Existenz und Form: Schriften zur neueren Kunst 9783110794403, 9783110452396

Works of art cannot be attributed exclusively to the life histories of artists, yet it would be wrong to assume that the

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Existenz und Form: Schriften zur neueren Kunst
 9783110794403, 9783110452396

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Existenz und Form — Was Kunstgeschichte leistet
Zeichner in Montgomery
Erfinder, Landarbeiter, Künstler
Bildhauer und Sammler
Bilder zur Sprache bringen
La Trappe
Das Begräbnis
Sichtbarer Rhythmus
Deutscher Terrorismus, amerikanische Öffentlichkeit
Selbstbehauptung und abstrakte Form
La voce moltiplicata
Regisseur des Realen
Period Room
Anmerkungen
Nachweise
Zum Autor

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existenz und form

Roman Kurzmeyer

Existenz und Form Schriften zur neueren Kunst

Edition Voldemeer Zürich De Gruyter

Roman Kurzmeyer, Basel

Publiziert mit Unterstützung der Ernst Göhner Stiftung, der Erna und Curt Burgauer Stiftung, der Bildhauer Hans von Matt-Stiftung sowie zweier Förderer, die namentlich nicht genannt werden möchten.

Library of Congress Cataloging-in-Publication data: A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the German National Library lists this publication in the Deutsche Nationalbiblio­g rafie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de. This work is subject to copyright. All rights are reserved, whether the whole or part of the material is concerned, specifically the rights of translation, reprinting, re-use of illustrations, recitation, broadcasting, reproduction on microfilms or in other ways, and storage in databases. For any kind of use, permission of the copyright owner must be obtained. Copyright © 2015 Roman Kurzmeyer, Basel, and Voldemeer AG, Zürich. Edition Voldemeer Zürich P. O. Box 2174 CH-8027 Zürich All rights reserved. Images: Copyright © the artist, the photographer, and ProLitteris, Zürich. Copy editing: Barbara Delius, Berlin. Image editing: Roland Langauer, Zürich. Layout: Edition Voldemeer Zürich. Printing: Ernst Kabel Druck, Hamburg. Printed on acid-free paper produced from chlorine-free pulp. TCF ∞ ISBN 978-3-11-045239-6 Walter de Gruyter GmbH Berlin / Boston www.degruyter.com 987654321

inhalt

Vorwort 

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Existenz und Form — Was Kunstgeschichte leistet  Bill Traylor (1854–1949) — Zeichner in Montgomery 

11 22

Heinrich Anton Müller (1869–1930) —  Erfinder, Landarbeiter, Künstler  49 Elie Nadelman (1882–1946) —  Bildhauer und Sammler  63 Annemarie von Matt (1905–1967) und Sonja Sekula (1918–1963) — Bilder zur Sprache bringen  81 Robert Müller (1920–2003) — La Trappe  Das Begräbnis von Patrick Ireland 

111

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Sichtbarer Rhythmus — Marcel Duchamp, Brian O’Doherty, Niele Toroni  125 Deutscher Terrorismus, amerikanische Öffentlichkeit —  Joseph Beuys, Gerhard Richter, Andy Warhol  138 Helmut Federle — Selbstbehauptung und abstrakte Form  Anselm Stalder — La voce moltiplicata 

162

Paweł Althamer — Regisseur des Realen  Mai-Thu Perret — Period Room 

Anmerkungen 224 Nachweise 240 Zum Autor  241

210

143

168

Vorwort

K

u nst w er k e sind physische Objekte und ästhetische Gegenstände. Ihre Legitimität als Kunstwerk beziehen sie aus diesem Spannungsverhältnis, das ihnen einen besonderen Platz in der Ordnung der alltäglichen Dinge zuweist. Kunstwerke lassen sich nicht, wie dies lange üblich war und oft immer noch geschieht, allein auf die Lebensgeschichte von Künstlerinnen und Künstlern zurückführen, doch es wäre auch falsch anzunehmen, dass die Bedingungen der Produktion, seien sie sozialer, technischer oder persönlicher Natur, am Werk keine Spuren hinterlassen und für dessen Wirkung unerheblich wären. Es ist dieses Verhältnis, das die in diesem Band versammelten Texte diskutieren. Entstanden sind die Beiträge für unterschiedliche Zusammenhänge in einem Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren, alle mit Ausnahme der Einleitung, in der ich in einem grundsätzlichen Sinne auf die Theorie der Autorschaft eingehe, befassen sich mit einzelnen Künstlerinnen und Künstlern, vor allem des 20. Jahrhunderts. Darunter finden sich sowohl Figuren der frühen Moderne wie der Afroamerikaner Bill Traylor oder der Schweizer Heinrich Anton Müller, die als Autodidakten zur Kunst als Ausdrucksmedium gefunden haben, als auch in der Kunstwelt international bekannte Figuren wie der Künstler, Kritiker und Schriftsteller Brian O’Doherty oder Künstlerinnen und Künstler einer jüngeren Generation wie Paweł Althamer oder Mai-Thu Perret. Die Beiträge bringen unterschiedliche Kunstvorschläge und Künstlerpersönlichkeiten zur Sprache, entsprechend vielfältig waren auch die Präsentationskontexte, in denen die in diesem Band diskutierten Künstler ihre Werke ausstellen konnten. Das Konzept von Autorschaft, für das ich mich hier ausspreche, ist eines, das der Figur des Künstlers grösste Aufmerksamkeit schenkt. Es berücksichtigt seine Funktion 9

vorwort

und die Bedingungen, unter denen die Rolle des Künstlers zu erfüllen wäre. Der Entstehungsgeschichte von Kunst kommt somit Bedeutung zu: Für die Identität, die Unverwechselbarkeit eines Werks ist sie entscheidend. Es war für mich selbst aufschlussreich zu erkennen, wie sich mein Zugang zur Autorschaft über die Jahre verändert hat. Die Identität eines Kunstwerks ist ohne vertiefte Kenntnisse des historischen und lebensweltlichen Kontexts seiner Entstehung nicht zu erfassen. Dieses Buch ist ein Plädoyer für Kunstgeschichte in einer Zeit, in der die Bildgeschichte den Takt vorgibt. Illustriert ist der Band mit Porträts der besprochenen Künstlerinnen und Künstler sowie mit Installationsansichten aus Ausstellungen. Die Publikation dokumentiert damit auch Präsentationsformen und unterstreicht damit die Bedeutung der Ausstellung als einem eigenen Medium der Kunstvermittlung. Was machen Künstler eigentlich? Wie leben und arbeiten Künstler? Wie die meisten Menschen habe auch ich mir diese Fragen lange nicht gestellt. Erst als ich während meiner Studienzeit Künstlerinnen und Künstler kennenlernte und spezifischere Interessen entwickelte, wurde ich mit diesen Fragen konfrontiert. Es sind vor allem die vielen Begegnungen mit Künstlerinnen und Künstlern, an die ich mich an dieser Stelle gerne erinnere. Ich danke allen, die zum Erscheinen dieses Schriftenbandes beigetragen haben, insbesondere den privaten und öffentlichen Förderern, die die Drucklegung ermöglicht haben. Ich hoffe, dass diese Schriften dazu beitragen, verständlich zu machen, weshalb die Darstellung der Entstehungsgeschichte von Kunst für deren Identität wichtig ist und wie entscheidend dabei der Handlungsraum ist, den eine Gesellschaft den Künstlerinnen und Künstlern zugesteht.

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Existenz und Form — Was Kunstgeschichte leistet

K

unst werk e werden von Menschen geschaffen. Die einen unter uns verstehen sie als physische Objekte, die beschrieben und vermessen werden können, andere erfassen sie als ästhetische Gegenstände, die erst durch unsere Wahrnehmung überhaupt entstehen.01 Der englische Schriftsteller John Berger, in dessen literarischem Schaffen Werke und Künstler der bildenden Kunst sehr wichtig sind und der immer wieder auch mit seinen eigenen Zeichnungen an die Öffentlichkeit getreten ist, schrieb einmal: »Jeder Künstler entdeckt, dass beim Zeichnen – wenn es denn ein wirkliches Bedürfnis ist – ein wechselseitiger Prozess stattfindet. Zeichnen bedeutet nicht nur, Maß zu nehmen und festzuhalten, sondern auch zu empfangen. Wenn die Intensität des Hinsehens einen gewissen Grad erreicht, dann wird man gewahr, dass einem eine ebenso intensive Energie entgegenstrahlt, durch die äußere Erscheinung dessen hindurch, was man so eifrig betrachtet.«02 John Berger beschreibt den bildnerischen Prozess aus seiner eigenen Erfahrung als Künstler und gerade nicht als Kunstkritiker. Selbstverständlich, so sein Befund, werden Kunstwerke immer von Menschen geschaffen, und dies ist nicht unerheblich für ihre Erscheinung und ihr Dasein in der Welt: Kunstwerke sind physische Objekte und ästhetische Gegenstände. Aus diesem spezifischen Spannungsverhältnis beziehen sie ihre Legitimität als Kunstwerk, die ihnen einen besonderen Platz in der Ordnung der alltäglichen Dinge zuweist. Kunstwerke lassen sich nicht, wie dies lange üblich war und immer noch geschieht, auf die Lebensgeschichte von Künstlerinnen und Künstlern zurückführen, doch es wäre auch falsch anzunehmen, dass die Bedingungen der Produktion, seien sie sozialer, tech11

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nischer oder persönlicher Natur, keine Spuren im Werk hinterlassen. I Kunsthistoriker  / Bildhistorik er Mit den 1550 erstmals erschienenen Nacherzählungen der Lebensgeschichten italienischer Künstler legte der Florentiner Architekt und Maler Giorgio Vasari (1511–1574) die Fundamente für eine Disziplin, die man erst viel später Kunstgeschichte nennen sollte. Der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman bezeichnet die Kunstgeschichte nach Vasari in einem seiner Bücher ironisch als eine Art »Preisträgerliste«.03 Es handle sich um eine Geschichte des Fortschritts und um eine Geschichte des Künstlers, der stets auf gesellschaftlichen Erfolg ausgerichtet sei, eine Geschichte des Wissens, die konstruiere und dabei nicht nur viele Künstlerinnen und Künstler, sondern auch Themen und Fragestellungen ausschliesse. Aus diesen Anfängen der Kunstgeschichte als literarische Gattung (»Erzählung«) ist zu erklären, dass die Idealisierung des Künstlers in biografischen Texten bis auf den heutigen Tag ein Aspekt der Kunstgeschichtsschreibung ist. Kunstgeschichte interessierte sich aber von Anfang an auch für das je individuelle Verhältnis von Künstler, Werk und Auftragssituation, also für den historischen Zusammenhang, in dem Künstler arbeiten. Im 20. Jahrhundert haben Bildgeschichte und Bildwissenschaft eine Konkurrenz zur Kunstgeschichte aufgebaut und sie schliesslich als Leitwissenschaft abgelöst (»iconic turn«).04 Diese Veränderung war nicht das Ergebnis von Entwicklungen ausserhalb des Fachs, sondern sie wurde innerhalb der Disziplin Kunstgeschichte vorbereitet: Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der deutsche Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929), der 1917 in einem berühmten Tagebucheintrag von sich sagt, er sei nicht »Kunsthistoriker, 12

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sondern ›Bildhistoriker‹«.05 In der heutigen Bildwissenschaft spielt Kunst nur mehr eine marginale Rolle. Bilder sind heute nicht nur im Alltag der Menschen wichtiger als Kunst. Aus dieser Perspektive hat sich im 20. Jahrhundert auch der Blick auf den Künstler verändert. Didi-Huberman spricht sich für eine Bildwissenschaft aus, in der ›Kunst‹ »– in der humanistischen und akademischen Bedeutung des Wortes – nichts mehr zu suchen hat und Platz macht für etwas, das eher mit einer Anthropologie der Blicke zu tun hat«.06 Zu oft schreibe die Kunstgeschichte nur die »Geschichte gelungener und möglicher, gegenüber dem Fortschritt offener Gegenstände«, deren Erscheinung sie verherrliche, heisst es kritisch bei Didi-Huberman. Er dagegen propagiert eine »Geschichte der unmöglichen Gegenstände und unmöglichen Formen«, die er als »Trägerinnen eines Schicksals« auffasst.07 Doch dieses seit der Moderne fassbare Interesse an der intensiven Form schliesst, wie ich darlegen werde, dasjenige für den Künstler nicht aus. Autorschaft lautet das Stichwort. II  V ervielfältigung von Identitäten Das Selbstbildnis Marcel Duchamp at the Age of 85 (1945), das eine dem Künstler gewidmete Nummer der Zeitschrift View ohne Angabe des Autors 1945 abdruckte, ist dafür ein anschauliches Beispiel.08 Es zeigt den Künstler in einem Alter, das er erst 1972 erreicht hätte. Duchamp starb 1968. Diese »Fotografie aus der Zukunft« versteht Herbert Molderings als eine von verschiedenen Antworten Duchamps auf seine schon 1913 formulierte Frage: »Kann man Werke schaffen, die nicht ›Kunst‹ sind?«09 Das fiktionale Altersporträt ist, wie man heute weiss, eine Selbstinszenierung des Künstlers, fotografiert von Percy Rainford in dessen New Yorker Fotostudio. Der Architekt, Designer und Künstler Friedrich Kiesler begleitete Duchamp zu Rainford und 13

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schilderte die Herstellung des Bildes in Notizen, die lange Zeit unentdeckt blieben. Duchamp hat sich zeitlebens in seinem Schaffen mit Fragen der Identität befasst. Berühmt ist seine Maskierung als Rrose Sélavy. Die Aufnahmen des weiblichen Alter Ego von Duchamp stammen von Man Ray. Schon 1917 entstand das Multiporträt, auf welchem sich Duchamp in fünffacher Ausführung im Kreis um einen Tisch sitzend zeigt. Duchamp war nach Molderings nicht, wie Rrose Sélavy vermuten lassen könnte, am Identitätswechsel interessiert, sondern vielmehr an der »Vervielfältigung von Identitäten«.10 Ich diskutiere die künstlerische Strategie Duchamps hier einerseits, weil er als derjenige Künstler gilt, der schon in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Konzeptualisierung des Werkbegriffs vorbereitete, die sich mit Verzögerung erst in der Nachkriegskunst allgemein durchsetzen sollte, und weil er mit seiner Idee des Readymades angeblich die Idee von Autorschaft in den Künsten infrage stellte. Andererseits zog er schon zu einem frühen Zeitpunkt in seiner Karriere die Aufmerksamkeit auf sich, manipulierte die öffentliche Meinung und fasziniert als Künstler wie als Person bis heute. »Duchamp hat«, schliesst Molderings, »die für die Beziehung des modernen Künstlers zur Öffentlichkeit typische Dialektik des sich Darstellens und sich Entziehens 1923 mit dem KünstlerSteckbrief Wanted: $2.000 Reward (1923) auf unübertreffliche Weise zur Anschauung gebracht.«11 Dieses ›verbesserte‹ Readymade war die letzte Arbeit, die Duchamp vor seiner Rückkehr aus New York nach Paris fertigstellte. Das Original ist verloren. Während Calvin Tomkins in seiner Biografie berichtet, Duchamp habe ein in einem New Yorker Restaurant vorgefundenes Poster – ein fiktives Fahndungsplakat – um eigene Passfotos und den Namen seines Alter Egos Rrose Sélavy ergänzt,12 wird in der neueren Literatur auch die These diskutiert, dass er den Steckbrief 14

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Wanted: $ 2,000 Reward (1923) als Ganzes selber konzipiert und hergestellt habe. Gefahndet wird nach einem Betrüger, der unter vielen verschiedenen Namen bekannt ist.13 1963 wird Duchamp das Readymade Wanted: $ 2,000 Reward als Vorlage für das Plakat seiner ersten Retrospektive im Pasadena Museum of Art wiederverwenden. Die breite Rezeption Duchamps durch eine viel jüngere Künstlergeneration in den Vereinigten Staaten und Europa setzte in den 1960er-Jahren ein. Erst in der Nachkriegszeit, als viele der für den späten Ruhm des Künstlers entscheidenden Readymades als Objekte längst verloren waren, wurde deren Bedeutung für den neuen Kunstbegriff erkannt und diskutiert. Viele Readymades lagen nur mehr als Dokumente in Fotografien oder sogar lediglich in schriftlicher Form vor: Überliefert sind Notizen, Erinnerungen und Briefe, in denen Duchamp auf seine Readymades zu sprechen kommt. Atelieraufnahmen, die Duchamp später in Umlauf brachte, zeigen verschollene Readymades. Die Spurensicherung durch die Kunstwissenschaft ist bis heute nicht abgeschlossen. Die 1960er-Jahre waren auch das Jahrzehnt, in dem vor allem in Frankreich intensiv über Fragen der Autorschaft diskutiert wurde. Es entstanden Texte, die einem neuen Literaturverständnis geschuldet waren, vor allem junge Literaturwissenschaftler aufwühlten und Leser auch ausserhalb Frankreichs begeisterten. Michel Foucault (1926– 1984) hielt am 22. Februar 1969 am Pariser Collège de France vor Mitgliedern der Französischen Gesellschaft für Philosophie einen Vortrag, der im selben Jahr veröffentlicht und unter dem Titel Was ist ein Autor? weltweit bekannt geworden ist. Der Tod des Autors von Roland Barthes (1915–1980), der zweite wichtige Beitrag zur Frage, war schon 1967 im Aspen Magazine (Nr. 5/6), herausgegeben von Brian O’Doherty, in einer englischen Übersetzung erschienen.14 Die französische Fassung wurde erst 15

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im folgenden Jahr erstmals veröffentlicht. Der Text kritisiert ein Literaturverständnis, das die Bedeutung eines literarischen Textes in erster Linie aus der Biografie des Autors herleitet. Mein Hinweis auf die englischsprachige Erstveröffentlichung durch den Künstler, Kunstkritiker und Schriftsteller Brian O’Doherty in einem Magazin, das als Schachtel erschien und Beiträge u. a. von George Kubler, Susan Sontag, Samuel Beckett, William S. Burroughs, Alain Robbe-Grillet, John Cage, Morton Feldman, Tony Smith und Marcel Duchamp enthielt, macht deutlich, dass die Frage der Autorschaft die Künste in den 1960er-Jahren auch ausserhalb des akademischen Diskurses, an dem Intellektuelle wie Roland Barthes und Michel Foucault beteiligt waren, bewegte. III Zur Autorfunktion Barthes und Foucault wandten sich an die Leser literarischer Texte und kritisierten eine bestimmte Lektüre, eine Methode der Interpretation, deren Ziel es war, zwischen der Werkbedeutung und der Autorbiografie einen direkten Zusammenhang herzustellen. Da aber in unserer Kultur nicht alles, was ein Autor schreibt, zu dessen Werk zählt, muss mit Autorschaft etwas anderes gemeint sein als die Einheit von Autor und Werk. Und die Einheit Werk? Gehört denn wirklich alles, fragt Foucault, was zum Leben des Autors gehört, auch zum Werk? Er befasst sich mit der »Funktion Autor«: »Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.«15 Foucault sieht den Autor seit dem 18. Jahrhundert in der »Rolle 16

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eines Regulators des Fiktiven« und fordert »eine Form der Kultur, in der Fiktion nicht durch die Figur des Autors eingeschränkt wird«.16 In der neueren Literatur und Kunst haben sich die Methoden, Autorschaft herzustellen und zu bezeugen, laufend verändert. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass auch die Erwartungen an den Künstler und die Rolle des Individuums in unserer Gesellschaft sich verändert haben. Nach Einschätzung von Boris Groys ist allerdings inzwischen die Ansicht weitverbreitet, dass »der Künstler nicht mehr imstande ist, neue, authentische, originäre Bedeutungen und Formen in die Welt zu setzen«.17 Dabei werde aber übersehen, dass die gesellschaftliche Rolle des Künstlers sich verändert habe und aus dem »vorbildlichen Produzenten« ein ebenso »vorbildlicher Konsument« von Formen, Materialien und Ideen geworden sei: »Schon seit Duchamp und spätestens seit der Pop Art versteht sich der Künstler nicht länger als Produzent, sondern vielmehr als ein exklusiver Konsument anonym produzierter und in unserer Kultur immer schon zirkulierender Dinge. Kein Künstler will heute den Anspruch erheben, am Ursprung seines Werks zu stehen oder Bedeutungen und Formen originär zu produzieren.« Der Künstler bezeuge heute mit seiner Signatur die Verwendung und nicht die Produktion des ausgestellten Gegenstandes. Der Künstler zeige damit »die Fähigkeit, den Anspruch auf Autorschaft zurückzuerobern, indem er oder sie die serielle, anonyme, unpersönliche Bild- und Dingproduktion so gebraucht, dass dieser Gebrauch von der Gesellschaft als ein auktorialer anerkannt wird.« Der Philosoph Nelson Goodman hat vorgeschlagen, die Aufmerksamkeit auf die Frage »Wann ist Kunst?« zu richten und der Beantwortung der Frage »Was ist Kunst?« weniger Bedeutung einzuräumen.18 Das Konzept von Autorschaft, für das ich mich hier ausspreche, schenkt der Figur des Künstlers grosse Aufmerk17

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samkeit. Es berücksichtigt seine Rolle und vor allem auch die Bedingungen, unter denen er diese Rolle erfüllen kann. Somit kommt der Entstehungsgeschichte von Kunst Bedeutung zu. IV Entstehungsgeschichte und Identität In den frühen 1990er-Jahren befasste ich mich mit Künstlern wie Adolf Wölfli und Heinrich Anton Müller, die beide als Insassen einer psychiatrischen Klinik im frühen 20. Jahrhundert bildnerisch tätig waren, oder mit dem afroamerikanischen Autodidakten Bill Traylor, der in den Strassen von Montgomery zeichnete. Rückblickend ist festzustellen, dass ich damals, aus welchen Gründen auch immer, nur in diesen Texten, nicht aber in jenen zur zeitgenössischen Kunst, die ich im selben Zeitraum verfasste, nach der Bedeutung der Produktionsbedingungen für das Werk des Künstlers gefragt habe. Der Knecht Adolf Wölfli (1864–1930) wurde nach mehreren Notzuchtversuchen 1895 in die Irrenanstalt Waldau bei Bern überstellt. Als Patient (»Insasse«) der Waldau schuf Wölfli ein Werk, das schon zu seinen Lebzeiten auch ausserhalb der Klinikmauern bekannt wurde.19 »Adolf Wölfli fand im Zeichnen, Schreiben und Komponieren eine Methode, auf neue Art mit sich selbst und seiner eigenen Situation innerhalb der Mauern bekannt zu werden«, schrieb ich damals.20 Anhand der Waldauer Anstaltsordnung, ihrer Jahresberichte, der ärztlichen Schriften, Gutachten und Krankengeschichten untersuchte ich die psychiatriehistorischen Umstände seiner durch die Beschäftigungstherapie in der Klinik angeregten künstlerischen Produktion. Wie ist zu erklären, dass Wölfli sich als lebenslang Verwahrter innerhalb der Anstaltsmauern eine neue Identität als Künstler schaffen konnte? Ich recherchierte auch die Lebensumstände von Bill 18

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Traylor (1854–1949), der in seinen letzten Lebensjahren in Montgomery (Alabama) auf der Strasse lebte und künstlerisch arbeitete. In Sklaverei in Alabama geboren, verbrachte er mit seiner Familie die meiste Zeit seines Lebens auf einer Baumwoll-Plantage. Seine Zeichnungen waren 1940 erstmals in einer Ausstellung zu sehen, die ihm der weisse Künstler Charles Shannon mit Freunden in Montgomery ausrichtete. Shannon sammelte die Werke Traylors und setzte sich zeitlebens für dessen Anerkennung als Künstler ein. »Die Tatsache, dass Bill Traylor zu zeichnen begann«, folgerte ich damals aus meinen Nachforschungen, »steht unvermittelt zu seiner sozialen Herkunft: Zeichnungen waren aufgrund seiner Lebensgeschichte nicht zu erwarten.«21 Die in Stans wirkende Künstlerin Annemarie von Matt (1905–1967) fand als Autodidaktin zur Kunst und hat zurückgezogen und ohne sichtbare Ambition auf eine öffentliche Rolle als Künstlerin an ihrem Werk gearbeitet. Ihr künstlerisches und literarisches Schaffen trägt stark autobiografische Züge, Autorschaft manifestiert sich in ihren Werken als Form der Identifikation mit literarischen Figuren aus Büchern anderer Autoren. Leicht könnte man auf die Idee kommen, ihre Arbeiten seien Dokumente einer künstlerisch talentierten, durch die Lebensumstände aber aus sich selbst verrückten Frau, die auf das Leben selbst hinweisen. Boris Groys beobachtet, dass es Kunstaktivitäten gibt, die »von Anfang an nicht dem Ziel, ein Kunstwerk zu produzieren«, dienen.22 Es handle sich dabei um eine Form der »Kunstdokumentation«, die nicht ein vergangenes Ereignis (wie etwa eine Performance) vergegenwärtige und auch nicht ein erst noch in der Zukunft zu verwirklichendes Kunstwerk ankündige. Die Kunstdokumentation selbst sei das Kunstwerk: »Für diejenigen, die sich der Herstellung einer Kunstdokumentation statt der Produktion von Kunstwerken widmen«, schreibt er, »ist 19

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die Kunst nämlich mit dem Leben identisch, weil das Leben wesentlich reine Aktivität ist, die zu keinem Endergebnis führt. Die Präsentation eines solchen Endergebnisses, etwa in Form eines Kunstwerks, würde bedeuten, das Leben als einen bloß funktionalen Vorgang zu verstehen, dessen eigene Dauer durch die Entstehung des Endprodukts negiert und ausgelöscht wird – was dem Tod gleichkommt.«23 Der Künstler als Subjekt und der von ihm geschaffene ästhetische Gegenstand stehen, wie die eben angeführten Beispiele veranschaulichen, in einem komplexen wechselseitigen Verhältnis zueinander. Die Sozialgeschichte der Kunst vermag zwar an Fallstudien zu zeigen, unter welchen Bedingungen Kunstwerke geschaffen wurden und Wirkung entfalten konnten, doch Regeln für andere Künstler und deren Werk lassen sich daraus meines Erachtens nicht ableiten. Wieso ist es dennoch wichtig, Werke der Kunst in ihren Entstehungszusammenhang einzubetten? V Was Kunstgeschichte leistet Hans Belting spricht vom Menschen als »Ort der Bilder«.24 Menschen sind sterblich, aber sie spielen für die Übertragung von Bildern von einer Generation zur nächsten eine wichtige Rolle: »Als Stifter und Erben der Bilder sind sie in dynamische Prozesse eingebunden, in welchen ihre Bilder verwandelt, vergessen, wieder entdeckt und umgedeutet werden. Übertragung und Nachleben ähneln den zwei Seiten einer Münze. Übertragung ist intentional und bewusst, sie kann offizielle Leitbilder wie die Antike in der Renaissance zu Modellen einer Reorientierung machen. Das Weiterleben aber kann auf versteckten Wegen und sogar gegen den Willen einer Kultur geschehen, die sich in anderen Bildern einrichtet.«25 Bilder und Kunst gehören unterschiedlichen Ordnungen an, obschon sie häufig gemeinsam auftreten. Im Unter20

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schied zum Bild, das sich als visuelle Vorstellung im Menschen manifestieren kann und dabei für andere unsichtbar bleibt, ist das Kunstwerk physisches Objekt und zugleich ästhetischer Gegenstand. Es wird von Menschen bewusst für die Wahrnehmung durch andere Menschen geschaffen. Nur der Mensch macht Kunst: »Ich kenne Geschichten von malenden Elefanten, zeichnenden Affen und Maschine schreibenden Hunden«, berichtet die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt, »doch trotz der Komplexität der Dickhäuter-, Affen- und Hundekulturen spielt die bildende Kunst in keiner von ihnen eine zentrale Rolle. An einem bestimmten Punkt in der Evolutionsgeschichte begannen menschliche Gesellschaften Dinge zu zeichnen und zu malen, und man kann mit Sicherheit behaupten, dass der Akt des Machens eines Bildes nur möglich ist, weil wir die Fähigkeit eines reflexiven Bewusstseins haben, weil wir also imstande sind, uns selbst darzustellen und über unser eigenes Wesen nachzudenken, indem wir in unseren eigenen Augen zu Objekten werden.«26 An der Geschichte der Kunst und der Künstler weiterzuschreiben ist wichtig, weil die Berücksichtigung von Werk und Autor die Entstehungsgeschichte der Kunst an sich zum Thema macht. Zur Entstehungsgeschichte eines Werks gehören neben den individuellen auch die sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse zum Zeitpunkt seiner Formwerdung. In einem Vortrag zur Situation der zeitgenössischen Kunst spricht die US-amerikanische Künstlerin Andrea Fraser 2010 von einer Kluft zwischen dem, »was Kunstwerke unter diesen historischen und ökonomischen Bedingungen sind, und was Künstler, Kuratoren, Kritiker und Historiker darüber sagen, was diese Kunstwerke – besonders diejenigen, die sie unterstützen – tun und bedeuten.«27 Ihre Feststellung ist von brennender Aktualität. Die Aufgabe der Kunst sieht Fraser darin, »die Reflexion über jene Beziehungen, die abgetrennt 21

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worden sind, zu strukturieren«.28 Genau davon handelt ihr Werk Untitled (2003). Das Video, aufgenommen mit fester Kameraeinstellung ohne jede Bewegung, zeigt die Künstlerin beim Sex mit einem Kunstsammler. 60 Minuten ohne Ton. Für Ausstellungen verwendet Fraser eine ungeschnittene Fassung des Dokuments. Sie zeigt es auf einem kleinen Monitor in einem ansonsten leeren, hellen Raum. Es sollte, schreibt Fraser, »eine wörtlich zu nehmende Performance über die Metapher der Prostitution für den Kunstmarkt sein und keine Performance über Prostitution an sich. Der Sammler hat für den Sex nicht bezahlt: Er bekam nur das Vorkaufsrecht für die erste DVD-Edition, zu deren Produktion er sowohl in finanzieller als auch in performativer Hinsicht etwas beigetragen hatte. Ich wiederum verkaufte keinen Sex, sondern stellte ein Kunstwerk her, das mir gehören würde, das ich aber ohne seine Beteiligung nicht zustande gebracht hätte.«29 Fraser versteht die Arbeit als Kritik am Kunstmarkt, zugleich handle es sich aber auch, betont die Künstlerin in einem ihrer Texte, um den Versuch, »eine ökonomische Tauschbeziehung in etwas sehr Persönliches und Ethisches« zu verwandeln.30 Zwar vermag die Entstehungsgeschichte ein Werk weder zu erklären, noch lassen sich aus ihr qualitative Kriterien für seine Bedeutung ableiten, doch für die Identität des Werks, seine Unverwechselbarkeit ist sie entscheidend.31

Bill Traylor (1854–1949) — Zeichner in Montgomery

D

er Weg führt von Benton, Alabama, an Wiesen und Feldern entlang, vorbei an den weissen Holzhäusern der Baumwollpflanzer und den hinter Buschwerk verborgenen, inzwischen bis auf die schlanken Backsteinkamine zerfallenen Hütten der Schwarzen bis hinauf in die 22

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Kiefernwälder der umliegenden Anhöhen. Vor uns liegt die von dichtem Wald umgebene Plantage, auf der Bill Traylor im Jahr 1854 in Sklaverei geboren wurde und auf der er beinahe sein ganzes Leben verbringen sollte. Die Plantage zählte in seiner Jugendzeit zu den mittelgrossen Betrieben und gehörte dem weissen Baumwollpflanzer George Hartwell Traylor (1801–1884), der seine rund 400 Morgen Ackerland von 20 bis 30 schwarzen Sklaven bewirtschaften liess.01 1935, im Alter von 82 Jahren, verliess Bill Traylor seinen Geburtsort und begab sich in die 35 Meilen entfernte Hauptstadt Montgomery, die einem alten und schon gebrechlichen Mann wie ihm kaum mehr als ein ärmliches, doch wenigstens visuell anregendes Leben auf der Strasse bieten konnte. In Montgomery begann Bill Traylor zu zeichnen. Als er 1949 starb, hatte niemand seine Lebensgeschichte aufgeschrieben. Es gab dazu auch keinen Anlass. Bill Traylor war damals nicht der Künstler, den wir heute in ihm erkennen. Er war schlichtweg ein alter und obdachloser Mann ohne feste Erwerbstätigkeit, der in den belebten Strassen von Montgomery zeichnete. Auch die wenigen über ihn noch zu Lebzeiten erschienenen Artikel, einer davon am 22. Juni 1946 in der in den Vereinigten Staaten weit verbreiteten Illustrierten Collier’s, und selbst zwei Ausstellungen – 1940 in Montgomery und 1942 in Riverdale bei New York – können darüber nicht hinwegtäuschen. Früher Ruhm in Al abama Die erste Ausstellung mit Werken von Bill Traylor wurde von dem damals 26-jährigen Maler Charles Shannon ausgerichtet. Shannon beschäftigte sich in seiner Malerei mit dem Alltag und der Geschichte der schwarzen Bevölkerung von Alabama.02 Seine Bilder behandeln Rassismus und Ausbeutung zu einem Zeitpunkt, als dies in den Südstaaten noch gefährlich war, und lange bevor es eine schwarze 23

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Bürgerrechtsbewegung gab. 1938 wurde ihm für seine Arbeit das Julius Rosenwald Stipendium verliehen, eine Auszeichnung, die für Personen bestimmt war, die sich für gesellschaftliche Randgruppen einsetzten.03 Charles Shannon war im Frühjahr 1939 auf einem seiner samstäglichen Streifzüge durch Montgomery an der Monroe Avenue auf Bill Traylor aufmerksam geworden.04 Ungefähr zwei Wochen nach ihrem ersten Zusammentreffen begann er, den alten Mann mit Bleistiften, Farbstiften, Malkarton, Pinsel und Plakatfarben zu versorgen und dessen Zeichnungen zu sammeln. Shannon lebte weit ausserhalb von Montgomery in einer Hütte, die er noch als Student der Cleveland School of Art, an der er 1932–1936 eingeschrieben war, mit der Hilfe einiger Schwarzer selbst gebaut hatte. In jenen Jahren hatte er sein Interesse für die afroamerikanische Kultur entdeckt, das er nie mehr verlieren sollte.05 Jeden Samstagmorgen reiste er in den späten 1930er-Jahren von Butler County in die Stadt, um seine Familie und seine Freundinnen und Freunde zu besuchen sowie am Abend zu unterrichten. Der Unterricht fand im Versammlungssaal von New South statt, einem selbstverwalteten Treffpunkt junger Kulturschaffender aus der weissen Mittel- und Oberschicht von Montgomery. Man organisierte im Freundeskreis Diskussionsveranstaltungen zu kulturpolitischen Themen, Lesungen, Kurse, Konzerte und Ausstellungen. Dieses Forum regionaler Kultur war nur wenig länger als ein Jahr aktiv.06 Im Februar 1940, als sich Europa schon mitten im Krieg befand, kam auf Anregung von Charles Shannon im Ausstellungsraum von New South die erste Präsentation von Bill Traylor zustande. Sie umfasste ungefähr 100 nach Motiven geordnete Zeichnungen, die ungerahmt gezeigt wurden. Auf Fotografien festgehalten wurde die Ausstellungsform von George E. Lewis,07 der mit seiner Frau Jean zu den Gründungsmitgliedern von New South gehörte. Die 24

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Ausstellung wurde unter dem Titel »Bill Traylor: People’s Artist« angekündigt und begleitet von einem Katalog mit einem kurzen Beitrag von Charles Shannon. Besprechungen der Ausstellung erschienen am 5. Februar 1940 in The Birmingham News (»Ex-Slave’s Art Put On Display By New South: Bill Traylor, 85, Draws Things As He Sees Them«) und am 11. Februar in The Montgomery Advertiser (»African Art of Bill Traylor Now On Walls Of New South«). Am 31. März widmete letztere Zeitung Bill Traylor einen zweiten Artikel (»The Enigma Of Uncle Bill Traylor: Born A Slave, Untutored In Art, His Paintings Are Reminiscent Of Cave Pictures – And Picasso«). Das Presseecho war zwar wohlwollend, die Wirkung in dem kleinen Einzugsgebiet der beiden Lokalzeitungen dürfte indes gering gewesen sein. Glauben wir den Erinnerungen von Kitty Baldwin, der damaligen Freundin von Charles Shannon, so stiess die Ausstellung in Montgomery nur auf geringes Interesse.08 Auch die zweite, schon kurz erwähnte Ausstellung, die zu Lebzeiten von Bill Traylor stattfinden konnte, dürfte nur ein kleines Publikum angesprochen haben. Zu sehen war sie in den Fieldston Schools in Riverdale bei New York, deren Ausstellungsprogramm damals von Victor E. D’Amico, dem langjährigen Leiter des Museumspädagogischen Dienstes im Museum of Modern Art in New York, zusammengestellt wurde.09 Die Ausstellung trug den Titel »Bill Traylor, American Primitive (Work of an Old Negro)« und dauerte nur gerade zwei Wochen. Zwar interessierten sich schon damals auch bedeutende amerikanische Institutionen für die Kunst von Autodidakten, Ausstellungen wie diejenige von Bill Traylor blieben dennoch eine Ausnahme. 1937 hatte das Museum of Modern Art, in dessen Sammlung Bill Traylor heute vertreten ist, zwölf Skulpturen von William Edmondson (1882–1951) aus Tennessee gezeigt.10 Es war die erste Einzelausstellung eines Afroamerikaners 25

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in diesem Haus. Edmondson war wie Traylor als Kind von Landarbeitern geboren. Er hatte schon verschiedene Berufe ausgeübt, als er 1932, inzwischen schon ein älterer Mann, einer Vision folgte und Bildhauer wurde. William Edmondson arbeitete von 1934 bis 1948 an seinen Skulpturen, die er vor seinem Werkplatz als Grabsteine zum Verkauf anbot. Entscheidend für seinen bereits früh einsetzenden Ruhm waren die in New York zirkulierenden Fotografien der Reporterin Louise Dahl-Wolfe, die Edmondson und seine Arbeiten 1937 in Nashville fotografiert hatte. Durch diese Aufnahmen wurde das Museum of Modern Art auf sein Schaffen aufmerksam. Alfred H. Barr, Jr., der Gründungsdirektor, schreibt aus Anlass der Ausstellung: »Es gehört zu den Neuerungen des gegenwärtigen Kunstgeschmacks, die Leistung von naiven Künstlern und Autodidakten zu würdigen.« 11 Im folgenden Jahr veranstaltete das Museum die Ausstellung »Masters of Popular Painting«, in der auch Gemälde des schwarzen Malers Horace Pippin (1888–1946) zu sehen waren.12 Der amerikanische Bildhauer Elie Nadelman (1882–1946) und seine Frau Viola Flannery hatten schon 1926 in Riverdale bei New York das Museum of Folk and Peasant Art gegründet, in das ihre umfangreiche Sammlung europäischer und amerikanischer Volkskunst einging.13 Es handelte sich bei ihrer Sammlung um die damals grösste ihrer Art. Zu Nadelmans Museumsberatern gehörten sowohl Alfred H. Barr, Jr., als interessanterweise auch René d’Harnoncourt, ein späterer Direktor des Museum of Modern Art und begeisterter Sammler nordamerikanischer Volkskunst. In den 1940er-Jahren sollte er eine Zeichnung von Bill Traylor erwerben.14 Die Legende Wie so häufig bei Künstlern, die aus bestimmten Gründen von ihrer eigenen Zeit übersehen wurden und erst das 26

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Interesse späterer Generationen nachhaltig auf sich ziehen – oft gerade weil die Werke wie hier der Volkskunst nahe standen –, ist wenig über den Entstehungszusammenhang der Zeichnungen von Bill Traylor bekannt. Er selbst konnte weder schreiben noch lesen und gehörte einer schriftlosen Kultur an.15 Der einzige verlässliche Zeitzeuge, der Maler Charles Shannon, traf mit Traylor lediglich von 1939 bis 1942 regelmässig zusammen. Viel erzählte ihm Traylor bei diesen Besuchen nicht. In seiner eigenen Familie ist die Erinnerung an ihn bald weitgehend verblasst. Das Interesse an seiner Person entstand in der Familie erst in den 1990er-Jahren als Folge seines schnell wachsenden Nachruhms als Künstler.16 Lange erschöpften sich die biografischen Angaben in der griffigen Formel vom Sklaven, der zum Künstler wurde. Was bislang vorlag und in Zeitungsartikeln, Reportagen und Ausstellungskatalogen immer wieder abgedruckt wurde, war keine Biografie, sondern eine Legende.17 Obschon die vorliegenden Ausführungen neue Fakten beibringen, wird es, so steht jedenfalls zu befürchten, nicht gelingen, diesen Sachverhalt grundlegend zu verändern. Die Legende wird in ihrer einprägsamen Kurzform noch lange weiterexistieren, auch wenn sich die Grundzüge dieses Lebens zusehends deutlicher abzeichnen. Zwar erklärt die Lebensgeschichte nicht, weshalb Bill Traylor begann zu zeichnen, und selbstverständlich noch weniger, weshalb heute diese einfachen Zeichnungen als ansprechend empfunden werden, nicht aber zur Zeit ihrer Entstehung. Wer die Legende vom Ex-Sklaven als Künstler weitererzählt, dem entgeht aber ein viel wichtigerer Zusammenhang. Es sind die durch die Recherchen erlangten Kenntnisse einiger zusätzlicher Aspekte der Lebensgeschichte, die erst ein Gefühl für den langen Weg erzeugen, den Traylor zurückgelegt hatte, als er in Montgomery zu Stift und Papier griff. 27

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Historisches Wissen zeigt, wie unerwartbar diese Zeichnungen waren und wie unvermittelt angesichts seiner sozialen Herkunft. Mit den Augen von Annemarie Schwarzenbach Als ich mich fragte, wie ich diesen Gedanken veranschaulichen könnte, erinnerte ich mich an die Fotografien der Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach (1908–1942), die im Jahr 1937 als Fotoreporterin für Schweizer Zeitungen die amerikanischen Südstaaten bereiste. Auf dieser Reise hielt sie sich auch kurz in Montgomery auf. Von dort brachte sie einige Fotografien aus der Monroe Avenue, dem Lebensort von Bill Traylor, mit in die Schweiz. Annemarie Schwarzenbach stammte aus einer der reichsten Industriellenfamilien ihres Landes.18 Ihr Vater Alfred Schwarzenbach (1876–1940) war ein erfolgreicher und weltweit tätiger Textilfabrikant. Sie studierte in Zürich und Paris Geschichte, schrieb aber schon während ihrer Studienzeit literarische Texte. Schön, klug, gut ausgebildet und mit grossbürgerlichem Hintergrund, stand einem angenehmen und interessanten Leben, wie es zunächst schien, nichts im Wege. Doch als junge Frau wurde Annemarie Schwarzenbach, wie Uta Fleischmann schreibt, »im bürgerlichen Sinne auffällig«.19 Sie machte mit vielen lesbischen Beziehungen von sich reden, trank und kam 1932 in Berlin im Freundeskreis von Erika und Klaus Mann, zwei Kindern des Schriftstellers Thomas Mann, erstmals in Berührung mit Morphium und geriet bald in eine Abhängigkeit, aus der sie sich bis zu ihrem frühen Tod nicht zu befreien vermochte. Klaus Mann, mit dem Annemarie Schwarzenbach zeitlebens eine enge Freundschaft verband, schreibt in seiner Autobiografie Der Wendepunkt, sein Vater habe zu Annemarie Schwarzenbach einmal ge28

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sagt: »Merkwürdig, wenn Sie ein Junge wären, dann müssten Sie doch als ungewöhnlich hübsch gelten.«20 Die Fotos von Annemarie Schwarzenbach geben einen Eindruck von ihrer faszinierenden androgynen Erscheinung, lassen aber auch die tiefe Traurigkeit und Verzweiflung dieses Menschen erahnen. Im Jahr 1936 machte die Amerikanerin Barbara Hamilton-Wright, in die sich Annemarie Schwarzenbach kurz zuvor verliebt hatte, ihr den Vorschlag, gemeinsam eine Reise durch die Vereinigten Staaten zu unternehmen und dabei insbesondere in Wort und Bild über die Gewerkschaftsbewegungen zu berichten, die sich in jenen Jahren in den Industriezentren zu formieren begannen.21 Schwarzenbach war trotz ihres familiären Hintergrundes politisch stark sensibilisiert. 1934 hatte sie mit Klaus Mann in Moskau am ersten Kongress der Sowjet-Schriftsteller teilgenommen. Mit Begeisterung nahm sie daher den Vorschlag ihrer Freundin an und begann sofort mit den Reisevorbereitungen. Im September 1936 traf sie in New York ein. Im Januar des folgenden Jahres reisten die beiden Frauen von Washington in das Stahlzentrum Pittsburgh. In Altoona bei Pittsburgh demonstrierten sie sogar zusammen mit der Belegschaft eines Schwarzenbach-Unternehmens für bessere Arbeitsbedingungen. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz erholte sich Annemarie Schwarzenbach für kurze Zeit in ihrem Haus in Sils (Graubünden). Im September 1937 schiffte sie sich erneut nach New York ein. Im Oktober brachen Barbara HamiltonWright und Annemarie Schwarzenbach zu ihrer fünfwöchigen Reise durch die Südstaaten auf und besuchten Virginia, North und South Carolina, Georgia, Alabama und Tennessee. Die Weltwirtschaftskrise hatte vor allem im Süden der Vereinigten Staaten Arbeitslosigkeit und bittere Armut verursacht. 1932 war Franklin D. Roosevelt zum Präsi29

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denten gewählt worden. Der unter seiner Regierung 1935 beschlossene »New Deal« sollte die Not im Lande durch Sozialgesetze lindern und gleichzeitig der Wirtschaft neue Impulse geben. Annemarie Schwarzenbach war eine Anhängerin der Politik Roosevelts und brachte dies in ihren Reportagen, die von Armut und Rassenproblemen unter den Industriearbeitern handeln, auch zum Ausdruck. Als sie und Barbara Hamilton-Wright im November 1937 in Montgomery eintrafen, lebte Bill Traylor seit ungefähr zwei Jahren in der pulsierenden, am Ufer des Alabama-River gelegenen Stadt.22 Montgomery hatte damals ungefähr 72000 Einwohner.23 Der Handel mit Baumwolle und Baumwollsamen war eine der Haupteinnahmequellen. Selbst im Zentrum gab es neben Lagerhäusern für die von den meist deutschen und jüdischen Baumwollhändlern aufgekaufte Baumwolle auch Baumwollspinnereien. Bill Traylor hatte zunächst an der Monroe Avenue im Hinterzimmer eines Bestattungsunternehmens Quartier bezogen. Die Tage verlebte er auf der Strasse. Die Monroe Avenue lag in einem vorwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel in der Innenstadt von Montgomery. Bahnhof und Hafen waren zu Fuss in wenigen Minuten erreichbar. In unmittelbarer Nähe gab es einfache Hotels und einige Theater, in denen namhafte schwarze Musiker spielten. Traylor sah Anwälte, Lehrer, Ärzte und elegant gekleidete Frauen aus der schwarzen Mittelschicht, mit der er zuvor kaum in Berührung gekommen war. Samstags kamen die schwarzen Landbewohner mit ihren von Maultieren gezogenen Wagen aus den umliegenden Dörfern, um auf dem Markt einzukaufen und Freunde zu treffen. Annemarie Schwarzenbach fotografierte während ihres Aufenthalts in Montgomery ausschliesslich in der Monroe Avenue und beschränkte sich somit auf einen von Schwarzen bewohnten Stadtteil.24 Alle Aufnahmen zeigen Schwarze und entstanden nur wenige Schritte von den von 30

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Charles Shannon bezeichneten Standplätzen entfernt, die Bill Traylor wenig später einnehmen sollte. Auf ihren Fotografien erscheinen die Menschen alle, als warteten sie: Man denke nur an Aufnahmen wie diejenige der hageren Frau, die trinkend und selbstvergessen auf einem der typischen Fuhrwerke sitzt, oder an jene, die eine Gruppe Schwarzer unterschiedlichen Alters vor riesigen Baumwollballen versammelt zeigt.25 Das Interesse der jungen Schweizerin galt Landleuten und Arbeitern, mithin der schwarzen Unterschicht von Alabama. Aus Montgomery gibt es von ihr keine Aufnahmen städtisch gekleideter Schwarzer, wie wir sie aus den Bildern von Charles Shannon kennen, der die Monroe Avenue und Bill Traylor zwei Jahre später, im Sommer und Herbst 1939, fotografierte.26 Schwarzenbach konzentrierte sich auf Körperhaltung und Gesichtsausdruck einiger in ihren Augen klar Unterprivilegierter. Es sind im besten Sinne des Wortes Momentaufnahmen und zugleich Milieustudien. Annemarie Schwarzenbach hatte in Washington unmittelbar vor ihrer Abreise nach Pittsburgh die Fotografien der Farm Security Administration (FSA) studiert. Die 1935 als »Resettlement Administration« (RA) gegründete und 1937 in »Farm Security Administration« (FSA) umbenannte Regierungsstelle war dem Landwirtschaftsministerium angegliedert und hatte die Aufgabe, durch zentralstaatliche Massnahmen die Landwirtschaft umzugestalten und die verarmte Landbevölkerung durch Nothilfeprogramme zu unterstützen. Die Vereinigten Staaten litten unter landwirtschaftlicher Überproduktion, die vor allem im Süden durch die auf die Zeit der Sklaverei zurückgehenden Besitzverhältnisse verschärft wurde. Die Bauern bewirtschafteten Land, das ihnen nicht gehörte, und bezahlten den Pachtzins in vielen Fällen in Naturalien, die täglich an Marktwert verloren. Von diesem sogenannten Sharecropping System wird auf den folgenden Seiten noch 31

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die Rede sein, da es Bill Traylor direkt betraf. Die FSA unterhielt eine Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit unter der Leitung von Roy Stryker, die Fotografen damit beauftragte, das arme und hungernde Amerika in Bildern festzuhalten. Die Aufnahmen wurden in Zeitschriften verbreitet und in Ausstellungen, die von den Behörden initiiert wurden, weithin bekannt.27 Annemarie Schwarzenbachs Stil der Jahre 1936–1938 lässt den Einfluss der FSA-Fotografien deutlich erkennen. L andarbeit in Al abam a Angesichts der politischen Veränderungen in Deutschland schrieb Annemarie Schwarzenbach schon im April 1933 an Klaus Mann: »[…] ein halbwegs geistig orientierter Mensch, dazu ein Europäer, gehört natürlich in die Opposition.«28 Von dieser grossen Sensibilität und ihrer Affinität zu den Unterdrückten sprechen auch ihre Fotos aus dem amerikanischen Süden der 1930er-Jahre und ihre Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Alabama. In ihrem unter dem Titel »Baumwoll-Gürtel« am 25. Januar 1938 in der Basler National-Zeitung erschienenen Artikel lesen wir: »›Der Bürgerkrieg ist an allem schuld‹ – damit trösten sich heute noch die Aristokraten des Baumwollgürtels, damit rechtfertigen sie den Zustand hoffnungsloser Degeneration, in dem sich ihr Land und seine Bevölkerung befinden. Aber diese Rechtfertigung hat ihren tragischen Schimmer eingebüsst, seitdem die grosse Krise Amerika heimsuchte und in ihrem Verlauf die wahren Ursachen aufgedeckt wurden, die den Süden zu einem sozial und wirtschaftlich verseuchten Land gemacht haben. ›Der Krieg‹, so wollte es die Legende, ›hatte die Aufhebung der Sklaverei zur Folge, der Norden hat die Pflanzerstaaten des Südens ihres Betriebskapitals beraubt und hat damit das Baumwollsystem, seine eigentli32

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che Reichtumsquelle, ruiniert.‹ – Aber was hat sich denn so gründlich verändert nach dem verlorenen Krieg? Vermögen wurden eingebüsst und wechselten die Hand. Die Sklaven waren ›befreit‹ und wurden alsbald gezwungen, ›freiwillig‹ einen Kontrakt mit ihren Herren einzugehen, der eine neue, keineswegs mildere Form von Sklaverei bedeutete. Dieser Kontrakt hiess ›Sharecropping‹ – ›Ernteteilen‹ – und half das Plantagensystem festigen, das den Landherren grosse Profite eintrug, solange die Baumwolle auf ausländischen und inländischen Märkten verkauft werden konnte. Im Zeichen der Baumwolle wurden Wälder abgeholzt, die Hügel ihres natürlichen Schutzes gegen Erosion beraubt, die Felder Überschwemmungen preisgegeben und durch einseitigen Raubbau erschöpft. Die Baumwolle bedeutete Profit, darum durfte kein Stückchen des Bodens mit Getreide oder Gemüse bepflanzt werden, und die ›Sharecroppers‹, die Baumwollpflücker, wurden gezwungen, sich von Molasse, Mais und Schweinefett zu ernähren, selbst wenn diese Diät ganze Epidemien von Pellagra, einer skorbutähnlichen Seuche, zur Folge hatte. Bis zur Erntezeit lebte der ›Sharecropper‹ vom Kredit des Pflanzers, er bezog seine Waren im Laden des Pflanzers, sein Maultier, sein Gerät, seine Hütte gehörte dem Pflanzer – und bei der Abrechnung stellte es sich heraus, dass er beim Pflanzer verschuldet war, von Ernte zu Ernte, von Generation zu Generation. In Alabama sind 26 Prozent der Neger Analphabeten, in Mississippi 23 Prozent, in South Carolina 27 Prozent. In Alabama sind zwei von fünf Einwohnern Neger, in Mississippi gibt es über 50 Prozent, in South Carolina fast 50 Prozent. Je mehr Schwarze, um so mehr Analphabeten, um so mehr Verseuchte, um so mehr Verbrecher. Je mehr Neger, um so mehr Lynchmorde an Negern, um so mehr Macht dem Ku-Klux-Klan, der mit terroristischen Methoden die Schwarzen in Schrecken und Abhängigkeit hält. – Die Statistiken sprechen eine deutli33

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che Sprache, das ›Plantagensystem‹ ist ein Instrument, um dem Weissen die unbedingte Vorherrschaft zu sichern, um ihn zu schützen vor der schwarzen Rasse, vor der er sich fürchtet. Die Resultate sind beruhigend: mit Fug und Recht können die weissen Herren behaupten, der Neger sei unzuverlässig, faul, unselbständig, ungebildet und verseucht. Aber das Land hat in diesem Rassenkampf einen teuren Preis bezahlt. Nicht nur die Neger wurden besiegt – zu ihnen gesellten sich, bald nach dem Bürgerkrieg, Weisse, Angelsachsen, die als Baumwollproletariat den gleichen Pachtvertrag des ›Sharecropping‹ eingehen mussten und, in den Schlingen dieses Systems gefangen, auf die Stufe des Negers sanken. Die ›armen Weissen‹, der ›weisse Abschaum‹ – sie sind arm, unzuverlässig, faul, unselbständig, ungebildet und verseucht. Sie verachten den Neger, das ist ihr einziges Vorrecht, sie verüben die Lynchmorde, angeführt von Sheriffs, weissen Aufsehern, Verwaltern der Plantage, geschützt vom ›System‹ und von der Polizei. Sie werden ausgespielt gegen den Neger, der Neger gegen sie, in diesem ›Rassenkampf‹, der in Wahrheit längst ein Kampf der Klassen geworden ist.«29 Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass Traylor als Landpächter jener Berufsgruppe zuzuzählen war, deren Schicksal Annemarie Schwarzenbach uns so drastisch vor Augen führt. Er selbst sprach kaum über jene Zeit auf der Plantage von Benton, die fast sein ganzes Leben umspannte. Von der weissen Traylor-Familie konnte sich niemand mehr an ihn erinnern, als man sich Jahrzehnte nach seinem Wegzug wieder für ihn zu interessieren begann.30 Bill Traylor hat, so ist es jedenfalls in den Unterlagen zur Volkszählung in Lowndes County (Alabama) im Jahr 1900 nachzulesen, auf eigene Rechnung gepachteten Boden bearbeitet.31 Am 23. März 1881 war der weisse Baumwollpflanzer George Hartwell Traylor, dessen Eigentum Bill Traylor bis 1866 gewesen war, in Benton verstorben. Die Plantage wurde 34

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nach dessen Tod von seinem Sohn Marion Hartwell Traylor übernommen. Bill Traylor wurde damals in den staatlichen Listen noch als Landarbeiter geführt.32 Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1860–1866), der sich an der Sklavenfrage entzündet hatte und zur Sklavenbefreiung führte, war der Süden vollständig verwüstet.33 Das Bild Alabamas in Bill Traylors früher Kindheit war geprägt durch niedergebrannte Dörfer und Städte, unpassierbare Strassen, zerstörte Eisenbahnlinien und aufgelassene Plantagen. Die Südstaaten standen unter militärischer Besatzung der Union. Damals erfolgte die Gründung des auch von Schwarzenbach erwähnten Ku Klux Klan, der die gesellschaftliche Integration der Schwarzen mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Nach der Aufhebung der Sklaverei wurden viele Ländereien aufgeteilt und verkauft, weil diese ohne die billigen Arbeitskräfte nicht mehr ökonomisch zu bewirtschaften waren.34 Das freigewordene Kapital wurde in die Ansiedlung von Industrie reinvestiert, wobei die Textilindustrie eine wichtige Rolle spielte. 1879 hatte die Baumwollproduktion wieder den Vorkriegsstand erreicht. Da Baumwolle – anders als Mais und Getreide – aus technischen Gründen nicht mechanisch geerntet werden konnte, blieb die Baumwollproduktion weiterhin arbeitsintensiv. Hierin liegt einer der Gründe für das von Schwarzenbach beschriebene und als ausbeuterisch bezeichnete Pachtsystem, von dem vermutlich auch Bill Traylor abhängig war. Die Schwarzen leisteten dieselbe Arbeit wie zur Zeit der Sklaverei, nun als Lohnarbeiter oder als Teilpächter (Sharecropper). Der Pflanzer verkaufte dem Teilpächter auf Kredit Maultiere, Saatgut und landwirtschaftliches Gerät und überliess ihm ein Stück Land zur selbstständigen Bewirtschaftung und verlangte dafür einen Teil der Baumwollernte. Autonomie war unter diesen Bedingungen nur schwer zu erreichen, da die meisten Teilpächter, wie Schwarzenbach ebenfalls 35

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schon feststellte, zeitlebens bei ihren Pflanzern verschuldet blieben. Schwarzenbachs Schilderungen von Alabama sind militant und machen aus dem Ekel der Autorin kein Geheimnis. Obschon auch ihre Fotografien das Elend des Südens dokumentieren, wirken sie doch gegenüber den Reportagen entrückt. Im Unterschied zu Schwarzenbach, die als politisch geschulte Europäerin ein bestimmtes Milieu vor Augen hatte, über das sie als Fotoreporterin berichten wollte, geben die knapp zwei Jahre später entstandenen Fotografien von Charles Shannon ein weniger von Vorurteilen behaftetes, aber vielleicht auch romantischeres Bild der Verhältnisse. Seine Liebe für die schwarze Bevölkerung seiner Heimat liess ihn neugierig und unvoreingenommen genug, um den Alltag der Schwarzen nicht in erster Linie unter den Vorzeichen des Mangels zu betrachten, sondern auch danach zu fragen, wie diese es schafften, trotz Verachtung und Unterprivilegierung, eine eigene Kultur zu leben. Seine Aufnahmen aus Montgomery erfassen den Menschen nicht wie diejenigen von Annemarie Schwarzenbach als isoliertes Individuum, sondern zeigen Menschen bei alltäglichen, aufeinander bezogenen Verrichtungen im Stadtraum. Shannon dokumentiert städtisches Leben. Dieser Fokus unterscheidet seine Fotografien nicht nur von denjenigen Schwarzenbachs, sondern auch von den meisten anderen Fotografien, die zur Zeit der Depression im Süden entstanden sind. Dem klassenkämpferisch vorgeformten, europäischen Blick von Annemarie Schwarzenbach musste diese Dimension entgehen. Ein Bildnis von Bill Traylor suchen wir unter ihren Fotografien aus Montgomery denn auch vergeblich. Zwar hielt sie sich vermutlich ein Jahr zu früh in Montgomery auf, um Traylor als Zeichner zu begegnen, doch selbst wenn sie den alten, schäbig gekleideten und schmutzigen Mann gesehen hätte, der an der Monroe Avenue auf einer Kiste sass und zeichnete, was auch nicht 36

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auszuschliessen ist, so hätte sie ihm kaum Beachtung geschenkt. Sie war als Journalistin auf der Suche nach dem typischen Schicksal des Schwarzen in Alabama, das sie in demjenigen von Bill Traylor nicht gesehen hätte. Charles Shannon, der selber ein Kind dieser Gesellschaft war, hatte ein viel feineres Sensorium für deren inneren Gesetzmässigkeiten und ein Auge für ausserordentliche Begebenheiten, wie er sie in der Biografie von Bill Traylor vorfand. Zeichnen in Montgomery Als Charles Shannon Traylor kennenlernte, arbeitete dieser in der Nähe einer Schmiede.35 Er benutzte einen kurzen Stock als Lineal und zog mit einem Bleistift Linien auf schmale, lange Kartonstreifen. Auf anderen Zeichnungen aus der Frühzeit sind Körbe, Tassen, Schuhe oder Schmiedewerkzeuge in langen Reihen angeordnet. Traylor zeigt den Schmied bei der Arbeit. Er zeichnet Trinkgelage sowie Männer, Frauen und Kinder, die sich gegenseitig necken oder auch energisch miteinander streiten. Kinder reizen Alte mit langen Ruten. Angst und Verwirrung, aber auch Freude und Ausgelassenheit sind schon auf diesen frühen Arbeiten allgegenwärtig. An dem Zaun, vor dem er sass und zeichnete, hingen seine Zeichnungen an kleinen Schlingen zum Verkauf. Über die Käufer seiner Zeichnungen soll Traylor zu Charles Shannon gesagt haben: »Manchmal kaufen sie sie und brauchen sie nicht einmal.«36 Im Verlauf des Sommers 1939 fand Traylor auf der gegenüberliegenden Strassenseite in der überdachten Ladenzeile an der Ecke Monroe Avenue und North Lawrence Street neben einem jüdischen Obsthändler einen geschützteren Platz. Er schlief nun im Geschäft eines Schusters an der North Lawrence Street und ass im Red Bell Café. Sein neuer Arbeitsplatz lag am Hinterausgang des für Schwarze bestimmten und gut besuchten Billiardzimmers des Pekin 37

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Cafés. Shannon fotografierte Traylor bei der Arbeit. Traylor zeichnete nun Tiere (Kühe, Pferde, Maultiere, Hunde, Katzen, Hühner, Truten, Hasen usw.) sowie Menschen und ihr Treiben rund um das Haus. Er zeichnete Mexikaner, elegante schwarze Paare, betrunkene ältere Männer, keifende Frauen, Diskussionen und Belehrungen, verängstigte Katzen und kämpfende oder beissende Hunde. Die Artikulierung von Vitalität bleibt das zentrale Thema. Faszinierend ist, wie schnell Traylor seine zeichnerische Fertigkeit entwickelte. Charles Shannon war ein guter Beobachter, doch was er sah, den schwarzen Alltag in Montgomery, war eigentlich nicht für seine Augen bestimmt. Er war, dies zeigen seine Fotografien aus Montgomery und belegt die Nähe, die er zu Bill Traylor herstellte, auf der Spur afroamerikanischer Kultur, lange bevor diese in den 1960er-Jahren überhaupt ein Thema in der amerikanischen Gesellschaft wurde – ein Thema, das, wie wir noch sehen werden, nicht ohne Einfluss auf die Wirkung der Zeichnungen Traylors bleiben sollte. Im Juni 1942 wurde Charles Shannon zum Kriegsdienst eingezogen, aus dem er erst im Jahr 1946 entlassen wurde. Er diente im Südpazifik als Kriegsmaler. Über das Schicksal von Traylor während dieser Jahre ist deshalb wenig bekannt.37 Zeitweise lebte Traylor bei seiner Tochter Lillian Traylor Hart (1896–1984) in Washington D.C., wo ihm das von Faulbrand befallene linke Bein amputiert wurde, und bei weiteren Verwandten in Detroit, Chicago, New York und Philadelphia, hielt es aber bei keinem seiner Angehörigen lange aus. Er zog es trotz Alter und Gebrechlichkeit vor, auf der Strasse zu leben, und kehrte nach Montgomery zurück, wo er seinen alten Arbeitsplatz beim Obststand wieder einnahm. Im Frühjahr 1946 besuchten der Fotograf Horace Perry und der Journalist Allen Rankin Bill Traylor im Haus seiner Tochter Sarah (Sally) Traylor Howard (1887–1974) an 38

Bill Traylor im Garten seiner Tochter an der Bragg Street, Montgomery, Alabama, 1948, Photo A lbert K r aus.

