wissen bis an dessen Grenzen vorangetrieben hat. Mit ihm ist der Bereich vollständiger Immanenz abgeschritten. Ein Wissen jenseits dieser menschlichen Bedingtheiten wäre eine vom Einzelnen unabhängige Wahrheit, die im Gegenzug zum Mäeutiker Sokrates von einem Lehrer kommen müßte, der selbst die Bedingungen der Erkenntnis dieser Wahrheit wäre und nicht nur intellektuelle Hebammendienste leistete, als Befreier oder Erlöser. Seine Wahrheit müßte den Charakter einer Offenbarung haben, folgert Kierkegaard.⁴⁹ So deutlich Kierkegaard als religiöser Denker auch den Widerspruch zwischen der Immanenz der Vernunft und der Transzendenz der Offenbarung herauskehrt – entscheidend ist ein zweiter Gedanke, nämlich dass es zum Wesen der Vernunft gehöre, sich immer wieder an diesen Widerspruch heranzutasten, um an ihm zu scheitern. Denn es ist „des Denkens höchstes Paradox“, schreibt er, „etwas entdecken zu wollen, das es selbst nicht denken kann“⁵⁰. Auch Kierkegaard über-
Vgl. hierzu im Folgenden Konrad Paul Liessmann, Søren Kierkegaard zur Einführung, Hamburg: Junius 1999, S. 99 ff. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, ebd., S. 35.
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nimmt hier – wie zuvor schon Schelling – eine Überlegung Jacobis,⁵¹ nämlich dass der Vernunft selbst ein Prozess der Selbstvernichtung eigen ist, der schließlich eine letzte Frage heraufbeschwört, an der die Vernunft zu tanzen beginnt: „Hat der Mensch Vernunft oder Hat Vernunft den Menschen“. Das Unbekannte, an dem das Denken „in seiner paradoxen Leidenschaft sich stößt“, ist das Unbekannte, oder, wie Climacus – einer der Pseudonyme Kierkegaards – großzügig vorschlägt: Gott.⁵² Gott ist die Chiffre für jenes „schlechthinnige Paradox“⁵³, in das der Verstand sich mit Leidenschaft immer wieder verwickelt und dessen Ausdeutung ihn tragisch verstrickt. Das Denken des Höchsten ist zugleich der Abgrund der Vernunft.⁵⁴
Der Heideggerschen Denkfigur, dass der Satz vom Grund nicht nur die Logik des Schließens, sondern darüber hinaus auch den Akt des Abspringens meint (Heidegger: „Sprung des Denkens“), hat Birgit Sandkaulen, trotz der Kritik Heideggers an Jacobi, zur Leitthese ihrer Jacobiinterpretation gemacht. „Wenn der Sprung keineswegs ein „Geheimnis“, aber auch kein begriffliches Konzept, sondern vielmehr eine auszuführende Figur darstellt, dann kommt man auch nicht umhin, exemplarisch zu zeigen, was hier gemeint ist: das ist das erste. Darüberhinaus aber wird auch die negative Bezüglichkeit der entscheidenden Voraussetzung kenntlich, wonach der Sprung seinen spezifischen Sinn allein im Akt eines Absprungs gewinnt, um sich folglich unmittelbar gegen das abzustoßen, von wo aus er unternommen wird“ (Birgit Sandkaulen: Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis. München: Fink 2000, S. 54). Die Tragweite dieser Interpretation ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass schon Jacobi damit gegenüber dem kantischen Gedanken einer Kausalität aus Freiheit „die fundamentale Dimension einer ursächlich praktischen, im wahrsten Sinne grundlosen und insofern positiven Voraussetzung geltend“ macht, die nicht anders als „Grunderfahrung des Anfangs im anfänglichen Handeln selber immer schon gemacht“ ist und damit der Annahme einer „Spontaneität, die von selbst anheben könne zu handeln“ (S. 214), zuvorkommt. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, ebd., S. 37. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, ebd., S. 34. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, ebd., S. 3. Für Kierkegaard ist der Hegelsche Systemanspruch, wie er sich aus der Bewegung des Geistes entfalten soll, ein Anspruch, der tragisch scheitert, sobald man ihn auf das existierende Subjekt überträgt. Das Entweder/Oder ist ein „unausgleichbarer Gegensatz“. Zwar hat „Hegel […] darin vollkommen und absolut recht“, schreibt Kierkegaard, „daß es ewig gesehen, sub specie aeterni, in der Sprache der Abstraktion, im reinen Denken und im reinen Sein kein aut-aut gibt; wo zum Teufel sollte es denn da auch herkommen, da die Abstraktion ja gerade den Widerspruch wegnimmt […] abstrakt gedacht, gibt es keinen Bruch, aber auch keinen Übergang“. Daraus folgt aber, daß „der Übergang in der Möglichkeit wie in der Abstraktion nur ein Schein ist. Wenn aber der Übergang wirklich werden soll, dann gibt alle Klugheit in der Anfechtung den Geist auf […]. Für den Existierenden ist der Widerspruch konstitutiv, dass „sich das Existieren nicht denken läßt“, er aber als „der Existierende[r] doch denkend ist“ (Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den Philosophischen Brocken (=UN) 2, ebd., S. 31): „Aber das in Wahrheit Existieren, also mit Bewußtsein seine Existenz durchdringen, zugleich ewig gleichsam weit über sie hinaus sein und doch in ihr gegenwärtig und doch im Werden: das ist wahrlich schwierig“ (UN 2, S. 8). Es ist dasselbe mit der Bewegung: „Denke ich sie, so hebe ich sie auf, und damit denke ich sie nicht“
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Doch statt dieses Paradoxon in einer Position der Gelassenheit aufzulösen, deutet es Kierkegaard existenztheologisch. Dies wird dann sichtbar, wenn wir Kierkegaards Schriften verdeckt als von einer Philosophie des Tragischen durchzogen darstellen – angefangen mit der frühen pseudonymen Schrift Entweder/Oder (1842), die den Gegensatz von antiker und moderner Tragödie beschreibt, über Furcht und Zittern (1843) und Der Begriff Angst (1844), die beide das Leiden am tragischen Konflikt als Gefühl der Existenz ausdeuten, bis hin zu den Stadien auf dem Lebensweg (1845), wo das Tragische als „Kreuzigung des Verstandes“ den Glauben fordert. Tragisch ist in all diesen Schriften die Selbsttätigkeit des Menschen, d. h. der Konflikt, der entsteht, wenn in dem gleichen Maße, wie sich die menschliche Freiheit selbst ermächtigt, sie in ihrem Inneren Selbstgefährdung und Ohnmacht – im Gefühl der Angst – zu erkennen gibt. Diese tragische Hybris steht nicht mehr im Kontext einer „Gewalt des Urteilens“⁵⁵, sondern im Kontext einer Freiheit, „die sich selbst Schicksal, sich selber Notwendigkeit“⁵⁶ ist. Nicht mehr von der Hybris des Wissens um ein Verhängnis ist dann die Rede, sondern von der Hybris der Freiheit, die als letzte Bedingung des Handelns an dessen eigener Vernichtung arbeitet. Der Unterschied zwischen der antiken und der modernen Tragödie, und das heißt auch zwischen einer Theorie der Tragödie und einer Philosophie des Tragischen, ist eine Zäsur in der tragischen Weltbetrachtung, die auch Kierkegaard erst vor dem Hintergrund des modernen Autonomieverständnisses für möglich hält, das er jedoch in der Tradition Augustinus’ und Luthers sündentheologisch deutet. Es ist die freie Handlung, die ein Schicksal gegen sich heraufbeschwört, dem sie unterliegt. Im Unterschied zu Schelling vertieft Kierkegaards Existenzphilosophie diese Problematik nicht moral- oder gar naturphilosophisch, sondern religionsphilosophisch. Für Kierkegaard gilt in besonderem Maße, dass die Philosophie gerade in der Konfrontation mit der tragischen Erfahrung zur Religion zurückfindet und das heißt zu einem Gott, der sich mit der Schuld der menschlichen Autonomie konfrontiert sieht. In der Krankheit
(UN 2, S. 9). Gegen das Statuarische des hegelschen Systemdenkens macht Kierkegaard geltend, dass der Mensch im Umgang mit sich selbst und seiner Erfahrungswirklichkeit kein geschlossenes System hervorbringen kann, sondern nur einen „Flickenteppich“ aus Fragmenten. Hegels Versuch, die kantische „Skepsis mit Hilfe des reinen Denkens“ zu überwinden, mündet in ein „phantastisches Schattenspiel“ (UN 2, S. 31). Diesen Aspekt hat Christoph Menke in seiner Studie Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005) in den Mittelpunkt gestellt und damit eine hegelianisierenden Sichtweise Raum gegeben. Im Folgenden kommt eine andere – im weitesten Sinne antihegelianische – Deutung, die über Schelling, Solger, Schopenhauer und Kierkegaard vermittelt ist, zu Worte. So Schelling noch in seiner Weltalterphilosophie. Vgl. F. W. J. Schelling, Die Weltalter, hrsg. von Manfred Schröter. München: Biederstein Verlag und Leibniz Verlag 1966, S. 177.
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zum Tode schreibt Antiklimacus, dass dieser Gott „um dieses Menschen Schuld willen, auch um dieses Menschen willen […] auf die Welt [kommt], leidet, stirbt; und dieser leidende Gott, er bittet diesen Menschen nahezu kniefällig, doch die Hilfe entgegennehmen zu wollen, die ihm angeboten wird!“⁵⁷. Diese Rückbindung zu einem leidenden Gott wird von Sartre aufgegeben (oder nicht mehr gesucht). Ihm ist die Konfrontation mit der Freiheit nur als unauflöslich tragische Erfahrung noch vermittelbar. Dass mit dem Niedergang der Tragödie der Aufstieg einer Philosophie des Tragischen verbunden ist, ist nicht nur eine Entwicklung, die den Deutschen Idealismus durchzieht, sondern in spezifischer Form auch die Idealismuskritik des Existenzialismus trägt. Das Tragische als Existenzbedingung des modernen Menschen lässt sich nämlich zunächst gerade vor dem Hintergrund der klassischen Tragödie dartun, und zwar als deren reflektierte Form. So entsteht das existenzielle Urphänomen der Angst aus der Trauer in der antiken Tragödie, mit dem Unterschied allerdings, dass „Angst […] eine Reflexion“ ist und „insofern von Trauer wesentlich verschieden. Angst ist dasjenige Organ“, heißt es in Entweder/ Oder, „mit dem das Subjekt sich die Trauer aneignet und sie sich assimiliert. Angst ist die Kraft derjenigen Bewegung, mit der sich einem die Trauer ins Herz bohrt“. Verloren gehen bei dieser „Selbstbeschäftigung der Angst mit der Trauer“⁵⁸ dem modernen Bewusstsein die „Wehmut“ und das „Heilmittel“ des Tragischen. „In der antiken Tragödie“, so folgert Kierkegaard, ist daher „die Trauer tiefer, der Schmerz geringer; in der modernen ist der Schmerz größer, die Trauer geringer. Trauer enthält stets etwas Substantielleres in sich als Schmerz. Schmerz deutet stets auf eine Reflexion über das Leiden, welche von der Trauer nicht gekannt wird“⁵⁹. Wählen heißt in den erbaulichen Schriften Kierkegaards die Entscheidung zugunsten eines einsamen Lebens; eine Entscheidung, die nicht aus moralischen Gründen, sondern immer im Gedanken an die eigene Endlichkeit, den eigenen Tod gefasst wird – und das heißt: aus der Unverfügbarkeit des Grundes unserer Existenz. In Entweder/Oder II ist diese Entschiedenheit, die ihre Gestalt erst aus dem Gedanken an den eigenen Tod erhält, die Selbstwahl. Dieses Selbst ist nicht gegeben oder in einer außerzeitlichen Setzung verankert, so dass die Entscheidung auf ihm fußen könnte, sondern es ist aufgegeben in der Entschiedenheit, so dass alles, was ein Mensch tut, sich unerlässlich dem Prozess seiner Selbstwerdung einschreibt. Das Wesen des Selbst ist seine eigene Tat. Das Selbst des
Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, ebd., S. 84. Søren Kierkegaard, Entweder/Oder I, ebd., S. 131. Søren Kierkegaard, Entweder/Oder I, ebd., S. 125.
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Menschen ist eben nur ein „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“ und nicht von sich aus eingefügt in eine Ordnung, die es trägt. Es ist ein Sichentgegenarbeiten, das nur auf dem Wege einer indirekten Explikation des Seins erforscht werden kann. Das Problem der Entscheidung lastet daher so sehr auf dem Menschen, dass er nach Strategien der Entlastung sucht, so zum Beispiel, wenn er die Unentschiedenheit zum Substitut dieses Beziehungsproblems macht. Kierkegaard nennt diese Unentschiedenheit Verzweiflung. Sie empfindet der Ästhetiker in Entweder/ Oder II, wenn er die Bürde der unentwegten Entscheidung im Prozess der Selbstwerdung als eine solch gravierende Verlorenheit entdeckt, dass er Zuflucht nimmt zur Unentschlossenheit, einer Unentschlossenheit, die in ihrem Kern tragisch ist. Denn der Ästhetiker verkennt dann die wahre Bedeutung seiner Situation, die Verzweiflung.Von allen Folgen der Entscheidung will er suspendiert sein. Er will „in dieser ungeheuren Relativität absolut sein“⁶⁰. Er empfindet die Last, sich für etwas und damit zwangsläufig gegen etwas entscheiden zu müssen mit einer Wucht, dass er melancholisch in ironischer Indifferenz verharrt.⁶¹ Er ist der Held, der das Falsche tut, weil er sich im Recht wähnt. Diese moderne Haltung der Existenz, das Missverständnis über sich selbst als Handelnder, ist – tragisch gesehen – die Verdrängung des Tragischen in die Unentschiedenheit. Sie nimmt das Tragische nicht an, sondern verliert es. „Indem die Zeit das Tragische verliert, gewinnt sie die Verzweiflung“⁶², heißt es in Entweder/Oder. Komisch an dieser Verdrängung ist, dass der Ästhetiker am Tragischen leidet, ohne von dem Konflikt jemals überwältigt zu werden. Auf diese Weise nimmt er das Tragische als eine „Wehmut“ und ein „Heilmittel“ nicht wahr, und gerät in die paradoxe Lage, die für das Verhältnis der Moderne zum Tragischen insgesamt kennzeichnend ist: „indem man auf die übernatürliche Weise, mit der unsre Zeit es versucht, sich selbst gewinnen will, verliert man sich selbst und wird komisch.“ Nietzsche wird wie Kierkegaard die Tragödie als ein zweistufiges Geschehen auslegen: als tragische Erfahrung und als (romantische) „Erlösung im Schein“ und als dadurch ästhetische Rechtfertigung des Daseins. Diese Erlösung im Schein tritt ein, „wenn wir aufhören, uns als Individuen zu sehen, denen es „ernsthaft“ um ihre Zwecke geht, und uns statt dessen – „dem unheimlichen Bild des Märchens gleich, das die
Søren Kierkegaard, Entweder/Oder I, ebd., S. 123. „Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es gleichfalls bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides“ (Søren Kierkegaard, Entweder/Oder I, ebd., S. 22 f.). Søren Kierkegaard, Entweder/Oder I, ebd., S. 123.
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Augen drehn und sich selber anschauen kann“ – als Figuren in einer „Kunstkomödie“⁶³ betrachten. Dagegen ist der Ethiker ganz auf den Ernst und die Entschiedenheit, in der er wählt, gerichtet. Er nimmt im existenziellen Selbstverhältnis (das „Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält“) die Gegenposition zum Ästhetiker ein. Nicht die Folgen seines Handelns zählen, sondern die „Taufe des Willens“⁶⁴, und in diesem Sinne verkörpert er die Kantischen Pflichtethik unter Existenzverhältnissen. Seine ethische Bestimmung ist nicht an der „Auswahl“ unter Möglichkeiten interessiert, sondern – kantisch gesprochen – an der „Handlung der Wahl“, die dem Ästhetiker wiederum zutiefst verschlossen ist. Während es dem Ästhetiker um die Wirklichkeit von Möglichkeiten oder Lebensentwürfen geht, geht es dem Ethiker um die Möglichkeit von Wirklichkeiten oder Handlungen. Während der Ästhetiker an der eigenen Wirklichkeit desinteressiert ist, geht es dem Ethiker in der Tat um seine Existenz – doch so, dass er sie in Übereinstimmung mit dem Allgemeinen sucht und daran scheitert. Denn die Existenzbestimmung lässt sich gerade nicht denken. Während das ästhetische Lebensverhältnis in der Anschauung eines Äußeren liegt (z. B. im Ausdruck seiner selbst in etwas Anderem, dem Kunstwerk), liegt es beim ethischen Lebensverhältnis wohl in ihm selbst, aber als Auseinandersetzung des Individuums mit einem allgemeinen Ethos – im Kampf des Subjekts um seine Sittlichkeit. Die ethische „Selbstwahl“ ist für Kierkegaard von der existenziellen Angst begleitet, im Meer des Möglichen und der freien Entscheidungen allein zu sein. Doch erst die religiösen Formen der Existenz brechen mit jeder Form eines Weltbezugs und lösen damit auch das tragische Selbstverhältnis des Einzelnen im Leiden an seiner Endlichkeit auf. Existenzpsychologisch gesehen, ist dies der Zustand der Entängstigung der Angst. In der religiösen Sphäre ist das Subjekt durch seine „absolute Verschiedenheit“ Gott gegenüber definiert. Es ist, um ganz bei sich zu sein, außer sich, doch so, dass es, ohne in einer anderen Welt zu sein, auch nicht mehr von dieser Welt ist. Kierkegaard hat dieses Stadium, in dem sich der Einzelne dialektisch nach innen zu in Selbstvernichtung zu Gott definiert, als das „paradox-Religiöse“ bezeichnet, in dem jeglicher Rest von ursprünglicher Immanenz vernichtet ist. Diese Vernichtung der ursprünglichen Immanenz ist der Übergang in die Transzendenz – ein Übergang, dessen paradoxer Anspruch für den Einzelnen darin besteht, dass er – um sich als Einzelner zu konstituieren – vernichten muss. Erst durch diese Bewegung wird das Andere – der Gott – offenbart.
Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 139. Søren Kierkegaard, Entweder/Oder II, ebd., S. 154
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Das Paradox des Glaubens „ist über dem Abgrund erbaut“⁶⁵. Dies macht den „Sprung“ in den Glauben zu einem riskanten und gefährlichen Unterfangen, riskant nicht zuletzt auch deshalb, weil er den (tragischen) Konflikt nach beiden Seiten hin überwinden muss. Einen „salto mortale“ nennt Kierkegaard daher mit Jacobi diesen „Sprung“, weil er aus zwei paradoxen Bewegungen besteht: aus der Negation alles Endlichen wie auch aus der Negation alles Vernünftigen. Die „Prüfung Abrahams“ ist hierfür das Paradigma. An ihr erörtert Kierkegaard, ob es eine „teleologische Suspension des Ethischen“, mithin eine Suspension der tragischen Sphäre überhaupt geben kann. Die Negation alles Ethischen besteht in der Prüfung Abrahams, zu opfern, was er mehr liebt als sich selbst, seinen Sohn Isaac. Sie ist der erste Schritt zu einer Ethik der Nächstenliebe, die Ernst macht mit dem Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst“⁶⁶. Die Negation alles Vernünftigen besteht in der Gewissheit, diese Prüfung kraft eines Glaubens zu bestehen, den er nur als Einzelner besitzen kann, da er sich jeder Kommunikation entzieht: „Der Glaube ist eben dieses Paradox, dass der Einzelne als Einzelner höher ist, denn das Allgemeine, ihm gegenüber im Recht ist, ihm nicht unter-, sondern übergeordnet ist“. Der Glaube allein vermag die paradoxe Anforderung zu bewerkstelligen, das Allgemeine mit dem Einzelnen so zu vermitteln, daß der Einzelne aus dem Allgemeinen hervorgeht. Durch den Glauben wird Abraham gerade kein tragischer Held innerhalb des Ethischen. Kierkegaard alias Johannes de Silentio beeilt sich daher hinzuzufügen, dass der Einzelne dem Allgemeinen übergeordnet ist, „doch wohl zu merken dergestalt, daß eben der Einzelne, der als Einzelner dem Allgemeinen untergeordnet gewesen ist nur durch das Allgemeine hindurch ein Einzelner wird, der als Einzelner ihm übergeordnet ist; daß der Einzelne als Einzelner in einem absoluten Verhältnis zum Absoluten steht. Dieser Standpunkt läßt sich nicht vermitteln; denn alle Vermittlung geschieht gerade in kraft des Allgemeinen; er ist und bleibt in alle Ewigkeit ein Paradox, unzugänglich dem Denken“⁶⁷. Ich komme zum Schluss. Das Paradox der christlichen Existenz beendet den tragischen Konnex in der Einsicht, dass das Selbstsein des Menschen nicht in seiner Gewalt liegt, sondern – diese Gewalt transzendierend – nur durch etwas außer ihm Seiendes ermöglicht ist – christologisch gesprochen durch die Menschwerdung Gottes. Das Tragische ist im Glauben nicht nur besiegt; den Glauben zeichnet vielmehr aus, dass er „mehr als siegt“ [Röm. 8, 37. Luther übersetzt: „überwinden wir weit“]. Das religiöse Existieren kann nicht auf das
Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, ebd., S. 95. Søren Kierkegaard, Der Liebe tun I, ebd., S. 21 ff. Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern, ebd., S. 59.
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Ethische aufbauen, wie Kant dies noch einer Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft konzedierte, da aus der tragischen Grundkonstellation (christologisch gesprochen: der Sündenverfallenheit des Menschen) heraus ein selbstbestimmtes Handeln zwar als notwendig erscheint, dieses den Konflikt aber nicht nur nicht auflöst (dies war – christologisch gesprochen – nur Adam möglich), sondern festschreibt. Freiheit schlägt dann in Ohnmacht um. Diejenigen Existenzphilosophen, die in der Selbstwahl einen autonomen und souveränen Akt der Selbstkonstitution sehen, der ohne Grund auskommt und jede Vorbedingung leugnen, sind in der Perspektive Kierkegaards geradezu Fürsprecher einer Ohnmacht, die nun wiederum eine Befreiung von sich verlangt. Kierkegaards Unterscheidung einer ersten von einer zweiten Ethik, d. h. einer Ethik diesseits und jenseits der Sünde, trägt diesem Umstand Rechnung.Will man dieser Ausdeutung den Vorzug geben (und damit auch die Frage nach einer Ethik im Existenzialismus – jedenfalls, was Kierkegaard betrifft – in ihre Schranken verweisen), muss man den Glauben als eine Steigerung dieses Paradox ausdeuten, mit dem Ziel, den menschlich gesehen aussichtslosen Wunsch, dieses Paradoxon qua Autonomie zu überwinden, bis an seine Grenze voranzutreiben, dort, wo dieser Wunsch für einen Gott doch als realisierbar zu betrachten ist. Man mag nun diesen Gott eine christlichen Gott nennen – muss es aber nicht. Es ist aber in jedem Fall diejenige „theologische Figur“, dessen Hilfe zur „Umwandlung“ oder „Transmutation“, wie Kierkegaard mit Schelling sagt, notwendig wird und dies paradoxerweise nicht durch einen Akt der Überhöhung, sondern durch einen Akt der Erniedrigung: nämlich dadurch, dass Gott eine individuelle menschliche Existenz angenommen hat und von sich aus dem Einzelnen Vorzug gegenüber dem Allgemeinen gegeben hat. Wo dieser paradoxe Glaube als Steigerung der Existenzdialektik fehlt, fällt der Existenzialismus nicht etwa in sich zusammen, aber er überfordert den ethischen Selbstanspruch. Das wird bei Jaspers sichtbar, dem allein „im tragischen Menschen, der in Freiheit untergeht (…), die Möglichkeit des eigenen Seins sich zeigt“⁶⁸; das wird bei Heidegger in der „Entschlossenheit“⁶⁹ sichtbar und bei Sartre im „Engagement“. Wenn Kierkegaard fordert, sich „voller Vertrauen in das Absurde [zu] stürzen“⁷⁰, ist dies ein Erfordernis, das an der Grenze des existenzphilosophischen Selbstanspruchs aufleuchtet, nicht, weil das Leben absurd ist
Karl Jaspers, Über das Tragische. München: Piper 1952, S. 45. Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer 1967, S. 93 f. Søren Kierkegaard, Furcht und Zittern, ebd., S. 31.
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(Camus), sondern weil sonst der ethische Anspruch den Einzelnen überfordern würde.⁷¹
Hier wie dort aber sind es immer die Unbedingtheit und Entschiedenheit des Einsatzes, nie die inhaltliche Zielsetzung oder die Wahl der geeigneten Mittel, die der Ausgangspunkt sind. „Der Mensch ist das, was er tut“; er „ist dazu verurteilt, frei zu sein“ (Sartre). Es bleibt dies ein ethischer Anspruch, der wie im kantischen Selbstanspruch des Handelnden, von den Folgen der Handlung absieht. Erst von dieser Unbedingtheit des Willens her kann sich der Humanismus als ein übersubjektiver Wert erschließen, oder wie Sartre folgert: „nichts kann für uns gut sein, ohne es für alle zu sein.“ Und erst in der Anerkennung dieser Freiheit auch im anderen Menschen „ist die Einsamkeit durchbrochen, in der die existenzialistische Ethik den Menschen zu verschließen droht“ (Otto Friedrich Bollnow, „Existentialismus und Ethik“, in Die Sammlung, 4. Jahrg., 6. Heft, Juni 1949, S. 321– 335, hier S. 333). „Du sprachst zu mir, und ich antwortete […] niemals tat einer von uns etwas, in dem der andre nicht seinen eignen Willen wiedererkannte“, schreibt Simone de Beauvoir in Die unnützen Fresser. Der tiefere Grund, weshalb die Ethik des Einzelnen (vor allem in der französischen Linie des Existenzialismus) hier Anleihen an der Idee des sittlichen Handelns bei Kant macht, dürfte darin liegen, diese Überforderung des ethischen Selbstanspruchs zu kompensieren.
Steffen Dietzsch
Person und Passion bei Schelling und Nietzsche, oder: Wie ist Freiheit nach Golgatha möglich? Abstract: This paper examines Schelling’s and Nietzsche’s encounter with the speculative Good Friday of reason (“Glauben und Wissen,” 1802), a philosophical problem since the beginning of German Idealism. This encounter should lead to the resurrection of the idea of absolute freedom in the astringency of godlessness. However, as the most sublime task for philosophy, Schelling’s notion of God’s irony in the process of the incarnation of man (1832) and Nietzsche’s last note Dionysos or the Crucified (Dionysos oder der Gekreuzigte, 1888), both show how humankind can and must resurrect into the most cheerful freedom. Xavier Tilliette zum 90. Geburtstag gewidmet
Einleitung Die höchste Aufgabe […] ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein. Novalis* Dann der Mensch ist nach Himmel und Erden gemacht, […] Also hats der Mensch seim Vater gleich; sein Vater ist Himmel und Erden. Paracelsus**
Dass man auch in philosophischer Rede „das harte Wort ausspricht, dass Gott gestorben ist“¹, finden wir programmatisch am Ende der Aufklärung beim frühen Hegel in seiner Jenaer Zeit als auch am Beginn der Moderne beim späten Nietzsche in seiner Zeit in Sils-Maria. Aber gerade er belässt es nicht bei dieser auf den ersten
* Novalis, Blütenstaub , Nr. 28. Schriften, ed. by Jakob Minor, Bd. 2, Jena: Diedrichs 1923, S. 117. ** Paracelsus, Das Buch ‚Paragranum‘, II: von der astronomia, in: Das Licht der Natur, hrsg. von Siegfried Wollgast, Leipzig 1973, S. 169. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Hans-Friedrich Wessels u. Heinrich Clairmont, Hamburg: Meiner 2006, S. 490.
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Blick pessimistischen Botschaft. – So schreibt er einmal im Blick auf seine ach so aufgeklärten Zeitgenossen: „Ihr macht es euch zu leicht, ihr Gottlosen! Gut, es mag so sein, wie ihr sagt: die Menschen haben Gott geschaffen [und getötet – St.D.] – ist das ein Grund, sich nicht mehr um ihn zu kümmern?“² In ihrem gemeinsamen Jenaer Kritischen Journal der Philosophie (nach 1800) haben Schelling und Hegel einen, wie sie es dramatisch nennen, spekulativen Karfreitag angekündigt, um „die Idee der absoluten Freiheit […] in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederher[zu]stellen.“³ Meine These nun ist: Sowohl Schelling seit den dreißiger Jahren als auch Nietzsche fünfzig Jahre später, versuchen den Nihilismus denkerisch zu überwinden, indem sie neu über den Menschen als Person nachdenken. So entwirft der späte Schelling eine christologische Idee der Menschwerdung (des Logos) – modern gesagt: eine Verkörperungstheorie –, und Nietzsches letztes Wort in systematischer Hinsicht – der Übermensch – soll auch eine anthropologische Neubesinnung sein, angesichts des Umstands, dass unser ältester philosophischer Glaubensartikel – das Ich – ins Abseits gerollt ist. Und so gehört Nietzsches Inklusion Dionysos oder der Gekreuzigte (aus dem Umkreis von „Ecce homo“) auch in den Bannkreis jener philosophischen Christologie, die vom Deutschen Idealismus ihren Ausgang nimmt. Beide, Schelling wie Nietzsche, stellen sich – wie es Gottfried Benn nannte – der „formfordernden Gewalt des Nichts“.⁴ Und so beflügelte der Tod Gottes deren kognitive Phantasie. – Wie man das für heute rekonstruieren könnte, soll im Folgenden gezeigt werden in der Hinwendung zum spirituellen Ort, der mit dem Tod Gottes ursprünglich verbunden ist: Golgatha. – Das Verstehensproblem dabei ist, „das gründend Unendliche dennoch zu denken und seiner gewiss zu werden.“⁵ I. Dieser Ort der Passion soll hier nicht so sehr historisch oder geistlich thematisiert werden, als vielmehr sozusagen ‚transzendental‘, als bedingender und begründender spiritueller Hintergrund (‚Subtext‘), vor dem begriffliche wie methodische Grundstrukturen der modernen Vernunftwissenschaft (Philosophie) deutlicher werden. Denn, wie Nietzsches Zeitgenosse Maurice Blondel einmal schrieb:
Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Kritische Studienausgabe [KSA], hrsg. von Mazzino Montinari u. Giorgio Colli, Berlin und New York: de Gruyter 1988, Bd. 9, S. 611. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling / Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Kritisches Journal der Philosophie, hrsg. v. Steffen Dietzsch, Leipzig: Reclam 1981, S. 330. Gottfried Benn, Rede zur Aufnahme in die Akademie der Künste, Berlin, 5. April 1932, Gesammelte Werke, hrsg. v. Dieter Wellershoff, Stuttgart: Klett-Cotta 1992, Bd. 1, S. 438. Dieter Henrich, Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten, München: Beck 2011, S. 133.
