Evangelischer Glaube in der Welt von heute: Eine Einführung [Reprint 2021 ed.] 9783112487044, 9783112487037

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Evangelischer Glaube in der Welt von heute: Eine Einführung [Reprint 2021 ed.]
 9783112487044, 9783112487037

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KARL EGER

Evangelischer Glaube der elt von heute Eine Einführung

I. C. Hinrichs Verlag / Leipzig

Alle Rechte vorbehalten Copyright 1937 by J. C. Hinrichs Verlag, Leipzig

Printed in Germany

Johannes Ficker in Freundschaft zugeeignet

Inhalt Einleitung.......................................................................................................

7

I. Gott - Offenbarung - Jesus Christus Gott....................................................................................................................... 11 Bibel — Offenbarung - WortGottes....................................................... 22 Das Alte Testament..................................................................................... 29 Das Neue Testament..................................................................................... 47 Jesus Christus (nach Matthäus,Markus, Lukas) 51 Jesus nach Johannes..................................................................................... 90 Paulus............................................................................................................. 94 Luther - Die Wiederentdeckung desEvangeliums...................................... 108

II. Evangelischer Glaube Glaube................................................................................................................... 122 Von der Schöpfung........................................................................................... 126 Auseinandersetzungen.......................................................................................... 139 Von der Erlösung........................................................................................... 162 Von der Heiligung........................................................................................... 176 Tod und Ewigkeit................................................................................................ 190 Vom Beten....................................................................................................... 200

Einleitung Die Unkenntnis in bezug auf das, was evangelischer Glaube ist,

worauf er sich gründet und woran er sich hält, ist heute auch bei denen, die Wert darauf legen, sich evangelische Christen zu nennen und eS auch zu sein, wohl der gefährlichste Gegner des evangelischen Christen­

tums. Diese Unkenntnis ist gefährlicher als die Angriffe der offenen Widersacher des Christentums, die ja auch in weitestem Umfang daraus erwachsen, daß man das, was wirklich evangelisches Christentum ist, gar nicht kennt. — Wie soll aber, wenn evangelischer Glaube und

evangelisches Christentum in seinem Wesen nicht erkannt wird, die oft gar nicht leichte Auseinandersetzung dieses Glaubens mit den

anderen Mächten unseres heutigen Geistes- und Gemeinschaftslebens

mit einiger Aussicht auf Erfolg angefaßt und durchgeführt werden? Diese Auseinandersetzung stellt auch den vor schwere Fragen, der weiß

oder doch zu wiffen meint, waö er an seinem evangelischen Glauben hat. Man denke an die ungeheure Ausweitung und Vertiefung, die der Begriff Welt, Natur durch die Naturwiffenschaft erfahren hat,

aber auch an die Erschütterung der festen Ordnungen und Regeln des

sittlichen Einzel- und Gemeinschaftslebens durch die politischen und sozialen Umwälzungen und Umschichtungen der letzten 2 Jahrhunderte, dazu durch eine in die feinsten Verästelungen menschlichen Seelen­ lebens und seiner Triebe eindringende Seelenkunde. Vor 100 Jahren

noch haben auch bei sehr Aufgeklärten Gott, Tugend (— sittliche

Verantwortung des Menschen für sein Tun), Unsterblichkeit als selbst­

verständliche Vernunftwahrheiten gegolten — wie ist es damit heute?

Ich schreibe für solche, die sich selber klar darüber werden wollen, waS nach dem heutigen Stand unserer Erkenntnis und nach unserem

gewiffenhaften Selbstverständnis evangelischer Glaube und evange-

lischeS Christentum ist. Wir kommen dabei selbstverständlich um die Auseinandersetzung mit dem, was heute diesem Glauben teils hinder­

lich ist, teils ihm seine besondere Färbung, seine besonderen Aufgaben gibt, nicht herum. Aber der Nachdruck liegt nicht auf diesen Aus­ einandersetzungen mit anderem, sondern auf dem Eindringen in das

Wesen des evangelischen Glaubens selbst. Auf dem Titelblatt steht: „Eine Einführung." Hinter allem, was

geboten werden wird, steht sorgfältige Arbeit und das Bewußtsein höchster Verantwortung gegenüber dem Leser. Aber wenn die von

tausend Dingen in Anspruch genommenen Menschen von heute «in Buch wie daö vorliegende überhaupt lesen sollen, muß eS so geschrieben

sein, daß alle theologischen und sonstigen Fachausdrücke vermieden und das Fachmäßige in eine Sprache umgesetzt wird, die dem verständnis­

willigen Leser ermöglicht, ohne besondere Schwierigkeit in die Sache

einzudringen. Der bloßen Unterhaltung und Anregung will das Buch nicht dienen; es ist für solche geschrieben, denen eS ernstlich darum

zu tun ist, in die zur Erörterung kommenden Glaubens- und Lebens­ fragen eingeführt zu werden.

Vor allem aber habe ich mich bemüht, so zu schreiben, daß der Leser merkt, er hat eS mit einem zu tun, der nichts anderes geben

will, als was ihm selber gewiffenhaft durchdachte und auch praktisch erprobte Überzeugung ist. Wo ich eine aufsteigende Frage nicht be­

antworten kann, werde ich eS offen sagen aus der Einsicht heraus, daß Klarheit über die Grenzen der Erkenntnis oft ebenso wichtig ist wie das Erkennen selbst. Wo ich irre, muß es Gott befohlen fein. Ich will als ehrlicher Mann für die schreiben, die Sinn haben für das, was

mir im Ringen umS Letzte als die Wahrheit aufgegangen ist, auf der

ich selber stehe und stehen will fürs Leben und fürs Sterben. Es hat mich einmal in meinen jungen Jahren ein Mann, dem ich geholfen

hatte, den zwanzigjährigen Sohn in einer Anstalt für Geisteskranke unterzubringen, auf der Rückreise von der Anstalt gefragt: „Glauben

Sie eigentlich an ein ewiges Leben?" Ich habe ihn auf eine Osterpredigt verwiesen, die er kurz vorher von mir gehört hatte. Darauf er: „Nein, ich will nicht wissen, was Sie predigen; ich will wissen,

was Sie glauben." Das Wort hat mir damals einen Stich gegeben;

ich habe es mein Leben lang nicht vergessen, und e6 ist mir richtung­

gebend geworden bis auf diesen Tag. Wenn die Menschen sich nicht auf das verlassen zu können glauben, was wir sagen, dann ist eS besser,

man tut den Mund überhaupt nicht auf. Deshalb werde ich mich auch im folgenden aller großen, übersteigerten Worte enthalten, die die

Glaubwürdigkeit dessen, was ich zu sagen habe, nur zu beeinträchtigen geeignet sind.

Ich fasse meine Aufgabe so an, daß ich zunächst eine Einführung in das gebe, was das Christentum unter Gottes Offenbarung ver­ steht; dabei wird uns besonders die Frage beschäftigen, was uns heute

die Bibel bedeutet. Dann behandle ich das, was evangelischer

Glaube seinem Wesen und Inhalt nach ist.

I. Gott - Offenbarung - Jesus Christus

Gott Viele meinen oft ganz Verschiedenes, wenn sie miteinander von Gott reden oder, was sie gerade heute häufig noch lieber tun, sich mit anderen über Gott streiten. Da muß man dann natürlich aneinander vorbeireden. Ehe man von Gott zu anderen redet, muß man sich selber klar darüber sein, was man mit dem Ausdruck „Gott" meint. Wer nur die leiseste Ahnung davon hat, was eS mit dem Wort „Gott" auf sich hat, weiß, daß man sich über Gott Gedanken machen oder mit anderen über ihn reden kann nicht wie über einen Gegen­ stand unserer äußeren Erfahrung und Beobachtung, auch nicht wie über einen Menschen, der leibhaftig vor uns steht. Auch wenn das junge Kind sich den lieben Gott wie einen alten Mann mit langem weißem Bart vorstellt (eö stellt sich ihn übrigens deswegen so vor, weil eS solche Bilder von ihm gezeigt bekommen hat), so schwingt doch bei ihm noch etwas ganz anderes mit als der äußere GesichtSeindruck, um das Bild für eö zum Bild Gottes zu machen. Es ist auch mehr als töricht, zu meinen, der Neger hielte die Haarbüschel, Nägel usw., aus denen sich sein Fetisch zusammensetzt, als solche für „Gott". Er begegnet dem Fetisch mit besonderen Gefühlen, weil nach seinem Glauben in den Haaren, Nägeln usw. etwas ganz anderes drin­ steckt, was man mit den äußeren Sinnen nicht wahrnehmen kann. Und wenn der fromme Hindu sich vor dem Götterbild in Ehrfurcht niederwirft, so ist es, weil ihn in dem Bilde oder — auf weiter ent­ wickelter Stufe frommer Gedankenbildung — vermittels des Bildes eine Macht anrührt, deren er gläubig inne wird. Gott und Glaube (auch schon Fetisch und Glaube) gehören untrennbar zueinander. Ist der Glaube weg, so ist's auch mit dem Götterbild und mit dem Fetisch auS; sie sind Dinge wie andere Dinge auch. - Je ursprünglicher und unmittelbarer der Mensch lebt und empfindet, desto leibhaftiger und

greifbarer sind bei ihm die Vorstellungen von dem, worauf er seinen frommen Glauben richtet, worin er Gott sieht und sucht. Aber das