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der Bragg Street in Montgomery. Am 22. Juni erschien in der Zeitschrift Collier’s die erwähnte Reportage über Bill Traylor, verfasst von Allen Rankin und illustriert mit einer jener Aufnahmen, die Horace Perry im Frühjahr im Garten an der Bragg Street gemacht hatte.38 Perrys Fotografien zeigen einen anderen Traylor als jene von Charles Shannon: Er sitzt sauber gekleidet im Freien inmitten seiner Zeichnungen, die er teils an Shannon verkauft und die jener wiederum für die Aufnahme an Perry ausgeliehen hat. Drei Jahre später, am 23. Oktober 1949, starb Traylor im St. Jude Hospital in Montgomery. Die Abdankungsfeier fand in der St. Jude Church statt, die Beisetzung vermutlich auf dem Mount Morian Friedhof. Charles Shannon besass zu diesem Zeitpunkt 1200 bis 1500 Zeichnungen von Bill Traylor aus den Jahren 1939– 1942, für die sich damals jedoch niemand interessierte. Resigniert musste Shannon feststellen, dass Traylors Arbeiten unverkäuflich waren. Der Kunstmarkt hatte andere Schwerpunkte: Die abstrakte Kunst eroberte New York und fand im Abstrakten Expressionismus von Jackson Pollock, Willem de Kooning, Franz Kline, Philip Guston, Robert Motherwell, Mark Rothko, Clyfford Still und Barnett Newman seine amerikanische Form.39 Die Jahre des New Deal, der amerikanischen Version einer sozialen Marktwirtschaft, hatten künstlerisch dem sozialen Realismus gehört: Gesellschaftspolitisches Engagement war in der Vorkriegszeit unter Künstlern und Intellektuellen eine Selbstverständlichkeit. Die Vorstellung von einer genuin amerikanischen Kunst war damals weit verbreitet und Charles Shannon alles andere als fremd. Seine Begeisterung für Bill Traylor ist nicht zuletzt in diesem Zusammenhang zu sehen. Als er 1946 aus dem Krieg zurückkehrte, fand er nicht nur eine andere Gesellschaft vor, sondern er beobachtete auch, wie sich mit dem Abstrakten Expressionismus in wenigen Jahren eine neue, ihrem Selbstverständnis nach internati40

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onalistische Kunstauffassung durchsetzte. Shannon blieb seiner realistischen Malerei treu, trat in den Schuldienst ein und stellte erst wieder in hohem Alter aus. Jahrzehnte gingen ins Land, die Zeichnungen von Bill Traylor schienen vergessen.40 Eugenia Carter Shannon ist es zu verdanken, dass sich ihr Mann in den 1970er-Jahren seines alten Freundes Bill Traylor erinnerte. Die Zeichnungen wurden gesichtet und katalogisiert. Eine Auswahl präsentierten Charles und Eugenia Shannon 1979 in der neueröffneten Richard H. Oosterrom Gallery in New York. Bill Traylors Aufnahme in die Ausstellung »Black Folk Art in America (1930–1980)« in der Corcoran Gallery of Art, Washington D. C., im Jahr 1982 brachte den Durchbruch.41 Amerik a, Afrik a, Europa Die erste posthume Ausstellung von Bill Traylor blieb nicht unbemerkt.42 In einer Besprechung von Brian Wallis heisst es, die Zeichnungen seien mit prähistorischer Höhlenmalerei verglichen worden, das Schaffen Bill Traylors aber sei viel furchterregender. Traylor benutze die Zeichnung, um lebensweltliche Konflikte zu bestimmen und zu verstehen. Er erzähle nicht, sondern rekonstruiere das Geschehen. Traylor erfasse menschliche und tierische Körper als Struktur, platziere die Figur im Bildfeld bewusst und zeige Kraftlinien, wie das Blatt Fighting Dogs eindrücklich belege. Es war ein Versuch, Traylor als modernen, selbstreflexiven Künstler zu verstehen. Jane Livingstone erklärt zwei Jahre später im Katalog zur Ausstellung »Black Folk Art in America 1930–1980«, schwarze Volkskunst sei eine Kunst von Autodidakten, die in relativer Isolation entstanden sei.43 Viele dieser Künstler seien spät in ihrem Leben und oft erst nach einer religiösen Erfahrung mit Kunst in Berührung gekommen. Schwarze 41

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Künstler dominierten sowohl durch ihre Anzahl als auch durch die Qualität ihrer Werke die amerikanische Volkskunst im 20. Jahrhundert.44 Traylors Schaffen wurde nun als Erinnerungsarbeit verstanden, obschon viele Motive ganz offensichtlich seinem städtischen Umfeld entstammen. Die Kritikerin Roberta Smith schreibt nach dem Besuch dieser Ausstellung, Bill Traylor sei »natürlich der beste Künstler in der Ausstellung«.45 Die New York Times und die Kunstzeitschrift Art Forum gehen sogar soweit, von Traylor als dem »Star der Ausstellung« zu sprechen.46 Im selben Jahr wie diese grosse Übersichtsausstellung fanden in Chicago, Montgomery, Little Rock und New York Einzelausstellungen von Bill Traylor statt.47 Was war inzwischen geschehen, und wie lässt sich diese plötzliche und noch dazu anhaltende Begeisterung für Traylor und dessen Zeichnungen erklären? Versetzen wir uns kurz zurück in das Jahr 1940, als Charles Shannon an der Commerce Street in Montgomery die erste Ausstellung von Bill Traylor ausrichtete. Aus dem bei dieser Gelegenheit vorgelegten Katalog erfahren wir, was Shannon damals an Traylor faszinierte und welche Bedeutung er dessen Arbeiten beimass. Er erwähnt in seinem Vorwort einige Lebensstationen Traylors und betont sodann insbesondere, dass die Zeichnungen als spontane und unbewusste Äusserungen zu betrachten seien. Die Spannweite des Schaffens reiche von ungegenständlichen und abstrakten Arbeiten bis zu ausgesprochen erzählerischen Blättern. Einen Einfluss westlicher Kultur auf Bill Traylor schliesst Shannon aus, bringt aber das kulturelle Erbe Afrikas ins Spiel, ohne allerdings mit Blick auf die Zeichnungen näher zu erläutern, was darunter zu verstehen wäre. Abschliessend nennt er Bill Traylor einen der »vielleicht bedeutendsten grafischen Künstler, die die schwarze Rasse in diesem Land je hervorgebracht hat«.48 40 Jahre später bestand in der amerikanischen Öffentlichkeit ein virulentes Interesse an einer genuin schwarzen 42

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amerikanischen Kunst, das durch ein Werk wie dasjenige von Bill Traylor zusätzlich genährt wurde. Unter Schwarzen in Alabama aufgewachsen, ungeschult und in den Strassen von Montgomery zum Künstler geworden, versprachen seine Zeichnungen unverfälscht zum Ausdruck zu bringen, was einen Afroamerikaner damals bewegte und wie dieser seine Umwelt wahrnahm. Die Stimmen, welche Traylor der Moderne zuordneten, und jene, welche in ihm einen frühen Vertreter afroamerikanischer Kunst sahen, begannen sich auf seltsame Weise gegenseitig zu überlagern und zu durchdringen. Der Kunsthistoriker Robert Douglas hat auf die Ironie hingewiesen, die darin liegt, dass Weisse eine entscheidende Rolle sowohl bei der Zerstörung schwarzer Identität durch die Sklaverei als auch bei der erst vor wenigen Jahrzehnten neu einsetzenden Erforschung und Postulierung afroamerikanischer Kultur spielten.49 Er erwähnt namentlich den Kunsthistoriker Robert Farris Thompson, dessen Studie Flash of the Spirit: African and Afro-American Art and Philosophy von 1983 unter Sammlern afroamerikanischer Kunst grosse Wertschätzung geniesst.50 Schwarze Gelehrte wie W. E. B. DuBois hatten schon zu Beginn des Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass die versklavten Afrikaner mehr aus ihrer Kultur in die neue Heimat mitgebracht, bewahrt und an ihre amerikanischen Kindeskinder weitergegeben hatten, als ihre weissen Kollegen damals anzuerkennen bereit waren. Was genau aber ist gemeint, wenn von afroamerikanischer Kunst gesprochen wird? Eine schwarze Autorschaft? Ein Dokument schwarzamerikanischen Alltags? Ein Weltbild? Eine kulturelle Prägung? Eine bestimmte künstlerische Haltung? Ein Stil? Die Bezeichnung eines Kunstwerks als afroamerikanisch dürfte dann aufschlussreich sein, wenn diese an formalen Eigenschaften der Werke schwarzer Amerikaner festgemacht werden kann. Genau hierin liegt aber eine der 43

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Hauptproblematiken der bisherigen Forschung. In vielen Fällen ist diese biografisch motiviert, argumentiert aber stilistisch, ohne auch tatsächlich Einflüsse beschreiben und belegen zu können. Wie sollte sie auch, lebten und arbeiteten doch in den Sklaven-Quartieren der Plantagen Schwarze zusammen, die mit wenigen Ausnahmen in den Vereinigten Staaten geboren wurden und deren Vorfahren aus verschiedenen, geografisch und kulturell teilweise weit auseinanderliegenden Gebieten Schwarzafrikas stammten. Eine aktive Überlieferung afrikanischer Formensprachen scheint innerhalb jenes Milieus, dem Bill Traylor entstammte, kaum vorstellbar.51 Zwar gab es schon als Bill Traylor zeichnete längst akademisch ausgebildete schwarze Maler, deren Werke in Ausstellungen zu sehen waren, doch für die ersten Generationen afroamerikanischer Künstler war der Rückgriff auf die afrikanische Kunst undenkbar.52 Die Schriften von Alain Locke machen deutlich, dass der Rassismus auch eine ästhetische Dimension hatte. Der in Harvard ausgebildete Philosoph war der erste schwarze Kunstkritiker Amerikas. Seit 1925 lag eine von Locke herausgegebene Anthologie vor, die über die verschiedensten Aspekte schwarzer Kultur in den Vereinigten Staaten orientiert.53 Das Buch galt lange als Standardwerk zu Fragen afroamerikanischer Kultur und Kulturgeschichte. Robert Douglas vermutet, schwarze Kunst sei an der Art des Zugriffs auf künstlerische Konzepte zu erkennen, und zitiert den schwarzen Künstler Nelson Stevens, über den er seit den 1970er-Jahren publiziert, mit den Worten: »Der Europäer fragt: Was an der Kunst kann man weglassen und sie dennoch als Kunst gelten lassen? Unser Ansatz hingegen, der Ansatz schwarzer Künstler, ist ein anderer. Wir fragen: Wie viel kann man in ein Kunstwerk einbringen und es dennoch Kunst nennen?«54 Amerikanische Künstler afrikanischer Abstammung, so Douglas, sind geprägt 44

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durch die Gleichzeitigkeit verschiedener kultureller Einflüsse, und sie artikulieren dies in ihrer Arbeit. Der Reduktionismus der amerikanischen Minimal Art der 1960erJahre bildet dazu den Gegenpol. Von Dan Cameron stammt die Feststellung, Traylor unterscheide sich durch Strenge und Kargheit von den meisten anderen Künstlern, die man aus der amerikanischen Volkskunst kenne.55 Was würde Robert Douglas zur Strenge und Kargheit dieser Blätter sagen, die von einem Mann gezeichnet wurden, der sicher nicht im Verdacht stehen kann, seine afrikanischen Wurzeln verleugnet zu haben? Bill Traylor verbrachte sein gesamtes Leben unter Schwarzen in einer von Weissen bestimmten Gesellschaft. Seine Zeichnungen lassen sich stilistisch innerhalb der amerikanischen Kunst der Vorkriegszeit mit keinem anderen künstlerischen Werk in Beziehung setzen. Seine Kunst ist innerhalb der amerikanischen Kunst ohne Vorbild und scheint auch ohne Nachfolge geblieben zu sein. Im Kongo allerdings schuf ein Künstler in den 1920er- und 1930er-Jahren Zeichnungen, die stilistisch und teilweise sogar motivisch denjenigen von Bill Traylor erstaunlich verwandt sind. Es handelt sich um Zeichnungen von Djilatendo aus Zaire,56 von dessen Leben und Werk nur wenig überliefert ist. Die erhaltenen Zeichnungen stammen aus dem Nachlass des belgischen Kolonialbeamten Gaston Denis Périer. Er sammelte als Direktor des Ministeriums für Kolonien Kunstwerke aus dem Kongo und setzte Schriftsteller als Kolonialbeamte ein. Sie sollten die belgische Öffentlichkeit in ihren Büchern und Aufsätzen über das Leben im Kongo unterrichten. Périer erteilte dem Schriftsteller Georges Thiery den Auftrag, Wandmalereien zu suchen und die Künstler darum zu bitten, ihre Motive auf Papier zu malen. Auf diese Weise legte Gaston Denis Périer eine umfangreiche grafische Sammlung mit Werken aus dem Kongo an, die er in Ausstellungen präsentierte. Der in Eu45

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ropa bekannteste dieser Künstler war Albert Lubaki. Périer selbst hat die Künstler nie persönlich kennengelernt. Thiery erfüllte seinen Auftrag zu Périers Zufriedenheit, schreibt der Afrikanist Ulli Beier: »Er machte zunächst die Bekanntschaft des Elfenbeinschnitzers Albert Lubaki, der seine Hütte in Elisabethville mit einem grossen Krokodil bemalt hatte. Im Auftrag von Thiery übertrug Lubaki nun die Motive seiner Elfenbeinschnitzereien auf Papier. Später fiel Thiery in Ibanshe ein lebhaftes Wandgemälde auf, das Trompete spielende Soldaten darstellte. Die Hütte gehörte dem Schneider Djilatendo, der aus Stoffresten kleine Flickwerk-Schürzen anfertigte. Djilatendo, obwohl ebenfalls kein Maler von Beruf, begann regelmässig für Thiery zu malen, und von Zeit zu Zeit wanderte er mit seinem Speer in der Hand nach Mweka, wo Thiery inzwischen ›Chef de Poste‹ geworden war, um seine Bilder abzuliefern. Thiery bezahlte die Bilder (entweder mit Geld oder mit Fahrrädern, Anzügen, einem Opernglas und anderen europäischen Konsumgütern) und sandte sie seinerseits an Gaston Denis Périer nach Brüssel. Périer arrangierte Ausstellungen, schrieb Artikel über die Künstler und setzte sich lebhaft für deren Anerkennung in Europa ein. Er muss einer der allerersten Kunstkritiker gewesen sein, für die die afrikanische Kunst nicht bei traditionellen Plastiken aufhörte, der die moderne afrikanische Malerei also nicht als Degenerationserscheinung betrachtete.«57 In Zentralafrika wurde auf Skulpturen, Häuser, Möbel, Gefässe, Stoffe und den Körper selbst gemalt. Man zeichnete in den Sand, aber nicht auf Papier. Die bildende Kunst hatte keinen autonomen Status. Das europäische Interesse bildete die Voraussetzung für die Produktion der Zeichnungen wie für deren Überlieferung ausserhalb Afrikas. Es sind Auftragsarbeiten, ausgeführt von zwei Handwerkern, einem Elfenbeinschnitzer und einem Schneider. Raum stellt Djilatendo mittels Staffelung der Figuren 46

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im Bildfeld dar. Die Figuren sind streng zweidimensional aufgefasst, die Konturen scharf. Er verfügt wie Bill Traylor über ein ausgeprägtes Gespür für die harmonische, rhythmische Verteilung der Figuren im Bildfeld. Auf der Darstellungsebene gibt es Entsprechungen in den Motiven. Djilatendo zeichnet Tiere, deren Stilisierung ähnlich ist. Die menschlichen Figuren haben einen verwandten Habitus. Die Entsprechung geht so weit, dass Djilatendo den menschlichen Rumpf ebenfalls als Rechteck wiedergibt und in der Zeichnung sichtbar beibehält. Man kann von einem gemeinsamen Tonus der Arbeiten von Bill Traylor und Djilatendo und mit aller Vorsicht von einem gemeinsamen Strukturprinzip sprechen. Die frühesten Manifestationen schwarzer Kunst in Amerika entstammen ebenfalls dem angewandten Bereich.58 Der Kunsthistoriker Peter Morrin begreift Traylors Sinn für Mass, Konstruktion und Gleichgewicht als Ergebnis handwerklicher Erfahrungen wie Schreiner- und Zimmermannsarbeiten, die ein bäuerliches Dasein damals zwangsläufig mit sich brachte.59 Man denke auch an die dem Jahreskreislauf folgende Arbeit des Pflügens, das Pflücken der runden Baumwollfrüchte, das Pressen der Baumwolle zu Ballen, das Beladen von Wagen und Maultieren, die Nähe zum Tier, die Abhängigkeit von Wachstumsprozessen. Bill Traylor wurde bestimmt nicht nur geprägt durch Verhaltensformen, Meinungen und Ansichten des schwarzen Milieus, dem er entstammte, sondern auch durch das einfache Leben auf dem Lande und die landwirtschaftliche Arbeit selbst, die beinahe sein ganzes Leben bestimmte.60 Die Seele des Bauern, schreibt der englische Autor John Berger, sei den meisten Städtern ebenso unvertraut oder unbekannt wie seine körperliche Ausdauer und die materiellen Bedingungen seiner Arbeit. Er erwähnt »die Flanke eines Körpers, die sich beim Atmen hebt und senkt« als Beispiel für die Verbindung von Körperlichkeit und Inner47

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lichkeit, die er als eine der zentralen Erfahrungen bäuerlichen Lebens betrachtet.61 Die Animation der Figur mit minimalen zeichnerischen Mitteln ist als Qualität des Schaffens von Bill Traylor besonders hervorzuheben. Die Figur ist Zeichnung, Plan und Muster wie bei Djilatendo, und doch ist am Konturverlauf zu erkennen, dass die Fläche bei Traylor eine belebte Oberfläche meint, einen atmenden Körper. Er war aufmerksam, seine Menschenkenntnis fein ausgebildet. In dieser Annahme bestärken uns seine Darstellungen von Körperhaltungen, von Bewegung und tänzerischer Aktivität im Zusammenspiel verschiedener Körper. Die vielen erhobenen Finger, die auf den Zeichnungen zu entdecken sind, mögen in einigen Fällen mit den dargestellten Auseinandersetzungen zu erklären sein, sind aber auch als innerbildliche Richtungs- und Raumangaben sowie als Aufforderung an den Betrachter zu verstehen, dem Verlauf des Geschehens auf den Zeichnungen selbst aufmerksam zu folgen. Was die Zeichnungen zeigen, ereignet sich, während wir es sehen. Distanz zum eigenen Schicksal Die Faszination, die Bill Traylors Werk auf Europäer ausübt, mag auch daher rühren, dass es am Rande der damals dominanten kulturellen Kunst entstanden ist.62 Versuchen wir allerdings zu verstehen, was uns an den Zeichnungen selbst interessiert und weshalb sie uns emotional berühren, so wird deutlich, dass das theoretische Instrumentarium der Art Brut ins Leere greift. Visuelle Eigenschaften lassen sich mit kunstsoziologischen Kriterien nicht beschreiben und verstehen; weder die pulsierende Strenge und Kargheit dieser Zeichnungen noch die in diesem Werk so überaus zahlreichen Formfindungen. Dies in Rechnung gestellt, ist die späte Berufung von Bill Traylor dennoch ein Faszinosum besonderer Art. 48

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Bill Traylor verfolgte weder eine künstlerische Laufbahn noch formulierte er mit seiner Tätigkeit einen gesellschaftlichen Anspruch. Es ist nicht überliefert, weshalb er zu zeichnen begann, und ungewiss bleibt, ob er sich als Künstler verstand. Die Schilderung des Milieus, dem Traylor entstammte, machte vor allem eines deutlich, nämlich wie unerwartbar die Zeichnungen waren und wie unabhängig von seiner sozialen Herkunft. Den Familienverband, dem Traylor bis ins hohe Alter angehörte, hatte er verlassen, als er in Montgomery zu zeichnen begann. Ein Rollenmodell stand ihm für seine neue Tätigkeit nicht zur Verfügung. Obschon unterprivilegiert, arm, alt und gebrechlich, sucht man in diesem Leben und in diesem Werk erstaunlicherweise vergeblich nach Spuren heimlichen Grolls. Bill Traylor hatte die Fähigkeit zu leben und die Gabe, diese Fähigkeit zum Thema seiner Zeichnungen zu machen. Bedingung für die ihm eigene Freiheit des Ausdrucks, seinen zeichnerischen Witz, aber auch den abgründigen Humor manch eines seiner Blätter war Distanz zum eigenen Schicksal. Der Weg, den Bill Traylor zurückgelegt hatte, als er aus Benton in Montgomery eintraf und auf Kartonabfällen mit einem Bleistift zu zeichnen begann, ist nicht zu erfassen.

Heinrich Anton Müller (1869–1930) — Erfinder, Landarbeiter, Künstler

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ls der junge Heinrich Anton Müller zu Beginn des letzten Jahrhunderts seiner Arbeit als Rebknecht nachging, deutete nichts auf seine spätere Bedeutung als Künstler hin. Zwar arbeitete er in seiner Freizeit an verschiedenen Erfindungen und unterhielt dazu unterhalb seines Wohnhauses in Corsier (Schweiz) eine kleine Werkstatt, doch sein Augenmerk galt nicht der Lö49

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sung künstlerischer Probleme. Ihn interessierten technische Fragen und die Rebkultivierung. Er soll einen Kreisel und eine mechanische Feile entwickelt haben. Patente, die dies belegen würden, fehlen. Für seine Erfindung einer Maschine zur Rebveredlung wurde ihm am 6. Februar 1903 ein Patent ausgestellt. Ob die Maschine in der patentierten Ausführung je gebaut und angewendet wurde, ist nicht bekannt. Im Weinbau wird die reblausanfällige europäische Rebe durch resistente amerikanische Reben veredelt. Eine erfolgreiche Transplantation hat zur Bedingung, dass die Unterlage und das Edelreis so geschnitten werden, dass sie miteinander verbunden werden können. Die von Müller entwickelte Maschine folgt dem Prinzip der Lamellenveredlung, bei der geschnittene Unterlage und Edelreis ineinandergeschoben werden. Von der Mechanisierung der Veredlung versprach sich Heinrich Anton Müller eine Erleichterung der ihm vertrauten täglichen Arbeit des Rebknechts und eine Erhöhung der Produktivität. Am 20. April 1906 wurde Heinrich Anton Müller hospitalisiert. Er war 37 Jahre alt, seit 1894 verheiratet und Vater von sechs Kindern, von denen 1906 noch vier – zwei Knaben und zwei Mädchen – am Leben waren. Die näheren Umstände seiner Internierung sind nicht überliefert. Sicher jedoch scheint, dass Heinrich Anton Müller seine Familie in den vorausgegangenen Jahren vernachlässigt hatte und unmittelbar vor der Hospitalisierung planlos in den Reben umherirrte. Ebenfalls gewiss scheint zu sein, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Verhaltensveränderungen und seiner Erfindung, für die laut Krankengeschichte andere die Urheberschaft beanspruchten. Angaben zur Krankheitsform fehlen in der Krankenakte, sodass sich die Vermutung aufdrängt, die Hospitalisierung könnte aufgrund sozialer Verwahrlosung erfolgt sein. In der psychiatrischen Anstalt Münsingen, in die er aus seiner 50

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vom Weinbau lebenden Wohngemeinde überwiesen wurde, begann er zu schreiben, zu zeichnen und kinetische Plastiken zu konstruieren. Die Anstalt hat er bis zu seinem Tod im Jahre 1930 nie mehr verlassen. Heinrich Anton Müller fertigte ab 1914 in Münsingen aus Abfällen (Lumpen, Draht, Ästen) und unter Verwendung seiner Sekrete und Exkrete Räder unterschiedlicher Grösse, die er in mit Rollen versehenen, fahrbaren Gestellen zu Maschinen oder, wie es an einer Stelle in der Krankengeschichte heisst, zu Uhrwerken zusammensetzte. An den Maschinen, die er von Zeit zu Zeit aus Protest gegen sein Leben in der Anstalt zerstörte, arbeitete er regelmässig bis ins Jahr 1923. Seine letzte Maschine konstruierte Müller 1925 im Anstaltsgarten, danach gab er sein technisches Schaffen auf. Zuvor beschäftigte ihn 1912 die Grabung einer Höhle, 1913 der Bau eines Hochsitzes auf einem Baum im Garten seiner Abteilung und im selben Jahr die Formung eines grossen Gefässes zur Aufbewahrung von Speiseresten. Mit dem Zeichnen begann er erst spät. 1917, nachdem er von seiner Familie einen Malkasten geschenkt bekommen hatte, schaffte er die ersten und schon 1925 die letzten Bilder. Während seiner letzten fünf Lebensjahre lag Müller tagsüber im Garten hinter Strauchwerk verborgen oder er sass im Haus am Fenster und schaute durch einen zusammengerollten Karton hinaus. Sein Leben in der Anstalt scheint in äusserster Selbstbezogenheit verlaufen zu sein. Er soll zwar gerne »zotige Witze« erzählt haben, den Arzt begrüsste er indessen mit einem unmissverständlichen »Adieu, Patron«. Fragen, die ihn und seine Kunst betrafen, hat er nie beantwortet. Das heute bekannte Werk ist schmal. Der Werkkatalog umfasst 45 Nummern, von denen 6 Arbeiten durch zeitgenössische Quellen belegt, heute allerdings verschollen sind.01 Die Zuschreibung einer nach Erscheinen des Werkkataloges aufgefundenen Zeichnung ist unstrittig.02 Das 51

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Heinrich Anton Müller und eine seiner kinetischen Skulpturen in der »Irrenanstalt« Münsingen, Schweiz, um 1914/1922, Photo Sa mmlu ng Prinzhor n Heidelberg.

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plastische Werk ist vollständig verloren und durch lediglich fünf zeitgenössische Fotografien sowie einige Beschreibungen in der Krankengeschichte dokumentiert. Der Heidelberger Psychiater Hans Prinzhorn publizierte schon 1922 03 Zeichnungen von Müller und sie waren 1930 in Genf, 1931 in Heidelberg und 1933 in Leipzig im Rahmen von Gruppenausstellungen zu sehen. Eine breitere Wirkung verschaffte dem Werk jedoch erst der französische Maler Jean Dubuffet. Er zeigte 1949 einige Blätter Müllers in Paris und publizierte aus diesem Anlass einen kleinen Katalog.04 Seit ungefähr 1960 zeichnet sich ein stetig wachsendes Interesse an Müllers Werk ab.05 Wie schon 1945, als Jean Dubuffet und der französische Schriftsteller Jean Paulhan auf Veranlassung des Psychiaters Walter Morgenthaler das Museum der Heil- und Pflegeanstalt Waldau bei Bern besuchten und anschliessend mit den Vorbereitungen der ersten Einzelausstellung von Heinrich Anton Müller begannen, waren es später wiederum Künstler, die seine Arbeiten neu sahen. Theodor Spoerri, der in den 1950er-Jahren Assistenzarzt in der Waldau war, machte seinen Cousin, den Tänzer und Künstler Daniel Spoerri, mit der Sammlung bekannt. Im Mittelpunkt des Interesses von Daniel Spoerri sowie in der Folge auch von Jean Tinguely und dem Schweizer Bildhauer Bernhard Luginbühl standen im Falle Müllers jedoch nicht die Zeichnungen, sondern die schon damals nur noch auf kleinen Fotografien dokumentierten Maschinen und die Person Heinrich Anton Müllers selbst. Daraufhin beschäftigten sich auch die beiden Kuratoren Harald Szeemann und Pontus Hultén mit dem Schaffen Müllers. Sie zeigten beide verschiedentlich Werke von Heinrich Anton Müller in grossangelegten thematischen Ausstellungen: Harald Szeemann 1975 in »Junggesellenmaschinen/Les Machines Célibataires«06 und 1991 in »Visionäre Schweiz«07; Pontus Hultén beispielsweise 1981 in »Paris54

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Paris: Créations en France 1937–1957« im Centre Georges Pompidou in Paris. Schon 1963 war Müller in der von Szeemann verantworteten Ausstellung »Bildnerei der Geisteskranken – Art Brut – Insania pingens« in der Kunsthalle Bern vertreten und 1972 auf der documenta 5 in Kassel, bei der, in den Worten ihres Leiters Szeemann, »die Integration, die Gleichstellung der Art brut mit den Stilkünsten« erfolgte.08 Interessant ist nun, dass die Wertschätzung, die Heinrich Anton Müller öffentlich entgegengebracht wurde, sein Ansehen als Künstler kaum verändert hat. Die in den 1970erJahren erhobene Forderung nach der »Gleichstellung der Art brut mit den Stilkünsten« war gegen ein soziologisches Verständnis der Kunst gerichtet, blieb aber Postulat. In Gesamtdarstellungen der kinetischen Kunst ist Müller bis heute nicht verzeichnet, obwohl sein Maschinenwerk genau in jenen Jahren entstand, die als Pionierzeit der Kinetik gelten. In seiner Studie Kinetische Kunst: Konzeptionen von Bewegung und Raum schreibt Hans-Jürgen Buderer: »Die zeitliche Bestimmung eines Ursprungs dieser Gattung wird übereinstimmend zwischen 1913 und 1920 vorgenommen. 1913 entstand Marcel Duchamps ›Bicyclette‹ und 1920 Naum Gabos ›Kinetische Konstruktion‹. Man kann wohl sagen, dass Naum Gabo mit dieser virtuellen Plastik die Pionierzeit der Kinetik beendete und den Grundstein zu einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen Bewegung und ihren bildnerischen Möglichkeiten legte. Sie erreichte einen ersten Höhepunkt im Schaffen Moholy-Nagys und erlebte in den sechziger Jahren eine Renaissance.«09 Die Ausklammerung von Müller lässt sich ästhetisch nicht begründen. Seine Maschinen, die nur um den Preis des sozialen Todes ihres Erfinders entstehen konnten, werden von der Kunstwissenschaft nicht berücksichtigt, weil Heinrich Anton Müller die Arbeiten in Unkenntnis der damaligen ästhetischen Debatten entwickelt hatte. 55

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Jean Dubuffet beschreibt sehr genau, welche Werke zu der von ihm so genannten Art Brut gehören: »Wir verstehen darunter Werke von Personen, die unberührt von der kulturellen Kunst geblieben sind, bei denen also Anpassung und Nachahmung – anders als bei den intellektuellen Künstlern – kaum eine oder gar keine Rolle spielen. Die Autoren dieser Kunst beziehen also alles (Themen, Auswahl der verwendeten Materialien, Mittel der Umsetzung, Rhythmik, zeichnerische Handschrift usw.) aus ihrem eigenen Innern und nicht aus den Klischees der klassischen Kunst oder der gerade aktuellen Kunstströmung. Wir können die künstlerische Arbeit in ganz reiner – sozusagen roher – Form miterleben, wie sie vom Künstler ganz und gar in all ihren Phasen aus eigenem Antrieb neu entdeckt wird.«10 Diese Definition betont unmissverständlich die Besonderheit des einzelnen Künstlers und dessen Arbeit, dennoch wird unter Berufung auf eine »Familienähnlichkeit« bestimmter Künstlerinnen und Künstler oft genau gegenteilig verfahren. Heinrich Anton Müller wird gerne mit seinen Schweizer Zeitgenossen Aloïse und Adolf Wölfli gezeigt, die ebenfalls in Anstalten lebten und arbeiteten. Selbst der Werkkatalog und die aus diesem Anlass 1994 organisierte erste Schau des Gesamtwerks von Müller im Kunstmuseum Bern haben an diesem eingespielten Vermittlungsmodus nichts verändert. Arbeiten von Müller waren seither wieder vor allem zusammen mit Werken der Art Brut ausgestellt, obschon die Retrospektive zu zeigen vermochte, dass die visuelle Spezifität des Werkes mit den an sich sehr wichtigen sozialgeschichtlichen Kategorien alleine weder erfasst noch erklärt werden kann.11 Aufwendige Recherchen im Vorfeld der Retrospektive zielten auf möglichst umfassende Informationen über die Lebens- und Produktionsbedingungen Heinrich Anton Müllers. Der 1945 von dem Psychiater Jakob Wyrsch für Dubuffet verfasste Auszug aus der Krankengeschichte wurde 1949 anlässlich 56

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der Präsentation einiger Zeichnungen in der Compagnie de l’Art Brut in Paris veröffentlicht und seither immer wieder zitiert, wenn Fragen zur Person des Künstlers zu beantworten waren. Da seither über Jahrzehnte niemand die Archive befragt hat, wusste man lange kaum Näheres über die Lebensumstände Müllers vor seiner Internierung, und falsche Angaben aus der Krankengeschichte wurden bis in die 1990er-Jahre tradiert. Die Nachforschungen galten nicht einer spezifischen Beschreibung der Kunst, sondern der genaueren Erfassung des Menschen, der die Arbeiten hinterlassen hat. Ich wollte Heinrich Anton Müller seine Lebensgeschichte und den Kontext zurückgeben, in dem die Zeichnungen und Plastiken entstanden sind. Das Werk erscheint heute eingebettet in einen Lebenszusammenhang, der alle Zeichen des Vergänglichen, des Unnützen, des Stummen, des Sinnlosen, des Scheiterns, des Schmutzigen und des Ekelerregenden trägt. Wie passt Heinrich Anton Müllers Verweigerung des Gesprächs zusammen mit der erzählerischen, märchenhaften Kraft der von ihm geschaffenen Darstellungen? Müller, »dessen Name das Nichtige und das Allgemeine vereint«12, lebte in der Anstalt in fast vollständiger Isolation und sozusagen ohne ärztliche Betreuung oder Pflege. Die Einrichtung in Münsingen war damals eine Pflegeanstalt. Die ärztliche Betreuung der durchschnittlich über 800 Insassen oblag gerade einmal vier bis fünf Ärzten. Zwischen Heinrich Anton Müller und seiner Familie bestand kaum Kontakt. Aus einem kurzen, am 13. April 1923 von Fernande Müller, einer Schwiegertochter Müllers, an den Anstaltsdirektor adressierten Brief geht hervor, dass die Kinder oft an ihren Vater denken und ihn öfter besuchen möchten, sie sich als Arbeiter aber die weite und teure Anreise aus der Westschweiz nicht oft leisten können. Die Krankengeschichte berichtet unter dem Eintrag vom 5. Januar 1907, Heinrich Anton Müller lege sich »mit Vorliebe in die Rinne 57

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des Pissoirs«. Wie lassen sich die sorgfältig gezogenen Umrisslinien auf den Zeichnungen und die soziale Verwahrlosung von Heinrich Anton Müller zusammendenken? Die Unreinlichkeit des Pfleglings wird während der gesamten Internierungszeit Anlass für Klagen vonseiten der Ärzteschaft bleiben. Zugleich hat sich dieses Leben auch in die Werke eingeschrieben. In den Jahren, in denen Heinrich Anton Müller an den Maschinen arbeitete, verwendete er Urin als Befeuchtungsmittel sowie Kot und Sperma als Klebstoff. Für wen und weshalb entschloss sich Heinrich Anton Müller unter den geschilderten Bedingungen der Isolation, seine Konstruktionsarbeiten wieder aufzunehmen? Der Malgrund seiner Zeichnungen besteht häufig aus zusammengenähten oder mit Metallklammern gehefteten Kartonabfällen. In den Kartons wurde eine in der Anstalt zur Reinigung der Holzböden verwendete Stahlwolle geliefert. Müller bedeckte die Pappe oft in mehreren Schichten mit Texten, Skizzen, Berechnungen und technischen Zeichnungen. Der Kunstwissenschaftler Josef Helfenstein entwirft in seinem Beitrag zum Werkkatalog die These, dass Müller sich in seinen grossformatigen Zeichnungen bewusst mit der Materialität des Bildträgers befasste sowie gewisse materialästhetische Merkmale des mehrschichtig zusammengenähten Verpackungskartons wie das Rohe, den Verfall oder den trümmerartigen Charakter suchte. Interessant ist zudem, dass Verfall und Auflösung auch für die Deutung des Spätwerks wichtige Stichworte sind, nur dass sie nun nicht materielle oder formale Kennzeichen der Arbeiten beschreiben, sondern entweder das Motiv der auf gutem Zeichenpapier ausgeführten Blätter betreffen – nämlich Übergangsstadien zwischen Mensch, Tier und Pflanze – oder, im Falle des Fernrohrs aus zusammengerolltem Karton, eine optische Erfahrung, nämlich diejenige der Inkohärenz von Wirklichkeit, beschreiben. Heinrich Anton Müller hat nicht wie andere Patienten 58

Das Gesamtwerk von Heinrich Anton Müller wurde erstmals 1994 im Kunstmuseum Bern und anschliessend in der Goldie Paley Gallery in Philadelphia, im Swiss Institute in New York und in der Collection de l’Art Brut in Lausanne ausgestellt; Installationsansicht Swiss Institute, New York 1995, Photo Ga ry F. Gr av es.

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nach Arbeitsmaterialien verlangt, sondern auf dem Anstaltsgelände gesammelt, was er für seine Arbeit gebrauchen konnte. Er kultivierte das Unreine und Unnütze durch die Wahl der Werkstoffe und durch die Art ihrer Anwendung. Während seine Mitinsassen im Verborgenen Schlüssel, Werkzeuge, Waffen und andere nützliche Gegenstände aus Abfallstoffen herstellten, konzentrierte Müller sich auf die Gestaltung polyvalenter bildnerischer Werke. Unter seiner gestaltenden Hand wechselten Altmetall, Lumpen, Kot und Karton aus der Kategorie des Abfalls in jene des Dauerhaften.13 Gibt er sich selbst so Wert und Ansehen zurück, die er sozial verloren hat? Die sozialgeschichtliche Recherche führt vor Augen, dass sich Heinrich Anton Müller in der Anstalt situationsgerecht verhalten hat. Da er selbst zum zivilisatorischen Abfall zählte, zeugt die Wahl der Produktionsmittel von grosser Luzidität. Erstaunlich ist nicht das Verhalten und Benehmen von Heinrich Anton Müller, sondern die Tatsache, dass und wie er unter den geschilderten Lebensbedingungen weiterhin schöpferisch tätig war. Müller, sozial entrechtet seit 1906, hatte keine Freunde, kaum Kontakte mit seinen Angehörigen, keine Auftraggeber und keine Sammler. Er arbeitete weder für Ausstellungen noch für Museen. Vermutlich folgen seine Arbeiten keiner bewusst künstlerischen Strategie. Von Wirkung zu sprechen, meint im Falle von Heinrich Anton Müller, einen Rezeptionszusammenhang nachzuzeichnen, an dessen Entfaltung der Künstler selbst nicht beteiligt war. Es gibt keine Autorkommentare, die Stimme des Autors blieb stumm. Wenn er seine Werke mit Namen signierte, dann mit »Henri Müller«, seinem tatsächlichen Namen. Müller hatte vor seiner Internierung in der französischsprachigen Schweiz gelebt. Einen Künstler dieses Namens aber gibt es nicht. Die Existenz von Müller als Künstler ist mit seinem Patientennamen verknüpft. Da die Irrenanstalt Münsingen 60

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in der deutschsprachigen Schweiz lag, wurden die Krankengeschichten in Deutsch geführt. All dies muss man sich vor Augen führen, wenn man heute über die Zeichnungen und Plastiken von Heinrich Anton Müller nachdenkt.14 Indessen lassen sich seine bildschöpferischen Arbeiten nicht auf ein sozialgeschichtliches Dokument reduzieren, obschon es viele Hinweise auf eine Thematisierung seiner Lebensbedingungen gibt. Zu original und zu gerichtet ist seine Gestaltungskraft. Heinrich Anton Müller evoziert Leben als ein zyklisches Geschehen und zeigt die Natur im Modus der Veränderung. Metamorphose und Vermischung sind allgemeine Strukturprinzipien seiner Arbeiten. Viele Figuren auf seinen Zeichnungen sind Kreuzungen aus Menschen, Tieren und Pflanzen. Blumen, Zweige, Schösslinge und Wurzeln beanspruchen den Platz von Füssen und Händen. Formen innerer Organe dienen Müller zur äusseren Gestaltgebung des Menschen. Theodor Spoerri spricht von »Keimformen der menschlichen Gestalt« und sieht diese »als das Abzubildende direkt und ohne Kompromiss visualisiert«.15 Überlängen treffen auf extreme Verkürzungen und Zierliches trifft auf Pralles. Augen sind Tränen. Manch eine Darstellung erscheint uns als Versuch, verschiedene Entwicklungsstufen eines Lebewesens wie unter dem Eindruck des Zeitraffers gleichzeitig und auf einem Blatt zu thematisieren. Die Grenze des Biologischen durch Technologie überwinden zu wollen, gehört zu den anthropologischen Anlagen. Heinrich Anton Müller behandelte in seinen kinetischen Werken, die er immer dann in Gang setzte, wenn sich ihm jemand näherte, die Verbindung zwischen Maschine und Organismus in der Form eines geschlossenen Systems; ob zum Zwecke der Abwehr oder der Kontaktaufnahme sei dahingestellt. Die personifizierte Technik trifft in den Zeichnungen auf Bilder personifizierter Natur. Maschinenglauben und Naturverbundenheit kommen in 61

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den künstlerischen Arbeiten des Erfinders und Landarbeiters Heinrich Anton Müller gegenseitig verschränkt zum Ausdruck. Die beschriebenen Abweichungen von allgemeinen Konventionen figürlicher Darstellung sind ebenso wie die Anmut des tierischen und pflanzlichen Lebens, das Heinrich Anton Müller mit sicherer Hand auf die schmutzigen Kartons zeichnete, als Bezugnahme auf seine landwirtschaftlichen Tätigkeiten vor seiner Einweisung lesbar. Wenn es, wie ich glaube, eine der genuinen Aufgaben der Kunst ist, Vergessenes vor Augen zu führen, so ist das Werk von Heinrich Anton Müller dafür beispielhaft. Er hat seine in Corsier aufgenommene Tätigkeit als Erfinder in der Isolation der Anstalt und trotz der tagtäglichen Widerwärtigkeiten des Anstaltslebens in seinem Maschinenwerk fortgeführt, erweitert und in Richtung polyvalenter androider Plastiken radikalisiert. Die temporäre Aufhebung der Differenz zwischen Mensch und Automat erfolgte auf einfachstem technischen Niveau, war aber als Bild sogar für die mit allerhand Merkwürdigem vertrauten Ärzte erschütternd und seltsam genug, um dokumentiert zu werden.16 Was heute als das Werk von Heinrich Anton Müller bezeichnet wird, erzählt von einem Schicksal in der frühen Moderne und erweist sich zugleich als Folge der fortgesetzten Arbeit an einer Idee. Die nach der Internierung in Münsingen entstandenen Plastiken und Zeichnungen beinhalten visuell das gesellschaftliche Scheitern, deuten jedoch gleichzeitig und ebenfalls durch das Visuelle auf eine Kohärenz. Dies ist ihre Stärke. Vergessen wir auch nicht, dass Unterlage und Reis der veredelten Rebe von zwei verschiedenen Pflanzen stammen und nur geschickte Veredler so genau arbeiten, dass die beiden Teile zusammenwachsen. Heinrich Anton Müller interessierte sich als Erfinder und Landarbeiter für den Phänotyp der von ihm kultivierten Pflanzen. Sowohl die Erfindung als auch die künstleri62

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schen Arbeiten verdanken ihre besonderen Eigenschaften der Beobachtung zyklischer Naturerscheinungen sowie der gerichteten kombinatorischen Neugier und Fertigkeit von Heinrich Anton Müller.

Elie Nadelman (1882–1946) — Bildhauer und Sammler

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n der Kunstgeschichtsschreibung gilt der US-amerikanische Bildhauer Elie Nadelman als Erneuerer der klassizistischen Skulptur. Bedeutende Kunstsammler erwarben seine Arbeiten. Nadelman gründete und unterhielt in Riverdale-on-Hudson (New York) ein privates Museum für Volkskunst und gehörte durch seine Frau Viola Flannery der gesellschaftlichen Oberschicht New Yorks an. In Warschau geboren, hielt sich Nadelman 1903 sechs Monate in München auf, wo er mit klassischer griechischer Skulptur in Berührung kam und sich mit den Schriften und dem Werk des Bildhauers Adolf von Hildebrand (1847–1921) beschäftigte. Von München zog er 1904 nach Paris. 1914 fand er seine zweite Heimat in New York.01 An seiner Biografie lässt sich exemplarisch die örtliche Verschiebung des Weltkunstzentrums von München über Paris nach New York verfolgen. Elie Nadelman war ein gesellschaftsbezogener, erfolgreicher Künstler der Moderne. Seine Arbeiten entstanden in Kenntnis der zeitgenössischen Strömungen und Debatten in Kunst und Kultur als ein entschiedener Beitrag zur künstlerischen Avantgarde. Bilder als Sy mptome: Duchamp und Warburg 1913 fertigte der französische Künstler Marcel Duchamp (1887–1968) die ersten Skizzen für die heute als Grosses Glas bekannte Arbeit La mariée mise à nu par ses célibataires, même (1915–1923), und in seinem Atelier in Paris 63

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entstand in jenem Jahr mit Roue de bicyclette (1913) das erste Readymade und die erste bewegliche Skulptur der westlichen Kunst.02 Zu Beginn jenes Jahres, am Abend des 17. Februar 1913, wurde in New York die Armory Show eröffnet, eine Ausstellung internationaler moderner Kunst, organisiert von der »Association of American Painters and Sculptors« (AAPS). Marcel Duchamp war mit vier Arbeiten vertreten: Le roi et la reine entourés des nus vites (1912), Portrait de joueurs d’échecs (1911), Nu descendant un escalier (1912) und Nu (1912).03 Die Ausstellung ermöglichte einem breiteren amerikanischen Publikum die Begegnung mit der amerikanischen und europäischen Avantgarde, insbesondere mit dem in den Vereinigten Staaten noch unbekannten Kubismus. Von Elie Nadelman, der damals noch in Paris lebte und sich erst im folgenden Jahr in New York niederlassen sollte, waren zwölf Zeichnungen und zwei Skulpturen zu sehen.04 Die europäischen Künstler wurden auf dem Ausstellungsplakat als Gäste angekündigt, einige namentlich erwähnt. Duchamps Name fehlt auf der Ankündigung. Der französische Künstler, dessen Gemälde Nu descendant un escalier nicht nur wegen der Malerei, sondern vor allem aufgrund des Titels viel Aufmerksamkeit auf sich zog und öffentliche, teilweise spöttische Debatten auslöste, zählte zu den unbekannteren unter den jungen europäischen Teilnehmern. Selbst seine beiden auf der Armory Show ebenfalls vertretenen Brüder Raymond Duchamp-Villon und Jacques Villon waren damals bekannter und erfolgreicher als er. Während Matisse auf Ablehnung stiess, weil das amerikanische Publikum seine Malerei als aggressiv und hässlich empfand, drängten sich die Besucher vor Duchamps rätselhaftem Gemälde mit dem verführerischen Titel. Am 2. März 1913, wenige Tage nach der Eröffnung, erschien im Hamburger Fremdenblatt ein kurzer Artikel des deutschen Kunsthistorikers Aby Warburg (1866–1929) mit 64

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dem Titel »Luftschiff und Tauchboot in der mittelalterlichen Vorstellungswelt«.05 Der Autor schreibt über zwei grosse flandrische Bildteppiche aus dem 15. Jahrhundert, die er 1912 im Palazzo Doria in Rom gesehen hatte, und die, wie er vermutet, kurz nach ihrer Entstehung aus dem Norden Europas nach Italien gelangt waren. Die beiden Teppiche schildern Szenen aus dem Leben Alexanders des Grossen. Aby Warburg interessiert vor allem, auf welche Weise sie dies tun. Er nennt mögliche Quellen und zitiert insbesondere aus der Handschrift von Jean Wauquelin, in der er den Ursprung der Bilderzählungen vermutet. Der französische Schriftsteller erzählte um 1450 am burgundischen Hofe die Geschichte des Helden der griechischen Antike Alexander. In seiner Untersuchung eines der Teppiche wirft Warburg die Frage auf, weshalb sich in ein und derselben Darstellung die damals modernsten Belagerungsmethoden und zeitgenössische Kleidung im Zusammenhang mit der alten Fabel von der Himmelfahrt Alexanders in einem von vier Greifen gezogenen Metallgehäuse und seinem Tauchversuch in einem gläsernen Fass finden. Seine Interpretation basiert sowohl auf literarischen Quellen als auch auf ausgezeichneten Kenntnissen der Kunst-, Sozialund Wirtschaftsgeschichte der Renaissance.06 Warburg beurteilt den von ihm diskutierten Teppich als »inhaltreiches Dokument zur Entwicklungsgeschichte der historischen Weltanschauung im Zeitalter der Wiedererweckung des klassischen Altertums in Westeuropa«. Er erkennt hier den Willen, sich im Norden der antiken Grösse zu erinnern und folgert, dass die sogenannte burgundische Antike – eben die Epoche Wauquelins  –  einen »wesentlichen und eigenartigen Anteil an der Erzeugung des modernen, auf die Beherrschung der Welt gerichteten Menschen« hatte. Die Texte von Aby Warburg bestechen durch ihre historische Schärfe und zeigen die Fähigkeit des Autors, Bilder als Symptome zu verstehen.07 Duchamps Arbeiten sind 65

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aufgrund ihrer Verweisdichte von Interesse. Beide aktivieren neben der Form- und Stilgeschichte, den traditionellen Domänen der Kunstgeschichte, eine Vielzahl weiterer Bezugssysteme. Warburg arbeitete an einem Geschichtsverständnis, das ich mit dem französischen Kunstwissenschaftler Georges Didi-Huberman als »Geschichte der symptomatischen Intensitäten« bezeichnen möchte.08 Er untersuchte die Widersprüche im Visuellen und wies damit auf die Grenzen der Repräsentation hin. Aby Warburg und Marcel Duchamp haben aus zwei entgegengesetzten Richtungen – der eine als Kunstwissenschaftler, der andere als Künstler – die ästhetische Autonomie des Kunstwerks infrage gestellt. Mit dem Namen Marcel Duchamp verbinden wir heute eine künstlerische Strategie, die Gegenstände, Ideen und Handlungen unter den Bedingungen des Museums dekontextualisiert. Warburg hingegen löst das Kunstwerk aus dem musealen Umfeld und stellt es unter Rückgriff auf das gesamte ihm zugängliche Wissen in einen neuen Kontext. Er war überzeugt, dass jedes bedeutende Kunstwerk nicht nur Ausdruck der vom Künstler beabsichtigten Form und Erzählung ist, sondern auch Träger individueller und gesamtkultureller, anthropologischer Muster. Es war diese Ambivalenz, die ihn an Kunstwerken faszinierte. So wollte er in einer seiner bekanntesten Analogien in der Fotografie einer Golfspielerin das Nachleben einer Kopfjägerin erkennen. Für eine Kultur, die einem linearen Zeit- und Geschichtsverständnis verpflichtet ist, stellt diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ein Problem dar. Dies ist die kulturelle Disposition, aus der seit der Moderne historische Kunstwerke in Europa befragt und neue Werke geschaffen werden. Das Kennzeichen der historischen Avantgarden ist der Traditionsbruch. Aus diesem Grund haben diese sich für aussereuropäische Kunst, für die Kinderzeichnung, für die »Kunst von Geisteskranken«, die Volkskunst und das 66

Elie Nadelman, um 1915.