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Die Vernunft ist naturhaft christlich; sie ist das Wort […]; die Passion war notwendig, um den [Heiligen] Geist zur Welt zu bringen, […] damit das Natürliche übernatürlich werde und am göttlichen Leben teilgewinne.⁶
Jene ‚Schädelstätte‘ ist als Pathosformel des Christentums selbstverständlich ihr markantester Glaubensort und Glaubenskern, aber darin erschöpft sich längst nicht ihre Bedeutung für lebendiges Leben & Denken. Denn:Versammelt sind hier in den Passionsverläufen auch all die ‚Zellformen‘ modernen philosophischen Denkens, das im – über die Zeiten lebhaften – historischen existenziellen Dialog mit dem Glauben entstanden ist. Das Kreuz also ist kein „isoliertes Ereignis, […] sondern das Ereignis […] durch das andere Ereignisse ihren Sinn erhalten“⁷ – zumal das Problem des Menschen, der Person, mit jener Passionsgeschichte verbunden ist. Man begreift den Menschen nur, wenn man diese Leidensgeschichte begreift und ihn selber zuallererst aus dem Leiden heraus zu verstehen in der Lage ist. Um diesen Sachverhalt nachhaltig zu markieren, ist in der jüngeren philosophischen Forschung zum Deutschen Idealismus das Wort von La Semaine Sainte des Philosophes ⁸ geprägt worden. Der Zeitraum jener heiligen Woche für die Philosophie umfasst die Karwoche – bis Ostersonntag. Es ist jene konstitutive Zeit, in der unsere mitmenschliche (soziale), moralische und epistemisch-konzeptuelle Welt ihre moderne Formbestimmtheit erhält – durch die Passion. Damit ist der grundlegende Sachverhalt symbolisiert, dass menschliches Leben von einem zentralen Widerstreit zwischen (zu erduldenden) Leiden und (aktivistischer) Leidenschaft geprägt ist, dass Leben gewissermaßen als jener – schicksalsreiche und fragile – Kreuzungspunkt zu begreifen ist, an dem sich vertikale (Leiden) und horizontale (Tätigkeit) Synergien ineinander fügen und so dasjenige konstituieren, was wir Endlichkeit und Diesseitigkeit nennen. II. Mit Golgatha, mit dem Kreuz, „dieser schauerlichsten Paradoxie“⁹ ist auch eine erste Revolution der Denkungsart verbunden, die unser bisheriges ontologisches und kognitives Verständnis von Welt verändert hat. Die Passion ist die Beglaubigung dessen, dass alles, was wir vom Wahren wissen können, nicht als das unvermittelt Wahre möglich ist, sondern weil – in der Sprache des Apostels – „niemand Gott je gesehen hat“¹⁰, ist solche Kunde nur möglich durch eine uns Maurice Blondel, Tagebuch vor Gott 1883 – 1894, hrsg. v. Peter Henrici, Einsiedeln: Johannes 1964, S. 343 [Eintrag v. 10. Febr. 1890]. Paul Tillich, Systematische Theologie II, Stuttgart: Evangelisches Verlagswerk 1958, S. 171. Vgl. Xavier Tilliettes gleichnamiges Buch, Paris: Desclée de Brouwer 1992, 156 S. – Père Tilliette ist damit zugleich auch der Begründer der Philosophischen Christologie. Nietzsche (1988), KSA, Bd. 6, S. 213. Joh. 1, 18.
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Menschen allein gegebene mögliche Identifizierungsform, d. h. durch die Subjektbzw. Erscheinungsform dieses Wahren. D.h., wenn man schon einen Urgrund (ein Absolutes) mit unserem Denken erfassen will, dann sollte man sich der Differenz gewärtig sein, nämlich, dass „dieser ewig [ist], aber [zugleich] nur in vergänglicher Erscheinung hervor[tritt].“¹¹ Also: Alle Dinge, mit denen wir zu tun haben, einschließlich unserer selbst, sind sozusagen von abkömmlicher und nicht unmittelbarer Natur, in der Sprache des NT: „niemand kommt zum Vater außer durch mich.“¹² Das hat Folgen für uns und unseren Umgang mit dem Bau der Welt. Zuerst natürlich für das, was wir von uns selbst zu halten haben, für unseren Begriff von uns selbst, für unser Selbstbewusstsein. – Am Ende der Passionsereignisse steht mit dem Christus Jesus – in der religiösen Metaphorik: dem Sohn, dem Auferstandenen – ein Neuer Mensch auf, in dem Empirisches, Diesseitiges, Sinnliches und zugleich Transzendentes, Übersinnliches miteinander verschmolzen sind, also: Daß wir unabhängig vom Schicksal unserer Religionsbekenntnisse einen ‚philosophischen Glauben‘ bewahren sollten, also den Glauben an die Transzendenz als eine wesentliche Eigenschaft unseres Menschsein.¹³
Dieser Auferstandene, dieser Neue Mensch hat dadurch gegenüber dem vorösterlichen Menschen eine ganz neue Bindungskraft, sozusagen eine neue ‚Soziabilität‘ erhalten. Das hat Goethe schließlich auf die knappe ‚Xenien‘-Formel gebracht: „Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt uns Göttliches entzücken?“¹⁴ Als Max Klinger, von dem wir eine große Nietzsche-Stele kennen, das Golgathageschehen ins Bild brachte, schrieb er: Meine Absicht war es zu zeigen, dass der Sohn Gottes in Wirklichkeit menschliche Gestalt annahm, wie er es tat, und allem unterworfen war, dem der gewöhnliche Mensch unterliegt. Also durfte nicht das Menschliche in seiner Erscheinung hinter dem Göttlichen zurücktreten.¹⁵
Friedrich Hebbel, Tagebücher, Bd. 4, 1854– 1863, hrsg. v. Richard Maria Werner, Berlin: B. Behr’s Feddersen 1905, S. 91 [Eintrag v. 21. Nov. 1856]. Joh. 14, 6. Czesław Miłosz, „Was habe ich von Jeanne Hersch gelernt?“ In das und andere Gedichte, München: Hanser 2004, S. 58. Johann W. Goethe, Zahme Xenien III. Goethes Werke, hrsg. v. Grossherzogin Sophie v. Sachsen, I. Abt., Bd. 3, Weimar: Böhlau 1890, S. 279. Julius Vogel, Max Klingers Kreuzigung Christi, Leipzig: Seemann 1920, S. 15.
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Durch die Resurrektion also formt sich nämlich im Auferstandenen ein neues Selbstverhältnis. War der Mensch bisher nur ein äußerlich und sinnlich mit anderen verbundener Einzelner, dessen Bindungen sich durch Blutsbande, Familienund Clanstrukturen, letztlich völkische Zusammenhänge, definieren, und in denen beliebige Ältere, Brüder, Väter, Oberhäupter, Könige etc. die jeweilige normative und axiologische Kompetenz beanspruchen konnten, so wird diese Kontingenz jetzt – nach der Auferstehung – überwunden. „Sie feiern die Auferstehung des Herrn“, heißt es im Faust: Denn sie sind selber auferstanden, Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden Aus dem Druck von Giebeln und Dächern […] Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht Sind sie alle an’s Licht gebracht.¹⁶
Der neue Mensch hat nicht mehr bloß zufällig diesen oder jenen Vater, sondern einen sozusagen einzigen, ideellen ‚Gesamt‘-Vater. Und im Subjekt, im (bislang) nur als empirischen Körper wahrgenommenen Menschen, bildet sich auch ein neuer ideeller Gesamtkörper – das ‚transzendentale Subjekt‘ wird man das später einmal nennen – , sodass der Neue Mensch nicht mehr nur äußere, anschauliche, empirische Anerkennungs-Verhältnisse zu anderen einzugehen hat, sondern zuallererst selber ein Selbstverhältnis ausweist und bildet: „Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit.“¹⁷ – In der neutestamentlichen Sprache heißt das: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus.“¹⁸ – Oder, wie ein literarischer Schlüsseltext der Moderne diese Botschaft weitergibt: In dieser „neuen Daseinsweise und neuen Umgangsart, die sich Reich Gottes nennt, gibt es keine Völker, sondern nur Persönlichkeiten.“¹⁹ Jetzt gibt es zwischen den Menschen nicht mehr eine bislang dominierende tribalistische, mehr oder weniger große Distanz und Ferne (je nach zufälliger Clanbzw. Sippen- oder Volkszugehörigkeit), sondern Jeder ist jetzt Jedem der Nächste, der Gleiche, da wir alle die gleiche Abkunft haben und im selben (göttlichen)
Goethe (1890), I. Abt., Bd. 14, S. 50. Aurelius Augustinus, Über die wahre Religion, hrsg. v. Wilhelm Thimme, Kap. XXXIX.72, Stuttgart: Reclam 1991, S. 123. – Vgl. neuerdings dazu: Paul Ziche, „Der Mensch als Modell des Menschen“, in: Metapherngeschichten, hrsg. v. Matthias Kroß u. Rüdiger Zill, Berlin: Parerga 2011, bes. S. 214 f. Galater 3, 28. Boris Pasternak, Doktor Schiwago, Frankfurt/M.: Fischer 1992, S. 167 f.
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Horizont zueinander stehen. – Im Unterschied dazu ist eben beispielsweise „‚der Nächste‘ im jüdischen Sinn (‚nur‘) der Glaubensgenosse“²⁰, und Muslime halten für den, der keiner ist, den Titel des Ungläubigen bereit. Diese Konstruktion des Anderen als Nächstem – im Modus der ‚Sohnschaft‘ – hat eben zur Folge, dass der Andere nicht mehr bloß ein kontingent Anderer ist, den ich bloß aus kontingenten (z. B. moralischen) Gründen wie meinesgleichen behandle, sondern es entsteht jetzt damit – kreuzesphilosophisch – die Idee der Menschheit. Es ist dies der Allem zugrunde liegende kairós, mit dem dann Hyperions alte Klage verklingen kann: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen.“²¹ Es führt dies also anthropologisch zu einer, wie Nietzsche schreibt, „Lehre vom Menschen überhaupt als dem ‚Sohn Gottes‘“²² und damit aber zur Überwindung der natürlichen Vorstellung, dass die unzählig vielen empirischen Einzelindividuen sich ein je – notgeborenes – schutzheischendes Verhältnis zu Gott einzubilden glauben. Diese naturalistische Volksfrömmigkeit vergisst dabei das Entscheidende, nämlich dass „das Christentum das Mysterium der Persönlichkeit ist“ und nur so „für den Menschen Sinn gewinnt.“²³ Indem ich jetzt beispielsweise einen anderen belüge, so verletze ich nicht mehr bloß eine (vielleicht auch zentrale) Regel des vernünftigen Miteinanderlebens, sondern vielmehr begehe ich damit, wie Kant sagt, „ein Unrecht, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird.“²⁴ – Das ist der nach Golgatha neue anthropologische Hintergrund, vor dem eine bisher ganz undenkbare ethische Idee, wie die der Feindesliebe, nicht mehr bloß ein Sollsatz, nicht lediglich ein moralisches Gebot sein kann. Vielmehr ist für den Menschen- bzw. Völkeralltag also vom Kreuz zu lernen, dass z. B. Frieden als rechtsförmige, d. h. zwischen Gleichen vereinbarte, vernünftige, d.i. berechenbare und auch zumutbare Verhaltensform möglich wird,weil es einen neuen anthropologischen – und nicht nur moralischen oder politischen – Grund dafür gibt.
Friedrich Nietzsche, Arbeitshefte. Kritische Gesamt-Ausgabe [KGW], hrsg. von Mazzino Montinari u. Giorgio Colli, IX. Abt., hrsg. von Marie-Luise Haase u. Martin Stingelin, Bd. 7, Berlin / N.Y.: de Gruyter 2008, Arbeitsheft W II, 3, S. 13. Friedrich Hölderlin, Hyperion, Sämtliche Werke u. Briefe, hrsg. von Günter Mieth, Berlin / Weimar: Aufbau 1970, Bd. 2, S. 262. Nietzsche (2008), KGW, IX, 7, S. 86. Pasternak (1992), S. 168. Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, in: Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. von Kgl. Akademie der Wissenschaften [AA], Berlin: Reimer 1912, Bd. 8, S. 426.
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III. Man wird in den anthropologischen Implikationen von Golgatha rechtens Konstellationen erkennen können, in denen – mit modernen Termini gesprochen – der empirisch-sinnliche Mensch als abhängiges Gemeinschaftswesen sich transformiert in eine je individuell-interindividuelle Person. Es impliziert dies ein neues Begreifen des Menschen, nämlich die Einsicht in die „Zweieinigkeit des Menschen“, dessen kulturelle Chiffre bei den Griechen das „Doppelschicksal des Dionysos, in den Evangelien die Zwienatur Christi“²⁵ ist. Diese neue, moderne Lebensform hat Kant als „Antagonism der ungeselligen Geselligkeit“²⁶ identifiziert und damit für unser künftiges Denken über den Menschen die neue Perspektive eröffnet, „dass Person primär schon intersubjektiv zu dechiffrieren ist.“²⁷ Die ehedem fraglos vorteilhafte Idee einer die Menschen behütenden (überschaubaren) äußeren (völkischen, nationalen) Gemeinschaft wird überwunden zugunsten eines nicht mehr sinnlich erfahrbaren internen Selbstzusammenhangs des Menschen. Es ist nämlich – nach Golgatha – „Jesus auch zum Bürgen eines besseren Bundes geworden“²⁸, der nichts anderes ist als,wie es dann exemplarisch bei Goethe heißen wird, die „durch Christum wiederhergestellte […] Menschheit.“²⁹ Sie ist bestimmt als der neue Bund des Menschen mit sich selber, mit seinesgleichen. – Oder von heute her in den Worten von Gilles Deleuze: „Durch seinen Tod scheint Christus vom jüdischen Gott unabhängig zu werden: er wird universell und ‚kosmopolitisch‘.“³⁰ Das aber ist der christologische Hintergrund, vor dem man jetzt die Differenz von – modern gesprochen – ‚Gemeinschaft‘ versus ‚Gesellschaft‘ schon denken kann. „Indem er von einem neuen Bund spricht“, nämlich Christus als sein Vermittler, „hat er den ersten für veraltet erklärt. Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe.“³¹ IV. Diese neue Situation birgt nun keineswegs per se schon eine neue Heilsgewissheit in sich. Sie ist lediglich die Bedingung der Möglichkeit, dass, wenn das Kreuz einen neuen Menschen stiftet, der auch eine ganz neue Denk- und Verkehrsform ausweist: Freiheit nämlich. Von allem Anfang an – „wo der Geist des
Friedrich Gundolf, George, Berlin: Georg Bondi 1920, S. 163. Kant (1912), AA, Bd. 8, S. 20. Jacob Taubes an [Carl] Schmitt / Peter Glotz, v. 20.11.1979, in: Jacob Taubes – Carl Schmitt. Briefwechsel mit Materialien, hg.v. Herbert Kopp-Oberstebrink, Thorsten Palzhoff, Martin Treml, München: Wilhelm Fink 2012, S. 188. Hebräer 7, 22. Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hrsg. von Siegfried Seidel, Leipzig: Insel 1977, Bd. 1, S. 812. Nietzsche, ein Lesebuch von Gilles Deleuze, Berlin: Merve 1979, S. 47. Hebräer, 8, 13.
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Herrn wirkt, da ist Freiheit“³² – bis in den Umkreis der kulturellen Geburt unserer Moderne im goethezeitlichen Deutschen Idealismus ist dieser Sachverhalt das philosophische Axiom, aus dem alles andere erst folgt, mit Schellings Schlüsselsatz von 1830 gesagt: „Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes.“³³ Freiheit – und mit ihr das selbsttätige (personale) Individuum – gewährt natürlich niemals wieder die alte Bindungs- und Gefolgschaftskraft der vorösterlichen (Gruppen‐)Gemeinschaftlichkeit. Dieser mit dem Freiheitsgewinn einhergehende Verlust ist also nicht erst der sogenannten Korruptibilität moderner, laizistischer, hedonistischer Gesellschaften geschuldet, sondern eben: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“³⁴ Freiheit ist also keine Hoffart unserer Spätkultur, sondern jene Hoffnung, ja Verheißung, mit der unsere (christliche) Art, neu zu leben – als Freier, als personal Einzelner – überhaupt angetreten ist. Das ja war es, was der Großinquisitor bei Dostojewski dem überraschend inmitten der christlichen Hochkultur wieder auftauchenden Christus Jesus verstört entgegenhält, dass der nämlich von allem Anfang an immer nur eines gewollt habe – eben „Freiheit, die du höher stelltest als alles andere. […] Du mehrtest noch der Menschen Freiheit, statt sie einfach an dich zu nehmen!“³⁵ Hier wird – von diesem von Nietzsche so hochgeschätzten literarischen Zeitgenossen – eben eine der frühesten Botschaften des Nazareners, die uns in der Erzählung von der Versuchung Jesu übermittelt wurde, referiert: weder Schutzversprechen (‚alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst‘)³⁶, noch Selbstüberhebung (‚bist du Sohn Gottes, so stürze dich hinab‘)³⁷, aber auch nicht soziale Sicherheit (‚befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird‘)³⁸, die Jesu frenetische Gefolgschaft gesichert hätte, waren akzeptable Motive, um derentwillen Jesu mit den Menschen ins Gespräch und in Verbindung kommen will. Sondern das soll geschehen allein durch etwas so Unsinnliches, vorderhand Unpraktisches und Unsicheres wie eben durch die Erinnerung an deren Freiheit als ihr eigentliches gottähnliches Vermögen. „Der Heiland ist vom Kreuz nicht herabgestiegen,
2 Korinther 3, 17. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung (Urfassung), hrsg. von Walter E. Ehrhardt, Hamburg: Meiner 1992, S. 79. Galater, 5, 1. Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasoff, hrsg. von Karl Nötzel. Sämtliche Romane u. Novellen, Leipzig: Insel 1921, Bd. 23, S. 464 f. Matth. 4, 9. Matth. 4, 6. Matth. 4, 3.
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weil er […] durch ein äußeres Wunder bekehren wollte, sondern weil er gerade die Glaubensfreiheit wollte.“³⁹ Dieses neue Glaubensgut – der Gekreuzigte: „für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit“⁴⁰ – überwindet also alle bisherige gesetzesförmige Religiosität, bei der Glauben und Glaubenstreue an tagesausfüllende Vorschriften gebunden waren. Das betrifft bei dergleichen Religionen immer sowohl äußere Alltagsformen (Bekleidung, Begleitung, Beköstigungen) der Gläubigen als auch hochkontrollierte Gefolgschafts- und Begegnungsrituale in der Kommunikation untereinander und mit Fremden. Und natürlich betrifft das dort die straf-(ja todes‐) bewährte Irreversibilität des einmal bekundeten Credos. Am Ende der Aufklärung kommt man deshalb zu der generellen Auffassung, „dass Religion nie auf Satzungen (so hohen Ursprungs sie immer sein mögen) gegründet werden könne.“⁴¹ Die so erzeugte Freiheit ist allerdings als eine nachhaltige Ausstattung für den Menschen zu begreifen, die dann erst im Deutschen Idealismus systematisch aufgedeckt wird. Denn hier wird sie nicht als etwas bloß ‚Kognitives‘ (Wissen) begriffen, sondern als derjenige praktische Verkörperungsmodus, als dessen Resultat ein ‚Neuer Mensch‘ (Mensch-als-des-Menschen-Nächster) autopoeitisch erzeugt wird, und der in der Golgathaerzählung seine sozusagen vernunftmythologische Anschauungsform ausweist: „Alßo soll ein Christen mensch / wie Christus seyn“⁴², so Luthers Freiheitstheologie, d. h. ein leiblich Körper zwar, aber (gottesabkömmlich) mit überleiblichen, spirituellen Vermögen. Namentlich dessen Logos-Kompetenz ist das beseelende,verbindende,vermittelte – analogische – Prinzip, das in der Metapher der Gottesbildähnlichkeit des Menschen (imago dei) anschaulich wird. Dass wir als Menschen freie sind, verbindet uns, und verdanken wir unserer göttlichen Verwandtschaft: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung.“⁴³ Das wird namentlich für alle Darstellungspraktiken relevant, wie es schon Hegel bemerkte: Indem
Fjodor Dostojewski, Notierte Gedanken [1880], in: Sämtliche Werke, hrsg. v. Moeller van den Bruck, II. Abt., 12. Bd., München: Piper 1921, S. 351. 1 Kor 1, 23. Kant (1912), AA, Bd. 7, S. 36. Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, hrsg. v. L. E. Schmitt, Halle: Niemeyer 1953, S. 71. – Vgl. auch Jens Wolff, „Martin Luthers ‚innerer Mensch‘“, in: Lutherjahrbuch 75 (2008), S. 31 ff. 2 Kor 5, 17.
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das wirkliche Subjekt die Erscheinung Gottes ist, gewinnt die Kunst jetzt erst das höhere Recht, die menschliche Gestalt und Weise der Äußerlichkeit überhaupt zum Ausdruck des Absoluten zu verwenden.⁴⁴
V. Diese neuen geschichtlichen und spirituellen Chancen mit dem Kreuz hatten jedoch auch sofort zur Folge, dass es fortan aber – schon sprichwörtlich – ein Kreuz ist mit der Freiheit. Diese ursprüngliche Freiheit ist – von einem bemerkenswerten Dichter der frühen Moderne – nicht nur als persönliche Freiheit (Libertinage) oder bloß politische Freiheit (Rechtsstaatlichkeit) bestimmt worden, sondern exklusiv als: „Die Freiheit ist mein Abgott heut.“⁴⁵ Es ist der Fortgang im Bewusstsein der Freiheit nun beileibe nicht ungefährdet und auch keineswegs unumkehrbar. „Die ganze moderne Bewegung der Wissenschaft und des Fortschritts“, so ist es am Beginn der Moderne beschrieben worden, „ist aus dem Christentum hervorgegangen und wendet sich jetzt gegen ihren Ursprung zurück.“⁴⁶ Umso bedeutsamer sollte es gegenwärtig werden, sich dem Geist – nicht nur dem Symbol – des Kreuzes auch wieder philosophisch zuzuwenden, gerade „inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt.“⁴⁷ Angesichts einer alltagskulturellen Drift hin zu einer Dekonstruktion von Hochreligionen durch einen globalen, unübersichtlichen Markt mit Glaubensgütern, ist das gerade als eine Herausforderung zu begreifen, wie unabgeschlossen die Hermeneutik des Kreuzes eben ist und was uns bei einer erneuten kognitiven Begegnung mit dem Kreuz wieder einsichtig werden kann. Und es bleibt einer sich stets selbstbefragenden Philosophie vorbehalten, sich ihrer Erkenntnis- und Objektivitätskompetenz aus ihrer Herkunft und ihren ursprünglichen Denkhorizonten zu versichern. Ihre nur auf den ersten Blick frappierende Affinität zu Christus und zur Christologie resultiert nämlich aus einem ihrer Hauptprobleme, der Frage nach dem Verhältnis vom Absoluten zum Endlichen. Darauf ist gerade jüngst wieder verwiesen worden (von Rorty und Vattimo), als der philosophisch entscheidende Kern der Passions- und Heilsgeschichte so
Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 14, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 131. Alexander Puschkin an Anton A. Delwig, v. 23. März 1821, in: Alexander Puschkin, Briefe, hg.v. Harald Raab, Berlin: Aufbau 1973, S. 19. Blondel (1964), S. 337 [Eintrag v. 30. Jan. 1890]. Nietzsche (1988), KSA, Bd. 2, S. 117.
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identifiziert wurde: „Die Menschwerdung war ein Akt der kénosis“⁴⁸, „jener Akt, in dem Gott alles in Menschenhand legte.“⁴⁹ Das Kenosis-Problem ist verknüpft mit einem Brief von Paulus, der über den Tod am Kreuz an die Philipper geschrieben hatte: Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war: welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, nahm ers nicht als einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und […] als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist.⁵⁰
Das philosophisch Interessante am Kenosis-Problem ist die begreifbar werdende Erzeugung eines Neuen Menschen, nämlich die Auffassung, dass hier das – menschgewordene – Wort göttliche wie irdische Perspektiven zugleich aufweist. Wie auch schon Luther bekundet, „dass Christus ein pur Mensch und zwo Personen sey.“⁵¹ Es ist die Kenosis, also das Verfahren der Selbstverwandlung Gottes, seiner Selbstentäußerung, wie er „den Logos Mensch werden“⁵² lässt. Diese Metamorphose in den ‚Neuen Menschen‘, in die Person Christi, wird konstitutiv gewissermaßen in Freund-Feind-Bildern erzählt. In Bildern der Erniedrigung und Demütigung des Einen durch den Anderen. Dadurch aber kann uns auch klar werden, dass wir selber, die wir – golgathagestählt – als ‚Neue Menschen‘ ein paradoxes Selbstverhältnis aufweisen, uns selber zugleich Freund-Feind sind, fähig zugleich zum Guten wie zum Bösen. Eines der Probleme, die hieraus entstehen, ist: nur über die Wirklichkeit und den Gedanken der Sohnschaft ist uns Gott philosophisch präsent (und interessant), nicht in der, womöglich noch als eigentlich vermuteten, ‚Hinterwelt‘ der Transzendenz, die, man weiß nicht recht wie, mit irgendeiner rezeptiven Sonderbegabung zu erreichen wäre. Es wird deutlich werden, was die Selbstpreisgabe, die Selbstentäußerung (ipsa exinanitione existit), das Sich-selbst-weggeben Gottes in einen Menschen dann für
Vgl. jüngst: René Girard / Gianni Vattimo, Christentum und Relativismus, Freiburg / Basel: Herder 2008, S. 77 f. Richard Rorty / Gianni Vattimo, Die Zukunft der Religion, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 41. Phil. 2, 5 – 9. Martin Luther, Von den Konziliis und Kirchen [1539]. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), I. Abt.: Werke, Bd. 50, Weimar: Böhlau 1914, S. 589. Hans Urs v. Balthasar, Theologie der drei Tage, Einsiedeln / Freiburg: Johannes 1990, S. 29.
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den Menschen bedeutet: „Und ich spreche eine Sprache, in der Gott Mensch bedeutet und Mensch Gott.“⁵³ Erst so ist ein zugleich von Himmelwärtsstreben und Abgründigkeit – wovon alle Literatur erzählt – begreifbar. „Ich staune“, so wundert sich einmal Oscar Wilde über die kenotische Blindheit eines Kommilitonen, „dass Du die Schönheit und Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes nicht erkennst, die uns helfen soll, den Mantelsaum des Unendlichen zu fassen.“⁵⁴ VI. Und nichts anderes sollte den Neuen – Tollen – Menschen Nietzsches auszeichnen. Eines ist von ihm jedoch von Anfang an zu sagen: Der Übermensch wird nach Nietzsche nicht etwa zynisch oder kriminell konstituiert,⁵⁵ der ‚mehr‘ dürfen darf als ‚gewöhnliche‘ Menschen, sondern er wird kenotisch konstituiert, der dann ‚mehr‘ ist, als nur ein empirisch-naturales Wesen. Denn er hat wie „Christus eine Logos- und eine Erosseite. Nietzsche ahnte diese Synthese […] als er sich Dionysos – der Gekreuzigte unterschrieb.“⁵⁶ Wir kommen dem ‚Übermenschen‘ also nicht durch sozialpsychologische, soziologische oder historische Tribunalisierung (um ihn etwa als ‚rassistisch‘ zu identifizieren) auf die Spur, sondern eben nur – christologisch – durch Kenosis. Er begegnet uns auf den ersten Blick natürlich als ein von uns ganz Verschiedener, als Fremder; nicht zufällig allerdings war auch der Erste, der einen gesehen hatte, der ‚Ungläubige Thomas‘.⁵⁷ Die Fremdheit dieses Neuen Menschen, des Egotisten, wie ihn Stendhal nennt, in der alten Menschenwüste hat eindrucksvoll auch Honoré Daumier⁵⁸ in Ecce Homo (1851) festgehalten. Mit dieser nachösterlichen Neuen Subjektivität wird unser anthropologisches Wissen erweitert, nämlich: der starre Dualismus von (transzendentem) Gott und (diesseitiger) Welt wird durch diesen Kenosis-Vorgang sozusagen dynamisiert und vor allem anthropologisiert, d. h. es wird nur so begreifbar, wie das Absolute, der Logos, Gott in Christus konkret in der Geschichte erscheint. – Es bleibt also
Søren Ulrik Thomsen, Lissabon, in: FAZ, v. 28. Febr. 2011. Oscar Wilde an William Ward, v. 25. Juli 1876, in: Vyvyan Holland, Erbe eines Urteils, Wien / München / Zürich: Hermes 1955, Anhang: S. 276. Wie das prototypisch in Hitchcocks Film Rope (1948) nahegelegt wird. Oscar A.H. Schmitz, Wespennester, München: Musarion 1928, S. 177. – Vgl. auch seinen Essay Ecce superhomo, in: Oscar A.H. Schmitz, Brevier für Einsame, München: G. Müller 1923, S. 227– 239. Vgl. Joh. 20, 24– 28. – Der Moment des Erkennens des Neuen Menschen ist an Caravaggios Gemälde Der ungläubige Thomas (1602) urbildlich festgehalten. „Daumier war der Größte“, so bekannte es Auguste Rodin, „aber es fehlte ihm die Gunst der Umstände; die Narren hielten ihn für einen Karikaturisten; er hat ihnen zuliebe nie bedeutend getan.“ (Vgl. Carl J. Burckhardt, Reden und Aufzeichnungen, Zürich: Manesse 1952, S. 282)
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philosophisch die Erinnerung an Golgatha, „dass die Geschichte Jesu […] als Aufdeckung der Situation des Menschen und seiner Welt überhaupt erschien.“⁵⁹ Es ist also das Kreuz – „das Zeichen des Menschensohns“⁶⁰ – „das Woraufhin aller personalen und sozialen menschlichen Existenz.“⁶¹ Wenn also die zentralen und maßgeblichen Dimensionen des Kreuzes auf die Passionsabkunft des Menschen verweisen, auf (a) das Drama des Menschen, (b) die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis und (c) den Abgrund dessen, was seine Freiheit ist, so ist die Wahrheit über den Menschen seine konstitutive Paradoxie, die ein Zeitgenosse Schellings in die Verse brachte: Voraus kommt eine Bitterkeit gegangen, Zwo Bitterkeiten gehn dir zu den Seiten, Und eine folgt den Spuren deiner Füße. O du mit Bitterkeiten rings umfangen, Wer dächte, dass mit all den Bitterkeiten Du doch mir bist im innern Kern so süße.⁶²
Wolfgang Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997, S. 187. Matth. 24, 30. Hans Urs v. Balthasar, Mysterium Paschale, Leipzig: St. Benno 1984, S. 17. Friedrich Rückert, Amara, bittre, was du thust, ist bitter [1812], aus: Amaryllis. Ein Sommer auf dem Lande, Nr. 21 [1834], in: Friedrich Rückerts Werke in sechs Bänden, hrsg. von Conrad Beyer, Bd. 1, Leipzig: Max Hesse 1900, S. 273.
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Eine existenzphilosophische Gefühlsethik? Versuch über Angst und Verzweiflung bei Kierkegaard Abstract: The human being, as explicitly addressed by existentialism, can be understood as a being who precedes his essence. In Kierkegaard, this factum is characterized by another, namely that the human being commences as an event of hereditary guilt. Thus, if it is possible to speak of an ethics in Kierkegaard, it should be an ethics of guilt. I will argue that since ethics relies on universal principles, an ethic of guilt should address the universality of unfulfilled obligations. Guilt then is an expression for the ‘ought’ and thus it is only accessible if one is aware of one’s own guilt. Therefore, the ethical principle that Kierkegaard has left us with is not a principle for a life in community, but a principle of self-determination or autonomy in the extreme sense, where the issue is simply “the relation that relates itself to itself”.
Einleitung Kierkegaards Auseinandersetzung mit der Ethik betrifft nicht nur seine Gedanken zum ethischen Existenzstadium des Menschen. Kierkegaard stellt auch metaethische Überlegungen zur Frage an, was die eigentliche Aufgabe der Ethik sei und wo ihre Grenzen liegen. In der Einleitung zu seiner Monographie über den Begriff Angst (1844) hat er die Ethik als eine Wissenschaft bezeichnet, die für eine Behandlung der Problematik der Sünde infrage kommt. Er kontrastiert diese besondere Auffassung der Ethik jedoch mit dem traditionellen Verständnis, in dem gemeinhin die Idealität, d. h. das allgemeine Sollen, bestimmt wird. Er kritisiert die letzte als eine ideale Wissenschaft, die „die Idealität als Aufgabe“ zeigt und voraussetzt, dass „der Mensch im Besitz der Bedingungen sei“¹. Gerade deswegen, meint er, sei die Ethik ohnmächtig gegenüber der Problematik der Sünde. Der Grund liegt im Umstand, dass die Sünde mit der Idealität der Ethik im Konflikt stehen muss. Eine Wissenschaft, die Auskunft darüber gibt, „was wir tun sollen“, darf nicht einfach voraussetzen, dass jeder Mensch sündigen muss. Das würde die Gültigkeit des gesamten Sittengesetzes zerstören, auf dem die Verantwortlichkeit des Menschen für die eigenen Handlungen beruht. Dieses Dilemma, glaubt
Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, Übers., mit Einl. u. Kommentar, hrsg. von Hans Rochol, Hamburg: Meiner 1984 [1844], S. 13.