Entscheidende sind nicht diese Vorstellungen, auch nicht — im weiteren Verlauf menschlicher Geistesgeschichte — die mehr oder weniger un­ sinnlichen Gedanken, die man sich über die Götter oder schließlich über den einen Gott macht. Das Entscheidende für die Beziehung zur Gottheit ist vielmehr das Gottesverhältnis — und daS ist nichts anderes als Glaube, das im Gemüt Ergriffenwerden von dem, was hinter allen göttlichen Dingen, hinter allen Götterbildern, ja hinter allen bloßen Gottesgedanken liegt. Als die Völker des christlich-abendländischen Kulturkreises im Zeitalter der Entdeckungen, der Gründung der Kolonialreiche, des steigenden und die Völker der Erde immer mehr miteinander in Berührung bringenden Verkehrs die außerchristlichen Religionen in

immer weiterem Umfang kennenlernten, da fielen naturgemäß zunächst an den fremden Religionen die für unser Empfinden oft höchst sonderbaren und befremdlichen Vorstellungen, Bilder und Bräuche auf, die sich dem Beobachter darboten. Als man dann darauf auf­ merksam wurde, daß die Religion im Leben der kulturell zurück­ gebliebenen sogenannten Primitiven durchgängig eine besonders große Rolle spielt, glaubte man den Ursprung der Religion in der ungehemmten und ungeschulten Phantasietätigkeit der kindlichen Menschheit gefunden zu haben, die daS Walten der Kräfte in der Natur nach der Art menschlichen Wollens und Wünschens betrachtete, dabei vom festen, geordneten Zusammenhang deö Geschehens nach Ur­ sache und Wirkung noch nichts verstand. Dabei hat man zweifellos

im einzelnen vieles richtig gesehen; die Phantasie spielt eine sehr wichtige Rolle im religiösen Leben der Menschheit, und nicht bloß der primitiven. Aber an dem Entscheidenden, an dem, was die religiösen Phantasiegebilde vom freien Spiel der Phantasie charakteristisch

unterscheidet, hat man vorbeigesehen. Je mehr die Religionswissen­ schaft ihre Erkenntnismethoden auöbildete und verfeinerte, desto klarer hat sie erkannt, daß das wesentliche Kennzeichen der Religion, und zwar in allen ihren Erscheinungsformen, von der niedrigsten bis zur höchsten, in anderer Richtung zu suchen ist. Bei der ungeheuren inhaltlichen Verschiedenheit dessen, was als Religion bezeichnet wird — von dem Fetischzauberer, dem verzückt rasenden Schamanen bis zum Beter von Gethsemane —, hat eö große

Schwierigkeiten gehabt, das den verschiedenen Religionen trotz aller bis zur Gegensätzlichkeit gehenden Verschiedenheit gemeinsame Mo­ ment herauszuarbeiten. Man hat das Gemeinsame darin gesucht, daß

ein seelischer Vorgang dann als religiös anzusprechen sei, wenn es sich um eine Äußerung menschlichen Gesamtgefühls gegenüber dem Ganzen der Welt und des Lebens, in dem wir unser Dasein haben, handle. Hier ist richtig gesehen, daß eS sich in wirklicher Religion immer um praktische, lebensmäßige Auseinandersetzung mit Welt und Leben handelt, nicht um irgendwelche bloßen Theorien. Daß man das erkannt hat, war ein großer Fortschritt, der gerade heute von besonderer Bedeutung ist, wo Religion und Weltanschauung sooft verwechselt werden. So eng Religion und Weltanschauung Zusammen­ hängen und aufeinander einwirken, so ist doch zwischen beiden ein grundsätzlicher Unterschied. Aber in der oben angegebenen Form paßt die Bestimmung des Wesentlichen der Religion nur auf Religionen höherer Kulturstufe, faßt außerdem etwas für den religiösen Vorgang als religiösen besonders Kennzeichnendes nicht scharf genug ins Auge. Dies Kennzeichnende liegt darin, daß der Mensch, wenn er religiös empfindet und dementsprechend denkt und handelt, es mit „Heiligem" zu tun hat. Dieses Heilige erscheint nirgends an und für sich, sondern immer an irgend etwas, an einem Gegenstand, an einer Person, auch an gewiffen Gedanken und Vorstellungen, und drückt die ganz eigen­ tümliche Art und Weise aus, wie der Gegenstand, die Person, die Vorstellung, der Gedanke uns berührt und auf uns wirkt. Es ist das Geheimnisvolle, Hintergründige, Unbegreifliche. Nicht bloß das noch nicht Verstandene und Begriffene, sondern das seiner Art nach Rätsel­ hafte und Unbegreifliche. Und auch wieder nicht etwa bloß daS Rätsel­ hafte an sich (vieles ist uns unbegreiflich, ohne daß die Religion irgend etwas damit zu tun hat), sondern das Unbegreifliche, vor dem wir Scheu empfinden, und das uns doch auf der anderen Seite wieder eigentüm­ lich anzieht, zu dem wir in Beziehung treten möchten. Natürlich sind zwischen dem noch nicht Verstandenen und dem seiner Art nach Un­ begreiflichen, auch zwischen dem bloßen Denkrätsel und dem Rätsel, das uns religiös berührt, die Grenzen fließend. Die Verschiebung der Grenzen zwischen beidem bildet einen wichtigen Einschlag im Werde­ gang des menschlichen Geisteslebens. Aber es bleibt immer die Grenze zwischen dem noch nicht Begriffenen und dem unbegreiflichen Heiligen, auch zwischen dem bloßen Denkrätsel und dem Rätselvollen, daS unser

Gemüt im tiefsten bewegt. Es gibt nichts Merkwürdigeres, als daß wir dieser Empfänglichkeit für etwas, was nicht mit den Sinnen zu greifen und zu begreifen ist, schon bei den primitiven Menschen, und zwar, soviel wir sehen können, durchgängig begegnen. Wie es ander­ seits selbstverständlich ist, daß wir ihr bei ihnen in primitiver, kindlich beschränkter und verworrener Form begegnen. Ebenso selbstverständlich ist eS, daß der Anlaß zum Jnnewerden des Berührtwerdens von Heiligem besonders leicht in der Außerordentlichkeit, Befremdlichkeit eines Gegenstandes oder eines Ereignisses oder auch eines Menschen zu suchen ist. Auch daß nicht alle in gleicher Weise der Berührung mit Heiligem inne zu werden fähig find, woraus sich dann wieder eine Vorzugsstellung derer, denen diese Fähigkeit in hervorragendem Maße eignet, und ihr religiöses Führertum gegenüber den anderen ergibt. Es braucht nicht zu personhafter (oder doch willenhafter) Erfassung des Heiligen (Geister, Dämonen, Götter) zu kommen. Im indischen Brahmanismus wie in wichtigen Strömungen der so­ genannten Mystik überhaupt sehen wir sogar, wie dies Personhaft Willenhafte geflissentlich wieder abgestreift wird. Aber die Hauptlinie des religiösen Werdegangs der Menschheit verläuft doch so, zumal bei aller volkstümlichen Religion, daß das Heilige an Gestalten gefunden und gebunden wurde, die nach der Analogie menschlichen Seelen­ lebens gedacht und vorgestellt werden. Es ist noch nicht lange her, daß man in diesem Durchwaltetsein der Natur und deö Menschen­ lebens durch mehr oder weniger menschenähnlich vorgestellte Phantasie­ gestalten (Geister, Dämonen) die eigentliche Wurzel der Religion und deö Gottesglaubens fand. Auch die Heiligkeit gewisser Gegenstände, auch Menschen, glaubte man sich so erklären zu sollen, daß (z. B. beim Fetisch) ein Geist dauernd oder vorübergehend darin seinen Aufenthalt nahm (Animiömuö, von anima, die Seele). Erst neuerdings hat man erkannt, daß das Empfinden des Heiligen zwar sehr häufig, aber keineswegs immer — gerade nicht bei der primitiven Religion — mit der Vorstellung von dabei wirksamen Geistern, Dämonen, Göttern verbunden ist. Man hat erkannt, daß auch beim Werden des Seelenglaubens selbst die Phantasie eine dienende Rolle spielt, daß auch hier daS praktische Berührt- und Ergriffenwerden des Menschen die Führung hat, und daß dazu das Ganze umwittert ist vom Gefühl für das Heilige. Man kann bei aller gerade hier gebotenen vorsichtigen

Zurückhaltung doch mit ziemlicher Sicherheit sagen, daß der Seelen­

glaube, die mehr oder weniger klare Unterscheidung von Leiblichem und Seelischem am Menschen, die triebkräftige - übrigens fort­ dauernd triebkräftige — Wurzel hat im Erlebnis des Todes von Menschen, mit denen man zusammenhaust. In geringerem Grade auch in den Traumerlebniffen, in denen uns ein anderer noch Lebender

erscheint, mit uns spricht, uns ängstigt oder erfreut, während er leib­ lich sich an einem ganz anderen Ort aufhält. Sehr häufig ist das Todesmotiv mit dem Traumerlebnis verbunden, und beide Motive verstärken sich gegenseitig. Wenn der Mensch, mit dem man zusammen­ hauste, den letzten Seufzer ausgehaucht hat, hört er damit, daß der Leib starr und bewegungslos wird, nicht auf zu existieren; er ist noch

irgendwie und irgendwo für uns da, um so fühlbarer, je wichtiger er für unS während seiner irdischen Lebenszeit gewesen ist, im guten oder im schlimmen Sinn. Wir können unS auf Einzelheiten dieses überall verbreiteten Totenglaubens und des mit ihm zusammenhängenden Totenkultes nicht einlaffen. Man braucht nicht nach Ägypten zu gehen, wo der Totenkult eine ganz überragende Rolle spielte — die Pyramiden sind nichts anderes als KönigSgräber von gigantischem Ausmaß man sieht an der Sorgfalt der Totenbestattung aus unserer eigenen Vorgeschichte, wie sehr man um die Toten bemüht war, sie nicht ein­ fach als erledigt beiseiteschaffte *). Bei näherem Zusehen merkt man, daß im Verhältnis zu den Toten Verschiedenes nebeneinandersteht, auch z. T. ineinanderfließt. i) Die Bedeutung des TodeserlebniffeS und der Beziehung zu den Toten für das Innenleben der Menschheit kann gar nicht überschätzt werden. Man lebt sein gegenwärtiges leibliches Leben über einem Geheimnis, einem Ab­

grund. Es gibt irgendwo und irgendwie ein „Jenseits", das seinerzeit auch

uns selber erwartet, und das mehr oder weniger auch ins Diesseits hinein­ wirkt. Übrigens macht man sich über die Art dieses Jenseits und über die

Weise, wie die Abgeschiedenen darin weiter existieren können, im allgemeinen

wenig bestimmte Gedanken. Die Griechen reden vom Hades, in dem die Toten, auch die Fürsten, ein Schattendasein führen, aber auch von den Ge­

filden der Seligen, dem Elysium; die Germanen von Walhall, wohin die

gefallenen Helden ausgenommen werden. Im allgemeinen haben diese Vor­ stellungen vom Jenseits praktisch kaum eine größere Rolle gespielt. Aber die Tatsache des Jenseits selbst und die Ansprüche der Toten an die Lebenden

haben immer sehr große Bedeutung gehabt.