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Kunsthandwerk begeistert und ihre ästhetischen Konzepte entsprechend erweitert. Paul Klee schrieb über Kinderzeichnungen und benutzte sie als Vorlagen für seine eigenen Zeichnungen und Gemälde.09 André Breton war Kunde auf den Pariser Flohmärkten, sein Studio war eine Kunst- und Wunderkammer des 20. Jahrhunderts. Als Nadelman mit dem Aufbau seiner Sammlung europäischer und amerikanischer Volkskunst begann, die er schon 1926 ausserhalb New Yorks in einem eigenen Museum öffentlich zugänglich machte, verschickte Hans Prinzhorn aus der Psychiatrischen Klinik Heidelberg ein Rundschreiben an verschiedene Anstalten in Europa mit der Bitte, ihm für seine klinische Sammlung Patientenarbeiten zu überlassen.10 Auf diese Weise legte er in wenig mehr als einem Jahr eine Sammlung von etwa 5000 Arbeiten an und wertete sie wissenschaftlich aus. Sein besonderes Interesse galt dabei, wie es im erwähnten Rundschreiben heisst, solchen Arbeiten, »die nicht lediglich kopiert sind, oder Erinnerungen aus gesunden Tagen wiedergeben, sondern Ausdruck eigenen Erlebens in der Krankheit sind«.11 1922 veröffentlichte Prinzhorn den reich illustrierten Band Bildnerei der Geisteskranken: Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung.12 Die Modernen interessierten sich für die Rückseite der Norm, da sie ihrem Selbstverständnis nach den Anfang einer neuen Epoche bildeten. Im Almanach Der Blaue Reiter, den Kandinsky und Franz Marc 1912 in München veröffentlichten, ist dies exemplarisch u. a. mit zeitgenössischen Arbeiten aus dem Künstlerkreis der beiden Herausgeber, mit Kinderzeichnungen, Kleinmeistern, aussereuropäischer Kunst sowie mit Gegenständen und Bildern der Volkskunst dokumentiert. Elie Nadelm an: Das Spät werk Elie Nadelman hat angeblich, wie Duchamp auch, im mittleren Alter die künstlerische Arbeit aufgegeben und seine 68

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Ateliers geräumt, im Verborgenen aber weiter Plastiken hergestellt. Duchamp, so heisst es, habe der Kunst den Rücken gekehrt und sich dem Schachspiel gewidmet, tatsächlich jedoch arbeitete er insgeheim 20 Jahre lang an seiner Assemblage Etant donnés: 1. La chute d’eau, 2. Le gaz d’éclairage ... (1946–1966), die erst nach seinem Tod bekannt wurde.13 Nadelman konnte man spät nachts nach einem gesellschaftlichen Anlass in formeller Kleidung bei der Arbeit überraschen. In der eigenen Bibliothek, einem dunklen Zimmer im ersten Stock seiner Villa, modellierte er, unbemerkt von der Kunstwelt, in der er sich lange erfolgreich bewegt hatte, seine späten Figuren nach Bildvorlagen aus seinem Bestand an Bildbänden zur Kunst des Altertums. Wie Duchamp vollzog Nadelman in den Arbeiten, die er 1935–1946 in aller Zurückgezogenheit schuf, einen Bruch mit der Ästhetik seines früheren Werkes. Die Figurinen, die in dieser Zeit entstanden, sind so klein, dass sie gut in der Hand liegen. Die Gipse sind unbemalt, Gesichtszüge oder Kleidung manchmal mit Bleistift angedeutet, durch Schaben und Ritzen sind die gegossenen Oberflächen vieler Arbeiten aufgeraut und manch ein Volumen verändert. Es handelt sich um Frauenkörper, dennoch wirken viele Figuren wegen ihres Gesichtsausdrucks mädchenhaft. Sie sind in gezierten Körperhaltungen gezeigt und erotisieren durch aufreizende Frisuren oder kecke Kopfbedeckungen. Die Bearbeitung fragmentierte den Guss. Die Umarbeitung machte aus identischen Figuren einer Serie Originale, die der Künstler wiederum als Vorlage für die Erarbeitung neuer Gussformen benutzte. Die klassische Kunstwissenschaft betont in der monographischen Werkdarstellung Kontinuität und inneren Zusammenhang. Nadelman selbst hat stets die Bedeutung der abstrakten Form für sein Schaffen hervorgehoben und damit für die Stilgeschichte wichtige Hinweise gegeben. Als prägend und produktiv erlebte der junge Künstler in München, 69

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Elie Nadelmans Atelier in Riverdale-on-Hudson, New York, nach seinem Tod, Photo Konr a d Cr a mer.

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seiner ersten Station auf dem Weg von Warschau nach New York, sowohl die Begegnung mit dem Jugendstil als auch jene mit dem Werk Adolf von Hildebrands.14 Am Jugendstil dürften ihn das Primat der Linie und die dekorative Wirkung fasziniert haben, an Hildebrand, einem Freund des Kunsthistorikers Konrad Fiedler und des Malers Hans von Marées, interessierte ihn die ruhige, klar überschaubare skulpturale Form. In Nadelmans Nachlass findet sich ein Exemplar von Hildebrands 1893 erschienener Programmschrift Das Problem der Form in der Bildenden Kunst. In Paris vermittelte Leo Stein, Kunstsammler und Bruder der Schriftstellerin Gertrude Stein, Nadelman 1908 die Bekanntschaft mit Pablo Picasso, der ihn in seinem Atelier besuchte. 1925 brachte Nadelman in einem Brief an Henry Goddard Leach, der ein Symposium zur Frage »Is Cubism Pure Art?« vorbereitete, zum Ausdruck, dass er sich, entgegen jeder historischen Evidenz, als Pionier der kubistischen Bewegung betrachte.15 Im Unterschied zu Picasso, der die Einheit von Zeit und Raum aufgab und die Perspektive auf das Motiv multiplizierte, dynamisierte Nadelman lediglich die Form unter ausschliesslicher Verwendung der Linie. Die aus den Jahren 1908–1910 erhaltenen Zeichnungen und Bronzen belegen eine manieristische Auffassung des menschlichen Körpers. Man denkt unwillkürlich an Pontormos überlange, gedehnte Figuren. Nadelman erreichte eine vergleichbare Ausdruckskraft, indem er die Proportionen und Volumina der Figuren willkürlich veränderte und die Muskulatur besonders betonte. Obschon es in seinem späteren Schaffen zu grossen stilistischen Veränderungen kommen sollte, hielt Nadelman lange an diesem Formverständnis fest. Parallel zu diesen stilisierten Figuren entstanden klassizistische Köpfe in weissem Marmor, die sich auf die hellenistische Kunst beziehen lassen. Von den Antiken unterscheiden sich diese Arbeiten durch ihre polierten Oberflächen und die Herausar72

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beitung zeittypischer Frisuren oder Kopfbedeckungen und deren ornamentale Auffassung. Die wichtigste Sammlerin dieser Werke war Helena Rubinstein. Sie ermöglichte Nadelman nach Kriegsbeginn 1914 die Überfahrt von Paris nach New York. Am 31. Oktober 1914 traf der Bildhauer in New York ein, wo er schnell eine zweite erfolgreiche Karriere aufbaute. Eine Gruppe neuer Arbeiten, die er 1917 in einer Wohltätigkeitsausstellung im Hotel Ritz-Carlton zeigte, verursachte einen kleinen Skandal, der immerhin die Aufmerksamkeit der New Yorker Kunstliebhaber auf sein Schaffen lenkte. Auslöser waren bemalte Gipsmodelle für Holzfiguren aus der Welt des Theaters, des Kabaretts und des Zirkus. Diese zierlichen, später in Holz ausgeführten und farbig bemalten Figuren wurden von der Kritik als dekadent und trivial abgelehnt. 1927 zeigte Nadelman bei Knoedler fünf fast lebensgrosse weibliche Figuren und verschiedene Büsten, die er in einem industriellen Verfahren herstellen liess.16 Anstatt die Gipse lediglich als Kernform für den Bronzeguss zu verwenden, liess er sie durch Elektrolyse mit Metall überziehen. Im Unterschied zu seinen früheren Plastiken, die sich durch klare Konturen und pralle Volumina auszeichnen, wirken die Galvanoplastiken weich und instabil. Während Nadelman zeitlebens für seine klassizistischen Marmorskulpturen hohe Preise erzielen konnte, fand er weder für diese Galvanoplastiken noch für seine heute begehrten Holzfiguren Sammler. 1930 eröffnete die Galerie Bernheim-Jeune in Paris die letzte Einzelausstellung zu Lebzeiten des Künstlers. In der Folge experimentierte Nadelman im Hinblick auf eine allfällige Produktion grosser Serien seiner Arbeiten viele Jahre lang intensiv mit Keramik, Pappmaché und Gips. Die Leih­ anfragen des Museum of Modern Art und des Whitney Museum of American Art, die Nadelman mit frühen Werken in Gruppenausstellungen zeigen wollten, beantwortete er abschlägig. An das Whitney Museum schrieb er 1944: »If I 73

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break my silence, which I am planning to do in the near future, I must show my latest work, and I therefore prefer not to come out at this time with work done long ago, and already shown.«17 Es sollte jedoch bei der Absicht bleiben, zwei Jahre später starb der Künstler, ohne der Öffentlichkeit seine jüngsten Arbeiten präsentiert zu haben. Elie Nadelmans letzter Werkabschnitt hat bis in die Gegenwart wenig Beachtung gefunden, obschon Lincoln Kirstein bereits 1973 in seiner Monografie und John I. H. Baur 1975 im Katalog zur Einzelausstellung im Whitney Museum of American Art in New York18 diese Arbeiten diskutierten. Auch heute noch werden sie durch den Kunstmarkt geringer bewertet als das vorausgegangene Œuvre, denn ein an Stil und Form geschultes Auge konnte im Spätwerk nur den Verlust an formaler Stringenz feststellen. Künstler und Künstlerinnen wie Peter Hujar und Kiki Smith haben als Erste auf die späten Plastiken angesprochen.19 Ausserhalb der Vereinigten Staaten waren die Figurinen aus den letzten Lebensjahren erstmals im Kunstmuseum Luzern zu sehen.20 Dieses sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts abzeichnende Interesse am späten Nadelman hängt mit einer grundsätzlichen Neuorientierung der Kunstwissenschaften zusammen. Seit einigen Jahren werden innerhalb unserer Kultur die Schnittstellen zwischen Stilkunst, Volkskunst und Art Brut, zwischen Kunst, Bildnerei und Gestaltung zusehends als Nahtstellen begriffen. Die »Bildnerei von Geisteskranken« etwa lehrte die Sinnhaftigkeit von Krisen und Brüchen. Aus der langen, intensiven und in vielerlei Hinsicht auch unrühmlichen Auseinandersetzung der Kunstwelt mit der Kunst von Aussenseitern, Internierten und Autodidakten, den Irregulären der Kunstwelt, resultierte eine wachsende Wertschätzung für die innere Komplexität und Widersprüchlichkeit des individuellen künstlerischen Schaffens. Eine derart sensibilisierte Kunstwissenschaft erschliesst nicht nur neue Werke, 74

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sondern entwickelt auch Fragestellungen, die eine veränderte Wahrnehmung der Stilkunst nach sich ziehen. Seit den wegweisenden theoretischen Arbeiten von Michel Foucault sind nicht nur zahlreiche Fallstudien zur Geschichte der Anstaltspsychiatrie erschienen, sondern auch eine Reihe von Monografien zu Künstlerinnen und Künstlern, die unter den spezifischen Bedingungen der Psychiatrie des frühen 20. Jahrhunderts ihre Werke geschaffen haben. Diese aus der Perspektive der Geschichtswissenschaften verfassten Studien führten zu einem differenzierten Bild der »Psychopathologie des bildnerischen Ausdrucks« und zu entsprechenden Relativierungen früherer Analysen und Standpunkte. Ohne meine Arbeiten über die beiden in der Schweiz in Psychiatrischen Kliniken tätigen Künstler Adolf Wölfli (1864–1930) 21 und Heinrich Anton Müller (1869–1930) 22 sowie den afroamerikanischen Autodidakten Bill Traylor (1854–1949),23 der in den Strassen von Montgomery (Alabama) zeichnete, hätte ich vermutlich für die späten Arbeiten von Elie Nadelman keine Aufmerksamkeit entwickelt. Es gab in Nadelmans Leben unzählige Einschnitte, die nicht nur von biografischem Interesse sind, sondern sich auch in das Werk eingeschrieben haben. Ich erinnere nur an die verschiedenen Wohnortwechsel des Künstlers von Polen über Deutschland und Frankreich in die Vereinigten Staaten. Für einen Künstler, der sich ausdrücklich für Stil interessierte, konnten diese Kontextwechsel nicht folgenlos bleiben. Eine geradezu traumatische Erfahrung aber war der Verlust der in den 1920er-Jahren mit seiner Frau Viola Flannery aufgebauten Sammlung europäischer und amerikanischer Volkskunst. Diese umfasste Möbel, Textilien, Teppiche, Haushaltgegenstände, Keramiken, Puppen und Spielzeug, Schilder, Gemälde und Skulpturen, Bücher, Pfeifen, Fahrzeuge, Galionsfiguren, Schmiedehandwerk, Werkzeuge u. a. m. – insgesamt ungefähr 15’000 Gegen75

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stände aus west- und osteuropäischen Ländern, Russland und den Vereinigten Staaten. Es handelte sich hierbei um die in jener Zeit grösste und umfassendste Sammlung von Volkskunst in den Vereinigten Staaten. Einzigartig war die Kollektion, weil Nadelman sich für die »ästhetische Bedeutung« der Gebrauchsgegenstände interessierte und er deshalb in der Ausstellung nicht zwischen Kunstwerken und Gebrauchsgegenständen unterschied.24 1926 machten Viola und Elie Nadelman sie auf ihrem Landsitz Alderbrook in Riverdale-on-Hudson (New York) in einem neuerbauten, dreistöckigen Gebäude als »The Museum of Folk and Peasant Art« öffentlich zugänglich.25 Es war ein schlechter Zeitpunkt. 1929 begann die Weltwirtschaftskrise, und Viola Nadelman verlor innerhalb weniger Jahre ihr grosses Vermögen. Elie Nadelman gab zunächst Wohnhaus und Atelier in Manhattan und 1935 auch das Atelier in Alderbrook auf. Er versuchte, das Museum zu halten, war aber 1937 gezwungen, sowohl das Museumsgebäude als auch die Sammlung zu veräussern. Am 27. Mai 1937 schrieb er an Nelson A. Rockefeller und bat ihn, die Sammlung im Rockefeller Center unterzubringen, doch dieser lehnte ab.26 Obschon die Sammlung von der Fachwelt als ausserordentlich bedeutend eingeschätzt wurde und in Nadelmans Museumsbeirat einflussreiche Persönlichkeiten wie Alfred H. Barr, Jr., Gründungsdirektor des Museums of Modern Art in New York, und René d’Harnoncourt sassen, fand Nadelman keine Institution, die seine Sammlung vollständig übernehmen und wieder für das allgemeine Publikum öffnen wollte. Im Herbst 1937 kaufte »The New-York Historical Society« die Bestände zu einem niedrigen Preis und verpflichtete Nadelman, sie zu inventarisieren. Er wurde jedoch 1939 entlassen, weil er sich nicht an die Arbeitszeiten des Museums hielt. In der Zwischenzeit hatte sich nicht nur die finanzielle Lage des Künstlers stabilisiert, sondern er hatte auch wieder begonnen zu sammeln. 76

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Elie Nadelman war auch in den 1920er-Jahren in seinen Ateliers anzutreffen. Er experimentierte mit Keramik, Pappmaché, Elektrolyse und Gips. Obschon es eine Nachfrage nach Bronzen und Steinarbeiten von Museen und Sammlern gab und der Künstler auch über die finanziellen Mittel verfügte, diese Plastiken herstellen zu lassen, arbeitete er ab den späten 1920er-Jahren vorzugsweise mit billigen Materialien und entwickelte verschiedene Verfahren, um seine Plastiken seriell herzustellen. Seine Experimente zielten auf eine Werkform, mit der ein Massenpublikum angesprochen werden konnte. Fragen der kunstgewerblichen Gestaltung interessierten den Künstler, die Unterscheidung in Original und Kopie hingegen kümmerte ihn wenig, er führte grosse und kleine Versionen derselben Arbeit in unterschiedlichen Materialien aus. Nadelman suchte nicht nur den Rat von Handwerkern, sondern liess schon in dieser Zeit seine Holzskulpturen in Werkstätten produzieren. Welcher Art der Zusammenhang zwischen der Veränderung seines Stils, seiner künstlerischen Haltung und seiner Faszination durch die Volkskunst war, bleibt bis heute im Einzelnen ungeklärt, dennoch spricht einiges für die Annahme, dass Nadelman zu den in den 1930er-Jahren entstandenen Kleinfiguren aus Keramik oder Pappmaché durch entsprechende Arbeiten aus seiner Sammlung angeregt wurde. Der Brückenbauer Komplexer stellt sich der Sachverhalt bei den im Verborgenen geschaffenen Arbeiten dar: Aus stilgeschichtlicher Perspektive kann man diese rohen, gebrochenen Werke nur als Regression, als Ergebnis des Scheiterns wahrnehmen. Diese späten Arbeiten reflektieren stilistisch nicht ausschliesslich Volkskunst, sondern beziehen sich auch auf kleine Antiken, meistens Terrakotten, deren Abbildun77

Gipsfigurinen (um 1935/46) aus dem Spätwerk von Elie Nadelman in der Ausstellung »Atlas Anatomie Angst: Max von Moos (1903–1979)« im Kunstmuseum Luzern, 2001, Photo Mich a el Fon ta na Ba sel.

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gen Nadelman in Sammlungskatalogen aus Frankreich, Deutschland, Italien und England gesehen hatte. Als ich den Sohn des Künstlers, Jan Nadelman (1922–2007), im April 2001 besuchte, standen die Bücher auf Alderbrook noch immer in den alten Holzregalen und waren anhand der verkrusteten Werkstoffspuren als Arbeitsgrundlage des Künstlers zu identifizieren.27 In einigen Bildbänden liegen Zeitungsausschnitte, beispielsweise bei der Tafel  13 (»Terres Cuites d’Asie Mineure«) in Froehners Terres Cuites d’Asie de la Collection Julien Gréau (1886) das Bild einer lächelnden Frau im Badekleid aus einem Inserat für den Badestrand von Rockaway Point Colony in New York oder das Bild einer jungen Dame in Unterwäsche bei der Abbildung von Aphroditen in de Ridders Collection de Clercq (1905). In einem Album mit eingeklebten Abbildungen von Antiken findet sich die Kombination von zwei männlichen antiken Torsi und einem Zeitungsausschnitt, der ein untersetztes, puttenhaftes Mädchen zeigt, das vom Rand eines Schwimmbassins ins Wasser springt. Der Schriftsteller und Kunstkritiker Klaus Kertess hat 1985 in einem interessanten Artikel für die Kunstzeitschrift Artforum darauf hingewiesen, dass Nadelman zwar nach Antiken arbeitete, diesen Figuren aber den Ausdruck von Starlets gab.28 Fotomodelle und BroadwayTänzerinnen waren für Nadelman Wiederverkörperungen antiker Liebesgöttinnen. Man erinnere sich an Walter Benjamins Worte von 1931: »Nun ist, die Dinge sich, vielmehr den Massen ›näherzubringen‹, eine genau so leidenschaftliche Neigung der Heutigen, wie die Überwindung des Einmaligen in jeder Lage durch deren Reproduzierung. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau es in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einma79

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ligkeit und Dauer sind in diesem so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenem. Die Entschälung des Gegenstands aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn für alles Gleichartige auf der Welt so gewachsen ist, dass sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.«29 Elie Nadelman war in der europäischen Kunstgeschichte verwurzelt und entwickelte in Frankreich seinen klassizistischen Stil, mit dem er bis heute in Verbindung gebracht wird. Seine weitere künstlerische Entwicklung bildete Bruchstellen aus. Der Künstler absorbierte verschiedene Stile und ästhetische Kontexte. Er schloss ein und nicht aus wie viele Moderne. Die Kombination und Durchdringung von Geschichte und Gegenwart wurde mit jeder stilistischen Umorientierung enigmatischer. Nadelman erzeugte durch Deformierung, Umformung und Entstellung ambivalente Figuren, die in ihrer Verweisdichte faszinieren. Die späten Arbeiten Nadelmans verknüpfen Populärund Hochkultur und konnotieren verschiedene historische Epochen. Ich sehe in diesen Arbeiten einen Versuch, den Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart aus beiden Richtungen zu überbrücken. Sie sind sowohl Ausdruck einer Fluchtbewegung in die Vergangenheit, die biografisch zu erklären wäre, als auch einer geglückten Befreiung von der Last der Tradition. Die Betrachtung der späten Arbeiten von Elie Nadelman lehrt, dass sich gleichzeitig mit der Rezeptionsgeschichte der Moderne auch der Blick auf die Kunst eben dieser Moderne verändert. Wenn es zutrifft, dass die Signatur der Moderne, wie die Geschichte belegt und die Wissenschaft dargelegt hat, an der Bearbeitung des unterbrochenen Flusses der kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Überlieferung zu erkennen ist, dann entwirft ein Museum der Moderne, das glaubt, ohne die Werke der Anstaltsinsassen, der Rand80

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ständigen und der Autodidakten auszukommen, ein falsches Bild der Epoche und fördert damit den Selbstbetrug der Gesellschaft. War es beispielsweise richtig, 2001 die Sammlung Prinzhorn in einem eigenen Museum auf dem Gelände der Psychiatrischen Klinik Heidelberg unterzubringen und damit weiterhin zu isolieren? Wäre ihr genuiner Kontext aus heutiger Sicht nicht die moderne Abteilung einer öffentlichen Kunstsammlung? Die Revision der Moderne ist schon lange angelaufen und bislang vor allem in wissenschaftlichen Publikationen erörtert und in Wechselausstellungen visualisiert und zur Diskussion gestellt worden. Es ist davon auszugehen, dass dieses komplexere, historische Bild der Moderne in absehbarer Zukunft auch das Gesicht der permanenten Museumssammlungen verändern wird.

Annemarie von Matt (1905–1967) und Sonja Sekula (1918–1963) — Bilder zur Sprache bringen ls Sonja Sekul a mit ihren Eltern Bertie und Bela 1936 Luzern verliess, um sich mit ihnen in New York niederzulassen, war sie 18 Jahre alt. Annemarie von Matt hatte 1928–1935, vor der Heirat mit dem Bildhauer Hans von Matt, ebenfalls in Luzern gelebt, danach wohnte das Ehepaar in Stans. Der Luzerner Künstlerkreis, zu dem auch der Stanser Hans von Matt zählte, war überschaubar. Das Ehepaar kannte auch Bertie Sekula. 1928 beauftragte diese Hans von Matt mit dem Bildnis ihrer Tochter Sonja. Ob Annemarie von Matt Sonja Sekula später als Künstlerin wahrnahm, ist ungewiss, aber doch eher unwahrscheinlich. Von Matt war eine damals durch ihre Marienbilder regional bekannte Malerin, deren Name aber in

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den 1940er-Jahren, als Sekula im Kreis der im amerikanischen Exil lebenden Surrealisten um André Breton verkehrte und in New York auszustellen begann, selbst vor Ort allmählich an Bedeutung verlor. Sekula konnte ihre Werke in zwei der bedeutendsten Avantgardegalerien New Yorks ausstellen, beide von Frauen gegründet und geleitet: zunächst ab 1943 in Peggy Guggenheims Art of This Century und später in der Galerie von Betty Parsons. Bei Parsons stellte sie neben einigen heute legendären Figuren des amerikanischen Abstrakten Expressionismus wie Barnett Newman oder Mark Rothko und vielen weiteren, heute ausserhalb der Vereinigten Staaten vergessenen Künstlerinnen und Künstlern aus. Unter diesen Vergessenen der Formierungsjahre des Abstrakten Expressionismus sind besonders viele weibliche Künstler, wie Gertrude Barrer, Perle Fine, Elaine de Kooning, Lee Krasner, Jeanne Miles, Anne Ryan, Ethel Schwabacher, Janet Sobel oder Hedda Sterne.01 Mit Annemarie von Matt und Sonja Sekula stehen hier zwei Künstlerinnen zur Diskussion, die aus demselben lokalen Künstlerkreis stammten, aber aus verschiedenen sozialen Milieus, und in völlig unterschiedlichen und unverbundenen künstlerischen Umfeldern arbeiteten. Sekula lebte mit ihren vermögenden Eltern in New York, erlebte in einer Metropole den Anfang einer neuen, weltweit wirkenden künstlerischen Bewegung und gestaltete diese selber mit, indem sie Gemälde schuf, die diese neue künstlerische Haltung überzeugend zum Ausdruck brachten. Indessen erlebte Annemarie von Matt nach den auch in Luzern experimentellen, aufgeschlossenen 1920er-Jahren im ehelichen Haushalt im kleinen Stans ab den 1930erJahren die zunehmende Isolierung und Erstarrung der Schweiz im Zuge der gegen die Bedrohung durch Faschismus und Nationalsozialismus gerichteteten Geistigen Landesverteidigung. Annemarie von Matt und Sonja Sekula werden als Künst82

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lerinnen erinnert, beide waren aber auch – und dies ist eine weitere Gemeinsamkeit, die uns hier besonders interessiert – seit ihrer Jugend schriftstellerisch tätig. Sie sind auch Autorinnen. Und als solche sind sie erst noch zu entdecken: Beide haben literarische Texte verfasst, die aber, mit Ausnahme des surrealistischen Gedichts »Womb« (1943) von Sonja Sekula, nicht publiziert wurden,02 und sie verwendeten überdies Wörter und Texte in ihrer bildnerischen Arbeit. In beider Schaffen gibt es neben den literarischen Manuskripten zusätzlich viele Werke, die sich keiner klassischen Disziplin zuordnen lassen, da sie zwischen Literatur und bildender Kunst stehen. Seit den 1920er-Jahren ist das Terrain für eine Diskussion der BildText-Montagen der beiden Künstlerinnen im Bereich der Kunstgeschichte im Grunde bereitet. Trotzdem steht eine angemessene Rezeption sowohl dieser Montagen als auch des literarischen Schaffens von Sekula und insbesondere von Annemarie von Matt bis heute aus. Was meine ich, wenn ich von einem bereiteten Terrain spreche? Ich denke an die klassischen Avantgarden, also vor allem an Kubismus, Futurismus, Dadaismus und Surrealismus, in denen sich Wort und Bild, Literatur und bildende Kunst, also zwei vormals getrennte Gattungen wechselseitig durchdringen und bereichern. Bereits in den 1910er- und 1920er-Jahren waren die grundsätzlichen, bis heute relevanten Fragen zur Bild-Text-Integration gestellt und in künstlerischen Werken thematisiert und beantwortet.03 Es gab Vorläufer im ausgehenden 19. Jahrhundert, in erster Linie in der Literatur. Stéphane Mallarmé beispielsweise schuf in »Un coup de dés« Bilder aus Worten. Von Guillaume Apollinaire sind die »Poèmes à voir« bekannt. Seine »Poèmes-conversation« sind Gedichte, in die er Sätze aus Gesprächen mit Freunden oder Zitate aus Zeitungen und von Werbeplakaten einfügt. Apollinaire ist einer jener Dichter, die Sekula gelesen und kommentiert 83

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hat.04 Aus dem Futurismus kennen wir die »Parole in libertà« von Filippo Tommaso Marinetti. Im Unterschied zu Apollinaire zerstört Marinetti die syntaktischen Zusammenhänge der verwendeten Texte. Denken wir an den Dadaismus, so ist an die Simultangedichte von Richard Huelsenbeck zu erinnern. Das Gemeinsame dieser neuen, am Visuellen orientierten Literatur ist nach Wolfgang Max Faust die »Ikonisierung der Sprache«.05 Umgekehrt beobachtet er im Bereich der Malerei eine »Lingualisierung«: Sprache kann, beispielsweise im Kubismus, oder Surrealismus zum Medium der bildenden Kunst werden, indem einzelne Buchstaben oder Zeitungsausrisse in ein Bild integriert werden. Sprache kann in der abstrakten Kunst als komplementärer Kommentar auftreten. Man denke beispielsweise an Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst (1912), die der Künstler seiner Malerei als erläuternde Theorie beiordnete. Schliesslich kann die Sprache seit den späten 1960er-Jahren in der Konzeptkunst an die Stelle des Kunstwerks treten. Wegweisende Künstler sind hier Joseph Kosuth, Lawrence Weiner oder die Gruppe Art & Language. Annemarie von Matt und Sonja Sekula sind also mit ihrem Interesse für sprachlichen, und zwar literarischen, genauer: poetischen und nicht theoretischen Ausdruck keine Ausnahmeerscheinungen in der Kunst ihrer Zeit. Die Gründe für die verzögerte oder gänzlich ausbleibende Rezeption der beiden Schweizer Künstlerinnen sind vielfältiger Art. Einige sollen nun zur Diskussion gestellt werden, um ein besseres Verständnis der spezifischen Eigenschaften der von ihnen eingeschlagenen Wege zu entwickeln. Zunächst: Beide Künstlerinnen nehmen gegenüber dem künstlerischen Feld eine ambivalente Haltung ein. Beide verfügen über Doppelbegabungen. Während sich Sekula im Verlauf ihres Lebens immer weniger festlegt auf eine bestimmte Schaffensform, klärt sich die Position 84

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von Matts mit der Zeit. Letztere lebt und arbeitet zuletzt ausserhalb des künstlerischen Feldes. Diese Ambivalenz hängt mit ihrer beider Vorstellung von Kunst als einer autobiografischen, auf Selbsterkenntnis ausgerichteten Aktivität zusammen. Gisela Steinlechner spricht denn auch von »diarischen Produktionsweisen« und meint damit das Selbstgespräch und den Vorrang des künstlerischen Prozesses gegenüber dem vollendeten Werk im Schaffen beider Künstlerinnen. Kunst wird für sie zum »Terrain der (Selbst-)Gestaltung«.06 Aufschlussreich ist diese Beobachtung sowohl im Vergleich von Sonja Sekula mit John Cage, dessen künstlerische Nähe sie in den späten 1940er-Jahren zu suchen beginnt, als auch bezogen auf Annemarie von Matt, die ab ungefähr 1940 keine autonomen Werke, vielleicht sogar überhaupt nach damals gängigem Verständnis keine Kunst mehr herstellte, sondern ihr eigenes Leben fiktionalisierte. Auf beides werde ich noch zu sprechen kommen. Nicht auszuschliessen ist, dass diese strukturelle Unschärfe in der Werkauffassung ein Grund ist sowohl für die Unterbrechung der Rezeption bei Sekula, wie umgekehrt auch für die Neubewertung ihrer beider Werke in neuerer Zeit. Ihn spreche Annemarie von Matts »zeitunabhängige Methode« besonders an, schreibt beispielsweise der Kunstkritiker Theo Kneubühler im Katalog zur Einzelausstellung 1973 in der Galerie Raeber in Luzern, mit der die postume Wirkungsgeschichte der Künstlerin einsetzt. Diese Künstlerin habe nicht Kunst im Sinn gehabt, heisst es weiter, sondern sie habe versucht, »ihre Existenz in ein Ding umzusetzen«.07 Der Kritiker spricht vom Alleinsein als von einem durch die Künstlerin »bewusst gewählten Für-sich-sein«, von einer Methode also. Kneubühler spitzt damit einen Gedanken zu, der sich schon bei Hans von Matt findet: Dieser beschreibt seine Frau in seiner Monografie von 1969 als eine »ungemein eigenrichtige Person« und erwähnt ihren unbedingten Hang zu Freiheit und Selbst85

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ständigkeit, dem sie in ihrer Kunst und in ihrem Schreiben nachgegangen sei.08 Annemarie von M att: Ein Monolog ist ein Dialog für eine Person Das bildnerische und literarische Werk, das Annemarie von Matt hinterliess, wurde in den 1970er-Jahren erstmals als eigenständiger Beitrag zur Schweizer Kunst gewürdigt. Theo Kneubühler bezeichnete ihr Schaffen damals in der schon zitierten Werkdarstellung als Transformation einer »individuellen Spiritualität«.09 Damit war eine Spur gelegt für ein Verständnis dieses Schaffens als Ausdruck einer Kultur der privaten Frömmigkeit. Diese Einschätzung ist durchaus begründet, denn ein zentrales Motiv ihres frühen, stilistisch an religiöser Volkskunst orientierten Schaffens ist die Madonna mit dem Kind. Die Verwurzelung in der katholischen Volkskultur, die das Interesse an Magie, Astrologie und Mythos einschliesst, ist durch das Leben und Werk der Annemarie von Matt bezeugt. Auf eine in der damaligen Zeitkunst beispiellose Art verbindet sie in ihrem Werk Elemente der sakralen, bäuerlichen Volkskultur mit einer handwerklichen, experimentellen, fantasievollen dekorativen Auffassung der Gestaltung. Früh erlebte sie in Luzern eine bescheidene Anerkennung und Förderung: Die Arbeit im kunstgewerblichen Atelier von Martha Haefeli führte sie in ein über die Gegenwartskunst informiertes und zugleich das kulturelle Erbe bewahrendes Umfeld. Vergegenwärtigt man sich ihre Arbeiten vor diesem Hintergrund, so wird deutlich, dass die isolierte Stellung ihres späteren Schaffens, das uns hier besonders interessiert, mit einem anderen Verständnis von der Funktion von Kunst, sowohl literarischer als auch bildnerischer Arbeit, zusammenhängen muss. Das Kunstwerk ist für Annemarie von Matt Formulierung des persönlichen Befin86

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dens, des subjektiven momentanen Erlebens und des eigenen Lebensprozesses, in den punktuell durchaus auch andere Menschen bewusst einbezogen werden. Die Sichtung ihres schriftlichen Nachlasses durch Roger Perret brachte viele unbekannte Texte zutage, eine Auswahl wurde 2008 erstmals abgedruckt.10 Diese Schriften belegen das bislang lediglich angenommene, aber nie nachgewiesene frühe literarische Interesse und Talent von Annemarie von Matt. Zu entdecken ist nun eine belesene, politisch wache Künstlerin, die sich in Text und Bild anspielungsreich auf literarische Figuren bezieht und nicht etwa auf bildnerische Werke. Das ist insofern bemerkenswert, als ihr ab 1939 entstandenes autobiografisches Werk nun mittels literarischer Stoffe lesbar und verstehbar und damit erkennbar wird, dass ihr Schaffen auch auf Nachahmung und Identifikation baut und nur bedingt fiktional ist. Um eine Veröffentlichung ihrer Texte bemühte sich die Autorin nicht, jedenfalls fehlen entsprechende Hinweise in ihrem umfangreichen schriftlichen Nachlass, und auch der Zustand der Manuskripte spricht gegen eine solche Absicht. Das Gros der Texte besteht aus Angefangenem und Fragmentarischem. 1942 schreibt sie in einem Brief: »Ich liebe (in Allem) hauptsächlich auch bei künstlerischer Arbeit DEN A NFA NG, FERTIG ODER WEITER-machen ist peinigend, mich, A NFÄ NGE, NEUES beginnen ist voller TAO u Geheimniss, man lässt besser schöne Dinge in ihrem möglichst langen Anfang sein u stehen. Denn Anfang ist schön.«11 Während sie in ihren textilen Arbeiten der 1920er- und den religiösen Bildern der 1930er-Jahre tendenziell hinter die Werke zurücktrat, also beispielsweise ganz auf die dekorative Qualität der Applikationen vertraute, begann sie nun, ihre Texte und Zeichnungen syste­matisch zu adressieren und damit an ihrem persönlichen Leben zu »beteiligen«. Nun erweist sich retrospektiv, dass diese Verkettung von Literarischem, Bildnerischem 87

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und Autobiografischem eine bildliche Qualität hat, die erst sichtbar wird, wenn grössere Teile dieses Gewebes ins Auge gefasst werden können. Dies sollen die folgenden Beispiele leisten: Eines ihrer bekannteren Werke ist der Tonkopf Die NICHT ANSPRECH(BAR) 12 (1940–1961), eine Umarbeitung der »Kellermadonna« oder auch »Kellermarei«, die als vollplastische Darstellung von Mutter und Kind lediglich in einer Fotografie von Hans von Matt überliefert ist. Entstanden sein dürfte das Werk um 1940, als Annemarie von Matt auch an anderen figürlichen plastischen Werken arbeitete. Hans von Matt berichtet, dass die ausgetrocknete, ungebrannte Lehmplastik im Keller zerbröckelte.13 Der Marienkopf wurde vom Rumpf abgetrennt und 1961 von Annemarie von Matt bemalt, leicht modifiziert und beschriftet. Sie öffnete den zuvor geschlossenen Mund der Figur und schrieb auf die Stirn: »SIE SINGT AVE / SIE HEISST: die NICHT A NSPRECH(BA R)«. An der Stelle des fehlenden rechten Ohrs notierte sie: »KEIN OHR / DESWEGEN / UNHÖR(BA R) / NICHT A N- / SPRECHBA R«. Auf dem Hals steht: »DIESER ›M A RI‹ / DAS M AUL geöffnet / M A RIAE GE [unleserlich, vermutlich: BURT] 1961«. Und auf der linken Wange vermerkte die Künstlerin: »HIER / TELEPHON / OHRHÖRER«. Im Oktober 1964, drei Jahre nachdem sie die Madonna umgearbeitet hatte, schrieb sie auf eine Fotografie der »Kellermadonna«: »Weil keine HeiligenSCHEINE ist SIE nicht eine Hl. Maria  –  ein Zerfallenes  –  im Atelierkeller eingetrocknetes LEHM-W ERK. Lehm = Dreck: also ein trockenes Dreckwerk mit SCHIMMEL ›BEFA LL‹ verziehrt. SODENN: EINE ZER(R)FA LLENE FR AU. (oder VERFALLENE FR AU.) So ›bezeichnet‹ im Anfang OKTOB?ER? (64).«14 Theo Kneubühler interpretiert 1973 das von Annemarie von Matt in der Inschrift hervorgehobene »BAR« positiv als eine Evokation von Freiheit: »Es geht ihr um das BAR als Synonym für unbedeckt, 88

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bloss, nackt, frei. Sie will ihre Unangebundenheit, ihr Alleinsein zum Ausdruck bringen.«15 Mit ihrem Hinweis auf das Telefon, das ihr selbstbestimmt zu kommunizieren ermögliche, ohne sich in Gesellschaft zu begeben, zeige Annemarie von Matt eine der unabdingbaren Voraussetzungen für ihr Alleinsein. Dreissig Jahre später schreibt Christoph Lichtin hingegen, die Arbeit »verdeutlicht die Kommunikationsproblematik«.16 Beides trifft zu, die Autoren verfehlen allerdings mit ihrer Deutung einen zentralen Aspekt der künstlerischen Absicht Annemarie von Matts, nämlich das Werk durch die Umarbeitung und schriftliche Erläuterung in die Gegenwart zu holen. Dieser Prozess setzte mit dem überhöhten, im Geist der 1930er-Jahre modellierten Bild von Mutter und Kind ein und führte über die Umarbeitung der Plastik hinaus bis ins Jahr 1964, als sie deren Verfall auf einer Fotografie der »Kellermadonna« kommentierte. Dieser Prozess blieb, solange die Künstlerin am Leben war, unabgeschlossen. Ihre Werke befanden sich in einem ständig veränderbaren, vorläufigen Zustand. Im selben Jahr wie die »Kellermadonna« entstand die erste Fassung der Bleistiftzeichnung TANTE LÖWENJOUL, 1944 folgte eine Replik. 1955 kommentierte Annemarie von Matt die erste Fassung. Neben diesen Zeichnungen sind ein Notizbuch, das sogenannte rote Buch mit längeren literarischen Texten u. a. vom 19. Oktober, 15. Dezember und 27. Dezember 1940 sowie 5. September 1945, und verschiedene Zettel u. a. aus den frühen 1940er-Jahren erhalten geblieben, in denen sich Annemarie von Matt mit dem Motiv der Tante Löwenjoul befasst. Aus den Eintragungen in ihrer Agenda geht hervor, dass von Matt ab dem 15. Dezember 1940 bis Jahresende viel und vor allem bis spät in die Nacht schrieb. Am 19. Dezember 1940 entstand die Collage DAS IST EIN ZERRBILD MEINER und am 29. Dezember die Tuschzeichnung ISELIN in einer ersten kleinen Fas89

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sung. Am 30. Januar schickte sie einen leidenschaftlichen »Silvesterbrief« an ihren Geliebten, den Luzerner Priester und Schriftsteller Josef Vital Kopp. Der letzte Eintrag in ihrer Agenda im Jahr 1940 lautet »A DIEU DEM SCHÖNEN JA HRE«, der erste im folgenden Jahr 1941 hält fest, dass Josef Vital Kopp am 1. Januar anrief, um die Verabredung für den folgenden Tag abzusagen. Löwenjoul ist eine Figur aus Thomas Manns 1909 erschienenen Roman Königliche Hoheit. Er handelt von einer wahnsinnig gewordenen deutschen Gräfin Löwenjoul, die als Gesellschafterin von Imma Spoelmann, der Tochter des deutsch-amerikanischen Milliardärs Samuel N. Spoelmann, Vater und Tocher Spoelmann zur Kur in eine kleine deutsche Residenzstadt begleitet. Dort treffen sie auf Prinz Klaus Heinrich, den späteren Ehemann von Imma Spoelmann. Klaus Heinrich erfährt von Imma, dass Löwenjoul seit drei Jahren ihre Gesellschafterin sei. Gräfin sei sie durch ihre Heirat mit dem Grafen Löwenjoul geworden, einem Reiterhauptmann und Lebemann, der sie schamlos betrogen habe. Sein Ruf sei ihm indessen vorausgegangen, und gerade deshalb habe sie sich von ihm so angezogen gefühlt. Zwei Kinder habe sie von ihm bekommen, die beide binnen weniger Wochen verstorben seien. Die Mitgift der Gräfin und später das Erbe ihrer Eltern habe der Graf verspielt. Verschuldet sei er nach Amerika geflüchtet, wohin sie ihm gefolgt sei. Als auch das Geld ihrer Verwandten ausblieb, habe er sie verlassen. In dieser Situation der Ausweglosigkeit habe sich ihr Geist verwirrt, damit sie sich gehen lassen durfte: »Mit einem Worte, die Wohltat war, dass sie wunderlich wurde.«17 Der Wahnsinn wird von Thomas Mann in der Figur der Gräfin Löwenjoul als positive Kraft gedeutet, durch die sie sich in einer nicht zu bewältigenden Lebenssituation vor der Verzweiflung rettet. »Die Wunderlichkeit ist eine wohltuende Verwirrung, deren sie gewissermassen Herr ist und die sie sich erlaubt«.18 90

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In ihren fragmentarischen literarischen Notizen macht Annemarie von Matt aus der Gräfin Marie Caroline Löwenjoul, die Tante von Rosine, und entwickelt eine eigene, von der Romanvorlage unabhängige Geschichte, in die sie unverkennbar eigene Erlebnisse einbaut und Schilderungen der beiden Hauptfiguren, die junge, 30-jährige Rosine und die ältere Tante, immer wieder so ineinander übergehen lässt, dass sie stellenweise zu einer Figur zu werden scheinen. Löwenjoul liebt, wie Annemarie von Matt, Militärmusik, Soldaten und Trommelwirbel, trinkt »alles nach und durcheinander«, Kaffee, Wein und Kraftelixiere. Sie besitzt »eine Unmenge kurzweiliger Dinge«, »verwahrt in vielen Schachteln schöne Federn und Tülle, alte, in Farben aus früheren Tagen« und wird »wild und böse«, wenn ihr zugemutet wird, »lange Stunden unter Publikum zuzubringen«. Die beiden Zeichnungen wurden von Annemarie von Matt mit Inschriften versehen. Auf der ersten Fassung heisst es: »Marie Caroline / TA NTE LÖW ENJOUL / Rosine« und, durchgestrichen: »Ekstase, Askese und Theurgie.« Oben links steht: »Haare oben hohes / Band / sie jünger.« Unten rechts datiert: »1940«, und unten links in Klammern: »Diese ist besser 1955 gewusst.« Auf der Replik, einer kolorierten Federzeichnung, ist zu lesen: »Tante Löwenjoul nach der Zeichn. von 1940 später gezeichnet.« Künstlerisch interessant sind diese beiden Zeichnungen im Vergleich. Für sich genommen handelt es sich lediglich um Skizzen aus einem grösseren, unabgeschlossenen Arbeitszusammenhang. Erst vor dem Hintergrund des zeitlichen Rahmens von 15 Jahren, innerhalb dessen die Zeichnungen entstanden, beginnen die Arbeiten durch die handschriftlichen Kommentare, die auf eine bewusste Wiederaufnahme des Motivs hinweisen, von der Präsenz und Aktualität dieser Figur im Leben von Annemarie von Matt zu erzählen. Das Zeichnen diente der Selbstvergewisserung und Fremd­ identifikation über das literarische Rollenbild. Annemarie 91

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von Matt wandte sich mit diesen beiden Zeichnungen in erster Linie an sich selber. Von der Federzeichnung Mariquita sind zwei Fassungen bekannt, wahrscheinlich ist nur eine dieser beiden Arbeiten noch erhalten. Es handelt sich dabei um ein Blatt aus dem Jahr 1941 mit den handschriftlichen Vermerken oben: »Mariquita in Andreas«, und unten links: »Andreas erschien am 18. IV. 41 im Wighus.« Das Bild zeigt eine weibliche Halbfigur mit nacktem Oberkörper, einen Schleier über dem ungekämmten Haar. Pflanzen und Gräser sind angedeutet, sodass man sich die Frau knieend in einer hochgewachsenen Wiese vorstellen könnte, über dem linken, mit einem Reif geschmückten Arm trägt sie ein Tuch. Der schöne Mund, der schlanke Hals, Ohr, Wangen, Augen und Brüste sind rot markiert. Sie wirkt entspannt. Mariquita ist eine Figur aus der Erzählung »Andreas« von Hugo von Hofmannsthal. Es handelt sich bei dieser Erzählung um Fragmente aus den Jahren 1907–1927, die 1932 erstmals erschienen sind. Hans von Matt berichtet, dass er und seine Frau durch den Schriftsteller Meinrad Inglin darauf aufmerksam wurden. Inglin besuchte sie im Frühjahr 1941 und überliess ihnen das Buch. Annemarie von Matt sei von dem Stoff so fasziniert gewesen, berichtet Hans von Matt, dass er es erst nach langer Zeit zurückschicken konnte. Als Inglin erfuhr, weshalb er so lange auf das Buch warten musste, schenkte er es Annemarie von Matt. Sie erhielt es am 18. April auf dem verschneiten Brünig, wo sie sich seit dem 15. April aufhielt. Neben ihrem Ehemann ist auch Josef Vital Kopp bei ihr im Wighus, einem kleinen Holzhaus nahe der Passhöhe. Am 12. Mai 1941 bedankt sich Annemarie von Matt bei Inglin, entschuldigt sich für die Verzögerung und schreibt zu der Bedeutung, die die Erzählung für sie hat: »Es ist wohltätig-gewalttätig, dieses Buch.«19 Hofmannsthal schildert die Begegnung des jungen Andreas von Ferschengelder mit Maria, die als »Dame« 92

Annemarie von Matt, Die NICHT ANSPRECH(BAR), 1940–1961, Ton, bemalt und beschriftet, 24,5 × 16 × 10 cm, Nidwaldner Museum, Stans, Ausstellungsansicht »Dunkelschwestern«, Aargauer Kunsthaus, Aarau 2008, Photo Dav id A ebi Bu rgdor f.

Annemarie von Matt auf dem Brünig (Schweiz), um 1930, Photo Leona r d von M at t, A rchi v K a n tonsbibliothek Nidwa lden.

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bezeichnet wird, und Mariquita, einer Kokotte, im Venedig des 18. Jahrhunderts. Es handelt sich bei den beiden Frauen, so heisst es in der Erzählung um »Spaltungen ein und derselben Person«.20 Hofmannsthal greift für seinen Stoff auf eine psychiatrische Fallgeschichte zurück, die 1906 in New York von Morton Prince veröffentlicht worden war und von der er 1907 erfuhr.21 Maria und Mariquita bilden ein Gegensatzpaar. Andreas empfindet in Gegenwart der beiden Frauen sehr unterschiedlich: »Marias Nähe beglückt ihn, macht ihm die Welt schöner; Mariquita macht ihn finster, sich anspannend, wild, – nachher verdrossen, ermüdet.«22 Maria ist eine Ästhetin voller Lebensangst, bei ihr ist »die Seele wie ein Schleier über dem Leib«.23 Erst das Begehren von Andreas ermöglicht das Erscheinen von Mariquita. Ihre Hände sind nicht kalt wie diejenigen von Maria, sondern »immer wie von flüssigem Feuer durchströmt«.24 Mariquita ist »intrigant, scharfsinnig, cynisch, ruhelos, gottlos«.25 Sie liebt das Abenteuer, den Schwindel, die Ekstase. Sie ist als Körper im Text: »An Mariquita ist es jedes körperliche Detail, was einzig und ewig scheint: das Knie, die Hüfte, das Lächeln. Sonst kümmert sie sich wenig um Einzigkeit; sie glaubt nicht an die Unsterblichkeit der Seele. Ihr Reden, ihr Argumentieren, ihr Denken selbst ist ganz Pantomime, ganz potentielle Erotik, kein Wort darin über den Moment hinaus gemeint, – sie buhlt immerfort mit allem was sie umgibt«.26 Mariquita ist, so Hofmannsthal, »Heidin, sie glaubt an den Moment, an sonst nichts.«27 Hans von Matt erinnert sich, dass seine Frau die Figur Mariquita mehrmals zeichnete. Eine Fassung verschenkte sie. »Die andere«, schreibt er, »war jahrelang in der Küche aufgeheftet bis sie dunkel und brüchig wurde vom fettigen Dampf und vom Zigarettenrauch. Als Annemarie sie schliesslich ablöste, um sie zu retten, schrieb sie auf die Rückseite: ›Nicht Maria sondern Mariquita. 21.11.41 gezeichnet. Freitag 29. Juli 49 aus der Küche entfernt. In acht 95

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Jahren ver(zer)störte sich Mariquita gleich viel wie ich in der gleichen Zeit und in derselben Küche‹.«28 Wiederum ist es die Verwendung einer Arbeit durch die Künstlerin, die über den künstlerischen Wert entscheidet: Das eine Blatt schenkte sie Dora Troller, mit der sie eine leidenschaftliche, über Briefe und Telefongespräche geführte Freundschaft verband. Das zweite Blatt hängte sie in die Küche, um an jenem Ort, mit dem sie als Frau, wie die wütenden Eintragungen in ihrer Agenda belegen, als allerletztes identifiziert werden wollte, stets an die Freiheit erinnert zu werden. An anderer Stelle habe ich geschrieben, man müsse die Analyse des Werkes von Annemarie von Matt ohne den vielleicht nicht einlösbaren Anspruch betrachten, die Objekte, Zeichnungen, Notizen, Texte, Korrespondenzen und nicht zuletzt den Rückzug in die »eigene« Welt und das damit verbundene allmähliche Verstummen einzeln zu beschreiben und kunstwissenschaftlich zu bewerten.29 Ein solcher Anspruch sei, so argumentierte ich damals, deshalb kaum zu erfüllen, weil die überwiegende Mehrzahl dieser Arbeiten Skizzen, Fragmente, Zitate oder Ideen zu sein scheinen, deren Status ungeklärt ist und die oft überdies in zeitlich weit auseinanderliegenden Arbeitsschritten miteinander vernetzt, verändert oder kommentiert worden sind. Diesem ungewöhnlichen und erklärungsbedürftigen prozessualen Verständnis künstlerischer Arbeit, das in letzter Konsequenz die Existenz der Künstlerin selbst erfasste, sei so gesehen nur die Rekontextualisierung aller überlieferten Informationen, Arbeiten und Dokumente angemessen. Die biografischen Recherchen für den vorliegenden Essay zeigen, dass sich bei genauerer Kenntnis der Lebensumstände tatsächlich eines ins andere zu fügen beginnt und die erzählerische, auch im Bildlichen meistens literarische Dimension ihres Schaffens in den Vordergrund tritt. 96

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Es ist daher auch nicht überraschend, dass die Rezeption des Gesamtwerkes von Annemarie von Matt erst in den 1970er-Jahren einsetzte. Es liegt in der Logik dieser offenen, prozessualen Werkstruktur, dass das Œuvre abgeschlossen sein muss, bevor es öffentlich diskutiert werden kann. Es bedurfte aber wie bei Sonja Sekula zudem einer Veränderung des Kunstbegriffs und der Entwicklung der Konzeptkunst in den späten 1960er-Jahren, um das seit den 1940-Jahren entstandene intermediale Werk (Zeichnungen, Notizen, Lebenslosungen, Handlungsanweisungen) überhaupt als Kunst anzuerkennen. Diese Ungleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption, die uns heute, in einer Zeit, in der auch kulturelle Leistungen dem Zwang zur sofortigen Verwertung unterliegen, unzeitgemäss erscheinen mag, war für Annemarie von Matt, wenn ich eine späte Notiz der Künstlerin richtig verstehe, eine Selbstverständlichkeit: »Freue mich wenn Ihr Einblick tuen werdet eines Tages in meine Unterwelt wundersam / reich geheimnissvoll / und pauvre / geheimnissvoll«.30 Sonja Sekul a: In v erschiedene Richtungen arbeiten Sekula lebte in New York in einem Kreis von Freunden, die an der Neubestimmung des Verhältnisses von Wort und Bild massgeblich beteiligt waren. Dazu gehörten Künstler wie André Breton, Roberto Matta, Marcel Duchamp, Joseph Cornell und insbesondere John Cage, und unter Sekulas bevorzugten Autoren waren in den 1940er-Jahren Gertrude Stein und James Joyce. Sonja Sekula entwickelte ihre künstlerische Arbeit in New York während der Frühzeit des amerikanischen Abstrakten Expressionismus und im direkten Austausch mit Künstlern dieser Bewegung. Sie schuf abstrakte Bilder, die durch den Einbezug von figurativen Elementen und Schrift eine Nähe zum Surrealismus 97

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aufweisen, den die europäischen Künstler ins amerikanische Exil mitbrachten. Auf den Spuren surrealistischer Künstler bereiste Sonja Sekula Mexiko. Der »Automatismus« Bretons spielte im Kreis der jüngeren New Yorker Maler als kollektive künstlerische Methode eine zentrale Rolle. Vielleicht hörte Sekula nicht erst in der Exilgemeinde der europäischen Künstler davon, sondern hatte das Konzept schon in der Schweiz kennengelernt, denn 1934 zeigte das Kunsthaus Zürich die Ausstellung »Was ist Surrealismus?«, in der Arbeiten von Hans Arp, Alberto Giacometti, Julio González, Joan Miro und Max Ernst zu sehen waren. Ernst hatte auch das Ausstellungsplakat gestaltet und das Vorwort zum Katalog geschrieben.31 Wie Breton, der 1924 das »Surrealistische Manifest« verfasst und damit die literarisch-philosophische Theorie zum Surrealismus geliefert hatte, benennt Ernst als eines der zentralen surrealistischen Bildfindungsverfahren die freie Assoziation, obschon es sich dabei ursprünglich um ein dichterisches Verfahren handelte: »Für Maler und Bildhauer schien es anfangs nicht leicht, der ›écriture automatique‹ entsprechende, ihren technischen Ausdrucksmöglichkeiten angepasste Verfahren zur Erreichung der poetischen Objektivität zu finden, d. h. Verstand, Geschmack und bewussten Willen aus dem Entstehungsprozess des Kunstwerks zu verbannen.«32 Das künstlerische Experiment und nicht theoretische Überlegungen hätten aber bald gezeigt, »dass die Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen wesensfremden Plan die stärksten poetischen Zündungen« hervorrufe. Die Methode diene, so Max Ernst, der Erforschung und Überwindung der »Grenzen zwischen der sogenannten Innenwelt und der Aussenwelt«. Der Surrealist zeichne demnach nicht seine Träume auf, sondern bewege sich entlang eben dieser Grenze zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten und registriere, was er dabei sehe und erlebe. Max Ernst 98

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bezieht sich in diesem Text ausdrücklich auf die »écriture automatique« und damit auf eine literarische Strategie, doch für ihn ist die freie Assoziation ein Bildfindungsverfahren und keine Malmethode wie etwa für André Masson. Sekula lernte Max Ernst, der zum Freundeskreis um Roberto Matta gehörte, spätestens 1942 während ihrer Sommerferien in Wellfleet auf Cape Cod kennen. 1943 publizierte die Zeitschrift VVV eine Gemeinschaftsarbeit von Max Ernst, André Breton, Kurt Seligmann, Roberto Matta, Marcel Duchamp und Sonja Sekula.33 Diese Arbeit, die als Dessin successif betitelt ist, umfasst sechs nacheinander entstandene Skizzen von den an diesem Spiel beteiligten Künstlern, und beruht auf dem Versuch, die Zeichnung des Vorgängers, die nur fünf Sekunden angeschaut werden durfte, zu reproduzieren. Im selben Jahr, in dem diese Gemeinschaftsarbeit entstand, nahm Sekula erstmals an einer Ausstellung in der Galerie von Peggy Guggenheim, der damaligen Lebensgefährtin von Max Ernst, teil. Mit den New Yorker Künstlern ihrer Generation teilte Sekula auch das Interesse an der Kunst der Ureinwohner Nordamerikas.34 Visuell fassbar wird dies in ihrem eigenen Werk 1946 nach einem Aufenthalt in New Mexico, wo sie Kunstwerke der Navajo kennengelernt und ein »sand-painting« gesehen hatte. Sie berichtet auch in ihren Briefen, beispielsweise an den Maler Robert Motherwell, von ihrer Begegnung mit der Kunst der »Indianer«. Wie wichtig dieser Einfluss neben dem Surrealismus generell in den 1940er-Jahren war, mag der Umstand veranschaulichen, dass Betty Parsons 1946 ihre Galerie in New York mit der Ausstellung »Northwest Coast Indian Painting« eröffnete, die Barnett Newman zusammengestellt hatte.35 Er schreibt zu seiner Werkauswahl im Katalog: »Es ist unsere Hoffnung, dass diese grossen Kunstwerke, ob an Hauswänden, zeremoniellen Schamanengewändern und Schürzen oder als sakrale Decken, um ihrer selbst willen Gefallen finden. Es wäre jedoch falsch, 99

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sie als bloss dekorative Erzeugnisse einzustufen, denn sie verkörpern einen hochentwickelten Gestaltungswillen. Die Gestaltung nach geometrischen, ungegenständlichen Mustern war ausdrücklich die Aufgabe der Frauen. Es sind sakrale Malereien. Sie sind Ausdruck der mythologischen Anschauungen dieser Völker, ausgeführt auf zeremoniellen Objekten, aus dem einfachen Grund, weil diesen Völkern die formale Kunst der Staffeleimalerei auf Leinwand unbekannt war. […] Diese Werke sollten all denjenigen als Beispiel dienen, die die moderne abstrakte Kunst als esoterische Übung einer snobistischen Elite abtun, denn unter diesen einfachen Völkern war die abstrakte Kunst eine selbstverständliche, wohlverstandene, weitverbreitete Tradition.«36 Dieser Rückbezug auf die indigene Kunst stellte für die Künstler der Ostküste eine Möglichkeit dar, ihre eigene abstrakte Kunst zu legitimieren und zugleich gegen die europäische Tradition abzugrenzen. Der Kunstkritiker Jed Perl bemerkt, das bestimmende Merkmal der New Yorker Malerei jenes Jahrzehnts sei »eine brennende Dunkelheit« gewesen.37 Verantwortlich dafür waren eine seltsame Mischung aus allgemeiner Angst, die mit der unsicheren weltpolitischen Lage im »Kalten Krieg« zusammenhing, und einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein der Künstler. Es war die Zeit, in der Jackson Pollock seine schon 1949 berühmten, grossformatigen Drip-Paintings malte, indem er auf die vor ihm liegende Leinwand synthetische Farben und Lacke tröpfelte, spritzte und schleuderte. So entstanden Gemälde, deren dichte Struktur einen Nachvollzug des Malprozesses, beispielsweise der Reihenfolge und Schichtung der Farbe, nicht mehr erlaubt und dadurch jede relationale Struktur des Gemäldes negiert. Das Ergebnis des All Over ist ein statisches Bild, das auf einen bewegten, gestischen Malakt hinweist. »Die Radikalisierung des Bewegungsausdrucks in der bewusst-bewusstlosen Aktion des Dripping«, 100

Werke von Sonja Sekula in der Ausstellung »Dunkelschwestern« im Aargauer Kunsthaus, Aarau, 2008, Photo Jörg Mü ller A a r au.

Sonja Sekula im Sommerhaus am Asharoken Beach, Northport, Long Island, Sommer 1946. Photo A ndr é de Dienes, A rchi v Roger Per r et Zü r ich.