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Kierkegaard,vermag die Ethik als die Wissenschaft, die ein ideales Sollen aufzeigt, nicht zu bewältigen. Um aus diesem Zwiespalt herauszukommen, schlägt Kierkegaard eine „neue Wissenschaft“ vor, die er als „zweite Ethik“ bezeichnet. Diese neue Fassung der Ethik unterscheidet sich von der vorherigen in dem Sinne, dass sie den immanenten Bereich des normativen Sollens durchbricht und zur Wirklichkeit der Sünde transzendiert. Das bedeutet, dass sie von der Wirklichkeit ausgehen und das Vorhandensein der Sünde voraussetzen soll. Kierkegaard äußert sich dazu folgendermaßen: Die neue Ethik setzt die Dogmatik voraus und mit ihr die Erbsünde und erklärt nun aus ihr die Sünde des Einzelnen, während sie zugleich die Idealität zur Aufgabe macht, jedoch nicht in Bewegung von oben nach unten, sondern von unten nach oben.²
Die Aufgabe der Ethik liegt laut Kierkegaard demnach nicht mehr darin, die Wirklichkeit zu idealisieren (von oben nach unten), vielmehr muss zuerst die Wirklichkeit der Sünde als solche eingeräumt werden, und von dieser ausgehend muss ein Idealisierungsprozess eingeleitet werden. Trotzdem macht die neue Ethik „zugleich die Idealität zur Aufgabe“, d. h. sie erhebt immer noch Anspruch auf Normativität.³ Das Gesollte, das in dieser Normativität ausgedrückt wird, muss aber in einem bestimmten Prozess, in dem die Wirklichkeit der Sünde gesetzt wird, erfüllt werden. Die Kierkegaardsche Ethik fängt mit der Wirklichkeit der Sünde an. Die Existenz des Menschen ist – an Sartres allseits bekannte Formel anlehnend – von Beginn an dazu verurteilt, schuldig zu sein. Der Begriff „Schuld“ kann zunächst eine allgemeine Verpflichtung bedeuten. Häufiger bezieht er sich aber auf die Schuld im konkreteren Sinne: das Gesollte, das unerfüllt ist, und die Verantwortung dafür. Sie ist normalerweise das Ergebnis einer Tat, die als moralisch verwerflich angesehen wird.⁴ Wenn man hier den Begriff der Verantwortung heranzieht und diesen mit dem der Schuld vergleicht, ist es naheliegend festzustellen, dass die Verantwortung ein sachlicher Begriff ist, der sich auf die Zukunft richtet,während die Schuld eher auf die Vergangenheit bezogen ist, auf eine schon begangene Tat. Man sagt, „er hat Schuld daran“, oder, „er ist schuldig“. „Schuld“ Ebd., S. 18. Ronald M. Green hat genau auf diese Pointe hingewiesen. Vgl. Ronald M. Green, „The Limits of the Ethical in Kierkegaard’s The Concept of Anxiety and Kant’s Religion within the Limits of Reason Alone,“ in The Concept of Anxiety, hrsg. v. Robert L. Perkins, Macon, Georgia: Mercer University Press 1985 (International Kierkegaard Commentary, vol. 8), S. 63 – 87. Ausführliche Differenzierung zur Zweideutigkeit der Schuld vgl. Dietmar von der Pfordten, Normative Ethik, Berlin: De Gruyter 2010, S. 352 ff.
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ist ein pejorativer Begriff. Die Schuld, die der Mensch gegenüber Gott (in Kierkegaards Worten: „vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott“⁵) hat, wird als Sünde bezeichnet. Eine Auskunft über das allgemeine Sollen, wie man sie von der Ethik erwartet, soll folglich auch die neue Ethik geben. Es ist aber die Allgemeinheit der unerfüllten Verpflichtungen, auf die sich eine „Schuldethik“⁶ bezieht. Das Gesollte in einer Schuldethik ist zugleich das Geschuldete. Dieses ist einem nur dann zugänglich, wenn man sich der eigenen Schuld bewusst ist. Nach dieser allgemeinen Betrachtung soll versucht werden, in Bezug auf zwei zentrale Gefühle,⁷ nämlich Angst und Verzweiflung, die Kierkegaard jeweils in Der Begriff Angst (1844) und Die Krankheit zum Tode (1849) thematisiert, dieser Schuldethik Kontur zu verleihen. Zu betrachten ist dabei das Verhältnis der beiden Gefühle zur Schuld und zum Geschuldeten. Die Rolle der Gefühle im Moralleben des Menschen haben auch klassische Moralphilosophen wie Hume und Hutcheson angesprochen.⁸ In der Forschung zur Existenzphilosophie stehen bestimmte Gefühle zwar von Anfang an im Zentrum, jedoch ist bisher kaum ein Blick auf den meta-ethischen Aspekt geworfen worden.
Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Übers. u. mit Glossar, Bibliogr. sowie e. Essay „Zum Verständnis d. Werkes“ hrsg. von Liselotte Richter, 2. Aufl., Hamburg: Europ. Verl.Anst. 1995 [1961], (Werke/Søren Kierkegaard; 4) (Eva-Taschenbuch; 24) S. 73. Im Folgenden werde ich die von Kierkegaard vorgeschlagene Ethik vorläufig als Ethik der Schuld oder Schuldethik bezeichnen. Allerdings hat Kierkegaard kein einziges Werk geschrieben, in dem es ausschließlich um Ethik geht. Nichtsdestoweniger kann man in den einschlägigen Texten die Kontur einer bestimmten Ethik vorfinden, deren Ausformulierung nicht unbedingt vollständig ist. Wichtig ist, dass darin die von ihm behandelte zentrale Problematik angesprochen wird, die auch im kardinalen Verständnis der Ethik eine Rolle spielt. Da aber im vorliegenden Text hauptsächlich seine meta-ethischen Gedanken behandelt werden, wird ausschließlich die Problematik in Betracht gezogen, dass und wie ein Gefühl wie das der Angst oder Verzweiflung als Bedingung der Möglichkeit des richtigen Selbstverhältnisses eines Menschen, das die ethische (und religiöse) Existenz seinesgleichen ermöglicht, bei Kierkegaard ins zentrale Problemfeld kommt. Ob die existenzielle Angst auch als ein Gefühl im psychologischen Sinne einzuordnen ist, habe ich in einem Konferenzbeitrag für die Hong Kong Chinese University ausführlich analysiert: Deng Zhang, „Angst als Gefühl bei Kierkegaard,“ in Idealismus und Idealismuskritik: Subjekt, Person und Zeit, hrsg. von Hans Feger und Tze-Wan Kwan, Würzburg: Königshausen & Neumann (im Druck). Zur Geschichte der Gefühlsethik vgl. Sabine A. Döring, „Die Moralität der Gefühle: Eine Art Einleitung,“ in Die Moralität der Gefühle, hrsg. von Sabine A. Döring und Verena Mayer, Berlin: Akad.-Verl. 2002, (Deutsche Zeitschrift für Philosophie: Sonderband; 4) S. 15 – 38.
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I Angst Eine Ethik mit der allgemeinen Sündigkeit zu beginnen, konfrontiert mit dem Problem: Wer hat Schuld daran, dass jeder Existierende gesündigt haben muss? Es ist dies eine Kardinalfrage der Theodizee, die Kierkegaard zwar angesprochen hat, jedoch nicht dogmatisch behandeln wollte.⁹ Die Sünde eines jeden Menschen ist durch die Erbsünde zu erklären, aber nicht zu begründen.¹⁰ Die Sünde begründen zu können, würde bedeuten, dass ihr ein ausreichender Grund zugeschrieben werden kann, eine Ursache, die außerhalb ihrer selbst liegt. Das würde wiederum zur Heteronomie des Sündenfalls führen, sodass dem Menschen die eigene Verantwortung dafür abgesprochen werden müsste. Die Schuld für den Sündenfall außerhalb des sündigenden Individuums zu suchen, würde den Schuldcharakter der von Kierkegaard aufgestellten Ethik verfehlen. Kierkegaard schlägt vor, diesem Problem im Zuge eines Approximationsprozesses zu begegnen, der psychologisch beschrieben werden muss.¹¹ Die Psychologie – worunter er die Beschreibung des „subjektiven Geists“ versteht – kann die „disponierende Voraussetzung, die reale Möglichkeit der Sünde“¹², erklären. Sie hat jedoch methodisch gesehen ihre eigene Grenze. Als Vorbereitung für die neue Ethik betrifft die psychologische Erklärung nur die subjektive Möglichkeit des Sündenfalls. Die Wirklichkeit der Sünde, die Tatsache, dass jemand sündigt, liegt außerhalb des Bereichs der Psychologie und unterliegt der freien Entscheidung eines jeden Individuums. Im Zuge dieser Gedanken kommt der Begriff der Angst ins Spiel. Anders als der Begriff der Begehrlichkeit (concupiscentia), der selbst bereits eine Bestimmung der Schuld darstellt, kann der Begriff „Angst“ lediglich eine psychologische Zwischenbestimmung auf dem Weg einer Erklärung sein.¹³
Zu Beginn des Hauptteils hat Kierkegaard darauf hingewiesen, dass eine dogmatische Behandlung das Problem verfehlen muss, da sie die Sünde jedes Einzelnen nur vermittels der Sünde von Adam erklärt. Vgl. §1 des Ersten Kapitels: „Historische Andeutungen in Bezug auf den Begriff ‚Erbsünde‘,“ in Søren Kierkegaard (1984), S. 23 – 28. „Der Begriff Sünde gehört also eigentlich in keine Wissenschaft; nur die zweite Ethik kann ihr Offenbarwerden, nicht ihre Entstehung, abhandeln.“ (Søren Kierkegaard (1984), S. 19) „Dasjenige, was die Psychologie beschäftigen kann und womit sie beschäftigen kann, ist die Frage, wie die Sünde entstehen kann, nicht dass sie entsteht.“ (ebd., S. 19) Ebd., S. 19. Nach Kierkegaard ist die Angst der angemessenste Begriff für die psychologische Erklärung des Sündenfalls: „Hat nun die Wissenschaft irgendeine andere psychologische Zwischenbestimmung, die den gleichen dogmatischen und ethischen und psychologischen Vorteil hat wie die Angst, so gebe man ihr den Vorzug.“ (ebd. S. 82)
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Kierkegaard hat den Sündenfall als die Bewegung von einem Zustand zu einem anderen beschrieben. Er sei der Ausgang des Menschen aus seinem Urzustand – dem sogenannten „Default“-Zustand, um es mit einem Lehnwort aus der Computersprache zu formulieren – aus dem Zustand der Unschuld heraus. Zuerst ist es wichtig zu erkennen, dass die Unschuld eine ambivalente Bestimmung für die Ethik ist. Sie ist „keine Vollkommenheit, die man zurückwünschen sollte“, aber auch „keine Unvollkommenheit, bei der man nicht stehen bleiben kann“¹⁴. „Die Unschuld ist Unwissenheit“¹⁵, wobei es dem Unschuldigen aus seiner Sicht jedoch nicht an Wissen mangelt, da er sich der eigenen Unwissenheit noch nicht bewusst ist. Sie ist aber auch kein Idealzustand des Menschen, insbesondere im ethischen Sinne, da der Unschuld als Unwissenheit über Gut und Böse keine moralische Relevanz zugeschrieben werden kann. Im Zustand der Unschuld birgt sich schon die Angst als eine Bestimmung des „träumenden Geistes“¹⁶. Der Geist, der den Menschen zum Menschen macht, ist hierin noch nicht als solcher gesetzt. Als Instanz der Selbsterkenntnis ist der Geist im Zustand der Unschuld grundsätzlich nur eine Möglichkeit, die kraft des Gefühls der Angst entdeckt werden kann. Diesen träumenden Zustand des Geistes beschreibt Kierkegaard folgendermaßen: Der Geist ist vorhanden, aber als unmittelbar, als träumender Geist. Insofern er nun vorhanden ist, ist er in gewissem Sinne eine feindliche Macht; denn er stört ständig das Verhältnis zwischen Seele und Leib, das zwar Bestand hat, aber dennoch insofern nicht Bestand hat, als es ihn erst durch den Geist erhält. Andererseits ist er eine freundliche Macht, die das Verhältnis ja gerade konstituieren will.¹⁷
Das Verhältnis zwischen Leib und Seele kann offensichtlich nur solchen Menschen als ein unmittelbares erscheinen, die noch kein Bewusstsein von diesem Verhältnis haben. Sobald ein Bewusstsein davon besteht, ist die Differenz gesetzt, und das Verhältnis damit gestört. Den Begriff „Geist“ kann man in diesem Kontext durchaus mit „Selbstbewusstsein“ ersetzen. Sobald die Differenz gesetzt ist, muss der Geist als die Instanz des Selbstbezugs das Verhältnis zwischen beiden wiederherstellen. Kierkegaard fährt fort: Welches Verhältnis hat der Mensch denn zu dieser zweideutigen Macht, wie verhält sich der Geist zu sich selbst und zu seiner Bedingung? Er verhält sich als Angst.¹⁸
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.
S. 37. S. 37. S. 42. S. 44.
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Die Angst ist ein ambivalentes Gefühl, deren phänomenaler Gehalt die „sympathetische Antipathie und die antipathetische Sympathie“¹⁹ ist. So beschreibt Kierkegaard das Verhältnis der Angst zu ihrem Gegenstand, „zu etwas, das Nichts ist“²⁰. Zwar heißt es bei Kierkegaard, dass „das Nichts die Angst gebiert“²¹, es ist jedoch naheliegend zu sagen, dass eine reziproke Beziehung zwischen dem Gefühl der Angst und ihrem Gegenstand besteht. Die Angst entsteht,weil der Unschuldige das Nichts als Unbestimmtheit fühlt, die ihn zugleich anzieht und ängstigt. Das Nichts kann sich ihm jedoch nur erschließen, wenn er die Angst fühlt: und zwar als die pure Möglichkeit, vor unendlichen Möglichkeiten zu stehen. In der Angst sieht der Geist sich selbst als vor unendlichen Möglichkeiten stehend: Diese „Möglichkeit für die Möglichkeit“ ²² ist die Bestimmung der Freiheit bei Kierkegaard. Die Wirklichkeit der Freiheit wird damit gesetzt. Diese meint aber auch die Freiheit, die Sünde zu begehen. Dadurch, so Kierkegaard, wird die Unschuld auf die Spitze getrieben. Was noch fehlt, ist das darauffolgende Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, das die Möglichkeit der Freiheit im träumenden Geist erweckt. An diesem Punkt hat Kierkegaard mit Recht gezeigt, dass dieses erste Verbot nicht die moralisch begabten Menschen betrifft, sondern die unschuldigen, die bezüglich der Unterscheidung von Gut und Böse Unwissenden. Das Aussprechen des Verbots, das über die Möglichkeit des Sterbens aufklärt, kann Adam allerdings nicht verstehen. Es funktioniert meines Erachtens vielmehr als die erste Differenzierung für den über das Selbst noch nichtreflektierenden Geist über das, was er kann und was er nicht kann. Diese Differenzierung bringt erstmals die Kategorie des Könnens ins Bewusstsein des Unschuldigen. Und diese Kategorie ist wiederum die Voraussetzung für die Erkenntnis von Gut und Böse. Mit dieser Differenzierung ist zunächst ein Anfang gesetzt. Er ist der Beginn der bewussten Freiheit, der moralischen Befähigung des Einzelnen. Diese bildet vor allem die Basis der Selbstidentifizierung. Im Zustand der Unschuld ist kaum von einer Identität des Selbst zu sprechen, da es an jeglicher Differenzierung zwischen Gut und Böse mangelt. Ohne Identität ist jedoch kein Selbstsein möglich. Damit einher geht die Aufgabe, die Kierkegaard ausführlicher in seinem späteren Werk Die Krankheit zum Tode behandelt hat, nämlich „ein Selbst zu haben, ein Selbst zu sein“. Das ist „das größte, das unendliche Zugeständnis, das einem Menschen gemacht wurde, zugleich aber die Forderung der Ewigkeit an
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 42. S. 43. S. 41 f. S. 42.
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ihn“²³ – eine Herausforderung an den Menschen, weil alle Mühe nach einem vollendeten Selbst, so Kierkegaard, von Verzweiflung begleitet ist.
II Verzweiflung Durch die Analyse der Angst, in der die Wirklichkeit der Freiheit erschlossen wird, kommt Kierkegaard zu seiner These von der Angst als einem „selbstischen“ Gefühl: keine konkrete Äußerung der Freiheit ist so selbstisch wie die Möglichkeit zu jener Konkretion. […] In der Angst ist die selbstische Unendlichkeit der Möglichkeit, die nicht lockt wie eine Wahl, sondern mit ihrer süßen Beängstigung bestrickend ängstigt.²⁴
Dies meint, dass man im Gefühl der Angst in der extremsten Weise zu sich selbst gebracht wird, also zum unendlichen Möglichsein des Selbst, was einen zugleich anzieht und ängstigt. Jedoch wird hier das Selbstsein des Menschen noch nicht eigens thematisiert. Das Verhältnis eines möglichen Selbstseins zum menschlichen Geist als Synthese von Leib und Seele bleibt im Dunkeln. Als Kierkegaard vier Jahre später dieses Thema in Der Begriff Angst wieder aufgriff, ließ er Anti-Climacus, sein Pseudonym für dieses Buch, eine raffinierte Struktur des Selbst aufstellen. Der Mensch wird hier weiterhin als eine Synthese zwischen gegensätzlichen Bestimmungen²⁵ verstanden, die jeweils dem Leib und der Seele zugeschrieben werden können. „Die Synthese“, sagt er, „ist ein Verhältnis zwischen zweien. So betrachtet ist der Mensch noch kein Selbst.“ Das Selbst ist also „nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“²⁶.
Søren Kierkegaard (1995), S. 21. Søren Kierkegaard (1984), S. 64. In Der Begriff Angst hieß es: „Es wurde in den beiden vorhergehenden Kapiteln stets festgehalten, dass der Mensch eine Synthese von Seele und Leib ist, die von Geist konstituiert und getragen wird.“ – Kierkegaard (1984), S. 87. In Die Krankheit zum Tode: „Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigem, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz, eine Synthese.“ (Kierkegaard (1995), S. 13) Kierkegaard hat die Verzweiflung hauptsächlich anhand zweier Gegensatzpaare analysiert: Endlichkeit-Unendlichkeit, Notwendigkeit-Möglichkeit. Die zeitliche Dimension der Synthese hat er hauptsächlich im dritten Kapitel von Der Begriff Angst thematisiert. Vgl. Søren Kierkegaard (1984), S. 87– 100. Søren Kierkegaard (1995), S. 13.
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Hiermit ist etwas Wichtiges ausgedrückt, nämlich der transzendente Charakter des Selbst als ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten.²⁷ Dieses Verhalten drückt zwar auch ein Verhältnis aus, jedoch kein Verhältnis in Hinblick auf das Sein, sondern in Bezug auf das Werden. Es ist ein Verhältnis im Sinne des Verhaltens, das sich nicht nur im Bereich des Möglichen bewegt, sondern zur Veränderung in der Wirklichkeit führt: Entweder will man nicht mehr man selbst sein, oder man will man selbst sein – in beiden Fällen gerät man in Verzweiflung.²⁸ Nur in diesem Punkt ist nachzuvollziehen, warum das Missverhältnis im Sichzu-sich-selbst-Verhalten laut Kierkegaard als Verzweiflung wahrgenommen werden kann. Für Kierkegaard ist die Verzweiflung „das Missverhältnis in dem Verhältnis einer Synthese, das sich zu sich selbst verhält.“²⁹ Hier betont er, dass die Synthese selbst kein Missverhältnis sein kann, da sie bloß die Möglichkeit ist: „[I]n der Synthese liegt die Möglichkeit des Missverhältnisses.“³⁰ An einer anderen Stelle sagt er, dass die Verzweiflung nicht aus dem Missverhältnis resultiert, sondern aus dem Verhältnis folgt, das sich zu sich selbst verhält.³¹ D.h., das Missverhältnis kann selbst nur als das verfehlte Selbstverhältnis als Verzweiflung bzw. in der Verzweiflung gefühlt werden. Der transzendente Charakter des Selbstbegriffs zeigt sich auch darin, dass Kierkegaard in der Analyse der verschiedenen Verzweiflungsgestalten das Bewusstsein als ein wesentliches Moment einführt: Hauptsächlich muss jedoch die Verzweiflung betrachtet werden unter der Bestimmung: Bewusstsein; ob die Verzweiflung bewusst ist oder nicht, macht den qualitativen Unterschied aus zwischen Verzweiflung und Verzweiflung. […] Überhaupt ist das Bewusstsein, d. h. Selbstbewusstsein, das Entscheidende in Bezug auf das Selbst.³² Der Grad des Bewusstseins ist im Steigen oder im Verhältnis dazu, wie es steigt, die ständig steigende Potenzierung in der Verzweiflung.³³
Die Interpretation des Selbst als „Sich-zu-sich-selbst-Verhalten“ verdanke ich Günter Figal. Vgl. Günter Figal, „Die Freiheit der Verzweiflung und die Freiheit im Glauben,“ in Kierkegaardiana XIII, eds. Niels Jørgen Cappelørn, Helge Hultberg & Poul Lübcke, Copenhagen: C.A. Reitzel 1984, S. 11– 23. „verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen“, Søren Kierkegaard (1995), S. 13. Ebd., S. 15. Ebd. Vgl. ebd., S. 17. Ebd., S. 28. Ebd., S. 40.
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Dieses Selbstbewusstsein ist hier als ein einmaliges Ereignis zu verstehen. Vom Unbewusstsein zum Bewusstsein vollzieht sich ein Sprung, der nicht rückgängig gemacht werden kann. Ein Selbst, das sich seiner selbst bewusst ist, muss sich irgendwie zu sich selbst verhalten, was bedeutet, dass es entweder es selbst sein will oder nicht. In jedem Fall muss es in die Verzweiflung geraten. Warum scheint es hier, als ob der Mensch grundsätzlich zum verfehlten Selbstverhältnis determiniert ist? Kierkegaard führt an dieser Stelle ein drittes Verhältnis ein, um dies zu erklären. Das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, muss gesetzt werden.Weil es unmöglich ist, dass es durch sich selbst gesetzt wird, tritt hier eine fremde Macht ein, die dieses Selbstverhältnis setzt. Damit ist das Selbst des Menschen in seiner vollständigen Begrifflichkeit entfaltet: Ein derart abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen, ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und, indem es sich zu sich selbst verhält, sich zu einem anderen verhält.³⁴
Die einzige Möglichkeit, die Verzweiflung zu überwinden, besteht darin, dass man das Selbst folgendermaßen entwickelt: Darin, sich zu sich selbst zu verhalten, und darin, man selbst sein zu wollen, gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es gesetzt hat.³⁵
Dies, sagt Kierkegaard, ist wiederum die Definition des Glaubens.³⁶ Wenden wir uns nun der oben genannte Forderung der Ewigkeit an jedes Individuum zu, dass es es selbst werden soll, es selbst sein soll, so scheint es, als ob es diese Forderung kraft bloßer Selbstbestimmung gerade nicht erfüllen kann. Das Tragische daran ist, dass die Struktur des Selbst wesentlich mangelhafter Natur ist. Es kann nicht gänzlich für sich stehen, um die Spannung zwischen der Endlichkeit des eigenen Leibs und der Unendlichkeit der eigenen Seele zu bewältigen. Solange es nicht an die Macht außerhalb seiner selbst glaubt, die sein Selbstverhältnis gesetzt hat, bleibt sein Selbst ein abgespaltetes und kann nicht richtig synthetisiert werden.
Ebd., S. 13. Ebd., S. 125. Ebd.
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III Durch Angst und Verzweiflung zu einem moralisch gerechtfertigten Leben Nach diesen Ausführungen sollen zum Schluss die Kernelemente der von Kierkegaard vorgeschlagenen Ethik in Hinblick auf die Rolle, die Angst und Verzweiflung darin spielen, betrachtet werden. Dabei müssen wir davon ausgehen, dass der Prozess, in dem die Normativität der neuen Ethik erfüllt wird, in keinen kommunikativen Umgang mit anderen Menschen eingebettet ist, wie wir dies gemeinhin für die Ethik annehmen. Das Gesollte, um das es Kierkegaard geht, ist vielmehr das Gebot der Individualisierung, das vom Geschuldeten, einem Mangel, der der Struktur des menschlichen Selbst wesentlich ist, ausgehen muss. Aufgrund dieses grundsätzlichen Mangels ist die Selbstwerdung eines jeden Individuums – falls diese sich noch im Prozess befindet – nicht von der Verzweiflung loszulösen. Wenn Kierkegaard die idealisierende Ethik in dem Punkt kritisiert, dass sie den Menschen selbstverständlich als moralisch fähiges Wesen vorstellt und ihm moralisch gerechtfertigtes Handeln zutraut, geht er immer vom Urzustand des Menschen als zwar unschuldiges, jedoch moralisch unfähiges Wesen aus. Die Fähigkeit, die eigene Freiheit richtig anzuwenden, setzt das Selbstbewusstsein eines freien Wesens voraus. Beides muss erst entwickelt werden. Die Disposition des Menschen, sich auch im Zustand der Unschuld zu ängstigen und die Fähigkeit, das Nichts, das die Angst auslöst, zu erahnen, zeichnen ihn als das moralisch fähige Wesen aus. Man muss „durch die Angst gebildet werden“³⁷, heißt es bei Kierkegaard. Nur wenn einer die unendlichen Möglichkeiten durchlebt hat, kann er die innere Gewissheit finden. Diese Gewissheit ist das Ergebnis der Wiedergutmachung der Schuldigkeit, die den Ansatzpunkt der kierkegaardschen Ethik bildet. Das Wesen dieser Ethik, heißt es bei Kierkegaard, ist die transzendierende Wiederholung.³⁸ Der existenziellen Kategorie der Wiederholung hat Kierkegaard im Jahr 1843 eine gleichnamige Schrift gewidmet, deren zentralen Aussagen er im
Søren Kierkegaard (1984), S. 172. „Aristoteles gebraucht bekanntlich den Terminus πρώτη φιλοσοφία [erste Philosophie] und bezeichnet damit ungefähr das Metaphysische, […] so könnte man den Terminus beibehalten und unter πρώτη φιλοσοφία diejenige wissenschaftliche Totalität verstehen, […], deren Wesen die Immanenz oder, griechisch gedacht, die Erinnerung ist; und unter secunda philosophia ließe sich diejenige verstehen, deren Wesen die Transzendenz oder die Wiederholung ist.“ (Søren Kierkegaard (1984), S. 18 f.)
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darauffolgenden Jahr selbst zitiert und kommentiert hat.³⁹ Nach Feger ist es „der entscheidende Begriff, mit dem Kierkegaard der zwingenden Logik der Vernunft die Innerlichkeit des existierenden Selbst gegenüberstellt.“⁴⁰ In Liessmanns Augen spielt es nicht nur die Rolle „einer entscheidenden ethischen Kategorie“, sondern auch die der Kategorie „zur Herausbildung von Identität“⁴¹. Das in der kierkegaardschen Ethik zu Wiederholende ist weder die Vergangenheit, die der Kategorie der Erinnerung entspricht, noch die Zukunft, die der Gegenstand der Hoffnung ist, sondern vielmehr der Augenblick, der zugleich den Blick zurück als auch den Blick nach vorne meint. In jedem Augenblick der Existenz ist das SeinSollende zu wiederholen, sodass der gesamte Prozess der Selbstwerdung, das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten, die wiederholende Realisierung des Gesollten ist. Dieses zu wiederholende allgemeine Sollen beansprucht Gültigkeit im mangelhaften Wesen des menschlichen Selbstverhältnisses, in der subjektiven Notwendigkeit des Sündenfalls und in der determinierten Freiheit eines Jeden, der durch die Angst gebildet werden und die verschiedenartigen Verzweiflungen bezwingen muss, um endlich ein gerechtfertigtes Leben führen zu können.
Er hat dieser Kategorie im Begriff Angst eine lange und inhaltsvolle Anmerkung gewidmet, die aus verschiedenen Gründen lesenswert ist. (Søren Kierkegaard (1984), S. 14– 17) Trotz all dieser Mühen Kierkegaards, den Begriff der Wiederholung zu entwickeln, bleibt er der vagste in seinen Schriften und sogar einer der verfänglichsten in der Geschichte der Philosophie. Außerdem scheint die gleichnamige Schrift „Kierkegaards konzeptuell am wenigsten geglückte Schrift“ zu sein. (HWPh Bd. 12, 739) Hans Feger, „Die Wiederholung. Kierkegaards Kritik am Vermittlungsdenken Hegels und Fichtes“, in Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 2008, S. 287. Konrad Paul Liessmann, Søren Kierkegaard zur Einführung, ebd., S. 75.
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Truth and Normativity in Kierkegaard and Heidegger Abstract: I will argue that although Climacus stresses the absence of objective criteria, he nevertheless presupposes a metaethical framework as the basis of his distinction between “being in the truth” and “being in the untruth.” This distinction will be compared in a fictitious dialogue with Heidegger’s analysis of “Entschlossenheit,” who will reject it as non-phenomenological and furthermore, as an unjustified example of “Wertphilosophie.” Given this rejection, I will return to Climacus and reevaluate his theory of stages wherein I will argue that this is only one way to interpret Kierkegaard’s works before Concluding Unscientific Postscript. Given a more serious reading of Kierkegaard’s aesthetic texts, this paper will interpret Heidegger’s “Gewissen-haben-wollen” as an ontology that shares this aesthetical worldview. From this perspective it is possible to criticize Kierkegaard’s “ethical” and “religious” stages. On the other hand, I will find that it is not possible to construct any substantial normative position based upon this aesthetic point of view.
Introduction Anyone who speaks about Kierkegaard’s and Heidegger’s understanding of truth and normativity may be understood in two ways: 1. What kind of ethics—if any—do we find in Kierkegaard’s and Heidegger’s writings? Which ethical norms—if any—do they defend? 2. What kind of theory—if any—do they have concerning the epistemological status of ethics? What is the relation between norms and truth? The first question asks what kind of normative ethics we may or may not find in Kierkegaard’s and Heidegger’s writings whereas the second question is a metaethical question about how the two thinkers understand the function of ethical norms in human life—including its functioning in our language. In both cases, it is difficult to decide whether or not Kierkegaard and Heidegger actually provide answers to these questions. Even assuming that they do have something to say about these topics, it is hard to say to what degree their contributions amount. In this paper, I will focus on the second (metaethical) question and my answer to this question has as its implication, that one should not expect to find in
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either of these two philosophers a solution to the first question about normative ethics.
I Johannes Climacus Metaethics addresses the question of whether or not our actions and ways of life are good or bad independent of how we and others evaluate these actions and ways of life. More succinctly stated: Do these evaluations have a truth-value? Assuming they do have a truth-value, the next question looms: How do we come to know what is right and wrong? Or more generally formulated: Do the norms that we assume govern our lives in some true way, and how do we acquire a knowledge of these norms? The way we approach these questions will be deeply influenced by our conception of truth. In his famous discussion of truth in Concluding Unscientific Postscript, Climacus contends that whether truth is defined more empirically as the agreement of thinking with being or more idealistically as the agreement of being with thinking, the point in each case is to pay scrupulous attention to what is understood by being and also to pay attention to whether the knowing human spirit might not be lured out in the indefinite and fantastically become something such as no existing human being has ever been or can be, a phantom with which the individual busies himself on occasion, yet without ever making it explicit to himself by means of dialectical middle terms how he gets out into this fantastical realms, what meaning it has for him be there, where the entire endeavor out there might not dissolve into a tautology within a rash, fantastical venture.¹
This polemical claim is, of course, aimed at the traditional correspondence theory of truth according to which “truth” is “the agreement of thinking with being” or “the agreement of being with thinking.”² This theory might apply to eternal entities like mathematical objects but according to Climacus, it cannot deal with empirical objects perceived by empirical subjects because neither the object nor the subject is finished.³ The empirical object changes as time goes on, as does the subject, who thinks about the object. Since both the empirical object Søren Kierkegaard, Concluding Unscientific Postscript to the Philosophical Fragments (Kierkegaard’s Writings, vol. 12.1), Princeton: Princeton U.P. 1992, p. 189 / Søren Kierkegaard, Uvidenskabelig Efterskrift til de philosophiske Smuler (Søren Kierkegaards Skrifter, vol. 7), Copenhagen: Gads Forlag 2002, p. 173. Ibid. Ibid., p. 189 / p. 174: “[F]ordi den empiriske Gjenstand ikke selv er færdig, og den existerende erkjendende Aand jo selv er i Vorden.”