Einerseits finden wir Gebräuche, die den Abgeschiedenen hindern sollen, durch Wiederkehr in das Haus, aus dem er gegangen ist, die Überlebenden zu schrecken und zu schädigen. Der Tote hat etwas Un­ heimliches an sich, gegen das man sich zu schützen sucht. Dann aber kann der Totenbrauch auch dem Toten etwas zu lieb tun wollen. Und schließlich kann er auch zu dem Zweck geübt werden, daß man ihn durch Opfer u. dgl. den Hinterbliebenen günstig stimmt, damit er ihnen Hilfe und Schutz gewährt. Hier wird dem Toten also eine Macht zugetraut, die unter Umständen weit über die hinauSgeht, die er bei Leibesleben besaß. Das Letztgenannte ist der Fall insbesondere den Ahnen, dem Häuptling, dem Führer gegenüber. Außer dem Un­

heimlichen des Todes wirkt also auch die menschlich-soziale Beziehung zu dem Toten, die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Treue gegen ihn, auf den Totenkult gestaltend ein. So gewinnen aber diese menschlich-sozialen Beziehungen den Einschlag des Heiligen. Damit wird eine Linie verstärkt, die auch ohne die Beziehung zu Tod und Jenseits als der Ort empfunden wird, wo Heiliges sich geltend macht: das menschliche Gemeinschaftsleben mit Brauch, Sitte, Recht. Das Gefühl für recht und unrecht in seinem Art unterschied von dem, waS bei kluger Abwägung des Wertes einer Sache oder der Folgen einer Tat als nützlich oder schädlich erscheint, das eigentümlich „sittliche" Empfinden bis hinauf zum kategorischen Imperativ Kants steht in engstem Zusammenhang mit der Empfindung des Heiligen. An einem Heiligtum, sei es ein Baum, ein Haus, ein Tempel, ein Häuptling, darf man sich nicht vergreifen, auch wenn unter Umständen die Nichtachtung ihrer Heiligkeit nach natürlichen Erwägungen noch so vorteilhaft wäre. Und neben das kultisch Heilige tritt sehr früh das sittlich Heilige, das den Bruch von Sitte und Recht ebenso nicht bloß als etwas Ungehöriges und Törichtes, sondern als etwas Un­ geheuerliches, als Frevel empfinden läßt. Die Ordnungen, Bräuche, Sitten, wie sie allmählich aus den Notwendigkeiten des menschlichen Gemeinschaftslebens im Zusammenhang seiner Geschichte erwachsen sind und weiterwachsen, auch die Regeln des Verhaltens der GemeinschaftSgenosien zueinander werden eingehalten und ihre Verletzung als Unrecht und Schlechtigkeit verabscheut, nicht aus bloßen Erwägungen des Nutzens oder Schadens für die Gemeinschaft und die Gemein­ schaftsgenossen (so gewiß diese immer mitspielen und praktisch, z. B. in der Furcht vor der Strafe, oft geradezu überwiegende Bedeutung

bekommen), sondern weil sie heilig sind und ihre Mißachtung und Ver­ letzung Frevel am Heiligen ist. Es ist im Lauf der Jahrtausende der Menschheitsgeschichte viel Törichtes, Unvernünftiges, ja Schädliches mit der Würde des Heiligen bekleidet worden und hat im weiteren Verlauf dieser Geschichte diese Würde mit Recht wieder verloren. Aber es gehört mehr als Kurzsichtigkeit dazu, zu verkennen, daß ohne diese Bindung an Heiliges, die nicht den kühlen Verstand, sondern das „Gewissen" des Menschen in Anspruch nimmt, die Menschheits­ geschichte nicht die Geschichte wirklicher Menschen gewesen wäre. Hier ist nun der Ort, wo wir von Gott, genauer den Göttern, zu reden haben. Wir wissen, daß wir ungemein zurückhaltend sein müssen bei dem Versuch, die Linie deö religiösen Werdegangs der Menschheit nachzuzeichnen. Einmal ist eS gar nicht eine einzige Linie, denn die einzelnen Stämme, Völker, Raffen der Menschheit sind jeweils eigene Wege gegangen. Und dann wissen wir so verschwindend wenig von dem, was in bezug auf das Berührtwerden von Heiligem bei den früheren Menschen, und noch weniger von dem, was dabei in ihnen vorgegangen ist. Was wir beobachten können, sind Bräuche, Tempel, heilige Bücher — und je weiter die inneren Vorgänge, von denen sie Kunde geben, zeitlich und kulturell von uns abliegen, desto schwieriger wird das innere Verständnis aus unserer anderen Gesamt­ lage heraus. Aber trotz all dieser Einschränkungen und Vorbehalte: eins ist deutlich, daß wir das, was wir Götter nennen (zunächst sind sie regelmäßig in der Mehrzahl), stets im Zusammenhang mit und in Beziehung zu geordneter menschlicher Gemeinschaft in Stamm, Volk, Staat findens. Wir haben sogar da und dort Material genug, um beobachten zu können, wie bloße ortsgebundene Naturgeister oder schweifende Dämonen in der Verbindung mit Stamm, Stadt, Volk, Staat, Recht zu hohen Göttern herangewachsen sind, die man sich regelmäßig im Himmel oder unter der Erde wohnend denkt. Wir können natürlich nur ganz Weniges zur Wegweisung herausheben, um die verwirrende Fülle der Götterwelt unter richtigen Gesichts­ punkten zu sehen. Während man bei den Geistern und Dämonen nie weiß, wie man mit ihnen dran ist und wie man sich gegen sie benehmen soll, um sie

i) Dabei bleiben neben den Göttern die Geister und Dämonen, die aber auch sehr häufig zu Lokalgottheiten werden. 2 Eger, Evangelischer Glaube

günstig zu stimmen oder Schädigungen durch sie zu vermeiden, fordert der Gott, je mehr er zum hohen Gott wird, desto klarer ein bestimmtes Verhalten von seinen Verehrern, und man kann dann Schutz und Hilfe von ihm erwarten. Natürlich ist die Gottheit so groß und den Menschen überlegen, daß immer ein Einschlag von Unberechenbarem bleibt (der Neid der Götter usw.). Der Mensch kann über den Gott nie von sich aus verfügen, ihn auch nicht durch sicher wirkende Mittel zu einem bestimmten Verhalten zwingen. Er kann ihn nur bitten und diese Bitten, um auf die Gottheit mehr Eindruck zu machen, durch Opfergaben unterstützen. Damit man erfährt, was die Gott­ heit will, braucht man Priester, Seher, Orakeldeuter, Propheten. Der Priester bringt auch im allgemeinen die Opfer dar, weil er am besten versteht, wie die Gottheit geopfert haben will. Während die kleinen örtlichen Gottheiten an bestimmten Orten für bestimmte Anliegen angerufen werden, haben die hohen Götter die Herrschaft über weite Gebiete der Natur oder auch des Menschen­ lebens, auch über ein bestimmtes Gebiet (Stadt oder ein ganzes Land), im letzten Fall wenigstens als oberste Gottheit. Die Götter des Himmels, des Krieges usw. werden männlich, die der Fruchtbarkeit weiblich vorgestellt. — Gesetz und Recht der Menschen stehen unter dem Schutz der Götter, obgleich diese im allgemeinen Gesetz und Recht nicht selbst geschaffen haben. Den Schutz von Gesetz und Recht üben sie vor allem dadurch aus, daß sie über dem Halten geschworener Eide

wachen; der Eidbrecher verfällt ihrem vernichtenden Zorn. Es ist also alles nach menschlicher Denkweise, nach menschlichen Anliegen und Bedürfniffen, Nöten, Hoffnungen usw. gedacht und vorgestellt, so daß man im Blick auf diese Götterwelt versucht sein konnte, zu sagen: Der Mensch schuf die Götter nach seinem Bilde; wie der Mensch ist, so sind seine Götter. Die Götter sind die Helfer in seinen Nöten und Kämpfen, dazu die Verkörperung seiner Werte und Strebeziele. Aber ganz stimmt das doch nicht. Denn das Wesentliche an den Göttern ist nicht, daß sie den Menschen ähn­ lich, sondern daß sie ihnen überlegen sind. Mehr als die Ausgeburt menschlichen Wünschens und Strebens sind die Götter die Mächte, vor denen man sich beugt, von denen man ergriffen wird, denen man sich hingibt, vor denen man sich zu verantworten hat. Schuldgefühl und Sühnungsverlangen spielen im Verhältnis zu den Göttern des­ halb eine sehr wichtige Rolle. Auch beim Opfer handelt es sich mehr

darum, Ansprüche der Gottheit zu befriedigen, als sie durch Opfer für Erfüllung der eigenen Wünsche zu gewinnen, so wenig das fehlt. Für den wirklich frommen Gottesverehrer müßte man deshalb den Satz mindestens umkehren: Wie des Menschen Gott ist, so ist er selbst. DaS gilt natürlich auch in dem Sinn, daß der Mensch viel von der eigenen Beschränktheit, Eigensucht, Leidenschaft, ja Bosheit in seinen Gott hineinsteht und sich dann wieder von dem so gesehenen Gott in alledem bestärken läßt. Aber je mehr die Gottheit vom wirklich Frommen — es hat immer sehr viele bloße Mitläufer, ja mehr oder weniger bewußte Heuchler gegeben — in ihrer Heiligkeit, Erhaben­ heit, in ihrem Anspruch an den Menschen empfunden wird: desto mehr hebt die Beziehung zur Gottheit den Menschen über seine gemeine Wirklichkeit hinaus, und desto fester ist zugleich der Glaube an die Gottheit und der Halt, den dieser Glaube gewährt. Die reiche, bunte Götterwelt Griechenlands ist zusammengebrochen, obgleich noch viel Frömmigkeit bei den Menschen war, als es sich gegen einen GotteSglauben zu behaupten galt, der dieser Götterwelt den heiligen Gott der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Güte und Barmherzigkeit in seinem unerbittlichen Anspruch und in seiner schlechthinnigen Erhaben­ heit entgegenzusetzen hatte. Den Bemerkungen über den Götterglauben würde etwas Wich­ tiges fehlen ohne den Hinweis darauf, daß überall, wo der Zustand naiver Primitivität überschritten ist, hinter der Götterwelt noch etwas anderes auftaucht, über das auch die Götter keine Gewalt haben, ja dem sie selber unterworfen sind: das Schicksal. Dies Letzte, Unaus­ denkbare, das keiner von sich aus bestimmen, dem keiner entrinnen kann. Je mehr im Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung die Lage des Götterglaubens selbst kritisch wird, desto mehr schiebt sich der Schicksalsglaube aus dem Hintergrund in den Vorder­ grund und verdrängt bei nicht wenigen den Götterglauben ganz.