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schreibt Regine Prange, »materialisierte das Bild, machte es endgültig undurchsichtig«.38 1948 wechselten Jackson Pollock und mit ihm u. a. Mark Rothko und Clifford Still von Peggy Guggenheim, die ihre New Yorker Galerie schloss, zu Betty Parsons. Im selben Jahr nahm Parsons auch die damals 30-jährige Sekula unter Vertrag. Es wäre falsch zu behaupten, die Kunst von Sonja Sekula sei in den 1940er-Jahren in New York nicht sichtbar gewesen. Sekula stellte nicht nur aus und verkaufte, sondern sie erwarb auch Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die ihr besonders nahestanden, u. a. von Joseph Cornell 39 oder Alice Rahon, und sammelte auf ihren Reisen auf dem amerikanischen Kontinent, wie viele andere Künstler ihrer Generation, Werke der indigenen Völker. Und doch blieb sie, in den Worten von Betty Parsons, »eine einsame Wölfin«.40 Ann Gibson schildert in ihrer »anderen« Geschichte des abstrakten Expressionismus nicht nur, wie in den späten 1940er-Jahren lesbische, schwule und farbige Künstler mehr und mehr marginalisiert wurden, sondern sie erinnert auch daran, dass Sonja Sekula erkannte, dass Pollock neue formale Massstäbe gesetzt hatte, die sie nicht erfüllen wollte. Diese Einsicht in den systemischen Zusammenhang der Kunst unterscheidet Sekula grundsätzlich von Annemarie von Matt. Gibson zitiert den entsprechenden Brief Sekulas an Parsons von 1956, in dem diese darlegt, dass sie dem Wunsch des amerikanischen Publikums nach grossen Formaten nicht entsprechen wolle, obschon sie die Malerei von Pollock liebe: »Ich halte an meinen Bedürfnissen fest und bevorzuge aus äusseren und moralischen Gründen das kleine Format. Es enthält mehr Ruhe, mehr Hoffnung und braucht genauso viel Zeit.«41 Sonja Sekulas Arbeit entwickelte sich im Unterschied zu derjenigen von Annemarie von Matt stets in Berührung und Auseinandersetzung mit den ambitioniertesten künst103

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lerischen Positionen ihrer Zeit und ist dennoch ein Gegenmodell zur produktorientierten Kunstpraxis. Sie arbeite bewusst in verschiedene Richtungen, notierte sie 1957 auf einem ihrer Werke.42 Immer und immer wieder kommt sie in ihren Notizen auf die Uneinheitlichkeit ihres Werkes zu sprechen. Während Künstler aus ihrem Umfeld wie Pollock, Rothko, Motherwell oder Ad Reinhardt repräsentative Bildformeln prägten und der Automatismus ein Stil geworden war, bestand sie weiterhin auf ihrer experimentellen Arbeitsweise, für sie war Stilvielfalt Ausdruck von Freiheit. In dem Komponisten John Cage fand Sekula einen Künstler der nächsten Generation, der diese Offenheit zum Prinzip seiner Kunst machte. Eine zentrale Kategorie in seinem Werk ist der Zufall und das Absehen vom Ich. Cage begann 1950, mit Zufallsoperationen zu komponieren. Zwar spielt der Zufall auch im Abstrakten Expressionismus eine wichtige Rolle, insofern der Einbezug des Zufalls in den bildnerischen Prozess als Möglichkeit aufgefasst wurde, das Bild für das Unterbewusstsein des Malers zu öffnen und seiner Kontrolle tendenziell zu entziehen. Pollock soll gesagt haben, er male nicht nach der Natur, denn: »I am nature«.43 Cage jedoch suchte nicht nach einer authentischen Form von subjektivem Ausdruck.44 Ihm war nicht daran gelegen, »vorhandene Ideen, Ideensysteme oder ganze Ideologien auszuführen, zu behandeln, sondern darum, beim Arbeiten neue Ideen zu bekommen«. Er interessierte sich für eine »offene, nicht zielgerichtete Produktivität«, die nach vorne ausgerichtet war.45 Das ist auch ein Grund dafür, dass John Cage von Marcel Duchamp und dessen Idee des Readymade fasziniert war.46 Sonja Sekula lebte ab 1947 an der Grand Street, Ecke Monroe Street in der Lower East Side von New York, auf derselben Etage wie John Cage und Merce Cunningham. In ihrer kleinen Wohnung malte sie einige ihrer wichtigsten und bekanntesten Gemälde wie Williamsburg Bridge (1948) oder Town 104

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of the Poor (1951). Rückblickend schreibt sie, sie sei für das »Durchsichtige bekannt« gewesen, für »flüssige Linien« und für »noch flüssigere Farbströme«.47 Mit Earle Brown, Morton Feldman, David Tudor und Christian Wolff gab Cage 1950–1954 in seinem Loft Abendeinladungen, bei denen nicht nur Musiker, sondern auch viele Maler zu Gast waren. 1951 malte Sekula mit »Silence.« ein Schlüsselwerk nicht nur ihres eigenen Schaffens, sondern auch für die Kunst der 1950er-Jahre. Mit dem Titel bezog sie sich auf einen zentralen Begriff aus dem Kreis um John Cage und schrieb ihn daher mit Anführungszeichen und Satzpunkt auf die Leinwand, womit sie ihn als Zitat auswies.48 Im folgenden Jahr widmete John Cage Sonja Sekula eines seiner Seven Haiku für Klavier. Im selben Jahr komponierte er seine berühmte Komposition 4’33’’. Das Stück verlangt, dass der Pianist auftritt, ohne zu spielen. Seine Stille während der vier Minuten und dreiunddreissig Sekunden ermöglicht dem Publikum im Konzertsaal die Wahrnehmung der Umgebungsgeräusche. Die Stille in Cages Kompositionen bildet die Voraussetzung, um die Welt zu hören. Er entzog die Musik der Kontrolle des Komponisten. In vergleichbarer Absicht arbeitete Sekula in einem paradoxerweise immer einsameren Zwiegespräch mit ihrem Werk an offenen, fliessenden, rhythmisch gegliederten Bildstrukturen. »Silence.« meint dabei in programmatischer Hinsicht sowohl das Versagen der Sprache, das Verstummen und die Stille, als auch ganz bei sich zu sein, und ist innerhalb der deutschen Literatur seit Hofmannsthals »Chandos-Brief« ein Topos für die Sehnsucht des modernen Menschen nach einer begriffslosen, unmittelbaren Erfahrung der Dinge. Dieser mediumistischen Auffassung von der Aufgabe des Künstlers, die sich auch bei Annemarie von Matt findet, entspricht Sekulas prozessuales, stilkritisches und gegen das repräsentative Bild gerichtete Schaffen. 105

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1952 reiste Sekula in die Schweiz, um sich im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen einer längeren Behandlung zu unterziehen. Zwischen ihrer ersten Hospitalisierung nach einem versuchten Suizid kurz nach ihrer Ankunft in New York 1939 und dem Aufenthalt in Kreuzlingen liegen die künstlerisch fruchtbarsten und vielleicht auch glücklichsten Jahre ihres kurzen Lebens. Die Sekulas sahen sich wegen der hohen Behandlungskosten genötigt, New York 1955 mit ihrer inzwischen 37 Jahre alten Tochter zu verlassen. Sonja Sekula war damit von ihren ausgezeichneten Verbindungen in der damals international einflussreichen New Yorker Kunstszene abgeschnitten. 1957 beschickte sie aus der Schweiz ein letztes Mal eine Ausstellung in der Betty Parsons Gallery. Kuraufenthalte, nicht nur in Kreuzlingen, und einsame Atelierarbeit wechselten sich in der Folge ab. Erst jetzt begann sie, sich eingehend mit den Schriften von Jung, Suzuki, Graf Dürckheim, Alan Watts und Eugen Herrigel zu beschäftigen. »Entmutigt? Eitel? Bestrebt, mir einen Namen zu machen? Nein, im Grunde nicht – ich glaube, Zen ist eine gute Beschreibung meiner Arbeit«, notiert sie auf Englisch am 11. April 1958 in ihr Tagebuch.49 Im Unterschied zu Sekulas 1945 entstandenen Zeichnungen, in denen das Zeichnen und Schreiben dem gleichen Prozess der freien Assoziation unterworfen ist, wirkt der bildnerische Prozess in den 1950er-Jahren kontrollierter und programmatischer, vor allem aber ist die Arbeit immer stärker autobiografisch geprägt. Das Absehen vom Ich ist auch ihr ein künstlerisches Anliegen, doch bleibt es ein Postulat, das als solches in ihrem Werk formuliert werden muss, da sie keine für sie geeignete Methode findet, ihrer eigenen Forderung gerecht zu werden: »Verzweifelt suche ich nach neuen Formen. Ich finde keine in meinem / Kopf. Unbewusst zeichne ich daher Formen, die irgendwo sind / versteckt oder vielleicht weiter als der Kopf. Ich will / weib106

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liche Formen zeichnen, aber der Hintern und die Ellbogen und der Hals / oder die Hände interessieren mich eigentlich nicht. Ich suche also nach Formen. / Quadratisch oder rund oder Punkte oder einen Strich oder zwei Striche und / dann will ich einen Mann zeichnen. Also ein Mann, der seine Arme / bis in den Himmel streckt, braucht nur ein paar Striche links und rechts, und / der Himmel hat gar keine Form. Ich höre also auf zu denken und / mache nur Telefonkritzeleien mit einem Bleistift auf Papier und / vergesse so, dass ich noch immer etwas finden will, etwas Neues finden will, alles / erscheint mir ein wenig ähnlich.«50 Während Cage den Begriff der Musik und jenen der Kunst auf eine neue Grundlage stellte und neuartige Verfahren einzuführen begann, die eine völlig neue Struktur des Kunstwerks erkennen liessen, wird Sekula durch ihre persönlichen Krisen derart gefangengenommen, dass sie viele der ebenfalls dem Zen entnommenen Losungen nur ausrufen oder zitieren, nicht aber künstlerisch einlösen kann. Die künstlerische Arbeit wird ab den mittleren 1950er-Jahren immer privater, immer dokumentarischer. Botschaften: Eine Form. Dann noch eine. Uns interessiert an Annemarie von Matt und Sonja Sekula, wie Bilder zur Sprache kommen, also wie Sprache zum einen in das Bild eintreten kann, aber auch weshalb zum anderen bestimmte Bilder besprochen werden und andere dem Vergessen anheimfallen. Gelingen und Scheitern liegen bei beiden Künstlerinnen nahe beieinander. Die Gründe sind vielfältig und nicht eindeutig. In beider Schaffen gibt es eine strukturelle Unschärfe, die es erschwert, das Gesamtwerk in den Blick zu nehmen. Im Spiel ist zudem eine zweifellos faszinierende autobiografische Dimension, die schon von den Zeitgenossen wahrgenommen wurde und für das Verständnis ihres Schaffens bedeut107

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sam ist, welche aber die Autorität des einzelnen Werkes schwächen kann. Annemarie von Matt und Sonja Sekula thematisieren im bildnerischen und literarischen Werk ihr Frau-Sein und die entsprechenden Handlungsspielräume. In formaler Hinsicht äussert sich das Autobiografische sehr verschieden. Während Annemarie von Matt ab 1939 literarische Rollenmodelle aufgreift und dabei mimetische Verfahren anwendet, um ihre eigene weibliche Existenz zu fiktionalisieren, befragt Sonja Sekula in ihrer Dichtung obsessiv, direkt und schutzlos ihr Selbst, gerade auch dann, wenn sie im Text vorgibt, von sich abzusehen. Der New Yorker Künstler und Kunstkritiker Brian O’Doherty spricht bei Sekula von einer »fast theatralischen Masslosigkeit« im Umgang mit sich selbst.51 Ihrem Selbstverständnis nach war Sekula keine Aussenseiterin. In New York lebte sie in einem internationalen Kreis von befreundeten Künstlerinnen und Künstlern sowie in einem gesellschaftlich und künstlerisch aufgeschlossenen Umfeld. Es sind ihre fruchtbarsten und erfolgreichsten Jahre. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz litt sie unter der persönlichen Einsamkeit und der mangelnden Beachtung ihrer Kunst, obschon sie 1961 in ihren Aufzeichnungen festhält, es genüge, sich anonym schöpferisch zu betätigen, öffentliche Anerkennung sei unwichtig.52 Sekula folgte zunächst in den Texten auf den Zeichnungen der 1940er-Jahre dem surrealistischen Prinzip der freien Assoziation. Auf den Gemälden der späten 1940er-Jahre finden sich manchmal Kurztexte, die sich wie Bildlegenden lesen lassen. Arbeiten, in denen sprachliche Elemente bildliche ersetzen, wie sie seit den 1940er-Jahren für Annemarie von Matt typisch sind, finden sich bei Sekula selten. Eine Ausnahme bilden die Streichholzmeditationen aus dem Spätwerk. Die beschrifteten, geschmückten, bezeichneten Zündholzschächtelchen von 1961 enthalten neben kleinen Objekten wie bemalten Steinchen und Zündhölzern auch beschriebene Zettel. »Ein 108

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Wunsch und meine Hoffnung waren«, notiert sie am 31. August 1962, »dass diese Arbeiten einmal reisen, dass etwas von mir in ihnen ›auf die Reise kann‹«. Annemarie von Matt und Sonja Sekula sind Doppelbegabungen. Als Autorinnen sind sie Meisterinnen der knappen Form. Beide schreiben schon als junge Frauen, treten aber zunächst als Malerinnen an die Öffentlichkeit. In dieser Frühzeit ist der Brief für beide ein wichtiges Medium, um sich literarisch zu äussern, und bleibt es zeitlebens. Der Liebesbrief steht bei beiden im Zentrum. Die Zeichnungen und Texte im Manina Blumen Buch (1951) von Sonja Sekula sind an ihre Freundin Manina Thoeren gerichtet. Annemarie von Matt schrieb für Josef Vital Kopp und Hans von Matt einige ihrer schönsten Texte. Das persönlich adressierte Werk wird bei ihr in den 1940er-Jahren zur Regel. Text und Bild gehen bei ihr vielfältige Verbindungen ein, bei denen unklar bleibt und vielleicht auch unerheblich ist, ob nun Schrift und Sprache in die malerische und plastische Gestaltung eingedrungen sind oder bildliche Elemente sprachliche ersetzen. Die meisten Werke bleiben in einem fragmentarischen, unvollendeten, vorläufigen Zustand. Davon ausgenommen sind die Reinschriften ihrer Briefe. In den späten Zetteln tritt die Sprache an die Stelle des Kunstwerks. Das Kunstwerk ist nun eine Möglichkeitsform: Als Losung, Anweisung, Feststellung wendet es sich an die Vorstellung. Es bedurfte der Konzeptkunst der 1960er-Jahre, um ihre in der Selbstisolierung entstandenen Arbeiten, die im Verständnis ihrer Zeit keine Kunstwerke waren, als solche wahrzunehmen. Während sich bei Annemarie von Matt in den 1940er-Jahren das Schreiben und das Malen zu einer einzigen Ausdrucksform verbinden, bleiben sie bei Sekula getrennte Disziplinen. Bild und Text können sich inhaltlich berühren, gehorchen aber doch weitgehend der eigenen Logik des jeweiligen Mediums.

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Robert Müllers La Trappe (1967–1970) in seinem Haus in Villiers-le-Bel, Februar 1990, Photo Dieter Leistner W ü r zbu rg.

Robert Müller (1920–2003) — La Trappe

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obert Müller hat mir 1995 in seinem Haus in Villiers-le-Bel in der Pariser Banlieue eine schöne Auswahl von Zeichnungen und Holzschnitten aus den vorausgegangenen 50 Jahren gezeigt. Ich habe auch eine Skulptur wiedergesehen, der ich zuvor schon einmal in einer Ausstellung begegnet war, allerdings in einer anderen Fassung. Die unter dem Titel La Trappe (Die Falle) (1967– 1970) bekannte Arbeit ist eine gedrungene Sockelskulptur aus fünf ineinandergesteckten Teilen. Sie ist die erste Skulptur einer in den späten 1960er-Jahren entstandenen Reihe mehrteiliger Werke, die Robert Müller jeweils in verschiedenen Materialien ausgeführt hat. Von La Trappe gibt es ausser der schon erwähnten Fassung in Eisen je eine in Bronze, Marmor und Holz. Diese schmale Gruppe mehrteiliger Werke hat die reine Eisenplastik, die Robert Müllers frühen Ruhm begründete, in seinem Schaffen abgelöst und sorgte 1971 bei ihrer Ausstellung in der Pariser Galerie de France, wie Dieter Bachmann berichtet, für Befremden und Ablehnung.01 La Trappe bezeichnet im Werk von Robert Müller eine Übergangszeit, denn nur wenig später wird das plastische Schaffen von Zeichnung und Holzschnitt fast völlig verdrängt. Da ich erst in jenem Jahrzehnt geboren wurde, in dem La Trappe entstanden ist, konnte ich die Kunst von Robert Müller erst viele Jahre nach jener für ihn wichtigen Neuorientierung kennenlernen. Als ich die Skulptur das erste Mal wahrnahm, stand sie in einer kleinen Ausstellung auf einem Sockel frei im Raum. In einem stillen Winkel, dicht an der Wand und auffallend tief, sah ich sie dagegen in jenem Zimmer in Robert und Miriam Müllers Haus, von dem Heiny Widmer einmal so schön gesagt hat, es erinnere ihn an »den Salon eines französischen Landnotars, 111

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der, alter Familie entstammend, aus Pietät die Möblierung aus dem 17. Jahrhundert hat stehen lassen« – um sogleich anzufügen, der Eindruck sei falsch: »Müller hat die Möbel zum Teil selbst gefertigt, die andern so platziert, dass ein äusserst intensives Gefühl des schon Bekannten, sich mit dem unmittelbaren Erlebnis voller Gegenwart mischt und einem das Gefühl des Nachhausekommens vermittelt.«02 Durch die vom Künstler gewählte Präsentationsform muss die Skulptur entweder von vorne oder von oben betrachtet werden: Frontal, nie aber als freistehendes Volumen im Raum, ist sie bislang auch immer abgebildet worden. Wie alles in Robert Müllers Welt hat das Werk in seinem Haus einen festen Platz, und gewiss darf ich voraussetzen, dass er die Skulptur seinen Besuchern so zeigt, wie er selbst sie wahrgenommen wissen möchte, nämlich als einen gegliederten, vorne aufgebrochenen Körper, den das Auge erkunden kann. Es sieht Umrisse, Wölbungen, Kanten und Schnittstellen der im Rahmenteil eng verschränkt inein­ anderliegenden Bauelemente. Diese evozieren eine von hinten drängende, nach vorne sich entfaltende Bewegung und dadurch die Vorstellung von menschlichen Gliedern und einem verborgenen Innenraum. In der Hinführung des Auges auf einen Innenraum liegt eine Gemeinsamkeit dieses Werkes von Robert Müller mit Skulpturen von Etienne-Martin (1913–1995), dem wenige Jahre älteren Bildhauer der Ecole de Paris. Auf die Frage, weshalb er sich für Skulptur interessiere, antwortete Etienne-Martin 1956, seine Arbeiten könne man anfassen und wie eine Hütte, eine Höhle oder eine Grabskulptur betreten.03 Die danach entstandenen Plastiken sind denn auch begehbar, in ihren Kammern kann man sich niederlassen. Dennoch, äusserte der Künstler 1963 gegenüber MarieThérèse Maugis, handele es sich um Skulptur, und, wenn man sie schon als Architektur bezeichnen wolle, dann aber als eine »des Herzens, der Empfindsamkeit, des Geistes«.04 112

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Man wollte in diesen Arbeiten das Haus seiner Kindheit sehen, Etienne-Martin selbst hat sie als »Ort einer lebendigen Sehnsucht« bezeichnet und ist in seinem Schaffen bis zuletzt immer wieder auf sie zurückgekommen.05 Robert Müllers La Trappe ist nicht begehbar, ihr Innenraum mithin auch nicht körperlich erfahrbar. Der Betrachter wird von ihr nicht umhüllt. Um das Innere zu sehen, müsste er die Skulptur zerlegen. Es ist das Auge, das sich in der Skulptur verliert, und es sind die ineinander verfangenen Glieder, durch die ihre Ansicht bestimmt wird. Die Skulptur ist – wie der Titel sagt – eine Falle. Für den Erkundungsgang des Auges macht es keinen Unterschied, ob es sich um die in Eisen ausgeführte Arbeit oder eine der drei anderen Fassungen handelt. Die unterschiedlichen Gewichte sind spürbar, die Schatten fallen einmal weicher und einmal härter, und es gibt einige offensichtliche, durch die verschiedenen Herstellungsverfahren bedingte Abweichungen zwischen den vier Fassungen. Auch wenn die Ausstrahlung der einzelnen Stücke verschieden sein mag: Was sie uns versprechen, bleibt sich gleich. Wie ich schon sagte, wurden meine zu Papier gebrachten Beobachtungen und Gedanken angeregt durch die Wiederbegegnung mit der Skulptur im Haus des Künstlers in Villiers-le-Bel. Die von Robert Müller vorgenommene Platzierung des Werkes hat viel zu dessen Auslegung beigetragen. Der Titel La Trappe lässt vermuten, dass sie sich mit der eigenen Deutung des Künstlers berührt. Allerdings haben wir uns dabei dem Werk genähert, als habe es nur diese eine Ansicht, gerade so, als sei die Skulptur ein Bild. Von vorne betrachtet, teilt sich jedoch die Tiefe der Skulptur nicht wirklich mit, erst von oben oder von der Seite wird man ihrer Dimensionen gewahr. Sichtbar wird nun auch, dass die aus vier Elementen zusammengesetzte Vorderansicht hinter sich ein schmaleres, schlankes Rückenstück verbirgt, das die nach vorne ausgreifende Skulptur hinten 113

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Robert Müller und seine Frau, die Goldschmiedin Miriam Müller in ihrem Haus in Villiers-le-Bel, Februar 1990, Photo Dieter Leistner W ü r zbu rg.

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abschliesst. Es stellt sich der Eindruck zweier eng aneinanderliegender Körper ein, wobei die anthropomorphen Züge der Skulptur noch stärker hervortreten: Links zeichnet sich ein auch von vorne wahrnehmbarer, hängender Arm ab, rechts ein angewinkelter. Wenn wir um die Skulptur herumgehen, taucht das Auge vorne in einen unerreichbaren Tiefenraum ein, seitlich dringt es in die Spalte zwischen den Torsi und wird schliesslich von hinten auf einen bergenden Rücken hingeführt. Deutlich sehen und erkennen wir nun, was die Betrachtung von vorne vermuten liess: Die Konfiguration einer Umarmung. Wer seiner Imagination vertraut, muss nicht um die Skulptur herumgehen, um sie zu sehen. Dadurch scheint sie sich von anderen zu unterscheiden. Tut der Betrachter es dennoch, wird ein Versprechen eingelöst – sein Begehren erlischt. Vielleicht ist La Trappe auch in diesem Sinne ein Falle.

Das Begräbnis von Patrick Ireland —

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m 20. M ai 2008, einem sonnigen und warmen Frühlingsabend, wird der irische Künstler Patrick Ireland im Beisein seiner Familie und zahlreicher Freunde aus aller Welt im Park des Irish Museum of Modern Art in Dublin zu Grabe getragen. Geboren wurde er in Dublin am 29. November 1972 als Alter ego von Brian O’Doherty. Der irisch-amerikanische Künstler hatte nach dem 30. Januar 1972 beschlossen, den Namen Patrick Ireland anzunehmen. An jenem Sonntag, der als »Bloody Sunday« in die irische Geschichte eingegangen ist, hatten britische Soldaten im nordirischen Derry während einer Demonstration unbewaffnete irische Zivilisten getötet, darunter 116

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Jugendliche. Aus Protest gegen die britische Nordirlandpolitik gab O’Doherty in einer feierlichen Zeremonie öffentlich und unter notarieller Aufsicht bekannt, er werde bis zur Wiederherstellung der Bürgerrechte und dem Abzug der britischen Truppen aus Nordirland seine bildnerischen Arbeiten mit »Patrick Ireland« signieren und nicht in Grossbritannien ausstellen. Patrick Ireland war also nicht nur ein Pseudonym, sondern ein »nom de guerre«. Die Beisetzung von Patrick Ireland in diesem Frühjahr, an der weder Vertreter der irischen noch der britischen Regierung teilnehmen, ist eine künstlerische Arbeit und bildet als solche den Abschluss jener Performance, die vor 36 Jahren unter dem Titel Name Change im Rahmen der »Irish Exhibition of Living Art« im Project Arts Centre in Dublin ihren Anfang nahm. Vermummt und weiss gekleidet unterzeichnete Brian O’Doherty damals zunächst eine Urkunde zur Namensänderung, wurde danach von Robert Ballagh und Brian King auf einer Bahre liegend zum Publikum getragen, wo der eine Träger den liegenden Körper vom Kopf ausgehend mit oranger Farbe und der zweite ihn vom Fussende her mit grüner Farbe bemalte. Es sind die Farben der irischen Flagge – Grün, Weiss, Orange – › die sich auf dem vor einem weissen Hintergrund ausgestreckten Körper vermischten. Seither wurde jede Ausstellung mit Werken von Brian O’Doherty unter dem Namen von Patrick Ireland angekündigt, und jedes Mal stand damit auch die offene Nordirlandfrage zur Diskussion. Das Begr äbnis Vor seiner Beisetzung ist Patrick Ireland in einer offenen Holzkiste drei Tage in den Gordon Lambert Galleries des Museums aufgebahrt. Wer vor den Sarg tritt, wird mit einem eingehüllten Körper konfrontiert, dessen Gesicht die Züge Brian O’Dohertys trägt. Ausgestellt sind auch Fotoko117

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pien aus einem biografischen Künstlerlexikon, das Ireland und O’Doherty mit beinahe identischen Lebensstationen verzeichnet, dazu einige wenige Relikte aus der Performance von 1972, insbesondere das bemalte Kleidungsstück, sowie die Dokumentation der Performance Name Change. Vor dem Sarg und im Hof des Old Royal Hospital, das seit 1991 als Kunstmuseum genutzt wird, versammelt sich am späten Nachmittag eine grosse und illustre Trauergemeinde. Nach langem Warten trifft Brian O’Doherty ein, und der Leichenzug setzt sich langsam in Bewegung, angeführt von Michael Rush, einem ehemaligen Jesuitenpriester. Hinter dem geschlossenen Sarg auf den Schultern junger Künstler geht der weiss gekleidete und wie schon 1972 mit einem Strumpf maskierte O’Doherty, geführt von seiner Frau und der Ausstellungskuratorin Christina Kennedy. Dahinter reihen sich Angehörige und Freunde erwartungsvoll wie Kinder in den Trauerzug ein. Am offenen Grab hören wir Texte von Anthony Cronin, Stéphane Mallarmé, Hans Belting, Federico García Lorca und Seán Ó Riordáin in der jeweiligen Originalsprache. Musiker sitzen auf rot gepolsterten Stühlen neben der ausgehobenen Erde. Alanna O’Kelly trägt traditionelle irische Totenklagen vor, deren Intensität die Beisetzung der Puppe während einiger Minuten zu einer ergreifenden Zeremonie machen. Brian O’Doherty wirft schliesslich eine Handvoll Erde in die Grube, zieht sich den Strumpf vom Kopf und dankt für den wiedergewonnenen Frieden in Irland. Fröhliche irische Musik wird angestimmt. Unter die Musiker mischen sich junge Männer und Frauen, die die Grube zuschütten. Wein wird ausgeschenkt. Die Grabplatte, die nun enthüllt wird, trägt in englischer und keltischer Sprache die für das Werk von O’Doherty bedeutsame Inschrift »ONE HERE NOW«. Am Abend folgt ein Festbankett zu Ehren des wiedergeborenen Brian O’Doherty, zu dem die in Irland lebenden Verwandten des Künstlers eingeladen haben. Nach 118

Das Begräbnis von Patrick Ireland am 20. Mai 2008 in Dublin, Photo Rom a n Ku r zmey er Ba sel.

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seinem Ableben, so hat es Brian O’Doherty bestimmt, soll das Grab Patrick Irelands geöffnet werden, um die zu Lebzeiten vom amerikanischen Künstler Charles Simonds genommene »Totenmaske« O’Dohertys, die bis dahin als jene von Patrick Ireland im Museumspark begraben sein wird, herauszunehmen und im Irish Museum of Modern Art in Dublin auszustellen. Künstler, Kunstkritiker, Schriftsteller Der 1928 in Irland geborene Brian O’Doherty lebt seit 1957 als Künstler, Kunstkritiker, Filmemacher und Schriftsteller in den Vereinigten Staaten. Er studiert zunächst in Dublin Medizin und gelangt mit einem Forschungsstipendium an die Harvard-Universität. Schon in seiner Studienzeit in Dublin malt und schreibt O’Doherty. Während er als Künstler seit 1972 unter dem Namen Patrick Ireland ausstellt, signiert er als Kunstkritiker und Schriftsteller weiterhin mit Brian O’Doherty. In den 1970er-Jahren ist er Herausgeber der Zeitschrift Art in America, lehrt bis in die 1990er-Jahre Film und Kunstkritik am Barnard College der Columbia University, New York, und veröffentlicht verschiedene Bücher zur amerikanischen Gegenwartskunst. 1967 erscheint Object and Idea: A New York Journal, 1961–67 mit seinen gesammelten Kunstkritiken, 1974 folgt American Masters: The Voice and the Myth. Neben kunsthistorischen Schriften veröffentlicht er auch belletristische Texte. 1992 erscheint The Strange Case of Mademoiselle P, 1999 der Roman The Deposition of Father McGreevy, der 2000 in die engere Wahl für den Booker Prize gelangt. Im deutschen Sprachraum ist O’Doherty durch sein Buch In der weissen Zelle (engl. Inside the White Cube: The Ideo­ logy of the Gallery Space, 1986) bekannt geworden. Es versammelt Essays zum »White Cube«, die zuerst 1976 in der Kunstzeitschrift Artforum erscheinen und die angebliche 120

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Neutralität des weissen Galerie- und Museumsraums kritisch diskutieren. Die Bedeutung des Buches liegt darin, dass es an Werkbeispielen der Moderne und nicht im Rückgriff auf ästhetische Theorien die gemeinsame Entwicklung von Kunst und Präsentationsform im 20. Jahrhundert darlegt. Mehr als irgendein einzelnes Gemälde sei das Bild eines weiss gestrichenen, leeren Raumes kennzeichnend für die Kunst des 20. Jahrhunderts, schreibt O’Doherty. Die ideale Galerie halte vom Kunstwerk alle Hinweise fern, die seine Existenz als Kunst relativieren könnten. »Die Geschichte der Moderne ist mit diesem Raum aufs Engste verknüpft. Das heisst, die Geschichte der modernen Kunst kann mit Veränderungen dieses Raumes und der Art und Weise, wie wir ihn wahrnehmen, in Wechselbeziehung treten. Wir sind nun an dem Punkt angelangt, an dem wir nicht zuerst die Kunst betrachten, sondern den Raum.« Zu diesem Raum gehört der Betrachter, dessen »Beitrag zu dem, was er sieht oder erfährt, die Signatur ist, die alles erst authentisch macht«. In der weissen Zelle ist aus der doppelten Perspektive des Künstlers und Ausstellungsbesuchers geschrieben. O’Doherty zeigt, dass die Geschichte der modernen Kunst weitgehend identisch ist mit jener ihrer Präsentation. Zahlreichen Studien zur Ausstellungsgeschichte, die in den vergangenen Jahren erschienen sind, wissenschaftliche Symposien, neu eingerichtete Studiengänge für Kuratoren an amerikanischen und nun vermehrt auch an europäischen Kunsthochschulen sowie Monografien über Kuratoren wie die 2007 gemeinsam von Tobia Bezzola und mir herausgegebene Publikation zu dem Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann (1933– 2005), die den Katalog sämtlicher seiner Ausstellungen enthält und seine Autorschaft an diesen Ausstellungen in einen autobiografischen und geschichtlichen Rahmen zu stellen versucht, tragen dieser Entwicklung Rechnung. In Brian O’Dohertys präzisen Beobachtungen, seinen brillant 121

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geschriebenen und klugen Kommentaren zur New Yorker Kunstszene der 1970er-Jahre hat sie einen Ausgangspunkt. In der weissen Zelle kann als früher Versuch gelesen werden, eine betrachterorientierte Ästhetik zu schreiben – was sicher zum anhaltenden Erfolg dieses Buches beigetragen hat – und diese zugleich einer Kritik zu unterziehen. Geschichte des Künstler ateliers Studio and Cube: On the relationship between where art is made and where art is displayed (2007), der zuletzt erschienene Essay von O’Doherty, bezieht sich nicht nur im Titel auf jenen frühen Klassiker, sondern ergänzt die damals angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Werk und Ausstellungsraum durch Beobachtungen, die den Arbeitsplatz des Künstlers betreffen, das Atelier. O’Doherty zeigt, wie das Atelier im Verlauf der Geschichte sein Aussehen und seine Ausstattung verändert hat, im 19. Jahrhundert zu einem wichtigen Motiv der künstlerischen Selbstreflexion und seit Duchamp selbst bisweilen als Kunstwerk angesehen wird: 1964 transportiert Lucas Samaras den Inhalt seines Wohnateliers von New Jersey in die Green Gallery in New York, um es dort für eine Ausstellung aufzubauen. Das Ambiente, in dem der Künstler lebt und arbeitet, ist nun an einem Ort zu besichtigen, wo Kunst ausgestellt und verkauft wird. O’Doherty erzählt weiter, wie der Maler Lowell Nesbitt, ebenfalls in den 1960er-Jahren, mit einem Fotografen die Studios von New Yorker Künstlerfreunden besucht, um dann nach den dabei entstandenen Fotografien Bilder zu malen, welche Situationen aus diesen Ateliers dokumentieren. O’Doherty erwähnt Yuri Schwebler, der bemalte Leinwandstücke aus dem Atelier von Sam Gilliam als eigene Arbeiten ausstellt. Er diskutiert die Bedeutung des Ateliers für die Pop-Art, insbesondere für Andy Warhol und Robert Rauschenberg. Das 122

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»Studio« entbehrt die Intimität und Kargheit, welche seit der Romantik und vor allem im frühen 20. Jahrhundert charakteristische Eigenschaften des Künstlerateliers sind und dem Bild vom Künstler als einsamem, elitären, am Rande der Gesellschaft lebenden Wegbereiter des Neuen oder auch seinem Image als Bohemien entsprechen. In New York heisst das Studio nun »Factory« und ist ein öffentlicher, bald sogar legendärer Ort. Andy Warhol verkehrt die lange Zeit als Privileg verstandene Einladung zum Atelierbesuch ins Gegenteil, indem er als Künstler und Person selbst in den Hintergrund tritt, das Studio aber als medienwirksamen Lebensort in stets wechselnder Besetzung inszeniert und aus der Distanz beobachtet. In seinem Essay erinnert O’Doherty weiterhin daran, dass sich im 20. Jahrhundert eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Kunstwerk zum Künstler und dessen kreativen Prozessen vollzogen hat. Es ist daher nur folgerichtig, dass das Atelier die Stelle des Kunstwerks oder sogar jene des Künstlers einnehmen kann. In den von Piet Mondrian und Constantin Brancusi nach künstlerischen Grundsätzen sorgfältig eingerichteten und wie künstlerische Werke komponierten Ateliers sieht O’Doherty die Prototypen des »White Cube«. Es ist kein neuer Blick auf die Kunst seiner Epoche, die dieser Essay entwirft, sondern der Versuch, das Atelier in den Zusammenhang von Kunst- und Ausstellungsgeschichte zu stellen. Mit Studio and Cube korrigiert O’Doherty die dezidiert betrachterorientierte, rezeptionsästhetische Darstellung von Inside the White Cube und führt den Leser zurück zum Künstler. Maskierungen Brian O’Doherty lebt seit den 1960er-Jahren mit seiner Frau, der Kunsthistorikerin Barbara Novak, in New York City, einige Schritte vom Central Park entfernt, in einem 123

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1905 erbauten Wohnatelier. 2007 beendete er einen weiteren, 2014 unter dem Titel The Crossdresser’s Secret erschienenen Roman, nun widmet er sich wieder vermehrt der Malerei. Ein Pionier der Konzeptkunst an der Staffelei? Mit den Künstlern seiner Generation teilt O’Doherty die Auffassung, dass die Überprüfung der künstlerischen Mittel und Möglichkeiten die »Überprüfung des sozialen und ökonomischen Kontextes von Kunst« nach sich ziehen müsse. In dem 1986 verfassten Nachwort zu seiner Schrift In der weissen Zelle stellt der Autor selbstkritisch fest – und wer könnte ihm heute widersprechen? –, dass das kommerzielle Kunstsystem aus dieser Überprüfung in Form der Vervielfältigung der Stile oder zuvor durch die Kritik der Konzeptkunst am Warencharakter der zeitgenössischen Kunst nicht nur unbeschadet, sondern sogar gestärkt hervorgegangen ist, und zwar um den Preis der »Verdinglichung von Originalität«. Die Erfindung von Patrick Ireland ist nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt zu sehen, denn es bleibt offen, ob er ein Künstler, ein Kunstwerk oder lediglich eine Signatur ist. Auf jeden Fall ist Ireland eine von verschiedenen Maskierungen oder Identitäten Brian O’Dohertys, neben welcher der Künstler bislang ausserdem Mary Josephson, Sigmund Bode und William Maginn bekannt gemacht hat. Mary Josephson etwa ist eine Kunstkritikerin, deren Artikel in Art in America erschienen, als O’Doherty Herausgeber der Zeitschrift war. Der junge O’Doherty liess Sigmund Bode Zeichnungen und Gemälde signieren und über sprachphilosophische Fragen schreiben. William Maginn ist ein bekannter irischer Intellektueller des 19. Jahrhunderts, der auch unter dem Namen »Morgan O’Doherty« publiziert, ein Spieler und Trinker, der trotz seiner Genialität in Armut stirbt. Maskierungen ermöglichen ein komplexes Rollenverständnis, weil sie die Person des Künstlers ins Spiel einbeziehen und das Werk so vor einer allzu geradlinigen und biogra124

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fisch ausgerichteten Rezeption schützen. Vielleicht verwendet O’Doherty selbst seinen eigenen Namen als Maskierung – dies jedenfalls legt das fotografische Selbstbildnis Five Identities (2002) nahe, das neben Maginn, Ireland, Josephson und Bode auch O’Doherty zeigt. Wenn Brian O’Doherty mit Studio and Cube zum Künstler zurückkehrt, so ist damit nicht der Künstler als Individuum gemeint, sondern der Künstler als Autor. Es scheint an der Zeit, die produktionsästhetischen Bedingungen, unter denen Kunst heute entsteht, wieder stärker zu thematisieren.

Sichtbarer Rhythmus — Marcel Duchamp, Brian O’Doherty, Niele Toroni

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achdem der Komponist und Künstler John Cage (1912–1992) in einem schalltoten Raum seinen Herzschlag und das in seinem Körper zirkulierende Blut gehört hatte, schrieb er die Partitur für sein Stück 4′33″, das am 29. August 1952 in Woodstock, New York, uraufgeführt wurde. Die Erfahrung, dass er sich in einer schalldichten Umgebung als lebender Organismus selbst hören konnte und Stille somit unmöglich ist, bezeichnete Cage als Wendepunkt in seinem Schaffen.01 Bei dem erwähnten Werk, in dem kein einziger Ton gespielt wird, erzeugt ein Pianist über 4 Minuten und 33 Sekunden Stille, damit das Publikum im Konzertsaal die Aufmerksamkeit auf sich selbst und die Umgebungsgeräusche richte. Mit Robert Kudielka zu sprechen, hat »Cage dieses offene, ungerichtete, vielfach geschichtete, aber nicht hierarchisch geordnete Feld von Wahrnehmungen in dreierlei Hinsicht propagiert: als Kritik an den bestehenden ästhetischen und sozialen Konventionen, als befreiende, die Sinne für den Reichtum des Lebens öffnende Erfahrung und als Utopie eines an125

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archisch, individuell fundierten Zusammenlebens«. Um den Preis allerdings des »konzertanten Mit- und Gegeneinanders«, das bis zu diesem Zeitpunkt in der abendländischen Musik dominant war.02 In der Malerei der Moderne tritt Rhythmus als Thema meist in Verbindung mit Musik auf: Ein hörbarer Rhythmus wird in einen sichtbaren Rhythmus übersetzt. Künstler wie Kandinsky, Mondrian oder Klee suchten für akustische Erfahrungen visuelle Entsprechungen. Man spricht sogar von optischer Musik. Paul Klee (1879–1940) hat in diesem Sinne über Rhythmus nachgedacht und am Bauhaus auch Fragen des Rhythmus in seinen Unterricht einbezogen.03 Schon er gab aber zu bedenken, dass Rhythmus mit verschiedenen Sinnesorganen wahrnehmbar sei.04 Im Zentrum der weiteren Überlegungen zum sichtbaren Rhythmus stehen nicht diese vielfältigen Beziehungen der Kunst zum Musikalischen, sondern ein anderer, aber damit zusammenhängender Aspekt: nämlich die Beobachtung, dass Künstler Rhythmus im Zeichen des erweiterten Kunstbegriffs mit sich selbst in Verbindung bringen und auf ihren Körper beziehen. I Der Bedeutung von Cage für die Erneuerung der Musik nach 1945 entspricht in der Kunst jene von Marcel Duchamp (1887–1968), dessen Kunstwerkbegriff allerdings erst mit langer Verzögerung, ungefähr zeitgleich mit demjenigen des viel jüngeren Cage und ebenfalls zunächst in New York Wirkung entfaltete.05 Wie viele weitere Künstler der frühen Moderne war auch Duchamp an Bewegung und Zeit interessiert. 1912 malte er ein Bild, das im folgenden Jahr im Zusammenhang mit der »Armory Show« in New York kurz im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen sollte, zuvor in Paris aber von der Jury des Salon des Indépendants abgelehnt worden war. Die Rede ist von Nu 126

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Descendant un Escalier, No. 2, einem aus Sicht der europäischen Avantgarde und vor allem im Vergleich zu Duchamps Idee von Kunst als Readymade formalästhetisch nicht besonders originellen Gemälde, das sich dem Interesse des Künstlers an der Fotografie und am Film verdankt. In den Farben des Kubismus gemalt, zeigt es rhythmische, stilistisch am Futurismus orientierte Bewegungsmomente einer die Treppe herabsteigenden, mechanisch aufgefassten Figur. Die unverstellte Bezugnahme auf die Zeitlupenfotografie hat der französische Kulturanthropologe Claude Lévi-Strauss dem Werk als Schwäche ausgelegt. Auf einen Blick werde deutlich, dass der Künstler sich bemüht habe, »den Abstand zwischen der Welt und der Weise, sie darzustellen, zu überspringen«.06 Lévi-Strauss kommt eher beiläufig auf Duchamp zu sprechen, in einem seiner späten Texte, der sich mit dem Realismus in der Geschichte der Kunst und der Frage nach den Bedingungen für Beständigkeit von Kunst befasst. Schon Duchamp selbst wurde noch viele Jahrzehnte nach der Entstehung des Aktbildes, nachdem eine wesentlich jüngere Generation, die sich einem streng konzeptuellen Werkbegriff verschrieben hatte, ihn als Vordenker entdeckt hatte, diesbezüglich in New York von einem Künstlerfreund auf die Probe gestellt: Am 4. April 1966 bat ihn der Künstler und Kunstkritiker Brian O’Doherty während einer von ihm und seiner Frau Barbara Novak ausgerichteten Abendeinladung darum, seine Herzfrequenz aufzeichnen zu dürfen.07 Duchamp stimmte zu, folgte O’Doherty in dessen Schlafzimmer, zog Schuhe und Hemd aus, legte sich aufs Bett und liess ihn das Elektrokardiogramm (EKG) anfertigen. O’Doherty hatte die Absicht, ein Porträt des Freundes zu schaffen, das Duchamp, den Autor von »sterblichen Werken«, wie er selbst gerne behauptete, über den Tod hinaus in einem Kunstwerk als Simulakrum am Leben erhalten würde. O’Doherty animierte die aufgezeichnete Herzaktivtität mit einfachsten techni127

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schen Mitteln zu einer bewegten Schlangenlinie. Wenige Wochen später begegneten sich Duchamp und Novak zufällig auf der Strasse, und der Künstler erkundigte sich sofort nach dem Befinden seines ›Alter Ego‹.08 Marcel Duchamp starb 1968 an Herzversagen. O’Dohertys Portrait of Marcel Duchamp (1966) ist ein überraschender Beitrag zu der seit der Gründung der ersten Kunstmuseen und bis heute unablässig geführten Debatte, in der das Museum, wie Hans Belting darlegt, von der Künstlerschaft verschiedentlich spöttisch als Mausoleum der Kunst bezeichnet wurde.09 Überraschend deshalb, weil O’Doherty die Aufmerksamkeit vom Werk selbst auf die Verbindung von Werk und Künstler lenkte. II Rhythmus ist Puls, Atmung, Evokation von Leben. In den erwähnten Beispielen steht Rhythmus in Berührung mit dem menschlichen Leben, dem Körper oder sogar der Schöpfung selbst. Rhythmus wird hörbar, sichtbar und fühlbar. Vor allem aber wird darin eine Entsprechung zu Prozessen des Lebens fassbar, die auch in der neueren, nicht eben umfangreichen theoretischen Auseinandersetzung mit dem Rhythmus in der Kunst reflektiert wird. »Kunst baut sich aus rhythmischen Grundmomenten auf«, konstatiert Hanno Helbling, »und je unverstellter sie diese leib-geistige Herkunft dem Betrachter zeigen kann, umso stärker und einfacher wirkt sie auf ihn.«10 Nicht zufällig wird Rhythmus mit der Entgrenzung des Kunstwerkbegriffs ein Gestaltungs- und Ausdrucksmittel eigenen Rechts. Felicitas Thun-Hohenstein hat dargelegt, wie mit der performativen Wende in den 1960er-Jahren in der Kunst das Spannungsverhältnis zwischen Ort und Raum Bedeutung erlangte. Prägend ist nun ein prozessuales Verständnis von Raum: In diesem verbinden sich »Sprache, Medium, Gestus, Kör128

Brian O’Doherty während seines Vortrags »Duchamp’s Heart and my Many Selves« am 18. April 2012 im Institut Kunst in Basel, Photo Chr isti a n K nör r Ba sel.

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per, Bewegung, Visualität zu diskursiven Topografien, die vor allem durch ihre handlungsmobilisierende Charakteristik emanzipatorische Perspektiven entwerfen«.11 Ritual, Prozess, Aktion, Performance, soziale und politische Handlung und Installation treten neben das statische Bild und die Skulptur. Heute stellen performative Momente und die damit verbundene Form der Rhythmisierung in der zeitgenössischen Kunst beinahe die Regel dar. Duchamp sprach von seinem Readymade Roue de bicyclette (1913/1964) wie von einem Gebrauchsgegenstand, einer Maschine, denn das umgedreht auf einem weiss bemalten Küchenschemel montierte Fahrradrad lässt sich bewegen.12 Es kann in Drehung versetzt werden, ohne dass damit eine Funktion verbunden wäre. In einem Gespräch mit Jeanne Siegel sagte der Künstler 1967, ihn habe damals, als das Readymade in seinem Atelier stand, die Selbstbezüglichkeit der Drehung interessiert, die keinen anderen Zweck erfülle als diese zyklische Bewegung.13 Er verglich diese Bewegung mit einem Kaminfeuer. Es brennt, um Leben in einen Raum zu bringen, nicht um die Bewohner zu wärmen. Das Original der heute in Ausstellungen zu sehenden, von Duchamp in Auftrag gegebenen Repliken von 1964 befand sich in seinem Atelier in New York. Doch das Rad steht still, seit das Readymade als Werk ausgestellt wird und nicht mehr berührt werden darf. Ein weiteres Beispiel personifizierter Technik stammt von Ad Reinhardt (1913–1967). Der Künstler führte 1958 im Artists’ Club in New York ein Non-Happening auf. 2000 auf seinen Reisen entstandene Aufnahmen von Werken der Kunst und Architektur aus seiner angeblich über 10 000 Bilder umfassenden Sammlung wurden in einer Diashow gezeigt. Die Bilder hatte der Künstler nach formalen Gesichtspunkten geordnet und führte sie wie einen Film vor: Fünf Sekunden Projektionszeit gestand Ad Reinhardt, der den Projektor von Hand betätigte, jedem einzelnen Bild 130

Die Malwerkzeuge von Niele Toroni, 2009, Photo Rom a n Ku r zmey er Ba sel.

Niele Toroni beim Malen seiner Wandarbeit für die Ausstellung Boden und Wand / Wand und Fenster / Zeit, Helmhaus Zürich, 2009, Photo Rom a n Ku r zmey er Ba sel.

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zu. Diese Reise durch Zeit und Raum war, wie Amy Knight Powell hervorhebt, seine eigene Schöpfung: Kunst, nicht Leben.14 Die Bilder der Kunst folgen einem eigenen Rhythmus durch die Geschichte, den Reinhardt als ewige Wiederholung und ständigen Prozess der Animation beschrieb: »Creation, destruction, creation, eternal repetition.«15 Von hier aus könnte man Kapitel um Kapitel öffnen, von der Thematisierung des bildnerischen Prozesses und der Arbeit am unzentrierten Bildfeld (»all over«) – vor allem seit Jackson Pollock – über Allan Kaprow, Lucio Fontana und Yves Klein, um nur einige wenige performativ arbeitende Künstler der ersten Nachkriegsjahre zu nennen; bis hin zu Werkformen, die das Leben selbst ausstellen. Schon 1969 zeigte Jannis Kounellis in Rom eine Ausstellung, die dies auf unvergessliche Weise tat: In dieser Schau standen zwölf Pferde auf dem blanken Galerieboden. Der Boden wurde rein gehalten, es gab nichts, was an einen Stall erinnerte. Man war mit der Energie dieser Lebewesen, ihrem Geruch, ihrer Symbolik und ihren Bewegungen konfrontiert. Mit John Cage und Marcel Duchamp habe ich zwei Künstlerfiguren an den Beginn dieser Überlegungen gestellt, die mit ihrem Werk unübersehbare Impulse zum Verständnis von Kunst als einer Form intermedialen Ausdrucks gegeben haben. Sie führen in recht unübersichtliches, doch für die Kunst vor allem des späten 20. Jahrhunderts typisches ästhetisches Gelände.16 Zwar spielt die an das Kreatürliche gebundene Form von Rhythmus in den bildenden Künsten nicht erst seit der performativen Wende eine bedeutende Rolle, doch mit der seither zu beobachtenden Zunahme an Ausdrucksformen wird die Frage immer drängender, welche Rückwirkungen auf das statische Bild diese Entwicklungslogik haben könnte? Das führt uns zurück zu der Frage des Realismus und zu Lévi-Strauss. Dieser versteht unter Rhythmus – in Anlehnung an die Studien des französischen Linguisten Emile Benveniste – die »charak133

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teristische Anordnung der Teile in einem Ganzen«.17 Die Feststellung von Rhythmus in einem Kunstwerk alleine erlaubt allerdings noch keine Aussage über dessen Eigenart, Qualität oder Bedeutung. »Das Problem liegt also nicht darin, herauszufinden«, so Lévi-Strauss, »ob es Regel­ mäßigkeit, Rhythmus und Symmetrie gibt, sondern warum der Künstler diese oder jene Konstellation von Regelmäßigkeit, Rhythmus und Symmetrie dieser oder jener anderen vorgezogen hat. Die Präsenz eines dekorativen Rhythmus wirft ein Problem auf, dessen Lösung man jenseits davon suchen muss.« Selbst wenn sich ein »dekorativer Rhythmus« der Nachahmung verdankt, sollte man nicht ausschliessen, dass der eigentliche Impuls für den Entscheid, einen Rhythmus künstlerisch auszuführen, emotionaler Natur ist. Dieser letzte Punkt ist es, der uns nun in diesem kleinen Versuch über den Rhythmus zum Schluss und mit offenem Ende noch weiter beschäftigen wird. III Rhythmus kann Gegenwart herstellen sowie, was nicht dasselbe ist, Gegenwart als beständigen Fluss veranschaulichen. Hans Richter (1888–1976) gelang dies in seinen Experimentalfilmen aus den 1920er-Jahren. Er hatte zuvor mit Viking Eggeling an abstrakten Rollbildern gearbeitet, die sie in Film übersetzen wollten. Zunächst versuchte Richter, einzelne Zeichnungen geometrischer Formen durch Abfilmen zu animieren und so in das Medium Film zu übertragen. Diese Experimente scheiterten, und Richter erkannte schnell, dass er die Medialität des technischen Trägers berücksichtigen musste, um abstrakte Filme realisieren zu können. Er arbeitete nun mit dem Material des Films: Licht. An die Stelle der beabsichtigten »Orchestrierung der Formen« trat eine »Orchestrierung der Zeit«.18 In seiner Autobiografie kommt der mit Duchamp befreun134

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dete, seit 1940 ebenfalls im New Yorker Exil lebende Hans Richter auch auf seine Filme zu sprechen und zitiert eigene methodische Überlegungen zum abstrakten Film. In einem 1923 erschienenen, in Berlin verfassten Text bezeichnet er den Film Rhythm 21 (1921) als »Demonstration« und unterstreicht damit dessen Modellcharakter: »Die auftretenden Formen sind weder Analogien noch Symbole, noch Schönheitsmittel. Der Film vermittelt in seinem Ablauf (Vorführung) ganz eigentlich die Spannungs- und Kontrastverhältnisse des Lichts.«19 Duchamp wurde von Lévi-Strauss für seine Methode der Aneignung von Wirklichkeit kritisiert in der Annahme, dass jede Kunst eine Form von stilistischer Dauer anstrebe. Aber traf dies überhaupt im 20. Jahrhundert für alle künstlerischen Ausdrucksformen zu? Und welche Art von Beständigkeit wäre denn gemeint? Duchamp schenkte seiner frühen Aktdarstellung mit dem ihm eigenen Humor ein Nachleben, indem er die Figur 1952, nun selber eine Treppe herabsteigend, nachstellte. Fotografiert wurde er von Eliot Elisofon. Mit Sigmund Freud könnte man bei dieser Bilderfolge auch an Gradiva denken, eine schreitende junge Frau auf einem antiken Marmorrelief aus den Vatikanischen Museen, die als Abguss im Wiener Arbeitszimmer des Psychoanalytikers hing und die ihn wegen ihres leichten, eleganten, gleichsam schwebenden Gangs faszinierte.20 Doch mit Gradiva wäre auch, wie Georges Didi-Huberman betont, Ninfa anwesend, Leitmotiv des bewegten Körpers im Denken von Aby Warburg, und mit ihr all die Bilder, die als Energien wie Gespenster durch die Geschichte wandern. Die Wiederkehr, das Nachleben, das Überleben von Bildern, ihr Anachronismus und somit ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte waren das grosse Thema Warburgs. Heute, in unserer stark auf die Erfahrung von Momentaneität ausgerichteten Gegenwart, gibt man sich kaum Rechenschaft darüber, dass damit kulturell 135

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zweifellos auch Instabilität, Partikularität und Vergänglichkeit verbunden sind. Die Moderne aber hat unterschiedliche Gesichter. Diese sind keine Masken, die eine wahre Erscheinung verbergen, sondern eigenständige Ausdrucksformen ein und derselben Epoche. Es gibt in der Moderne nicht nur den Wunsch, Begrenzungen zu überwinden, sondern auch die Tendenz, den Körper zu disziplinieren und rein rationalen gestalterischen Verfahren zu vertrauen.21 Der Künstler Camille Graeser (1892–1980), mit Max Bill, Richard Paul Lohse und Verena Loewensberg Vertreter der ersten Generation der Zürcher Konkreten, fühlte sich dieser Moderne zugehörig. »Konkret heisst bauen, konstruieren und entwickeln von Rhythmen auf geometrischer Grundlage«, schreibt er 1944.22 Im Spätwerk entwarf er mit seinen Dis- und Translokationen Bilder, die das Verhältnis von Figur und Grund dynamisieren und neu bestimmen. Es handelt sich um Bilder, in denen ein Quadrat aus dem hierarchisch-linearen Verbund herausgelöst und um 45 Grad gedreht oder an eine andere Stelle in der Komposition verschoben wird. »Mit diesen Dis- und Translokationen gelingt Graeser etwas«, so Jeannot Simmen, »das die Maximen konkreter Kunst zugleich erfüllt und sprengt. Nicht natürliche Analogien entstehen, sondern Verhältnisse von Schwerelosigkeiten, die mit den irdischen Naturgesetzen souverän spielen. Sie scheinen ihnen zu unterliegen und triumphieren doch über sie, denn das freigestellte Quadrat ist nichts Physisches, sondern eine ideale Setzung des Künstlers.«23 Graeser bringt innerhalb der Gesetzmässigkeiten der konkreten Kunst eine existenzielle Dimension (Schweben/Fallen) ins Spiel. Der Modernismus war an den Strukturen selbst interessiert und von der Utopie getragen, einen Beitrag zu einer universellen Sprache zu leisten. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ebenfalls die Malerei von Niele Toroni, 136

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deren unbestrittene Sachlichkeit eine emotionale Begründung des Malvorgangs doch nicht ausschliesst. Seit 1966 malt Toroni nach der immer gleichen Methode: Er setzt Abdrücke des Pinsels Nr. 50 stets im Abstand von 30 cm auf unterschiedliche Bildträger und verwendet dazu ungemischte, wasserlösliche Industrie-Acrylfarben. Die Abdrücke sind nicht mittels einer Malbewegung erzeugt, sondern durch das exakte Auflegen beider Seiten des flachen Pinsels auf den Malgrund. Der Pinsel wird nicht als Malwerkzeug benutzt, sondern das Werkzeug bildet sich selbst ab. Bis heute plädiert Toroni für eine in Hinblick auf ihre Struktur und Methodik zeitgenössische Malerei und kritisiert, dass die meiste neue Kunst im Werkbegriff konventionell sei und nur Inhalte aktualisiere. In seinem Werk existiert keine autobiografische Dimension, die dargestellt wäre. Toroni folgt einer konzeptuellen Methodik: Die Arbeit – so der Begriff, den der Künstler selbst für seine Malerei verwendet – erzählt nichts, sondern zeigt stets nur sich selbst, wodurch Struktur, Farbe und Prozess sichtbar werden. Konsequent ist, dass er seine Werke nicht signiert und keine Zertifikate ausstellt. Signatur und Datierung wären eine Autorisierung, die das Subjekt des Künstlers über das Werk stellen würde. Toroni folgt den eigenen methodischen Vorgaben unbeirrt, allerdings von Anfang an mit einer entscheidenden Ausnahme, die es ihm ermöglicht hat, in ein dialektisches, kritisches Verhältnis zu ihr zu treten: Diese Ausnahme betrifft die Ausführung der Malerei. Jede Arbeit ist von ihm selbst gemalt. Er lässt nicht nachfrageorientiert produzieren, sondern versteht Malerei als einen Prozess, der durch sein Selbst ausgelöst werden soll. An den Gemälden ist die am Lebensrhythmus des Künstlers orientierte Verfertigung nicht ablesbar.