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and the empirical subject are continually in process, we will not find a point in time in which there is a finished empirical object corresponding to a finished empirical subject. The correspondence theory of truth is, in short, a fantasy. It is especially inadequate when the empirical subject makes his own life an object of thought, which perhaps raises three questions: 1. What is this life? 2. How ought it be? 3. How do I come to be, what ought I be? These questions all emerge within the life about which they are concerned. The highly inconclusive character of this life, including the individual reflecting upon himself as an object of reflection, renders the traditional correspondence theory inadequate for grasping the truth in empirical matters in general, and in existential matters in particular. Instead Climacus suggests two approaches: 1. The objective reflection in which the subject is accidental. This is an appropriate approach if we are dealing with questions concerning (for example) the natural sciences, where our goal is to substantiate a hypothesis by collecting information and conducting experiments, which at best may give us an approximation to the truth.⁴ 2. The subjective reflection in which the result is critical to the subject in question. Because the result is essential for the subject, one cannot wait years for an answer nor can one be satisfied with an approximation to the truth. Instead one stakes everything on one’s own subjectivity, in perfect accord with Climacus’ definition of truth: “An objective uncertainty, held fast through appropriation with the most passionate inwardness, is the truth, the highest truth there is for an existing person.”⁵ This “subjective” understanding of truth has exercised considerable influence on modern existential philosophy, but what is the best way to interpret this pivotal concept? First, it is obvious that Climacus assumes that truth deals with totalities, not just states of affairs. He would not deny that we may have a correspondence between a sentence like “Kierkegaard was born in 1813” and the fact that Kierkegaard was born in that year. Once again, the goal of objective reflection is not to present a theory about the truth of singular sentences, but instead of comprehensive theories. Similarly, with subjective reflection Climacus is not concerned
Ibid., p. 194 / p. 178 Ibid., p. 203 / p. 186: “Den objective Uvished, fastholdt i den meest lidenskabelige Inderligheds Tilegnelse, er Sandheden, den høieste Sandhed, der er for en Existerende.”
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with questions about whether or not I am allowed to tell a lie in a particular situation, but about my encompassing problems such as what I ought to choose as my main goal in life given that I do not know what person I will be and what preferences I may have after twenty years. For instance, is it true that marriage transforms love into “weakness and habit”⁶ as Johannes the Seducer suggests, or does the Seducer restrict him from the real love as Judge Wilhelm claims? Is an ethical life always possible, as Judge Wilhelm seems to think, or are Johannes de Silentio and Johannes Climacus correct in claiming that repentance cannot reestablish the truth of a man’s life once he has destroyed it? Or again, are they right to refrain from choosing the religious? To reiterate, because these questions involve the individual’s whole life, he cannot wait years for the solution, nor can he be satisfied with an approximation to the truth. Therefore, Climacus stresses an “objective uncertainty, held fast through appropriation with the most passionate inwardness, is the truth.”⁷ Second, a close reading of the text reveals that Climacus is not interested in an alternative definition of truth; instead he is concerned with our criteria of truth and our capacity to realize the truth. In objective reflection the correspondence theory of truth or rather the idea of truth is taken for granted. Climacus advocates a modest kind of epistemology that may or may not conflict with some early nineteenth century idealistic ideas of absolute knowledge. However, the same epistemology is uncontroversial in mainstream philosophy of science in the twentieth century, but this epistemology does not present a new theory of truth. On the contrary, in order to speak about an approximation it assumes the correspondence of being and thought or facts and theories, as a regulative ideal. More importantly the subjective reflection presupposes another theory of truth other than the subjective one, which Climacus advocates as the existential alternative to the correspondence theory. After having defined “truth” in the subjective mode as “objective uncertainty, held fast through appropriation with the most passionate inwardness,” he notes that this kind of truth is “the highest truth which is given for an existing being” indicating that there may be another perspective other than the one of an existing being. Therefore, Climacus does not think that every individual may arbitrarily create values without an external measure that decides whether his values are true or false. Thus, it is more appropriate to interpret this subjectivity as the best (or only) criteria available when it Søren Kierkegaard, Either-Or, Part I (Kierkegaard’s Writings, vol. 3), Princeton: Princeton U.P. 1987, p. 445 / Søren Kierkegaard, Enten-Eller I (Søren Kierkegaards Skrifter, vol. 2), Copenhagen: Gads Forlag 1997, p. 432. Kierkegaard (1992), p. 203 / Kierkegaard (2002/VII), p. 186.
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comes to existential questions, as well as the best (or only) way one is able to bring truth into one’s life. At another point, Climacus explicitly states that he is not denying that truth is the identity of thinking and being, but only that this identity is available to the existing and ever changing individual. Strictly speaking, Climacus should not have written that “objective uncertainty, held fast through appropriation with the most passionate inwardness, is the truth,” but that it is the highest criteria of truth. That this interpretation is the most apt is evident when, a few pages later, Climacus mentions an even higher version of the dictum that “Subjectivity, inwardness, is the truth,” namely the claim that “Subjectivity is untruth.”⁸ This untruth, which Climacus soon proposes to label “sin,”⁹ is a proposal he introduced two years earlier in the Philosophical Fragments. ¹⁰ It should now be clear that Climacus never assumes that one is the creator of the values according to which one’s life ought to be judged. Instead Climacus assumes that humankind has two options. One is “in the truth,” i. e., one is both able through the most passionate inwardness to get to know what one ought to do and one is able to realize these goals in one’s own life. One is “in the untruth,” i. e., one is neither able to get to know what one ought to do nor has one the capacity to realize it, if one had known otherwise. In the latter case one is in need of a helping hand from the outside, which both gives one the capacity to know and to realize what one ought to do. However, whether one is “in the truth” or “in the untruth,” “truth” and “untruth” are not created by the subject, but rather are determined by something outside one’s own subjectivity. When Climacus informs us that there is more truth in the life of a pagan who passionately worships an objectively false God than in a man who prays without passion in the church of the true God,¹¹ this only tells us that the passionate relation is a necessary condition for abiding in the truth. If one was not already “in the truth,” i. e., one did not have the potential for reaching the truth, one’s passionate relation to the world would not help. It is not one’s passion that creates one’s true way of living rather it is the other way around—only if one is already in the truth, can one’s passion grant one’s actions value, which is higher than any dispassionate behavior.
Kierkegaard (1992), p. 207 / Kierkegaard (2002/VII), p. 189. Ibid., p. 208 / p. 191. Søren Kierkegaard, Philosophical Fragments (Kierkegaard’s Writings, vol. 7), Princeton: Princeton U.P. 1985, p. 15 / Søren Kierkegaard, Philosophiske Smuler (Søren Kierkegaards Skrifter, vol. 4), Copenhagen: Gads Forlag 1997, p. 224. Kierkegaard (1992), p. 201 / Kierkegaard (2002/VII), p. 184.
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The example of the pagan who worships a false god also reveals that passion is not a criteria for the truth of “the what” to which you relate, but only a criteria of whether or not your relation to something fulfills the necessary conditions for being in the truth. This includes the necessary conditions for being capable of realizing the truth. For example, even if your relation is deeply passionate it is still an open question, regardless of whether or not the object of your passion is something totally wrong. Climacus explains that one may relate passionately to fascism, liberalism, socialism, or some pre-modern political ideal like absolute monarchy without having the slightest clue of whether fascism, liberalism, or socialism is the right ethical orientation in life. But to the extent that you are in the truth from the outset, your passion secures the truth of your relation. The passion-criterion does not tell us exactly what we ought to do, but it reveals how we should do it, namely with passion (inwardness).¹² Formulated more technically, Climacus has no first-order criteria telling us what the first order values are, but he introduces passion as a second-order criteria for how we can and ought to relate to first-order values. However, passion does not establish the truth or falsity of the first-order values. According to Climacus, we simply do not have any access to these truth-values and it does not matter as long as we express the right attitude at the second-order value level, a level that Climacus assumes we have knowledge of and a capacity to fulfill. Using the terminology of the modern Anglo-American philosophical tradition, one may conclude that whereas Climacus does not tell us what kind of normative ethics we ought to follow, he clearly defends a cognitivist position within metaethics. In contrast to normative ethics, which tells what we ought to do, metaethics deals first and foremost with the question of whether or not our actions and way of life are good or bad independent of how we and others evaluate these actions and way of life. Putting it in another way: Do these evaluations have a truth-value? The so-called cognitivists believe they do whereas the noncognitivists deny it. Although Climacus’ famous dictum “Subjectivity is Truth” seems to imply a non-cognitivistic position as the one which is later found in the existential tradition in the twentieth century, it has now become clear that he presupposes a cognitivistic position. Nevertheless, Climacus’ kind of cognitivism is not only original, but it is also controversial. It becomes controversial because it is combined with an epistemology according to which we do not have knowledge about first order values whereas (unless I am in the untruth and in need of a revelation) my “passionate appropriation” gives me a second-order criteria of the truth of how I ought to re-
Ibid., p. 202 / p. 185.
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late to first-order values. This is a very radical position. First, it fails to acknowledge the principle, that “ought” implies “can,” which normally implies that an obligation to first-order values presupposes some knowledge of first-order values. Second, and even more importantly, it gives up all attempts to use intersubjective criteria in order to distinguish between private and non-private first- and/or second-order values. Of course, one may relate passionately to a first-order ethics of a universalistic kind, but Climacus’ theory does not entail that I have to relate to any universals.
II Johannes Climacus and Johannes de Silentio To illustrate the complexity of this position consider Johannes de Silentio’s discussion of Abraham in Fear and Trembling. Abraham lives happily with Isaac and his wife Sarah. Then one day he receives a message from God that he should take his son and go to the mountain of Moriah and sacrifice Isaac. Abraham obeys. He goes to the mountain and draws the knife to sacrifice Isaac when an angel of God appears and instructs him to sacrifice a ram instead. This is not the end of the story for Johannes de Silentio. To focus on the happy ending is to forget the fear and trembling or anxiety that Abraham must have experienced on the road to Moriah. It was impossible for him to talk with Sarah about the sacrifice simply because Abraham would not have had any intersubjective criteria by which to appeal to Sarah in order convince her that his action was the right one. It was not demanded by the universal ethics that they both accepted. On the contrary, it was in radical opposition to that ethics. What kind of evidence could Abraham have used to support his claim that the sacrifice was commanded by God? Would Sarah not have responded, “Oh Abraham, have you been drinking again?” or “Oh Abraham, your depression becomes more and more dangerous!” More devastatingly than the lack of intersubjective criteria, Abraham did not have a criterion that he could refer to in order to convince himself that he should draw the knife. Abraham’s faith is a paradigmatic case of an “objective uncertainty, held fast through appropriation with the most passionate inwardness.” But Johannes Climacus seems to be even more radical than Johannes de Silentio and Judge William in Either/Or. However, Johannes de Silentio accepts the idea that as soon as you have a certain kind of universal ethics you can dialogue with others sharing that ethic, but why should you be obliged to accept this ethic and not another ethic or perhaps none at all? These fundamental questions are not addressed in Fear and Trembling because this text takes the ethical as a given. This is in line with Johannes Climacus’ idea of the subjective criteria of
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truth within which a universal ethics also belongs. It is an “objective uncertainty, held fast through appropriation with the most passionate inwardness.”¹³
III Heidegger It is clear that Kierkegaard in general and Climacus in particular, focus upon existential normativity, but this is not quite as evident in Heidegger. Heidegger repeatedly emphasizes that the analysis in Being and Time (Sein und Zeit) is a purely ontological one without any normative implications. It is even debatable whether his analysis is a part of a philosophy of existence at all. The problem arises in the beginning of Being and Time where Dasein is presented as a being which in its being is concerned with its being.¹⁴ At first, this claim echoes Anti-Climacus’ famous definition of man as a self, a relation that relates itself to itself.¹⁵ But Heidegger’s Dasein is not a Cartesian consciousness; it is a being who is occupied with practical activities based upon an openness to the world. Early Heidegger tells us that Dasein’s relation to itself and its openness to the world are at an equal level.¹⁶ In the posthumously published lectures from the twenties—and of course by the late Heidegger—he goes further and declares that both Dasein’s relation to itself and its grasp of the world presuppose a general understanding of being: “eine Seinserschlossenheit.” If we compare this claim with the opening passages of Being and Time where we are told that the analysis of Dasein functions as a preparation for the more fundamental analysis of the meaning of being, we can sincerely question whether Being and Time belongs to the existential philosophy canon at all—a critique the older Heidegger levels against Sartre’s use of Being and Time. ¹⁷ On the other hand, if we accept the impossibility of reducing Being and Time to existential philosophy, we become free to return to Heidegger and ask what ontological status evaluations,
Ibid., p. 203 / p. 186. “Das Dasein ist ein Seiendes [, dem es] in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.” (Martin Heidegger, Sein und Zeit (Martin Heidegger Gesamtausgabe, vol. 2), Frankfurt am Main: Klostermann 1977, p. 16) Søren Kierkegaard, The Sickness unto Death (Kierkegaard’s Writings, vol. 19), Princeton: Princeton U.P. 1980, p. 13 / Søren Kierkegaard, Sygdommen til Døden (Søren Kierkegaards Skrifter, vol. 11), Copenhagen: Gads Forlag 2006, p. 129. “[D]as Verstehen […] entwirft das Sein des Daseins auf sein Worumwillen ebenso ursprünglich wie auf die Bedeutsamkeit als die Weltlichkeit seiner jeweiligen Welt.” (Heidegger (1977), p. 193) Martin Heidegger, “Brief über den ‘Humanismus’” (Martin Heidegger Gesamtausgabe, vol. 9, Wegmarken), Frankfurt am Main: Klostermann 1976, pp. 313 – 364.
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norms, and values have within his ontology. Heidegger only hints at an answer to this question; therefore, it is the work of interpretation to develop his hints. One clue can be found in Heidegger’s early lectures where he criticizes the so-called philosophy of values (die Wertphilosophie). His main target is neo-Kantian philosophy, but his critique has a much broader scope and includes Plato, the metaphysical tradition, and contemporary phenomenology, e. g., Hartmann, Scheler, and even Husserl. Heidegger vehemently denies that values exist as independent entities (or more generally, as independent constraints on evaluations). For him, it does not matter whether these values are understood as transcendent, platonic ideas, or as part of a transcendental framework or special phenomenological stratum since all these views assume a fantasy world of norms that prescribe an evaluation of our actions and lives independent of actual evaluations. Thus, it makes no sense to speak about an epistemic access to these norms since there is nothing to which we can have access. Instead norms do not exist independently of the explicit or implicit individual evaluations embodied in our actual choices, whatever those choices may be. In the end, Heidegger’s metaethical position seems to amount to a form of voluntarism. This conclusion is supported by an analysis of truth in Being and Time. This analysis can be reconstructed in three steps: 1. Similarly to Husserl, Heidegger surrenders the classical correspondence theory of truth and replaces it with a theory of evidence, according to which an intentionally given sense is true when we have an experience which fits that sense. For instance, I believe my purse is in my left pocket, and when I put my hand down in the pocket I have an experience that fits the sense of my intentional belief. 2. Husserl’s intentionality is seen as a special case in our practical occupation with our surroundings and with our relations to other Daseins. As an inclusive label for all practical occupations (including classical examples of intentionality like perception) Heidegger introduces the term uncovering (Entdeckung) and he maintains that the truth of a sentence must be understood as “Entdeckend-sein.”¹⁸ 3. Thereafter, he shows how our “Entdeckungen” presuppose an openness “eine Erschlossenheit” and concludes that this openness is the original truth.¹⁹
Heidegger (1977), p. 289. Ibid., p. 292.
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Heidegger’s point is not as controversial as it appears. The term “truth” traditionally denotes certain sentences, ways of life, or true things. Heidegger’s discovery of an original meaning of the term boils down to a redefinition of the term “truth” so that it comes to denote the necessary conditions of truth in the traditional sense. A sentence like “the hammer is heavy” is true if our use of the hammer uncovers (entdeckt) the fact that the hammer is heavy. This connection is not questioned by Heidegger. Still uncovering (Entdeckung) is impossible, if we do not understand the framework in which it makes sense to talk about hammers as being heavy or not heavy. Heidegger insists that the original meaning of the word “truth” refers to our openness (Erschlossenheit) for the framework or rather the instrumental world, which is a necessary condition for any uncovering (Entdeckung). His way of talking is confusing in that he gives the reader the impression of presenting an entirely new conception of truth. Nonetheless Heidegger can be reconstructed as saying that he wants to focus upon the necessary conditions of certain phenomena and suggests that we hereafter redefine our words in order to let them refer to the necessary conditions of the phenomena to which they normally refer. This reconstruction does negate Heidegger’s basic points. It certainly robs his theory of its mystery and presents it in a manner that may have been too modest for Heidegger.²⁰ This reading is confirmed, when we look into his lectures on logic delivered a few years before the publication of Being and Time. Heidegger reports on Aristotle’s distinction between the ways in which a sentence like “the flower is red” and “red” are given to us.²¹ We know that the sentence is true when we experience that the sense of the sentence correspondents to what we see, that is, when we look at the flower and see that it is combined with the red color. This of course, amounts to Husserl’s idea of truth as evidence, which is generalized by Heidegger when he speaks about uncovering (Entdeckungen). Compared to this experience of a correspondence, our understanding of the term “red” is neither a correspondence nor an experience of a connection; the concept of red is either given to us or it is not. Since we do not comprehend the sentence “the flower is red” without the understanding of the term “red,” we may say that this openness to the concept of red is a necessary condition for the truth (as
This interpretation is in accordance with Tugendhatʼs analysis in his classic presentation in Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin: de Gruyter 1966. It is especially in accordance with Tugendhatʼs dictum: “Daß ein Wahrheitsbegriff auf die Aussagewahrheit paßt, ist die Minimalbedingung, die er erfüllen muß, wenn er überhaupt ein Wahrheitsbegriff sein soll.” (ibid., p. 331) Martin Heidegger, Logik: Die Frage nach der Wahrheit (1925 – 26) (Martin Heidegger Gesamtausgabe, vol. 21), §§ 13 – 14, Frankfurt am Main: Klostermann 1976.
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well as for the possible untruth) of the sentence. More generally, our uncoverings (Entdeckungen) are grounded in a more basic disclosedness (Erschlossenheit) of the world and in the end it is also an openness to being in general: “Erschlossenheit von Sein überhaupt.” This brief overview of Heidegger’s understanding of truth brings us back to our main question, namely where the norms do fit in according to Heidegger’s ontology? Using Heidegger’s terminology we may say that the tradition assumes that we have a special kind of “Entdeckungen” of norms. Of course, philosophers differ in the way they think we uncover norms using the whole epistemological spectrum of pure reason (e. g., Plato and Kant), feelings (e. g., Husserl, Hartmann, and Scheler), special moral sense (e. g., Hutcheson), tradition (e. g., Aristotle and Hegel), or revelation (e. g., Thomas, Scotus, and Ockham). Whatever the epistemological source may be, all these philosophers assume that we may uncover norms by remaining open to a framework according to which norms are understood independently of my personal moral evaluations. However, this is precisely the point that Heidegger denies. The world, which is open for Heidegger, is devoid of norms existing independently of my decisions. Instead Dasein is uncovered as the creator of norms through its implicit or explicit decisions (Entwurf). Of course, these decisions are always embedded within a thrownness (Geworfenheit) that presents itself as emotions, but in contrast to Scheler, for instance, Heidegger denies that these emotions unveil any objective hierarchy of norms. Using Heidegger’s language we may say that the ontological truth of norms is that there are no norms outside of Dasein’s creation. Put in AngloSaxon terminology, the metaethical truth about norms is that normative evaluations are neither true nor false. Existing in a world with others, Dasein will always already have accepted certain evaluations, insofar as Dasein, considered from a normative perspective, begins as being a part of “das Man.” Dasein may continue to live within this inauthentic (uneigentlich) way of life or it may in an authentic (eigentlich) way make its own decisions about what is right and wrong. There is no doubt that Heidegger privately prefers the authentic way of life (that he unfortunately conveys in the terminology used in Being and Time, which therefore, often gets the flavor of a “Jargon der Eigentlichkeit”), but this private preference ought to be separated from the ontological claim that strictly speaking it does not make sense to ask which of the two ways of life is best. Not only what we ought to do depends on Dasein’s decisions, but so does how we ought to do it.
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IV Climacus and Heidegger To my knowledge, Heidegger never compared his own voluntarism with Climacus’ metaethical position. Nevertheless, given our former presentation of Climacus, it seems obvious that Heidegger would have rejected that position as merely another kind of philosophy of values. If Heidegger is correct in denying the existence of action-independent values, it makes no sense to speak about somebody as being or not being in the truth independently of his or others’ evaluation of his actions and way of life. Nor is it reasonable to promulgate passion as a criterion of existential truth. In short, Heidegger’s voluntarism represents a kind of noncognitivism that is incompatible with Climacus’ cognitivism. Therefore, Climacus would have been compelled to denounce Heidegger’s position as belonging to the aesthetic stage, that is, below the ethical and religious stages. This fictitious dialogue between Climacus and Heidegger invites a rethinking of Climacus as well as Heidegger. On the one hand, Climacus would be right to classify Heidegger as an aesthete, but on the other hand, there are many features of Being and Time which are analogous to Climacus’ understanding of existence. Both Climacus and Heidegger assume that every human/Dasein arrives at an authentic understanding of himself or herself on the background of an inauthentic understanding. For Climacus this inauthentic existence is referred to as “spiritlessness” whereas Heidegger talks about Dasein living in “das Man.” Both Climacus and Heidegger focus upon human/Dasein as a totality, and both maintain that this totality is only given in the moment in which human/Dasein has a specific relation to past and future. Climacus refers to this specific relation as “passion” whereas Heidegger talks in terms of resoluteness (Entschlossenheit).²² Still, the difference is evident. Climacus (and later Anti-Climacus) describes the moment as a unity of time and eternity. In contrast, Heidegger’s Dasein stays within its limitation, its “Endlichkeit” and realizes its “Ganzseinkönnen” as a being unto death (“Sein zum Tode”)²³ that does not involve any reference to eternity. The difference becomes even more blatant if we supplement Climacus’ understanding of existence with Anti-Climacus’ abovementioned definition of man as a self, a relation that relates itself to itself. Anti-Climacus’ comments are crucial. He claims that such a self is either posited by itself or posited by another, another which Anti-Climacus is quick to identify as God.²⁴ Later on Anti-Clima-
Heidegger (1977), p. 403. Ibid., § 53. Kierkegaard (1980), p. 13 f. / Kierkegaard (2006), p. 132.
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cus identifies God with the Christian theistic god, but this is not decided in the opening pages of The Sickness Unto Death. In these opening pages, the term “God” may refer to a theistic god (including Christ), but the term may also denote some pantheistic god or principle, which among other things posits man as being obliged to fulfill certain values. Given this minimal understanding of the term “God” we are warranted in saying that not only Climacus, but also Judge William in the second part of Either/Or would assent to Anti-Climacus’ claim that man is posited by God. But it is exactly this claim that Heidegger calls into question in Being and Time. Dasein relates itself to itself, but it does not relate itself to a third that has posited Dasein. As a human being by Anti-Climacus Heidegger’s Dasein is a combination (a “synthesis” in Anti-Climacus’ terminology) of existential possibility and existential necessity, and therefore Heidegger talks about Dasein as being “in die Seinsart des Entwerfens geworfen.”²⁵ But Dasein’s “Geworfenheit” or existential necessity does not imply that Dasein is posited, just as the limitation of man according to Anti-Climacus does not imply his being posited. Therefore, Heidegger’s Dasein, in Anti-Climacus’ terminology, is a self which has posited itself or rather a self which has posited its own goals and values. Or to use Heidegger’s vocabulary, Dasein is concerned with itself on the basis of a general understanding of being which indicates that all evaluations of Dasein’s way of life are products of Dasein’s own “Entwurf” and nothing else. Given this difference between Heidegger on the one hand, and Climacus and Anti-Climacus on the other (which also includes Judge William, Johannes de Silentio, Vigilius Haufniensis, Frater Taciturnus and other pseudonyms), Climacus would classify Heidegger as an aesthete. However, given the many similarities between Heidegger and Climacus (and Kierkegaard’s other pseudonymous writers as well) one may ask, whether Climacus’ understanding of the aesthete in the first volume of Either/Or is too narrow-minded.
V Climacus’ Theory of Stages In his appendix in Concluding Unscientific Postscript concerning a contemporary endeavor in Danish literature, Climacus reveals a thorough acquaintance with Kierkegaard’s pseudonymous authorship and classifies the different authors according to what has later been known as the theory of stages. Unfortunately, generations of Kierkegaard scholars have taken this appendix to be the clue to Kierkegaard’s authorship instead of just one interpretation of Kierkegaard among
Heidegger (1977), p. 193.
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others. In this appendix and in the rest of Concluding Unscientific Postscript, Climacus creates a hierarchy of different ways of life that he refers to as “stages.” As anyone familiar with Kierkegaard will know, the three main stages are the aesthetic, ethical, and religious with irony as a so-called “continuum” between the aesthetic and the ethical, and “humor” as a continuum between the ethical and the religious stage, which is divided into religiousness A and B, where B is Christianity. The hierarchical organization means that the aesthetic stage is the lowest one whereas the Christian stage is the highest. The theory is problematic and below I will present what I take to be three flaws. First, the theory creates an internal problem for Climacus, who defines himself as a humorist, which is below both religiousness A and B. Of course, this is a contradiction. Climacus would not have involved himself in a contradiction. However, after understanding himself as a Christian, it was later revealed that not only did he not fulfill the Christian demand to love his neighbor, he was also often in conflict with the Christian faith as such. This is revealed in the works of Anti-Climacus, but Climacus is not Anti-Climacus. When Climacus says that he is only a humorist whereas a Christian is at a higher level, he is as confused as someone would be if one said that one was only a Christian whereas a Muslim is at a higher level. Of course, by saying this one would have recognized the truth of Islam, which would exclude one from Christianity. In the same way, by asserting that Christianity is at a higher level than humor, Climacus has located himself outside the stage of humor. However, by being a humorist he may judge himself using a value-scale within the humoristic stage, but he cannot chose a standard outside the humoristic stage and evaluate the stage as such and yet still be a humorist. The second internal problem has to do with Climacus’ claim that every existential communication is an indirect communication that as such provides space for free choice. Direct communication focuses on the what that is communicated whereas indirect communication aims to bring the other to a point whereby one has to relate oneself to the what in order to be for or against the what. Therefore, Climacus is involved in a contradiction since he both indirectly tries to bring the reader to a choice and he directly tells the reader that certain solutions are better than others. The openness of the choice is thereby sealed off excluding the indirect mode of communication that Climacus claims to be the only true way of communicating existentially. The third problem is the most serious. In order to let all the pseudonymous works fit into his hierarchy Climacus has to abstract from parts of what is actually said. This becomes very clear when we turn to Climacus’ treatment of the aesthete. The aesthete is the only stage that does not introduce a first principle to secure a cognitivistic foundation for normativity. This is the reason why Climacus
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would have had to classify Heidegger and Sartre as aesthetes. Of course, it is anachronistic to criticize Climacus for failing to peruse Heidegger and Sartre, but it is not anachronistic to show how Climacus fails to read the aesthetic essays in Either/Or from within. Let me just refer to the two important essays, “The Crop Rotation: An Attempt at a Theory of Social Prudence” (“Vexel-Driften”) and “Ancient Tragical Motif as Reflected in the Modern” (“Det moderne Tragiskes Refleks i det antikt Tragiske”). In the latter essay, the aesthete shows how ancient tragedy is based upon destiny whereas modern tragedy is based upon the assumption that the hero is a free being and thus responsible for his actions. The more the author goes in this “pelagian” direction,²⁶ the more one looses the tragic dimension. Nonetheless, the tragic dimension reappears when the subject, in his search for freedom, experiences an overwhelming sense of guilt. At this point it is very difficult to accept Judge William’s and Climacus’ critique of the aesthete for not relating to himself and not choosing himself in his concrete complexity with exactly this past and these possibilities. The aesthete misses Judge William’s postulate that by choosing oneself one also experiences the demand to choose “the Universal” (“det Almene”). More specifically, the aesthete does not commit himself to Judge William’s original combination of a Kantian deontological idea of the good will as the final end of ethics and the Hegelian notion that norms stem from the tradition expressed in the social “Sittlichkeit”. It is also obvious that the aesthete lacks Judge William’s firm belief in the capacity of repentance (“Angeren”) to heal one’s guilt and reconcile one with one’s guilty past. Instead the aesthete presents two alternatives. Either you stay within the tragic worldview (which the aesthete seems to choose) or you start to perceive life from a religious point of view. ²⁷ This last possibility would of course include the assumption of a first principle, using the terminology of Anti-Climacus from The Sickness Unto Death (Sygdommen til Døden), has “posited” the religious man. In “The Crop Rotation” (“Vexel-Driften”) it is the absence of such a first principal that gives rise to the boredom (“Kedsommelighed”), which the aesthete claims to be the essence of all human beings. The tediousness of life corresponds to that “Nothing,” which runs through the whole universe. “The Crop Rotation” exhibits the nihilistic conclusions of the aesthetic tragic worldview and for this reason the essay is extremely witty and profound. It not only denies the existence of absolute values it also draws the tragic conclusion that all human efforts
Kierkegaard (1987/III), p. 143 f. / Kierkegaard (1997/II), p. 143. Ibid., p. 146 / p. 146.
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to create and fulfill values are based upon a nothingness that is perpetually threatened to breakdown into a sense of boredom. Judge William may be right that such a worldview is a form of despair (the aesthete would be the first to agree), but he and Climacus are wrong when they try to deny existential sincerity. It is the other way around, namely the existential sincerity of the tragic and bored aesthete without any first principle to secure a cognitivistic foundation of his values (not to say their realization) is a challenge to Judge William’s and Climacus’ common assumption that only a cognitivistic position is existentially sincere.
VI An Aesthetic Existentialism? Given this conclusion we may return to our fictitious dialogue between Climacus and Heidegger. As stated above, Climacus would be right to classify Heidegger as an aesthete since Heidegger is a metaethical noncognitivist. The standard critique of the aesthete, which would have been Climacus’ critique, would surely have applied to Heidegger. However, it would have been as off the mark with Heidegger as Climacus’ critique of the aesthete is in general. In Hegelian terms, the “truth” of a fictitious dialogue between Climacus and Heidegger might be better framed as a dialogue between the Aesthete A and Heidegger. Such a discussion would include the connection between anxiety (“Angst”) and boredom, between the Aesthete’s tragic point of view and Dasein’s being unto death (“Sein zum Tode”), the distinction within Being and Time between “Eigentlichkeit” and “Uneigentlichkeit,” and finally the distinction within the aesthetical position between the vulgar philistine forms of aesthetic life and the tragic worldview. In the end, the dialogue would not generate a positive normative ethic, but it would certainly work via different ways of realizing the tragic side of authenticity. This may not be much when compared with the grand ambitions of normative ethics, but it certainly would be more realistic.
Saulius Geniusas
The Question of Ethics in Heidegger’s Being and Time Abstract: I argue that in Heidegger’s Being and Time, one can discern two sharply contrasting tendencies: the anti-ethical and the ante-ethical tendencies. I further show that Heidegger himself has considered two alternative ways to resolve this incongruity. (1) In the Metaphysical Foundations of Logic, Heidegger abandons the ante-ethical tendency and sharpens the anti-ethical stance. (2) In the “Lecture on Humanism,” Heidegger argues that fundamental ontology is neither anti-ethical nor ante-ethical; it is “originary ethics” itself. I maintain that neither of the proposed solutions is satisfactory. I further contend that no solution is called for. It is rather promising to return to Heidegger’s early description of the two conflicting ethical tendencies in Being and Time. This description entails a profound insight, which presents the ethical existence as torn between ethical regulations and moral motivations. According to my central thesis, Heidegger’s central contribution to ethics consists in the insight that this incongruity is irresolvable.