* Der christliche GotteSglaube steht in einsamer Größe in der Welt der Religionen. Man hat schon gefragt, ob man angesichts der be­ stehenden Verschiedenheiten daS Christentum überhaupt als „Re­ ligion" bezeichnen und mit den anderen Religionen in eine Reihe stellen könne. Religionen sind menschliche Gebilde mit menschlichen Gedanken, Vorstellungen und Einrichtungen, wenn sie auch alle, je

lebendiger und kräftiger sie sind, desto mehr vom Berührtwerden durch Übermenschliches zu sagen wissen. DaS Christentum will durch­ aus von dem leben, was der heilige allmächtige, lebendige Gott durch seine Offenbarung den Menschen als seinen heiligen, guten Willen erschließt, was er an ihnen wirkt und tut. Aber weil der heilige all­ mächtige Gott in der Geschichte der Menschheit durch Menschenwort und Menschenzeugnis zu Menschen redet, ist daS Wort, das die von Gottes Wahrheit Ergriffenen als Gottes Wort und Willen den anderen Menschen bezeugen, immer auch wirkliches Menschenwort und immer notwendigerweise eingebettet in daS, was der Mensch in seiner natürlichen Menschlichkeit und in seiner geschichtlichen Lage von Gott zu sagen vermag. Schon daS Denken und Sprechen als solches ist ja gegebene Menschlichkeit. Und so gewiß der vom heiligen Willen Gottes Ergriffene diesen Gotteöwillen nicht in bloßer Nach­ denklichkeit, sondern lebendig und lebensmächtig in Gemüt und Ge­ wissen erfährt, so vollzieht sich daS nie ohne Gedanken über Gott und ohne Auseinandersetzung dieser seiner Gotteögedanken mit dem Ganzen seines Denkens, Fühlens, Wollens und Handelns. Das alles wird für die christliche Gottesoffenbarung noch dadurch wesentlich verstärkt, daß sie den Menschen nie bloß als einzelnen trifft und in Anspruch nimmt, sondern immer als Glied der menschlichen Gemein­ schaft und in seiner Lebensbeziehung zu anderen Gliedern dieser Gemeinschaft, und auch diese Gemeinschaft trägt ihr eigentümliches geschichtsgewordenes Gepräge. So ist es überall, wo Menschen von Gottes Offenbarung zeugten und sich zu ihr bekannten, zu mensch­ licher Religion mit bestimmten Gedanken, Lehren, Ordnungen und Einrichtungen gekommen. In weitestem Umfang hat man sogar diese christliche Religion mit der Offenbarung des heiligen allmächtigen, lebendigen Gottes selber gleichgesetzt oder diese doch an jene in aus­ schließlicher Weise gebunden. Dieser Vermenschlichung der gött­ lichen Offenbarung um der Offenbarung und um des Glaubens willen aufs nachdrücklichste zu widerstehen, war das erste Anliegen Luthers und der Reformation. Aber auch evangelisches Christentum mußte, um geschichtlich wirksam zu werden, Religion werden, und die evangelische Kirche mit ihren Lehren, Ordnungen, Einrichtungen Religionsgemeinschaft. Christentum, auch evangelisches Christentum, ist also Religion auf dem Grund der Offenbarung Gottes, immer von dieser selbst zu unterscheiden, aber nie von ihr zu scheiden.

Im christlichen Sinn an Gott glauben — im Vollstnn des Wortes — heißt im Gemüt und Gewissen ergriffen und bezwungen werden von der Macht, Gerechtigkeit und Güte des allmächtigen Gottes auf Grund der Offenbarung feines heiligen guten Willens. Dadurch

wird selbstverständlich auch unser Denken aufö stärkste in Anspruch genommen und auch unsere gedankliche und praktische Stellungnahme zu Welt und Leben maßgebend bestimmt. Aber das Ursprüngliche sind nicht die Gedanken, die wir uns über Gott machen, sondern jenes innerste Ergriffenwerden von seiner Macht und Güte. Ja, Gottes erhabene Übermacht, die wir in Gemüt und Gewissen erfahren, sagt

uns, daß wir mit unseren Gedanken über Gott doch nie an Gott selbst heranreichen, daß er letzten Endes im Geheimnis wohnt, und daß wir von ihm nur das erfassen, was er uns offenbar werden läßt. Waö außerhalb des christlichen Offenbarungsglaubens als das undurch­ dringliche und unentrinnbare Schicksal hinter und über der Götter­ welt steht, wird hier zum hintergründig Verborgenen im Wesen und Walten deS Allmächtigen selbst. DaS, woran die Heiligkeit Gottes erfahren wird, ist seine Macht, Gerechtigkeit und Güte. Während seine Macht zunächst wesentlich zur Beugung führt, seine Gerechtigkeit uns in die Verantwortung für unser Verhalten gegenüber Gott und den Menschen stellt, zieht seine Güte uns in daS Lebensverhältnis zu Gott hinein und macht uns selber vertrauend und liebend gegen Gott und gütig und barmherzig gegen die Menschen. ES sind also wesentlich Züge sittlicher Art, die die Beziehung zu Gott kennzeichnen: Gott ist uns der Gute, Gott ist Liebe. Aber er ist doch noch etwas anderes als die Sittlichkeit menschlichen Gemeinlebens: der Heilige ist nicht bloß der menschlich Gute. Der Satz: Gott ist Liebe, ist keine das Wesen Gottes erschöpfend zum Ausdruck bringende Gleichung. Daß daö so oft vergessen wird, macht das Reden von der Liebe und von der Vaterschaft Gottes häufig irreführend und für nicht naive Menschen anstößig. Es bleibt immer das über all unser Begreifen und Verstehen erhabene, alle un­ ziemliche Vertraulichkeit ausschließende Heilige dabei, dem wir nicht beikommen können, auch nicht versuchen dürfen, beizukommen. Gott darf auch beim besten, das wir von ihm sagen können, nicht in die Grenzen deS Menschentums eingesperrt werden. Gottes Offenbarung trifft uns durch das menschliche Zeugnis von ihm hindurch. Dies Zeugnis ist nicht bloß ein Reden von Gott,

so wenig es die Worte entbehren kann. Aber hinter dem Wort muß das Ganze des zeugenden Menschen stehen mit dem, was ihm von Gott offenbar geworden ist. Und ob ihn dies wirklich in Herz und Gewissen ergriffen hat, das wird sich an seiner ganzen Lebenshaltung zeigen. Es ist christlicher Gemeinglaube, daß diese Offenbarung Gottes durch menschliches Zeugnis in der Geschichte ihre Vollendung gefunden hat in der Person Jesu Christi; daß in ihm Gottes Wort an die Menschheit Fleisch (= Mensch) geworden ist. Dem Eintritt Jesu in die Geschichte geht aber voraus, was Gott in der Geschichte des Volkes Israel von seinem Wesen und Willen durch die Propheten und durch die Führung des Volkes hat offenbar werden lassen. Des­ halb suchen wir dessen, was Gottes Offenbarung in der Geschichte auch uns zu sagen hat, inne zu werden an der Bibel, der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments.

«Bibel — Offenbarung — Wort Gottes Man hat geglaubt, den in der Bibel gesammelten Zeugnissen aus der Geschichte der Offenbarung Gottes erst dadurch ihre volle Ehre anzutun, daß man das Buch als solches als unmittelbar von Gott gegeben und deshalb jedes Wort in ihr als unantastbare GotteSwahrheit ansah. Die jüdische Schriftgelehrsamkeit hat diese Lehre zur ausgebauten Theorie entwickelt, die bis auf diesen Tag auch auf christlichem Boden noch weithin nachwirkt. Da sie im Wider­ spruch mit dem in der Bibel selbst vorliegenden Tatbestand steht, hat sie nicht nur die Benutzung der Schrift durch die Bibelgläubigen selbst mit großen Schwierigkeiten und Willkürlichkeiten (Umdeutungen nach dem eigenen Bedarf usw.) belastet. Sie ist heute auch die wirksamste Waffe in der Hand der Gegner der Bibel und deö Christentums, weil man sich nur an irgendeinem willkürlich herausgegriffenen einzelnen Stück der Bibel zu stoßen braucht, um das Ganze verdächtig zu machen. Tausende sind heute der Wirkung solcher Angriffe auf die Bibel wehr­ los ausgesetzt, weil sie sich darüber nicht klar sind, was das wirkliche Verhältnis von Bibel und Gottes Offenbarung ist. Jesus hat zweifellos das Alte Testament in voller Unbefangenheit als das Buch der Offenbarung Gottes gelesen und gebraucht. Aber eben in aller Unbefangenheit, ohne steife Theorie von äußerlicher Ein-

gebung des Schriftbuchstabens, indem er das Schriftwort im Zu­ sammenklang mit dem verstand, was Gott ihm selber von seiner heiligen Wahrheit und Güte aufgeschloffen hat. Von Jesus dem Christus aus hat dann die Christenheit von Anfang an das Alte Testament verstanden und verwertet. Sie lebt ganz in der alttestamentlichen Verheißung, aber sie hat in Jesus von Nazareth, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, den, in dem diese Verheißung erst ihr rechtes Verständnis und ihre Erfüllung findet. Weil man den Vollender des Glaubens kennt, bewegt man sich mit innerer Freiheit in dem, was Gesetz und Propheten den Vätern im Namen Gottes gesagt haben (Heb. 1,1). Die Christenheit behauptet diese ihre Stellungnahme zur Gottesoffenbarung im Alten Testament von Christus aus mit Nachdruck auch gegen die jüdische Schriftauslegung der Rabbinen. Das Alte Testament ist immer, im Verstand von Christus aus, als Besitz der Christenheit im Gegensatz gegen das Judentum betrachtet worden. Dadurch wurden weite Partien des Alten Testaments teils als durch das Kommen Jesu überholt und abgetan betrachtet, teils durch christliche (natürlich gutgläubige) Umdeutung tatsächlich außer Kraft gesetzt. Dabei hat man die jüdisch schriftgelehrte Theorie von der gött­ lichen Eingebung des Schriftbuchstabens um so unbefangener über­ nommen, weil man allen üblen Folgen der Theorie dadurch entging, daß man das etwa anstößige Wort christlich deutete. Und es war ver­ ständlich, daß man die Schriften aus den Anfängen der Christenheit selbst, die zu besonderem und ganz allgemeinem Ansehen in den Ge­ meinden kamen, schon im 2. Jahrhundert den heiligen Schriften des Alten Testaments als solche des Neuen Testaments zur Seite stellte und auch auf sie die Lehre von der göttlichen Eingebung anwandte. Das war übrigens insofern sehr wertvoll für sorgfältige Weiter­ überlieferung der alten Bibeltexte, als man infolge jener Ehrfurcht mit Abänderungen oder Zusätzen beim überlieferten Text sehr zurück­ haltend war. Die unter dem Leitungö- und Lehramt der Bischöfe sich immer mehr verfestigende Kirche hat dann einen festen Kanon (^ Richt­ schnur) der heiligen Schriften festgestellt, der für Lehre und Glauben der Kirche Grundlage und bleibende Norm war. Als freilich später die Waldenser und andere Bewegungen sich gegenüber den Irrtümern und Mißbräuchen der Papstkirche auf die Schrift beriefen, wurde

mit größter Schärfe der Grundsatz geltend gemacht, daß nur das kirch­ liche Lehramt, in letzter Instanz der Papst, die richtige Auslegung der Schrift zu bestimmen habe. Ja, neben die Schrift wurde die kirchliche Überlieferung als zweite Quelle der Wahrheit gestellt.