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Deutscher Terrorismus, amerikanische Öffentlichkeit — Joseph Beuys, Gerhard Richter, Andy Warhol

D

ie Arbeit Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Dokumenta V (1972) hat einen hohen Stellenwert im Schaffen von Joseph Beuys, entstanden aber ist das Werk eher beiläufig, und an seiner Entstehung beteiligt waren, wie Klaus Staeck berichtet, mehrere Personen.01 Eine von ihnen war Thomas Peiter, den Beuys während der documenta 5 kennenlernte. Beuys war auf ihn aufmerksam geworden, weil Peiter bei der Pressekonferenz zur Eröffnung der Ausstellung das Wort ergriffen hatte und im Namen von Albrecht Dürer eine Rede hielt, die vom Publikum mit viel Beifall aufgenommen wurde. Zwischen ihm und Beuys, »der zusammen mit seinem Mitarbeiter Karl Fastabend die 100 Tage in seinem Büro für direkte Demokratie im Museum Fridericianum agierte, entwickelte sich bald eine freundschaftliche Beziehung. Zumal beide davon überzeugt waren, dass Kunst und Leben zusammengehören. Von einer dieser Begegnungen ist der Beuys-Satz überliefert: »Dürer, ich führe Baader-Meinhof über die Dokumenta V, dann sind sie resozialisiert!«« Peiter änderte den Wortlaut in »Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Dokumenta V«, malte die Worte auf zwei gelb grundierte Hartfaserplatten, signierte mit »J. Beuys« und verwendete die Tafeln in der Ausstellung als Transparente. Später wurden sie bei Beuys abgestellt, der sie nach Ausstellungsende Klaus Staeck übergab, mit einigen Anweisungen zu deren Ergänzung und Umwandlung in ein künstlerisches Objekt. Für Staeck ist offenkundig, dass aus diesem Werk keine »Sympathie für den Terrorismus« abgeleitet werden könne. Beuys habe die Provokation gesucht, um »auf diese Weise darauf aufmerksam zu machen, dass er bei allen Tätern eine fehlgeleitete Energie am Werke sah, die es galt, für die Gesellschaft wieder nutzbar zu 138

jos e ph Beu y s, ge r h a r d R ic h t e r, a n dy Wa r hol

machen«. Eine Auslegung, der Beuys kaum widersprochen hätte. Als ihn Annelie Pohlen im Jahr nach dem Tod von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe im Stuttgarter Gefängnis Stammheim am 18. Oktober 1977 mit dem von der Kritik vorgebrachten Vorwurf »bürgerlichen Denkens« konfrontierte, erklärte Beuys nicht nur seine Vorbehalte gegenüber dem Marxismus, sondern kam auch auf seinen »Freiheitsbegriff« zu sprechen, den er als »positiven Anarchiebegriff« auffasse, und führte dazu aus: »Selbstverständlich sind soziale Verhältnisse im Wirtschaftsbereich wichtig und demokratische Rechtsbezüge richtig. Aber wie sollen sie in Gang kommen ohne Freiheitsbegriff. Der aber ist in Wahrheit anarchistisch, also freiheitlich revolutionär, nicht im Sinne des Terrorismus, sondern im Sinne der Lösung der humanen Grundfragen der Gesellschaft.«02 Im folgenden Jahr, 1979, zeigte Beuys seine Werke im Guggenheim-Museum in New York, Zeichen der internationalen Anerkennung und für einen Deutschen eine grosse Ehre. In der Zeitschrift Artforum, New York, erschien aus diesem Anlass eine ebenso brillante wie akkurate Besprechung von Benjamin H. D. Buchloh, die auf beiden Seiten des Atlantiks gelesen und diskutiert wurde.03 Buchloh, der dann 1989 auch zu der im Jahr zuvor entstandenen Werkgruppe 18. Oktober 1977 von Gerhard Richter einen exemplarischen Beitrag vorlegen sollte, kritisierte damals an Beuys die »bewusste Verwechslung von Kunst und Leben« und – für unseren Zusammenhang aufschlussreich – insbesondere dessen »Vorstellung, dass das Politische ins Ästhetische verwandelt werden könne«.04 Im Raum stand damit die Frage, ob in Europa nach Faschismus (Ästhetisierung der Politik) und Sozialismus (Politisierung der Ästhetik) überhaupt noch eine künstlerische Annäherung an gesellschaftspolitische Themen möglich sei.05 Gerhard Richters Werkgruppe 18. Oktober 1977 umfasst 15 Gemälde aus dem Jahr 1988, Öl auf Leinwand, im Ein139

Deu t sc h e r T e r ror i s m us, a m e r i k a n i sc h e Öf f e n t l ic h k e i t

zelnen dreimal den Kopf der toten Ulrike Meinhof in unterschiedlicher Grösse (Tote), die erhängte Gudrun Ensslin in der Zelle (Erhängte), zweimal den liegenden toten Andreas Baader (Erschossener), ein Zimmer mit einer Bücherwand im Hintergrund (Zelle), dreimal Gudrun Ensslin stehend (Gegenüberstellung), ein Mädchenbildnis der Meinhof (Jugendbildnis), einen Plattenspieler in Aufsicht (Plattenspieler), eine grosse Beerdigung (Beerdigung) sowie zweimal die Verhaftung Meinhofs (Festnahme). Als Vorlagen für die Gemälde dienten Fotografien. Alle Bilder sind von einer grauen, dumpfen Farbigkeit, die Figuren unscharf, verwischt. »Ihre Präsenz ist«, sagt Richter, »das Grauen und die schwer erträgliche Verweigerung einer Antwort, einer Erklärung und Meinung.«06 Im Juni 1995 teilte das Museum of Modern Art, New York, mit, es habe den gesamten Zyklus vom Künstler erworben und beabsichtige, nach Ablauf des noch von Richter mit dem Museum Moderner Kunst in Frankfurt am Main abgeschlossenen Leihvertrages im Jahr 2000, das Werk aus Deutschland abzuziehen. Eine Ankündigung, die in den amerikanischen Medien kontrovers diskutiert wurde: Die New York Times berichtete am 16. Juni 1995 in einem Artikel über Neuerwerbungen des Museums of Modern Art über den Ankauf.07 Es handele sich nicht nur um eine im Werk Gerhard Richters besonders wichtige Gruppe von Gemälden, schreibt Carol Vogel, der Ankauf sei auch im Zusammenhang mit der erklärten Absicht des Museums zu sehen, die Abteilung europäischer Nachkriegskunst zu stärken. Die Gemälde seien in einer der bekannten Techniken Richters gemalt: unscharf, als ob sich die Bilder langsam bewegten, Ausdruck der ambivalenten politischen Gefühle des Malers und der unbeantworteten Fragen im Zusammenhang mit dem Tod der Baader-Meinhof-Gruppe. Denn, so berichtet die New York Times, ob es sich um Selbstmord oder Mord handelte, sei nie zweifelsfrei geklärt worden. 140

jos e ph Beu y s, ge r h a r d R ic h t e r, a n dy Wa r hol

Am 3. Juli 1995 wurde das Thema von Hilton Kramer unter dem Titel »MoMa Helps Martyrdom Of German Terrorists« im New York Observer aufgegriffen und der Ankauf scharf kritisiert.08 In einer »gesunden Gesellschaft«, betont Kramer, blieben die Sympathien den Opfern vorbehalten, in unserer »postmodernen liberalen Kultur« dagegen würden Kriminelle zu Märtyrern stilisiert, wenn sie im Namen höherer politischer Ideale töteten. Kramer berichtet ausführlich, ohne sich im Einzelnen an die Chronologie der Ereignisse zu halten, über die Gewalttaten der Baader-Meinhof-Gruppe und der Roten Armee Fraktion, aber wenig über die eigentlich zur Debatte gestellten Gemälde. Diese seien, »so wird selbstverständlich behauptet, schwierig zu lesen, und dieses Problem der Lesbarkeit, ihre Unergründlichkeit, gilt als wesentliches Moment ihrer künstlerischen Bedeutung«. Weshalb aber, fragt der New York Observer, hat ein unergründliches Bild eine so klare Botschaft: nämlich die Darstellung des Martyriums der Baader-Meinhof-Gruppe und deren Heiligsprechung? Dass gerade diese Gemälde, wie Kramer vermutet, vom »politisch konservativen« neuen Vorsitzenden des Museums bezahlt wurden, einer Persönlichkeit, die in der Bundesrepublik während der 1970er-Jahre gute Chancen gehabt hätte, Ziel eines Attentats zu werden, bezeichnet Kramer zum Schluss als das »komische, makabre Detail« des Falls. Sechs Wochen später befasste sich das internationale Nachrichtenmagazin Newsweek mit dem New Yorker Ankauf und widmete diesem Entscheid unter dem Titel »Art Imitates Terrorism« eine ganze Seite.09 David Gordon folgt in seinem Artikel in wesentlichen Zügen der Argumentation Kramers. Er kritisiert insbesondere, dass die Opfer der Attentate in dem Zyklus fehlen. Wer diese Gemälde mit jenen Andy Warhols über die amerikanischen Proteste gegen die Rassendiskriminierung vergleiche, wie dies das 141

Deu t sc h e r T e r ror i s m us, a m e r i k a n i sc h e Öf f e n t l ic h k e i t

Museum of Modern Art getan habe, setze zudem Bürgerrechtsbewegungen und Terroristen auf unstatthafte Weise einander gleich. Das Museum spreche, schliesst Gordon seine Ausführungen in Newsweek, unaufhörlich von Ambivalenz, gerade die aber fehle dem Zyklus 18. Oktober 1977 genauso wie den Verbrechen der Baader-MeinhofGruppe.10 Benjamin H. D. Buchloh hatte 1989 zur Ausstellung »18. Oktober 1977« in Krefeld geschrieben, »dass es gerade die Präzision der von Richter ausgewählten Photographien ist, die diese Bilder als spezifische Akte der Erinnerung gegen die allgemein herrschende Verdrängung wirksam werden lässt«.11 Das anhaltende Interesse und insbesondere die sogar ausserhalb Deutschlands gänzlich Motiv-orientierte Debatte scheint ihm nun Recht zu geben. Buchloh war es auch, der vorschlug, den Zyklus 18. Oktober 1977 als Historienbild zu betrachten. Das Museum of Modern Art hat nun offenbar, wie der New York Times zu entnehmen ist, diese Deutung des Werkes übernommen. Wenn es dereinst in New York öffentlich zugänglich sein wird, gehört das 20. Jahrhundert, das man das »Zeitalter der Ideologien« genannt hat, der Vergangenheit an. Dass Richter die Faszinationskraft von Ideologien seit jeher beschäftigte, ist an seinem Schaffen klar ablesbar und wird von seinen Kommentatoren unterstrichen.12 Über die Baader-Meinhof-Gruppe sagte er 1989, ihn interessiere »der öffentliche Anspruch dieser Leute […] die ungeheure Kraft, die erschreckende Macht, die eine Idee hat, die bis zum Tod geht«.13 Sein Konzept ist, mit Jan Thorn Prikker zu sprechen, eines der »Wieder-holung«,14 und genau darin berühren sich denn auch seine Kunst und jene von Andy Warhol und Joseph Beuys. Letzterer antwortete in einem 1970 vom Sender Freies Berlin ausgestrahlten und später in kleiner Auflage publizierten Interview auf die Frage, inwiefern sich seine Kunst auf die Kriegs- und Nach142

e x i s t e n z u n d for m

kriegserlebnisse beziehe, er halte es mit den Homöopathen, die das Gleiche mit dem Gleichen heilten: »Similia similibus curantur.«15

Helmut Federle — Selbstbehauptung und abstrakte Form

H

elmut Federle erlebt seine Existenz als eingebunden in das Leben der Formen. Es ist diese Erfahrung, die er in Malerei übersetzt. Seinen künstlerischen Formen begegnet man aber nicht nur im malerischen Werk, sondern auch auf Geweben, Keramiken, Möbeln und Kunstwerken aus seiner Sammlung im Wohnbereich des Ateliers und selbst in Gestalt einer auf der Strasse gefundenen Zimmerpflanze, der er in seinem Wiener Atelier am grossen Fenster neben der Bibliothek einen neuen Lebensort gab. Das, was um ihn da ist, blickt ihn an: Es sind alles Dinge, deren Individualität, Schönheit und Bedeutung einst Anlass für den Künstler waren, sie zu sammeln und mit ihnen in seinem Atelier zusammenzuleben. Dieses Atelier ist Ausdruck der Kultur seines Bewohners. Den schlanken Stängel jener Pflanze vor Augen, welche dem Licht entgegenwächst, zog Federle dunkle, suchende Linien über eine mattgolden-violette Malerei. Dem kleinen Gemälde gab er den provokanten Titel Gott (2000–2003). Der dänische Schriftsteller Erik Steffensen versteht das Bild als »Symbol für das Übersehene, das arme und fremde Gewächs, das wieder aufersteht sozusagen und sich über die Bildfläche verzweigt, als sei es ein zersplitterter Spiegel. Somit ist ›Gott‹ kein persönliches Vorhaben des Künstlers, sondern eine zweifelnde Annäherung. Das etwas unsichere, asymmetrische, vibrierende, demütige Gewächs wächst über die goldene Wüste des Bildes hin. Vielleicht 143

H e l m u t F ede r l e

geschieht da etwas. Vielleicht entspringt genau hier eine Quelle?«01 Die Suche nach dem Absoluten im Individuellen und jene nach dem Individuellen im Absoluten bezeichnen zwei Bewegungen, aus denen die Malerei Federles hervorgeht. I Im Atelier gibt es neben den schlichten Arbeitstischen entlang der Fenster, einem Kasten in einer Raumecke, den Grafikschränken und einigen weiteren Möbeln, den Reisekoffern und zugedeckten Bilderkisten auch eine Nähmaschine. Auf dieser Maschine werden nicht nur schadhafte Kleidungsstücke ausgebessert, sondern auch Stoffe zu Hüllen für die Keramiken in Federles Sammlung verarbeitet. Ein Loch zu stopfen und die Fotografie der geflickten Stelle, welche den Buchstaben F als Naht zeigt, als künstlerische Arbeit aufzufassen, wie 1982 geschehen, visualisiert treffend, was es bedeuten könnte, die eigene Existenz aktiv in das Leben der Formen einzubinden. Federles Schaffen ist ein Versuch, den Gegensatz zwischen geometrisch und anthropomorph aufzuheben, und sein Werk ist deshalb auch als eine Anthropologie der Form zu diskutieren. Die Existenz einzubinden in das Leben der Formen, bedeutet für einen Künstler nicht nur zu erkennen, dass die Formen schon da sind und ein von ihm unabhängiges Leben führen, sondern vor allem auch, dass die individuelle künstlerische Formbildungsarbeit eben aus diesem Grunde wichtig ist. In Anlehnung an Carl Einstein, den Theoretiker des Kubismus, und Walter Benjamin, den Archäologen der Moderne, begründet Georges Didi-Huberman die Präsenz der Form in der Form selbst, nämlich »im Spiel ihrer Formation und ihrer Präsentation«.02 Was heisst das? Formen sind nicht auf ihre zeichenhafte Dimension reduzierbar, sonden sie sind immer auch in ihrer Materialität, in ih144

H e l m u t F e de r l e

rer Textur wahrzunehmen. Eine Form hat eine bestimmte Anmutung, die mit ihrer Stofflichkeit zusammenhängt, ist zugleich aber auch das Ergebnis eines Prozesses, der stets mitzudenken ist. Die auf ein Kleidungsstück genähte und als Fotografie publizierte Initiale hat eine andere Intensität als gezeichnete oder gemalte Initialen. Wenn die Formbildungsarbeit Bestandteil der Identität und der Wirkung von Formen ist, dann gehören auch der Transformationsprozess, aus dem die Form hervorgegangen ist, und damit die verschiedenen Deformationen, die eine Form im Verlauf des bildnerischen Prozesses durchlaufen hat, zu ihrer Bedeutung. F steht für Federle, aber auch für Flicken und Formen. Wichtig aber ist: Die Richtung der Formbildungsarbeit ist nicht vorgegeben. Ob Federle Kompositionen seiner Gemälde auf den Initialen seines Namens aufbaut, um die Identität der Arbeiten zu festigen, oder genau umgekehrt, um die Initialen seines Namens und somit auch seine eigene Person in einem umfassenderen Sinnzusammenhang zu verorten, wie dies die Arbeit Der letzte Buchstabe meines Namens ist der erste des Todes (1984) im Bildtitel andeutet, bleibt für den Betrachter offen. II Im Jahr 2009 malte Helmut Federle innerhalb von fünf Wochen neun kleine Gemälde. Der Künstler spricht von einer grösseren Werkgruppe, denn in den Jahren davor sind im Atelier nur wenige Bilder und kaum Zeichnungen entstanden. Die neuen Gemälde nehmen ein Motiv auf, das im Werk seit den späten 1970er-Jahren immer wieder auftauchte, aber nie Ausdruck in einem eigenen Zyklus fand. In einem Interview, das der Künstler anlässlich der Ausstellung von fünf Arbeiten aus dieser Werkgruppe bei Peter Blum in New York der Zeitschrift The Brooklyn Rail gab, 145

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Im Atelier von Helmut Federle, Wien 1994, Photo Chr isti a n K er ez Zü r ich.

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erwähnt er als Vorläuferbild die Arbeit Innerlight (1985).03 Es handelt sich bei den Gemälden aus der neuen Werkgruppe um luzide, sanfte Nachtbilder, die an das Licht der romantischen Malerei erinnern. Dieses Licht, das durch die dunkle, dünnflüssig aufgetragene, auf einigen Gemälden sogar mehrmals abgewaschene Farbe dringt, ist allen Werken dieser Gruppe gemeinsam. Die Gemälde üben einen merkwürdigen Sog auf den Betrachter aus – merkwürdig deshalb, weil zugleich offen bleibt, ob das Licht einem entgegenströmt oder umgekehrt, das Bild dem Auge einen Durchgang ins Helle eröffnet. Sind wir vor dem Gemälde oder im Gemälde? Im selben Interview zitiert Federle den Architekten Louis Kahn mit den Worten »Gott ist im Material«. Mit dem Motiv des nicht lokalisierbaren, permanenten Lichts ist die Thematik der Spiritualität verbunden, welche in der abstrakten Malerei seit ihren Anfängen zentral war und hier noch zur Sprache kommen wird. Einige dieser in Erdfarben oder in grauen und schwarzen Farbtönen gemalten Tunnelbilder lassen den Blick ins Bodenlose stürzen. Bilderinnerungen aus 2001 – A Space Odyssey (1968) von Stanley Kubrick stellen sich ein, vor allem jene fantastische Stelle gegen Ende des Films, die zeigt, wie der überlebende Astronaut von einem kaleidoskopischen Strudel von Raum und Zeit mitgerissen wird, um als Sternenkind wiedergeboren zu werden. Vor Augen habe ich auch das kleine, um das Jahr 1940 entstandene Aquarell eines in die Tiefe stürzenden Menschen von dem Basler Theo Modespacher (1897–1955). Vordergründig ein Bild tragischen Inhalts, bleibt bei genauerer Betrachtung offen, ob der Körper die Strasse durchschlagen hat oder sich vielleicht sogar in einem Zustand der Schwerelosigkeit befindet. Wie auch immer: Es ist ein Bild der Dematerialisation. Federles Gemälden fehlt die visuell spektakuläre Dimension und die Beschleunigung der Zeitreise im Film. Es gibt in diesen Bildern jedoch eine kompositorische Linearität sowie eine 148

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Einfachheit, die wie bei Kubrick auf eine leere Stelle hinführen und eine vergleichbare Ausweglosigkeit der Bilderfahrung erzeugen. Kompositorisch nehmen die neuen Arbeiten eine besondere Stellung im Werk Federles ein, weil der Künstler mit ihnen die Orientierung an der aus Horizontalen und Vertikalen geformten Bildstruktur hinter sich lässt. Die Dynamisierung des Bildfeldes durch diagonale Bewegungen setzt in der Malerei erst mit dem Werkzyklus Edelweiss (Ausführung) ein, findet sich im zeichnerischen Werk aber schon früh. Spiralformen und Diagonalen treten bemerkenswerterweise in der Zeichnung immer wieder auf, sind in der Malerei aber selten: Eine bedeutende Ausnahme stellt das Gemälde Spirale Intro 1/2, 1/3 etc (1985) dar. Was die jüngsten Bilder mit allen früheren Werken verbindet, ist die Auseinandersetzung mit dem Bildzentrum. 1997 von Erich Franz auf die Bedeutung des Mittebezugs und der Dezentralität in seiner Malerei angesprochen, antwortete Federle: »Schon in meinen Arbeiten aus den siebziger Jahren, den grauen Bildern mit den dunklen Formen an den Rändern, oder noch früher in meinen Landschaftsbildern sehen wir ein frontales Verhalten. Das heisst, es gibt keine illusionistische Gestalttiefe. Das Bild zeigt sich in der Ausdehnung über die Fläche. Dies ist für meine Arbeit wesentlich. Das heisst jedoch nicht, dass nicht eine empfundene Tiefe evozierbar wäre. Diese Frontalität ruft natürlich sowohl formal wie emotional nach einer im Gegenüber verstandenen Positionierung. Da spielt die Mitte oder, wie ich es nennen möchte, die relative Mitte eine wichtige Rolle.«04 Diese Suche nach der »relativen Mitte« strukturiert auch die neuen Gemälde. Wiederum arbeitete Federle von den Rändern her auf ein optisches Zentrum des Bildfeldes hin, jedoch meist nicht parallel zum Rand des rechteckigen Bildträgers wie in früheren Werkgruppen, sondern schräg über Eck und in einer Kreisbewegung, 149

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die dazu führte, dass Teile der gemalten Flächen wieder übermalt wurden und die Gemälde eine gerichtete räumliche Tiefendimension erhielten. Federle verwendete eine wässrige, nicht deckende Farblösung, sodass die verschiedenen Farbschichten in ihrer Anlage sichtbar blieben. Der Künstler selbst spricht nicht von Farbe, sondern von »gefärbem Wasser«. Er arbeitete vom Hellen ins Dunkle und verstärkte durch dieses Vorgehen die Strahlkraft des hellen Grundes, auf dem die Gemälde aufbauen. Aus diesem Vorgehen entstanden im Bildfeld harmonisch ineinanderliegende geometrische Figuren, fast ausschliesslich Pentagone. Die Fünf ist in der Alchemie die Zahl des Menschen und der belebten Natur, da sie eines der formbestimmenden Prinzipen der organischen Natur ist. Durch sie wird die »quinta essentia«, die spirituelle Gesetzmässigket in jeder Materie ausgedrückt, mithin von der unbelebten Natur unterschieden. Kristalle bauen auf dem Sechseck auf, die meisten Blüten dagegen auf einem fünfeckigen Stern, einem Pentagramm. Das Zentrum dieser Form wiederum bildet ein Pentagon. Es symbolisiert den Mikrokosmos. Man denke in diesem Zusammenhang auch an die kleine Papierarbeit Two Forms (Zwei Formen der Anthroposophie) (1983), die Skulpturales evoziert. Eine der beiden Formen auf diesem Blatt ist aus einem Sechseck, die andere aus einem Fünfeck entwickelt. In den neuen Gemälden entstehen die Polygone aus dem malerischen Prozess. Sie haben kristallin-kubische und organisch-vegetative Eigenschaften. Die Form ist keine Konstruktion für eine Komposition, wie es sie im Frühwerk gibt, sondern eine bildhafte gewachsene Struktur. Frontalität und relative Mitte sind Begriffe, die sich auch für die Besprechung von Caspar David Friedrich anbieten, mit dem Federle schon früh und immer wieder in Verbindung gebracht wurde. Die Frontalität ist in den sehr bekannten und für die Diskussion des Erhabenen als einer 150

Helmut Federle, 2014, Photo rosem a r ie sch wa r z wä lder w ien.

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»Helmut Federle«, Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien 2010, Ausstellungsansicht, Photo M a r kus Wörgöt ter W ien.

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genuin modernen ästhetischen Erfahrung wichtigen Gemälden Der Mönch am Meer (1810) und Wanderer über dem Nebelmeer (1818) das zentrale Kompositionsprinzip. In beiden Werken steht im Bildzentrum ein einsamer Mensch, vom Betrachter abgewandt, im Banne der Natur. Da ist aber auch jene Zeichnung eines Selbstporträts von 1810, auf die der ungarische Schriftsteller Laszlo F. Földényi in seiner schönen Monografie über Caspar David Friedrich aufmerksam macht und die ihn vor allem wegen der Darstellung und Wirkung des rechten Auges interessiert. Er schreibt dazu: »Die quälenden Widersprüche, von denen sein Leben ebenso zerfurcht ist wie seine Gesichtszüge, treten neben diesem Auge in den Hintergrund – nicht nur, weil es geometrischer Mittelpunkt des Bildes und Zentrum des Kreises ist, den die Kopfform, das wellige und lockige Haupt- und Barthaar und die Falten der Kleidung bilden, sondern auch, weil es zu uns spricht, anders als die Züge, die eher nur etwas mitteilen. Es drängt sich so intensiv vor, dass es fast wie ein Relief wirkt; es scheint gar nicht zu diesem Gesicht zu gehören. Im Gegensatz zum linken Auge, das die melancholischen Gesichtszüge unterstreicht, lebt das rechte sein eigenes Leben: Es blickt nicht aus dem Gesicht nach außen, sondern saugt alles in sich; es betrachtet nicht die Welt, sondern schaut nach innen. Wie auf zahlreichen Gemälden der Mond oder die Sonne, ist dieses Auge mehr als es selbst: ein explosiv angespannter Punkt, der alle Möglichkeiten in sich trägt, eine Origo, in der die Welt sich selbst betrachtet.«05 Földényi nennt es ein »nächtliches Auge«, das den Betrachter gefangen nimmt. Er betont die konzeptuelle Natur von Caspar David Friedrichs Seelenbildern und deren abstrakte Struktur. Wenn Federle seine Malerei in die Tradition der Romantik stellt und von der Sehnsucht als einem Grundantrieb seiner Kunst spricht, so ist damit keine schwärmerische Malerei gemeint, sondern eine genaue, absolute Arbeit wie 154

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diejenige von Caspar David Friedrich im 19. Jahrhundert oder das Werk von Paul Klee, Wassily Kandinsky, Jackson Pollock oder Barnett Newman im 20. Jahrhundert, in denen Abstraktion und sinnliche Ausführung keine Gegensätze darstellen. Federles geometrisch-abstrakte Malerei schliesst in ihrer Struktur zwar an die Bildsprache der Moderne und insbesondere an deren Bildvorstellungen an, seine dem Rationalen entgegenwirkende Farbigkeit will dabei aber die innere Welt des Betrachters ansprechen. Er malt oft in gedämpftem, trockenem Braun, Grün, Gelb und Grau, verwendet auch gerne Schwarz und Weiss, aber kaum reine Farben. III Ein in vielerlei Hinsicht wichtiger Ort in Federles persönlicher Geografie ist New York, die Stadt Barnett Newmans, dessen Werk er während seines Studiums bei Franz Fedier in den 1960er-Jahren im Kunstmuseum Basel kennenlernte. Die amerikanische Nachkriegsmalerei – neben Newman vor allem Mark Rothko und Clifford Still – interessierte den jungen Federle und bestärkte den angehenden Maler sowohl in seiner Auffassung von reduktiver Malerei als auch in seiner Identifikation mit dem Bild vom Künstler als gesellschaftlichem Aussenseiter. Ab 1979 lebte Federle für vier Jahre in Manhattan, ein Aufenthalt, der sehr anregend, künstlerisch produktiv und prägend war. Es war die Zeit der Wiederkehr der Erzählung und des Körpers in die Kunst. Manhattan ist jedoch nicht nur die Stadt, in welcher die amerikanischen Künstler zu einer eigenen Sprache fanden, die in den 1950erJahren auch international massgebend wurde, sondern auch die Stadt, in die zahllose Menschen vor dem Krieg in Europa geflohen waren, darunter viele namhafte Künstler. Piet Mondrian war einer von ihnen. Er starb 1944, im 155

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Geburtsjahr von Helmut Federle, in New York. Erst vier Jahre zuvor über Paris aus London eingewandert, eröffnete er mit Broadway Boogie-Woogie (1942–1943) und dem unvollendeten Victory Boogie-Woogie (1942–1944) der abstrakten Malerei neue Möglichkeiten, welche spätere Generationen erprobten. Noch vor dem Krieg, 1936, war im Museum of Modern Art die Ausstellung »Cubism and Abstract Art« zu sehen. Im Katalog dieser bedeutenden Ausstellung findet sich ein Schema der modernen Kunst, das die Genealogie der klassischen Avantgarden nachzeichnet und zugleich einen Ausblick auf die nähere Zukunft wagt. Aus dieser Perspektive folgen die historischen Avantgarden auf Cézanne, van Gogh, Gauguin und Seurat, entfalten sich in einem kurzen Zeitraum in einer Vielzahl von Bewegungen und münden bald in einige wenige Hauptströmungen. Erwähnung finden Surrealismus, Purismus, De Stijl, Bauhaus und Konstruktivismus. Alfred H. Barr, Jr., der dieses Diagramm entwarf, unterscheidet innerhalb der zeitgenössischen Kunst zwischen nicht-geometrischer abstrakter Kunst und geometrischer abstrakter Kunst. Der Name Marcel Duchamp fehlt in dieser Geschichte der Avantgarde, denn seine Bedeutung wurde erst in den 1960erJahren erkannt; um Namen wie Jackson Pollock oder Barnett Newman zu erwähnen und dem Modernismus in der Entwicklung der Abstraktion den gebührenden Platz zu geben, war es 1936 noch zu früh. Als der Maler Ad Reinhardt nur ein Jahrzehnt später einen Stammbaum der modernen Kunst unter der Überschrift »How to look at Modern Art in America« als Cartoon publizierte, spiegelte sich darin eine um einiges komplexere Situation der zeitgenössischen amerikanischen Szene wider. Er zeichnete einen Baum, dessen Krone im Wesentlichen aus zwei mächtigen Ästen besteht, wobei derjenige der Abstraktion kräftiger und weniger gefährdet erscheint als derjenige der 156

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Figuration, der durch die vielen verschiedenen ihm zugeordneten Künstlerinnen und Künstler so stark belastet erscheint, dass sich erste Brüche im Holz zeigen. Rückblickend wird allerdings klar, dass auch die Geschichte der Abstraktion ein Prozess der ständigen Transformation war und diese Gefährdung daher ebenso zu ihrer Identität gehört. Der amerikanische Kunsthistoriker Timothy J. Clark schildert anhand von Jackson Pollock, wie die Frage nach dem Verhältnis von Abstraktion und Figuration in den Kern des modernen Bildverständnisses führt.06 Für Künstler, die wie Helmut Federle an der Abstraktion weiterarbeiten, stellt sich diese Frage in der täglichen Arbeit auch heute noch immer von Neuem. Clark diskutiert dieses unsichere Verhältnis ausgehend von Fotografien Cecil Beatons, die 1956 im Modemagazin Vogue erschienen und zwei Mannequins vor Arbeiten Jackson Pollocks zeigen. Der Text fragt nach »dem öffentlichen Leben von Pollocks Malereien« und behauptet, dass die kapitalistische Kultur jede Arbeit gegen das Figurative überlistet und »zu einem Aspekt ihrer eigenen Figuration macht«. Den Modernismus versteht er als eine Kunstrichtung, »die ohne den Glauben ihrer Erschaffer, dass das, was sie taten, wirklich Widerstand oder ein Hinausgehen über das normale Kulturverständnis war, keinen Sinn hätte.« Clark interessiert an Pollock, dass dieser, wie alle abstrakten Künstler der ersten Phase der Moderne, »die Beziehung des Bildes zur Welt der Dinge« beenden will, dabei aber entdeckt, dass dies nicht möglich ist, weil sich der Körper immer in die Malerei einschreibt. Als Willem de Kooning 1951 im Museum of Modern Art auf einem Symposium zur Frage »What Abstract Art Means to Me« sprach, stellte er die künstlerische Subjektivität ins Zentrum seiner Argumentation und bestritt die Möglichkeit einer unpersönlichen Form in der Kunst: »Malerei – jede Art von Malerei, jeder Stil von Ma157

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lerei – überhaupt zu malen eigentlich – ist heute eine Art zu leben, ein Lebensstil sozusagen. Dort ist ihre Form beheimatet.«07 IV Die Welt, in der wir gegenwärtig leben, nennt der deutsche Kunsthistoriker Hans Belting eine »technische Weltzivilisation«.08 Die Kultur steht, wie die Wirtschaft, die Technik, die Politik und die Wissenschaft, im Zeichen einer medial vermittelten Globalisierung. Unter diesen neuen zivilisatorischen Bedingungen, die nach Belting den »Prozess der Auflösung lokaler Kulturen« herbeiführen, »fällt einzelnen Trägern [dieser Kultur], die in natürlichen Körpern leben, eine neue Bedeutung zu, wie sie zu anderen Zeiten Emigranten besaßen. Es bedarf also eines anderen Begriffs von Kultur, um diese spurenhafte Streuung von Tradition zu entdecken, die an einzelne Körper und ihre Geschichte gebunden ist.«09 Mit Blick auf Helmut Federle ist festzuhalten, dass sein Begriff von Kunst und seine Praxis der Malerei die Zugehörigkeit zur westlichen Tradition betonen. Andererseits versteht er sein Werk als spezifische Ausdrucksform von Kunst schlechthin und unterstreicht dies, in dem er seine Arbeiten immer wieder mit Werken anderer Kulturen, Epochen und Traditionen in Zusammenhang bringt. Jan Thorn-Prikker schreibt: »Im Kern ist Federles Kunst metropolitan und international. Souverän lässt er die Grenzen von Ländern, Kontinenten und Zeiten hinter sich und bewegt sich als Weltbürger in fremden Kulturen, als wären sie ihm seit jeher vertraut. Sein Feld ist die Welt, seine Zeit ist die Geschichte, seine Bezugspunkte sind die Hochkulturen aller Zeiten.«10 Der Künstler ergreift Partei für eine Kunst, die aus dem Bewusstsein entsteht, dass das Individuum durch seine Prägungen auch einen kollektiven Körper repräsentiert und somit – vielleicht im Sinne Bel158

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tings – ein »Ort der Bilder« ist. Diesen Sachverhalt gilt es, künstlerisch zu reflektieren: »Die Bedeutung der abstrakten Form ist in höchstem Maße trivialisiert und relativiert durch eine Konsumgesellschaft mit einem zynischen Bewusstsein, die die Form als leere Hülle braucht. Die Form ist von ihrer spirituellen Qualität entleert worden.«11 An anderer Stelle sagt er, es sei für ihn als Künstler bedeutsam, »dass alle bildinternen Fragen Spiegel übergeordneter existentieller Fragen bleiben«.12 Was dies heute bedeuten könnte, wird vielleicht deutlicher, wenn wir daran erinnern, dass die Abstraktion des frühen 20. Jahrhunderts eine Bewegung gegen vergangene Formen war, um einem neuen, modernen Wirklichkeitsverständnis zu entsprechen. Der Modernismus brachte künstlerische Formen hervor, welche die Erfahrungen des modernen Lebens darstellten, reflektierten, in die Zukunft verwiesen und ihnen einen Sinn gaben. In Farewell to an Idea bezeichnet Timothy J. Clark diese Ära als unsere Antike und noch dazu als einzige, die wir haben. Wenn seine Darstellung des Modernismus zutrifft, und vieles spricht dafür, dann handelt es sich dabei um eine abgeschlossene Epoche und den »Boden, der die Grundlage heutiger künstlerischer Ideen und Methoden bildet, übersät mit den archäologischen Überbleibseln des Modernismus«.13 Die Postmoderne, so Clark, habe die Krise des Modernismus als Verfall der Modernität selbst missverstanden und nicht beachtet, dass die Entzauberung der Welt, wie Max Weber den Zivilisationsprozess nannte, längst vollzogen war. Ist die »technische Weltzivilisation« also der Realität gewordene Traum der Modernen? V Fragen wir nach den Konsequenzen dieser Situation für die künstlerische Praxis, finden wir unterschiedliche Antwor159

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ten. Künstler, welche die Entwicklung der Kunst mit ihrer technischen und formalen Erneuerung gleichsetzen, orientieren sich anders als Künstler, die sich, wie Federle, nicht als Erfinder verstehen. Federle betrachtete die formale Innovation nie als eine zentrale Aufgabe der Kunst, bestreitet sogar, dass es sie in künstlerischer Hinsicht überhaupt gibt. Es ist bezeichnend für seine Kunstauffassung, dass die in den 1960er-Jahren einsetzende Erweiterung des Kunstwerkbegriffs in seinem Schaffen keine Spuren hinterlassen hat. Seinem Verständnis nach sind die Formen der Abstraktion nicht an die Kunst des 20. Jahrhunderts gebunden, sondern waren, wie die Arbeiten seiner Sammlung es auch belegen, schon vor der Moderne und ausserhalb der westlichen Kunst unterwegs und werden ihre Wanderung auch in Zukunft in verschiedene Richtungen fortsetzen. Der geschichtliche Horizont, vor dem Federle die künstlerische Form wahrnimmt, ist viel weiter als der historische Resonanzraum, der mit Clarks Formel von der Moderne als unserer Antike angeschlagen wird. In seinen jüngsten Arbeiten klingen Kubismus, Futurismus, Anthroposophie und besonders seine seit vielen Jahren intensive Auseinandersetzung mit der Kultur Japans deutlich an, und doch wäre es für das Verständnis seiner Arbeiten falsch, würde man sie im historischen Sinne mit einer dieser Bewegungen der frühen Moderne oder der Kultur Japans in Verbindung bringen. Federle sucht nicht nach neuen oder sogar eigenen Formen wie andere Künstler, doch er ist auch kein Archäologe der Moderne. Wie hoch der Einsatz im Wettlauf um künstlerische Innovation sein kann, zeigt der Lebenslauf der Schriftstellerin und Künstlerin Sonja Sekula, die 1936 mit ihren Eltern aus der Schweiz nach New York übersiedelte und ihre künstlerische Arbeit während der Frühzeit des amerikanischen Abstrakten Expressionismus und im direkten Austausch mit den massgebenden Künstlern dieser Bewegung ent160

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wickelte. Sekula schrieb 1958 rückblickend, sie sei für das »Durchsichtige bekannt« gewesen, für »flüssige Linien« und für »noch flüssigere Farbströme«.14 In einem paradoxerweise immer einsameren Zwiegespräch mit ihrem Werk arbeitete Sekula an offenen, fliessenden, rhythmisch gegliederten Bildstrukturen und bearbeitete dabei wie John Cage, der im selben Haus in der Lower East Side lebte, den Begriff »Silence«.15 Stille meint dabei sowohl das Versagen der Sprache, das Verstummen, als auch ganz bei sich zu sein und ist seit Hofmannsthals Chandos-Brief ein Topos der Sehnsucht des modernen Menschen nach einer begriffslosen, direkten Erfahrung der Dinge. Während Cage die Musik auf eine neue Grundlage stellte und musikalische Verfahren einführte, welche durch den Einbezug des Zufalls die Werkstruktur radikal veränderten, fand Sekula für sich keine geeignete Arbeitsmethode, die eine künstlerische Neuorientierung zugelassen hätte. Sie, die weiter »verzweifelt« nach neuen, »weiblichen« Formen suchte und keine fand, wollte, wie sie 1961 auf einer ihrer autobiografischen Arbeiten notierte, »the language of silence« lernen. Stattdessen verstummte sie. Federle interessiert nur das einzelne Bild. An diesem Punkt zeigt sich die zeitliche und mentale Distanz zu den Künstlern der Hochmoderne, die in einem Umfeld arbeiteten, in dem »Modernität denkbar und mit utopischen Möglichkeiten verbunden war.«16 Federle betont die Autonomie der abstrakten Form und ihren Sinn. Er folgt ihrer Spur und befasst sich mit fremden Kulturen und fernen Epochen. Im Zentrum seines Werkes steht die Frage nach dem Verhältnis von abstrakter Form und schöpferischer Selbstbehauptung des Künstlers. Einfach fällt die Antwort nicht aus. Umfasst die Formbildungsarbeit auch seine Existenz, und welche Rückwirkungen auf diese Existenz hat der bildnerische Prozess? Malt er in den Buchstabenbildern die Initialen seines Namens als abstrakte Figur oder bringt 161

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er eine vorgefundene Konstellation von Zeichen mit sich selbst in so engen Zusammenhang, dass er sich mit ihr identifizieren kann? Malerei ist keine delegierbare Aufgabe und erst recht keine Arbeit, um Bilder nach einer bestimmten Methode herzustellen. Malerei ist ein geistiger und handwerklicher Prozess, aus dem Bilder hervorgehen können. Die Präsenz der Form ist in der Form selbst begründet, ihr Sinn ergibt sich aus der inneren Notwendigkeit der Darstellung.

Anselm Stalder —  La voce moltiplicata

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as A ntonio und Piero del Pollaiuolo zugeschriebene Altarbild Das Martyrium des hl. Sebastian (um 1475) wird schon im 15. Jahrhundert als ein herausragendes Werk der Malerei gefeiert. Vasari lobt die beiden Maler des ursprünglich für SS. Annunziata in Florenz bestimmten, heute im Besitz der National Gallery in London befindlichen Bildes für ihre getreue Nachahmung der toskanischen Landschaft. Besonders beeindruckt ihn aber die Darstellung der halbnackten männlichen Körper und ihrer Bewegungen. Das Motiv basiert auf einer Legende aus dem 5. Jahrhundert. Sie besagt, dass der in Narbonne geborene Sebastian, dessen Eltern aus Mailand stammen, durch die Gunst Diokletians eine einflussreiche Stelle innerhalb der kaiserlichen römischen Militärhierarchie erhält, die er nutzt, um verfolgte Christen zu schützen. Der erkrankte Präfekt von Rom bittet Sebastian zu sich, weil er gehört hat, diesem sei es gelungen, einen Kranken zu heilen. Obschon der Präfekt gesund wird, denunziert er Sebastian als Christen, was zu seiner Verurteilung durch Diokletian führt: Kaiser 162

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Diokletian lässt ihn mit Pfeilen beschiessen. Auf wunderbare Weise überlebt Sebastian das Martyrium und wird von der frommen Witwe Irène gesund gepflegt. Doch Diokletian lässt ihn erneut verhaften und zu Tode steinigen. Der angeblich in Rom begrabene Sebastian wird schnell zu einer Kultfigur: Spätestens im Jahr 680, als die Pest Rom erreicht, beginnt die Volksverehrung Sebastians als Beschützer gegen Krankheiten und Seuchen. Menschliche Knochen werden mit dem Segen der Kirche als Reliquien des Heiligen über ganz Europa verteilt, Papst Gregor IV. (827–844) lässt einen Schädel in den Vatikan überführen. Die Verehrung des Heiligen erreicht vor allem in der Folge der grossen Pestzüge im Spätmittelalter eine Intensität, die einzig mit jener in der Gegenreformation vergleichbar ist. Ebenfalls seit dem Mittelalter und teilweise bis in unser Jahrhundert verehren neben der Kirche Zünfte, Gilden und Bruderschaften den Heiligen. Daran erinnern in Frankreich Flaggen, Bildstöcke, Münzen, Ketten, Teller, Vasen und Zielscheiben, im Burgenland die vielen frei in der Landschaft stehenden Sebastianssäulen. Zu den bewegendsten, künstlerisch bedeutendsten und wohl auch bekanntesten Darstellungen des Heiligen gehört das kleine Gemälde, das Mantegna um 1450/1460 für den venezianischen Offizier Jacopo Antonio Marcello malte und das sich heute in der Sammlung des Kunsthistorischen Museums in Wien befindet. Mantegna zeigt den gefesselten und von Pfeilen durchbohrten Heiligen vor den Ruinen römischer Befestigungsanlagen. Antonio und Piero del Pollaiuolo dagegen rücken die Beschiessung selbst ins Zentrum des Bildgeschehens. Schon Vasari ist aufgefallen, mit welcher Eindringlichkeit die beiden Maler die Bewegungen der sechs ladenden, zielenden und schiessenden Knechte gemalt haben. Das blutige Geschehen gewinnt in ihrer Auffassung rituelle Züge, wird zu einem Tanz um einen verwundeten Körper von apollinischer Schönheit. 163

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Vasari überliefert, dass der damals 22-jährige Gino aus der einflussreichen Familie der Capponi, bekannt für sein gutes Aussehen, den Brüdern für den Sebastian Modell gestanden habe. Auf den meisten Gemälden ist der bartlose Jüngling trotz der entsetzlichen Verletzungen, die ihm zugefügt wurden, von unverstellter Schönheit und erotischer Ausstrahlung. Es ist diese ungefähr seit dem 15. Jahrhundert fast allen Sebastiandarstellungen gemeinsame Konfiguration, in der die eigentliche Faszination des Themas begründet liegt. Sie taucht in den unterschiedlichsten kulturellen Zusammenhängen und Funktionen über Jahrhunderte bis in unsere Zeit immer wieder auf: Ich denke u. a. an die Bilder nackter, sexuell erregter junger Männer des New Yorker Photographen Robert Mapplethorpe und an jene Arbeit mit dem Titel La voce moltiplicata von Anselm Stalder, auf die ich anschliessend näher eingehen werde. Obwohl diese Bildwerke in kunsthistorischen Termini gesprochen keine Sebastiansdarstellungen sind, findet sich in ihnen jene sinnverwirrende Kombination aus Schönheit und Gewalt wieder, die uns aus der Betrachtung Alter Meister bekannt ist. Das Schaffen Anselm Stalders ist gattungsübergreifend, stilistisch nicht festlegbar und mit den meisten Techniken vertraut. Im Jahr 1992 habe ich Stalder in einem Gespräch über Aspekte der Produktion und Rezeption von Kunstwerken gefragt, ob sein Schaffen auch als Versuch verstanden werden könne, gegen die Behauptung anzutreten, es sei nicht mehr möglich, Bilder zu malen. Seine Antwort lautete: »Ich habe oft das Gefühl, in einem unendlichen Trümmerfeld unterwegs zu sein, mit angespannt abwesender Konzentration, nicht wirklich etwas suchend, ab und zu etwas aufhebend. Seltsamerweise handelt es sich nicht um Fragmente, diese Teile geben nichts von ihrer Geschichte preis, noch lassen sie ein verlorenes Ganzes erahnen. Es sind eher Teile, die Verbindungen eingehen könnten ... viel164

Anselm Stalder im Atelier, 1991, Photo Bru no Sta lder, A rchi v A nselm Sta lder Ba sel.

Anselm Stalder, La voce moltiplicata, 1991, photo pri vata rchi v.

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leicht bin ich unterwegs in diesem Trümmerfeld, um Solitäre auf ihre Kommunikationsfähigkeit zu prüfen.«01 Das programmatische Zentrum seiner Kunst sehe ich in der Untersuchung und Problematisierung von Identität, verstanden einerseits als Formel zur Beschreibung sowohl eines kohärenten Schaffens als auch des Verhältnisses von Künstler und Werk sowie andererseits als Hilfsvorstellung für die Interpretation der Welt. Zu den faszinierendsten Werken, die Stalder in den 1990 er-Jahren geschaffen hat, gehört La voce moltiplicata, eine Wandarbeit aus dem Jahr 1991, der ich zuerst in einer Ausstellung Anselm Stalders in Mailand unter dem damaligen Titel La cantatrice raddoppiata gegenüberstand, und die ich kurze Zeit später in Zürich unter der neuen Bezeichnung wiedersah. Sie besteht aus zwei gleich langen, ungefähr auf Augenhöhe aus der Wand ragenden Stahlspiessen, auf die gegenläufig je vier unbemalte Gipsglöckchen aufgezogen sind. Das Innere der Glocken stellt als Hohlform jeweils einen handschriftlichen Buchstaben dar: »fine« steht auf jedem der beiden Spiesse geschrieben. Von Anfang an hat mich neben der Bedeutung des Titels La voce moltiplicata im Zusammenhang der direkt angrenzend zu sehenden Werken in den beiden erwähnten Ausstellungen die mit Grazie gepaarte Aggressivität dieser Arbeit beschäftigt. Die Bedeutungsfelder des ihr eingeschriebenen, in verschiedenen Sprachen existierenden Wortes »fine« unterstreichen die rein optische Wirkung von la voce moltiplicata. Italiener wie Franzosen bestimmen mit dem Ausdruck Unterschiedliches: Italiener meinen das »Ende«, im Französischen werden Eigenschaften wie »fein«, »freundlich«, »schlau« oder »scharfsinnig« umschrieben. Als Eigenschaftswort steht »fine« im Englischen für »hochwertig«, »rein«, »fein«, »zart«, »edel«, »schön« und »gut«. Die Engländer verwenden den Ausdruck, um von einer »gewählten« Ausdrucksweise, »feinen« und 167

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»schönen« Gesichtszügen, einer »scharfen« Klinge, der »bildenden« Kunst oder einem »scharfen« Auge zu sprechen. Im Englischen meint der Ausdruck in seiner Verwendung als Substantiv »Bussgeld«. Im Italienischen reicht die Bedeutung von »Schluss« über »Ergebnis«, »Vollendung« und »Abschluss« bis zu »Fertigstellung« und wird insbesondere im Zusammenhang mit Sterben und Tod verwendet. Die sinnverwirrende Konfiguration von Schönheit und Gewalt bezeugt die Zugehörigkeit von La voce moltiplicata zur grossen Familie der Sebastiandarstellungen: Es sind Überlieferungen dieser Art, die seit dem 19. Jahrhundert die verbindlichen Bildprogramme früherer Jahrhunderte ersetzen.

Paweł Althamer — Regisseur des Realen

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er Sta dtteil Bródno im Osten von Polens Hauptstadt Warschau ist dicht besiedelt und arm. In diesem Quartier verbrachte Paweł Althamer seine Kindheit, und dort wohnt der Künstler bis heute. Althamer und seine Familie lebten viele Jahre lang in einem der grossen Wohnblöcke an der Krasnobrodzkastrasse. Es war die Wohnung, in der er schon als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern zu Hause war. Die Eltern sind aus der Wohnung ausgezogen und weggegangen, Althamer blieb. Er hat sich bislang nie für lange Zeit aus dem Lebensraum seiner Kindheit entfernt, obschon die durch Armut, soziale Konflikte und Gewalt geprägten Lebensumstände in diesem Viertel seinen Alltag, insbesondere aber denjenigen der Kinder nicht unberührt lassen, und ihm sein internationaler Erfolg als Künstler schon längst erlauben würde, mit seiner Familie in einen besseren Stadtteil oder eine 168

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der Kunstmetropolen im Ausland zu ziehen. Doch Bródno ist für Althamer nicht lediglich ein Lebensort, hier ist er verwurzelt. Sein Begriff von Kunst und die eigene, von ihm als »realitätsbezogen« bezeichnete Kunstpraxis haben viel mit den Lebensumständen von nicht privilegierten Menschen zu tun, denen er sich verbunden fühlt, mehr noch, deren Nähe er sucht, um sie an seinen Projekten zu beteiligen. Die Identifikation mit dem von materieller Not, enttäuschten Hoffnungen und Vernachlässigung geprägten Ort geht so weit, dass Althamer in einer Filmdokumentation auf den riesigen Wohnblock zeigt, in dem er damals lebte, und in die Kamera sagt, er habe dieses Haus zusammen mit seinem Vater gebaut. Von seiner Küche aus konnte Althamer in den von Wohnanlagen gebildeten Hof hineinsehen, in dem sich ein von ihm nach Vorschlägen der hier lebenden Kinder entworfener und in der Maschinenfabrik seines Vaters gebauter Spielplatz befindet und in dem auch eine kleine Skulptur steht, die er für diesen Ort geschaffen hat. Die Bronze Abram and Buruś (2003/2008) ist die figürliche Darstellung eines Knaben mit einem Hund. In der einen Hand hält der Junge ein Stöckchen aus Holz. Die Plastik befindet sich vor dem Hauseingang auf einem kleinen Rasenstück, auf dem sich die Hunde aus dem Wohnblock versäubern und miteinander spielen. Der Aufstellungsort für die Figur ist mit Bedacht gewählt. Hier treffen sich die Hausbewohner und tauschen Neuigkeiten aus, während die Hunde ihr Geschäft verrichten. Das Stöckchen in der Hand des Knaben, das leicht aus seiner metallenen Umklammerung herausgelöst werden kann, muss Althamer immer wieder ersetzen, weil es zum Spiel mit den herumtollenden Hunden benutzt wird und dabei irgendwo liegenbleibt. Die Skulptur geht auf eine Zeichnung zurück, die 2003 nach dem Besuch des Künstlers bei einem Hypnotiseur in Warschau entstand. Althamer sah sich unter Hyp169

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nose als jüdischer Junge zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die Zeichnung zeigt den Knaben in Begleitung eines struppigen schwarzen Hundes, Trümmer zu Füssen, über ihnen drei Flugzeuge. Die Hypnose wurde von Artur Żmijewski in dem Video Reincarnation Hypnosis (Miedzynarodowa Str. 62, Warsaw) (2003) dokumentiert. Żmijewski und Althamer sind seit ihrer gemeinsamen Studienzeit bei Grzegorz Kowalski an der Warschauer Kunstakademie miteinander befreundet und haben immer wieder zusammengearbeitet. Die Videoarbeit, in der Althamer unter Hypnose eine Reise in die Schrecken des Zweiten Weltkrieges unternimmt und aus der Perspektive eines jüdischen Jungen aus jener Zeit über die Zerstörung des Warschauer Ghettos berichtet, entstand für die Ausstellung »So genannte Wellen und andere Phänomene des Geistes« im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf. Die Ausstellung dokumentierte einige Versuche der beiden Künstler, unter Drogen in andere räumliche und zeitliche Dimensionen vorzudringen. Die polnische Kunsthistorikerin Joanna Mytkowska schreibt: »Zu diesem Zweck begaben sich Paweł und Artur auf eine gemeinsame Reise nach Mexiko, wo sie in der Wüste Real de Catorce die Möglichkeiten mentaler Ortsveränderungen mit Hilfe einer Pflanze erprobten, der wahrsagerische Kräfte zugeschrieben werden – Peyotel. Nicht völlig zufrieden mit dem dort Erlebten – einige der Substanzen geben nicht die Möglichkeit, das Erlebte anderen mitzuteilen – besuchten sie, zurück in Warschau, einen Hypnotiseur. Es entstand eine ungewöhnliche Dokumentation zu Pawełs Reise, deren Ziel man je nach Interpretation verschieden verstehen kann: als eine Reise ins Unterbewusstsein, in frühere Inkarnationen oder ins kollektive Gedächtnis.«01 Wichtig und in vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist Abram and Buruś, weil die Skulptur, welche vom Künstler als Denkmal bezeichnet wird, dieses Interesse an anderen räumlichen und zeitlichen Di170

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mensionen erkennen lässt, ohne dabei den für Althamer typischen Realismus zu schwächen. Die Erzählung der traumatischen Kriegserlebnisse eines jüdischen Jungen rührte in Polen noch immer an ein gesellschaftliches Tabu. Abram and Buruś ist Althamers Antwort auf den Kindersoldaten Little Insurgent (1983) von Jerzy Jarnuszkiewicz in der Altstadt von Warschau, wo eine Überfülle an Denkmälern und Gedenktafeln installiert wurde. Die Statue eines Knaben mit umgehängter Waffe und einem zu grossen Helm auf dem Kopf erinnert an die zahlreichen Kindersoldaten, welche in den Gefechten des Warschauer Aufstandes im Herbst 1944 umkamen. Abram and Buruś dagegen ist ein Denkmal ohne jede Monumentalität. Abram hat keine Waffe umgehängt, sondern nur ein Stöckchen in der Hand, das die Menschen im Quartier dazu benutzen, mit ihren Hunden zu spielen. Die Logik der Skulptur und jene des Denkmals waren vor der Moderne eng miteinander verbunden. Auf den ersten Blick entspricht Abram and Buruś ziemlich genau dieser vormodernen Logik, über die die amerikanische Kunstkritikerin Rosalind E. Krauss schrieb: »Kraft dieser Logik ist eine Skulptur eine Repräsentation, die an etwas erinnert. Sie steht an einem besonderen Ort und spricht in einer symbolischen Sprache über die Bedeutung oder den Gebrauch dieses Ortes.«02 Abram and Buruś unterscheidet sich von dieser Denkmal-Logik durch den ihr zugrunde liegenden, instrumentellen Kunstwerkbegriff. Althamer hat verschiedentlich in diese Richtung gearbeitet und dabei den Denkmalbegriff neu zu bestimmen versucht. Guma (2008) beispielsweise ist das lebensgrosse Bildnis eines Trinkers, das vor dem Lokal aufgestellt wurde, vor dem der Mann immer zu sehen war. Im Quartier erinnert man sich an ihn, weil er stets still und mit gesenktem Kopf dastand. Die Figur steht direkt auf dem Asphalt, montiert auf Stahlfedern, damit man sie beim Vorbeigehen anstossen und in 171

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eine leichte Bewegung versetzen kann. Althamer baute die Figur zusammen mit Jugendlichen, die zuvor an seinem Projekt Einstein Class (2005) beteiligt waren. Krysztof Visconti dokumentierte die Einstein Class im gleichnamigen Film. Im Rahmen einer Ausstellung zum Einsteinjahr 2005 in Berlin arbeitete Althamer mit schwer erziehbaren Jugendlichen aus dem Warschauer Bezirk Praga, in dem sich lange auch das bescheidene Atelier des Künstlers befand. Dort, im Dachstock eines grossen Backsteinbaus aus der Nachkriegszeit, Tür an Tür mit Künstlern, über die ausserhalb von Polen niemand spricht, traf sich der Künstler mit seiner Klasse zum Unterricht. Mit einem Teil des Projektgeldes wurden ein zusätzlicher Raum angemietet und Lehrer bezahlt, um die Jugendlichen in einem eigenen Klassenraum und auf Exkursionen, die aus der Stadt hinausführten, durch die Beobachtung physikalischer Phänomene in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zu schulen und ihnen Selbstvertrauen und Selbstbestätigung zu vermitteln. Ziel des Projekts sei es gewesen, sagt Paweł Althamer, den Jugendlichen positive Lebenserfahrungen zu ermöglichen, die sich von denen in ihrem meist schwierigen familiären, schulischen und persönlichen Umfeld unterschieden. Paweł Althamer ist künstlerisch lediglich an den Prozessen interessiert, die er in Projekten wie der eben geschilderten Einstein Class (2005) auszulösen vermag, und nicht an der ästhetischen Qualität der Objekte, die in den Workshops entstehen können. Es sind »sekundäre Exponate«, und doch stellt er sie aus.03 Man denkt an die Beobachtung des deutschen Kunsthistorikers Hans Belting, der in der Kunst seit den 1960er-Jahren Tendenzen wahrnimmt, »die Kunst aus dem ausstellbaren Werk zu vertreiben«.04 Im Rahmen der Einstein Class (2005) etwa entstanden Keramiken, die neben weiteren Relikten aus dem Unterricht in der Ausstellung »Einstein Spaces« in der ArchenholdSternwarte in Berlin-Treptow ausgestellt waren. Die per172