Introduction In Being and Time, ethical questions are not posed. In this work, whenever Heidegger addresses a subject matter that remotely resembles ethical themes, he reminds his readers that his analyses are contributions to fundamental ontology, not ethics. Such an awkward silence regarding ethical issues might easily give rise to the impression that Heidegger’s fundamental ontology is of no ethical importance. However, as my subsequent remarks will suggest, Heidegger’s silence can be interpreted in two diametrically opposite ways, and for this reason, one could say that a real ethical drama unfolds in Being and Time – a drama, moreover, which has profound ethical significance. On the one hand, one can interpret this silence as Heidegger’s straightforward denial of the ethical import of his work. In such a view, ethics is simply not ontological, or at least it has nothing to do with fundamental ontology. Such an approach to Heidegger’s analysis allows one to speak of the anti-ethical character of Being and Time. On the other hand, one could also see in this silence, and in Heidegger’s reinterpretation of ethical problems as ontological, an attempt to address the question of the existential origins of ethics and to
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give an account of what one could call “originary ethics.”¹ From such a standpoint one could speak of the ante-ethical problematic in Being and Time. Is fundamental ontology anti-ethical or ante-ethical? In Being and Time this question never gets foreclosed. This back and forth movement between anti- and ante-ethics is significant precisely because it clears the ground on which one becomes free to address a fundamental question, which in many ethical frameworks remains only peripheral. What is it about human existence that calls for something like an ethics? It is this question that I would like to identify as the question of ethics in Being and Time. The first two sections of this essay will address the anti- and ante-ethical tendencies in the context of Heidegger’s analysis of conscience in Being and Time. In the third section, I will turn to Heidegger’s analysis of ethics in the Metaphysical Foundations of Logic. Here we will see that after the publication of Being and Time, Heidegger abandoned the “ethical ambivalence” that was characteristic of his earlier analysis. One can understand this abandonment as Heidegger’s early solution to ethical incongruity. The fourth and final section will then briefly turn to the “Letter on Humanism,” for here Heidegger proposes a different resolution of the conflict between the anti-ethical and the ante-ethical character of his earlier thought. Yet I will argue that neither Heidegger’s early, nor his late resolution is satisfactory; I will, moreover, maintain that no resolution can be satisfactory. My conclusion will consist in calling back to the ethical incongruity between anti- and ante-ethics that we still find present in Being and Time. It is this incongruity, I will suggest, that constitutes the core value of Heidegger’s phenomenological contribution to the ethical problematic.
I Heidegger’s Anti-Ethics In Being and Time, Heidegger’s most polemical confrontation with ethics unfolds in the second chapter of Division II, a chapter dedicated to the problematic of conscience, guilt, and authenticity. One cannot ignore the plain fact that all
For Heidegger’s own qualification of fundamental ontology as originary ethics, see Martin Heidegger, “Letter on Humanism,” in Basic Writings, ed. by David Farrell Krell, New York: Harper & Row 1977, p. 235. In the recent critical readings of Heidegger, there have been a few attempts to disclose what such an originary ethics would look like. See, for instance, Joanna Hodge, Heidegger and Ethics, New York: Routledge 1995, pp. 189 – 204. See also Frederick Olafson, Heidegger and the Ground of Ethics. A Study of Mitsein, Cambridge: Cambridge University Press 1998, pp. 95 – 105. Donovan Miyasaki’s “A Ground for Ethics in Heidegger’s Being and Time,” in Journal for the British Society of Phenomenology, 38 [3], 2007, pp. 261– 279, is also worth noting.
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three themes have a distinctively moral ring to them. Recognizing that such is the case, Heidegger makes it patently clear that a phenomenological interpretation of these phenomena comes at the price of cutting off the bond that ties these themes to morality and ethics. In Heidegger’s view, the liberation of these themes from their moral and ethical interpretations is a necessary condition for their phenomenological appropriation. According to the common view, conscience and guilt have their basis in morality, religion, or law. It seems that we, humans, can be conscientious insofar as we are capable of experiencing guilt, and that our experience of guilt stems from law-breaking, be the law moral, religious, or civic. The law in question rules over inter-human relations by qualifying what is admissible and what is not admissible. It thus seems that conscience and guilt rely upon two conditions: our indebtedness to Others and our respect for the law. More precisely, the common-view problematic of conscience and guilt (1) unfolds in the context of discursive speech that (2) makes us responsible to a particular law and that (3) is meaningful in the intersubjective context that binds us to fellow human beings. Being and Time challenges this common view. These three qualifications do not characterize conscience and guilt themselves; they rather qualify the inauthentic interpretation of these phenomena. The common interpretation of guilt and conscience covers up their genuine phenomenality; the common view reinterprets and misinterprets guilt and conscience in such a way that their existential significance is not only concealed but also reversed. And yet, as is the case with each and every theme addressed in Being and Time, the inauthentic interpretation of phenomena in question nonetheless entails a few clues, which hold the promise of disclosing the concealed significance of phenomena under scrutiny.² It is hard to overstate the ontological significance of the call of conscience: once freed from its widespread (mis)interpretations (be they psychological, biological, religious, or moral), the call will have the power to chart the course between inauthenticity and authenticity. Its ontological significance is thus indeed profound: it consists in the fact that the call of conscience can be heard in inauthenticity and that it announces the possibility of authentic existence. The voice of conscience is indeed discursive and disclosive, yet the medium of its expression is not that of discursive speech. This should come as no surprise, given Heidegger’s insistence that discursive speech itself is always already
“The existential interpretation is necessarily a far cry from everyday ontical common sense, though it sets forth the ontological foundations of what the ordinary way of interpreting conscience has always understood within certain limits and has conceptualized as a ‘theory’ of conscience.” (Martin Heidegger, Being and Time, trans. by John Macquarrie and Edward Robinson, New York: Harper and Row Publishers 2008 [1962], p. 314)
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appropriated by what Heidegger calls das Man. If the voice of conscience calls Dasein from inauthenticity to authenticity, it must find an alternative medium of expression. The most viable candidate for such an alternative is silence itself. And thus, Heidegger writes: “The call asserts nothing, gives no information about world-events, has nothing to tell.”³ To be sure, we commonly draw a distinction between silence and discourse. We say that discourse is meaningful, while silence is meaningless. Yet Heidegger resists such a rough-and-ready distinction. He considers discourse, as idle talk, to be meaningless, and he contends that silence inscribed in anxiety is meaningful. The phenomenological interpretation of conscience and guilt is meant to show that not only the silence of anxiety, but also the silence of the call of conscience is profoundly meaningful. Thus if, when caught in the standard (mis)interpretation of conscience, I identify the call of conscience with the voice that informs me of a particular rule I am supposed to follow, I can rest assured that what I hear is not the voice of conscience, but the voice of das Man. Similarly, if I identify my relation with fellow human beings as the origin of the voice of conscience, then, again, I must recognize that what I hear is not the voice of conscience itself, but rather the voice of das Man. Herein lies the reason for the phenomenological rejection of all the moral and ethical frameworks that locate the origin of conscience, guilt, and authenticity in any kind of an established ethical framework. These frameworks only inform Dasein how one (das Man) must act. These frameworks thus misinterpret the ontological significance of the call of conscience. So as to formulate the anti-ethical stance in the most forceful terms, one could say that the problematic of conscience discloses a more basic dimension of life than ethical life; it discloses a dimension of life that knows nothing about ethics, and that has nothing ethical about it. The voice of conscience is a significant clue that can lead us toward the recognition of this hidden ontological dimension of life. Yet for this voice to be genuinely disclosive, its ethical connotations must be placed within brackets. The voice must be heard in the absence of any kind of law and even in the absence of inter-personal relations: Losing itself in the publicness and the idle talk of the “they” [das Man], Dasein fails to hear [überhört] its own Self in listening to the they-self. If Dasein is to be able to get brought back from this lostness of failing to hear itself, and if this is to be done through itself, then it
Ibid., p. 318.
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must first be able to find itself – to find itself as something which has failed to hear itself, and which fails to hear in that it listens away to the “they.”⁴
As mentioned above, even though silence is the medium of the call of conscience, the call is nonetheless discursive: “calling is a mode of discourse.”⁵ But if so, then it must be possible to analyze the call in terms of those structures that belong to any kind of discourse. In each and every type of discourse, one can distinguish three structural features: (1) the speaker, (2) the listener, and (3) the message. Thus in the case of the call, one should also be able to distinguish between (1) the one who calls, (2) the one who is called, and (3) the message inscribed in the call. Who is it that calls in the call? “In conscience Dasein calls itself.”⁶ And who is it that is called in the call? “The call reaches the they-self.”⁷ And what about the message? “In the call of conscience, what is it that is talked about…? Manifestly Dasein itself.”⁸ By pointing his finger at Dasein, Heidegger answers all three questions. At first glance, such a maneuver appears not only highly paradoxical, but also hardly credible. Does it not land one in a schizophrenic rant, in which the differences between the speaker, the listener, and what is said are so blurred that they merge into one another? Yet a closer look reveals that Heidegger’s answer is unavoidable. We already know that the call of conscience takes place outside my relations to fellow human beings. For this reason, the three structural dimensions of the call must reflect Dasein’s own self. Yet clearly, what is meant by Dasein is in each of the three cases different. The difference between these aspects is indeed profound: “the call is from afar unto afar.”⁹ Thus first, Dasein that calls is the one who stands in the face of the possibility of complete impossibility of being: the call essentially comes from anxiety. Secondly, Dasein that is called is the one that is lost in das Man. And thirdly, the message that is silently inscribed in the call announces the possibility of Dasein’s authentic existence. But when the call of conscience gets to be dispelled of law breaking and having debts, what sense is one to make of the guilt that remains inscribed in the call? Heidegger’s answer is direct, and yet in no way easy to understand: “we define the formally existential idea of the ‘Guilty!’ as ‘Being-the-basis for a Being
Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid., Ibid.,
pp. 315 f. p. 314. p. 320. p. 317. p. 317. p. 316.
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which has been defined by a ‘not’’ – that is to say, as ‘Being-the-basis of a nullity.’”¹⁰ Arguably, the nullity of which Heidegger speaks needs to be understood in two different ways, which can be qualified in terms of the nullity of choice and the nullity of thrownness. Insofar as my “Being is defined by a ‘not’,” the nullity of my Being is the nullity of thrownness. In so far as I am “the basis of a nullity,” my nullity is the nullity of choice. Let us look at this matter more closely. On the one hand, each and every choice that Dasein makes carries with it the awareness of not having chosen other possibilities. By choosing, I inevitably give up what I could have chosen had I chosen not what I decided to choose. To project a particular possibility into the future simultaneously means to suppress a number of other possibilities. The nullity of choice is inscribed in the actualization of any possibility for the simple reason that the actualization of a possibility is at the same time the exclusion of numerous other possibilities. What is not, could have been; and what could have been, speaks to me and proclaims, “Guilty!” That is, I am guilty in that I am the basis of a nullity. On the other hand, as the one who is thrown, I recognize that I am not the sole author of my own being. That is, insofar as I don’t own my own being, I am inauthentic, and insofar as I recognize my own being in its inauthenticity, I strive for self-ownership (Eigentlichkeit). Yet the project of self-ownership can never be actualized for the simple reason that I am thrown into existence, i. e., that I do not stand at the bottom of my own being. This is not just a matter of realizing that my own being is temporally limited, i. e., that there has been a time (even though I am never able to experience it) at which my being had its own beginning. More fundamentally, to recognize that one does not stand at the bottom of one’s being is to come to terms with the existential fact that for the most part, my own being has already been chosen for me—chosen not by me, but rather by das Man. My own existence is thus never fully mine, and this is the second sense inscribed in the silent call of guilt. Ontologically, I am thus inevitably guilty. I am guilty because I am finite, and in a twofold sense: (1) each of my choices suppresses many other choices; (2) before I am capable of “choosing to choose,”¹¹ i. e., before I can “make up for not choosing”¹² my choices have already been decided by das Man. With this realization, we are finally in the position to make good sense of the anti-ethical stance in Being and Time. On the basis of the foregoing analysis, one
Ibid., p. 329. Ibid., p. 314. Ibid., p. 313.
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is in full right to claim that there indeed are significant dimensions of existence that continuously get to be suppressed and overlooked in ethics and morality. Before ethical considerations come to the fore, subjectivity’s life consists in the recognition of finitude in the double sense outlined in the paragraph above. That is, in contrast to other beings, a human being is not only finite, but it also understands itself as finite. As Heidegger’s analysis reveals, this implicit recognition of finitude is never followed by its explicit acknowledgment. It is rather coupled with its explicit rejection. The dramatic nature of Being and Time consists precisely in a detailed description of how subjectivity flees the implicit recognition of its own finitude. Ethics and morality are two specific ways (and there are many!) in which subjectivity covers up its own finitude. Before proceeding to the analysis of Heidegger’s ante-ethics, I would like to emphasize one consequence that stems from the foregoing analysis. Since Heidegger’s well-known destruction of the primacy of theory is not accompanied by a similarly detailed destruction of the primacy of praxis, one could, given the limits of philosophical concepts, conjecture that Heidegger’s anti-theoretical stance amounts to the restoration of the primacy of praxis. On the basis of the foregoing analysis, I would suggest that this is certainly not the case. Heidegger’s destruction of the primacy of theory is just as uncompromising as his demolition of the primacy of praxis. What Heidegger says in the “Letter on Humanism” is well suited to characterize Being and Time as well: “thinking is neither theoretical nor practical. It comes to pass before this distinction.”¹³ The real and only primacy of which Heidegger speaks is the primacy of finitude. Thus in direct contrast to Emmanuel Levinas, I would like to suggest that the strength of such a phenomenology, which we find inscribed in Being and Time, consists in disclosing ethics as second philosophy, i. e., in showing that our understanding of subjectivity remains imprecise and distorted for as long as we do not inquire into those dimensions of life that are not yet ethical. Arguably, there is something deeply unethical about the view that at bottom, everything must be ethical. Arguably, there is something deeply disrespectful of the Other when it comes to the suggestion that everything derives from the Other. I would like to suggest that phenomenology’s most significant contribution to ethics lies in the disclosure of those dimensions of life that remain concealed for as long as the assumption of the primacy of ethics is not abandoned. There is nothing odd about the fact that a thinker like Levinas, so deeply versed in phenomenology, distanced himself from phenomenology as soon as he av-
Heidegger (1977), p. 236.
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owed the primacy of the ethical.¹⁴ I would suggest that this state of affairs is symptomatic of the fact that the primacy of ethics is incompatible with phenomenology. Between the two one must choose.
II Heidegger’s Ante-Ethics In his commentary on Being and Time, Hubert Dreyfus insightfully remarks that The best way to understand Heidegger on death is to see that the relation of being-untodeath to the event of dying is like the relation of the existential call of “Guilty!” to ordinary moral guilt. Ordinary death is a perspicuous but misleading illustration of Dasein’s essential structural nullity, viz., that Dasein can have neither a nature nor an identity, that it is the constant impossibility of being anything specific. What Heidegger is getting at when he speaks of Dasein’s constant and certain possibility of having no possibilities is the formal truth that Dasein has no possibilities of its own and that it can never have any.¹⁵
Although there clearly are some illuminating correlations between the existential notion of death and the existential call of guilt, like all analogies, this one also has its limits. In the case of death, Heidegger draws a terminological distinction between the existential being-towards-death (Sein-zum-Tode) and biological demise (Ableben).¹⁶ This distinction makes patently clear that the common treatment of death has nothing in common with its existential interpretation. Yet the situation in regard to guilt and conscience is quite different. In this context, no terminological distinctions between the existential and the ordinary concepts are to be found, and for a good reason. The existential interpretation of guilt and conscience does not only aim to reverse the ordinary approach; the existential interpretation also aims to be the new foundation of the moral concepts of guilt and conscience. And thus, besides conceptualizing Heidegger’s anti-ethics, one is also in full right to speak of his ante-ethics. One needs, however, to admit that the ante-ethical strand in Being and Time is not as developed as the anti-ethical tendency. Yet Heidegger provides a helpful hint, which shows that the goal of Being and Time is not merely that of offering a
As will become apparent in the subsequent sections of this essay, even in Heidegger’s own thought, the avowal of the primacy of ethics goes hand in hand with the abandonment of phenomenology. Hubert L. Dreyfus, Being-in-the-World. A Commentary on Heidegger’s Being and Time, Division I, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press 1991, p. 312. See Heidegger (2008 [1962]), p. 291.
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phenomenological alternative to philosophical ethics but rather that of laying down the ontological foundation for ethics and morality: This essential Being-guilty is, equiprimordially, the existential condition for the possibility of the ‘morally’ good and for that of the ‘morally’ evil – that is, for morality in general and for the possible forms which this may take factically. The primordial “Being-guilty” cannot be defined by morality, since morality already presupposes it for itself.¹⁷
Unfortunately, besides indicating the possibility of what one could call “original ethics,” Heidegger does not proceed to its elaboration. In what follows, I would like to briefly touch upon some insights that I believe guide over the ante-ethical dimension of Heidegger’s thought. Arguably, Heidegger’s ante-ethical tendency is composed of two elements: 1) Morality and ethics are not possible without subjectivity’s aptitude for responsibility, conscience, and guilt. 2) Responsibility, conscience, and guilt cannot be explained on the basis of morality or ethics. That is, a moral rule or an ethical framework might have the power to inform me of what I am supposed to do, yet neither of them is capable of constituting responsibility and guilt that accompany my refusal to comply. The ethical frameworks tell me what I am supposed to do in order to be morally good, yet they do not tell me why I should strive to be good. Thus Heidegger reverses the traditional hierarchy, which asserts that the feeling of guilt has its basis in morality. For Heidegger, the truth is just the reverse: the experience of guilt is the origin of morality. Heidegger’s great ethical insight consists in the realization that subjectivity’s ethical motivation is, at bottom, ontological. Following Michael Gelven, one could formulate this insight in the form of a dilemma: Is it that I first find out or learn what I ought to do, and then feel guilty if I violate that maxim or commandment; or is it that I first feel a call to be good or authentic, and then establish an ethical or moral order to satisfy this desire? If the second is the case, then guilt (conscience) is the foundation of ethics; if the first is the case, then ethics is the foundation of guilt.¹⁸
Thus even though ethics is not part of fundamental ontology, it nonetheless stems from fundamental ontology. It is here that Heidegger’s most significant
Ibid., p. 332. Michael Gelven, A Commentary on Heidegger’s Being and Time, New York: Harper & Row 1970, pp. 64 f.
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phenomenological contribution to the ethical problematic rests. On the basis of this insight, the earlier claim regarding the secondariness of ethics can be further developed. It now become plain that ethics is indeed second philosophy, yet its secondariness is not to be understood in terms of its insignificance. For phenomenology, the ethical problematic consists in the disclosure of those motivating factors that lead to something like an ethics. For Heidegger, these motivating factors are ontological. However, as I have already indicated, this ante-ethical strand in Being and Time is hinted at, yet not developed. What is even more distressing, after the publication of Being and Time, this strand is no longer to be found in Heidegger’s writings. Why? It needs to be seen that a more detailed development of the anteethical tendency would amount to a severe modification of the guiding distinction between authenticity and inauthenticity. In the remaining two sections, I will take additional three steps. First, I will show that in the aftermath of the publication of Being and Time, Heidegger indeed abandons the ante-ethical dimension of his thought. Secondly, it will also be important to show how this abandonment can be conceived as Heidegger’s own solution to the conflict between the anti- and ante-ethical dimensions of his earlier thought. And finally, I will also contend that such abandonment does not constitute a successful resolution of the conflict in question.
III Heidegger’s Early Suppression of the Ethical Incongruity in the Metaphysical Foundations of Logic As it often happens, lecture courses delivered by philosophers shortly after the publication of their main works (and especially after the publication of their unfinished works) present a variety of themes more lucidly than they had been presented in the earlier publications. Confusions get to be dispelled, contradictions overcome. By the summer of 1928, the ambivalence that qualifies Heidegger’s stance in regard to ethics in Being and Time is almost completely dissipated. The Metaphysical Foundations of Logic—a lecture course Heidegger delivered during his last semester in Marburg a little more than a year after the publication of Being and Time—is arguably the most forceful expression of the anti-ethical stance of fundamental ontology. Heidegger engages in a direct critique of the philosophical significance of ethics towards the end of this lecture course, in one of the most noteworthy sections, significantly entitled “Freedom and World.” The main task of this section
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is that of showing that the phenomenon of the world is possible only on the basis of Dasein’s transcendence, which in its own turn is possible on the basis of Dasein’s freedom. The notion of freedom is here employed as the original tendency that unifies a number of existentials that remain quite disjoined in Being and Time. Freedom is conceived as the origin of the for-the-sake-of-which; it is also identified with primal understanding; furthermore, it is used synonymously with the temporalization of temporality, and finally, it is conceived as the condition of possibility of historicality. So as to highlight the inimitable nature of such a rudimentary sense of freedom, Heidegger needs to distinguish his analysis from alternative conceptions, which for the most part unfold the problematic of freedom within an ethical framework. Most importantly, Heidegger needs to distinguish his conception of freedom from that of Kant’s, whose influence in Germany, and especially in Marburg, is hard to overlook or overstate. Thus Heidegger insists that our understanding of freedom remains both narrow and ambiguous for as long as we identify it with Kant’s doctrine of the primacy of practical reason. The freedom of which Heidegger speaks is no more practical than theoretical or aesthetic; or rather, “the genuine phenomenon of transcendence cannot be localized in a particular activity, be it theoretical, practical, or aesthetic.”¹⁹ Why? Because all these activities qualify our relationship to beings, not Being, and are themselves possible only on the basis of transcendence itself. Yet while Heidegger frees the problematic of transcendence and freedom from the confines of the Kantian classification, he does not even mention the possibility of disclosing a more basic ethical dimension. He rather insists that “there are sociological, theological, political, biological, and ethical problems which ascribe a prominence to the I-Thou relation; yet the philosophical problems are thereby concealed.”²⁰ Following Kierkegaard, Heidegger insists that the philosophical problematic is more basic than the I-Thou relation. It is first and foremost the problematic of how the self relates to itself, which subsequently determines the manner in which subjectivity relates to other subjectivities. For Heidegger, this self-relation is not ontic, but ontological. Yet it is in the context of his analysis of authenticity that Heidegger’s antiethical stance gets to be expressed most forcefully. Heidegger insists that not only his, but also all philosophical claims that qualify authenticity are “primary existential-ontological statements of essence, and not ethical claims.”²¹ Thus if Martin Heidegger, The Metaphysical Foundations of Logic, trans. by Michael Heim, Bloomington: Indiana University Press 1992, p. 184. Ibid., p. 187. Ibid., p. 190.
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in Being and Time some of Heidegger’s analysis still carried some ambiguity regarding the relation between authenticity and ethics, this ambiguity finds no place in Heidegger’s thought a year after the publication of his most influential work. The relation between fundamental ontology and ethics is no greater than the relation between fundamental ontology and sociology, politics, or biology. The latter are exclusively absorbed in beings; they know nothing of ontological difference.²² Let us ask: Why does Heidegger, in the aftermath of Being and Time, not follow those ante-ethical clues that hold the promise of disclosing a more original ethical problematic? With this question, we are in the position to see the irreconcilable tension between the ante-ethical dimension and the conceptual framework of Heidegger’s thought. This ante-ethical strand simply cannot be unfolded without abandoning the central conceptual distinction that guides over Being and Time, viz., the distinction between authenticity and inauthenticity. As we saw in the first section of this essay, morality and ethics belong to the inauthentic realm of das Man. Morality and ethics inform Dasein how to act in terms of showing how one must act. In this regard, ethics can only be inauthentic. If morality and ethics consists in a particular set of rules and regulations that are meant to guide over human behavior, then there simply can be no authentic ethics. But if so, then the attempt to ground ethics in fundamental ontology is a goal that can never be successfully accomplished: its actualization would amount to the grounding of inauthenticity in authenticity. However, the ante-ethical strand of Being and Time can be also seen as an open invitation to rethink and revise the distinction between authenticity and inauthenticity. Yet the modifications called for are too radical: they would threaten the conceptual framework that arguably guides not only over Being and Time, but also over Heidegger’s later thought. Refusing to abandon or modify this distinction, Heidegger is compelled to abandon the ante-ethical dimension of his
Much more could be said about Heidegger’s anti-ethical stance. Yet given the short confines of this essay, I will add only one observation. How does Heidegger’s problematic relate to the Kantian distinction between epistemology, ethics, and aesthetics as three fundamental spheres of philosophy? In Being and Time, we find Heidegger’s sweeping critique and reform of the traditional problematic of knowledge. While this text remains silent in regard to the aesthetic problematic, in his later works, most notably in the “Origin of the Work of Art,” we find Heidegger’s highly original engagement in this set of problems. Yet when it comes to ethics, nowhere can we find Heidegger’s detailed inquiry into this problematic. And thus, as Heidegger himself once remarked, in Being and Time he had left his readers wondering when he was going to write an ethic. In the “Letter on Humanism” Heidegger went on to say that this worry remained unaffected twenty years after the publication of his magnum opus. To this one can only add that this worry was never successfully dispelled in any of Heidegger’s published works.
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thought. He is thereby also compelled to give up the insight that in phenomenology, ethics is possible only as second philosophy.
IV Heidegger’s Late Suppression of the Ethical Incongruity in the “Letter on Humanism” The manner in which Heidegger addresses the question of ethics in the Metaphysical Foundations of Logic might lead one to believe that after Being and Time, Heidegger abandons the ante-ethical dimension of his thought and openly concedes the anti-ethical character of his work. Such, however, is not the case. In his later works, most notably in the “Letter on Humanism,” Heidegger introduces a new hypothesis. Having abandoned the project of disclosing ethics as second philosophy for the reasons outlined in the previous section, Heidegger is left with one more possibility, viz., the possibility of showing that there is a sense in which ethics is first philosophy. Heidegger defends such an approach in his “Letter on Humanism.” I would like to contend that this approach is not satisfactory for the simple reason that Heidegger’s works do not provide this hypothesis with a justification it calls for. Simply to call one’s own works ethical without ever clarifying what this qualification means should not be taken as a warranted solution. As is well known, the “Letter on Humanism” is Heidegger’s open response to a number of questions that Jean Beaufret addressed to him in a letter in 1946. In this letter, Jean Beaufret remarks that “what I have been trying to do for a long time now is to determine precisely the relation of ontology to a possible ethics.”²³ While engaging in this issue, Heidegger notes that soon after the publication of Being and Time, he had already been asked when he was going to write an ethics. Yet according to Heidegger, the reason why he had never written an ethics has nothing to do with the anti-ethical stance of fundamental ontology. He rather likens his own thought to that of the Pre-Socratic thinkers who “knew neither a ‘logic,’ nor an ‘ethics,’”²⁴ yet whose thought was nonetheless more logical and more ethical than the subsequent thinking was ever to attain. Heidegger draws a reference to Heraclitus, who, when seen by the strangers warming himself at a stove, called for them with the word, “For here too the Gods are present.” Supposedly, the readers of Heidegger’s work should not be taken aback by the absence of what they are accustomed to call “ethics,” since here, in Heidegger’s
Heidegger (1977), p. 231. Ibid., p. 231.
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thought, “ethics is also present.” Supposedly, the very question of the relation between fundamental ontology and ethics is meaningless in that “thinking which thinks the truth of Being as the primordial element of man, as one who eksists, is in itself the original ethics.”²⁵ Heidegger also adds that the reason why, after the publication of Being and Time, he never turned to the question of ethics had to do with the realization that the terms “ontology” and “ethics” lead inevitably into error. Therefore, “the thinking that inquires into the truth of Being and so defines man’s essential abode from Being and toward Being is neither ethics nor ontology. Thus the question about the relation of each to the other no longer has any basis in this sphere.”²⁶ Heidegger thereby identifies the question of the relation between fundamental ontology and ethics—the question that has been the guiding question in this investigation—as meaningless. Supposedly, this question is nothing more than an expression of our philosophical prejudices; it only introduces artificial distinctions where there are none. The question is meaningless in that original thinking already is both ontological and ethical. Such is the solution that the “Letter on Humanism” offers to the antinomy between the anti-ethical and the ante-ethical dimensions of his earlier thought. More precisely, Heidegger’s late solution is twofold. On the one hand, fundamental ontology is acknowledged as anti-ethical inasmuch as ethics is conceived as a philosophical domain of problems alongside aesthetics and epistemology. On the other hand, fundamental ontology is also claimed to be ethical insofar as ethics itself is “first philosophy.” Thus Heidegger’s solution to the tension between the anti- and the ante-ethical dimensions consists in the abandonment of the idea that guided over the ethical question in Being and Time, viz., the idea that ethics could be “second philosophy.” Is Heidegger’s solution satisfactory? I would suggest that this question is to be met with an uncompromising “No.” Heidegger’s solution does not so much resolve the issue, but only suppresses the problem by masking and abandoning the ante-ethical tendency of his earlier thought. The claim that fundamental ontology is in itself ethical is not much more than an empty label that covers up the real tension between two competing tendencies without rendering them congruent. No matter how much he tries, is not capable of seeing what Heidegger could mean when he qualifies the question of Being as an ethical question. Thus it seems to me that, in contrast to the “Letter on Humanism,” a more promising path would lead one back to the insight expressed in Being and Time,
Ibid., p. 235. Ibid., pp. 235 f.
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i. e., the insight that invites one to think of ethics as second philosophy. However, as I have already mentioned above, to think through this hypothesis carefully would require that one abandons the rigid distinction between authenticity and inauthenticity. And thus, by following in Heidegger’s footsteps, one would end up thinking beyond and against Heidegger.
V Concluding Remarks So what is it about human existence that calls for something like an ethics? I early on characterized this question as the question of ethics in Being and Time. From what has been stated above, it is clear that Heidegger provides us with more than one answer to this question. On the one hand, in Being and Time we encounter the dominant tendency to identify Dasein’s fallenness into inauthenticity as the origin of all the rules and regulations that constitute the diversity of ethical systems. On the other hand, we also encounter the more suppressed tendency to identify the problematic of guilt and conscience as the genuine origin of morality and ethics. There is thus a conflict between ethical normativity, whose origins lie in inauthenticity, and ethical motivation, which has its source in authenticity. To return to the question of ethics in Being and Time is to once again ask: Is it at all possible to reconcile the tension between these two origins of morality without illegitimately sacrificing one of them? The foregoing analysis shows that no artificial foreclosure can suffice and that Heidegger’s own solution to this question is unsatisfactory. We are thereby left with two possibilities. A more optimistic path would lead to a patient and detailed modification of the distinction between authenticity and inauthenticity. Such a modification would, so one would hope, provide the basis for the claim that ultimately, as Heidegger himself remarks in Being and Time, conscience and guilt constitute the source of morality and ethics. A more realistic path, however, would lead to the realization that morality does not have only one origin, i. e., that for us, humans, to be moral is to be torn between (possibly) authentic motivations and inescapably inauthentic regulations. This, I would like to suggest, is the philosophical import that lies hidden in the conflict between the anti- and ante-ethical strands of Being and Time. The irreconcilable conflict between these two tendencies indicates that moral regulations and moral motivations have different origins of sense: while moral motivations are grounded in guilt and conscience, moral regulations are grounded in the rule of das Man. This means that one can be moral only as a split subjectivity. The phenomenological significance of the question of ethics in Being and Time
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consists precisely in the disclosure of this existential and ontological conflict that qualifies the moral dimension of human existence.
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The Space of Pathos: Heideggerean Angst and Ethics Abstract: In this paper, I suggest that Heideggerean Angst poses a unique opportunity for ethics: while ordinarily, we work to prevent, ease, or make sense of human suffering, in the case of Angst, Heidegger asks us to respond to or care for suffering without working to alleviate it. Rather than insisting on making Angst meaningful (as a form of alleviation), a Heideggerean ethical relationship would involve tolerating slippages in sense and allowing the other the robustness of her experience of the contingency of meaning.We could call this allowing the other the space of pathos. To illustrate Angst and the difficulty and rarity of an adequate response, I refer to Todd Haynes’ 1995 film Safe. Heideggerean Angst seems to make a unique demand on ethics, when we consider Heideggerean ethics as a form of resolute or authentic being-with. On the one hand, Angst radically individualizes the sufferer, sundering her relationships with others and ejecting her from the shared world of sense; in this respect, Angst seems to be a kind of refusal of ethics, a refusal of relationality as such. Yet on the other hand, we as ethical subjects feel compelled to respond to Angst qua suffering, to attend to or care for the one who suffers. If Angst both refuses and demands ethical engagement, what could an ethical relationship look like here, if one is possible at all? The task will be to conceive of a kind of ethical responsiveness that, paradoxically, is not predicated on curing, fixing, helping, or healing the rift wrought by Angst. As Charles Scott asks: can we care for the suffering of others without the expectation of meaningful alleviation? ¹ Which is to say: first, can we care for suffering without alleviating it, that is, without removing the pain on the other’s behalf? (without “leaping in” for the other, as Heidegger puts it). And second, can we respond to Angst without making it meaningful? If Angst as mood reveals the insufficiency or incompleteness of our structures of meaning, then an ethical response to the other’s Angst cannot involve explaining or making sense of it by means of those very structures; as we will see, to do this would amount to a kind of refusal of the claims or authority of the other’s position. Rather, an ethical re-
Charles Scott, The Question of Ethics: Nietzsche, Foucault, Heidegger, Bloomington: Indiana University Press 1990, p. 118.