Luther hat anders als feine sich auf die Bibel berufenden mittel­ alterlichen Vorgänger nicht nur einzelne Schriftwahrheiten der Papst­ kirche entgegengehalten. Er hat ein ganz neues, lebendiges Verhältnis zur Bibel, insbesondere zum Neuen Testament gewonnen, weil sich ihm daraus das darin bezeugte Glaubensleben in unmittelbarer, über die Jahrhunderte hinweggreifender Berührung erschloß. Er er­ kennt, daß die Schrift von einer Geschichte berichtet, in der Gott mit Menschen je nach ihrer Zeit und nach ihrer Weise in Beziehung getreten ist, sie zur Verantwortung gezogen und ihnen seine Ver­ heißungen gegeben hat. Durch das, was jene Menschen — gläubig und widersetzlich — als Gottes heiligen Willen erfahren und was die Gott-Glaubenden von dieser ihrer Gotteserfahrung bezeugt haben, spricht Gott auch uns selbst zum Herzen und Gewissen und ruft uns so zu Glauben und Gehorsam. Dabei ist für Luther Kern aller Schrift Gottes vollendete Offenbarung in Jesus Christus. Von Christus als ihrem Mittelpunkt aus ist alle prophetische und aposto­ lische Schrift zu verstehen und auf unser Glauben und Leben anzu­ wenden. WaS Christus treibt, das ist das in der Schrift, was für unsern Glauben maßgebend ist. Daneben kommt für Luthers Schrift­ verständnis, das immer ein praktisches ist, noch der andere Gesichts­ punkt in Betracht, ob das Schriftwort überhaupt noch unö in An­ spruch nehmen will, oder ob es nur zeitliche Bedeutung — für das Volk Israel — gehabt hat. Von dieser an der Glaubensbeziehung zu Gottes Offenbarung in Christus gewonnenen inneren Freiheit aus kann Luther nicht nur vielen Stücken des Alten Testaments, sondern auch manchem im Neuen Testament, z. B. dem Jakobusbrief und der Offenbarung Johannis, recht kritisch gegenüberstehen. Die Autorität des einzelnen Schriftworts ist für Luther also keine äußerlich gesetz­ liche, sondern immer eine inhaltlich durch die entscheidende Autorität Christi bestimmte. Und erfahren wird die Autorität des Schriftworts nicht durch äußerlich gesetzliche Unterwerfung, sondern im glaubenSund gewiffenSmäßigen Hören auf das, was der in Christus sich er­ schließende heilige gerechte, gütige Gott uns zur Weckung und Schär­ fung des Gewissens und zur Weisung und Stärkung für unseren

Glauben durch das Wort zu sagen hat. Wort Gottes und Glaube gehören zu Häuf — eine bloß äußerlich verstandesmäßige Beziehung zur Schrift dringt gar nicht bis zu dem, wodurch uns das Schriftwort allein Gottes Wort an uns werden kann. Gewiß kommt der Schrift eine große Bedeutung auch dadurch zu, daß sie zur Abwehr falscher Lehre dient. Aber die Benutzung der Schrift zu polemischen Zwecken tritt bei Luther gegenüber ihrer Verwendung zur Nährung deö eigenen Glaubenslebens durchaus in zweite Linie — bei weitem der größere Teil des Schrifttums Luthers dient der aufbauenden Auslegung der Heiligen Schrift. So hat Luther das lebendig Bewegte der biblischen Schriften wieder verstanden (in den Psalmen siehst du „den Heiligen" [= Gläubigen^ ins Herz), so daß seine Schriftauslegung heute noch unmittelbar zu uns redet, aus Glauben zum Glauben. Aber wir dürfen Luther nicht modernisieren. Nach der Geisteslage der Zeit konnte er, trotz der oben erwähnten vereinzelten Ansätze zu kritischer Haltung gegenüber einzelnen Teilen der Bibel (ganz ablehnend steht er dem Buch Esther gegenüber, weil e6 so stark „judenzet"), sich die Schrift noch nicht in ihrer objektiv geschichtlichen Gegebenheit gegen­ überstellen. Er wollte wohl ernstlich dem einzelnen Schriftwort zu­ nächst einmal sein eigenes geschichtliches Recht lassen; trotzdem hat er es (in aller Gutgläubigkeit) von seinem eigenen Glaubensverständnis aus oft umgedeutet. Und öfter genügt ihm ein einzelnes Bibelwort, um es dem Gegner als bindende Autorität entgegenzuhalten, ohne daß die Beziehung „aus Glauben zum Glauben" deutlich wirb1). Es

mußte in geduldiger und oft entsagungsvoller Arbeit der theologischen Wissenschaft noch viel getan werden, ehe das, was Luther intuitiv erfaßt hatte, gedanklich geklärt und nach allen Seiten hin gesichert herausgestellt war. Zunächst ging die Entwicklung in den Kirchen der Reformation in anderer Richtung. Da die Bibel die einzige auch auf der Gegenseite anerkannte Autorität war, auf die man sich im Kampf mit der Papst!) Das bekannteste Beispiel solcher Berufung auf ein einzelnes Schrift­

wort: die Geltendmachung des „das ist mein Leib" im Abendmahlsstreit, gehört genau besehen nicht hierher. Die Ablehnung des „das ist" bedeutete

für Luther den Ungehorsam gegen ein feierlich ausgesprochenes Wort Jesu selbst, und die ganze Frage, um die der Streit ging, war mit Luthers per­ sönlichstem Glaubensleben aufs engste verbunden.

kirche stützen konnte, wurde die göttliche Eingebung des Schriftbuch­ stabens wieder mit Nachdruck verfochten, weil man nur dadurch der Bibel die höchste Würde zu sichern glaubte. Aber Luthers Erbe kam immer noch dadurch zur Geltung, daß der Schriftleser dieser gött­ lichen Eingebung der Schrift nur durch das Zeugnis des Heiligen Geistes gewiß wurde, das im Glauben erfahren wurde. Es wurde

also alles, was man der Schrift tatsächlich entnahm, auf das persön­ liche Glaubensverhältnis zu Gott in Jesus Christus bezogen. Was nicht dazu dienen konnte, wurde (mit gebührender Ehrfurcht) auf die Seite geschoben. Es galt als „nicht für uns gesprochen" oder aber als „heroisch". Mit den „heroischen" Menschen verkehrt Gott auf eigene Weise und führt sie auf eigenen Wegen. Auf dem Boden dieser Gesamtstimmung ist ein Geschlecht frommer Bibelleser herangewachsen, das aus dem Bibelbuch eine Fülle heil­ samer Nahrung für die eigene Glaubenshaltung und Lebensführung in aller Schlichtheit und Unbefangenheit herausgeholt hat. So hat ein Johann Sebastian Bach seine Bibel gelesen, und seine Töne sind der Widerhall dessen, was sein gläubiges Herze von ihr empfing. So lesen heute noch Tausende in der Stille für sich oder in Gemeinschaft mit anderen ihre Bibel und holen sich daraus Weisung, Halt und Trost fürs Leben und fürs Sterben. Aber von der Mitte des 18. Jahrhunderts ab wurde im Zu­ sammenhang mit den Wandlungen des allgemeinen Geisteslebens für viele die innere Lage gegenüber der Bibel eine andere. Man fing auch in Kreisen an, die von ihrem Glauben und von ihrer Bibel nicht lassen wollten, sich in steigendem Maße an dem zu stoßen, was die biblischen Berichte an Zügen enthielten, die dem neu aufsteigenden und sich mit der Gewalt des Tatsächlichen immer mehr durchsetzenden naturwissen­ schaftlichen Weltbild widersprachen. Also vor allem an den biblischen Wundern, besonders an den massiv auffälligen, dem Stillstehen der Sonne bei der Schlacht bei Gibeon, der sprechenden Eselin Bileams, an Jona im Walfischbauch. Aber darüber hinaus nahm man — je nach der inneren Einstellung spöttisch oder bekümmert — Anstoß an dem vielen Engen, Kleinen, Rückständigen, ja, gemessen an der eigenen Moral, manchmal geradezu Unsittlichen, von dem man das Alte Testa­ ment voll sah, und von dem sich auch das Bild des Gottes des Alten Testaments nicht überall frei hielt. Kurz, man entdeckte die mensch­ liche Seite der Bibel, und zwar zunächst im unguten Sinne des