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formative Dimension der künstlerischen Arbeit, welche den Betrachter nicht lediglich als Wahrnehmenden, sondern auch als Handelnden einbezieht, ist für den Künstler seit seinen Anfängen eine unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen eines Kunstwerks. In diesem Prozess kann es, wie wir noch sehen werden, zu einer Verteilung der Autorschaft auf verschiedene Menschen kommen. I Open Form and Common Space, Private Space Paweł Althamer studierte 1988–1993 an der Warschauer Kunstakademie in der Klasse für Bildhauerei von Grzegorz Kowalski. Ein Vorgänger Kowalskis an der Akademie war der Architekt und Künstler Oskar Hansen (1922–2005), der bis zu seiner Emeritierung dem Warsaw ASP’s Plane and Solid Figure Design Studio (ab 1970 Visual Structures Studio benannt) vorstand und dort ab 1955 die Prinzipien der Open Form unterrichtete. Althamer lernte Hansen erst kurz vor dessen Tod kennen, als dieser in der Foksal Gallery Foundation in Warschau seine letzte Ausstellung vorbereitete und Althamer ihm bei der technischen Realisation zur Seite stand. Kowalski hatte sich schon in den 1960er-Jahren mit den Ideen Hansens befasst. Die Aufgabe des Künstlers beschreibt Hansen als »das Formen von Raum mittels visueller Strukturen, also nicht um anzuschauen, sondern um zu sehen. Um das Wichtigste im Raum zu sehen – den Menschen, der so schwer zu erkennen, zu unterscheiden ist im Chaos des mit Gegenständen zugeschütteten, zugemüllten Raums der Closed Form, von dem wir heute umgeben sind. Hier in diesem Laborraum sind die Besucher Subjekt und zugleich Betrachter und Akteur, sie leisten einen Beitrag zur kognitiven Analyse der menschlichen Figur wie sie sich vor einem formal absorbierenden, antimaterialistischen Hintergrund, der Open Form, darstellt.«05 173

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Grzegorz Kowalski nennt seine eigene pädagogische Methode, die der Bildhauer und Performer bis auf den heutigen Tag in seiner Klasse an der Warschauer Kunstakademie praktiziert, »didactics of the partnership«. Über die Jahrzehnte hat er ein Curriculum entwickelt, das auf das gemeinsame, prozessuale Arbeiten in der Klasse ausgerichtet ist. Die Studierenden arbeiten nicht nach selbst gestellten Aufgaben, sondern nehmen an Übungen teil, die zum festen Unterrichtsprogramm gehören. Eine dieser Übungen, die schon während der Studienzeit von Paweł Althamer regelmässig durchgeführt wurde, heisst »Common Space, Private Space«. Es lohnt sich, Kowalskis Beschreibung der Übung aus dem Jahr 1985 vollständig zu zitieren, denn sie macht verständlich, weshalb neben Althamer auch weitere der heute international bekannten polnischen Künstler der mittleren Generation wie Artur Żmijewski oder Katarzyna Kozyra die Zusammenarbeit suchen, performativ vorgehen und den Prozess selbst als Kunstwerk auffassen: »1. Bei ›Common Space, Private Space‹ sind alle, Studierende und Lehrende, gleichberechtigte Teilnehmer. Jeder von uns hat seinen definierten privaten Raum sowie Zugang zu einem für gemeinsame Aktivitäten genutzten Raum. Ein Beispiel ist ein langer Tisch mit Fotografien, die die Gesichter der Teilnehmer zeigen. Durch diese Struktur ist die Möglichkeit zur Definition des eigenen künstlerischen Ausdrucks (in der Fotografie) ebenso gegeben wie die Partizipation am gemeinschaftlichen Tun im gemeinsamen Raum (am Tisch). 2. Generell nutzen wir eine Sprache, die nicht mit Wörtern arbeitet, sondern vorwiegend mit Zeichen, Signalen oder Gesten, deren Vielfalt von der jeweiligen Situation abhängt. Beispiel: Durch eine ›eigene‹ Farbe markiert 174

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man an verschiedenen Stellen des Raumes die persönliche Anwesenheit. 3. Das Ziel dieser Übung ist die aktive Teilnahme am Kommunikationsprozess ohne den Einsatz gesprochener Sprache. 4. Der Prozess selbst ist unvorhersehbar und ausschliesslich abhängig von der Kreativität der Teilnehmer sowie der ›Temperatur‹ ihres Kontakts untereinander. Einigkeit besteht in einem Punkt: Kein Teilnehmer wird aktiv destruktiv handeln. Diese Einschränkung ist notwendig, da die Kommunikation über nicht-kodierte Sprache ein fragiler Vorgang ist, der rasch durch eine unbedachte Geste zerstört werden kann. Andererseits hat sich gezeigt, dass auch destruktives Verhalten neue Erfahrungen hervorbringen kann, daher beenden wir Destruktion nur, wenn sie den Fortgang des Prozesses bedroht.«06 In seinen Erläuterungen der Spielregeln macht Kowalski klar, dass unter diesen von ihm formulierten Bedingungen jedes Kunstwerk zeitlich befristet und nur in der gegebenen Situation existiert. Es gibt kein Publikum, sondern eine multiple Autorschaft, da alle Anwesenden in den Prozess einbezogen werden. Keinen künstlerischen Stellenwert haben die Dokumentation dieses Prozesses sowie dessen Interpretation. Als ich Kowalski auf die Zusammenarbeit von Althamer mit der Nowolipie Group ansprach und ihn fragte, was ihn daran interessiere, musste ich nicht lange auf eine Antwort warten.07 Künstlerisch interessierten ihn daran lediglich die kommunikativen Prozesse, die Althamer auszulösen vermag, und seine Hingabe, nicht aber die Objekte, die nun in Ausstellungen zu sehen sind. Einige der bekannten frühen Arbeiten von Paweł Althamer entstanden noch während seines Studiums an der 175

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Akademie. Die Performances Cardinal (1991), Water, Air, Space (1991) sowie Boat und Astronaut Suit (1991) seien erwähnt, aber auch eine Performance im polnischen Dłużew im Winter desselben Jahres. Althamer setzte sich bei eisiger Kälte in einem selbstgenähten weissen Kleid ohne jede Öffnung für Gesicht und Hände auf ein schneebedecktes Feld. Er trug unter der weissen Verpackung warme Kleidung und liess diese zusätzlich mit Zeitungen ausstopfen. Er blieb viele Stunden lang so bewegungslos wie nur möglich auf dem Feld sitzen und hörte den Spaziergängern zu. Er folgte ihren Gesprächen, hörte Kommentare über den Schneemann, als den ihn die Passanten wahrnahmen, und beobachtete die Veränderungen seiner Sinneswahrnehmungen. Schon im ersten Studienjahr entstanden die Skulpturen Okno (1988) und ein in Keramik ausgeführtes Self-Portrait (1989). Okno ist das Bildnis einer sitzenden, meditierenden Figur, deren Körper mit Jute umwickelt ist. Die Arme liegen eng am Körper, die Hände ruhen auf den Beinen. Das Augenmerk liegt auf dem fein ausgearbeiteten Gesicht mit den geschlossenen Augen. Kowalski erinnert sich, dass Althamer gerne alleine arbeitete, ausserhalb der Gruppe, und sich früh als äusserst talentierter Bildhauer zeigte, dessen Interesse von Anfang an dem Selbstbildnis galt. Die zweiteilige Abschlussarbeit Althamers an der Akademie bestand aus einem Selbstbildnis (1993) und dem Video Master’s Project (1993). Das lebensgrosse, naturalistische Selbstbildnis als nackter junger Mann formte er aus Gras, Hanf, Tierdärmen, Wachs und Haar. Das Video zeigt den Künstler, wie er die Akademie verlässt, einen Bus besteigt und an den Stadtrand fährt. Die Kamera folgt ihm in den Wald, wo er seine Kleidung ablegt und nackt in der Natur verschwindet. Bei der Abschlussprüfung war er entgegen der Vorschrift nicht anwesend. Seine damalige Frau Monika verlas eine Erklärung und zeigte das Video. Kowalski 176

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schreibt: »Das Eintauchen in der Natur war keine symbolische Rückkehr zum Urzustand des Menschen. Es war vielmehr eine Wiedervereinigung auf der Ebene des von der eigenen Körperlichkeit befreiten Egos. Ich kannte ältere Arbeiten von Althamer ebenso wie seine Sehnsucht, ›wie Äther zu werden‹, sich in andere Realitätsebenen zu flüchten. Er schuf sich einen Raum, der ihn von der Welt isolierte: einen Wasser-›Sarkophag‹, ein wasserdichtes eisernes Boot. Er nähte Anzüge, die sich mit einem Reissverschluss von den Füssen bis über den Kopf schliessen lassen. Er baute eine pechschwarze dunkle Kammer. Er stürzte sich ins Wasser, verschloss und isolierte sich, um die Veräusserlichung seines Egos zu erfahren.«08 Als Althamer viele Jahre später zu seiner Studienzeit bei Kowalski befragt wurde, sagte er: »Damals entdeckte ich auch, dass ich nicht so einsam war wie ich dachte. Im Gegenteil, nach dieser Erfahrung fand ich Freunde im Wald, und zwar buchstäblich: Ich erfuhr Bäume als Freunde, die Natur und alle Kreaturen, die mich umgaben. Insofern blieb ich lediglich auf der menschlichen Ebene einsam, nur auf der Bewusstseinsebene, die jedoch nicht meine einzige ist. Und dann tauchten auf meinem Weg viele Leute auf, Verbündete, denen man begegnet und die einem etwas von der Last abnehmen. Diese waren meine Führer.«09 Die Selbsterfahrung und deren Visualisierung sind bis heute zentrale Anliegen des Künstlers. Es geht ihm dabei nicht nur um körperliche und psychische Grenzerfahrungen, sondern auch um seine Selbstwahrnehmung in verschiedenen Lebenssituationen. Nicht weniger wichtig sind schon in der Frühzeit die Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Raum und den Menschen, die sich darin manifestieren. Im Vordergrund stehen dabei nicht soziale oder politische Fragen, die er mit seiner Kunst ebenfalls zur Debatte stellen möchte, sondern der einzelne Mensch und dessen konkrete Realität, die er stets respektvoll darstellt. 177

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1992 wurde Althamer angefragt, um eine Werbekampagne für die polnische Tageszeitung Obserwator (Beobachter) zu gestalten. Er sagte zu und machte sich auf den Weg, die tatsächlichen Beobachter in der Stadt ausfindig zu machen. Und er wurde schnell fündig. Es gelang ihm, einige Obdachlose dafür zu gewinnen, weiter nichts zu tun, ausser dazusitzen und zuzusehen, wie die Zeit vergeht, und dabei ein Abzeichen mit dem Namen der Zeitung zu tragen. 1997, auf der documenta X in Kassel, lebte ein polnischer Obdachloser in einem weissen Wohnwagen, den der Künstler auf dem Ausstellungsgelände abgestellt hatte. Auf einem Monitor im Inneren des Wagens war ein Video zu sehen, das den Künstler in einem selbstgefertigten Raumanzug zeigte, wie er neugierig durch Kassel ging. Astronaut 2 geht auf eine Strassenaktion 1995 in Polen zurück, Astronaut 1, bei der Althamer im Raumanzug durch die Strassen ging und mit seiner Videokamera aufzeichnete, was er sah. Die Aufnahmen wurden in Echtzeit auf einen Monitor übertragen, den er auf dem Rücken trug. Nach einem ungefähr zweistündigen Spaziergang kehrte Althamer ins Kunstmuseum in Bydgoszcz zurück, um dort die für die Performance verwendeten Requisiten als seinen Beitrag zu einer Gruppenausstellung zu hinterlassen. 2001 lud Althamer in Wien Obdachlose ein, sich tagsüber in der Wiener Sezession aufzuhalten, wo sie täglich mit einer freien Mahlzeit versorgt würden. Sie sollten eigentlich mit getragener Markenkleidung versorgt werden, damit sie wie Obdachlose der Zukunft aussähen, trugen dann aber in der Ausstellung weisse Kostüme. Die Arbeit mit Menschen, die am Rande der Gesellschaft, in freiwilliger oder aufgezwungener Isolation ihre Tage verbringen, und die nicht selten zu den Verlierern der Modernisierung zu zählen sind, zieht sich wie ein roter Faden durch das bisherige Schaffen des Künstlers. Er verfolgt dabei keine bestimmte gesellschaftspolitische Stossrichtung. 178

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Sein Schaffen ist seit den ersten Arbeiten und bis heute mit dem gegenseitigen Wissens- und Erfahrungstransfer zwischen Alltag und Kunst befasst. Die ständige Befragung und Neuformulierung des Kunstwerkbegriffs ist eine Konsequenz dieser Methodik. II White Cube Im Jahr 1996 zeigte Paweł Althamer in der Galeria Foksal in Warschau die Installation Untitled (air-conditioning). Mit dieser Ausstellung begann die Zusammenarbeit des Künstlers mit den späteren Gründern der Foksal Gallery Foundation, die zu diesem Zeitpunkt noch für die legendäre Galerie Foksal arbeiteten. Die Ausstellung umfasste den Galerieraum und den baumbestandenen, verwilderten Hof, der zwar von der Galerie aus sichtbar, aber nicht erreichbar war. Althamer machte den Garten für die Besucher zugänglich, indem er ein Fenster durch eine Tür ersetzte. Eine Treppe führte in den Garten. In der Galerie verlegte der Künstler einen grauen Industrie-PVC-Boden und montierte weisse Omnibussitze und einen Ventilator. Er nahm in dieser Arbeit das Motiv des Reisens wieder auf, das er schon während seines Studiums thematisiert hatte. Der Ausstellungsbesuch führte aus der Stadt durch die Galerie in einen grossen, verwilderten Garten. Die Galerie übernimmt dabei metaphorisch die Funktion des Wartesaals, des Transportmittels und des irrealen Zwischenraums. Der Ausstellungsbesuch ist eine zeitlich wie räumlich äusserst geraffte Reise, die aus der individuellen Alltagsrealität in einen der Natur überlassenen Raum führt. Die weissen Bussitze sollten im folgenden Jahr in seiner Ausstellung in der Kunsthalle Basel wieder auftauchen, dort waren sie figurativen Skulpturen gegenübergestellt, und einige Jahre später verwendete Althamer die Sitze erneut, diesmal in einem weissen Linienbus in Mailand. Der Bus war 179

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ein fahrender White Cube, der den Passagieren zeigte, wie sich vor dem Fenster die Realität entfaltet. Mit der Arbeit Untitled (the tent) (1999) radikalisierte Althamer die Idee seiner ersten Ausstellung in der Galeria Foksal und intensivierte seine Beschäftigung mit dem Konzept des Ausstellungsraums als einem von der Umgebung isolierten White Cube, das er ablehnt. Diesmal blieb die Galerie während der Ausstellung leer, und der Hof wurde mit einem weissen Zeltdach überspannt. Der Ausstellungsbesuch führte nun in einen durch Kunst erzeugten und begrenzten Naturraum, in dem Natur nur mehr in manipulierter Form erlebbar war, da die Plane wie ein Treibhaus die Lebensbedingungen der Pflanzen und Tiere vor Ort veränderte. An Althamers beiden mobilen Galerien Foksal Gallery Foundation (2004) und FGF Warsaw (2007), die sich in der Sammlung der Tate Modern in London befinden, lässt sich ablesen, wie wichtig dem Künstler die Zusammenarbeit mit seiner Warschauer Galerie, den von ihr vertretenen Künstlern und insbesondere mit dem aus Andrzej Przywara, Adam Szymczyk und Joanna Mytkowska bestehenden ersten Leitungsteam war. Foksal Gallery Foundation spielt mit ihrem Namen auf die 1966 in Warschau von Kunstkritikern und Künstlern gemeinsam gegründete Galeria Foksal an, die wegen ihres radikalen, avantgardistischen und internationalen Ausstellungsprogramms in Polen über Jahrzehnte ein bedeutender Treffpunkt für Künstler war. Eine wichtige Funktion hatte auch das öffentliche »Living Archive«, in welchem die Aktivitäten der polnischen Kritiker und Künstler, die mit der Galerie verbunden waren, dokumentiert wurden. Die Stiftung beschränkt sich nicht auf Ausstellungen in den eigenen Räumlichkeiten in Warschau, sondern arbeitet an der Ausweitung der internationalen Präsenz der von ihr vertretenen Künstlerinnen und Künstler. Es finden sich darunter neben Paweł Althamer heute so bekannte Namen wie Artur Żmijewski, Wilhelm 180

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Sasnal oder Monika Sosnowska. Ein weiterer Fokus der Foksal Gallery Foundation liegt auf der Erhaltung des Ateliers von Edward Krasiński (1925–2004), einem Mitbegründer der Galeria Foksal, dessen Nachlass die Foundation vertritt und dessen Atelier um einen Projektraum und ein Gästezimmer erweitert wurde. Die erste der beiden erwähnten Arbeiten ist ein mobiles, mit einem Fahrgestell versehenes Modell des Ausstellungsraums der Galerie im Massstab 1: 5. Es zeigt neben dem Raum mit Bibliothek und Büro auch die damaligen Mitarbeiter der Stiftung als Puppen. Andrzej Przywara steht am Fenster und blickt in die Ferne. Adam Szymczyk, der – ebenso wie Joanna Mytkowska – schon lange nicht mehr für die Stiftung tätig ist, steht am langen Tisch in der Galerie und telefoniert mit seinem Handy. Joanna Mytkowska ist mit dem Künstlerarchiv beschäftigt, und Joanna Diem sitzt am Computer und telefoniert ebenfalls. Das zweite Werk entstand 2007 für die Londoner Kunstmesse Frieze.10 Es handelt sich um eine Holzkiste, deren Bauteile zu einem mobilen Verkaufsstand angeordnet werden können. Dieser besteht aus einem fahrbaren Bühnenelement, das als temporärer Ausstellungsraum dient, einem Anbau mit Lavabo und einem grossen Marktfahrerzelt, unter dem nichts angeboten wird. Die Arbeit ist eine Kooperation zwischen Paweł Althamer, Künstlern der Galerie, seinem Sohn Bruno und den technischen Werkstätten von Adam Althamer, dem Vater des Künstlers. Der temporäre Ausstellungsraum verfügt über ein Fenster, das aus einer Strassenbahn stammt, und ist mit einem Strassenbahnsitz, einem kleinen Klapptisch aus einem Zug, einem Büchergestell, einer Ständerlampe und einem Teppich möbliert. Im Büchergestell finden sich Kataloge der Künstler der Galerie, eine Zeitschrift mit einem von Edward Krasiński gestalteten Cover sowie Puppen und Miniaturen von Paweł Althamer. Die Bühne kann direkt betre181

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ten werden oder seitlich durch eine Tür, deren Klinke von Monika Sosnowska gestaltet wurde. Die Tür stammt aus einer früheren Althamer-Ausstellung in der Galeria Foksal, in der sie den Galerieraum mit den benachbarten Arbeitsräumen von Wirtualna Polska, damals Polens grösstes Internetportal, verband. Der Anbau ist mit einem Gemälde von Wilhelm Sasnal überdacht. Neben dem Lavabo hängt ein kleines Gemälde von Jakub Julian Ziółkowski. Auf einem Flachbildschirm ist Artur Żmijewskis Dokumentation der letzten Ausstellung von Oskar Hansen zu sehen. Die Ironie der Installation bestand darin, dass sie für eine Kunstmesse geschaffen wurde. FGF Warsaw (2007) ist ein Kunstwerk und zugleich die Plattform für die kommerzielle Arbeit der Galerie auf der Messe. An dem Werk sind verschiedene Autoren beteiligt, wobei zwischen künstlerischen und handwerklichen Leistungen nicht unterschieden wird. Althamer thematisiert wiederum den Ausstellungskontext und reflektiert das Medium Ausstellung. Es ist eine Arbeit, die Freundschaft künstlerisch darstellt und ausdrücklich für die Wahrnehmung unter kommerziellen Bedingungen geschaffen wurde. Die Fotografien von Foksal Gallery Foundation (2004), die Paweł Althamer veröffentlichte, zeigen die Arbeit nicht als das Museumsstück, das es heute ist, sondern in den Strassen Warschaus mit Kindern davor, die lachend durch die Fenster in die Galerie blicken. Wie ein fahrender Händler oder Schausteller schob der Künstler das Modell der Galerie durch die Strassen, um es der Foksal Gallery Foundation zu übergeben, die es danach auf der Kunstmesse in Basel zum Verkauf anbieten sollte. Auf dem Weg, den Paweł Althamer mit dem Modell in Warschau zurücklegte, zeigte sich die wahre Natur der Arbeit, denn es bildete sich ein Publikum, das spontan, echt und direkt auf das Puppenhaus reagierte. Die Herstellung und der Verkauf von Puppen spielte in den 1990er-Jahren für Althamer und 182

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seine Familie eine wichtige Rolle. Der Verkauf trug wesentlich zur Finanzierung des Lebensunterhalts bei. Der Erlös dieser kleinen, aus Textilien und Leder genähten Figuren war viele Jahre lang substanzieller als jener der Kunst. Die in Heimarbeit zusammen mit seiner damaligen Frau Monika hergestellten Puppen weisen in vielerlei Hinsicht auf Althamers spätere Auffassung von Kunstwerk und Autorschaft voraus. Einzelne dieser Puppen zeigte er zuerst ausserhalb des Kunstkontextes in Schaufensterausstellungen. 1997 entstand Doll’s House, ein Puppenhaus, das die Geschichte zweier Nachbarn darstellt. Im oberen Geschoss lebt ein armer Bildhauer – ein Selbstbildnis Althamers als alter Mann – mit seinen Kindern. Unter ihnen wohnt ein verwahrloster, einsamer Mann, dessen Wohnung mit Konsumgütern vollgestopft ist. Das Puppenhaus war zuerst in Warschau im Schaufenster eines Spielwarengeschäfts ausgestellt und danach in Venedig im Schaufenster einer Schneiderei. Althamer verstand die Puppen nie als Kinderspielzeug, sondern als kleine Ausstellungsstücke, für die sich auch ein mit Kunst nicht vertrautes Publikum interessieren liess. Keine der Ausstellungen, die Paweł Althamer bisher mit Foksal zeigte, fand auch tatsächlich im Ausstellungsraum der Galerie statt. House on a Tree (2001) beispielsweise war eine Arbeit, die vor dem Fenster der Galerie installiert wurde. Sie bestand aus einem Baumhaus. Die Schau umfasste einen leeren Ausstellungsraum und ein privates Zimmer, das illegal im öffentlichen Raum errichtet wurde. Ausstellungen in privaten Galerien benutzt der Künstler nie nur dazu, Arbeiten zum Verkauf anzubieten, sondern er thematisierte mit jeder Ausstellung auch den Ausstellungskontext und das Medium der Ausstellung. In der Kunst der 1990er-Jahre finden sich viele Parellelen zu dieser institutionskritischen Dimension seines Schaffens, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, aber auch 183

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eine signifikante Differenz: Im Unterschied zu den meisten institutionskritischen Künstlern seiner Generation, die ihre Arbeiten metadiskursiv anlegen und damit bewusst innerhalb der Institutionen agieren, befragt Althamer das Kunstsystem auch von aussen. Das zeigt sich darin, dass er seinen Status als Künstler dafür einsetzt, kreative Freiräume und Situationen zu schaffen, die andere tatsächlich für sich nutzen können, ohne sich dabei in der Rolle derjenigen wiederzufinden, die das System hinterfragen. III Kids Die erste Ausstellung von Paweł Althamer, die ich gesehen habe und an deren Besuch ich mich genau erinnern kann, war seine Einzelausstellung 1997 in der Kunsthalle Basel. Althamer hatte im Oberlichtsaal des Obergeschosses einen weissen Boden verlegen lassen und in diesem White Cube, den man wiederum wie ein Zelt durch einen weissen Kunststoffvorhang betrat, zwei seiner frühen Skulpturen und acht weisse Bussitze ausgestellt. Im angrenzenden kleinen Saal war neben einem Selbstporträt das Video Dancers (1997) zu sehen. Es zeigte nackte Männer und Frauen, die sich an den Händen halten, bekannte Melodien summen und im Kreis tanzen. Die Darsteller hatte Althamer in einem Obdachlosenheim angesprochen. Die Ausstellung wirkte einerseits seltsam entrückt und unfassbar, sowohl in zeitlicher wie auch in räumlicher Hinsicht, und andererseits gebrochen, humorvoll, komisch und human durch den Einbezug der Obdachlosen. Nach der Ausstellungseröffnung traf man sich zu später Stunde in einer kleinen Bar, wo ich Paweł kennenlernte. Mit dabei im »Grenzwert« waren auch Andrzej Przywara und Adam Szymczyk, die Althamer im Jahr zuvor in der Galeria Foksal in Warschau die erwähnte erste Einzelausstellung ermöglicht hatten. Drei Jahre später, am 26. Oktober 2000, verabredete ich mich 184

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mit Paweł in Warschau und lud ihn ein, in der Schweizer Berggemeinde Amden auszustellen. Im Jahr zuvor hatte ich ein Buch über die lebensreformerische Siedlung Grappenhof in Amden und die spätere Ansiedlung des Schweizer Malers Otto Meyer-Amden (1885–1933) und seiner Künstlerfreunde Albert Pfister, Willi Baumeister und Hermann Huber veröffentlicht.11 Otto Meyer-Amden, der von 1912 bis 1928 in Amden lebte, erarbeitete in der ländlichen Abgeschiedenheit ein Werk, dessen Bedeutung aus heutiger Sicht gerade darin liegt, dass es immer prozess- und grundlagenorientiert blieb. Paweł Althamer interessierte sich für die Lebensgeschichte Meyer-Amdens und erzählte mir seinerseits von einem Altersgenossen des Schweizers, dem polnischen Schriftsteller und Künstler Witkacy (1885–1939). Witkacy, dessen Theaterstücke zu Lebzeiten keine Anerkennung fanden, gilt heute als einer der wichtigen Schriftsteller der polnischen Moderne und wurde in der Nachkriegszeit vor allem für den Künstler und Dramatiker Tadeusz Kantor, einem weiteren Künstler aus dem Kreis der Galeria Foksal, zu einer zentralen Orientierungsfigur. Witkacy, eine freie und exzentrische Persönlichkeit, war vor allem in der Zwischenkriegszeit als Maler sehr produktiv. Um Geld zu verdienen, zeichnete er Porträts, oft unter dem Einfluss von Drogen. Diese fantastischen, gänzlich unakademischen, halluzinogenen Blätter, die er mit Kommentaren – etwa über die Art der beim Arbeiten eingenommenen Drogen – bekritzelte, erinnern an die Zeichnungen des französischen Schauspielers, Dichters und Künstlers Artaud. Als Paweł Althamer am 18. November 2000 zu einer Ortsbesichtigung nach Amden kam, schenkte er mir die Monografie über Witkacy von Irena Jakimowicz.12 Wir wanderten im Schnee. Rehe kreuzten auf diesem Rundgang mehrmals unseren Weg. Dieses Auftauchen und Verschwinden der Tiere bestimmte Althamers Erinnerung 185

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Paweł Althamer, Weronika, 2001, Ausstellungs­a nsicht Atelier Amden 2001, Photo Mich a el Fon ta na Ba sel.

Paweł Althamer in Amden, 2001, Photo Rom a n Ku r zmey er Ba sel.

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an den Ort und bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung seiner Installation. Er beabsichtigte zunächst, eine im bewaldeten Gelände verborgene skulpturale Arbeit zu schaffen. Realisiert hat er während seines Aufenthalts in Amden im Sommer 2001 in einem abgelegen, aber malerisch in der Berglandschaft gelegenen Stall die Installation Weronika, die neben einem lebensgrossen plastischen Bildnis seiner Tochter Weronika auch eine Auswahl aus Weronikas ebenfalls in Amden entstandenen Zeichnungen und Scherenschnitten umfasste. Der Künstler verwendete für die Plastik, wie schon für das Selbstbildnis, das Teil seiner Abschlussarbeit an der Akademie gewesen war, organische Materialien, einige fand er vor Ort: Heu und Draht zur Formung des Körpers, Hanf für das Haar. Aus Warschau hatte er den Schädel, Perlmutter für die Augen und Rinderdärme für die Haut mitgebracht. Philipp Kaiser schrieb in seiner Ausstellungsbesprechung: »Die bekannten Aktzeichnungen Otto Meyer-Amdens von Knaben und Mädchen werden nun von Paweł Althamer zwar nicht direkt zitiert, dennoch aber bilden sie als Folie eine unsichtbare Referenz, die auch die sexuelle Latenz dieser Jugendbilder thematisiert. Weil auch das Äussere des kleinen Mädchens hier zugleich adrogyn anmutet, korreliert diese Ebene mit einer utopischen Allegorie von der Unschuld der Kindheit, wie sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts weit verbreitet war. Im Spannungsfeld von Autonomie, Ortsspezifik und Kontext verdichtet sich deshalb in Weronika eine vielschichtige Reflexion um Bilder des Eigenen und Fremden, deren Kraft in der sinnlichen und physisch realen Begegnung zu spüren ist.«13 Paweł Althamer kam damals mit seiner ganzen Familie in die Schweiz. Er hatte anlässlich seines ersten Besuchs in Amden erzählt, dass seine Reise- und Ausstellungstätigkeit zu Spannungen in der Familie geführt hatte, da er oft von seiner Frau und den drei Kindern getrennt sei, und wie 189

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er diesem Konflikt mit dem Einbezug aller Familienmitglieder in seine Arbeit begegnen wolle. In der Woche vor der Ausstellung verbrachte er die Nachmittage bei schönem Wetter mit seiner damals fünfjährigen Tochter auf der Bergwiese vor dem Stall und arbeitete an deren Ebenbild, während sie in seiner Nähe zeichnete und spielte. Im selben Jahr beteiligte sich Althamer mit seiner Tochter Weronika an der Ausstellung »The Collective Unconsciousness« im Migros Museum in Zürich. Er schlug vor, die Museumsangestellten durch Kleinkinder zu ersetzen. Weronika war eines der zahlreichen Kinder, die an der Eröffnung der Ausstellung die Aufgabe der Aufsicht übernahmen. Althamers King Maciuś I (2001) nimmt Bezug auf das gleichnamige Märchen von Janusz Korczak (1878–1942) aus dem Jahr 1923, das davon handelt, wie ein Knabe, der durch den plötzlichen Tod seines Vaters König wird, negativen Instinkte Raum gibt und aus seinen Fehlern lernen muss. Korczak, der einer assimilierten jüdischen Familie entstammte, war als Pädagoge, Arzt und Schriftsteller tätig und gründete 1911 in Warschau ein jüdisches Waisenhaus. Er rief eine Art Republik der Kinder ins Leben, mit einem eigenen Parlament, einem Gericht und einer eigenen Zeitung. 1926 nahm er die Idee noch einmal auf und liess Kinder eine Zeitung produzieren, die einmal pro Woche der jüdischen Tageszeitung Nasz Przegląd beilag. Während des Zweiten Weltkrieges wurde er gezwungen, sein Waisenhaus ins Warschauer Ghetto zu verlegen. Am 5. August 1942 wurde das Haus von den deutschen Besatzern geschlossen, und die Kinder wurden ins Konzentrationslager Treblinka deportiert. Korczak blieb an der Seite der Kinder, obschon ihm angeboten wurde, das Ghetto zu verlassen. King Macius I (2001) ist eine von inzwischen zahlreichen Arbeiten Althamers, an denen Familienmitglieder beteiligt sind oder sogar statt des Künstlers ausstellen. 2003 nahm 190

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Althamer als Assistent seiner inzwischen siebenjährigen Tochter an einer Gruppenausstellung in Utrecht teil und half ihr, das von ihr vorgeschlagene Projekt zu realisieren. Im folgenden Jahr nahm sein 16-jähriger Sohn Bruno an seiner Stelle mit eigenen Zeichnungen an der Gruppenausstellung »Under the White-Red Flag – New Art from Poland« in Moskau, Vilnius, Tatlin und Riga teil. Ebenfalls 2004 wurde Althamer in Maastricht »The Vincent Award« verliehen. Die Auszeichnung bildete einen ersten Höhepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung des Künstlers ausserhalb Polens und wurde von einer grossen Ausstellung im Bonnefantenmuseum begleitet. Unter anderem zeigte er die Arbeit Bad Kids, ausgeführt von einer Gruppe Jugendlicher aus Brodno, darunter seine beiden Söhne Bruno und Szymon. Althamer verbrachte mit ihnen zehn Tage in Maastricht. Er wollte den Teenagern eine Reise ins »Paradies« ermöglichen, arbeitete mit ihnen im Museum und überliess ihnen das Vestibül seiner Ausstellung für ihre Selbstdarstellung. Das Ergebnis war wenig überraschend: es bestand aus zahllosen auf Wände und Boden gesprühten Graffiti. Die Familie bestand nun nicht mehr nur aus seinen Kindern oder wie 2002 aus weiteren Verwandten, mit denen er eine »Pilgerreise« in die Toskana unternahm, sondern umfasste auch die Freunde seiner Söhne. IV Kontext Kunst Das erwähnte Treffen mit Paweł Althamer in Warschau am 26. Oktober 2000 fand während einer Reise statt, die mich von der Ukraine nach Polen führte. Ich wollte mir in der Ukraine ein Bild von der kulturellen und politischen Situation des Landes machen, insbesondere von den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Kunstschaffenden. Ich traf mich mit Künstlern, diskutierte mit Kunstkritikern und besuchte Ausstellungsinstitute. Nach meiner Ankunft 191

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Paweł Althamer, Mission, 2012, Objekt 163 × 315 × 295 cm, Janusz 193 × 85 × 155 cm, Roman 189 × 92 × 59 cm, Andrzej 223 × 87 × 63 cm, Courtesy neugerriemschneider Berlin and Foksal Gallery Foundation, Warsaw, Photo Jens Ziehe Ber lin.

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in Kiew erfuhr ich bei der Abwicklung der Einreiseformalitäten, dass neben Waffen und Drogen auch Bücher zu den nicht einzuführenden Waren zählten. Die Busfahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum war eine Reise in eine vertraut erscheinende, mir aber doch völlig unbekannte Vergangenheit. Der Weg in die Stadt war gesäumt von zahlreichen Siedlungen aus den 1950er- und 1960er-Jahren, deren schmutzige Fassaden mit den einfach verglasten, nicht selten mit Klebeband notdürftig reparierten Fensterfronten wie ein Sinnbild des Stillstandes, der allgegenwärtigen Abnützung und dringend nötigen Erneuerung schien. Es gab damals in der Ukraine nur gerade zwei Zentren für Gegenwartskunst, in Kiew und in Odessa, deren beider Gründung der amerikanische Geschäftsmann George Soros ermöglicht hatte. Er war es auch, der hier, wie schon in anderen osteuropäischen Ländern, die Mittel für die ersten Betriebsjahre zur Verfügung stellte. Der für die ukrainische Situation zutreffende Wahlspruch des Kunstzentrums in Kiew lautete: »Durch zeitgenössische Kunst machen Menschen die unbequeme Erfahrung, nicht auf alles eine Antwort zu wissen.«14 Der Gegensatz zwischen den verwahrlosten Museen, in denen historische Gemälde ukrainischer Künstler in ruinösem Zustand ausgestellt waren und von alten Frauen beaufsichtigt wurden, den bettelnden Rentnerinnen vor den Repräsentationsbauten Stalins und den kreuz und quer parkierten schwarzen Limousinen, die den Fussgängern in der Innenstadt den Weg versperrten, beschäftige mich vielleicht deshalb besonders stark, weil ich mich doch immer noch in Europa befand, wenn auch an seinem Rand. Die Künstler, welche ich kennenlernte, hatten ihre Ateliers in ihren Wohnungen und stellten im nahen Ausland aus. Kontakte zu Moskau, wo einige der Künstler in den 1990er-Jahren ihre erste Ausstellung zeigen konnten, bestanden kaum mehr. Die Zentrumsfunktion dieser Stadt 194

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war damals im Begriff zu verblassen, die finanziellen Mittel der Kunstschaffenden aber reichten nicht aus, um nach Westeuropa zu reisen. Einige meiner Gesprächspartner waren im Institute of the Unstable Thoughts organisiert, einer Selbsthilfeorganisation von Künstlern, Kritikern, Musikern und Kuratoren, die vor allem von ausländischen Stiftungen unterstützt wurde. Nach meiner Rückkehr in die Schweiz las ich einen bemerkenswerten Essay des ungarischen Schriftstellers Peter Nadas, in dem dieser die These vertritt, dass es Europa auch zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer nicht gelungen sei, die Mentalität des Kalten Krieges zu überwinden. In Osteuropa bestätigten traditioneller Kapitalmangel und Lebenserfahrungen, die »gut fürs Überleben, jedoch nicht für das durchs Überleben gewonnene Leben« seien, das Gefühl, »der ewige Verlierer der Geschichte« zu sein.15 Der Egoismus der westlichen Gesellschaften dagegen, der die Integration der neuen Demokratien Osteuropas verhindere, gründe nicht auf dem Zwang zu überleben, sondern auf einer Tradition der Kapitalakkumulation und einem ebenso alten Gesellschaftsvertrag, der Selbstdisziplin und ein gewisses Mass an Solidarität in der eigenen Gesellschaft verlange. Im Jahr 1994, in der Zeit des politischen Systemwechsels, in der die Desorganisation des ukrainischen Staates im Guten wie im Schlechten in allen gesellschaftlichen Bereichen unerwartete Möglichkeiten bot, fand auf einem atombetriebenen Kriegsschiff in Sevastopol die Kunstausstellung »Alchemic Surrender« statt.16 Diese Ausstellung zeigte nicht nur ukrainische Gegenwartskunst, sondern auch historische Zeugnisse aus den Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft. Schon der Umstand, dass es gelungen war, auf einem Kriegsschiff eine Ausstellung zu zeigen, sorgte für grosses Aufsehen. Das Skandalon der Veranstaltung aber war der Beitrag des Künstlers Iliya Chichkan. Er führt in seiner Arbeit in aller Drastik die atomare Verseuchung der 195

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Region um die Hauptstadt Kiew durch die Explosion in einem Atomkraftwerk 1986 in Tschernobyl vor Augen. Kiew und Tschernobyl liegen weniger als 60 Kilometer auseinander. Der Künstler suchte in der Sammlung der medizinischen Fakultät der Universität in Kiew nach missgebildeten Früh- und Totgeburten aus den Jahren nach dem Reaktorunglück und stellte die Leichen dieser Kinder in den runden Schiffsluken aus. Drei Jahre später entstand eine Serie von Fotografien solcher Mutanten, die der Künstler Sleeping Princes (1997) nannte. Er hatte die Leichen in lokalen Spitälern gekauft und die kleinen toten Körper vor dem Fotografieren mit einem Ohrring oder einem Fingerring geschmückt. Als ich den Künstler besuchte, standen die Gläser mit den Frühgeburten auf dem Balkon seiner Wohnung. Die Perversion des politischen Systems und die unmenschlichen Lebensbedingungen, die neue Perversitäten erzeugen, zählten damals zu den wichtigen Themen der ukrainischen Gegenwartskunst: Olexandr Hnilitsky, Mitbegründer von »Unstable Thoughts«, stellte beispielsweise in der Börse von Kiew eine mechanische, lebensgrosse Plastik einer bettelnden alten Frau aus. Ein wichtiger, inzwischen international anerkannter Künstler der älteren Generation ist Boris Mikhailov, der in seinen Fotografien die Veränderung in der sowjetischen Gesellschaft thematisiert. War es in den 1970er-Jahren die Verlogenheit der politischen Propaganda, die er in seinen Arbeiten zeigte, so waren es nun die Verlierer der neuen Gesellschaft. Diesem schonungslosen Blick, der an den wirklichen Lebensbedingungen der Menschen und ihrer Existenz interessiert ist, bin ich in den osteuropäischen Ländern in den späten 1990er-Jahren immer wieder begegnet. Ich kann mich gut an einen Abend in Ostrava erinnern, an dem mir ein Künstler seine Videoarbeit mit Aufnahmen aus einem Krematorium zeigte, welche den automatisierten Ablauf der letzten Reise der angelieferten Leichen thematisierte. 196

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Ich denke auch an Artur Żmijewskis Arbeit Auge um Auge (1998). Die Fotografien zeigen nackte, körperlich behinderte Menschen, denen teils einzelne Glieder fehlen, zusammen mit einer zweiten Person, welche die Funktion des fehlenden Beines oder der behinderten Hand übernehmen. »Die Sprache der Körper ist unmittelbar und die Behinderung sichtbar«, schreibt Joanna Mytkowska, »die Prothese nur zeitweilig.«17 Der in Odessa geborene Künstler und Kurator Peter Weibel versuchte 1993, die Konturen der Kunst der 1990erJahre in einer Ausstellung im Rahmen des Steirischen Herbstes in Graz darzustellen und veröffentlichte danach den Quellenband Kontext Kunst. Weibel wollte den in jenem Jahrzehnt bestimmenden Kunstbegriff ermitteln, ausgehend von seiner Überzeugung, »dass es sehr wohl noch Avantgarden und neue künstlerische Bewegungen gibt und dass die behauptete bunte Beliebigkeit nur eine Illusion des Betrachterstandpunkts im Dienste einer konservativen Ideologie ist«.18 Er setzte sich folglich bewusst von der die theoretischen Debatten dominierenden Position ab, derzufolge das Zeitalter der Avantgarden abgeschlossen sei, und postulierte innerhalb der Moderne eine neue Zäsur: »Auf die Konzeptualisierung der Kunstproduktion folgt die Kontextualisierung der Kunst.«19 Was aber ist genau unter »Kontextualisierung« zu versehen, was charakterisierte diese neue Bewegung? Nach Peter Weibel thematisierte diese neue Kunst »die sozialen, formalen und ideologischen Bedingungen, unter denen Kunst produziert wird, aber auch die ökonomischen, ideologischen und sozialen Kontexte, innerhalb derer Kunst institutionalisiert wird. Die Bedingungen, unter denen ein Werk entsteht, werden Ausgangspunkt des Werkes oder das Werk selbst. […] Diese Vorgangsweise liefert Arbeiten in allen Medien, vornehmlich im Raum verstreute Materialien, vielgestaltige Installationen, deren Aussehen zwischen Forschungs197

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labor, Kaffeehaus, Naturkundemuseum, Wohnung, Bühne, Informationsstand, Interior Design, Expeditionslager, Zufluchtsort für Homeless People schwanken kann. Ihre materielle Form tendiert zu einem Netzwerk aus Ready mades und selbst hergestellten Produkten. Das Werk kann dabei in seiner historischen Erscheinungsform verschwinden. Der Text, das Werk, wird ersetzt durch den Kontext, der zum Text wird. Das Kunstprodukt wird fast unsichtbar, gemessen an historischen Ansprüchen.« Boris Groys begreift kontextuelle Kunst als Versuch, das Schwinden des »wirklichen« Kontextes, nämlich eines interessierten Publikums, durch einen fiktiven Kontext aufzufangen, um die quälende Isolation zu überwinden, die in der gesellschaftlichen Gleichgültigkeit gegenüber zeitgenössischen künstlerischen Entwicklungen begründet sei.20 Paweł Althamer würde dem nicht zustimmen. Seine Sozialisierung als Künstler vollzog sich zu einer Zeit, als sich in Polen das an zeitgenössischen künstlerischen Entwicklungen interessierte Publikum erst allmählich neu zu formieren begann. Ein kunstinstitutioneller Rahmen, auf den sich der Künstler hätte beziehen oder für den er wie die Künstler im Westen hätte arbeiten können, fehlte weitgehend. Die Thematisierung des gesellschaftlichen Kontextes, innerhalb dessen eine zeitgenössische künstlerische Arbeit Anerkennung finden kann und institutionalisiert wird, beschäftigt ihn ebenfalls nur sehr bedingt, da sein Schaffen nicht auf Musealisierung ausgerichtet ist. Paweł Althamer setzt künstlerische Methoden in lebensweltlichen Situationen ein. Er möchte Wirklichkeit erfahren und durch seine künstlerischen Verfahren auch beeinflussen. Kontextualisierung heisst, die Kunst mit ausserkünstlerischen Methoden, Formaten und Medien in Berührung zu bringen, aber auch das Leben wie Kunst zu betrachten. Andrzej Przywara, der Althamer und seine Methode wie kein zweiter Kritiker kennt und viel über ihn geschrieben 198

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hat, nannte den Künstler treffend einen »Regisseur der Wirklichkeit«.21 Er erklärt die realitätsnahen künstlerischen Verfahren von Paweł Althamer und weiterer polnischer Künstler derselben Generation mit der »Kluft zwischen persönlicher und gesellschaftlicher Erfahrung in einer Epoche sozialer Transformation«. Weiter schreibt Przywara: »Aktionen mit dem Körper erlaubten zu diesem Zeitpunkt, die Konventionen und das Konventionelle der Handlungen im Bereich der Kunst in Richtung der wirklichen Erfahrung zu überschreiten.« Es gibt selbstverständlich auch in Althamers Schaffen zahlreiche Arbeiten, die mit einem an Kunst interessierten Publikum rechnen. Erinnert sei an die schon diesbezüglich besprochene mobile Galerie FGF Warsaw (2007), die für den speziellen Kontext einer Kunstmesse entstanden ist. Es gibt aber auch Werke, die der Künstler nur für sich selbst realisiert, und solche, die von den beteiligten Menschen nicht als Kunst wahrgenommen werden können, da ihnen diese Kategorien fremd sind. Paweł Althamer ist zweifellos ein Künstler, für den – wie für viele andere Künstler der 1990er-Jahre – der Begriff der Kontextualisierung von zentraler Bedeutung ist. Allerdings unter anderen Vorzeichen, denn viele der in den letzten Jahren entstandenen Arbeiten waren, wie noch zu zeigen sein wird, für die eigentlichen Adressaten als Kunstwerk nicht erkennbar. V Ausstellung als Kunst werk Als der Beginn des neuen Jahrtausends näherrückte, kam Paweł Althamer die Idee zu einer spektakulären Arbeit. Auf die Fassade des Wohnblocks in Bródno, in dem er mit seiner Familie wohnte, wollte er durch das Ein– bzw. Ausschalten der Beleuchtung in bestimmten Zimmern die Zahl »2000« schreiben. An der Aktion, die am 27. Februar 2000 stattfand und über viele Wochen minutiös vorbereitet wer199

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den musste, waren ungefähr 200 Mieter beteiligt, die von Althamer zuvor genau instruiert worden waren. Die Zahl blieb ungefähr 30 Minuten lang lesbar. Wie vom Künstler vorhergesehen, wurde die Veranstaltung von unterschiedlichster Seite – Politik, Kirche, Kultur, Medien – für eigene Zwecke vereinnahmt. Als Ereignis angekündigt, lockte Bródno 2000 Tausende von Besuchern an und mündete in ein ausgelassenes Volksfest. Es handelte sich um eine intermediale Arbeit, die vieles zugleich war: Performance, Kunst im öffentlichen Raum, Ausstellung, Happening und politische Aktion. Es gibt offensichtliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Happening in der Nachfolge Allan Kaprows und gewissen Arbeiten von Paweł Althamer, aber es gibt auch grundlegende Unterschiede, die für die weitere Diskussion seines Schaffens zu benennen sind. Da ist zunächst seine künstlerische Herkunft von der Skulptur. Althamer hat als figurativer Bildhauer begonnen und diese Verbindungen zu den spezifischen Traditionen der Skulptur nie abgebrochen.22 So schuf er seit 2006 verschiedene Figuren, die seine erweiterte Familie thematisieren. Die bekleidete Terrakotta Matejka with a Son (2006) ist das Bildnis seiner schwangeren Freundin Matejka in Gestalt einer schwarzen Frau. Im selben Jahr entstand mit Untitled (Embryo) die Keramik eines auf einem Kissen liegenden Embryos, der auf einer schlanken Holzsäule ausgestellt ist. Matea (2006/2008) geht auf einen Aufenthalt mit Matejka in Griechenland zurück. Im Rahmen der vom National Museum of Contemporary Art in Athen organisierten Ausstellung »The Grand Promenade« richtete sich Althamer am Fusse der Akropolis ein traditionelles Bildhaueratelier ein, in dem er und Matejka auch lebten. Der Fussweg zur Akropolis führte am Atelier vorbei. Matejka stand Modell. Althamer modellierte eine klassische Stehende und von sich selbst eine Büste. Die Ateliersituation – die beiden Figuren in Arbeit 200

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und ein Korbstuhl – liess Althamer später als Ensemble in Aluminium giessen. Seine bildhauerischen Wurzeln thematisierte Althamer immer wieder auch in seinen Ausstellungen, beispielsweise indem er die Selbstbildnisse zusammen mit anderen figurativen Arbeiten und meistens in einem einzigen Saal ausstellte, erstmals 1995 in der Miejsce Gallery in Cieszyn, 2005 in der von der Fondazione Nicola Trussardi in der Palazzina Appiani, Arena Civica di Milano organisierten Einzelausstellung »One of Many« oder 2007 in der Gruppenausstellung »After Nature« im New Museum of Contemporary Art in New York. In Mailand konnte der Künstler auch endlich ein Projekt verwirklichen, das er schon 1998 für den Potsdamer Platz in Berlin konzipiert hatte: Das Bildnis des Künstlers als über der Stadt fliegender, nackter Mann! Im Park vor der Palazzina Appiani liess er sein 21 Meter langes Ebenbild als liegender Körper in angespannter Haltung 40 Meter hoch in den Himmel steigen. Während Balloon (1998/2007) draussen im Park unübersehbar war und Kinder wie Erwachsene erfreute und faszinierte, bemerkten jedoch nur wenige Ausstellungsbesucher den 70-Jährigen, der als gealterter Doppelgänger des Künstlers in den Ausstellungsräumen seine Runden drehte. Weiter fällt auf, dass Paweł Althamer Kunst und Leben in seinen Arbeiten verschränkt. Sie sollen miteinander verwechselt werden können. Die Rekontextualisierung der künstlerischen Arbeit im Leben in seinen Echtzeit-Filmen ist die noch zu diskutierende Konsequenz aus dieser Haltung. Exemplarisch nachvollziehbar wurde dieser Prozess schon in der Aktion unsichtbar (2002) in Berlin. Die Aktion auf dem Alexanderplatz kündigte Althamer auf Plakaten und Flyern an, die er mit einer nicht lichtbeständigen Farbe drucken liess. Auf der Einladung war zu lesen: »Am Freitag, dem 28.06.2002, wird der osteuropäische Künstler Paweł Althamer von 17.00 bis 19.00 Uhr 201

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auf dem Alexanderplatz in Berlin-Mitte unsichtbar werden.« Die Aktion stand in Zusammenhang mit dem Ablauf seines einjährigen DAAD-Stipendiums in Berlin, während dessen er am künstlerischen und gesellschaftlichen Leben der Stadt kaum teilgenommen hatte, da die Organisation des Alltags seiner Familie, die mit ihm nach Berlin gekommen war, viel Zeit in Anspruch nahm. Zum angekündigten Zeitpunkt war Althamer nicht auf dem Alexanderplatz, sondern in seiner Wohnung und eröffnete eine Ausstellung, in der er präsentierte, was er und seine Familie in Berlin produziert hatten: die Gemälde seiner damaligen Frau, Zeichnungen und Objekte ihrer Kinder, eine eigene Videoarbeit und zwei Akte, Paweł and Monika (2002), ausgeführt in derselben Technik wie seine frühe Study from Nature (1991). Sich selbst zeigt er in Paweł and Monika mit einer Videokamera und seine Frau Monika beim Telefonieren. Diese zweiteilige Arbeit platzierte er in der Ausstellung am offenen Fenster, die Kamera war auf den Hauseingang gerichtet. In seiner Ausstellung in der Miejsce Gallery in Cieszyn 1995 gab es neben einem Saal mit den figurativen Skulpturen einen zweiten Raum für sein Alter ego, den Aufseher, der zum Ausstellungskonzept gehörte. 1994 war Althamer zu einer Gruppenausstellung in der Zacheta Gallery eingeladen. Während der Vorbereitung dafür suchte er das Gespräch mit dem Aufsichtspersonal und versuchte herauszufinden, was er zur Verbesserung der Arbeitsatmosphäre beitragen könnte. Eine Aufseherin, die er interviewte, wünschte sich unter anderem einen Stuhl, ein Radio, Pflanzen und Getränke. Der Ausstellungsbeitrag von Paweł Althamer bestand nun darin, der Aufseherin diesen privaten Raum innerhalb des öffentlichen Raumes der Ausstellung zuzugestehen. 1998, in seiner Einzelausstellung im CCA in Warsaw, thematisierte er die Ausstellung als Medium, indem er jedem Raum eine eigene Funktion gab und ihn entsprechend einrichtete. Es gab einen Wartesaal, 202

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einen Darkroom, ein Café und einen Clubraum mit einer Videosammlung. In jedem Saal wurde vom Besucher eine andere, nicht kunstspezifische Form von Wahrnehmung und Kommunikation verlangt. Das ambivalente Verhältnis zur Galerie nicht nur als Ort inhaltlicher Vermittlung und Positionierung des Künstlers, sondern auch als Wirtschaftspartner thematisiert Althamer in seinen Arbeiten immer wieder. In den letzten Jahren, parallel zum wachsenden Erfolg auf dem internationalen Kunstmarkt, wurde die kritische Auseinandersetzung mit der Kunstwelt zusehends drängend und mündete in eine Reihe von exemplarischen Ausstellungen. 2003 beauftragte der Künstler zwei illegale polnische Einwanderer gegen Bezahlung damit, die aus einer Glastür vor einer weissen Wandnische bestehende Wrong Gallery in New York und seine dort zu sehende Ausstellung – ein Blumenstrauss in einer Glasvase vor einem drapierten Vorhang – zu zerstören, wieder herzurichten und erneut zu verwüsten, so oft und so lange das Ausstellungsbudget ausreichte. Im selben Jahr war in der renommierten Galerie Neugerriemschneider in Berlin-Mitte eine Einzelausstellung des Künstlers zu sehen, welche die Galerie als verwahrlosten, ausgeräumten und baufälligen Raum inszenierte. Im notdürftig mit rissiger Plastikfolie abgedeckten Ausstellungsraum lagen in einem alten Karton einige verdreckte Kunstmagazine des aktuellen Jahrgangs. Friedrich Reinhold hat in seiner Kritik den doppelten Wirklichkeitsbezug der Ausstellung hervorgehoben: Sie erinnere an die Zeit vor dem Mauerfall und sei zugleich auch eine »Erinnerung an die Zukunft«.23 In seiner zweiten Einzelausstellung bei Neugerriemschneider 2007 nutzte Althamer denselben Raum als Künstleratelier. Während der Öffnungszeiten der Galerie schnitzten dort afrikanische Emigranten, die er in Warschau kennengelernt hatte, Skulpturen. Der Werkplatz war 203

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in einer Ecke der Galerie eingerichtet, und in seiner Mitte lag auf einem schwarzen Boden in den ansonsten weissen Räumlichkeiten ein überlebensgrosses Selbstbildnis des Künstlers in Ebenholz. Die Wände hatte Althamer mit Zeichnungen von Werkzeugen, Werkideen und Ausstellungskonzepten bekritzelt. Später wurde eine Fotografie der beteiligten Männer und einige der von ihnen während der Ausstellung geschnitzten Figuren zur Ausstellung hinzugefügt. Die »Schwarzarbeiter«, welche im Begleitheft zur Ausstellung vorgestellt und zum Projekt befragt werden, hatten keinerlei künstlerischen Hintergrund. Ihre Inspiration holten sie sich auf Anregung und in Begleitung von Paweł Althamer bei einem Besuch der ethnologischen Sammlungen in Berlin. Diese Arbeit bringt nicht nur, wie häufig im Schaffen von Althamer, den Begriff der Autorenschaft ins Wanken, sondern auch Kategorien wie »Kunst als Politik«, »Kunst als Sozialarbeit« oder »Kunst als Kulturtransfer«, die seit den 1990er-Jahren von zahlreichen Künstlern eingesetzt werden. Paweł Althamer bezeichnet Black market als eine Skulptur, an der weitergearbeitet werden kann. Wird das Werk ausgestellt, kann das Atelier seine Arbeit wieder aufnehmen und die neuen, wiederum von schwarzen Emigranten geschnitzten Skulpturen werden Bestandteil des bestehenden Ensembles. VI In visible Sculpture Fairy tale (2006) entstand für die 4. Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst und sorgte für grosses Aufsehen. In einem ansonsten leeren Raum war ein einzelner Turnschuh ausgestellt, der Besin Olcay gehörte, einem vor 18 Jahren in der Türkei geborenen und in Berlin aufgewachsenen jungen Mann, der mit seiner Familie in die Türkei abgeschoben werden sollte. Eine an den Innensenator von Berlin gerichtete Petition, die von den Ausstellungs204

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besuchern unterzeichnet werden konnte, forderte diesen dazu auf, Besin Olcay »aus humanitären Gründen« eine Aufenthaltsbewilligung für Deutschland zu gewähren. Althamer beabsichtigte ursprünglich, einem papierlos in Berlin lebenden Emigranten eine Aufenthaltsgenehmigung zu besorgen und ihm aus seinem Ausstellungsbudget u. a. eine Wohnung und Sprachunterricht zu bezahlen. Kurz vor der Eröffnung der Biennale wurde er auf den Fall von Besin Olcay aufmerksam. »Der Fokus verschob sich von dem freundlichen Versuch, einen Fremden zu integrieren, auf die Praxis, Integrierte wieder zu Fremden zu erklären«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 31. März 2006.24 Claire Bishop nannte die Arbeit »die vielleicht ikonoklastischste Arbeit der diesjährigen Berlin-Biennale« und wies darauf hin, dass das Werk mehr war als eine konkrete politische Aktion wie diejenigen von Santiago Sierra: »In Althamers Arbeit geht die Zusammenarbeit aus einer Form von Selbst-Darstellung hervor, bei der der Künstler, oftmals über die Identifikation mit sogenannten Outsidern, seine eigene Erfahrung wiederholt oder auch ›korrigiert‹. Das Projekt ist auch eine Echtzeit-Performance: Arbeiten wie The Motion Picture (2000; hierfür engagierte er Schauspieler, die auf einem Platz in Ljubljana alltäglichen Tätigkeiten nachgingen) bezeugen, dass Althamer die Wirklichkeit wie ein Regisseur steuern will, indem er Narrative konstruiert, die sich entwickeln, ohne dass er wüsste, mit welchem Ende.«25 Bishop bezieht sich auf ein von Althamer verfasstes Script, das während der Manifesta  3 in Ljubljana von zehn Personen drei Wochen hindurch täglich um dieselbe Uhrzeit auf einem öffentlichen Platz der Stadt gespielt werden sollte. Es war eine Strassenszene, wie sie sich an vielen Orten tagtäglich abspielen könnte. Sie dauerte ungefähr eine halbe Stunde und wurde von einem Strassenmusiker mit einer auf einer Oboe gespielten Melodie umrahmt. Es war der Versuch, im öffentlichen 205