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lation to the other’s Angst must call upon our capacity to withstand the threat of a kind of meaninglessness, to bear the limits of our own world of sense made apparent by the other’s encounter with senselessness. Before turning to Heidegger, I want to note that this attempt to articulate an ethical response to Angst can be understood as part of a larger effort to reconsider the status of suffering in human life. When suffering is regarded as excessive or unjust, we consider ourselves obligated to make it better, to make it right. In these cases, it is expedient to turn the other’s pain into a kind of element that we ought to remove from the other’s life, to objectify the pain or source of the pain so that we can efficiently eradicate it. But part of what makes Angst interesting beyond the analytic of Dasein, or other narrowly Heideggerean concerns, is that Angst represents a kind of suffering—properly speaking, an undergoing, a pathos—the normative or ethical status of which is not clear. Ought we alleviate anxiety as much as possible, excise it from our world, or does it have a place within our world? Could or should we regard it as a salient and revelatory feature of human life? If, as Heidegger suggests, Angst is not some exceptional and eradicable experience but is rather a way of being (an “existentiale”), even a way of knowing (in his broader-than-epistemological sense), then caring for the anxious other must be very different than caring for other kinds of suffering. Instead of lifting it, we might find that Angst invites a unique form of being-withsuffering, a withstanding that allows the suffering to speak, which is to say that Angst invites or asks for a certain kind of listening. What Heidegger helps us see is that responses to suffering must register the specific claim of that specific suffering; and as Angst reveals, sometimes the claim is not for help or alleviation, but acknowledgment, being-with, a space for pathos. Attempting to do justice to this kind of claim, to be able to make this kind of space, would require a re-thinking of what we think might count as care, what we think might count as love. “A mood assails us,” writes Heidegger, “it comes neither from ‘outside’ nor from ‘inside’ but arises out of Being-in-the-World.”² Our most primordial way of being, prior to cognition or intentionality, mood is what allows anything to matter at all, prior to the establishment of any particular sense: we are in a world that always already matters to us moodwise, and only on that basis are we able to engage and invest in this or that specific sense. As Michel Haar writes, “Stimmung is the anchorage and ballast of the world.”³
Martin Heidegger, Being and Time, trans. by John Macquarrie and Edward Robinson, New York: Harper and Row Publishers 1962, p. 138. Michael Haar, The Song of the Earth: Heidegger and the Grounds of the History of Being, trans. by Reginald Lilly, Bloomington: Indiana University Press 1993, p. 39.
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Yet even as mood operates at this most fundamental level, ordinarily Dasein evades or ignores what is disclosed in mood. Mood is not typically taken seriously as a mode of knowing, unlike, for example, seeing or logically inferring. Instead, it is framed as a mere inner feeling or a biased distortion, something that we ought to “get over” if we are to properly or objectively understand or “make sense” of anything. Although mood is in truth the condition of possibility anything like cognition or understanding, Dasein tends to experience the world only in accordance with the latter, and more precisely, in the epistemic or relational terms sanctioned by das Man. Without going into detail about the They, it is important to recall that the primary function of everyday being-with, the They, and public-ness, is to “disburden”⁴ Dasein, to facilitate easy engagement with the equipmental whole, with the world of the ready or present to hand. To be part of a community of meaning is to have the terms of meaningfulness circumscribed in advance, or more emphatically, it is to have the direction or structure of concern always already established. As an important precondition for this absorbed everyday coping, the world as such—the context or frame of this kind of engagement—must not obtrude into our frame of reference, “the world must not announce itself.”⁵ Our comfortable and meaningful being-with-others is predicated on our not taking up the strange fact of this being-there, or being-in-theworld: meaningfulness, sense as such, is contingent upon the conditions of possibility for meaningfulness not coming into view. By contrast, as a kind of disorienting disruption of this arrangement, “mood brings Dasein before the ‘that-it-is’ of its ‘there,’ which, as such, stares it in the face with the inexorability of an enigma.”⁶ Mood discloses, not anything specific, but the bare fact of our being embedded in the world, a fact that does not register as some knowable or fearsome thing, but as bare and brutal facticity, the uncanny whole, simply there, stripped of sense. Part of the experience of Angst, then, is that the otherwise compelling structure of incremental involvements “collapses in on itself; the world has the character of completely lacking significance.”⁷ To be sure, the world does not collapse überhaupt, we do not suffer an “apocalyptic senselessness,” as Robert Pippin puts it, but instead experience a “collapse in the ultimate sense of meaningfulness.”⁸ When this happens, Heidegger notes: “the world can offer nothing more […]. Anxiety takes away from
Heidegger (1962), p. 128. Ibid., p. 75. Ibid., p. 136. Ibid., p. 186. Robert Pippin, The Persistence of Subjectivity, Cambridge: Cambridge University Press 2005, p. 69.
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Dasein the possibility of understanding itself in terms of the ‘world’ and the way things have been publicly interpreted.”⁹ In Angst, the world reveals its senselessness to such an extent that it no longer makes sense to understand oneself according to the terms provided by the shared, public world; friends, family, projects, work, and leisure suddenly lack their compelling character, the ready grip they once had. In this sense there is something fundamentally incompatible about mood and being-with: to heed what mood shows—the enigmatic and senseless there—is by definition to find oneself beyond the reach of others, beyond the reach of available meaning. Negatively, then, Angst registers the limit of sense, the contingency of the capacity to make and keep sense at all. Positively, Angst discloses what Heidegger calls the “whole,” which is to say the very conditioning structure that everyday being-in-the-world must disavow in order to function. In both respects, the world of things and others fails to bind us, and instead displays an “empty mercilessness.”¹⁰ Whereas everydayness and the They disburden Dasein, mood and Angst in particular call attention to the truly “burdensome character of Dasein,”¹¹ and as so burdened or aware of this weight, Dasein is radically individualized, cut off, undone. Because it is such an isolating phenomenon, and because its constructive or potentially “authentic” character comes from just this singularity, Heidegger nowhere discusses the idea of an ethical relationship to the other’s Angst. Indeed, it seems that he would only be able to consider such a relationship as a kind of “leaping in,” the kind of Fürsorge that “takes over for the Other that with which he is to concern himself”¹² where my effort to help the other only hinders him, insofar as I disburden him of a burden that is, oddly, rightfully his to bear. Using Heidegger’s terminology, the key will be to articulate a kind of Fürsorge in the mode of “leaping ahead,” where I do not care for the other but work to create a space in which the other can authentically, existentially, care for himself. There are two specific risks or difficulties that make an ethical relation to the anxious other such a fraught and delicate matter, and both hinge on an impulse to isolate, contain, and ultimately cure or silence the anxiety that threatens to call into question our shared world of sense. First, there is an almost contagious element to anxiety, such that your individualizing Angst could, paradoxically, instigate an individualizing anxiety in me. Earlier in Being and Time, Heidegger notes that when something is broken, missing, or otherwise unavailable, it Heidegger (1962), p. 187. Ibid., p. 343. Ibid., p. 134. Ibid., p. 122.
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and the entire context in which it is embedded become strangely “conspicuous.”¹³ That is, if the in-order-to structure is interrupted by something’s not doing what it is there to do, that thing appears to stand out, no longer as something with which I can interact unthinkingly, but instead as something that stands in the way of my engagements:¹⁴ it, as a piece of the world, announces itself in exactly the way the world must not if we are to go on functioning. As Heidegger writes, “when something ready-to-hand is found missing, […] this makes a break in those referential contexts […] The environment announces itself afresh. What is [thereby] lit up […] is the ‘there.’”¹⁵ While Heidegger is here discussing equipment and the ready-to-hand object the malfunctioning of which can initiate a mood-like unraveling, it is not too much of a stretch to suppose that likewise, if the other person fails to function or engage as usual—if she breaks down, as we say—then my world of easy interactions is likewise interrupted. The other’s breakdown, her inability to operate at the level of everydayness, calls the security or resilience of that everydayness into question for me. There is a threatening aspect to the other’s anxiety, such that my own mood is implicated in theirs. For me to truly acknowledge your experience as one that “lights up” the limits of sense, I would have to acknowledge my own sense and meaning as likewise limited, finite, fragile. Thus the other’s anxiety qua breakdown exposes the precariousness of my being-there at all. Which brings us to the second difficulty of an ethical engagement with Angst: because acknowledging your anxiety necessarily involves acknowledging my own (or the possibility thereof), there is a temptation to treat Angst as what Alan Bass calls “exceptional weirdness”¹⁶ rather than as one of Dasein’s most basic or essential conditions. Heidegger suggests that our everyday being-inthe-world places an insistent, even defensive emphasis on persons, things, discrete items, in order to secure sense and easy understanding; for him, everyday being-in-the-world, with its intense absorption with the ready or present to hand, is a defense against or flight from an uncanny encounter with the world as such, with the bare there. This defensive structure leads Heidegger to assert that, paradoxically, anxiety and uncanniness are more primordial than everydayness and Heimlichkeit: it is only because Dasein is “anxious in the very depths of its being”¹⁷ that it turns away from that radical openness and contingency towards
Ibid., p. 73. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1984, p. 73. Heidegger (1962), p. 75. Alan Bass, Interpretation and Difference: The Strangeness of Care, Stanford: Stanford University Press 2006, p. 53. Heidegger (1962), p. 190.
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always-already established things in the world. In this flight, Dasein rejects uncanniness and Angst as indications of sickness or abnormality, and thus treats anxiety as a pathology or oddity, and not as a basic existential condition, and certainly not as authoritative or disclosive. And indeed as long as the other’s anxiety is isolated as just some “exceptional weirdness,” a strange momentary illness (like eating bad food or just “having a bad day”), then I am not implicated, I can remain on the near side of sense. This regarding of anxiety as a weird experience rather than a basic condition allows us to treat anxiety as a kind of thing, in the mode of something present to hand. This, then, is the second risk for responding to Angst; in an attempt to remain outside the reach of the other’s breakdown, we treat the other with “objectifying concern,” and transform Angst into one objective thing alongside others. As long as Angst represents a deviation from the norm, or a failure to keep it together, our treatment will amount to an attempt to get the other back to the norm, or a demand for her to “get it together.” To this end, we pathologize anxiety, diagnose and medicalize it, give reasons for it, explain it, all of which is to say we attempt to confine it within the very meaningful structure from which Angst represents a definitive break. Thus while the undergoing of Angst lights up the limits of sense and discloses the bare and uncanny world as world, our everyday treatment of anxiety refuses that insight; indeed to put it in Heidegger’s terms, we refuse to see what mood shows. Instead, we work to demonstrate that the anxious person is somehow mistaken or sick, and a treatment or removal of the pathological element will make things better (viz. make things normal again). This emphasis on the thingliness of Angst, its being a thinkable treatable object, can only give rise to objectifying concern—the concern that would leap in and fix things—and never something like authentic care, leaping ahead, a properly ethical relation. To reiterate, the difficulty or risk of responding to Angst is two-fold. First, the other’s Angst seems to threaten the coherence and security of one’s own world of sense—if her grip on meaning, or meaning’s grip on her, can falter, it seems that mine can too; and so second, as a defense against this possibility, we transform Angst into a kind of thing to be fixed, an illness to be remedied, where the anxious person is no more than a malfunctioning body, and in this way we work to reintegrate the anxious person into the meaningful or normal framework that Angst has ejected her from. This kind of defensive turn towards “entities within the world,” this objectifying concern, fails to be an adequate or authentic kind of care insofar as it utterly misses the force of Angst, utterly disavows what it discloses, namely, the fragility or contingency of the meaningful world. I would like to turn to Todd Haynes’ 1995 film Safe as an instructive illustration both of Angst, and the tendency to respond to Angst by disavowing what
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Angst discloses, the tendency to treat Angst with objectifying concern. The film’s narrative focuses entirely on Carol, a young housewife in 1980’s Los Angeles who apparently has no other commitments than aerobics class, picking up dry cleaning, and telling the furniture delivery men which door to use when they bring her new couch. Carol is in many ways the prime candidate for a life of ease: she is white, wealthy, without a job, and even in her interactions with vapid friends or her indifferent husband, she does not seem troubled or concerned. At the same time, Carol is oddly detached from her life: she is painfully mechanical, reserved, not fully immersed in her activities or relationships. Haynes frequently films Carol in the corner of the shot, dwarfed and edged out of the frame by everything else—furniture, friends, built spaces—that occupies her life. The camera is eerily immobile for the much of the film, and the patience with which Haynes observes Carol as she tentatively moves about—an anticipatory patience, even—suggests that something must give, that her precarious balance will falter.¹⁸ Indeed it does. For no specific reason that anyone can see, Carol begins to suffer panic attacks and her health rapidly deteriorates. Haynes is resolutely ambiguous in his depiction of this breakdown. On the one hand, Carol is surrounded by various “toxins” of modern life—the chemicals for her permanent wave, the smog of traffic, the insincerity of her girlfriends and husband—suggesting that her breakdown is in fact a physiological reaction to the environment. On the other hand, Haynes’ rendering unfamiliar the most familiar settings, his refusing our identification with Carol by presenting her as an impenetrable character (often filming her from the back), and the hyperbolic nature of Carol’s panic attacks, all function to complicate and render rather ineffectual any attempt to explain Carol’s experience. Even if Haynes suggests various triggers for Carol’s breakdown, the film flouts the viewer’s instinct to locate a specific cause. By refusing this impulse, which is to say our most intuitive sense of how to understand Carol, Haynes puts the viewer in the uncomfortable and helpless position of being unable to respond to the protagonist. We want very much to know what is happening to Carol and why, not only in order to gain a sense of
M. A. Doane suggests that the precariousness of women’s hold on the world is common to many of Haynes’ films, especially Safe and Far From Heaven. She writes, “In Haynes’s cinema, it is always women who try to hold the world and its contradictions at bay with a perfection, a seamlessness, and an embrace of a faultless naïveté […;] however, they always fail; something goes awry, and the world comes crashing in.” (Mary Anne Doane, “Pathos and Pathology: the Cinema of Todd Haynes,” in Camera Obscura, Vol. 19, N. 3, 2004, pp. vi, 1– 21) While I think that it is very fruitful to read Haynes’ cinema as addressing in particular a certain female position or perspective, I think it is equally possible, as I do here, to read his films as addressing the problem of sense-making more generally.
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epistemic security regarding the film’s narrative, but also in order to know how we ought to feel about Carol, which is to say, how we ought to care for her. If one of cinema’s most unique capacities is to illicit from its audience care and concern for its characters, Safe presents itself as a profoundly difficult film insofar as it does not facilitate this desire to care, it does not tell us how to care. Within the narrative, precisely how those around her ought to respond to and care for Carol is one of the film’s guiding questions, and while Carol does eventually find a community that does tend to her in a way that satisfies and comforts her, we as viewers are left very unsure as to whether this constitutes a truly adequate and attentive care. One scene in particular illustrates the challenge of responding to Angst, wherein Carol, even without knowing it herself, calls out for care, and her husband fails to respond. In the preceding scene, Carol has had a panic attack at a friend’s baby shower; for no reason, she is again unable to breath. Haynes centers Carol and slowly moves towards her as her breathing worsens and the music grows more ominous. Heidegger in fact refers explicitly to breath in his discussion of Angst, writing that in anxiety “that which threatens […] is already ‘there’ and yet nowhere; it is so close that it is oppressive and stifles one’s breath, and yet it is nowhere.”¹⁹ Closing in on her and isolating her from her friends, Haynes captures the oppressive and individualizing character of anxiety, not only by cutting Carol off from others and making the world strange to her, but by making Carol radically unfamiliar and strange to them. When her friends attempt to comfort her as her panic escalates, it is striking that they hesitate to approach her and barely touch her. Two friends sit next to her and put their hands gingerly on her shoulders, while another friend remains frozen and stares from a distance, slack-jawed with eyes wide in horror. In the following scene, Carol is in bed, writing a letter to the Wrenwood health clinic, for which she has seen a flyer at her gym. In voice-over, Carol recites the letter, telling us that she has always considered herself a healthy person, but that this is “all beginning to change.” No longer able to exist in the world she knows, Carol here reaches out to the reassuring presence of another potentially more sympathetic world. At this point, her husband Greg walks into the room to give her a message about car-pooling, to which she says nothing and only stares. Standing across the room, he timidly asks if she is okay, and at first she turns away and smiles with embarrassment. Then her smile fades and she says, her voice thin and shaking, “I don’t even […] Oh god […] what is this? Where am I? Right now?” The question, of course, makes no sense either
Heidegger (1962), p. 186.
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to her husband or to the viewer. In light of Heidegger’s notion of anxiety, however, Carol here seems to be putting words to that experience in its very senselessness. In asking the question in the apparently nonsensical way that she does, Carol is in fact giving a most exact articulation of her experience, the most honest and precise of the entire film. Her questions are unsettling and upsetting precisely because, even though she uses familiar words, we do not understand them. When Greg responds to Carol, remaining at a kind of nervous distance, by saying helplessly “we’re in our house; Greg and Carol’s house,” it is clear that he has “misinterpreted” her question, responding from within the context of significance out of which she has slipped, referring her to the objectively present things in the world with which she ought to be but is apparently no longer concerned. Greg can only experience her words in their literal significance and so he tells Carol exactly where she is, even though Carol’s question is better understood as expressive of the uncanniness and alienation of anxiety, not as a question about spatial location. In this short exchange, we witness the collision of two “worlds.” Greg’s everyday world cannot accommodate or make room for Carol’s condition, which Greg can only see negatively, as a failure to assume an appropriately sensible position in his world. In some ways, this is correct. Carol can no longer stitch herself into the world as she knew it, and instead, finds herself, not in a new world (she is not hallucinating) but in that same world grown unfamiliar, showing itself in “empty mercilessness.”²⁰ The problem is that Greg is unable to recognize any validity to her experience. Meaning and the knowable world have, presumably, never faltered for Greg, and the collapse of meaning for Carol is for him both incomprehensible and threatening, her inability to carry on indicating the limits of the meaning structures he so trusts, her incapacity an affront to his commitment to those structures. And so he cannot go to her, her senselessness is now like a contagion from which he must keep himself safe. Instead he can only point out the coordinates of his familiar and known world—the things and people—demanding that she makes sense of herself strictly in accordance with them. Carol’s request for care—nonsensically articulated in a call that even she does not understand—is thus denied. She soon leaves Los Angeles for an isolated clinic for people “like her,” where she is treated as suffering from “environmental illness,” a kind of immune deficiency syndrome. The Wrenwood Centre attempts to treat Carol’s condition by means of mental and physical therapies, before finally quarantining her in an isolated “safe house” removed from the
Ibid., p. 343.
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rest of the residents. While Wrenwood functions under the auspices of attending to Carol’s situation when no one else would, in fact it too covers over the experience of Angst, refusing the moment of senselessness by recourse to a circumscribed discourse of pathology. The question, then, is what it would mean to properly attend to anxiety and its revelation of “utter insignificance”²¹ in such a way that did not immediately make that insignificance significant, that did not cover it over with objectifying concern. What would it mean to take Angst seriously, without making it immediately meaningful or sensible? What would be adequately anxious care? If mood reveals a kind of radical openness to the world, a being-with or being-in irreducible to a subject/object dichotomy, then anxious care would have to facilitate a being-with that did not set itself up in terms of or as subjects and objects, as things in the world standing over against one another. That is, this kind of care would have to avoid thinking in terms of the “theoretical problematic of understanding the ‘psychic life of Others,’”²² treating the anxious person as a malfunctioning thing requiring conceptual understanding or management/diagnosis. Instead care would involve working against the defensive temptation to split from the other, and would instead maintain a proximate intimacy, a kind of attunement. Equally, this intimacy would have to avoid a straightforwardly empathetic response (which Heidegger is explicitly critical of) wherein I project myself into “their shoes,” at once reiterating the subject/object split, and yet eradicating the irreducible separateness and difference of Dasein (what Derrida calls the “irreducible singularity or solitude in Mitsein”²³). Avoiding this bridging empathetic position would therefore involve an intimacy in or as separateness. Just as being-with as a relation to otherness is irreducible to the atomization of discrete subjects and objects, it is also irreducible to unity or total togetherness. Angst as individualizing registers this separateness not as if the world were at a radically objectified distance from me as a unique individual, but rather as if the coordinates of our lived distance and proximity (that is, Being-in-the-world) conceived in terms of subjects and objects failed to any longer be adequate, to make sense. Care of Angst would need to work within a new non-objective understanding of being-in-the-world or being-with, affirming intimacy as separateness, being-with as radical openness, as mood.
Ibid., p. 186. Ibid., p. 124. Jacques Derrida, “‘Eating Well’ or the Calculation of the Subject: An Interview with Jacques Derrida,” in Who Comes After the Subject? ed. by Eduardo Cadava, Peter Connor, and Jean Luc Nancy, New York: Routledge 1991, p. 107.
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So at one and the same time, both proximity and distance are affirmed, being-with and radical individuation. In this indeterminate space, what is offered is not a diagnosis or theoretical explanation, not an affirmation of shared sense or indication of shared world, but instead an occasion to articulate a kind of nonsense—as in Carol’s question, “what is this?,” which has nothing to do with objective truth or present things. Care would in this case involve a special attentiveness to the force of disavowal and our immediate impulse to explain or “cover up”²⁴ what mood shows; rather than encourage this fleeing towards entities within the world (like Greg’s reference to “Greg and Carol’s house”), authentic care would withstand an expressive or disclosive senselessness, which is to say it would attempt to heed mood, to take in what mood discloses without demanding that disclosure conform to those terms set by everydayness or understanding. Care would not be an answer, but, thinking of Carol, might simply be an acknowledgment of the question as a question, which is to say an acknowledgment of the authority of mood, of its force and sway as a primordial way of being in the world. Presumably this acknowledgment irreducible to answer is part of what Heidegger means by “listening:” he writes, “listening to […] is Dasein’s existential way of Being-open as Being-with for Others.”²⁵ If a response or explanation potentially closes the exchange, attentive, acknowledging listening would be the mode in which Dasein can be-with in such a way that is adequate to the singularity of anxiety. To my mind, this begins to sound like the psychoanalytic setting, namely a care-full being-with that does not seek ordinary cure so much as attuned understanding, an acknowledgment of suffering, and of the strange coordination of mood, otherness, indeterminacy, and openness. Heidegger even suggests that authentic care involves, not taking care of the Other, but “giving [care] back to the Other;”²⁶ we can conceive of this as the crucial difference between diagnosis and interpretation, with the latter involving a registration of the other’s Angst that relays it back to her, gives it back to her anew, a caring-with rather than a caring-for. This relay, again, would involve not the solution to the problem or the alleviation of suffering but a relationality that could withstand the simultaneity of distance and proximity, strangeness, and intimacy. Safe does not hold out hope for this kind of attuned care; instead, all efforts to respond to Carol’s expressions of anxiety and calls for caring-with effectively refuse her by demanding that she makes sense of an experience the profundity
Heidegger (1962), p. 169. Ibid., p. 163. Ibid., p. 122.
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and painfulness of which derives from its rejection of sense-making. Carol’s asking “what is this?” is the only moment in Safe when she truly yields to the eruption of nonmeaning, without recourse to either repression (such that anxiety surfaces in the form of bodily symptoms) or interpretation. Yet this moment was too horrific to sustain and was quickly rejected by her husband and covered over by the wellness discourse of Wrenwood. For Haynes, the fate of a break in sense wrought by Angst is not authenticity, as Heidegger had hoped, but its swift reassimilation and domestication through meaning’s self-suturing, which both isolates the break as exceptional pathology and makes it easily meaningful through this very diagnosis. Any meaning, no matter how disturbing, would be better than none. This totalizing if never fully secured movement of meaning-making masquerading as care is nowhere better epitomized than in the final moment of the film, when Carol—in her sterile white chamber, alone but for her oxygen tank—looks at her pale and broken face in the mirror, and says, with a weak and disingenuous smile, “I love you. I really love you.”
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Der Begriff des Dämonischen bei Karl Jaspers Von der (methodischen) Phänomenologie zur (theologischen) Existenzphilosophie Abstract: The concept of the demonic plays an important role in existentialism, especially in the work of Jaspers. Jaspers’ terminology relies on the three fundamental meanings of the demonic. In his earlier demonological research, Jaspers uses the phenomenological method for the psychopathological analysis of existence, which is interpreted as subjective and objective. In the late period, Jaspers forwards an existential-demonological consideration that systematically understands the appearance of the demonic and offers an existentialist concept for its overcoming. Jaspers achieves this by appealing to the existential transcendence of the One and in so doing he offers an existentialist ethics. However, the connection between the phenomenological method and the existentialist explanation of Dasein is lost in the later Jaspers. The phenomenological description of the immanence of consciousness is replaced with an elaboration of the psychopathological analysis of existential transcendence.
Einleitung Der Begriff des Dämonischen spielt in der gegenwärtigen Existenzphilosophie eine wichtige Rolle, besonders bei Karl Jaspers. (I) Die drei grundlegenden Bedeutungen des Dämonischen in der Alltagsprache sind auch in der Terminologie Jaspers‘ enthalten. (II) In seiner frühen dämonologischen Forschung benutzt Jaspers die phänomenologische Methode, wenn auch für unterschiedliche Sachgehalte, v. a. für die psychopathologische Daseinsanalyse. (III) Das Dämonische wird als Subjektives und auch als Objektives interpretiert. (IV) In der Spätzeit legt Jaspers eine dämonologische Überlegung vor, die nicht nur systematisch die Erscheinung des Dämonischen in der Geschichte und Gegenwart ergreift und behandelt, sondern auch ein existenzphilosophisches Konzept zur Überwindung der modernen Dämonologie durch existenzielle Transzendenz anbietet, und somit auch durch eine existenzphilosophische Ethik. (V) Der Zusammenhang zwischen der phänomenologischen Methode und der existenziellen Daseinserhellung geht beim späten Jaspers verloren, da die phänomenologische Beschreibung der Bewusstseinsimmanenz, die beim frühen Jaspers inhaltlich durch die Ausarbeitung
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der psychopathologische Existenzanalyse ersetzt ist, beim späten Jaspers schließlich auch methodisch zur Konzeption eines existenziellen Transzendenzbezugs weiterentwickelt wird. I.Vom Dämon bzw. dem Dämonischen ist in der westlichen Denkgeschichte häufig die Rede, und zwar auf verschiedene Weisen, etwa geschichtlich wie bei Sokrates¹, literarisch wie bei Friedrich Nietzsche², theologisch wie bei Paul Tillich³, ästhetisch wie bei Johann Wolfgang von Goethe⁴, schließlich mehr oder weniger philosophisch wie bei Karl Jaspers. Sobald wir von Dämonen sprechen und denken, reden wir kaum noch philosophisch, selbst als Philosophen, wie etwa Sokrates, der, wenn er als Philosoph betrachtet wird, in diesem Punkt eher ein mythischer Philosoph ist, der sozusagen eu-daimonia ist, also von einem guten Dämon geschützt und somit glückselig ist. In der Tat ist der Begriff des Dämonischen und somit das Fach Dämonologie keine typisch philosophische Sache. Aber in der gegenwärtigen Existenzphilosophie spielt es doch eine wichtige Rolle, zuerst dank Sören Kierkegaard, nicht zuletzt, aber sicher zumeist, dank Karl Jaspers. Das Nachdenken über das Dämonische bei Jaspers geht in zwei Richtungen: Die eine ist die frühere Bearbeitung des Problems in seinem 1919 veröffentlichten Buch Psychologie der Weltanschauungen ⁵; die andere ist seine spätere Erforschung
Vgl. vor allem Platons folgende Gespräche, Apologia Sokratous, Laches, Kratylos, Phaidon, Politeia usw. Vgl. vor allem Friedrich Wilhelm Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen, in Friedrich Wilhelm Nietzsche Kritische Studienausgabe, Bde. 1– 15, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999, Bd. 1, S. 9 – 156, S. 157– 510, Die fröhliche Wissenschaft, München 1999, Bd. 3, S. 343 – 652. Vgl. Paul Johannes Tillich, „Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die Systematische Theologie“ (1926), in Paul Johannes Tillich Gesammelte Werke, Bde. I-XIV, hrsg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959 – 1983, Bd. VIII, S. 285 – 291, und dazu noch Werner Schüßler, „Der Begriff des Dämonischen. Anmerkungen zu einer zentralen Kategorie von Paul Tillichs religionsphilosophischem und theologischem Denken,“ in An den Rändern. Theologische Lernprozesse mit Yorick Spiegel. Festschrift zum 70. Geburtstag, hrsg. von I. Nord/ F. R. Volz, Münster: LIT Verlag 2005, S. 179 – 191. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit, in J. W. von Goethe Berliner Ausgabe, Bde. 1– 22, Berlin/ Weimar: Aufbau-Verlag 1965 – 78, Bd. 13. Und Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Frankfurt am Main: Insel Verlag 1981. Karl Theodor Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin: Julius Springer 1922 [1919], S. 191– 198.
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der Dämonologie in einem seiner 1947 in Basel gehaltenen Vorträge, die ein Jahr später vereint unter dem Titel Der philosophische Glaube erscheinen.⁶ Bevor wir diese beiden Richtungen näher betrachten, möchten wir zuerst dem Begriff des Dämonischen bei Jaspers eine terminologische Erläuterung geben. In der Alltagssprache und auch bei Jaspers hat das Wort „Dämonisches“ heute vor allem drei Bedeutungen: Als erstes zu nennen ist die Bedeutung, welche sich auf eine Verbindung von „dämonisch“ mit „Geist“ und „Genie“ bezieht. Diese Bedeutung stammt aus der Epoche des Sturm und Drang (aus der Geniezeit) und ist von Goethe stark geprägt. Sie bezieht sich auf die geistige Produktionskraft des Menschen. Am prominentesten ist die Verwendung des Ausdrucks „der dämonische Geist seines Genies“ im Gespräch mit seinem Freund J. P. Eckermann über Mozart.⁷ „Dämonisch“ bedeutet in diesem Sinne so viel wie „genial“ und bezieht sich auf ein konstituierendes Moment einer außerordentlichen geistig-intelligiblen Person. In seinen Notizen über Heidegger aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts benutzt Jaspers den Begriff des Dämonischen in diesem Sinne. So stellt er einmal fest, dass „man ihn [Heidegger] nicht dämonisch im Sinne Goethes nennen kann.“⁸ Diese Bedeutung des Dämonischen kannte Jaspers schon früher, wenn er schreibt: „das Dämonische Goethes ist alles, was der Ordnung, dem Logos, der Harmonie widerspricht und doch nicht bloß negativ, sondern von diesem selbst ein Bestandteil ist.“⁹ Die zweite alltagssprachliche Bedeutung des Dämonischen hat schon etwas Negatives an sich. Mit einem Dämonen in diesem Sinne will man eher etwas Bösartiges darstellen; er gilt hier als Antonym zum Schutzengel und Synonym für den Teufel. Jaspers benutzt diesen Begriff des Dämonischen auch ab und zu, wenn er z. B. „von einem teuflischen Dämon von Unheil zu Unheil geführt“ wird bzw. vom „abfallenden Engeln oder Dämonen“¹⁰ spricht, oder wenn er sich – ebenfalls in seinen Notizen zu Heidegger – die „Frage nach Heideggers Wirkung. Was ist das?“ stellt, und folgende Möglichkeiten in Betracht zieht: a) die allgemeine Frage des Zaubers (Hitler etc.) b) das Eigentümliche der objektiven Leistung ist es nicht, dieses lässt sich fassen – c) in der Persönlichkeit? –‚ dämonisch‘?
Vgl. Karl Jaspers, Der philosophische Glaube, München: Piper 71981 [1948], die fünfte Vorlesung, S. 90 – 116. Vgl. Eckermann (1981), 20. Juni 1831. Karl Jaspers, Notizen zu Martin Heidegger, München: Piper 1978, S. 77. Jaspers (1922 [1919]), S. 191– 198. Vgl. Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München: Piper 1962, S. 79, S. 362.