Menschlich-Allzumenschlichen. So sah sich die Theologie, der ja die wiffenschaftliche Selbstbesinnung des Christentums und seine Aus­ einandersetzung mit der allgemeinen Geisteslage der Zeit als besondere Aufgabe obliegt, seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor eine Aufgabe von ungeheurer Größe und Schwierigkeit gestellt, an der kleine und große, fromme und unfromme Geister seitdem zu Hunderten sich geübt haben. Und weil eö sich dabei um Dinge von größter prak­ tischer Bedeutung handelte, war es selbstverständlich, daß die Aus­ einandersetzungen mit all der Leidenschaft geführt wurden, die sich immer einstellt, wo um Dinge gekämpft wird, die ans Leben gehen. Wir können den Kämpfen um die Bibel, die in den letzten andert­ halb Jahrhunderten geführt worden sind, nicht im einzelnen nach­ gehen. Seitens der Gegner des Christentums wird der Kampf heute wieder mit besonderer Heftigkeit geführt, und auch innerhalb der Kirche und der Theologie selbst haben die Auseinandersetzungen noch nicht aufgehört. Sie dürfen gar nicht aufhören angesichts des in der Bibel bezeugten Tatbestands, daß Gott in der Geschichte der Menschen durch Menschenwort und Menschentat hindurch an Menschen gläubigen Ge­ horsam fordernd herantritt. Darin liegt etwas Spannungsvolles, das notwendigerweise auch das menschliche Nachdenken über diesen Tat­ bestand in Spannung und Bewegung hält, nachdem das Spannungs­ volle des Tatbestands erst einmal zum Bewußtsein gekommen ist. Aber aufs Ganze gesehen ist doch in der Gesamtarbeit der deutschen evangelischen Theologie eine gemeinsame Grundansicht gewonnen, die es dem evangelischen Christen von heute möglich macht, der Bibel gerade in ihrer erkannten vollen Menschlichkeit als des Zeugniffeö von der Offenbarung Gottes froh zu werden, ohne mit seinem WahrheitSgewiffen in Widerspruch zu geraten. Wir wissen heute, daß die Auf­ gabe wissenschaftlicher Schriftforschung zunächst einmal darin besteht, sich nach aller Möglichkeit des in der Schrift literarisch vorliegenden geschichtlich objektiven Tatbestandes zu bemächtigen, trotz aller Ein­ sicht in die Schranken dieses Bemühens, weil geschichtliches Erkennen immer nur zu größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit führt. Aber dies geschichtliche Erkennen in bezug auf die Schrift soweit durch­ zuführen, wie eö mit den heutigen Mitteln geschichtlicher Forschung überhaupt möglich ist, ist einfach eine Forderung des Glaubens, daß unser Gott nicht ein Gott der Phantasie oder des frommen Wunsches, sondern der Wahrheit ist, einerlei, ob diese Wahrheit uns bequem

oder unbequem ist. Deshalb mußte die geschichtliche Bibelforschung in

ihren Anfängen zunächst einmal versuchen, gegenüber den biblischen Berichten einen gewissen inneren Ab st and zu gewinnen, um sie in ihrer geschichtlichen, von der unsern verschiedenen Eigenart verstehen zu können. Heute sind wir schon lange darüber hinaus zu der Er­ kenntnis fortgeschritten, daß man des in der Schrift bezeugten Glaubens an die Offenbarung Gottes auch geschichtswissenschaftlich gar nicht habhaft werden kann ohne Mitwirkung der eigenen Glaubens­ erfahrung — der Hinweis darauf, daß ein unmusikalischer Mensch keine Musikgeschichte schreiben kann, ist ein fast zu schwacher Vergleich. Damit rückt aber die aus dem reinen Erkenntnistrieb des Menschen­ geistes erwachsende wissenschaftliche Bibelforschung, wegen des Gegen­ stands, mit dem sie zu tun hat, wieder in wesentlich größere Nähe zu der Schriftauslegung aus Glauben zum Glauben, wie sie Luther und nach ihm Millionen von evangelischen Christen geübt haben. Trotzdem darf der Unterschied zwischen der geschichtlichen Bibelforschung und der Verwertung der Schrift zur Gründung, Nährung, Stärkung unseres Glaubens nicht verwischt werden. Die Aufgabe ist beidemal verschieden, und jede will in voller Hingabe in Angriff genommen sein. Die Bibelforschung von heute erkennt in der Bibel die Samm­

lung geschichtlicher Urkunden, die uns davon berichten, wie im Ver­ lauf einer mehr als tausendjährigen Geschichte im Zusammenhang mit der Geschichte eines bestimmten Volkes Menschen Gott als dem Heiligen, Allmächtigen, Guten begegnet sind, und wie sie von diesen

Begegnungen den Menschen ihrer Zeit mit Wort und Tat Zeugnis gegeben haben, wie sie an ihnen gearbeitet, mit ihnen gekämpft, unter ihnen gelitten haben, wie sie von ihnen gehört und verworfen worden sind. Alles als wirkliche Menschen, als Menschen ihrer Zeit und ihrer Art, in ihrer Denk- und Sprechweise mitten unter ihren Zeit- und Schicksalsgenossen stehend. Aber als Menschen, die der heilige all­ mächtige Gott übergewaltig für sich in Anspruch nimmt, daß sie zu den anderen im Auftrag Gottes zu reden die Pflicht und den Mut haben. Dabei ist aber zwischen dem Alten und dem Neuen Testament ein großer Unterschied. Im Alten Testament ist das, was von jenen Männern Gottes berichtet wird, eingebettet in die Gesamtgeschichte ihres Volkes und in den Bericht von seinen geschichtlichen Führungen unter der Herrschaft Gottes. Im Neuen Testament kreist dagegen, so wenig der besonders geartete geschichtliche Boden verlassen wird,

alles um den Einen und richtet sich an ihm aus, der nicht von ein­ zelnen Begegnungen mit Gott, sondern von seiner Gemeinschaft mit Gott als dem Vater zu zeugen hatte. Nicht der Propheten einer: der Sohn, der den Willen des Vaters kennt und tut; der, in dem das Wort des heiligen allmächtigen, guten Gottes an die Menschheit Fleisch, Mensch wird. Das Zeugnis der Männer Gottes von dem, was sie in der Be­ gegnung mit Gott erfahren haben — dies Zeugnis sollen und können wir als Menschen von heute über allen Unterschied der äußeren und inneren Lage hinweg zu unserem eigenen Herzen und Gewissen sprechen lassen, so daß es uns Antrieb und Anleitung wird, selber dem heiligen allmächtigen, guten Gott in unserer Zeit und in unserer Lage zu be­ gegnen. Das zeitlich dem Wesen nach Unterschiedliche wird dabei selbst­ verständlich an die Seite geschoben. Die Männer Gottes, Propheten wie Apostel, binden uns nicht an sich selbst und ihre Meinungen, sondern an Gott, der uns für sich in Anspruch nimmt. Und auch der, der wagt, sich den Sohn zu nennen, weiß nichts anderes, als daß er uns zum Vater führen will, damit wir Gottes Kinder werden.

Das Alte Testament Selbst wenn man der Ansicht wäre, daß eine Besinnung auf das Neue Testament als Einführung in die Grundlagen christlicher Glaubenserkenntnis genüge, ist doch gerade angesichts der Angriffe, die heute gegen das Alte Testament erhoben werden, ein näheres Ein­ gehen auf das, was es in Wahrheit mit dem Alten Testament auf sich hat, heute besonders nötig. Die Christenheit hat feit ihren An­ fängen das Alte Testament als das Buch der Offenbarung Gottes, in Hinführung auf feine vollendete Selbsterschließung in Jesus Christus, anerkannt und betrachtet e6 als ein Stück ihrer Bibel. Deshalb müssen wir unö damit auseinandersetzen, ob die dagegen heute in stärkerem Maß als je erhobenen Bedenken zu Recht bestehen. Und wir können das nur so tun, daß wir uns darüber klar werden, was es mit dem Alten Testament in seiner tatsächlichen Wirklichkeit auf sich hat. Zweifellos ist die Auseinandersetzung mit den Angriffen auf das Alte Testament sehr viel schwieriger geworden, seit die naive Ver-

christlichung, in der man es früher gesehen hat, weggefallen und da­ viele Befremdliche, Anstößige, Unterchristliche, da- in dem Buch zu finden ist, in ein durch keine naive Verchristlichung gedämpftes, grelles Licht getreten ist. Aber andererseits ist durch das Eindringen in das

dem Alten Testament eigentümliche Leben auch so viel Bedeut­ sames und Wertvolles ans Licht gekommen, daß die Frage, ob das Alte Testament durch Wegfall der naiven Verchristlichung gewonnen oder verloren hat, viel eher im ersteren als im letzteren Sinne be­ antwortet werden muß, natürlich nur bei dem tiefer Grabenden und Urteilsfähigen. — Es handelt sich bei der Geschichte, aus der uns im Alten Testament Berichte erhalten sind, um die Geschichte eines ganz kleinen Volkes, dessen Art und Wesen auch keineswegs schönfärberisch geschildert wird — imGegenteil! —, daö auch politisch sehr wenig zu bedeuten hatte. Aber in dieser Geschichte vollzieht sich etwas, was ihr in der Geschichte der Menschheit eine ganz einzigartige Bedeutung verliehen hat: die Offenbarung Gottes als des heiligen allmächtigen, guten Willens. ¥

Ehe wir einzelnes besonders Wichtige herausgreifen, ist eine all­ gemeine Bemerkung nötig. Das Alte Testament enthält außer Stücken aus der Zeit, die im vollen Licht der Geschichte vor uns steht, auch zahlreiche vorgeschichtliche und frühgeschichtliche Stoffe, die wie überall in der Menschheit dem Gesamtcharakter der Frühzeit entsprechend in Form der Sage überliefert sind. Die Sagenform der Überlieferung hat ihre Eigentümlichkeit darin, daß das von ihr Gebotene von vorn­

herein im engsten Zusammenhang mit dem inneren Leben des Er­ zählers — die Sage wird gesagt, nicht geschrieben; Aufzeichnung und Sammlung von Sagen folgt erst später — in Phantasie, Gemüt und Wille gestaltet wird. Bei den einfachen Lebensverhältniffen ursprüng­ licher Menschen erfolgt die Bildung neuer Sagen nur sparsam aus besonderem Anlaß; in der Hauptsache wird altes (z.T. uraltes) Sagen­ gut pietätvoll weiter überliefert. So gewährt die Sage einen vor­ züglichen Einblick in die Lebensverhältniffe, die Gedankenwelt und das Gemütsleben der Menschen der Frühzeit, bei denen die Sagen ent­ standen und umgelaufen sind. Da die Menschen der Frühzeit durch­ gängig sehr fromm waren, spielt die Beziehung zur Gottheit immer eine sehr wichtige, sehr häufig die entscheidende Rolle. Dagegen ist e6