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Raum Bedingungen herzustellen, die es ermöglichten, die Wirklichkeit wie einen Film zu betrachten. Als Film wurde das Projekt auch angekündigt. Im folgenden Jahr verbrachte Althamer einige Tage in der belgischen Kleinstadt Watou und arbeitete an einem verwandten Projekt für den dort veranstalteten Poetry Summer. Er beobachtete und notierte die alltäglichen, unspektakulären Ereignisse in einer der Strassen der Stadt und lud schliesslich die Akteure ein, sich gemeinsam fotografieren zu lassen. Die Fotografie wurde für den Druck eines Filmplakats verwendet, das wiederum auf die Wirklichkeit als realen Film hinwies, den man nicht verpassen sollte. Dieses Plakat wurde während des Poetry Summers in Watou verteilt. The Motion Picture (2000) in Ljubljana war die erste von bislang vier Fassungen eines Films, der in Ljubljana, Pittsburgh, Warschau und London spielte und auch nur in diesen Städten zu sehen war. Die Arbeit, welche sich inzwischen in der Sammlung der Tate Modern befindet, besteht aus zwei Teilen, einem Trailer, der vor Ort in den kommerziellen Kinos abgespielt wurde, und dem Realtime Movie, der in jeder Stadt nur einmal zu sehen war. Der Trailer musste für jeden Aufführungsort neu produziert werden. In jedem Film gab es dieselben zehn Rollen zu besetzen: Ein Filmstar im Auto, ein Tourist mit Kamera, ein Geschäftsmann, ein Grossvater oder eine Grossmutter, ein Kind, ein Liebespaar (Mann und Frau), eine oder zwei Personen, die über die Strasse rennen, ein Strassenmusiker. Für jeden Film wurde ein bekannter Filmschauspieler verpflichtet, in London war dies Jude Law. Der Trailer zeigt, wie der Star in einem Personenwagen am Ort der späteren Aufführung eintrifft, sich umsieht und danach die Menschen und das alltägliche Geschehen konzentriert beobachtet. Gleichzeitig spricht eine Stimme die folgenden Worte: »Plötzlich war ich von einer Flammenwolke 206

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eingehüllt. Schnell erkannte ich jedoch, dass das Feuer in mir brannte. Ich war hingerissen vor Freude und erfuhr eine unbeschreibliche Erleuchtung. Ich konnte spüren, dass das Universum nicht aus toter Materie besteht, sondern etwas Lebendiges ist. Ich spürte das ewige Leben in mir. Ich machte mir klar, dass alle Menschen unsterblich sind und die kosmische Ordnung alles zu einem guten Ende führt. Ich begriff, dass das, was wir Liebe nennen, das Grundprinzip der Welt ist, und wir uns darauf verlassen können, langfristig Glück zu erfahren.« Zum Schluss wird ein Text eingeblendet, der Ort und Zeitpunkt der Performance bekanntgibt und das Kinopublikum dazu auffordert, wahrzunehmen und zu erfahren, was kein Film zu zeigen vermag. In London fand der Real-Time Movie am Freitag, den 30. November 2007 auf dem Borough Market statt. Dabei spielten dieselben Darsteller ihre Rollen ein zweites Mal, diesmal nicht vor der Kamera, sondern für jene Zuschauer, die aufgrund des Trailers oder der Plakate gekommen sind, und das Erlebnis eines déjà-vu haben sollen, sowie für jene, die zufällig vorbeigehen und auf das Ereignis aufmerksam werden. Der Film ist demnach das reale Leben. Der Schauspieler John Malkovich äusserte 2009 in einem Interview, im Film sei Schauspielkunst gar nicht gefragt, da an jedem Drehtag nur ein paar Minuten Film produziert würden: »Man könnte einen grossartigen Film auch mit einem Lastwagenfahrer drehen, den man gerade auf der Strasse aufgegabelt hat.«26 Die Filmprojekte von Paweł Althamer folgen dieser Logik in viel radikalerer Weise, als Malkovich sich dies vorgestellt hat. Sie ist Ausdruck einer künstlerischen Haltung, die an das Theater der Unterdrückten von Augusto Boal erinnert. Augusto Boal war 1956–1971 Leiter des Teatro de Arena de São Paulo und entwickelte in diesen Jahren neue Formen des Theaters, welche sich an die breite, im Elend lebende Bevölkerung 207

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Brasiliens richtete. Er wollte den Zuschauer aus seiner passiven Haltung befreien und machte ihn zu einem Handelnden. In seiner Theaterschule wurden Stücke gemeinsam geschrieben und aufgeführt. Das Theater der Unterdrückten entwickelte Boal in den 1970er-Jahren im europäischen Exil als Antwort, wie er 1979 schreibt, »auf die Repression in Lateinamerika, wo täglich Menschen auf offener Strasse niedergeknüppelt werden, wo die Organisationen der Arbeiter, Bauern, Studenten und Künstler systematisch zerschlagen, ihre Leiter verhaftet, gefoltert, ermordet oder ins Exil gezwungen werden. Dort ist das Theater der Unterdrückten entstanden.«27 Eine von verschiedenen Formen und Techniken des Theaters der Unterdrückten ist das Unsichtbare Theater. Jedes Stück handelt von einem aktuellen Thema, wird von den Schauspielern gemeinsam erarbeitet und unangekündigt an einem öffentlichen Ort aufgeführt. Boal schreibt: »Das Unsichtbare Theater wird wie eine normale Theateraufführung vorbereitet und einstudiert. Die Szene wird jedoch dort aufgeführt, wo sie stattgefunden hat oder stattfinden könnte. Es gibt kein Bühnenbild, kein realer Ort wird ins Fiktive transponiert: Die Wirklichkeit ist ihr eigenes Bühnenbild. Es geht nicht darum, minutiös einen Schauplatz nachzubilden, bei dem jedes Detail stimmt. Wenn die Szene in einem Restaurant ablaufen könnte, dann wird sie in einem Restaurant gespielt, wenn in einer U-Bahn, dann in einer U-Bahn, auf der Strasse, im Hotelfoyer, auf dem Bahnhof, wo immer. Das Bühnenbild ist real, nicht realistisch. Das Unsichtbare Theater findet vor Zuschauern statt, die nicht wissen, dass sie Zuschauer sind, und die daher nicht in den starren Ritualen des konventionellen Theaters gefangen sind, die sie zur Handlungsunfähigkeit verurteilen. Der Zuschauer agiert gleichberechtigt neben den Schauspielern. Ob er die Szene zur Kenntnis nimmt, ob er weitergeht – stets ist er Herr seiner Entschlüsse, ist er Subjekt.«28 Es geht folglich kei208

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neswegs um die Gleichsetzung von Kunst und Leben, sondern um die Erprobung von neuen Mitteln und Wegen, um die Kunst als eine gesellschaftlich relevante Tätigkeit im Bewusstsein der Menschen wachzuhalten. Artur Żmijewski schrieb aus Anlass der von ihm kuratierten 7. Berlin-Biennale (2012): »Kunst ist ein Mechanismus, der durch die Macht des Intellekts und der Intuition in Kombination mit einem Verlangen nach Dissens angetrieben wird. Ergebnis solchen künstlerischen Handelns muss nicht zwangsläufig merkwürdige und schwerverständliche Kunst sein, es können auch ebenso Werkzeuge sein, die aktiv in die Welt eingreifen.«29 Ist es das, was Adam Szymczyk meint, wenn er die Kunst von Althamer in einem Text über den französischen Maler Gustave Courbet als eine zu charakterisieren versucht, die »vom Realen verzehrt werden muss«? Die Arbeiten müssten, ist Szymczyk überzeugt, »buchstäblich in der Gesellschaft aufgehen und dort aufkeimen durch praktisches Lehren, Denken, Schaffen und mittels individueller oder kollektiver Aktionen, die ihren Platz als Teil einer Realität beanspruchen, die in Anlehnung an Courbets Verständnis von Kunst als wirkungsvollem Vertreter für sozialen Wandel und Natur als ›das Ensemble von Menschen und Dingen‹ und nicht als Gegenstand mythischer Kontemplation definiert werden kann. Nur wenn die Kunst die Verwandlung gelebter Erfahrungen bewirkt, kann die Allegorie real und die Suche nach den Ursprüngen aufgegeben werden.«30 Bildhauerei ist im Kern eine Beschäftigung mit dem Körper im Raum. Diesem Credo folgt Paweł Althamer in seinem Schaffen seit den Anfängen. Die Performance entwickelte sich nicht neben der Bildhauerei zu einem für den Künstler wichtigen Medium, sondern sie ist eine ihrer genuinen Ausdrucksformen.31 Das handlungsorientierte Wirklichkeitsverständnis des Künstlers manifestiert sich in der Art seiner Bezugnahme auf die Welt und in seinem 209

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ungebrochenen Interesse an der Arbeit mit partizipativen Werkformen. Die 2008 begonnene Reihe von Aktionen, die er Common Task nennt, bringt dies besonders anschaulich zum Ausdruck.32 Es handelt sich um Ausflüge, Reisen und Expeditionen von unterschiedlich grossen und stets neu zusammengestellten Gruppen von Menschen, erkennbar an ihren einfachen, goldenen Uniformen. Beteiligt sind Freunde, Familienmitglieder, Nachbarn, Bekannte. Zu diesen Performances gehören Spaziergänge innerhalb Warschaus, aber auch Reisen etwa nach Brüssel, Brasilia, Oxford, Bozen oder aber Mali, wo er 2009 mit einer Gruppe mehrere Wochen bei den Dogon lebte. Common Task suggeriere, schreibt Andrea Viliani, »dass Ausstellungen und Museen, Werke, Künstler und Kuratoren auf eine Weise existieren können, wie sie es nie zuvor getan haben, nämlich als etwas, das zugleich existiert und nicht existiert, als blosse Hypothese«.33 Die Aktionen aus der Reihe Common Task knüpfen an frühe performative Arbeiten wie Astronaut 2 (1997) an und ermöglichen es Althamer, sich selbst zu artikulieren und zugleich andere exemplarisch in die Auseinandersetzung mit seiner Person und seiner Lebenswelt einzubeziehen.34

Mai-Thu Perret — Period Room

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ai-Thu Perret gehört zu einer jungen Generation von Künstlerinnen und Künstlern in der Schweiz, welche an der Rekontextualisierung moderner Fragestellungen arbeitet. Olivier Mosset, Niele Toroni, Helmut Federle und John M Armleder sind neben vielen weiteren Künstlern diesen Weg in den 1970er-Jahren schon einmal gegangen und haben dabei ihre eigene Form der 210

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Abstraktion gefunden. 1987 sagte Armleder, er »mache nichts anderes als das, was andere schon einmal gemacht haben«.01 Durch Wiederholung schreibt er sich bewusst in die Geschichte der Formen ein, darin ist ihm Perret ähnlich. Armleder, der als junger Künstler mit Fluxus in Berührung kam und diesen Zugang zur Kunst bis heute lebendig hält, beruft sich in seinem Werk auf die Sprache der historischen Abstraktion, zugleich aber auch auf Francis Picabia, der, durch den Dadaismus geprägt, in seinem malerischen Werk einen spielerischen, tabulosen Umgang mit der Moderne und ihren Ausdrucksformen übte und dadurch gewissermassen wie ein früheres Alter Ego des Künstlers erscheint. Seit einigen Jahren schreibt Perret an einer Erzählung über eine von Beatrice Mandell gegründete Frauenkommune in der Wüste von New Mexico, und zugleich entwirft sie mit diesem Text ein Programm für das eigene künstlerische Schaffen.02 Ihre Ausstellungen nehmen somit Bezug auf eine realisierte Utopie, die eine Fiktion ist. »Texte und Kunstwerke«, schreibt Diedrich Diederichsen, sind »in gleicher Weise real« in Bezug auf die Geschichte dieser Kommune.03 Vor allem aber zeige Perrets Thematisierung der Kommune in New Ponderosa, »dass das historische Problem eher in einem Zuwenig als in einem Zuviel an Utopie bestanden habe. Den Utopistinnen des 20. Jahrhunderts hätte es demzufolge eher an der Anregung der je anderen Utopistinnen gefehlt, als dass sie selbst zu wenig Realitätssinn besessen hätten.«04 In ihrem Text The Crystal Frontier erzählt Perret »von den Träumen der Kommune, die den menschlichen Willen zur Produktion nicht den präskriptiven und repressiven Einengungen von Kapitalismus oder Patriarchat ausliefern will, und von den Schwierigkeiten bei ihren Bemühungen, sich durch Tierhaltung ein Auskommen zu sichern (woran auch die pure Romantik von Mandells Wahl der Wüste als Ort für ihr Ex211

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periment ersichtlich wird, als hätte sich keine fruchtbarere Landschaft finden lassen), davon, wie die Kommune zum Teil zum Markt Zuflucht nimmt, um das wirtschaftliche Defizit abzudecken (die Produktion von Keramiken und anderem Kunsthandwerk zum Verkauf auf Märkten in der Region), und von ihren abendlichen Gruppendiskussionen. In dieser kommunistischen Gemeinschaft betreibt jede Frau Landwirtschaft, Kunsthandwerk und Kritik, ohne aber Bäuerin, Kunsthandwerkerin oder Kritikerin als solche zu sein.«05 Kürzlich sass ich mit Künstlern zu Tisch. Wir sprachen nicht über Wein, sondern über die junge Kunst aus der Schweiz. Hans Witschi nannte seine jungen Kolleginnen und Kollegen lächelnd »embedded artists«. Eingebunden ins Netzwerk der Kunstwelt, gut ausgebildet und auf den Markt ausgerichtet, würden diese Künstlerinnen und Künstler zu Chronisten ihrer Epoche. Zu dieser Künstlergeneration zählt auch Mai-Thu Perret. 1994–1997 studierte sie Englische Literatur in Cambridge, danach absolvierte sie 2002/03 in New York das Whitney Independent Study Program. Ihr Werk entfaltet sich nach dem Ende des Kalten Krieges, im Jahrzehnt nach 9/11, in einer Zeit sich vervielfachender politischer, wirtschaftlicher und kriegerischer Konflikte, die auch den Wohlstand und den sozialen Frieden in den sozialen Marktwirtschaften des Westens bedrohen. Von dieser Bedrohung ist in Perrets Schaffen aber nur indirekt die Rede, insofern nämlich, als die Künstlerin ihr Werk als Fiktion einer gelebten Utopie konzipiert. Von der Künstlerin Claire Fontaine wird gesagt, sie zeige sich in ihren Werken »als eine wenig originelle Künstlerin, nicht besonders erfindungsreich, dafür aber höchst gebildet«. Sie kenne die Kunstgeschichte und sei eine »Expertin darin, ein bestehendes Werk sehr kenntnisreich in ein anderes zu verwandeln«.06 Trifft diese Charakterisierung nicht auch auf die Künstlerin Mai-Thu Perret zu? 212

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Die »Readymade-Künstlerin« Claire Fontaine gibt es erst seit 2004. Die beiden Künstler, die Claire Fontaine damals aus der Taufe hoben und seither in ihrem Namen sprechen und ausstellen, handeln nach dem bekannten modernen Credo, wonach jeder mehrere sei und Claire Fontaine somit viele. 1964 bat die US-amerikanische Künstlerin Elaine Sturtevant (1924–2014) Andy Warhol darum, ihr das Sieb auszuleihen, mit dem seine Flowers gedruckt worden waren, um damit weiterzuarbeiten und diese Siebdrucke unter ihrem eigenen Namen auszustellen. Gerd de Vries, der 1989 in der von ihm und Paul Maenz in Köln geführten Galerie eine Einzelausstellung mit Sturtevant zeigte, sagte 2004 in einem Interview, sie arbeite durch verschiedene Künstler hindurch, um dem Inneren der Kunst einen Spiegel vorzuhalten. Das Merkwürdige sei allerdings, »dass eine Ausstellung von ihr, die auf den ersten Blick wie eine Gruppenausstellung aussehen mag, gleichzeitig vermittelt, dass zwischen all den heterogenen Werken eine Verbindung besteht, eine Binnenstruktur, ein genetisches Band«.07 Als versuche sie herauszufinden, wie viel Verschiedenes sie machen, wie weit sie ihr System ausweiten kann, ohne den Werkzusammenhang zu gefährden. I Die mit den klassischen Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert einsetzende Erweiterung des Werkbegriffs gab das Thema einer Ausstellung vor, die 2011 im Kunstmuseum Liechtenstein zu sehen und in der auch Mai-Thu Perret vertreten war. Gezeigt wurden in Vaduz Werke von 41 Künstlerinnen und Künstlern, eine offene Schweiz, die an diesem dynamischen, die nationalen Grenzen überwindenden Diskurs der Kunst seit der frühen Moderne und bis in die Gegenwart beteiligt ist. Mit der Einladung Perrets zu 213

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der Ausstellung »Beispiel Schweiz« entstand die Idee, ihre Installation Donna Come Me (2008) aus der Sammlung des Kunstmuseums Liechtenstein kunsthistorisch zu kontextualisieren. Das kuratorische Prinzip der diachronen Präsentation der Werke in »Beispiel Schweiz« wurde für den Saal der Schweizer Moderne als Aufgabe an Perret übertragen und damit an eine mit eigenen Werken zur Ausstellung eingeladene Künstlerin. Sie beteiligte sich an der Werkauswahl und entwarf das Setting für die Präsentation. Dieses bestand aus einer zweiten, zwei Meter hohen Wand in Form einer Wandmalerei – ein graublauer, monochromer Anstrich –, auf welcher die ausgewählten Gemälde ausgestellt waren. Ihre Installation Donna Come Me (2008) erweiterte Perret um Werke von Sophie Taeuber-Arp, Arbeiten aus dem Kreis der Zürcher Konkreten, John M Armleder, Sylvie Fleury, Valentin Carron sowie Dieter Roth und Thomas Hirschhorn. Ihre Inszenierung der Werke – die eigenen eingeschlossen – ist als Form der Aneignung zu betrachten und als solche kritisierbar, ruft aber auch das Interesse an Fragen der Autorschaft als ein Merkmal ihrer Kunst in Erinnerung.08 Perret unterscheidet nicht zwischen literarischen, künstlerischen und kuratorischen Fragestellungen und Methoden, sondern nutzt diese als Künstlerin. Dies erklärt auch, weshalb Einzelausstellungen von Perret wie diejenigen Sturtevants auf den ersten Blick wie Gruppenausstellungen wirken.09 Die Arbeit Donna Come Me bezieht sich auf den in New York entstandenen Film An Evening of the Book (2007) Perrets, der von Varvara Stepanovas Bühnenbild für ein AgitProp-Stück mit dem gleichnamigen Titel angeregt ist.10 Die Puppe, welche in Donna Come Me vor einem bemalten Teppich sitzt, trägt denselben Overall voller Farbflecken, den zuvor die Performerin Fia Backström im Film getragen hatte, während sie ein Stück Stoff zuschnitt, das sie anschliessend an die Wand hängte. Es ist derselbe Overall, 214

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den auch Perret einige Monate später überzog, um die an einen Rorschachtest, an Andy Warhol oder, wie die Künstlerin selbst meint, an eine von Yves Kleins Anthropometrien erinnernde Malerei auf dem Teppich zu gestalten, vor dem nun die Puppe sitzt. Die Künstlerin schlüpft nicht in verschiedene Rollen, sondern sie verortet ihre Arbeit an unterschiedlichen Stellen in der Kunstgeschichte, indem sie den Overall von verschiedenen Figuren – jede eine Künstlerin – in unterschiedlichen Zusammenhängen tragen lässt. Perret versteht Donna Come Me als Installation, welche die Frage nach dem Verhältnis von Autor und verdinglichtem Objekt aufwirft und dazu anregt, bildnerische Prozesse zu imaginieren und darüber nachzudenken, zunächst und entschieden aus der Perspektive einer Künstlerin. II Mai-Thu Perret weiss, dass mich ihr (konzeptueller und weiblicher) Blick auf die Moderne interessiert. Als wir begannen, darüber zu sprechen, welche Werke anderer Künstler in den Dialog mit Donna Come Me in die Liechtensteiner Ausstellung einbezogen werden könnten, war bald klar, dass Max Bills Gemälde sechs gleich lange linien (1947) das Thema vorgeben könnte: Bills frühe Leinwand zeigt sechs verschiedenfarbige Linien, welche die Bildfläche wie Fäden durchlaufen, wobei vier der Linien jeweils am Bildrand aufgerollt sind. Diese Beschreibung, die von gewundenen Linien als Fäden spricht und die Komposition damit als Bild versteht, das zurückführt in die Welt der Dinge, ist der Lektüre der Künstlerin geschuldet. In ihrer Auseinandersetzung mit historischen Werken sucht sie nach Spuren für eine erst noch zu schreibende, neue Geschichte der Moderne. Wie die deutsche Künstlerin Rosemarie Trockel interessiert sich Perret für Materialien, Formen und Funktionen, die mit dem (verdrängten) Weib215

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Mai-Thu Perret im Kunstmuseum Liechtenstein während des Auf baus der Ausstellung »Beispiel Schweiz: Entgrenzungen und Passagen als Kunst«, 2011, Werke von Max Bill, Camille Graeser, Sylvie Fleury und Verena Loewensberg, Photo Rom a n Ku r zmey er Ba sel.

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lichen in der historischen Abstraktion in Verbindung stehen. Sie betrachtet die Kunstgeschichte als ihren persönlichen Echoraum, dem sie entnimmt, was ihrer Vorstellung von der Gegenwart abstrakter Sprache in der Malerei, vor allem aber ihrem Empfinden entspricht. In ihrer Auswahl zeigte sie, dass konkrete Kunst, obschon, wie Max Bill es ausdrückte, »mathematischem Denken« verpflichtet, nicht kalt sein muss. Perret fasziniert an Bills Komposition, die aus einem rationalen Verfahren hervorgegangen ist, die spielerische, dekorative, stoffliche Dimension, die in die Richtung von Sophie Taeuber-Arp (1889–1943) weist, mit der Max Bill (1908–1994) befreundet war.11 1914, bei Kriegsbeginn, kehrte Taeuber-Arp aus München, wo sie an den Lehr- und Versuchsateliers für angewandte und freie Kunst von Wilhelm von Debschitz studierte, in die Schweiz zurück. 1915–1918 besuchte sie die Tanzschule von Rudolph von Laban, in jene Zeit fallen auch ihre Auftritte als Tänzerin im Cabaret Voltaire und in der Galerie Dada in Zürich. Ihre in »Beispiel Schweiz« ausgestellten Hopi-Kostüme stammen aus jenen Jahren. Das Thema des ebenfalls ausgestellten Gemäldes Equilibre (1931), das dynamische Gleichgewicht, war sowohl ein Leitthema des Neuen Tanzes wie des Konstruktivismus. Max Bill beteiligte sich als Künstler, Architekt, Typograf, Produktdesigner und Hochschullehrer an der Entwicklung dieser Bewegung und publizierte darüber hinaus schon 1936 im Katalog zur Ausstellung »Zeitprobleme in der Schweizer Malerei und Plastik« im Kunsthaus Zürich einen Text, in dem er erstmals Prinzipien konkreter Gestaltung formulierte. Bill stützte sich dabei auf Theo van Doesburgs 1930 in der Zeitschrift Art Concret erschienene Definition konkreter Kunst.12 Neben Max Bill waren in der von Perret mitkuratierten Ausstellungssektion Camille Graeser, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse aus der ersten Generation 218

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der Zürcher Konkreten vertreten. Von Bill waren neben dem Gemälde ein schwarz bis acht weiss (1956) einige seiner Einrichtungsgegenstände zu sehen. Von Camille Graeser (1892–1980) wurden Seidentücher und ein Entwurf aus den 1930er-Jahren ausgestellt, der die Einrichtung des Salons eines Damencoiffeurs zeigt, ausserdem die beiden mit Raum und Bewegung befassten Gemälde Periphere Kontakte (1947) und Dynamische Räume (1953). Verena Loewens­berg (1912–1986) war durch ein heiteres Gemälde in hellen Pastelltönen repräsentiert. Mai-Thu Perret behandelte die Bildwerke der Zürcher Konkreten in ihrer Installation wie funktionale Gegenstände. »Das Textile zieht sich wie ein roter Faden oder ein Leitmotiv durch die Auswahl«, erläutert sie, »wobei die kanonischen Praktiken der Zürcher Konkreten und ihres Erbes eher von der Seite her ins Auge gefasst werden. Ein Schal Camille Graesers ist viel mehr als bloss eine Fussnote im Schaffen eines abstrakten Künstlers: Er markiert einen jener Orte, an denen die Beziehung zwischen Kunst und Alltag neu geschrieben wurde, wo ein Künstler, der den Idealen des Bauhauses folgte, in eine eigene Welt der Kunst entfliehen und das Gewebe des Alltagslebens erkunden konnte.«13 In diesem mit Kunst eingerichteten Salon gab es auch Arbeiten von Perrets Künstlerfreunden Armleder, Fleury und Carron. Durch die Auswahl von Thomas Hirschhorns Werk Gold Mic-Mac stellte Perret den ungegenständlichen Gemälden eine Kunstauffassung gegenüber, die sich nicht mit abstrakten Fragestellungen befasst, sondern damit, Kunst, so Hirschhorn, »politisch zu machen«. Den Bogen zu Perrets Utopie The Crystal Frontier, die im Unterschied zu den gesellschaftlichen Utopien früherer Generationen bewusst im Medium der Kunst als Modell im Museum realisiert und zur Debatte gestellt werden will, schlug die Arbeit Grenoble 1788. Hommage an die französische Revolution (1987/88) von Richard Paul Lohse (1902–1988), 219

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die dieser in seinem Todesjahr im Auftrag des Französischen Staates malte. III 2004 eröffnete Hirschhorn in Paris das »Musée Précaire Albinet«. Das Museum auf Zeit befand sich in Aubervilliers, einem Quartier am Stadtrand, in dem vor allem afrikanische Einwanderer wohnen, ein Stadtteil, der die angestammte Bevölkerung verloren hat und fast niemandem mehr Arbeit bietet. In diesem Stadtteil, in dem Hirschhorn auch selbst lebt und arbeitet, eröffnete er am 20. April 2004 eine Marcel-Duchamp-Ausstellung in einem Museumsprovisorium, das er zusammen mit einem Team aus dem Quartier gebaut hatte. Die Werke stammten aus der Sammlung des Centre Pompidou. Die Ausstellungsarchitektur, die Beschilderung, der Aufbau und die Vermittlung der Arbeit an die Besucher unternahm Hirschhorn zusammen mit Freiwilligen aus dem Quartier, die er während der 18 Monate dauernden Vorbereitung gefunden hatte. Das Museum war acht Wochen lang geöffnet und zeigte in dieser Zeit Ausstellungen von Duchamp, Malewitsch, Mondrian, Dalí, Beuys, Le Corbusier, Warhol und Léger. Es gab stets Originalwerke zu sehen, dazu viel didaktisches Material, das der Künstler und diverse Gäste in Workshops mit den Besuchern diskutierten. Das Erstaunliche an diesem Projekt war natürlich, dass es überhaupt zustande kam: Im Vorfeld des Projekts hätte man darauf gewettet, dass das Centre Pompidou und die Versicherungen niemals Originale in dieses Problemviertel ausleihen würden, in ein Provisorium zudem, das auch den geringsten Anforderungen an Sicherheit und Klima nicht genügte. Hirschhorn sei es gelungen, die »Kunst den Kontrollmechanismen und Beschränkungen des Betriebs zu entreissen, sie energisch zurückzuführen auf ihr utopisches Potenzial«, schrieb der 220

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Zürcher Tages-Anzeiger aus Anlass der Publikation einer Dokumentation zum »Musée Précaire Albinet« nach Abschluss des Projekts.14 Die Kunst könne, müsse und wolle das Leben verändern, notiert Hirschhorn in einem der zahlreichen Dokumente, die in diesem Buch zur Geschichte dieses Museums abgedruckt sind.15 Seine zeitlich befristete Arbeit ist in allen Elementen ein künstlerisches Projekt, von dem politische und gesellschaftliche Impulse ausgehen können, das er allerdings – anders als dies ein Sozialarbeiter täte – nach Projektende nicht weiter begleitet. Die Arbeiten Hirschhorns nehmen die Form öffentlicher Installationen an, sind aber zugleich auch Performances und Archive, die manchmal im Museumsraum, oft aber in einem Bereich zwischen Ausstellung und öffentlichem Raum angesiedelt sind. Es sind Instrumente, die auf bewusst einfache Weise Fragen der Gesellschaft, der Philosophie und Kultur ansprechen und damit immer auch in einem moralischen und erzieherischen Sinne kulturbildend sein wollen. Hirschhorn glaubt an die gesellschaftliche Bedeutung der zeitgenössischen Kunst und passt den Werkbegriff nicht dem Publikum an. Das grosse Publikum braucht keine andere Kunst als das Fachpublikum, sondern eine andere Form der Vermittlung. Christoph Büchel dagegen, der im Frühjahr 2010 im Rahmen seiner Ausstellung »Bin auf Montage in Wien« im Untergeschoss der Wiener Secession eine Bar und einen »Raum für Sexkultur« einrichtete und damit gezielt für Schlagzeilen sorgte, verfolgt eine ironische Strategie, mit der er die Grenzen des politisch und institutionell Möglichen auslotet und damit in erster Linie das Kunstsystem selbst auf seine Belastbarkeit prüft. Büchel überliess die Räume dem »Verein der kontaktfreudigen Nachtschwärmer«, der den Swingerclub »Element6« betrieb und damit laut Presseinformation »Raum für (nicht kommerzielle) erotische Kontakte« bieten wollte.16 Tagsüber war der 221

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Club als eine Art »Installation« wie eine Ausstellung zu besichtigen, nachts wurde diese in Betrieb genommen. In Hirschhorns »Musée Précaire« haben neue Gruppierungen von Besucherinnen und Besuchern Zugang zu bedeutenden Originalwerken der modernen Kunst erhalten. Bekannte Kunstwerke wurden zu Menschen gebracht, die niemals ins Museum gegangen wären. In Wien wurde mit dem Beethoven-Fries (1902) von Gustav Klimt zwar ebenfalls ein bedeutendes Werk der frühen Moderne kontextualisiert – allerdings klischeehaft. Büchel schlägt eine Lektüre des Werks vor, welche die Darstellungen von Nacktheit und Sexualität ins Zentrum rücken und damit an den Pornografie-Verdacht erinnern, der 1902 gegen Klimt erhoben wurde.17 Wer aus der Matratzenlandschaft am Fusse des Frieses und umgeben von üppigem exotischem Dekor zu Klimts Arbeit hinaufblickte, bekam wenig mit vom umfassenden Bildprogramm. Büchel bediente vergnüglich und gekonnt den voyeuristischen Blick. IV Das bringt mich zu Liam Gillick. In einem Interview anlässlich der Biennale von Venedig 2009 sagte der britische Künstler: »Wir erleben derzeit einen grenzenlosen Abbau von Subjektivität, und das ist normal und zudem ein Nebenprodukt der Politik der Identitäten, die uns abnötigt, mehr und mehr Geschichten zu verstehen. Diese Spannung zwischen Differenz und Kollektivität interessiert mich.«18 Eine Art von »dokumentarischer Struktur der Kunst« auf der einen Seite und eine Art von »Supersubjektivität« auf der anderen beschreibt er als Ergebnisse dieses Prozesses. Ist es falsch, sich dabei auch an den französischen Künstler Jean Dubuffet zu erinnern und an seine Postulierung einer »Art Brut«, die er sammelte und zugleich im eigenen Schaffen spiegelte? 222

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Neben einer an soziologischen Fragestellungen interessierten Kunst, die auf eine gerechtere Gesellschaftspolitik zielt, gibt es heute viele Einzelpositionen, die untersuchen, wie weit man sich von den Erwartungen an ein originäres Kunstwerk entfernen kann und dennoch glaubwürdig bleibt. Diese Künstler beziehen sich auf historische Vorbilder, wiederholen Formen und überprüfen Methoden, allerdings meistens, ohne auch die programmatischen Grundlagen zu übernehmen. Mai-Thu Perret ist eine dieser Positionen. Die freie Anwendung von eben erst historisch gewordenen Methoden birgt womöglich die Gefahr des Eklektizismus, zugleich aber auch die Chance der Aktualisierung und Neubewertung der Vergangenheit. Zu ihrem Period Room in »Beispiel Schweiz« resümiert die Künstlerin: »Der Raum ist ein Versuch, etwas über die Versprechen des Geometrischen und der Moderne und deren Beziehung zu einem Bereich zu sagen, der unklarer, vielleicht aber auch vertrauter ist: der Welt von Körper und Seele, und eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie diese zur Sehnsucht nach sauberen Linien und analytischer Klarheit passen und mit dieser Hand in Hand gehen.«19

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Anmerkungen Existenz und Form … 01  ——  Vgl. dazu Reinold Schmücker (Hg.), Identität und Existenz: Studien zur Ontologie der Kunst, Paderborn 2009. 02  ——  John Berger, »Ein Berufsgeheimnis«, in: —, Begegnungen und Abschiede: Über Bilder und Menschen, aus dem Englischen von Jörg Trobitius München / Wien 1993, p. 129; vgl. ebd., p. 178–188, »Zeichnen auf Papier«. – Zeichnungen von John Berger sind publiziert in John Berger – road directions: Zeichnungen und Texte, hg. von Beat Wismer, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus Aarau, Aarau / Zürich 1999. 03  ——  Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild, aus dem Französischen von Reinold Werner, München / Wien 2000, p. 202. 04  ——  William J. Thomas Mitchell, Bildtheorie, hg. von Gustav Frank, Frankfurt am Main 2008. 05  ——  Aby Warburg, zit. nach John M. Krois, »Die Universalität der Pathosformeln: Der Leib als Symbolmedium«, in: —, Bildkörper und Körperschema: Schriften zur Verkörperungstheorie ikonischer Formen, hg. von Horst Bredekamp und Marion Lauschke, Berlin 2011, p. 82; vgl. auch Thomas Hensel, Wie aus der Kunstgeschichte eine Bildwissenschaft wurde: Aby Warburgs Graphien, Berlin 2011. 06  ——  Didi-Huberman (wie Anm. 03), p. 198. 07  ——  Ebd., p. 200. 08  ——  Herbert Molderings, Marcel Duchamp im Alter von 85 Jahren: Eine Inkunabel der konzeptuellen Fotografie, Köln 2013. Vgl. auch —, »Ästhetik des Möglichen: Zur Erfindungsgeschichte der Readymades Marcel Duchamps«, in: Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste: Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg 2004 (Sonderheft der Zeit-

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schrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft), p. 103–135. 09  ——  Ebd., p. 10 f. 10  ——  Ebd., p. 40. 11  ——  Ebd., p. 44. 12  ——  Calvin Tomkins, Duchamp: A Biography, London 1996, p. 248 f. 13  ——  Juan Alfaro, »The Art of Looking Back and the Reward of More or Less Being Seen«, in: tout-fait: The Marcel Duchamp Studies Online Journal 1/3 (Dezember 2000). 14  ——  Vgl. David Moos, »Narrative of the Name«, in: Beyond the White Cube: a retrospective of Brian O’Doherty / Patrick Ireland, Ausst.-Kat. Dublin City Gallery, The Hugh Lane 2006 / Grey Art Gallery, New York 2007, Dublin 2006, p. 83–95. – Die deutsche Übersetzung des Textes in Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis et al. (Hgg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2007, p. 185–193. 15  ——  Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: Jannidis (wie Anm. 14), p. 211 f. 16  ——  Ebd., p. 229. 17  ——  Boris Groys, »Der Künstler als Konsument«, in: —, Topologie der Kunst, München / Wien 2003, p. 49 f. 18  ——  Nelson Goodman, »Über die Identität von Kunstwerken«, in: Schmücker (wie Anm. 01), p. 105. 19  ——  Walter Morgenthaler, Ein Geisteskranker als Künstler: Adolf Wölfli, Bern 1921. 20  ——  Roman Kurzmeyer, »Adolf Wölf li – Insasse«, in: Bettina Hunger et al. (Hgg.), Porträt eines produktiven Unfalls: Adolf Wölfli – Dokumente und Recherchen, Basel / Frankfurt am Main 1993, p. 155. 21  ——  Roman Kurzmeyer, »Pf lug und Stift«, in: Bill Traylor (1854–1949): Deep Blues, hg. von Josef Helfenstein und Roman Kurzmeyer, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern / Museum Ludwig (Köln), Köln 1998, p. 11. 22  ——  Boris Groys, »Kunst im Zeitalter der Biopolitik: Vom Kunstwerk zur

s e i t e 20–24 Kunstdokumentation«, in: Documenta 11 – Plattform 5: Ausstellung, Ostfildern-Ruit 2002, p. 107–113. 23  ——  Ebd., p. 107. 24  ——  Hans Belting, Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, p. 57. 25  ——  Ebd., p. 59. 26  ——  Siri Hustvedt, Mit dem Körper sehen: Was bedeutet es, ein Kunstwerk zu betrachten, Berlin / München 2010 (The Schelling Lectures, 3), p. 17. 27  ——  Andrea Fraser, »Über die soziale Welt sprechen ...«, in: Texte zur Kunst 21/81 (März 2011), p. 88­­–93. 28  ——  Ebd., p. 93. 29  ——  »Andrea Fraser über Prostitution: Die Künstlerin Andrea Fraser über ihr Video ›Untitled‹, in dem sie beim Sex mit einem Kunstsammler zu sehen ist«, 2.4.2009, in: Monopol: Magazin für Kunst und Leben, www.monopol-magazin.de/artikel/2010488 (abgerufen am 19.3.2015). 30  ——  Ein weiteres Beispiel, das hier diskutiert werden könnte, ist die performative Installation Break Down des britischen Künstlers Michael Landy, die vom 10. bis 24. Februar 2001 in einem ehemaligen Warenhaus an der Oxford Street in London zu sehen war. Der Künstler transportierte seinen gesamten Besitz, darunter Kunstwerke seiner Freunde und Familienerbstücke, an die Oxford Street, um diesen vor den Augen der Öffentlichkeit nach Materialien zu sortieren und danach zu zerkleinern. In der wie ein Recycling Center eingerichteten Halle gab es Listen und Zeichnungen, auf denen die vielen Dinge aufgeführt und beschrieben waren, die Landy und seine Assistenten in der aufsehenerregenden, konzentriert und mit grosser Professionalität durchgeführten Aktion zerstörten; vgl. Michael Landy: Break Down, Ausst.-Kat. Artangel Commission, London 2001. 31  ——  Gerade heute, im Zeitalter des Internets, in dem Kopie und Wiederholung unser Verhältnis zum Realen neu bestimmen, stellt sich die Frage, wie die Identität eines Werks zu erfassen wäre, umso dringlicher. – Wenn

wir bereit sind, zwei orthografisch identische lyrische Texte, die unabhängig von einander geschrieben wurden, als zwei verschiedene Gedichte zu betrachten, »dann ist das, was die beiden Gedichte voneinander unterscheidet,« schreibt der Philosoph Richard Wollheim, »ganz offenbar ihre unterschiedliche Entstehungsgeschichte«. Vgl. Richard Wollheim, »Sind die Identitätskriterien, die in den verschiedenen Künsten für ein Kunstwerk gelten, ästhetisch relevant?«, in: Schmücker (wie Anm. 01), p. 83.

Bill Traylor … 01  ——  Rosa Ralph Lyon Traylor, Verfasserin von Collirene: The Queen Hill, Montgomery AL, 1977, stammt aus einer der bedeutenden alten Pf lanzerfamilien Alabamas. 1935 heiratete sie John Bryant Traylor und zog mit ihm auf die Plantage in Benton, von der hier die Rede ist. Obwohl seit ihrer Heirat eine Traylor, wird die Familie Traylor in ihrem Buch, das die Geschichte der führenden Pf lanzerfamilien Alabamas erzählt, nur am Rande erwähnt. Meine Schilderung der Plantagengeschichte in diesem Beitrag basiert auf Recherchen von Rosa Ralph Lyon Traylor, insbesondere auf deren Typoskripten »Tracking the Traylors – Traylor Family History« und »History of the Benton Baptist Church, 1836–1969«, sowie einem Gespräch am 5. März 1998 in Hayeville, Alabama. Zur Architektur der SklavenQuartiere auf den Plantagen des Südens vgl. John Michael Vlach, Back of the Big House: The Architecture of Plantation Slavery, Chapel Hill / London 1993. 02  ——  Eileen Knott, »Bill Traylor & Charles Shannon«, in: Lively Times and Exciting Events: The Drawings of Bill Traylor, Ausst.-Kat. Montgomery Museum of Fine Arts, Montgomery AL, 1993, p. 10–15. 03  ——  Zur Geschichte der Darstellung Schwarzer in der amerikani-

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s ei t e 24–26 schen Kunst des frühen 20. Jahrhunderts vgl. Hugh Honour, The Image of the Black in Western Art, 4: From the American Revolution to World War I, 2 Bde., Cambridge MA / London 1989, v. a. p. 187–302. 04  ——  Alle Angaben zur Begegnung von Charles Shannon und Bill Traylor stammen, wenn nicht anders vermerkt, aus »Remembering Bill Traylor: An Interview with Charles Shannon«, in: Frank Maresca / Roger Ricco (Hgg.), Bill Traylor: His Art – His Life, New York 1991, p. 3–31. Weisse Männer wurden in Alabama bis zum Abschluss des Studiums nicht als Erwachsene betrachtet, was die Annäherung zwischen Charles Shannon und Bill Traylor überhaupt erst ermöglichte. Wäre Shannon zehn Jahre älter gewesen, hätte Bill Traylor vermutlich noch vorsichtiger und zurückhaltender auf dessen Interesse reagiert. Gespräch des Verf. mit Eugenia Carter Shannon in Montgomery, Alabama, am 1. März 1998. 05  ——  Nachruf auf Charles Shannon von Rita Reif, »Charles Shannon: An Art Instructor And Painter, 81«, in: The New York Times (20. April 1996). 06  ——  New South, New Deal and Beyond: An exhibition of New Deal era art 1933–1943, hg. von Miriam Rogers Fowler, Ausst.-Kat. Alabama Artists Gallery, Montgomery AL / Fine Arts Museum of the South, Mobile AL, Montgomery AL 1990. 07  ——  Brief von Jean Lewis vom 24. Februar 1989 an Phyllis Stigliano, Nassau County Museum, Sandspoint NY. Über die Anzahl der Aufnahmen, die 1940 in New South gemacht wurden, gibt es keine Angaben. Die Sammlung der Robert Cargo Folk Art Gallery, Tuscaloosa, Alabama, umfasst 16 Fotografien. 08  ——  Telefongespräch vom 28. Februar 1998 mit Kitty Weese, geb. Baldwin, Chicago. 09  ——  Brief von Rona Roob, Museumsarchivarin, The Museum of Modern Art, New York, vom 15. November 1989 an Phyllis Stigliano, Nassau County Museum, Sandspoint, New

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York. Im Archiv des Museum of Modern Art ein Nachruf auf Victor D’Amico von Douglas C. McGill und die Jahresberichte des Museums von 1938 und 1941. Im Archiv der Luise Ross Gallery, New York, den von Victor D’Amico verfassten Jahresbericht 1941/42 der Fieldston Schools, New York. 10  ——  Eine Retrospektive von William Edmondson war 1994 in der Janet Fleisher Gallery in Philadelphia zu sehen. Aus diesem Anlass wurden auch Fotografien Edmondsons von Louise Dahl-Wolfe und Edward Weston ausgestellt und eine Publikation mit einem Text von Jack Lindsey vorgelegt: Miracles: The Sculptures of William Edmondson, Janet Fleisher Gallery, Philadelphia 1994. 11  ——  Zit. nach Edmund L. Fuller, Visions in Stone: The Sculpture of William Edmondson, Pittsburgh 1973, p. 24. Selbstverständlich war nicht nur das bildnerische Schaffen Schwarzer gemeint. Die von Elsa Longhauser angeregte Ausstellung »Self-Taught Artists of the 20th Century: An American Anthology«, die 1998/99 in verschiedenen amerikanischen Museen gezeigt wurde, versuchte, die bedeutendsten amerikanischen Autodidakten in einem Museum auf Zeit zu zeigen. Ursprünglich war geplant, die Ausstellung mit wichtigen Positionen europäischer Art Brut zu ergänzen. Für die Auswahl der Europäer wäre der Schweizer Ausstellungsmacher Harald Szeemann verantwortlich gewesen. Das Ausstellungsprojekt scheiterte allerdings in dieser Form am Widerstand der amerikanischen Museen, die sich auf Künstler aus den Vereinigten Staaten beschränken wollten: Self-Taught Artists of the 20th Century: An American Anthology, Museum of American Folk Art, New York 1998; vgl. ebd. zu Bill Traylor, p. 58 f. 12  ——  Judith E. Stein (Hg.), »Tell My Heart«: The Art of Horace Pippin, New York 1993. 13  ——  Christine I. Oaklander, »Pioneers in Folk Art Collecting: Elie & Vi-

s e i t e 26–31 ola Nadelman«, in: Folk Art (Herbst 1992), p. 48–55. Dank an Roger Manley, New York, für den Hinweis auf diesen Artikel. 14  ——  Brief von Anne d’Harnoncourt, The George D. Widener Director, Philadelphia Museum of Art, vom 11. September 1989 an Phyllis Stigliano, Nassau County Museum, Sandspoint, New York: »My father had one wonderful drawing, of a horse, which he gave to me and I later gave (with many a pang) to a dear friend as a wedding present. – As far as my mother can recall, my father bought the drawing from the shop at the Brooklyn Museum sometime in the 1940s. She does not remember an actual exhibition, but there might have been. The Brooklyn Museum shop has always had a tradition of carrying wonderful things by little-known artists and craftsmen.« 15  ——  John W. Blassingame, The Slave Community: Plantation Life in the Antebellum South, New York / London 1979. 16  ——  Familientreffen, die der Zusammenführung der über das ganze Land verstreuten Familienmitglieder und der Sicherung von Erinnerungen an Bill Traylor dienten, fanden 1991 in Detroit, Michigan, und 1992 in Atlanta, Georgia, statt. Zu den beiden Familienkonferenzen liegen Materialsammlungen vor, in die mir Leila Greene und Nettie TraylerAlford freundlicherweise Einsicht gewährten. 17  ——  Eine Ausnahme bildet der von Luise Ross herausgegebene, auf Recherchen von Phyllis Stigliano und Janice Parente basierende, erste wissenschaftliche Katalog: Bill Traylor: Exhibition History, Public Collections, Selected Bibliography, Luise Ross Gallery, New York 1990. 18  ——  Zur Biografie von Annemarie Schwarzenbach siehe Charles Linsmayer, »Leben und Werk Annemarie Schwarzenbachs: Ein tragisches Kapitel Schweizer Literaturgeschichte«, in: Annemarie Schwarzenbach, Das glückliche Tal, Frauenfeld 1987,

p. 159–223; Regina Dieterle, »Annemarie Schwarzenbach (1908–1942): Zeugin ihrer Zeit – Die Wiederentdeckung einer sozialkritischen Reporterin«, in: Frauen Kunst Wissenschaft Rundbrief (14. Oktober 1992), p. 67 ff.; Nicole Müller / Dominique Grente, Der untröstliche Engel: Das ruhelose Leben der Annemarie Schwarzenbach, München 1995; Areti Georgiadou, »Das Leben zerfetzt sich mir in tausend Stücke« – Annemarie Schwarzenbach: Eine Biographie, Frankfurt am Main / New York 1995; Kurt Wanner / Marianne Breslauer, »wo ich mich leichter fühle als anderswo«: Annemarie Schwarzenbach und ihre Zeit in Graubünden, Chur 1997. 19  ——  Uta Fleischmann, »Unser Leben gleicht der Reise«: Die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach (1908–1942) im Spiegel ihrer Briefe an Erika und Klaus Mann 1930– 1942, Oldenburg 1993 (Bibliotheksgesellschaft Oldenburg, Vorträge, Reden, Berichte, 10), p. 7. 20  ——  Klaus Mann, Der Wendepunkt: Ein Lebensbericht, Frankfurt am Main 1952, p. 254. 21  ——  Georgiadou (wie Anm. 18), p. 156 ff. 22  ——  B eth Taylor Muskat / Mary Ann Neeley, The Way It Was: 1850–1930, Photographs of Montgomery and Her Central Alabama Neighbors, Montgomery AL 1985, sowie Mary Ann Neeley, Montgomery: Capital City Corners, Montgomery AL 1997, die den längst verblassten Glanz der einstigen Hauptstadt des Südens mit reichem Bildmaterial belegen. 23  ——  Polk’s Montgomery City Directory, Birmingham AL 1937, p. 13–18. 24  ——  Nachlass Annemarie Schwarzenbach im Schweizerischen Literaturarchiv, Bern. Die Aufnahmen aus Montgomery tragen die Signatur »USA 1936/38 III« und den handschriftlichen Vermerk »Baumwolle u. Neger in Montgomery«. Für Hinweise und Hilfestellungen geht mein Dank an Roger Perret, Zürich, und Huldrich Gastbar, Bern. 25  ——  Vgl. die Abb. in Bill Traylor

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s ei t e 31–41 (1854–1949): Deep Blues, hg. von Josef Helfenstein und Roman Kurzmeyer, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, 1998 / Museum Ludwig, Köln 1999, p. 13 f. 26  ——  Im Nachlass von Charles Shannon finden sich zwei Filmrollen mit Aufnahmen von Bill Traylor. Die Fotografien entstanden an zwei verschiedenen Tagen im Sommer und Herbst 1939. Diesen Hinweis verdanke ich Eugenia Carter Shannon, Montgomery, Alabama. 27  ——  Roger Perret (Hg.), Annemarie Schwarzenbach: Jenseits von New York – Ausgewählte Reportagen, Feuilletons und Fotografien aus den USA 1936– 1938, Basel 1997, p. 160: »Vergleicht man Schwarzenbachs Amerika-Fotografien von 1937/38 mit denjenigen der heute weltberühmten FSA-Fotografinnen und -Fotografen wie Walker Evans, Dorothea Lange, Ben Shahn, Arthur Rothstein, Russell Lee oder Marion Post Wolcott, staunt man über die Ähnlichkeit in der Methode und im Stil, in der Wahl der Themen und Motive«; zu den Fotografen der FSA vgl. Carl Fleischhauer / Beverly W. Brannan (Hgg.), Documenting America: 1935–1943, Berkeley et al. 1988, mit einem aufschlussreichen Anhang zum FSA-Archiv, sowie Christine Heiss, »Amerika in der Depressionszeit: Dokumentarphotographie im Auftrag der Regierung«, in: Michael Brix / Birgit Mayer (Hgg.), Walker Evans: Amerika – Bilder aus den Jahren der Depression, München 1990, p. 13–22. 28  ——  Zit. nach Fleischmann (wie Anm. 19), p. 8. 29  ——  Annemarie Schwarzenbach, »Baumwollkrise in Alabama«, in: Perret (wie Anm. 27), p. 88–90. 30  ——  Brief von Rosa Lyon Traylor vom 8. Juli 1992 an Antoinette Beeks, Atlanta, Georgia. 31  ——  State of Alabama, Departement of Archives and History, Montgomery: Unterlagen zur Volkszählung in Lowndes County, Alabama, 1900. 32  ——  State of Alabama, Departement of Archives and History, Montgomery: Unterlagen zur Volkszählung in

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Lowndes County, Alabama, 12. August 1870 und 22. Juni 1880. 33  ——  Zur Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges siehe Giampiero Carocci, Kurze Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs: Der Einbruch der Industrie in das Kriegshandwerk, Berlin 1997, v. a. p. 132 ff. 34  ——  In der Vorkriegszeit wuchs die schwarze Bevölkerung Alabamas sehr schnell. Die Baumwollpf lanzer gaben grosse Summen für den Erwerb zusätzlicher Sklaven aus. 1820 lebten in Alabama 41’879 Sklaven, bis ins Jahr 1860 wuchs ihre Zahl auf 435’080. James Benson Sellers, Slavery in Alabama, Tuscaloosa AL / London 1950, p. 147. 35  ——  Maresca/Ricco (wie Anm. 4), p. 3 ff. 36  ——  Ebd., p. 8: »Sometimes they buys ’em when they don’t even need ’em.« 37  ——  I m Jahr 1993 mündete ein von Mitgliedern der Familie Traylor gegen Charles Shannon angestrengter Prozess um das rechtmässige Eigentum der Zeichnungen aus dessen Sammlung in einen aussergerichtlichen Vergleich. Die Familie anerkennt die entscheidende Rolle, die Charles Shannon für die Erhaltung und Überlieferung der Zeichnungen, aber auch für den stetig wachsenden Nachruhm von Bill Traylor gespielt hat. Die biografischen Angaben zu Traylors letzten beiden Lebensjahren gehen zurück auf Recherchen seiner Angehörigen und sind in der aussergerichtlichen Vereinbarung mit Charles Shannon festgehalten. 38  ——  Allen Rankin, »He Lost 10,000 Years«, in: Collier’s 25 (22. Juni 1946), p. 67. 39  ——  Siehe hierzu die vorzügliche Untersuchung des in Vancouver lehrenden Kunstwissenschaftlers Serge Guilbaut, Wie New York die Idee der modernen Kunst gestohlen hat: Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden / Basel 1997. 40  ——  John Wagnon, »Artist Charles Shannon Dies at 81«, Pressemitteilung, 5. April 1996.

s ei t e 41–46 41  ——  Die von Jane Livingston und John Beardsley für die Corcoran Gallery of Art in Washington D.C. organisierte Ausstellung »Black Folk Art in America 1930–1980« reiste von Washington nach Kentucky, New York, Kalifornien, Texas, Michigan, Alabama und Illinois. 42  ——  Kay Larson, »ART: Briefs, Bill Traylor«, in: The Village Voice 1 (1980), p. 59; Cylbert Coker, »Bill Traylor at RH. Oosterom«, in: Art in America 3 (1980), p. 125; Brian Wallis, »Bill Traylor«, in: Arts Magazine 9 (Mai 1980), p. 24 f. 43  ——  Jane Livingstone, »What it is«, in: — / John Beardsley, Black Folk Art in America 1930–1980, Jackson MS 1982, p. 11–23. 44  ——  Zu den in der Ausstellung vertretenen Künstlern gehörten ausser Bill Traylor: Jesse Aaron, Steve Ashby, David Butler, Ulysses Davis, William Dawson, Sam Doyle, William Edmondson, James Hampton, Sister Gertrude Morgan, Inez Nathaniel-Walker, Leslie Payne, Elijah Pierce, Nelie Mae Rowe, James »Son Ford« Thomas, Mose Tolliver, George White, George Williams, Luster Willis und Joseph Yoakum. 45  ——  Roberta Smith, »ART: Folk Art, High Spirits«, in: The Village Voice 37 (September 1982), p. 74. 46  ——  Vivien Raynor, »Art: Show in Brooklyn Mines Black Folk Vein«, in: The New York Times (2. Juli 1982), p. C22; Bruce Kurtz, »Black Folk Art in America 1930–1980: Craft and Folk Art Museum«, in: Artforum (7. März 1983), p. 80 f. 47  ——  Vgl. Bill Traylor: People, Animals, Events 1939–42, Vanderwoude Tananbaum Gallery, New York 1982. 48  ——  Bill Traylor: People’s Artist, New South, Montgomery AL 1940, s. p. 49  ——  Robert Douglas, »The Search for an Afrocentric Visual Aesthetic«, in: Kariamu Welsh-Asante (Hg.), The African Aesthetic: Keeper of the Traditions, Westport CT / London 1993, p. 159–173. 50  ——  Robert Farris Thompson, Flash of The Spirit: African and Afro-American Art and Philosophy, New York

1983. Anlässlich der von Sotheby’s am 3. Dezember 1997 in New York veranstalteten Auktion von 21 Zeichnungen Bill Traylors aus der Sammlung Joe und Pat Wilkinson, die alle Erwartungen weit übertraf und das Rekordergebnis von USD 777’700 erbrachte, hielt Robert Farris Thompson einen Vortrag. Brief von Robert Farris Thompson, New Haven CT, an den Verf., vom 17. März 1998. Zur Auktion wurde ein Katalog mit Kurzbeiträgen namhafter Autoren aus Wissenschaft, Kunst und Kunsthandel aufgelegt, der von einer sonst für unser Fach seltenen Einigkeit unter Sachverständigen zeugt. 51  ——  Ein Hinweis auf die angebliche Verwandtschaft der Figurendarstellungen von Bill Traylor und der figürlichen Skulpturen der Yoruba findet sich bei Dan Cameron, »History and Bill Traylor«, in: Arts Magazine 2 (Oktober 1985), p. 45. Die Yoruba (Westafrika) stellen den grössten Anteil der schwarzen Bevölkerung der Vereinigten Staaten. In Alabama und den anderen Staaten des tiefen Südens war der Anteil der Menschen aus dem Kongo (Zentralafrika) allerdings grösser. Vgl. Tom Phillips (Hg.), Afrika: Die Kunst eines Kontinents, München / New York 1996, v. a. p. 230–477. 52  ——  Leslie King-Hammond, »To Go Modern?: The Black Artist in 20th Century America«, in: African-American Art: 20th Century Masterworks 5, Michael Rosenfeld Gallery, New York / Newcomb Art Gallery, New Orleans 1998, s. p. 53  ——  Alain Locke (Hg.), The New Negro: An Interpretation, New York 1925. 54  ——  Douglas (wie Anm. 49), p. 168. 55  ——  Cameron (wie Anm. 51), p. 46. 56  ——  Bezeichnung der Demokratischen Republik Kongo 1971–1997. 57  ——  U lli Beier, »Auf der Suche nach der schwarzen Malerei: Dokumente zur Rezeption von Lubaki und Djilatendo«, in: Neue Kunst aus Afrika, hg. von Alfons Hug, Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt Berlin, Heidelberg 1996, p. 83–87. Dazu Helke Kammerer-Grothaus, »Zur modernen Kunst

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s ei t e 46–60 in Zentralafrika«, in: Ronald Ruprecht (Hg.), Zaire / Kongo: Tradition und Moderne, Iwalewa-Haus, Bayreuth 1986, p. 24–31, und Susan Vogel, »International Art: The Official Story«, in: —, Africa Explores: 20th Century African Art, Ausst.-Kat. The Center for African Art New York, München / New York 1991, v. a. p. 186 f. 58  ——  Regenia A. Perry, »Black American Folk Art: Origins and Early Manifestations«, in: Livingstone/Beardsley (wie Anm. 43), p. 25–37. 59  ——  Peter Morrin, »Bill Traylor«, in: Ross (wie Anm. 17), p. 5 f. 60  ——  Zum Vergleich Theodore Rosengarten, All God’s Dangers: The Life of Nate Shaw, New York 1975, v. a. p. 231–285. 61  ——  John Berger, »Der ideale Palast«, in: —, Begegnungen und Abschiede: Über Bilder und Menschen, aus dem Englischen von Jörg Trobitius München / Wien 1993, p. 84–94. 62  ——  Der Begriff »Art Brut« wurde von dem französischen Maler Jean Dubuffet geprägt, der seit den 1940erJahren Kunst von »Irregulären« sammelte, in seinen eigenen Worten künstlerische Arbeiten »von Leuten, die ausserhalb der herrschenden Ordnung stehen«. Vgl. Jean Dubuffet, »Art Brut: Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst« (1949), in: Jean Dubuffet, Schriften, 4 Bde., Bern / Berlin 1991–1994, Bd. 1, Die Malerei in der Falle: Antikulturelle Positionen, 1991, p. 86, und ebd., »Art Brut«, p. 82–85, sowie John McGregor, »Art Brut chez Dubuffet: An Interview with the Artist, August 21, 1976«, in: Raw Vision 7 (1993), p. 40–51. Dazu Mechthild Haas, Jean Dubuffet: Materialien für eine »andere Kunst« nach 1945, Berlin 1997, v. a. p. 12–45.