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d) Verkettung der ästhetischen Begabung und des Bösen oder doch Charakterlosen. e) Das Echo des Nihilismus in der Stimmung?¹¹
Jaspers setzt das Wort „dämonisch“ in Anführungszeichen, und fügt noch ein Fragezeichen an. Es klingt wie ein Fragen danach, ob in Heideggers Persönlichkeit etwas Teuflisches liegt. Die dritte Bedeutung des Dämonischen ist wohl die ursprünglichste und ebenfalls die wichtigste in der abendländischen Kulturwelt: Dämonisches ist nämlich etwas, was das Schicksal bestimmt. Schon bei Heraklit findet man den berühmten Spruch: „Des Menschen Charakter ist sein Dämon.“¹² Dazu haben Martin Heidegger¹³ wie Klaus Held ihre eigenen Interpretationen gegeben. „Daimon“, so nach Held, „war der traditionelle Titel für das unverfügbar Übermächtige, das im Glücken oder Missglücken des Lebens in Erscheinung tritt.“¹⁴ Dieses Schicksal bestimmende, ja das Schicksal selbst, verkörpert bei Platon ein Halbgott. Im Gastmahl etwa bezeichnet er Eros als Dämonisches und spricht im Namen von Diotima: „Alles Dämonische ist eben das Mittelglied zwischen Gott und Mensch (Unsterblichem und Sterblichem).“¹⁵ Ebenfalls in dieser Richtung schreibt Hegel später: Das Dämonion steht demnach in der Mitte zwischen dem Äußerlichen der Orakel und dem rein Innerlichen des Geistes; es ist etwas Innerliches, aber so, daß es als ein eigener Genius, als vom menschlichen Willen unterschieden, vorgestellt wird, – nicht als seine Klugheit, Willkür.¹⁶
All das, was das Dämonische charakterisiert, bildet zusammen das Thema der Dämonologie bei Jaspers. Sie besagt so viel, wie
Jaspers (1978), S. 89. „Êthos anthrópo daimon,“ in Die Fragmente der Vorsokratiker, Bde. 1– 3, hrsg. von Hermann Diels und Walther Kranz, Hildesheim: Weidmann 2004, Bd. 1, B 119. Vgl. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen: Neske 61986 [1957], S. 118, sowie Klaus Held, „Husserl und die Griechen,“ in Profile der Phänomenologie: zum 50. Todestag von Edmund Husserl, hrsg. von Ernst Wolfgang Orth, Freiburg/ München: Alber 1989 (Phänomenologische Forschungen, Bd. 22), S. 137– 176. Held (1989), S. 148. Platon, Das Gastmahl in Euthydemos. Hippias I/ II und Ion, Alkibiades I/ II. Gastmahl. Charmides, Lysis, Menexenos, in Platon Sämtliche Dialoge, Bde. I-VII, hrsg. von Otto Apelt, Hamburg: Felix Meiner 2004, Bd. III, 202e. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Jubiläumsausgabe, hrsg. von Hermann Glockner, Bde. 1– 20, Stuttgart-Bad Cannstatt 1927– 40, Bd. 18, S. 99.
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eine Anschauung, welche mit unmittelbarer Überzeugung das Sein in Mächtigen, in wirksamen gestaltbildenden Kräften – aufbauenden und zerstörenden –, in Dämonen – wohlwollenden und bösartigen –, in vielen Göttern erblickt, dies Geschehene denkt und als eine Lehre ausspricht.¹⁷
Auf diese drei grundlegenden Bedeutungen des Dämonischen werden wir unten wieder zurückkommen. II. Bevor Jaspers 1947 in Der philosophische Glaube seine dämonologische Arbeit entwickelt, hat er sich bereits in seinem 1919 veröffentlichten Buch Psychologie der Weltanschauungen mit dem Dämonischen eingehend beschäftigt. Er verleiht dem Buch den Titel der „Psychologie“, wohl mit der Absicht, es von philosophischen Arbeiten zu unterscheiden. So schreibt er bereits am Anfang des Vorworts: „Es ist philosophische Aufgabe gewesen, eine Weltanschauung zugleich als wissenschaftliche Erkenntnis und als Lebenslehre zu entwickeln. Statt dessen wird in diesem Buch der Versuch gemacht, nur zu verstehen,welche letzten Positionen die Seele einnimmt, welche Kräfte sie bewegen.“¹⁸ Jaspers wollte damit sagen, dass er hier, um philosophische Arbeiten zu leisten, als verstehender Psychologie argumentiert. Allein das erinnert uns schon an die Methode und das Sachgebiet der Phänomenologie Edmund Husserls. Was Jaspers unter Psychologie der Weltanschauungen versteht, entspricht in vielen Hinsichten Husserls Konzeption der „phänomenologischen Psychologie“. Dies ist nicht nur eine einfache und zufällige Assoziation zwischen den Arbeiten von Jaspers und Husserl. Jaspers liest schon ab 1909 Husserls phänomenologischen Werke, korrespondiert seit 1911 mit ihm, publiziert 1912 einen Aufsatz über „Die phänomenologischen Forschungen in der Psychopathologie“¹⁹ und lernt Husserl schließlich beim Besuch in Göttingen 1913 persönlich kennen.²⁰ Es ist vielleicht zweifelhaft, zu sagen, Jaspers habe eine „psychopathologische Phänomenologie“ begründet; ohne Zweifel kann man jedoch behaupten, dass er die phänomenologische Methode in der Psychologie bzw. in den therapeutischen Verfahren eingeführt und ausgeübt hat.
Jaspers (1981 [1948]), S. 92. Jaspers (1922 [1919]), S. V; vgl. dazu auch seine Einleitung, § 1. „Was eine ‚Psychologie der Weltanschauung‘ sei,“ S. 1 f. Jaspers, „Die phänomenologischen Forschungen in der Psychopathologie,“ in Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 9, 1912, S. 391– 408. Vgl. Hans Saner, Karl Jaspers. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1970, S. 32; Karl Schuhmann (Hrsg.), Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, Den Haag: Martinus Nijhoff 1977, S. 175; Elisabeth Schuhmann und Karl Schuhmann (Hrsg.), Edmund Husserl. Briefwechsel, Bde. I-X, Dordrecht/ Boston/ London: Kluwer 1994, Bd. VI, S. 200 ff.
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Husserl hingegen hat sicherlich grundlegende Kenntnisse über die fraglichen Arbeiten Jaspers’ gehabt. Festzustellen ist etwa 1912 die Lektüre des genannten Aufsatzes von Jaspers und dann seines Buches Psychologie der Weltanschauungen, dokumentarisch noch im Jahre 1930²¹, sodass er beim Empfang von Jaspers 1913 in Göttingen, als dieser ihn „etwas trotzig“ fragt, „was eigentlich Phänomenologie sei, das sei [ihm] unklar“, erwidern kann: „Sie treiben Phänomenologie in Ihren Schriften ausgezeichnet. Sie brauchen nicht zu wissen, was es ist, wenn Sie es richtig tun.“²² Freilich bestehen zwischen Husserls und Jaspers’ Vorstellungen von Phänomenologie noch wesentliche Unterschiede, weniger in Hinsicht auf die Methode als in Hinsicht auf den Inhalt bzw. das Thema. An Phänomenologen wie Husserl und A. Pfänder „bewunderte er [Jaspers]“, so Hans Saner, die Produktivität im Erschaffen einer neuen Methode, die Disziplin des Denkens, die Kraft im Klären der Voraussetzungen, die Exaktheit im Unterscheiden der Nuancen, den Rückgriff auf die Sachen selbst. Aber von ihren Ergebnissen her schien ihm, daß die Anwendung der phänomenologischen Methode nicht ebenso bedeutend sei wie die Entwicklung der Methode selber. Husserl hatte zwar ein Instrument der exakten Analyse geschaffen, das es erlaubte, bisher nicht gesehene Dinge sachnah zu sehen, und er vollzog die Gebärde des Sehens ²³, aber was er sah, war philosophisch unerheblich. Hier fehlte der Blick für das existentiell Relevante.²⁴
In dieser Ausführung sieht man deutlich die Gemeinsamkeit zwischen Husserls und Jaspers’ Vorstellungen von der phänomenologischen Methode, aber zugleich auch die Differenziertheit zwischen ihren Vorstellungen von Philosophie: Wichtig für die Philosophie ist Husserl zufolge das transzendentale Bewusstsein nach seinen Wesensstrukturen, gemäß Jaspers jedoch das existenziell Relevante. Bei Letzterem erfolgt also schon eine Blickwendung in der phänomenologischen Erforschung: Die transzendentale Problematik und die damit zusammenhängende reflexive Schärfe der phänomenologischen Bewusstseinsanalyse bzw. Intentionalitätsanalyse, welche die Husserlsche Phänomenologie charakterisiert, werden bei Jaspers außer Acht gelassen, dafür gewinnt er die mögliche Blickrichtung auf eine phänomenologische Existenzanalyse, ähnlich wie sich zur
Vgl. Schuhmann (1977), S. 368. Karl Jaspers, Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze, München: Piper 1951, S. 386 f. Jaspers (1951), S. 386. Saner (1970), S. 33.
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gleichen Zeit die Daseins- bzw. Existenzanalyse bei seinem Freund und damals Gleichgesinnten Heidegger entwickelt.²⁵ Was diese spezifische Eigenschaft der phänomenologischen Existenzanalyse bei Japsers betrifft, wird sich im folgenden Abschnitt zeigen. III. In seiner Charakteristik des Dämonischen in der Psychologie der Weltanschauungen wird nicht wie bei Husserl das reine Bewusstsein überhaupt thematisiert, sondern das menschliche Seelenleben, das sich von Seiten des Subjekts und des Objekts her betrachten lässt. Die sogenannte „Weltanschauungspsychologie“ wird von Jaspers bezeichnet als „ein Abschreiten der Grenzen unseres Seelenlebens, soweit es unserem Verstehen zugänglich ist“.²⁶ „Sofern die Seele in der Subjekt-Objektspaltung existiert, sieht die psychologische Betrachtung vom Subjekt her Einstellungen, von Objekt her Weltbilder.“²⁷ Daher werden im 1. Kapital drei Arten von Einstellungen festgestellt und behandelt: die gegenständliche, die selbstreflektierte und die enthusiastische, und im 2. Kapitel werden dann dementsprechend die drei Arten von Weltbildern zum Thema: das sinnlichräumliche (Natur-Weltbild), das seelisch-kulturelle (Seele-Weltbild) und das metaphysische Weltbild. Diese beiden Richtungen, Einstellungen und Weltbilder erinnern uns an Noesis und Noema in Husserls Terminologie, also an die Bewusstseinskonstitution sowie deren Konstituiertes. Die Weltbilder sind hier durch Einstellungen konstituiert, ebenso das Dämonische als Weltbild von der enthusiastischen Einstellung.
Heidegger geht im Grunde genommen jedoch etwas anders vor. Er will nicht Husserls Bewusstseinsanalyse durch seine Daseinstrukturanalyse ersetzen, wie es bei Jaspers der Fall ist, sondern nur diese für grundlegender als jene halten, bzw. diese als Vorraussetzung für jene betrachten. Dies ist ersichtlich aus seinen folgenden Aussagen: „Die Intentionalität nämlich auf ihren Grund hin durchdenken, heißt sie auf die Ek-statik des Da-seins gründen. Mit einem Wort, es muß erkannt werden, daß das Bewußtsein in Da-sein gründet.“ (Martin Heidegger, Vier Seminare, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, S. 122) „Die bisher in der Phänomenologie einzig übliche Charakteristik der Intentionalität erweist sich als unzureichend und äußerlich“, „die Intentionalität gründet in der Transzendenz des Daseins und ist einzig auf diesem Grund möglich, man kann nicht umgekehrt die Transzendenz aus der Intentionalität aufklären.“ (vgl. Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927), Frankfurt am Main: Klostermann 1975 (Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 24), S. 230) „Vom Phänomen der Sorge als der Grundstruktur des Daseins her läßt sich zeigen, daß das, was man in der Phänomenologie mit Intentionalität gefaßt und wie man es gefaßt hat, fragementarisch ist, ein nur von außen gesehenes Phänomen ist.“ (vgl. Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs (Sommersemester 1925), Frankfurt am Main: Klostermann 1994 (Martin Heidegger Gesamtausgabe, Bd. 20), S. 420) Jaspers (1922 [1919]), S. 6. Ebd., S. 141.
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Jaspers’ psychologische Arbeit in Bezug auf das „Objekt“ als Konstituiertes liegt in der Beschreibung der Weltbilder, die „die Arten, Richtungen und Orte des Gegenständlichen überhaupt festlegen“.²⁸ Er zählt das Dämonische zum metaphysischen Weltbild,²⁹ das sich in zwei Klassen teilen lässt: die inhaltlichen Typen und die Typen des philosophischen Denkens. Unter den inhaltlichen Typen steht neben dem philosophischen Weltbild nur noch das mythologisch-dämonische Weltbild. Man kann eigentlich sagen, dass das gesamte metaphysische Weltbild bei Jaspers nur aus zwei Typen besteht: dem dämonischen und dem philosophischen. Denn die andere Klasse, d. h. die sogenannten „Typen des philosophischen Denkens“, sind nur Gesichtspunkte zur Charakterisierung des philosophischen Weltbildes und gehören in diesem Sinne auch mit zum Typus des philosophischen Weltbildes.³⁰ Unter dem mythologisch-dämonischen Weltbild versteht Jaspers „das primitive, unmittelbare aller Völker der Erde“.³¹ Dieses Weltbild ist früher und wirklicher als die anderen Weltbilder (Natur-Weltbild und Seele-Weltbild) und hat das Charakteristische an sich: [E]s wird nicht ein Gedanke geschaut und entwickelt, nicht ein Begriff in gedanklichen und anschaulichen Beziehungen begründet, sondern es wird eine Geschichte erzählt (die durch Tradition übernommen oder als selbstverständlich offenbart ist, jedenfalls keine Begründung zulässt und oder auch nur fordert, die Frage nach Begründung wird zunächst gar nicht gestellt).³²
Somit hat es sich auch von dem philosophischen Weltbild distanziert, welches gemäß Jaspers folgendermaßen zu charakterisieren ist: Es beruht nicht auf Autorität, auf bloßem Hinnehmen und Glauben, auf dem Sicherzählenlassen; vielmehr appelliert es an das eigene, in originaler Erfahrung gewonnene Schauen des Menschen überhaupt. Es beruht nicht auf Offenbarung, nicht auf spezifischen Erfahrungen in besonderen Bewusstseinszuständen, sondern will in Begründungszusammenhängen eine überall im Menschen autonome Evidenz in Anspruch nehmen.³³
Ebd., S. 141. Hier wirkt sich der Einfluss von Søren Kierkegaard aus, welcher das Dämonische zu einer ästhetisch-metaphysischen Betrachtung bringen will. (vgl. Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, deutsche Übersetzung von Emanuel Hirsch, Aachen 1983, S. 122) Vgl. dazu Jaspers (1922 [1919]), S. 203. Ebd., S. 191. Ebd. Ebd., S. 198.
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Im Gegensatz zu diesem philosophischen Weltbild nennt Jaspers jenes andere Weltbild sowohl „mythologisch“ als auch „dämonisch“, oder von der modernen Welt her betrachtet auch ein „Kunst-Weltbild“³⁴. Es besteht aus verschiedenen anthropologischen Typen und unterschiedlich geschichtlichen Gestalten, die in allen Völkern und in allen Jahrhunderten bis zur Gegenwart existieren. Als eine allgemeine Erscheinung in der Geschichte der Menschheit kann es zum Gegenstand einer psychologischen Untersuchung gemacht werden, da es von Seelenprozessen abhängig ist, psychopathhologisch gesprochen: vom Hang des Menschen zum Wunderbaren, vom Hang zum Geheimnis und Geheimnisvollen abhängig ist. Obwohl das mythologisch-dämonische und das philosophische Weltbild sich einander so entgegenstellen, werden beide von Jaspers in das metaphysische Weltbild eingeordnet. Das bedeutet, dass sie in sich metaphysische Elemente enthalten, welche ihre Gemeinsamkeit herstellen. In der Tat ist das dämonische Weltbild nur halb-metaphysisch. Es manifestiert sich sowohl im Empirischen als auch im Metaphysischen, sowohl im Körperlichen als auch im Unkörperlichen, sowohl im Sinnlichen als auch im Übersinnlichen. Dabei stützt sich Jaspers vor allem auf Goethes Schilderung und Charakterisierung des Dämonischen in dessen Werk Dichtung und Wahrheit sowie auf seinen Gesprächen mit Eckermann.³⁵ Das Entscheidende in dieser Auffassung des Dämonischen besteht darin, dass das Dämonische nicht mehr wie bei Kierkegaard als etwas Subjektives, als sich auf das Verhalten des Menschen Beziehende, als „Angst vor dem Guten“,³⁶ sondern als etwas Objektives, als „ungeheuere Kraft“ verstanden wird, sodass Goethe zu wichtigen historischen Persönlichkeiten wie Friedrich und Peter den Großen,
Ebd., S. 191. Ebd., S. 194 ff. Kierkegaard (1983), S. 122; vgl. dazu Jaspers’ Aussage über Kierkegaards Begriff des Dämonischen: „Kierkegaard zeigt ergreifend das Dämonische in uns, daß man verzweifelt in Verschlossenheit sich verfängt.“ (Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, Berlin/ Darmstadt/ Wien: Dt. Buch-Gemeinschaft 1962, S. 118) Jaspers’ eigene Beschreibung des Dämonischen ist sowohl in seiner Frühzeit als auch in seiner Spätzeit durch Kierkegaard geprägt: in Psychologie der Weltanschauungen etwa schreibt er: „Der Mensch, der in vollem Bewusstsein zum Trotz er selbst sein will, wird ‚dämonisch‘.“ (vgl. Jaspers (1922 [1919]), S. 428) Und in Der philosophische Glaube heißt es: „Das Dämonische als der trotzige Wille zum eigenen zufälligen Selbst ist ein Verzweifelt-man-selbst-sein-wollen.“ (vgl. Jaspers (1981 [1948]), S. 96) Genau in diesem Sinne definiert Ch. Dätsch Jaspers’ Begriff als „dämonisch“: „Die Verkennung seiner existenziellen Verfasstheit führt den Menschen hinein in Selbstabschließung und Einseitigkeit, in einen Seelenzustand, den Jaspers dämonisch nennt.“ (Christiane Dätsch, Existenzproblematik und Erzählstrategie. Studien zum parabolischen Erzählen in der Kurzprosa von Ernst Weiß, Tübingen: Niemeyer 2009, S. 22)
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Napoleon, Karl August, [H.G.V. Comte de] Mirabeau usw. sagen kann: „Je höher ein Mensch, desto mehr steht er unter dem Einfluß der Dämonen“. Und zu sich selbst dann: „In meiner Natur liegt es [das Dämonische] nicht, aber ich bin ihm unterworfen.“³⁷ Das ist wohl der Grund dafür, dass Jaspers das Dämonische zum Weltbild zählt, d. h. zu dem von Einstellungen Konstituierten, mithin zum Objektiven im menschlichen Seelenleben und nicht zum Subjektiven. Dieser Gegensatz zwischen den Auffassungen des Dämonischen bei Goethe und Kierkegaard, der in der Psychologie der Weltanschauungen in zwei Referaten Goethes (S. 193 – 198) und Kierkegaards (S. 428 – 432) nur getrennt und implizit zum Ausdruck kommt, stellt sich in Jaspers späterem Werk Der philosophische Glaube bewusst und explizit dar: Goethe schildert das Dämonische als eine objektiv wirkende Kraft; er umkreist sie durch Nennung ihrer widersprüchlichen Erscheinungen. Kierkegaard erblickt das Dämonische ausschließlich im Menschen. Dämonisch ist der Mensch, der sein Selbst absolut behaupten will. Kierkegaard erhellt dies Dämonische durch Aufweis des Sinns des Selbstseins und der in ihm möglichen Verkehrung.³⁸
Diese Feststellung Jaspers’ gehört mit zu seiner begriffsgeschichtlichen Untersuchung in seinem späteren Werk. IV. Der philosophische Glaube (1942) ist unter anderen ein Werk, in dem Jaspers nochmals versucht, das Dämonische gründlich zu untersuchen. Auf dieser Grundlage stellt er sich auch die Aufgabe, die moderne Dämonologie umfassend zu kritisieren und in dieser Hinsicht die philosophische Aufgabe zu erfüllen, „nicht nur abzuwehren, sondern zugleich die Wahrheit im Abgewehrten zu rechtfertigen“.³⁹ Das Thema des Dämonischen wird in der fünften Vorlesung „Philosophie und Unphilosophie“ behandelt. Jaspers bearbeitet hier die Dämonologie als eine der drei miteinander zusammenhängenden Arten des philosophischen Unglaubens bzw. unphilosophischen Glaubens.⁴⁰ Seine Ausführungen über die Dämonologie gehen vor allem in zwei Richtungen: Einmal stellt er vier sinnvolle Weisen in der Geschichte auf, wie vom Dämonischen zu sprechen sei, und das andere Mal übt er auf sechs verschiedenen Weisen Kritik an der modernen Dämonologie als Weltanschauung des Unglaubens.
Vgl. Jaspers (1922 [1919]), S. 194 ff. Die anderen zwei sind „Menschenvergötterung“ und „Nihilismus“. (vgl. Jaspers (1981 [1948]), S. 91) Jaspers (1981 [1948]), S. 107. Ebd., S. 95.
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In diesen späteren dämonologischen Studiem vereinigt Jaspers sozusagen die psychologisch-phänomenologische Daseinsanalyse und den existenziell-philosophischen Appell miteinander. D.h., nicht nur der Seelenzustand, das existenziell Relevante des Menschen wird analysiert, sondern auch die existenzphilosophische Überwindung dieses Zustands wird gefordert. Bereits in der ersten von den vier sinnvollen Weisen, in der Geschichte vom Dämonischen zu sprechen, stellt Jaspers fest, dass die Menschen heute von der existenziellen Wirklichkeit weiter entfernt sind als die Menschen in der alten Zeit. „Wo dämonologische Anschauung ursprünglich war, da war sie wie der Mythos die geschichtliche Gestalt existenziell erfahrener Wirklichkeit.“⁴¹ „Existenziell“ steht hier im Gegensatz zu „wesentlich“, „erkenntnismässig“ usw. Für die Existenzphilosophie, die Jaspers vertritt, ruht das menschliche Dasein nicht mehr auf dem Erkennen, sondern auf dem Ergreifen seiner eigenen Möglichkeiten. Mit Jaspers’ eigenen Worten ist die Existenz „das kennzeichnende Wort“; „[e]s betonte, was die eine Zeitlang fast vergessene Aufgabe der Philosophie ist: die Wirklichkeit im Ursprung zu erblicken und sie durch die Weise, wie ich denkend mit mir selbst umgehe – im inneren Handeln – zu ergreifen.“⁴² Seine Existenzphilosophie versucht dadurch „eine Gestalt der einen, uralten Philosophie“ wieder ins Leben zu rufen. In Bezug auf sein dämonologisches Studium bedeutet dies einerseits eine vielfache Kritik an der modernen Dämonologie: „die Transzendenz wird verfehlt“; „der Mensch wird verloren“; „der Bezug auf das Eine wird nicht gewonnen“; „Dämonologie ist versenkt in die Natur“; „moderne Dämonologie ist durchaus eine ästhetische Haltung“; und „Dämonologie entwirft eine Zwischensein, das weder empirische Realität noch transzendente Wirklichkeit ist“⁴³, und andererseits einen Aufruf zur Gegenmaßnahme, zur existenzphilosophischen Einsetzung für die Religion bzw. für den philosophischen Glauben. Existenz wird – wie bei Heidegger auch⁴⁴ – als eine Art Transzendenz erklärt, die
Ebd., S. 93. Jaspers, Existenzphilosophie, Berlin: de Gruyter 1956, S. 1; vgl. dazu J. Hirschbergers Charakterisierung der Existenzphilosophie: „ein neues Seinsverständnis“ „für das Geschichtliche und Einmalige im Menschen, für das Werden und den Prozess gegenüber den statisch-schematischen Wesenheiten“, und auch seinen Hinweis: „Heidegger sowohl wie auch Jaspers und Sartre kämen überein in dem Aufstand gegen die herkömmliche abendländische Wesensmetaphysik, und zwar sowohl gegen deren objektivistische Ausprägung in der alten Tradition der platonisch-aristotelischen Philosophie wie auch gegen die subjektivistische Variante in den modernen idealistischen Systemen seit Kant.“ (Johannes Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bde. I-II, Freiburg: Herder 1949 – 52, Bd. II, S. 631 f.) Jaspers (1981 [1948]), S. 100. „Existenz“ als eine Art Transzendenz zum Sein bzw. als das ek-statische Hinausstehen des Menschen wird bei Heidegger schon in Sein und Zeit durch die Aussage betont: „Existenz besagt
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zugleich Aufhebung der modernen Dämonologie besagen kann: „Der Aufschwung zur Transzendenz des Einen ist überall in Überwindung der Dämonologie.“⁴⁵ Als geschichtliche Beispiele dafür nennt Jaspers zwei: „Sokrates hat sich den Dämonen entzogen, um seinem Daimonion und in diesem der Forderung der Gottheit zu folgen. Die Propheten überwanden den Baalsdienst, um Gott zu dienen.“⁴⁶ Für Dämonen oder für das Daimonion, für Baal oder für Gott, für Dämonologie oder für Theologie – das ist also jetzt die existenzielle Grundentscheidung, die sich von der rationalen, erkenntnismäßigen Entscheidung unterscheidet. Jaspers weist in seinem Spätwerk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962) immer wieder darauf hin: Die eine Transzendenz und die dämonischen Mächte, der Zug zur Transzendenz hin und von ihr fort, sind kein Problem einer rationalen, sondern existentiellen Entscheidung, und zwar nicht einer allgemeingültig formulierten, sondern der jeweils konkreten.⁴⁷
Wir sehen, dass die Untersuchungen zum Dämonischen, auch wenn wir sein Spätwerk Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung nicht dazu rechnen, bei Jaspers mehr als zwanzig Jahre gedauert haben, von Psychologie der Weltanschauungen (1919) bis zu Der philosophische Glaube (1948). Im Lauf dieser Untersuchungen ist ein Übergang von der phänomenologischen bzw. psychopathologischen Daseinsanalyse bzw. Existenzauslegung zur existenzphilosophischen Ergreifung und Aufforderung mehr oder weniger deutlich zu beobachten. V. Während in Jaspers’ frühen dämonologischen Forschungen noch ein innerer Zusammenhang zwischen der phänomenologisch-psychologischen Methode und der existenziellen Daseinserhellung vorhanden war, geht dieser beim späteren Jaspers verloren. Obwohl die phänomenologische Beschreibung der Bewusstseinsimmanenz schon von Anfang an für Jaspers infrage steht, ist die in der Reflexion durchgeführte psychologische Analyse der Weltanschauungen auf beiden Seiten hinsichtlich der Einstellungen und Bilder vergleichbar: sowohl mit Husserls frühen psychologisch-phänomenologischen Konzeption, als auch mit Husserls späten phänomenologischen Arbeit über die Lebenswelt. Wie weit und wie intensiv Jaspers und Husserl (und natürlich auch Heidegger) damals in Sachen der
Seinkönnen, aber auch eigentliches.“ (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1979 [1927], S. 38) Später (seit 1942) tritt dieses fundamentalontologische Anliegen Heideggers durch die besondere Schreibweise „Ek-sistenz“ noch klarer hervor. Jaspers (1981 [1948]), S. 99. Ebd. Jaspers (1962), S. 159.
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phänomenologischen Intentionalitätsanalyse und der hermeneutischen Existenzauslegung voneinander beeinflusst sind, ist eine Frage, die noch offensteht. Jedenfalls ist in methodischer Hinsicht die phänomenologische Beschreibung der Bewusstseinsstrukturen beim frühen Jaspers beibehalten, inhaltlich aber schon durch die Ausarbeitung der psychopathologischen Existenzanalyse ersetzt. In den späteren Arbeiten Jaspers finden sich dann nur noch schwache Spuren von Phänomenologie. Denn methodisch entfernt sich Jaspers von der psychologischen und phänomenologischen Vorgehensweise und macht sich unabhängig durch die Ausarbeitung der Konzeption eines existenzphilosophischen und theologischen Transzendenzbezugs. Zwischen Phänomenologie und Existenzphilosophie, zwischen der rein phänomenologischen Bewusstseinsanalyse und der existenzialphilosophischen Daseinsanalyse (Existenzauslegung) besteht ein wesentlicher Unterschied bzw. ein Gegensatz, der in der Entscheidung für die reine Immanenz oder die ‚Transzendenz des Einen‘ liegt, die für Jaspers nun ausschlaggebend ist: „Es ist die erste Entscheidung des philosophischen Glaubens, ob eine Vollendung der Welt in sich als möglich gedacht wird, oder ob Transzendenz das Denken führt.“⁴⁸ Es ist Jaspers’ latente Kritik an Husserls Phänomenologie als Immanenzphilosophie des reinen Bewusstseins, wenn er schreibt: „Die Forderung reiner Immanenz gründet sich auf die Behauptung, alles Transzendente sei Täuschung, sei Illusion der Untätigen, sei ein Imaginäres, in das vor der Härte der Wirklichkeit geflohen wird.“ Aber „bloße Immanenz“, so fährt Jaspers fort, „ist trotz aller augenblicklichen Kraft, trotz aller augenblicklichen Helligkeit des Wissens von transparenzloser Flachheit, ohne die Unbedingtheit der Treue, ohne die Kontinuität des Wachsens im liebenden Kampf, ohne Gegenwart eigentlicher Wirklichkeit.“ Mit einem Wort: „Was transzendenzlos bleibt, wirkt wie verloren; es läuft bloß ab und ist sich seiner selbst entweder unbewußt oder als eines Nichtigen bewußt.“ Schließlich heißt es: „Im Augenblick, wo ich das Sein im Gewußtsein aufgehen lasse, ist mir die Transzendenz verschwunden, und bin ich selbst mir verdunkelt.“⁴⁹ Der eigentliche Ausweg für den Menschen in der gegenwärtigen Situation ist nach Jaspers nicht der Weg in die Immanenz, sondern der Sprung in die Transzendenz. „Es geschieht daher der Sprung unseres Seinsbewußtseins in dem Augenblick, wo wir ursprünglich mit unserem Wesen erfahren: daß Transzendenz für uns die Wirklichkeit ist im Bruch allen Daseins.“⁵⁰ Das bedeutet zugleich: Der
Jaspers (1956), S. 69. Ebd., S. 69 f. Ebd.
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Ausweg für die Menschheit ist nicht der Weg der menschlichen Vernunft bzw. der wissenschaftlichen Wahrheit, sondern der Weg zum philosophischen Glauben, zur eigentlichen Wirklichkeit.
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Diskursive Aberration als Grundlage des Gelingens Zur existenzialistischen Ethik bei Sartre Abstract: Discourse is essentially based on an intrinsic falling short of meaning— if not failing meaning altogether, which originates within the conceptual gap between the pre-reflexive and the reflexive cogito. At the same time, this gap causes a mundane necessity for uncovering interpretational models of evaluating discourses and surgically embedding them into given contextual meanings via constructive methods. This shows up as nothing but an anthropological property of human systems and thus of communicational networks as well as social spaces. This aberration turns out to be a necessary although insufficient condition for the possibility of eventually establishing a succeeding discourse rather than pointing to a complete failure. It can be shown that this necessary failure is the condition of the possibility of success, which Sartre establishes as the prime foundation of ethics in a genuinely dialectical sense.