äußerst schwierig, bei dem Sagenkranz, der sich etwa um einzelne Menschen der Frühgeschichte gebildet hat, bis zu dem etwaigen geschichtlichen Kern vorzudringen. Man kommt da über Vermutungen nicht hinaus, wenn auch vielleicht da und dort das Geschichtliche etwas deutlicher durchscheint. Hauptsache bleibt immer der Einblick in die Gedankenwelt und das Gemütsleben der Menschen, die die Sage ge­

schaffen, ausgenommen, weitergetragen haben. Die in Israel umlaufenden Erzählungen auS der Vorzeit sind wahrscheinlich im 9. Jahrhundert v. Chr. in zwei größeren, zu­

sammenhängenden Sammlungen gesammelt worden; sie stehen jetzt in den fünf Büchern Mose und im Buch Josua. Zum Teil haben sie auch noch spätere Umarbeitungen erfahren; der Schöpfungsbericht 1. Mose 1 hat seinen ursprünglich wohl bildhafteren Charakter über­ haupt abgestreift. Die hier gesammelten Erzählungen beziehen sich zum Teil auf die Urgeschichte der Menschheit (Schöpfung, Sündenfall, Sintflut, Turmbau zu Babel), teils auf die Zeit der sogenannten Erzväter (Abraham, Isaak und Jakob), zuletzt auf Mose und Josua. Sie geben einen starken Eindruck nicht nur von der ursprünglichen Erzählungskunst Altisraels — sie sind von wundervoller Bildhaftig­ keit und Eindrücklichkeit —, sondern vor allem von der Eigenart und Größe der Gottesgedanken und der Gedanken über das Ver­ hältnis zu Gott, die im ältesten Israel wirksam waren. Besonders die Gestalt des Abraham trägt Züge des übermächtigen Anspruchs Gottes und des ihm geleisteten vertrauenden Gehorsams, wie sie ganz einzig­ artig sind. Am deutlichsten tritt die Sonderart und Höhenlage der altisraelitischen Erzählungen da hervor, wo wir vergleichbares Sagen­ gut anderer Völker daneben zur Verfügung haben. Der biblische Schöpfungsbericht 1. Mose 1, der daö bildhaft Sagenhafte überhaupt abgestreift hat, fällt auö jedem Vergleich mit anderen Schöpfungs­ sagen heraus; aber auch die bildhafteren Erzählungen, wie etwa der Bericht von der Sintflut (1. Mose 6 — 8), sind zum Beispiel mit babylonischem Sagengut, das sich auf den gleichen Gegenstand bezieht, inhaltlich unvergleichbar. Hier ein Göttergewimmel im Kampf mit Ungeheuern und Dämonen, mit besonderen gottverwandten Menschenlieblingen; dort der eine heilige Gott, der die Welt durch sein allmächtiges Wort ins Dasein ruft, damit die Menschen auf der Erde in seinem Dienst leben. Man merkt überall, wie die Beziehung auf den einen heiligen allmächtigen Gott in daS allgemein Mensch-

liche hineingewirkt und dem an sich gemeinsamen Stoff damit sein ganz eigenständiges Gepräge gegeben hat. Dabei ist aber die Darstellungsferm immer bildhaft unmittelbar. Gott redet, Gott erscheint, Gott handelt in anschaulichster, man möchte sagen greifbarer Weise,

wie eS der kindlich ursprünglichen Art der Menschen jener Frühzeit entsprach, wie eS deshalb heute noch die Kinder unmittelbar anspricht. Natürlich ist die Welt dieser kindlich ursprünglichen Menschen (denen eS keineswegs an Tiefe gefehlt hat!) von sogenannten Wundern voll. Das ist auf dieser Stufe die Form, in der der Mensch mit der Gott­ heit verkehrt und sich über sie seine Gedanken macht. — Mit dem Auftreten des Mose (1300?) rücken wir aus dem Vorgeschichtlichen in das Frügeschichtliche hinein; eö läßt sich, namentlich wenn man die geschichtlichen Nachwirkungen mit in Betracht zieht, das Wesent­ liche deS geschichtlichen Werkes Mose mit großer Sicherheit heraus­ stellen. Aber die Form der Überlieferung bleibt noch immer die

sagenhaft ursprüngliche, wenn auch der geschichtliche Kern sich mit zunehmender Bestimmtheit herausarbeiten läßt. Bis über die Zeit Davids hinweg (um 1000 v. Chr.) ist die bildhaft gestaltende fromme Sage stark am Werk; ja bei den Propheten Elia und Elisa (9. Jahr­ hundert) ist die Legendenbildung noch einmal besonders lebhaft, so deutlich das geschichtliche Bild der beiden Männer vor uns steht. — Um so stärker fällt die ungeheure Nüchternheit auf, mit der die späteren großen Propheten von AmoS an (um 750) über das Ver­ hältnis Gottes zu Israel reden. Sie brauchen keinen sagenhaften Stil, keine sinnfälligen Wunder und Zeichen, um den Gott, von dem fie reden, dem Volk eindrücklich zu machen, sondern nichts anderes als den Ruf zur Buße, der die Menschen im Herzen und Gewiffen trifft. Nicht als ob Gott nicht mächtig wäre, seinen Willen durchzuführen: weil er über alles Macht hat, weil auch die fremden Völker, auch die mächtigsten, Werkzeuge in seiner Hand sind, braucht er jene Wunder und Zeichen nicht. Nur da und dort einmal, wie am Rande, tauchen noch vereinzelt Erzählungen besonders wunderhafter Art auf; aber der Hauptstrom läuft in anderem Bett. — Sehr wunderhaft ist die Geschichte des frommen Jünglings Daniel (Zeit der babylonischen Gefangenschaft) ausgestattet; man sieht hier die volkstümliche, er­ bauliche Erzählungskunst kräftig am Werk. In der erbaulichen Lehr­ erzählung vom Propheten Jona, auch einem späten sehr volkstüm­ lichen Buch, wird die wunderhafte Einkleidung des Gedankens, daß

der Mensch Gott nicht entrinnen kann, wenn dieser ihn zu etwas brauchen will, auf die Spitze getrieben: der, der Gott entfliehen wollte, wird im Bauch des Walfisches drei Tage für Gott aufgehoben. Ein

Vergleich dieser späteren, das Absonderliche absichtsvoll unterstrei­ chenden erbaulich phantasievollen Erzählungen mit den Gebilden ur­ sprünglich gestaltender frommer Schauung der Frühzeit fällt sehr zugunsten der letzteren auö. Hier drängt sich das Wundersame nie gefliffentlich auf, sondern es ist mit der bildhaften Schauung selbst unmittelbar gegeben. Aber auch jene späten Erzählungen sind ungemein volkstümlich geworden, weil das Handgreifliche des Eingreifens Gottes dem Wunsch und Bedürfnis des naiven Menschen besonders

entspricht. Bei den Menschen von heute ist die Unbefangenheit und Ur­ sprünglichkeit, mit der das Überlieferungsgut einer ursprünglich bild­ haft schaffenden frommen Zeit durch die Jahrhunderte hindurch­ getragen worden ist und vielen Tausenden tiefste Glaubenöerkenntnisie vermittelt hat, weithin stark erschüttert, ja, sie hat bei vielen stärkstem Mißtrauen Platz gemacht. Wir werden durch die Rücksicht darauf nicht gehindert, die in bildhafter Form an uns herantretenden tiefen Glaubensaussagen der alten Zeit auf uns wirken zu lassen, wo immer sie vernehmlich zu uns reden. Wir werden auch anderen behilflich sein, durch die bildhafte Form hindurch zu den darin eingekleideten tiefen Glaubensgedanken durchzudringen, so gut es möglich ist, ohne uns durch die verständnislose oder gar böswillige Kritik anderer darin irre machen zu lassen. Aber alles in lauterster Wahrhaftigkeit und geradsinniger Ehrlichkeit. Und mit Entschlossenheit werden wir in der Überlieferung des Alten Testaments die Linie verfolgen, auf der die

entscheidenden Gedanken der Gottesoffenbarung in Jsrael/Juda in ihrer vollen Klarheit, Hoheit, Herbheit und Härte, ohne das Reiz­ volle bildhaft frommer Einkleidung, zum Ausdruck und zur Geltung kommen, weil gerade sie zu dem harten, rücksichtslos ehrlichen Ge­ schlecht von heute zu reden geeignet sind. Deshalb wird das Wirken der kühnen Männer, die als Propheten der hehren, aber er­ barmungslosen Heiligkeit Gottes seit Mitte des 8. Jahrhunderts v. Chr. aufgetreten sind und uns ihre eigenen Schriften hinterlassen haben, also im hellen Licht der Geschichte vor unS stehen, uns in erster Linie

in Anspruch nehmen.

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Eger, Evangelischer Glaube

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Wir beginnen unsern Durchblick mit Mose. Auch die Gestalt des Mose steht noch tief im Vorgeschichtlichen, und der Bericht über ihn trägt reichlich sagenhafte (z. T. wunderbar tiefe, packende, manchmal aber auch absonderliche) Züge. Aber eö schält sich auch bei stärkster kritischer Sichtung aus dem Gerank des durch die Sage Verklärten ein sicherer geschichtlicher Kern heraus, der auch dadurch erprobt wird, daß er die ganze spätere Geschichte Israels allein verständlich macht. Und dieser Kern ist das Entscheidende. — Es ist Mose durch das Gottergriffene, Übermächtige seines Wesens und Wirkens im Zu­ sammenhang mit allerlei Führungen, durch die das Volk hindurch­ gegangen ist, gelungen, die später zum Volk Israel vereinigten hebräischen Stämme dem heiligen Willen Gottes (Mose verkündigt ihn unter dem Namen Jahve) zum unbedingten Gehorsam zu ver­ pflichten, unter Ausschluß jedes Dienstes anderer Götter neben diesem einen. — Daß Israel nur diesem einen Gott, im schlechthinnigen Gehorsam gegen seinen heiligen Willen, dienen darf und muß, unter­ scheidet seine Gottesverehrung von der der anderen Völker, die mehreren Göttern dienen, nicht etwa nur der Zahl, sondern der Art nach. Hat man mehrere Götter, so kann man sich von einem zum andern wenden, wenn das aus irgendeinem einleuchtenden Grunde möglich und nützlich erscheint. Dem Anspruch des einen Gottes kann man sich nur so entziehen, daß man gegen ihn frevelt — wodurch man seinem Zorn verfällt. Der Unbedingtheit des Anspruchs entspricht die Festigkeit der Zusage des herrschgewaltigen GotteS: „Ich will mit euch sein!" Doch darf der Gehorsam keineswegs vom Eintreten der göttlichen Hilfe abhängig gemacht werden. Er muß geleistet werden ohne „Wenn" und „Aber". Gott selbst hat zu bestimmen, wann und wo und wie er helfen will. Man spürt geradezu körperlich, waS für eine ungeheure Spannung und Bewegtheit das Offenbarwerden dieses Gottes zunächst in der Geschichte des für ihn in Anspruch genommenen Volkes, dann aber weiterhin in der Geschichte der Menschheit überhaupt bewirken mußte. Die Menschen, denen diese Offenbarung GotteS bezeugt wird, hören ja damit nicht auf, aus natürlichem Trieb vor allem auf ihr eigenes Wohlsein und Wohlergehen bedacht zu sein. Dabei haben sie selbst­ verständlich, weil sie von Natur aus auf das Leben in der Gemein­ schaft angelegt sind, mehr oder weniger stark auch altruistische Regungen, daß sie bis zur Selbstaufopferung für andere (Mutter und