Heinrich Anton Müller … 01  ——  Vgl. Roman Kurzmeyer (Hg.), Heinrich Anton Müller (1869–1930): Katalog der Maschinen, Zeichnungen und Schriften, Basel / Frankfurt am Main 1994; darin weiterführende Literatur,

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Quellen und Materialien zu Leben und Werk von Heinrich Anton Müller. 02  ——  Vgl. die Abbildung in: Michel Beretti / Armin Heusser (Hgg.), Der letzte Kontinent – Bericht einer Reise zwischen Kunst und Wahn: Ein Bilderund Lesebuch mit Materialien aus dem Waldau-Archiv, Zürich 1997, p. 66. 03  ——  Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken: Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin / Heidelberg 1922. 04  ——  Heinrich Anton M., Ausst.-Kat. Compagnie de l’Art Brut, Paris 1949. 05  ——  Vgl. Jean Dubuffet, »Heinrich Anton M.«, in: L’Art Brut, Paris 1964, Bd. 1, p. 131–143. 06  ——  Vgl. Harald Szeemann (Hg.), Junggesellenmaschinen / Les Machines Célibataires, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bern et al. 1975; erweiterte Neuauflage: Wien / New York 1999. 07  ——  Vgl. Harald Szeemann (Hg.), Visionäre Schweiz, Aarau / Frankfurt am Main / Salzburg 1991. 08  ——  Harald Szeemann, »Und siegt der Wahn, so muss die Kunst: Mehr inhalieren«, in: Roman Buxbaum / Pablo Stähli (Hgg.), Von einer Wellt zu’r Andern: Kunst von Aussenseitern im Dialog, Köln 1990, p. 73. 09  ——  Hans-Jürgen Buderer, Kinetische Kunst: Konzeption von Bewegung und Raum, Worms 1992, p. 7. 10  ——  Jean Dubuffet, »Art Brut: Vorzüge gegenüber der kulturellen Kunst« (1949), in: —, Schriften, Bd. 1, Die Malerei in der Falle: Antikulturelle Positionen, Bern / Berlin 1991, p. 92 f. 11  ——  Ausstellungen wie »Discovery of Art Brut: Works by Three Swiss Artists: Wölf li, Aloïse, Müller«, Hong Kong Arts Centre 1997; »Kunst und Wahn«, Kunstforum Wien 1997; »Art Brut«, The Museum of Kyoto 1997. 12  ——  Hubert Thüring, »Kunst der Vergänglichkeit«, in: Basler Magazin 38 (1994), p. 11. 13  ——  Vgl. dazu Sonia Favre, Ein Störfall im Getriebe: Das Umfeld und Maschinenwerk von Heinrich Anton Müller – Resignation oder Rebellion?, Zürich 1997 (Lizentiatsarbeit, Universität Zürich), p. 69 ff.

s ei t e 61–69 14  ——  Vgl. zur Debatte um den modernen Künstlerbegriff und zu der Frage, was die Sozialgeschichte zum Verständnis der Formen beitragen kann, Pierre Bourdieu, »Die historische Genese einer reinen Ästhetik«, in: Merkur: Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 11 (1992), p. 967–979. 15  ——  Theodor Spoerri, »Identität von Abbildung und Abgebildetem in der Bildnerei der Geisteskranken«, in: documenta 5: Befragung der Realität, Bildwelten heute, Ausst.-Kat. Neue Galerie / Museum Fridricianum Kassel, Kassel 1972, p. 11.6. 16  ——  Vgl. dazu Horst Bredekamp, »Überlegungen zur Unausweichlichkeit der Automaten«, in: Puppen, Körper, Automaten: Phantasmen der Moderne, hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora, Ausst.-Kat. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1999, p. 94–105.

Elie Nadelman … 01  ——  Zu Leben und Werk vgl. Lincoln Kirstein, Elie Nadelman, New York 1973 (mit Texten des Künstlers und dem Gesamtkatalog der Zeichnungen). 02  ——  Vgl. Calvin Tomkins, Duchamp: A Biography, London 1997, v. a. p. 116– 142. 03  ——  Vgl. Milton W. Brown, The Story of the Armory Show, New York 1988, v. a. p. 133 ff. und 264 f. 04  ——  Vgl. ebd., p. 298 (Werkliste). 05  ——  Aby M. Warburg, »Luftschiff und Tauchboot in der mittelalter­ lichen Vorstellungswelt« (1913), in: Aby Warburg: Von Michelangelo bis zu den Puebloindianern, hg. vom Kulturforum Warburg, Warburg 1991, p. 79–86. 06  ——  Obschon der Hamburger Privatgelehrte nie ein Buch geschrieben hat und die wenigen, verstreut erschienenen Aufsätze lange nicht zugänglich waren, gehört er zu den inspirierendsten Kunstwissenschaftlern der europäischen Moderne. Seinen

Ruhm verdankt er nicht zuletzt der von ihm aufgebauten Bibliothek, die er nicht als kunsthistorisches Archiv, sondern als kulturwissenschaftliche Bibliothek konzipierte. Vgl. etwa Robert Galitz / Brita Reimers (Hgg.), Aby M. Warburg – »Ekstatische Nymphe ... trauernder Flussgott«: Portrait eines Gelehrten, Hamburg 1995. 07  ——  Auf die Verwandtschaft des Bildverständnisses von Warburg und Duchamp hat schon Werner Hofmann hingewiesen in seinem Aufsatz »Die Menschenrechte des Auges«, in: Werner Hofmann / Georg Syamken / Martin Warnke, Die Menschenrechte des Auges: Über Aby Warburg, Frankfurt am Main 1980, p. 102–104. 08  ——  Vgl. Georges Didi-Huberman, Vor einem Bild, aus dem Französischen von Reinold Werner, München / Wien 2000, p. 201. 09  ——  Vgl. Otto Karl Werckmeister, Versuche über Paul Klee, Frankfurt am Main 1981, p. 124 ff, und Josef Helfenstein, »Die Thematik der Kindheit im Spätwerk von Klee«, in: Jonathan Fineberg (Hg.), Kinderzeichnung und die Kunst des 20. Jahrhunderts, Ostfildern 1995, p. 100–135. 10  ——  Zu Prinzhorns intellektueller Biografie vgl. Thomas Röske, Der Arzt als Künstler: Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn (1886–1933), Bielefeld 1995. 11  ——  Archiv der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg: Rundbrief von Hans Prinzhorn, 1920. 12  ——  Zur Bedeutung des Bandes, in dem nur ein Bruchteil der Sammlung sichtbar wurde, zuletzt Bettina Brand-Claussen, »Prinzhorns ›Bildnerei der Geisteskranken‹: Ein spätexpressionistisches Manifest«, in: Inge Jádi / Bettina Brand-Claussen (Hgg.), Vision und Revision einer Entdeckung, Museum Sammlung Prinzhorn, Heidelberg 2001, p. 11–31. 13  ——  Vgl. die Dokumentation Manual of Instructions for Marcel Duchamp – Etant donnés: 1. La chute d’eau, 2. Le gaz d’éclairage …, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 1987.

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s ei t e 72–82 14  ——  Gail Levin / John B. Van Sickle, »Elie Nadelman’s New Classicism«, in: Elie Nadelman (1882–1946), Salander-OReilly Galleries, New York 1997, p. 10. 15  ——  Nadelman zit. nach Kirstein (wie Anm. 01), p. 270 f. 16  ——  Cynthia Nadelman, »GalvanoPlastiques«, in: Elie Nadelman: Galvano-Plastiques, Salander-O’Reilly Galleries, New York 2001, p. 3–8. 17  ——  Nadelman zit. nach Cynthia Nadelman, »The shocking blue hair of Elie Nadelman: He ignored the conventions of his day and became one of the greatest American sculptors of this century«, in: American Heritage (März 1989), p. 84. 18  ——  John I. H. Baur, in: The Sculpture and Drawings of Elie Nadelman (1882–1946), Whitney Museum of American Art, New York 1975, p. 10–13. 19  ——  Vgl. »Arlene Shechet and Kiki Smith Conversation«, in: Elie Nadelman (1882–1946): The Late Work, Salander-O’Reilly Galleries, New York 1999, p. 13–15. 20  ——  Der vorliegende Beitrag ist eine erweiterte Fassung des Kapitels »Elie Nadelman: Die Antiken der Neuen Welt«, in: Roman Kurzmeyer, Atlas, Anatomie, Angst: Max von Moos, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Luzern, Zürich et al. 2001, p. 121–136. 21  ——  Bettina Hunger et al., Porträt eines produktiven Unfalls – Adolf Wölfli: Dokumente und Recherchen, Basel / Frankfurt am Main 1993. 22  ——  Roman Kurzmeyer (Hg.), Heinrich Anton Müller (1869–1930): Katalog der Maschinen, Zeichnungen und Schriften, Basel / Frankfurt am Main 1994. 23  ——  Josef Helfenstein / Roman Kurzmeyer (Hgg.), Deep Blues: Bill Traylor (1854–1949), Köln 1998. 24  ——  Archiv der Familie Nadelman, New York: Saalführer The Museum of Folk Arts, 1935. 25  ——  Christine I. Oaklander, »Pioneers in Folk Art Collecting: Elie & Viola Nadelman«, in: Folk Art (Herbst 1992), p. 48–55. 26  ——  Archiv der Familie Nadelman,

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New York: Briefwechsel zwischen Nelson A. Rockefeller und Elie Nadelman, 1937. 27  ——  In folgenden Bildbänden aus Nadelmans Bibliothek fand der Verf. Plastillinspuren: Paul Perdrizet, Les Terres Cuites Greques d’Egypte de la Collection Fouquet, Nancy / Paris / Strassburg 1921; Ausgewählte griechische Terrakotten im Antiquarium der königlichen Museen zu Berlin, Berlin 1903; Wilhelm Weber, Die ägyptischgriechischen Terrakotten, Berlin 1914 (Tafelband), und ein Textband ohne Arbeitsspuren; Paul Schubring, The Work of Donatello, New York 1921; Valentin Müller, Frühe Plastik in Griechenland und Vorderasien: Ihre Typenbildung von der Neolithischen bis in die griechisch-archaische Zeit (rund 3000 bis 600 v. Chr.), Augsburg 1929; W. Froehner, Terres Cuites d’Asie de la Collection Julie Gréau, Paris 1886; August Köster, Die griechischen Terrakotten, Berlin 1926; Friedrich Knapp, Italienische Plastik: Vom fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhundert, München 1923; Heinrich Bulle, Der schöne Mensch im Altertum: Eine Geschichte des Körperideals bei Ägyptern, Orientalen u. Griechen, 3 Bde., München / Leipzig 1912; Caroline Amy Hutton, Greek Terracotta Statuettes, London 1899; André Henri Pierre de Ridder, Collection de Clercq, Bd. 3, Les Bronzes, Paris 1905. 28  ——  Klaus Kertess, »Child’s Play: The Late Work of Elie Nadelman«, in: Artforum International (März 1985), p. 64–67. 29  ——  Walter Benjamin, »Kleine Geschichte der Photographie«, in: —. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1963, p. 57 f.

Annemarie von Matt und Sonja Sekula … 01  ——  Vgl. Ann Eden Gibson, Abstract Expressionism: Other Politics, New Haven / London 1997.

s ei t e 83–99 02  ——  Sonia Sekula, »Womb«, in: VVV 2–3 (März 1943), p. 67. 03  ——  Vgl. das Standardwerk von Wolfgang Max Faust, Bilder werden Worte: Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert oder Vom Anfang der Kunst im Ende der Künste, München 1977. 04  ——  Vgl. André Billy, Guillaume Apollinaire, Paris 1947 (Poètes d’Aujourdhui 8), mit Notizen und Kommentaren zu den Gedichten von der Hand Sonja Sekulas, Sammlung Gérard Charrière im Kunstmuseum Luzern. 05  ——  Faust (wie Anm. 03), p. XX. 06  ——  Gisela Steinlechner, »Tägliche Übung mit Mehr-Zweck-Waffe: Diarische Produktionsweisen bei Annemarie von Matt und Sonja Sekula«, in: Roman Kurzmeyer / Roger Perret (Hgg.), Dunkelschwestern: Annemarie von Matt – Sonja Sekula, Zürich 2008, p. 250–256. 07  ——  Vgl. Theo Kneubühler, »Annemarie von Matt (1905–1967)«, in: Ausst.-Kat. Galerie Raeber, Luzern 1973, s. p. 08  ——  Vgl. Hans von Matt, »Die eigenwillige Persönlichkeit« (1969), wiederabgedruckt in: Kurzmeyer/Perret (wie Anm. 06), p. 257–259. 09  ——  Zur Werk- und Wirkungsgeschichte vgl. Annemarie von Matt (1905–1967): »Einblick in meine Unterwelt«, hg. von Marianne Baltensberger, Ausst.-Kat. Nidwaldner Museum Stans, Wabern/Bern 2003. 10  ——  Vgl. Kurzmeyer/Perret (wie Anm. 06), p. 29–137. 11  ——  Kantonsbibliothek Nidwalden, Nachlass Annemarie und Hans von Matt, Brief an Hauptmann O. Hans, Eidg. Bettag 42 [Entwurf ]. Briefwechsel von AvM und HvM mit Freunden, 1906–1983, B026/001–119. 12  ——  Von Annemarie von Matt handschriftlich mehrfach unterstrichene, umrahmte und umkreiste Buchstaben und Worte werden hier in runder Klammer wiedergegeben. Eckige Klammern markieren unsichere Lesarten und Ergänzungen des Verf. 13  ——  Kantonsbibliothek Nidwalden, Nachlass Annemarie und Hans von

Matt, Notiz zur »Kellermadonna« von Hans von Matt. 14  ——  Kantonsbibliothek Nidwalden, Nachlass Annemarie und Hans von Matt, Photo AvM neuere. 15  ——  Vgl. den Beitrag von Theo Kneubühler in: Annemarie von Matt, Galerie Raeber Luzern, 1973, s. p. 16  ——  Christoph Lichtin, »Eine Ordnung der Dinge: Zu Annemarie von Matts plastischem Werk«, in: Ausst.Kat. Stans (wie Anm. 09), p. 75. 17  ——  Thomas Mann, Königliche Hohheit, Frankfurt a. M. 1989, p. 252. 18  ——  Ebd. 19  ——  Kantonsbibliothek Nidwalden, Nachlass Annemarie und Hans von Matt, Typoskript »Andreas« von Hans von Matt. 20  ——  Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, hg. von Bernd Schoeller, 10 Bde., Frankfurt am Main 1979, Bd. 7, p. 274. 21  ——  Ebd., Kommentar Bernd Schoeller, Bibliographie, p. 670. 22  ——  Ebd., p. 279. 23  ——  Ebd., p. 280. 24  ——  Ebd., p. 276. 25  ——  Ebd., p. 277. 26  ——  Ebd., p. 275. 27  ——  Ebd., p. 276. 28  ——  Kantonsbibliothek Nidwalden, Nachlass Annemarie und Hans von Matt, Typoskript »Mariquita« von Hans von Matt. 29  ——  Roman Kurzmeyer, »Normen«, in: von Matt (wie Anm. 09), p. 126. 30  ——  Vgl. Kurzmeyer/Perret (wie Anm. 06), p. 137. 31  ——  Die Illustrationsvorlage zum Plakat der Ausstellung »Was ist Surrealismus?« ist abgebildet in: Werner Spies / Sigrid Metken / Günter Metken (Hgg.), Max Ernst: Werke 1929–1938, Köln 1979, p. 293. 32  ——  Max Ernst, »Was ist Surrealismus?«, in: Ausstellung: 11. Oktober bis 4. November 1934, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 1934, p. 3–7. 33  ——  Vgl. die Abb. in Sonja Sekula (1918–1963), Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur / The Swiss Institute New York, Winterthur 1996, p. 19.

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s ei t e 99–108 34  ——  Schon 1931 lag mit Introduction to American Indian Art ein Buch vor, das Kunst der amerikanischen Indianer nicht unter ethnologischen Gesichtspunkten vorstellte, sondern wegen ihres ästhetischen Wertes. 35  ——  Barnett Newmann hatte schon 1944 im Auftrag von Betty Parsons die Ausstellung »Präkolumbische Stein­ skulptur« organisiert, vgl. dazu Barnett Newman: Schriften und Interviews 1925–1970, hg. von John O’Neill und Richard Shiff, aus dem Englischen von Tarcisius Schelbert, Bern / Berlin 1996, p. 79 ff. 36  ——  Ebd., p. 151. 37  ——  Jed Perl, New Art City: Manhattan und die Erfindung der Gegenwartskunst, aus dem Englischen von Jörg Trobitius, München / Wien 2006, p. 237. 38  ——  Regine Prange, »›Jack the Dripper‹ oder Pollock und ›The American Sublime‹«, in: kritische berichte 1 (1993), p. 37. 39  ——  Vgl. Peggy Guggenheim & Frederick Kiesler: The Story of Art of This Century, hg. von Susan Davidson und Philip Rylands, Ausst.-Kat. Fondazione Peggy Guggenheim Venedig et al., Ostfildern 2004, p. 290. 40  ——  Betty Parsons, zit. nach Nancy Foote, »Who was Sonia Sekula?«, in: Art in America 59/5 (September/Oktober 1971), p. 79. 41  ——  Gibson (wie Anm. 01), p. 129– 131: »I stick to my own need and prefer to work small scale for outward and moral reasons. More tranquillity, more hope and just as much time put into it.« 42  ——  Vgl. Abb. in: Kurzmeyer/Perret (wie Anm. 06), p. 228. 43  ——  Zit. nach Prange (wie Anm. 38), p. 20. 44  ——  Vgl. Calvin Tomkins, Ahead of the Game: Four Versions of Avantgarde: John Cage, Marcel Duchamp, Jean Tinguely, Robert Rauschenberg, Harmondsworth 1968, p. 108. 45  ——  Ulrich Bischoff, »Kunst als Grenzbeschreitung: John Cage und die Moderne«, in: John Cage: Kunst als Grenzüberschreitung, hg. von Ulrich

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Bischoff, Ausst.-Kat. Neue Pinakothek München, München 1991, p. 18. 46  ——  Vgl. »Marcel Duchamp spricht über Ready-mades: Interview von Philippe Collin mit Marcel Duchamp in der Galerie Givaudan, Paris, 21. Juni 1967«, in: Dieter Daniels, »Marcel Duchamp – der einf lussreichste Künstler des 20. Jahrhunderts?«, in: Marcel Duchamp, hg. von Annja Müller-Alsbach, Ausst.-Kat. Museum Jean Tinguely Basel, Ostfildern 2002, p. 37 f, sowie Etant donné 6: Marcel Duchamp & John Cage (2005). 47  ——  Vgl. Kurzmeyer/Perret (wie Anm. 06), p. 230. 48  ——  John Cage publizierte 1961 unter dem Titel »Silence« Texte und Vorträge, u. a. auch seinen »Vortrag über nichts«, den er 1949 im Künstler-Club in New York gehalten hatte; vgl. die deutsche Ausgabe: John Cage, Silence, aus dem Englischen von Ernst Jandl, Frankurt am  Main 1987. 49  ——  Vgl. Kurzmeyer/Perret (wie Anm. 06), p. 230: »Discouraged? Vain? Wanting to make a name? No, not really – I feel that Zen is a good answer to my work.« 50  ——  Vgl. die Zeichnung Explaining (Ex-plan..ation..) von 1951, abgebildet in: ebd., p. 195: »I look desperately for new forms. I dont find any in the / head. So I draw unknowingly the forms that are somewhere / hidden or maybe further than the head. I want to draw / women forms, but the buttocks and the elbows and the neck / or the hands dont really interest me. So I look for forms. / Square or round or dots or a line or two lines and / then I want to draw a man. Well, a man with his arms / up skyhigh is just a few lines left and right and the / sky has no form at all. So I stop thinking and just / play at telefondoodling with a pencil on a paper and so I / forget about still wanting to find something to find something new, its / all a bit alike to me.« 51  ——  Vgl. den Beitrag von Brian O’Doherty in: Kurzmeyer/Perret (wie Anm. 06), p. 280–283.

s e i t e 108–135 52  ——  Kurzmeyer/Perret (wie Anm. 06), p. 242.

Robert Müller … 01  ——  Dieter Bachmann, »Robert Müller: Hüter seines Schlafs«, in: Du 5 (1990), p. 66–78. 02  ——  Heiny Widmer, »Robert Müller«, in: Robert Müller, Bruno Müller – Skulpturen, Zeichnungen, Malerei, Graphik, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus, Aarau 1978, s. p.  03  ——  Zit. nach Etienne-Martin, mit einem Text von Michel Ragon, Brüssel 1970, p. 132. 04  ——  Ebd., p. 134. 05  ——  Ebd., p. 132.

Sichtbarer Rhythmus … 01  ——  John Cage, Für die Vögel: Gespräche mit Daniel Charles, aus dem Englischen von Birger Ollrogge, Berlin 1984, p. 137. 02  ——  Robert Kudielka, »Schichten: Zur Notation von Tiefe in der Zeit«, in: Notation: Kalkül und Form in den Künsten, hg. von Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt und Peter Weibel, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin / ZKM Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, Berlin / Karlsruhe 2008, p. 348–360. 03  ——  Paul Klee: Melodie und Rhythmus, hg. von Michael Baumgartner, Ausst.-Kat. Zentrum Paul Klee Bern, Ostfildern 2006. 04  ——  Wolfgang Kersten, »Das Problem ›Rhythmus‹ bei Paul Klee«, in: Barbara Naumann (Hg.), Rhythmus: Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, Würzburg 2005, p. 243–259. 05  ——  Zur Beziehung der beiden Künstler vgl. Etant donné 6, Marcel Duchamp & John Cage (2005). 06  ——  Claude Lévi-Strauss, Sehen, Hören, Lesen, aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen, München / Wien 1995, p. 154. 07  ——  Vgl. Hans Belting, »The Last

Portrait of Marcel Duchamp«, in: Beyond the White Cube: A Retrospective of Brian O’Doherty / Patrick Ireland, Ausst.-Kat. Dublin City Gallery, The Hugh Lane 2006 / Grey Art Gallery, New York, Dublin 2006, p. 38–43. 08  ——  Brian O’Doherty, Duchamp’s Heart and My Many Selves, Vortrag gehalten am 18. April 2012, Institut Kunst, Basel. 09  ——  Hans Belting, »Meisterwerk«, in: Anette Selg / Rainer Wieland (Hgg.), Die Welt der Encyclopédie, Frankfurt am Main 2001, p. 253–256. 10  ——  Hanno Helbling, Rhythmus: Ein Versuch, Frankfurt am Main 1999, p. 89. 11  ——  Felicitas Thun-Hohenstein, Performanz und ihre räumlichen Bedingungen: Perspektiven einer Kunstgeschichte, Wien / Köln / Weimar 2012, p. 100; grundlegend zur »performativen Wende«: Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004. 12  ——  Weiterführend vgl. Harald Szeemann (Hg.), Junggesellenmaschinen / Les Machines Célibataires, Venedig 1975. 13  ——  Marcel Duchamp: Interviews und Statements, gesammelt, übersetzt und annotiert von Serge Stauffer, Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart 1992, p. 212 f. 14  ——  Amy Knight Powell, Depositions: Scenes from the Late Medieval Church and the Modern Museum, New York 2012, p. 111–120. 15  ——  Ebd., p. 115. 16  ——  Vgl. Etant donné 6: Marcel Duchamp & John Cage (2005). 17  ——  Lévi-Strauss (wie Anm. 06), p. 154. 18  ——  Vgl. Hans Richter: Malerei und Film, hg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert, Ausst.-Kat. Deutsches Filmmuseum Frankfurt, Frankfurt am Main 1989, p. 74. 19  ——  Zit. nach Hans Richter by Hans Richter, hg. von Cleve Gray, New York / Chicago / San Francisco 1971, p. 135. 20  ——  Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder: Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg,

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s ei t e 135–144 aus dem Französischen von Michael Bischoff, Berlin 2010, v. a. p. 370 f. 21  ——  Konrad Wünsche, Bauhaus: Versuche, das Leben zu ordnen, Berlin 1989. 22  ——  Der Text erschien erstmals 1944 im Bulletin abstrakt + konkret der Zürcher Galerie Eaux-Vives und ist wieder abgedruckt in: Camille Graeser (1892–1980), Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur et al., Zürich 1992, p. 7. 23  ——  Jeannot Simmen, »Dislokation und Translokation: Bemerkungen zu Camille Graesers Spätwerk«, in: Graeser (wie Anm. 22), p. 158.

Deutscher Terrorismus … 01  ——  Klaus Staeck, »Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Dokumenta V, 1972«, in: Joseph Beuys, hg. von Tobia Bezzola und Harald Szeemann, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 1993, p. 82. 02  ——  Annelie Pohlen, »Interview mit Joseph Beuys«, in: heute Kunst 21 (Februar/April 1978), p. 17. 03  ——  Benjamin H. D. Buchloh, »The Twilight of the Idol«, in: Artforum (Januar 1980), p. 35–43. 04  ——  Zit. nach der deutschsprachigen Fassung der Ausstellungsbesprechung von Benjamin H. D. Buchloh, »Joseph Beuys – Die Götzendämmerung«, in: Stephan von Wiese, Brennpunkt Düsseldorf 1962–1987, Ausst.Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, Düsseldorf 1987, p. 60–77. 05  ——  Dazu Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: —, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1963, v. a. p. 42–44. 06  ——  Gerhard Richter, »Notizen November 1988 (für die Pressekonferenz Februar 1989, Museum Haus Esters, Krefeld)«, in: Hans-Ulrich Obrist (Hg.), Gerhard Richter: Text –Schriften und Interviews, Frankfurt am Main / Leipzig 1993, p. 166.

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07  ——  Carol Vogel, »Inside Art«, in: The New York Times (16. Juni 1995). 08  ——  Hilton Kramer, »MoMa Helps Martyrdom of German Terrorists«, in: The New York Observer (3.–10. Juli 1995). 09  ——  David Gordon, »Art Imitates Terrorism – Museums: Should the Baader-Meinhof gang hang?«, in: Newsweek (Atlantic Edition, London, 14. August 1995. 10  ——  In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Warhol bereits 1964 für eine Aussenwand des New York State Pavillons auf der Weltausstellung in New York die Installation Thirteen Most Wanted Men nach Fahndungsfotos von 13 Kriminellen schuf, die vom Gouverneur des Staates New York zensiert wurde. 11  ——  Benjamin H. D. Buchloh, »Gerhard Richter: ›18. Oktober 1977‹«, in: Gerhard Richter, hg. von Kasper König, Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn, Bonn 1993, Bd. 2, p. 52; überarbeitete Fassung der Erstveröffentlichung in: Gerhard Richter, 18. Oktober 1977, Ausst.-Kat. Museum Haus Esters Krefeld / Portikus Frankfurt am Main, Köln 1989. 12  ——  Richter begann 1962, Abbildungen aus Zeitungen und Zeitschriften auf Leinwand zu übertragen. Eines der frühesten in dieser Technik ausgeführten Gemälde ist das Bildnis Adolf Hitlers. 13  ——  »Gespräch mit Jan Thorn Prikker über den Zyklus ›18. Oktober 1977‹, 1989«, in: Obrist (wie Anm. 06), p. 182. 14  ——  Ebd., p. 183. 15  ——  Helmut Rywelski, »Joseph Beuys: Heute ist jeder Mensch Sonnenkönig«, in: Einzelheiten: Joseph Beuys, Köln 1970, s. p.

Helmut Federle … 01  ——  Erik Steffensen, »God and Symmetry«, in: Helmut Federle: A Nordic View, Ausst.-Kat. Galerie nächst

s ei t e 144–173 St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien 2005, p. 17. 02  ——  Georges Didi-Huberman, Was wir sehen, blickt uns an: Zur Metapsychologie des Bildes, aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, München 1999, p. 217. 03  ——  »Helmut Federle in Conversation with John Yau and Chris Martin«, in: The Brooklyn Rail: Critical Perspectives on Arts, Politics, and Culture (November 2009), p. 22–25. 04  ——  Erich Franz, »Gespräch mit Helmut Federle«, in: Helmut Federle – XLVII Biennale Venedig, Ausst.Kat., Bern / Baden 1997, p. 18. 05  ——  Laszlo F. Földényi, Caspar David Friedrich: Die Nachtseite der Malerei, aus dem Ungarischen von Hans Skirecki, München 1993, p. 19 f. 06  ——  Timothy J. Clark, Jackson Pollock: Abstraktion und Figuration, aus dem Englischen von Evelyn Preis, Hamburg 1994. 07  ——  Jed Perl, New Art City: Manhattan und die Erfindung der Gegenwartskunst, aus dem Englischen von Jörg Trobitius, München / Wien 2006, p. 142. 08  ——  Hans Belting, Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, p. 60. 09  ——  Ebd. 10  ——  Jan Thorn-Prikker, »Die Konstruktion des Geheimnisses«, in: Helmut Federle, Ausst.-Kat. Nietzsche-Haus Sils Maria, Basel 2004, p. 12. 11  ——  Zit. aus Aufzeichnungen Helmut Federles, 12. September 1987, in: Helmut Federle: Bilder – Zeichnungen 1975–1988, Bielefeld 1989, p. 162. 12  ——  Zit. nach Thorn-Prikker (wie Anm. 10), p. 25 f. 13  ——  Mark Lewis, »Ist die Moderne unsere Antike?«, in: Documenta Magazine No. 1–3 2007 Reader, Köln 2007, p. 54. 14  ——  Vgl. Roman Kurzmeyer / Roger Perret (Hg.), Dunkelschwestern. Annemarie von Matt – Sonja Sekula, Zürich 2008, p. 230. 15  ——  John Cage publizierte 1961 in dem Band Silence Texte und Vorträge von ihm, darunter auch den »Vortrag

über nichts«, den er 1949 im Artist’s Club in New York gehalten hatte. 16  ——  Lewis (wie Anm. 13), p. 54.

Anselm Stalder … 01  ——  Anselm Stalder / Roman Kurzmeyer, »La voce moltiplicata: Eine Korrespondenz«, in: Anselm Stalder: Querschneider, Schmetterling und Klang, Ausst.-Kat. Kunsthaus Zürich, Zürich 1992, p. 9.

Paweł Althamer … 01  ——  Joanna Mytkowska, »Berichte von Reisen in die Ferne«, in: Paweł Althamer / Artur Zmijewski: So genannte Wellen und andere Phänomene des Geistes, hg. von Joanna Mytkowska und Rita Kersting, Ausst.-Kat. Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen Düsseldorf / Galerie Foksal Warschau, Frankfurt am Main 2003, p. 10. 02  ——  Rosalind E. Krauss, »Skulptur im erweiterten Feld«, in: —, Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, aus dem Englischen von Jörg Heininger, neu bearb. von Wilfried Prantner, Amsterdam / Dresden 2000, p. 334 f. 03  ——  Brigitte Hausmann, »Neun Kunstprojekte«, in: Einstein Spaces: Neun Kunstprojekte in Berlin, Potsdam und Caputh im Rahmen des Einsteinjahres 2005, hg. von Yvonne Leonard, Ausst.-Kat. Potsdam 2005, p. 20. 04  ——  Hans Belting, »Zum Werkbegriff der künstlerischen Moderne«, in: —, Szenarien der Moderne: Kunst und ihre offenen Grenzen, Hamburg 2005, p. 67. 05  ——  »[…] to shape space with visual structures so as not only to look, but also to see. To see the most important thing in space – the human being, who is so difficult to make out, to distinguish from the chaos of the object-littered, object-cluttered space of Closed Form that surrounds us today. Here, in this laboratory space, visitors are

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s ei t e 173–195 subjects, and at the same time viewers and actors taking active part in a cognitive analysis of the human figure displayed by a formally absorptive, anti-materialistic background – Open Form.«; zit. nach Jola Gola (Hg.), Oskar Hansen: Towards Open Form / Ku formie otwartej, Frankfurt am Main/ Warschau 2005, p. 143, Übersetzung der englischen Zitate: Barbara Delius. 06  ——  »1. In ›Common Space, Private Space‹ we are all, students and teachers, on equal terms as participants. We each have our definite private space and access to the space which is a field for our common activities. For example: a long table, with photographs of participants’ faces on it. This structure allows to define characteristics of one’s own artistic language (in the photograph) and its involvement in activities in the common space (the table). – 2. We assume that the language we will use is not based on words, but generally made up of signs, signals, gestures, whose repertoire will depend on the situation. Example: marking one’s presence in different parts of the common space with one’s ›own‹ colour. – 3. The aim of this task is to actively participate in the process of communication without the use of verbal language. – 4. The process itself is unpredictable and depends solely on the creativity of the participants and the ‹temperature’ of contact between them. We agree to one thing: the participants will not engage in destructive actions. This restriction is necessary, since communicating with the use of an un-codified language is the fragile process and can easily be broken with a reckless gesture. However, experience proves that a destructive action can lead to new experience, therefore we give up destruction only if it would end the process.« – zit. nach Łukasz Ronduda, »Grzegorz Kowalski – Didactics of the Partnership«, in: pictogram 5/6 (2006), p. 120. 07  ——  Gespräch mit Grzegorz Kowalski in der Foksal Foundation in Warschau am 15. Januar 2009.

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08  ——  Grzegorz Kowalski, »Althamer – eine Studie am lebenden Objekt«, in: Paweł Althamer: The Vincent van Gogh Bi-annual Award for Contemporary Art in Europe 2004, hg. von Ineke Kleijn, Ausst.-Kat. Bonnefantenmuseum Maastricht, Ostfildern 2004, p. 43. 09  ——  »This was also when I discovered I wasn’t as lonely as I had thought. To the contrary, after that experience, I have found my friends in the woods, quite literally: I discovered trees as friends, nature and all the creatures around me, so I only remained lonely on the human level, only in one layer of my consciousness, which is not the only one that I have. And then a lot of people appeared along the way, allies you meet that make your load lighter. And these were the guides I had.«; zit. nach Magdalena Magiera und Maciek Świetlik, im Gespräch mit Paweł Althamer, in: Paweł Althamer: Play-Grounded – »My path just seems to have gone where others’ don’t«, Berlin 2008 (Mono.Kultur, 17), p. 11. 10  ——  Krzysztof Kościuczuk, »›FGF Warsaw‹, 2007 – (De)Construction«, in: Pictogram 11 (2008), p. 102–107. 11  ——  Roman Kurzmeyer, Viereck und Kosmos – Künstler, Lebensreformer, Okkultisten, Spiritisten in Amden 1901–1912: Max Nopper, Josua Klein, Fidus, Otto Meyer-Amden, Zürich et al. 1999. 12  ——  Irena Jakimowicz, Witkacy, malarz (Stanisław Ignacy Witkiewicz), Warszawa 1985. 13  ——  Philipp Kaiser, »Weronika: Paweł Althamer in Amden«, in: KunstBulletin 9 (2001), p. 22–25. 14  ——  »Contemporary art allows people to experience the discomfort of not knowing all the answers.« 15  ——  Peter Nadas, »Parasitäre Systeme: Vom geistigen und mentalen Trümmerhaufen, den uns der Kalte Krieg hinterliess«, in: Neue Zürcher Zeitung (4./5. November 2000), p. 85 f. 16  ——  Vgl. Marta Kuzma, »The Ubiquitous Contract with Culture – or the Abstract Notion of Ukrainian Contem-

s e i t e 195–213 porary Art«, in: Future is Now: Ukrainian Art in Nineties, Aust.-Kat. Museum of Contemporary Art, Zagreb, p. 20–27. 17  ——  Joanna Mytkowska, »Artur Żmijewski: Der Mensch, das unbekannte Wesen«, in: in freiheit / endlich: Polnische Kunst nach 1989, Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden et al., Baden-Baden 2000, p. 83. 18  ——  Peter Weibel, »Vorwort«, in: Kontext Kunst: The Art of the 90’s, Köln 1994, p. XI. 19  ——  Ebd., p. XIV. 20  ——  Boris Groys, »Der ein-gebildete Kontext«, in: ebd., p. 257–281. 21  ——  Andrzej Przywara, »Paweł Althamer, ein Regisseur der Wirklichkeit«, in: in freiheit / endlich (wie Anm. 17), p. 24–27. 22  ——  Zum Unterschied zwischen modernistischer und generischer Kunst, »d. h. Kunst, die alle Verbindungen zu den spezifischen Berufen und Traditionen der Malerei oder der Plastik abgebrochen hat«, vgl. Thierry de Duve, Kant nach Duchamp, aus dem Französischen von Urs-Beat Frei und Michael von Killisch-Horn, München 1993, p. 202. 23  ——  Friedrich Reinhold, »Es war einmal, wie es einmal sein wird: Paweł Althamer, neugerriemschneider, Berlin«, in: Monopol 10 (2003), p. 78 f. 24  ——  Peter Richter, »Die Kunst des Abschiebestopps«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (31. März 2006). 25  ——  Claire Bishop, »1000 Words: Paweł Althamer«, in: Artforum (Mai 2006). 26  ——  Marco Schmidt, »Ist Schauspielern wie Sex, Mister Malkovich?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (17. Januar 2009). 27  ——  Augusto Boal, Theater der Unterdrückten, aus dem Brasilianischen von Marina Spinu und Henry Thorau, Frankfurt am Main 1979, p. 67. 28  ——  Ebd., p. 99. 29  ——  Artur Żmijewski, »Vorwort«, in: Forget Fear: 7. Berlin Biennale für Zeitgenössische Kunst, Berlin 2012, p. 10. 30  ——  Adam Szymczyk, »Eine reale Allegorie und die Ursprünge der

Welt«, in: Parkett 82 (2008), p. 114. 31  ——  Susanne Knaller (Hg.), Realitätskonstruktionen in der zeitgenössischen Kultur: Beiträge zu Literatur, Kunst, Fotografie, Film und zum Alltagsleben, Wien et al. 2008, p. 60. 32  ——  Vgl. Suzanne Cotter, »Common Task«, in: Roman Kurzmeyer /Adam Szymczyk / Suzanne Cotter, Paweł Althamer, London 2011, p. 101–111. 33  ——  Andrea Viliani, »Gilding Polyethylene«, in: Paweł Althamer: Poly­ ethylene, Common Task, Ausst.-Kat. Museion Bozen, Mailand 2012, p. 65 f. 34  ——  Vgl. dazu auch At Work: Atelier und Produktion als Thema der Kunst heute, hg. von Roman Kurzmeyer und Eva Schmidt, Ausst.-Kat. Museum für Gegenwartskunst Siegen, Köln 2014.

Mai-Thu Perret … 01  ——  Vgl. »Gespräch mit John Armleder«, in: John M Armleder, Ausst.Kat. Kunstmuseum Winterthur et al., Winterthur 1987, p. 63. 02  ——  Vgl. Mai-Thu Perret, »The Crystal Frontier: A True Life Story«, in: Christoph Keller (Hg.), Mai-Thu Perret: Land of Crystal, Zürich 2008, p. 105– 149; eine leicht erweiterte Fassung des Textes findet sich in: Maria Lind (Hg.), Abstraction, London 2013, p. 195–210. 03  ——  Diedrich Diederichsen, »Trennung–Anhäufung–Inklusion: Fiktion, Dokumentation und Allegorie bei MaiThu Perret«, in: Mai-Thu Perret: The Adding Machine, hg. von Madeleine Schuppli, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus, Aarau, Aarau 2011, p. 52 f. 04  ——  Ebd., p. 58 f. 05  ——  Maria Gough, »Kristallene Zukunft«, in: Parkett 84 (2008), p. 113 f. 06  ——  »Appassionata: Ein Dialog über Claire Fontaine mit Bernard Blistène und Nicolas Liucci-Goutnikov«, in: Claire Fontaine: Foreigners Everywhere, Ausst.-Kat. Museion Bozen, Köln 2012, p. 30. 07  ——  »Gerd de Vries, Lena Maculan: Interview«, in: Sturtevant – Catalogue Raisonné 1964–2004: Gemälde, Skulptur, Film und Video, hg. von Lena Ma-

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s ei t e 213–223 culan, Ausst.-Kat. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Bd. 2, Ostfildern 2004, p. 30. 08  ——  Im Dezember 2012 reiste MaiThu Perret mit fünf Studierenden des »Institut curatorial de la HeadGenève« in den US-amerikani­s chen Südwesten. Sie besuchten dabei auch die kleine texanische Stadt Marfa, die durch die Chinati Foundation von Donald Judd bekannt geworden ist. In Marfa hatte sich der Künstler in den 1970er-Jahren niedergelassen, zahlreiche Gebäude erworben, erneuert und einen Ort für die Ausstellung seiner eigenen Werke und jener seiner Künstlerfreunde geschaffen. Judd wurde mit den Jahren auch zu einem für die Stadt wichtigen Arbeitgeber. In der Ausstellung »Electric Fields« (31.5.–6.7.2013) zeigten die Studierenden Werke, die in der Auseinandersetzung mit dieser Reise und insbesondere mit Marfa entstanden waren. Zu sehen war auch eine Gemeinschaftsarbeit von Mai-Thu Perret und Olivier Mosset, der die Gruppe auf ihrer Reise eine Zeit lang begleitet hatte. Es handelt sich um einen freien Nachbau eines Objekts von Donald Judd. 09  ——  Fabrice Stroun, »What art looks like, circa 1997 – tomorrow, as seen through the eyes of someone else«, in: Perret (wie Anm. 02), p. 49. 10  ——  Julien Fronsacq, »Medium – Botschaft«, in: Parkett 84 (2008), p. 129. 11  ——  Dazu Stephan Kunz (Hg.), Sophie Taeuber-Arp (1889–1943), Aargauer Kunsthaus, Aarau 2010. Zuletzt: Sophie Taeuber-Arp – Heute ist Morgen, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus Aarau / Kunsthalle Bielefeld, Zürich 2014; die Ausstellung betonte die Bedeutung der Transdisziplinarität für die Entwicklung der Abstraktion im frühen 20. Jahrhundert. 12  ——  In seiner Theorie betont er,

dass konkrete Gestaltung »auf grund ihrer ureigenen mittel und gesetzmässigkeiten – ohne äusserliche anlehnung an naturerscheinungen oder deren transformierung, also nicht durch abstraktion« entsteht, zit. nach Hans Jörg Glattfelder, »Konstanz und Wandlung des Begriffs ›konkret‹ bei Max Bill«, in: Max Bill: Aspekte seines Werks, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur / Gewerbemuseum Winterthur, Sulgen/Zürich 2008, p. 16– 25; vgl. dazu auch Roman Kurzmeyer, »Camille Graeser: Wie konzeptuell ist konkrete Malerei?«, in: Camille Graeser, Ausst.-Kat. Galerie von Bartha / Camille Graeser-Stiftung, Zürich 2014, p. 9–18. 13  ——  Mai-Thu Perret, »Hand in Hand mit meiner Schwester«, in: Beispiel Schweiz: Entgrenzungen und Passagen als Kunst, hg. von Roman Kurzmeyer und Friedemann Malsch, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Liechtenstein, Ostfildern 2011, p. 197. 14  ——  Jacqueline Hénard, »Was Hirschhorn in die Banlieue bringt: Der Künstler hatte 2004 in Aubervilliers ein Museum auf Zeit errichtet – Was ist von dem kühnen Experiment geblieben?«, in: Tages-Anzeiger (6. Februar 2006), p. 37. 15  ——  Vgl. Thomas Hirschhorn: Musée Précaire Albinet, Quartier du Landy, Aubervilliers, Ausst.-Kat. Les Laboratoires d’Aubervilliers, Paris 2005, s. p. 16  ——  Pressemitteilung »Verein der kontaktfreudigen Nachtschwärmer« zum »Bar-Club Element 6« (20.2.– 18.4.2010) in der Secession Wien. 17  ——  Barbara Sternthal, Gustav Klimt 1862–1918: Mythos und Wahrheit, Wien 2006, p. 75–81. 18  ——  »Liam Gillick. Die uneingepasste Küche: Ein Gespräch von Heinz-Norbert Jocks«, in: Kunstforum International 198 (2009), p. 175–181. 19  ——  Perret (wie Anm. 13), p. 200.

Nachweise Die Texte dieses Schriftenbandes stammen aus den vergangenen zwanzig Jahren und wurden für verschiedene Anlässe verfasst. Für die vorliegende Publika-

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e x i s t e n z u n d for m tion wurden alle publizierten Texte überarbeitet. Ich danke Barbara Delius für das Lektorat.  ——  »Existenz und Form – Was Kunstgeschichte leistet«, Erstveröffentlichung.  ——  »Bill Traylor (1854–1949): Zeichner in Montgomery«, überarbeitete Fassung von »Pf lug und Stift«, in: Bill Traylor (1854–1949): Deep Blues, hg. von Josef Helfenstein und Roman Kurzmeyer, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bern, 1998; Museum Ludwig (Köln), Köln 1999, p. 10–30.  ——  »Heinrich Anton Müller (1869–1930): Erfinder, Landarbeiter, Künstler«, leicht überarbeitete Fassung der Einführung zu Roman Kurzmeyer (Hg.), Heinrich Anton Müller (1869–1930): Erfinder, Landarbeiter, Künstler, Ausst.-Kat. BAWAG Foundation Wien, Wien 2000, p. 3–10.  ——  »Elie Nadelman (1882–1946): Bildhauer und Sammler«, leicht überarbeitete Fassung von »Elie Nadelman (1882–1946): Bildhauer und Sammler« in: Thomas Fuchs et al. (Hgg.), Wahn Welt Bild, Berlin / Heidelberg 2002 (Heidelberger Jahrbuch 46), p. 185–198.  ——  »Annemarie von Matt (1905–1967) und Sonja Sekula (1918–1963): Bilder zur Sprache bringen«, leicht überarbeitete Fassung von »Dunkelschwestern: Wie Bilder zur Sprache kommen – Eine Annäherung«, in: Dunkelschwestern: Annemarie von Matt – Sonja Sekula, hg. von Roman Kurzmeyer und Roger Perret, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2008, ISBN 978-3-85881-213-1, p. 13–28.  ——  »Robert Müller (1920–2003). La Trappe«, leicht überarbeitete Fassung von »Robert Müller: La Trappe«, in: Robert Müller: Skulpturen, Zeichnungen und Druckgraphik, hg. von Beat Wismer, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus Aarau, Bern 1996, p. 145–147.  ——  »Das Begräbnis von Patrick Ireland«, leicht überarbeitete Fassung von »Das Begräbnis von Patrick Ireland in Dublin: Brian O’Doherty – Künstler, Schriftsteller, Kritiker und Verfasser von In der weissen Zelle«, in: Neue Zürcher Zeitung (3. Januar 2009), p. B4.  ——  »Sichtbarer Rhythmus: Marcel Duchamp, Brian O’Doherty, Niele Toroni«, leicht überarbeitete Fassung von »Sichtbarer Rhythmus«, in: Rhythm in it: Vom Rhythmus in der Gegenwartskunst, hg. von Madeleine Schuppli, Ausst.-Kat. Aargauer Kunsthaus (Aarau), Luzern 2013, p. 21–27.  ——  »Deutscher Terrorismus, amerikanische Öffentlichkeit: Joseph Beuys, Gerhard Richter, Andy Warhol«, leicht überarbeitete Fassung von »Deutscher Terrorismus, amerikanische Öffentlichkeit: Beuys, Richter, Warhol«, in: Gerhard Richter: Bilder / Paintings 1964-1994, Ausst.-Kat. Sammlung Hauser & Wirth (Zürich), Zürich 1995, p. XIV–XVIII.  ——  »Helmut Federle: Selbstbehauptung und abstrakte Form«, Erstveröffentlichung in: Helmut Federle, kuratiert von Roman Kurzmeyer, Ausst.-Kat. Galerie Nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder (Wien), Wien 2010, p. 21–52.  ——  »Anselm Stalder: La voce moltiplicata«, leicht überarbeitete Fassung von »Anselm Stalder – La voce moltiplicata«, in: Kunst und Kirche 3 (1993), p. 185 f.  ——  »Paweł Althamer: Regisseur des Realen«, deutsche Erstveröffentlichung.  ——  »Mai-Thu Perret: Period Room«, Erstveröffentlichung.

Zum Autor Roman Kurzmeyer (*1961) ist Kurator der Sammlung Ricola und lehrt Kunsttheorie und Ausstellungsgeschichte am Institut Kunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Er ist Mitherausgeber des Katalogs aller von Harald Szeemann (1933–2005) organisierten Ausstellungen und Autor zahlreicher Publikationen zur modernen und zeitgenössischen europäischen und US-amerikanischen Kunst. 2004 wurde er mit dem Prix Meret Oppenheim ausgezeichnet.

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Hermann Burger, Der Lachartist, aus dem Nachlass herausgegeben von Magnus Wieland und Simon Zumsteg, 41 Seiten, 1 Abbildung, Deutsch, 12.5 × 21 cm, softcover. —— »Das bisher unbekannte Prosastück Der Lachartist besticht mit abenteuerlicher Bildgewalt. Es führt mitten hinein in Burgers Mytho­logie, ist eine Engführung von Mutterhass, Kindheitsqual und brillanter Artistik. Auch hier treibt er es bunt. Er lässt die Sätze zu Monstern anschwellen, unterbricht sie, versetzt ihnen Schläge ins Genick und bringt sie doch immer grandios zu Ende« (Beatrice von Matt, Neue Zürcher Zeitung). Michael Oppitz, Morphologie der Schamanentrommel, 1241 Seiten, 1224 Abbildungen, Deutsch, 22 × 27 cm, zwei Leinenbände, Schuber. —— »Ein Zeugnis der Kunst ethnographischer Dokumentation.« —— Tonbeispiele unter www.dhyang-dhyang-voldemeer.ch —— Im Prisma eines einzigen Gegenstandes – der endlos sich verwandelnden Trommel – wird die Vielfalt der schamanischen Praxis greifbar. —— Ein in jahrzehntenlangen Recherchen entstandenes Monumentalwerk zu einer in den Bergregionen des Himalaya weitverbreiteten Religionspraxis. —— Ein Versuch, mit wissenschaftlicher Akribie und mit literarischer Erzählfreude über einen einzigen Gegenstand den flüchtigen Anschauungen der schriftlosen Völker Hochasiens ein bleibendes Denkmal zu setzen. —— Bis ins kleinste Detail erforscht die Studie die Verwandlungen, welche die Trommel der Schamanen von Exemplar zu Exemplar erfährt: von Dorf zu Dorf, von Region zu Region, von Ethnie zu Ethnie. —— »Ein Meisterwerk der teilnehmenden Ethnologie […] Ruhm und Ehre für Michael Oppitz« (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Juan José Lahuerta, Religious Painting: Picasso and Max von Moos, Max von Moos Foundation Series volume 3, 96 pages, 40 illustrations, English, 12.5 × 21 cm, softcover. —— “Religious subject matter is not central in 20th century art. One might therefore suspect that, for the avant-garde, the Spanish Civil War (1936–1939) would have eclipsed religion altogether. However, as Juan José Lahuerta argues in this book, the war caused a considerable revival of certain themes of religious art. In particular, it intensified Pablo Picasso’s lifelong preoccupation with the subject of the Crucifixion. The work of the Swiss surrealist painter

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Max von Moos (1903–1979) throws additional light on the paradox at hand. In 1938 von Moos published an essay entitled “Religious Painting of Our Time” which addresses some of the critical issues then confronted by church art: issues of communication and expression, realism and abstraction that turn out to offer surprising insights into Picasso’s art — if not into modern art altogether.

雙藝合璧:鮮伊代克鏡頭中的賈珂梅悌 Two Arts on a Jade Stone: Alberto Giacometti seen through the camera of Ernst Scheidegger, photography and text by Ernst Scheidegger, curated, edited, and translated by 黃琪 Huang Qi, 特邀書法題簽“海鹽”frontispiece calligraphy by 王世襄 Wang Shi-xiang, 278 pages, 201 illustrations, Chinese / English, 22 × 28 cm, hard­cover. —— Exhibition venues: 巡迴展覽在中國十六

家博物館相攜下輾轉北國江南,繼而在中央美術學院,又轉至 馬來西亞:上海魯迅紀念館 Shanghai: Lu-Xun Museum 南京博物 院 Nanjing: Palace Museum 浙江省博物館 Hangzhou: Zhejiang Provincial Museum 紹興市博物館 Shaoxing: City Museum 寧波天一閣 博物館 Ningbo: Tianyige Museum 江西省博物館 Nanchang: Jiangxi Provincial Museum 昆明市博物館 Kunming: City Museum 四川省 博物館 Chengdu: Sichuan Provincial Museum 青海省博物館 Xining: Qinghai Provincial Museum 大連旅順博物館 Dalian: Lüshun Museum 吉林省博物館 Changchun: Jilin Provincial Museum 山西省博物館 Taiyuan: Shanxi Provincial Museum 邯鄲市博物館 Handan: City Museum 河北省博物館 Shijia­zhuang: Hebei Provincial Museum 天津藝 術博物館 Tianjin: Art Museum 北京正陽門博物館 Beijing: Zheng­ yang Gate Museum 中央美術學院 Beijing: China Central Academy of Fine Arts —— Kuala Lumpur: Wisma Kebudayaan SGM / Petaling Jaya: Limkokwing University of Creative Technology —— 倘若鮮伊代克

老人不給予我們理解與寬容,路很難鋪;如果沒有中國十六家 博物館、各級文化主管部門和幾位友人的理解與幫助,路很難 鋪 ;缺少了瑞士許多機構和朋友的理解與支持 ,路也很難鋪 。 讓我們再對大家誠摯地說一聲:謝謝! —— 二零零一年春編者 於蘇黎世渥地之室 Huang Qi 黃琪 (ed.), Chinese Characters then and now 漢字古今談 , essays by Qi Gong 啟功, and by Hou Gang 侯剛, Zhao Ping’an 趙

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平安, 成桐,

Chen Guying 陳鼓應, Zhao Jiping 趙季平, Yau Shing-Tung 丘 translated by Jerry Norman, Helen Wang, and Wang Tao, 352 pages, 122 illustrations, English / Chinese, 23 × 33 cm, hard­ cover. —— »[…] eine der schönsten sprachwissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre […] ein ausserordentlich umsichtiges Grundlagenwerk« (Ludger Lütkehaus, Neue Zürcher Zeitung).

Gunnar D. Hansson, Der Lomonossow-Rücken, aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler, 184 Seiten, 1 Abbildung, Deutsch, 15 × 24 cm, softcover. —— Die etwa 1800 Kilometer lange geologische Formation im Arktischen Ozean wurde 1948 von einer sowjetischen Forschergruppe entdeckt und nach dem russischen Sprachforscher, Dichter, Geologen und Universalgelehrten Michail Wassiljewitsch Lomonossow (1711–1765) benannt. —— Tauchgänge in die literatur- und polarforschungsgeschichtlichen Tiefen rund um den Pol. —— Logbuch einer Forschungsreise ins ›Herz der Weiße‹. —— »Lyrik ist sommers wie winters das einzige mögliche Genre am neunzigsten Breitengrad.« Harald Szeemann, with by through because towards despite: Catalogue of all exhibitions 1957–2005, edited by Tobia Bezzola and Roman Kurzmeyer, 768 pages, 962 illustrations, English, 22 × 28 cm, hardcover, with a Chinese supplement. —— “This book documents an outstanding working bio­graphy, functioning as a catalogue raisonné of Szeemann’s curatorial projects. The list of exhibitions, writings, and other projects is astonishing. This record of Szeemann’s professional work reveals a personality whose idiosyncratic, wide ranging interests, energy, and passion changed the understanding and experience of contemporary art” (Josef Helfenstein, The Menil Collection). —— “He [Szeemann] ushered in changes in how art is shown that were as radical, imaginative, and challenging as well as engaging to the viewer as the work he responded to and made known to the general public. […] He was, as T. S. Eliot said of Ezra Pound, ‘il migliore fabbro’ ” (Robert Storr, Yale School of Art). —— « […] l’un des plus grands, pour ne pas dire le plus grand commissaire d’expositions de la seconde moitié du XXe siècle […] Dans l’héritage de son auteur, ce livre a donc le mérite de rassembler toutes ses ‹ mythologies individuelles › sans chercher à les interpréter. » (Valé-

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rie Da Costa, mouvement). —— “[…] a collage writ a little too large, with all the rough edges still showing. The volume contains a chronological dossier of specs and photographs of each and every one of his shows, along with retrospective commentary elicited from Szeemann” (Peter Plagens, Art in America). Jan-Christoph Hauschild, B. Traven  —  Die unbekannten Jahre, 696 Seiten, 52 Abbildungen, Deutsch, 12.5 × 21 cm, softcover. —— »[…] eine grandiose Ermittlung und geradezu sensa­tionelle Biografie […] brillant geschrieben […] bewundernswert und genau belegt« (Albrecht Götz von Olenhusen, literaturkritik.de). Roman Kurzmeyer, Erlebte Modelle / Model Experience, 152 pages, 78  illustrations, Deutsch / English, 15.5 × 24  cm, hardcover. —— Artists: @ home, Heinz Brand, Lee Bul, Renate Buser, Susanne Fankhauser, Anya Gallaccio, Katharina Grosse, Martina Klein, Sarah Rossiter, Eran Schaerf, Marie Sester, Elizabeth Wright. Roman Kurzmeyer, Viereck und Kosmos – Künstler, Lebensreformer, Okkultisten, Spiritisten in Amden 1901–1912: Max Nopper, Josua Klein, Fidus, Otto Meyer-Amden, 264 Seiten, 80 Abbildungen, Deutsch, 15.5 × 24 cm, hardcover. —— »Kurzmeyer hat die Faktengeschichte […] mi­nuziös recherchiert und […] Kontexte (Lebens­reform, ›Tempelkunst‹) des Projekts von Nopper und Klein in dem ästethisch sehr ansprechend gestalteten Band dargestellt« (HZ, Neue Zürcher Zeitung). Simon Zumsteg, ›poeta contra doctus‹: Die perverse Poetologie des Schriftstellers Hermann Burger, 416 Seiten, 6 Abbildungen, Deutsch, 15.5 × 24 cm, softcover. —— Ein »Standardwerk über den wohl begabtesten Sprachkünstler der Schweizer Literatur« (Julian Reidy, Germanistik in der Schweiz). —— »Zumsteg ist […] einer aufregenden Grundparadoxie auf der Spur, die vielleicht am besten darin zu fassen ist, dass sich bei Burger explizit ein doctus am Werk zeigt, der […] poetisch arbeitet – und also seine Autorschaft(en) nur verbergend zeigt und zeigend immer auch verbirgt« (Simon Aeberhard, Weimarer Beiträge).