Einleitung Ist man sich darüber einig, den Menschen als Naturprodukt zu verstehen, dann muss jeder philosophische Ansatz, der darauf ausgeht, Menschen als isolierte soziale Kommunität inmitten der Seinsbereiche zu erfassen, zwangsläufig zu kurz greifen. Es gilt vielmehr, von jener philosophischen Hauptlinie auszugehen, welche die Existenz in ihrem kosmologischen Ausgriff und ihrem unvordenklichen Seinszusammenhang zu sehen bestrebt ist und dabei eine konzeptuelle Annäherung an die Natur nicht nur nicht scheut, sondern von vornherein an den Anfang der Untersuchung stellt. Im Falle der Philosophie Sartres können wir insofern mit einiger Berechtigung von jener Denklinie ausgehen, die von Spinoza her ihren Weg über Schelling (und im Übrigen auch Bloch) nimmt. Soweit erkennbar, erwähnt Sartre in seinen Werken Schelling freilich nicht, rezipiert ihn aber gleichwohl mittelbar – und sei es über das, was Simone de Beauvoir ihm über ihre Lektüre mitteilt. So wird Sartre zwar durchgängig in seinem Werk den Naturbegriff eher ausgrenzen – von einigen seltenen Ausnahmen abgesehen – zugleich jedoch wird er gerade jene Erkenntnisse mit in sein Reflexionsinventar aufnehmen, die ohne einen Naturbegriff, wie er auf der Linie Spinoza-Schelling-Bloch entwickelt
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und durch die Tübinger Axiomatik wesentlich geprägt worden ist, undenkbar wären. Ich werde im hier Vorliegenden daher wie folgt vorgehen: Während im nachfolgenden, zweiten Abschnitt Ausgangspunkt und Problemstellung kurz dargelegt werden, geht es im dritten Abschnitt um eine thematische Lektüre Sartres mit Lacan, um vor allem die zentralen Begriffe hierbei, Differenz, Diskurs und Ethik, unter sartrescher Perspektive zueinander positionieren zu können. Im vierten Abschnitt schließlich soll das vorläufige Fazit zu weiterer Arbeit anregen. Insofern wird sich ergeben, dass der kommunikative Diskurs der Menschen im Wesentlichen auf ein intrinsisches Verfehlen der Bedeutung gegründet ist, wenn nicht auf ein strukturelles Scheitern der Verständigung insgesamt, das seinen Ursprung nimmt in jener konzeptuellen Lücke zwischen dem präreflexiven und dem reflexiven Cogito. Zugleich bewirkt diese Lücke eine generische Notwendigkeit zur Auffaltung von in der Hauptsache propositional verfassten Interpretationsmodellen, welche imstande sind, den stattfindenden Diskurs angemessen zu evaluieren und in einen poetischen Kontext einzubetten, mit konstruktiven Methoden, die durchaus an bestimmte Typen der Chirurgie erinnern. Weil mithin diese ursprüngliche Form der Aberration als nichts weiter erscheint als eine anthropologische Eigenschaft menschlicher Systeme, somit auch kommunikativer Netzwerke und sozialer Räume, erweist sie sich als notwendige, wenn auch nicht zureichende Bedingung für die Möglichkeit, schließlich einen gelingenden Diskurs überhaupt erst zu etablieren, statt im vollständigen Scheitern zu enden. Der Begriff „Aberration“ ist dabei als nahe liegende Metapher dem entsprechenden Gebiet der physikalischen Optik entlehnt, denn dem Diskurs liegen in erster Linie immer erst vorgängige (kognitive) Prozesse der Abbildung zugrunde. Es ist gerade dieses notwendige Verfehlen als Möglichkeitsbedingung des Erfolgs, das Sartre als ersten Grund der Ethik einführt, in einem genuin dialektischen Sinne. Mithin ist die existentielle Ethik Sartres nicht nur, wie hier behauptet werden soll, konstitutive Ingredienz seines gesamten Werkes, sondern auch unübersteigbares Verdienst eines hermeneutischen Ansatzes, der unmittelbar auf das verweist, was als Unsagbares propositional niemals aufgelöst werden kann, ganz auf einer Linie mit dem antiken Argument Heraklits für eine strukturelle Metastabilität sozialer Systeme.
I Die Problemstellung Passend hierzu hat Michael Blamauer vergleichsweise kürzlich auf sehr anschauliche Weise erneut darauf hingewiesen, dass es evidentes Wissen von einer objektiv gegebenen Welt Schelling zufolge nur im Rekurs auf ein erstes Wovonher
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dieses Wissens geben kann, denn Wissen ist als Wissen von immer synthetisch, deshalb bedingt und prinzipiell bezweifelbar.¹ In der frühzeitig bereits von Manfred Frank² erhellten Sichtweise ergibt sich recht zwanglos in einer nachkantisch mit Fichte ansetzenden und bei Schelling entscheidend weitergeführten Neuentwicklung, dass die Jemeinigkeit des Wissens […] sich [somit] als irreduzibles Moment objektiver Gegebenheit erwiesen [hat]. Die objektiven Tatsachen sind somit wesentlich auf meine faktische Existenz angewiesen, insofern diese sich als grundlegende Bedingung des Erscheinens jener gezeigt hat. Darum ist die Überlegung legitim, ob nicht zwischen der Faktizität meiner selbst und der Faktizität einer gegenständlich gegebenen Welt ein unmittelbarer Zusammenhang besteht. Das könnte allerdings nur gezeigt werden, wenn die Faktizität der wechselweisen Erscheinungsbedingtheit von subjektiver Perspektive und objektiver Dingwelt auf die Faktizität meiner originären Selbstgegebenheit rückbegründet wird. Dieses originäre Selbstgegebensein ist das Selbstbewusstsein. In ihm bin ich mir ursprünglich selbsterschlossen.³
Allein schon wegen des Anhebens der Reflexionsbewegung von jener Jemeinigkeit her⁴, ist somit das unmittelbare Objekt der Transzendentalphilosophie immer schon das Subjektive, und die Aufgabe der Transzendentalphilosophie liegt mithin in der Freilegung seiner konstitutiven Strukturen für eine gegenständliche Welt, die für sein subjektives Sich-Wissen zugleich notwendige Bedingung seiner selbst ist. Das heißt, das Objekt der Analyse ist die Subjektivität selbst, das schlechthin Nicht-Objektive.⁵ Die Frage ist dann aber,wie ein schlechthin Nicht-Objektives zum Objekt transzendentaler Reflexion werden könne: „Die ganze Philosophie geht aus“, schreibt Schelling, „und muß ausgehen von einem Princip, das als das absolut Identische schlechthin nichtobjektiv ist. Wie soll nun aber dieses Nichtobjektive doch zum Bewußtseyn hervorgerufen und verstanden werden, was nothwendig ist, wenn es Bedingung des Verstehens der ganzen Philosophie ist?“⁶ Schellings Antwort wird lauten: Indem sich das Subjektive in einem stetigen Akt selbst zum Objekt macht und so ein identisches Wissen produziert, in wel-
Vgl. Michael Blamauer, Subjektivität und ihr Platz in der Natur. Untersuchung zu Schellings Versuch einer naturphilosophischen Grundlegung des Bewusstseins, Stuttgart: Kohlhammer 2006, S. 56. Nach wie vor unerreicht: Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, 2. Aufl., München: Fink 1992. Blamauer (2006), S. 56. Vgl. Rainer E. Zimmermann, System des transzendentalen Materialismus, Paderborn: mentis 2004. Vgl. Blamauer (2006), S. 56. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämmtliche Werke, 1. Abt. Bde. 1– 10, hg. von Karl F.August Schelling, Stuttgart, Augsburg: Cotta 1856 – 61, Bd. 3, S. 624 f.
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chem es sich selbst (als Wissen) mit sich selbst (als Gewusstem) identifiziert. Diese Identifizierung ist wiederum nur möglich, weil es im Wesen der Subjektivität liegt, schon vor jeglichem identifizierenden Akt sich selbst erschlossen, mit sich selbst vertraut zu sein.⁷ Ob aber das Selbstbewusstsein noch etwas Erklärbares ist oder nicht, das heißt, ob es außerhalb seiner noch etwas gibt, von woher es verstanden werden kann, ist (zumindest zu jener Zeit bei Schelling) eine sinnlose Frage, da unser Wissen hier an eine Grenze stößt, die es nicht aufheben kann.⁸ (Die sartreschen Konnotationen sind hier schon mehr als deutlich.) Ich habe zudem vor Längerem in meinem Schelling-Buch⁹ bereits ausführlicher auf jene Zusammenhänge zwischen Schelling einerseits und Sartre und Bloch andererseits verwiesen, die sich vor allem aus der Freiheitskonzeption bei Schelling ableiten lassen: In seinen mittleren und späteren Schriften nämlich rekurriert Schelling neuerlich auf seinen frühen Freiheitsbegriff, der im Grunde das Selbstbewusstsein immer schon qualifiziert. Freilich fasst er nunmehr die kontextuelle Einbettung der Freiheit systematischer, insofern sie ihm nicht nur als rein abstrakter Grund des Absoluten selbst (und insofern auch als Abgrund oder Ungrund) gilt, sondern auch mit praktischer Freiheit verflochten wird, indem sie nicht mehr bloße Überwindung von Abhängigkeit ist, wie noch bei Fichte, sondern eher als Vereinigung von Gegensätzen verstanden wird. Sie zielt also mehr auf eine alle Gegensätze übergreifende Einheit, nicht allein auf das Für-sich-sein eines Subjektes.¹⁰ So bleibt Schelling letztlich seinem ganzheitlichen Ansatz treu: denn theoretische wie praktische Philosophie verbinden sich miteinander zu einer Gesamtsystematik, die Einsichten über den Grund des Philosophierens und den Grund des konkreten Weltwerdens gleichermaßen vermitteln soll, so, wie sie ebenfalls Aussagen über die Welt als Natur wie auch über die Welt als Kultur zu ermöglichen angelegt ist.¹¹ Von diesem Bogen hat Sartre allerdings nur die eine Hälfte ernsthaft in Betracht gezogen, offenbar seinen eigenen Grundsätzen durchaus entgegen handelnd und dadurch vielleicht eine wichtige Komponente seines Denkens, die bereits in seiner Epoche angelegt war, zu Unrecht unberücksichtigt lassend. Denn wie Jörg Villwock in der Einleitung zu seinem Buch „Signaturen des erdkolonialen Zeitalters“ zu Recht (und durchaus sartresch, aber auch heideggersch) vermerkt:
Vgl. Blamauer (2006), S. 56. Vgl. ebd., S. 57. Rainer E. Zimmermann, Die Rekonstruktion von Raum, Zeit und Materie. Moderne Implikationen Schellingscher Naturphilosophie, Frankfurt am Main und New York: Lang 1998. Dazu führt Erhellendes aus Dieter Henrich, Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken, Stuttgart: Klett-Cotta 1992. Vgl. Zimmermann (1998), S. 219, Anm. 9.
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„Dasein heißt in sich über sich hinaus mit einer Epoche vermittelt sein und in einem Epochenverständnis existieren. Wir nennen das die Säkularität des bewussten Daseins. Ihre Lichtung ist je verschieden, sie hängt vom Bezug ab, nicht von / schulmäßiger Lehre, die hier eher behindert, weil sie die Unwissenheit als Grund von Wissenschaft nicht anerkennen will und die produktive Verwirrung nicht aufkommen lässt, aus der heraus allein der seinshaltige und seinlassende Blick hervorzugehen vermag, der Blick, in dem das Dasein sich vorweg ist, der vorspringende Blick, der das Sehen vor dem Sehen, das Wissen vor dem Wissen vermittelt.“¹²
II Sartre mit Lacan Wie Manfred Frank bereits früher gezeigt hat (ich folge ihm hier zunächst), gibt es eine charakteristische Weise der Exteriorisierung des Individuums, die man allgemein als ihren Stil bezeichnen kann, der auch bezogen auf eine Person als das irreduzibel Nicht-Allgemeine eines Textes verstanden werden kann, welcher im Rahmen eines Kon-Textes gedeutet werden muss. Und es gibt dabei eine Dialektik zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, zwischen der Ordnung der Zeichen und der Anarchie des Individuums, das sich ihrer bedient.¹³ Der zu verstehende Sinn gründet mithin nicht in einem Kontinuum aus lauter Sinn seinesgleichen, sondern in einem selbst nicht Sinnhaften. Die unmittelbare Durchsichtigkeit des Sinns ist schon im Ursprung getrübt; und wenn man ihn als das Sagbare bezeichnen wollte, so müsste man seinen Ursprung allerdings das Schweigen nennen, wie z. B. Mallarmé es tut. Einerseits ist die Bestimmtheit des Gedankens ‚Ich‘ (d. h. sein Begriff) an die Differenz wenigstens zweier gegeneinander abgehobener Ausdrücke gebunden (Du denkst ‚Ich‘ und insofern alles andere nicht, also nicht ‚Nicht-Ich‘). Andererseits muss diese Aufspaltung durch unmittelbare Anschauung ihrer Nicht-Geschiedenheit auch wieder unterlaufen werden, sonst ist eben das Andere nicht mehr dasselbe wie das Eine, und die unabdingbare Identität des Gedankens ‚Ich‘ wäre verfehlt. Zur Bedingung der Möglichkeit des Ich wird also seine Verausgabung an das Andere, und deshalb ist das Subjekt, wie schon Schleiermacher wusste, immer in der Krise. Im Grunde kann man eine situative Bestimmung des sozialen Systems auf seine elementare Konstituentin, nämlich auf die Person, beziehen, indem man in Jörg Villwock, Signaturen des erdkolonialen Zeitalters. Physik und Philosophie – Mythologie und Erotik, Aachen: Shaker 2008, S. xxvi f. Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, z. B. S. 297 f., 317 f.
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der terminologischen Tradition der antiken (und damit im europäischen Kulturraum erstmaligen) Polis-Theorie die innere Krise des Individuums inmitten der Spannung zwischen seinen Polen von Ich (Je) und Selbst (Moi) als Stásis kennzeichnet, bezogen also auf ein Individuum, das zwischen präreflexivem und reflexivem Cogito eher verloren ist als zureichend positioniert, und die äußere Krise des Individuums inmitten anderer Individuen, die somit ihrer Anlage gemäß wesentlich aus dem kommunikativen Diskurs der verschiedenen Selbste entstammt, als Pólemos. Mit anderen Worten: Der konstitutive Konflikt der Person selbst, dem jene Lücke zugrunde liegt, welche die Zustände des Cogitos in Ansich und Fürsich auftrennt, bewirkt recht eigentlich seine eigene Fortsetzung hinaus in jenen kommunikativen Konflikt, der die Wechselwirkung der Individuen auf dem Grund ihrer sozialen Vermitteltheit immer schon bestimmt. Wie es bei Frank heißt: „Indem sich an der Faktizität unverfüglicher Selbstvermittlung des Subjektes Macht bricht, kommt es nicht länger in Frage als Ort, von dem her in monologisch verfahrender Deduktion über das objektiv Seiende historischer Welt geurteilt werden kann. Die Evidenz seiner Erkenntnisse muß sich vielmehr an intersubjektiver Kommunikation bewähren.“¹⁴ Eben deshalb gibt es auch keine Denkgemeinschaft, die ihren dialektischen Konsens nicht in der Grammatik eines Sprachsystems niederlegte. Jede sprachliche Äußerung ist insofern ganz gemäß Schleiermacher – wir würden heute sagen: durch Sprachsystem und Sprechweise – formatiert. Oder anders: Sofern überhaupt gedacht wird, ist die Gesamtheit der Sprache als Differenzierungssystem immer schon vorausgesetzt. Es ist aber das Individuum als im Wortsinne poetisch handelndes (nämlich: neuen Sinn produzierendes), welches aktiv zu differenzieren hat. Eben von diesem Aspekt aus gilt es, Kommunikation als Instrument der permanenten Vermittlung zu begreifen – oder wie Manfred Frank die berühmte Eingangspassage aus dem Idiot der Familie interpretiert: Man sollte den Menschen ein einzelnes Allgemeines nennen: Durch seine Epochenzugehörigkeit totalisiert (einem im heideggerschen Sinne Bewandtnis-Ganzen eingefügt), ist er eben damit als ein Allgemeines definiert (universalisiert), aber er retotalisiert sie (er zieht die Grenzen dieses Ganzen einer Epoche dadurch neu), indem er sich in ihr als Einzelnheit (Singularität) reproduziert.¹⁵
Vgl. ders., Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, Einleitung, Anm. 15. Vgl. auch: ders. (1977), S. 84 ff. Ders., „Das Individuum in der Rolle des Idioten. Die hermeneutische Konzeption des Flaubert,“ in Sartres Flaubert lesen. Essays zu Der Idiot der Familie, hg. von Traugott König, Reinbek: Rowohlt 1980, S. 84– 108, hier: S. 92. Vgl. auch ders., „Archäologie des Individuums,“ in ders., Das Sagbare und das Unsagbare, erw. Neuausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 256 – 333, hier: S. 265.
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Der ganze Prozess findet auf diese Weise im Spannungsfeld zwischen Faktizität und Transzendenz statt: Zum einen kann man das bereits dem Terminus vom „Bewandtnis-Ganzen“ entnehmen, denn von den Techniken des Kollektivs erwartet, die bereitstehen, eine (wie Frank sie nennt) Sozialisationsdressur durchzuführen, gibt es für jedes Individuum vorab keinerlei Möglichkeit, der Totalisierung durch die herrschende Struktur zu entkommen. Indem aber die Individuen sich auf dem Grunde der vorgegebenen Ordnung auf eine Weise neu hervorbringen, die von Seiten (jener) Struktur gar nicht vorherzusehen war, bereiten sie einen Umsturz dieser Ordnung vor. Zugleich werden jedoch (und das ist das andere) alle diese Individuen für sich von der Kontingenz ihrer Interpretation (und deren Folgen) bedrängt, denn in der Hauptsache leiden sie alle unter einem Mangel an Begründung. Wie Sartre in seinem Kierkegaard-Vortrag von 1964 sagt: „Der Mensch, diese nicht wieder heil zu machende Einzelnheit, ist das Seiende, durch welches das Allgemeine zur Welt kommt […] Das Gelebte […][,] das sind die nicht-bedeutenden Unwägbarkeiten des Seins, sofern sie über sich hinaus auf einen Sinn verweisen, den sie nicht schon von Beginn hatten und den ich das einzelne Allgemeine nennen möchte.“¹⁶ Wir wissen bereits: Auf diese Unwägbarkeit gründet sich ihrerseits die zelebrierte Angst. Im Gegensatz zu Heidegger freilich, bei welchem diese auf das nichtende Nichts bezogen wird, gilt sie bei Sartre der Existenz selbst, präziser dem Ekel vor der Existenz. Lütkehaus hat dazu formuliert: „[Bei Sartre] wird [die Ontologie mithin] negativ-ästhetisch. Oder auch nur psychopathologisch – es sei denn, der Ekel hätte einen ausweisbaren philosophischen Sinn. Und den soll er haben.“¹⁷ So fängt ja Sartre auch an, in Das Sein und das Nichts: „Hinter den Dingen, da gibt es zwar nichts. Trotzdem sind die Dinge nicht ganz und gar, was sie scheinen.“¹⁸ Wenn also das Fazit lautet: „Nichts. Existiert“¹⁹, dann ist damit nicht gemeint, es gäbe keine Möglichkeit der Befreiung aus der selbstverschuldeten Befangenheit. Nochmals Lütkehaus dazu: „Die Hölle, das sind die Anderen. Damit kann man zur Not leben. Die Hölle – es gibt nichts anderes: damit lebt und stirbt es sich ziemlich schlecht.“²⁰ Für Sartre heißt somit, die Frage nach dem Grund der
Jean-Paul Sartre, „L’universel singulier,“ in Situations IX, Paris: Gallimard 1972, S. 152– 190, hier: S. 175, vgl. auch S. 178 f. Vgl. zudem Frank (1980), S. 184. Ludger Lütkehaus, Nichts, Frankfurt am Main: Haffmanns bei Zweitausendeins 2010, S. 433 (mit Bezug auf Jean-Paul Sartre, Der Ekel, hg. von Traugott König, Reinbek: Rowohlt 1990, S. 136 ff. und auf ders., L’être et le néant, Paris: Gallimard 1943, S. 597 f.). Lütkehaus (2010), S. 434 (mit Bezug auf Sartre (1943), S. 131). Lütkehaus (2010), S. 443. Ebd., S. 443.
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Existenz stellen, die Existenz ausgerechnet mit dieser Frage weitertreiben.²¹ Es geht also um eine permanente Dynamik, die sich selbst nicht einzuholen in der Lage ist. In diesem Sinne hat das Für-sich nicht bloß Fragen, es ist eine Frage: „Seine Realität ist rein interrogativ. Wenn es Fragen stellen kann, so deshalb, weil es selbst immer in Frage steht; sein Sein ist nie gegeben, sondern erfragt.“²² Die Infragestellung des Seins ist in diesem Sinne das Nichts. Das hat Lütkehaus ganz richtig zusammengefasst. Und die Frage nach dem Grund des Seins verschiebt sich zu der nach dem Ursprung des Nichts.²³ Zugleich heißt es, dass die menschliche Realität der einzige Grund des Nichts innerhalb des Seins sei. Insbesondere ist das Für-sich als Seinsbewusstsein vom Sein durch nichts getrennt.²⁴ Das Für-sich wird letztlich aus dem Geist der Nichtung geboren. „Die abgründige Ambivalenz dieser auf den grundlosen Grund des Nichts gestellten Freiheit zeigt die Philosophie des menschlichen Selbstentwurfs.“²⁵ Wir müssen hier sorgfältig zwischen dem Nichts (rien) und dem Nichtsein (néant) unterscheiden (obwohl auch Sartre selbst diese Unterscheidung nicht immer allzu genau beachtet): Das erste ist das, was nicht ist, aber sein kann, also das Mögliche (griechisch: mè ón); das zweite ist das, was nicht ist, aber auch nicht sein kann, also das Unmögliche (griechisch: ouk ón). Das erste muss aber weiter differenziert werden: denn es gibt das denkbare (mithin auch sagbare) Nichts und das undenkbare (mithin unsagbare) Nichts. Soll deshalb das Nichts der Grund von Allem sein, so kann es sich nur um das letztere, das undenkbare Nichts handeln, das als Grund dann zugleich tatsächlich Ungrund oder Abgrund ist. Und daher heißt es auch bei Lütkehaus, speziell auf Sartre bezogen: „Das Sein des An-sich ist nicht nur unbegründet, es kennt überhaupt keinen Grund. Es ist, was es nun einmal ist, in seiner völligen, unableitbaren Kontingenz. Diese gilt auch für das Sein des Für-sichs; Sartre nennt sie seine Faktizität.“²⁶ Zugleich aber entfaltet sich parallel zur Faktizität die Transzendenz, deren Konfrontation aber immer – das ist hier wichtig – welthaft als Aktualität zu verstehen ist und ansonsten von der Immanenz der Welt immer schon übergriffen wird (wie schon bei Spinoza): Mit anderen Worten, diese Begriffe bezeichnen immer nur das welthaft Zugängliche, nicht dessen Grund, der nicht unter dieselbe Terminologie fallen kann. So ist der Mensch transzendent, weil er über jede Er-
Vgl. ebd., S. 444. Ebd., S. 449 (mit Bezug auf Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, in Philosophische Schriften Band 1/3, hg.v. Traugott König, Hamburg: Rowohlt 1994, S. 1058 / Sartre (1943), S. 713). Lütkehaus (2010), S. 450. Ebd., S. 450 f. Ebd., S. 452. Ebd., S. 453.
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fahrung hinausreicht, die man mit ihm (welthaft-empirisch!) machen kann. Was vor allem daran liegt, dass die Beziehung des Ego zu den Qualitäten wesentlich ein Verhältnis der poetischen Produktion ist, wie Sartre bereits frühzeitig anmerkt.²⁷ Um sich daher in der Welt gehörig einzurichten, bedarf es einer angemessenen Haltung diesem Konflikt von Faktizität und Transzendenz gegenüber. Und das ist gerade die skandalöse Überforderung des konkret vorfindlichen Menschen, der er annähernd bestenfalls unter größter Reflexionsanstrengung nachzukommen imstande ist. Und das versetzt uns nun eher beiläufig in die Lage, gleichsam im Vorbeigehen auch den (wie sich schon in den verschiedenen Übersetzungen zeigt) oft missverstandenen Begriff der „Unwahrhaftigkeit“ (mauvaise foi) angemessen zu positionieren. Bei Sartre heißt es nämlich: Wenn ich meine Angst bin und zugleich vor ihr fliehe, so setzt das voraus, daß ich in Bezug auf das, was ich bin, eine ungewöhnliche Einstellung haben kann (que je puis me décentrer par rapport à ce que je suis), daß ich (also) Angst sein kann in Gestalt ‚es nicht zu sein‘ und daß ich über eine in der Tiefe der Angst nichtende Gewalt verfügen kann. Diese […] nichtet die Angst, insoweit ich sie fliehe, und vernichtet sich selbst, insoweit ich sie bin, um sie zu fliehen. Das ist das, was man die Unwahrhaftigkeit²⁸ nennt.²⁹
Das wesentliche Element der Unwahrhaftigkeit ist mithin: „eine Art Kunst, widersprüchliche Begriffe zu bilden, das heißt solche, die in sich eine Vorstellung mit der Negation dieser Vorstellung vereinen. Der so geschaffene Grundbegriff besitzt die zweifache Eigenschaft des menschlichen Seins, Faktizität und Transzendenz [zugleich] zu sein.“³⁰
Vgl. Jean-Paul Sartre, Die Transzendenz des Ego, Philosophische Essays 1931 – 1939, hg.v. Bernd Schuppener, Reinbek: Rowohlt 1982, S. 71. In der Diktion der Übersetzung von Justus Streller. Sartre (1994), S. 88 f. / Sartre (1943), S. 82. Ebd., S. 102 / S. 95. Vgl. dazu Phyllis S. Morris, „Self-Deception. Sartre’s Resolution of the Paradox,“ in Jean-Paul Sartre, Contemporary Approaches to His Philosophy, hg.v. Hugh J. Silverman und Frederick Elliston, Pittsburgh (PA): Duquesne University Press 1980, S. 30 – 49. (Zu diesem Thema ist gerade in letzter, nachjubiläumsbezogener Zeit, also 25 Jahre nach dem oben Zitierten, erheblich Verwunderliches veröffentlicht worden, was vor allem daran liegen mag, dass ein Großteil der Textbeiträger bisher nicht gerade durch relevante Forschung im Bereich der sartreschen Philosophie aufgefallen ist, seinerseits aber die einschlägige Literatur auch nur sehr fragmentarisch, wenn überhaupt, zur Kenntnis genommen hat. Man sehe unter anderem: Jean-Paul Sartre. Das Sein und das Nichts, hg. von Bernard N. Schumacher, Berlin: Akademie 2003. In diesem Band wissen offenbar rund 2/3 der Beiträger nicht so recht, worüber sie eigentlich sprechen. Noch mehr trifft dies auf Jean-Paul Sartre. Ein Philosoph des 21. Jahrhunderts?, hg.v. Ulrike Bardt,
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Thomas Flynn hat es auf den Punkt gebracht: Authentisch ist eine Existenz im Sinne Sartres dann, wenn sie die immanente Dualität zwischen Faktizität und Transzendenz in einer „schöpferischen Spannung“ zu halten in der Lage ist. Die Unaufrichtigkeit [so nennt sie bei Flynn der Übersetzer Erik M. Vogt] flieht vor dieser Spannung (und ihrer Angst), indem sie entweder die Transzendenz zur Faktizität kollabieren lässt oder die Faktizität zur Transzendenz verflüchtigt. Beide Versuche stellen eine Verleugnung unserer ontologischen Verfassung dar und sind aus diesem Grunde zum Scheitern verurteilt.³¹
Die Lösung kann also 1. immer nur approximativ sein und 2. nur in einer ästhetischen Durchdringung der konkreten Ethik erreicht werden. Aber in beidem – also im Sich-auf-den-Weg-begeben auf ein Ziel hin (Bloch hätte gesagt: unter der Invarianten der Richtung) und in der Invention einer ästhetisch begründeten (mithin innovativen) Lebensführung – also in diesen beiden Handlungsweisen besteht bereits das, was Sartre authentisches Verhalten nennt. Und im Übrigen besteht darin – nicht ganz ohne historische Ironie – der sartresche Rekurs auf das freudsche Unbewusste (das Sartre ja zuerst abgelehnt hatte), denn durch dieses authentische Verhalten gewinnt Lacans berühmte Freud-Paraphrase ihre Geltung: Wo Es (mit keinem das oder anderem vergegenständlichenden Artikel versehenes Objekt) war (es ist ein Ort des Seins, um den es sich handelt, und an diesem Ort), soll (das ist ein Sollen im moralischen Sinne, welches sich da ankündigt […]) Ich (je, das soll Ich, wie wenn man verkündete: ce suis-je, bevor man sagt: c’est moi) werden (das heißt, nicht vorkommen, survenir, noch selbst ankommen, advenir, sondern an den Tag des Ortes selbst kommen, venir au jour de ce lieu lui-même, insofern er der Ort des Seins ist).“ Es beginnt also alles immer noch mit dem antiken „Gnothi s’auton!“ nur daß es jetzt auf lacansche Art gewendet wird im Begriffspaar: me connaître = méconnaître. Und das Ego zerfällt in die zwei Pole: sujet véritable (Je) vs. sujet narcissique (Moi). Wie Lacan sagt: „Je pense où je ne suis pas, donc je suis où je ne pense pas.“ – denn ich befinde mich zwar auf dem Weg zum Ziel, bin mir dabei aber immer selbst voraus. Es kommt jedoch darauf an, das zu wissen.³²
Und darin besteht im Übrigen auch der Grund für die sartresche Kritik an der kantischen Imperativethik, weil es Sartre darum geht, angesichts der permanenten Begrenzung des Wissens eine je situativ gefasste Invention zu fordern. Der Kollege Feger hat das in seinem Beitrag anschaulich gemacht: Gerade darin nämlich besteht das, was man die Schuld des Ödipus nennen kann. Denn recht eigentlich
Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, zu. Es ist eben grundsätzlich nicht ratsam, seine Publikationen an allfälligen Jubiläumsgelegenheiten auszurichten.) Thomas R. Flynn, Existenzialismus. Eine kurze Einführung, Wien: Turia+Kant 2008, S. 189. Vgl. Frank (1977), S. 79.
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flieht dieser nicht die Schuld, sondern das Wissen um die Schuld, was Jonathan Lear in seiner Ödipus-Interpretation so erhellend verdeutlicht hat. Und darin besteht der Unterschied zwischen der kantischen und der sartreschen Variante des „Mord-Mauer-Beispiels“: Denn Ethik ist im Grunde Wissen. Wer das letztere flieht, ist zum Scheitern verurteilt. Wir bezeichnen ein solches Verhalten heute mit dem Schlagwort „Eyes Wide Shut“ (Übrigens hat auch Althusser in seiner Marx-Interpretation bereits darauf hingewiesen, dass die meisten Leute zwar sehen, was sie sehen, aber nicht verstehen, was sie sehen. Genau eben wie Ödipus, der das Rätsel der Sphinx mit Leichtigkeit lösen kann, weil er an die Fragestellung herangeht wie ein moderner Manager an die Börse: Aber er sieht und versteht nicht, dass er selbst nicht Teil der Lösung ist.) Das Einzelne ist somit das seiner Natur nach Irreproduzible und Inkommunikable. Dennoch ist das wahre Subjekt kein Jenseits der Kommunikation: Sein Sichentziehen im Sprachgeschehen begabt die materiellen Signifikanten überhaupt erst mit dem Sinn, der ausgetauscht wird. Das gilt entsprechend für die Formationsregel von Diskursen, die Grammatik von Texten, die Struktur symbolischer Zusammenhänge: für alle intersubjektiven und kodifizierten Ordnungen. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam – gerade in der schärfsten Abgrenzung Sartres gegen Freud, etwa bei der Ablehnung des Unbewussten³³ –, zugleich die Anbahnung seiner (später von ihm selbst auch eingeräumten) größten Nähe zur lacanschen Ausdeutung der freudschen Psychoanalyse zu erkennen: Sartre stimmt nämlich mit Stendhal und Proust darin überein, dass (zum Beispiel): „die Liebe und die Eifersucht nicht auf die bloße Begierde, eine Frau zu besitzen, zurückgeführt werden können, sondern daß sie darauf abzielen, sich durch die Frau hindurch der ganzen Welt zu bemächtigen“³⁴. Wichtig ist hierbei, dass ein wechselseitiges Verfehlen der Diskurse immer schon angelegt ist, denn ich stelle meinen Weltbezug überhaupt erst her, indem ich mich zum Anderen wie zu einem Objekt verhalte, gerade weil ich auf den Weltbezug abziele, durch den Anderen hindurch. Weil die Anderen zur selben Zeit das Gleiche tun, erhellt sich daraus, dass sich alle am je Anderen vorbei-verhalten und im Prinzip nur die eigene Konstitution betreiben.Wie Lacan später sagen wird (und wie Sartre wird letztlich bestätigen müssen), appelliere ich schon immer mittels meines Diskurses an den Anderen, indem ich seinen Diskurs zu meinen Gunsten besetze. Und eben dies tut der Andere entsprechend. Die Pointe dabei ist aber, dass gleichwohl ein konsensueller Diskurs möglich ist, der seine Stabilität gerade aus jenen Bereichen wechselseitigen Verfehlens schöpft, die im Grunde
Sartre (1994), S. 717 / Sartre (1943), S. 658. Ebd., S. 708 / S. 649.
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