Kind!) helfen können und wollen; sie möchten auch gut sein, weil ihr Gewissen sie unruhig macht, wenn sie etwas Schlechtes und Gemeines tun. Aber die unbedingte Bindung an das, was der heilige Gott als gut von ihm verlangt, über alle Rücksicht auf den eigenen Vorteil und die eigene Bequemlichkeit hinweg — das liegt dem Menschen, wie er von Natur ist, gar nicht. Während anderseits die Tatsache, daß Menschen auf diesen unbedingten Anspruch Gottes hören können, eine Fähigkeit des Menschen enthüllt, die ihn als etwas völlig anderes erscheinen läßt, als bloß ein mit besonderen Gaben der Klugheit usw. auSgestatteteS Tierwesen. — Dazu kommt, daß diese Offenbarung Gottes als des heiligen allmächtigen Guten nicht für ein paar Aus­ erlesene gilt, die sich vom Lärm des gemeinen Lebens zurückziehen und ihre Beziehung zu Gott in ruhiger Erhabenheit über die blöde Masse pflegen können. Mose hat das Volk zu Gott gerufen und die Ord­ nungen des Gottesdienstes, des Rechts und der Sitte als Gesetze im Namen Gottes in das Leben des Volkes hineingestellt. So ist der Glaube an die Offenbarung Gottes als des heiligen guten Allmächtigen zum bestimmenden Element der Religion Israels geworden. Wir wissen von früher, daß es bei der Be­ ziehung der Menschen zur Gottheit ohne menschliche Einrichtungen, Bräuche, Lehren zur Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Be­ ziehung nicht abgeht. Je urwüchsiger und unentwickelter der allgemeine Kulturstand eines Volkes ist, desto urwüchsiger sind auch die Formen, in denen die Gottesbeziehung eingebettet ist und gepflegt wird. Die israelitischen Stämme — zu einem Volk wurden sie erst durch die Bindung an Jahve zusammengeschweißt — standen aber, als Mose sein Werk an ihnen tat, noch auf sehr unentwickelter Kulturstufe. So ist es selbstverständlich, daß die unerbittliche Bindung an den Willen JahveS sich auch in entsprechend urwüchsigen, für unser Empfinden manchmal befremdlichen Formen äußert. Es heißt elemen­ tare Gesetze geschichtlichen Werdens verkennen, wenn man an dieser Seite der Sache hängen bleibt und die Tatsache, daß die Mose auf­ gegangene Gottesoffenbarung in diese Kulturlage hat hineinwirken müssen, der Offenbarung selbst zu Lasten schreibt. Sie hat auch sehr stark in die Kultur umgestaltend hineingewirkt; das konnte aber nur allmählich geschehen. Aber ohne Schaden für das Verständnis und für das Wirksam­ werden der Gottesoffenbarung selbst ist es bei der geschichtlichen Ein-

Bettung der Offenbarung in die Religion Israels selbstverständlich nicht abgegangen. Jede Pflege von „Heiligem" durch Menschen bringt die ungeheure Gefahr mit sich, daß der Mensch daö Heilige, auch den heiligen guten, allmächtigen Gott, seinen eigenen Bedürfniffen anpaßt, ihn zum Werkzeug seiner Zwecke macht, durch ihn für sich etwas zu gewinnen sucht. Ich meine hier nicht die groben Formen solchen selbst­ süchtigen Verkehrs mit Gott, priesterlicher Herrschsucht, religiöser Heuchelei, die auch den Menschen in die Augen fallen und ihnen wider­ wärtig sind. Ich meine die für redliche Menschen viel gefährlicheren Fälle, wo der Mensch sich dessen gar nicht klar bewußt wird, daß er sein Verhältnis zu Gott, auch seine Gedanken über Gott, nach den eigenen Wünschen gestaltet und dies von ihm selbst Gestaltete oder Umgestaltete mit der Würde des Gottgewollten bekleidet. Hier liegt der Grund, warum in der Geschichte der alttestamentlichen Religion neben den Priestern, die außer der Besorgung der Opfer usw. die fromme Überlieferung von den Vätern her weiterzutragen hatten, die Propheten eine so maßgebende Rolle spielen, die ihre Hörer un­ mittelbar vor den heiligen allmächtigen, guten Gott stellen mit seiner unentrinnbaren Forderung, seinem unbedingten Anspruch. Leider müssen wir uns mit Andeutungen begnügen. Was ge­

schichtlich einigermaßen genauer festzustellen ist, bezieht sich naturgemäß auf die Zeit, wo Israel zur Bildung eines Staates im Land Kanaan gekommen war. Die Errichtung und Befestigung des Königtums in Israel ist wesentlich das Werk Davids. David muß auch rein politisch angesehen etwas ganz Ungewöhnliches gewesen sein. Daß er in der biblischen Überlieferung wesentlich als der Inbegriff des

frommen Königs nach dem Herzen Gottes erscheint, ist sicher nicht bloß auf Rechnung dessen zu schreiben, daß das dieser Überlieferung die Hauptsache war. David war gewiß kein Heiliger, und auch die Bibel schildert ihn keineswegs als solchen, aber offenbar ein Mann, dem es sehr ernsthaft um Gott zu tun war. Den Bau des Tempels in Jerusalem, den nachher sein Sohn Salomo durchführte, hat er sicher nicht bloß aus religionspolitischen Gründen geplant. — Setzen wir Saul, David, Salomo um das Jahr 1000 v. Chr. herum, bis 932, dann von der Teilung des Reiches in zwei kleine Kleinstaaten (besonders daö Reich Juda war ein ausgesprochener Miniaturstaat) für das Teilreich Israel 200 Jahre (932 — 722), für das Teilreich Juda rund 340 Jahre (932 -597 bzw. 586), so springt rein zahlen-

mäßig in die Augen, daß der Schwerpunkt der Geschichte von Jsrael/Iuda, von der das Alte Testament berichtet, nicht in den dabei

erzielten politischen Ergebniffen liegt, die wesentlich negativer Art sind. Daö Reich Jsrael/Iuda ist nicht nur klein, sondern wegen seiner Lage zwischen mächtigeren Nachbarn auch immer sehr gebrechlich und in seinem Bestand gefährdet gewesen. Aber gerade durch die Unsicher­ heit seiner politischen Existenz ist dem Volke eingehämmert worden, daß ihm ein besonderer Auftrag auferlegt war: dem Gott, dem es gehörte, zu dienen nach seinem heiligen Willen und Gebot. Als Ahab (875), ein unter politischem und kriegerischem Gesichtspunkt sehr tüchtiger König, die Verbindung mit dem mächtigen TyruS dadurch festigen wollte, daß er die Verehrung des tyrischen Baal, dem seine Frau Jsebel als tyrische Prinzessin diente, auch in Israel (neben der Verehrung Jahves) gestattete, hat sich Elia mit der ganzen un­ gestümen Wucht seines kompromißlosen ProphetentumS dem entgegen­ geworfen und hat Jahve die Treue gehalten, auch als er ihm als aus dem Land gejagter Flüchtling am Horeb die verzweifelte Frage des Warum? ins Gesicht schleuderte. Er bleibt Gottes eigen, auch als dieser ihm auf die Frage nach dem Warum? keine andere Antwort gibt als die der abgrundtiefen Stille, in der er nach dem Toben des Wettersturms an ihm vorübergeht. (1 Kön. 19.) 100 Jahre später (um 750) ist dann der Prophet aufgetreten, der das, was das Verhältnis Gottes zu Israel bestimmt, in voller Klar­ heit, aber eben deshalb in fürchterlichstem Ernst auszusprechen vermag: Amos. Wir wissen von Amos äußerlich gar nichts, als daß er ein Rinderhirt und Feigenzüchter aus einem kleinen Landort in Juda war und daß er bei einem Fest in Bethel alle in starren Schrecken versetzt hat. Wir wissen nur, was er dem Volk und seinen Priestern in Gottes Namen zu sagen hatte. Das ist aber wesentlich zweierlei: Der Sinn der Erwählung Israels durch Jahve ist, daß eö ihm da­ durch vor andern Völkern verpflichtet ist, nicht daß es dadurch etwas vor den andern Völkern voraus hätte. (AmoS 3, 2.) Und: Gott will keinen Dienst rauschender Opferfeste usw. haben, sondern nichts anderes als die Übung von Recht und Gerechtigkeit. Gutes tun und das Böse lassen und Haffen — dann und nur dann will Gott mit ihnen sein. Weil sie Unrecht tun und den Armen unterdrücken, ist eS Torheit, den „Tag Jahves" herbeizuwünschen. Der Tag Jahves wird für sie nichts anderes sein als der Tag des Gerichts. (Amos 5 — 8.)

Im Namen Gottes das Gericht über das Volk dieses Gottes — nur weil wir das von klein auf in der Biblischen Geschichte gelesen haben, fällt unö das Ungeheure dieses Satzes so wenig auf. Jahve und Israel gehören nicht naturhaft zusammen, etwa wegen besonderer Vorzüge dieses Volkes, so daß Gott dazu da wäre, die natürlichen Interessen des Volkes zu wahren. So ist eö beim heidnischen Ver­ hältnis zu den Landesgöttern, und deshalb ist hier der politische Nieder­ gang eines Volkes das Zeichen dafür, daß seine Götter schwächer sind als die des mächtigeren Volkes. Dagegen erscheint die heilige Macht Jahves als des Gottes des Rechts und der Gerechtigkeit im Unter­ gang des rechtsbrecherischen Volkes nur um so gewaltiger. Im Propheten Iesaia (berufen 740; wir haben den auf ihn selbst zurückgehenden ungemein eindrucksvollen Bericht von seiner Berufung zum Prophetenamt im Tempel von Jerusalem Jes. 6) haben wir auch zunächst den Bußprediger im Sinn der Verkündigung des Amos. (Jes. 1. 5.) Aber von vornherein mit stärkerem Einschlag der Hoff­ nung, daß ein „Rest" zum Gehorsam gegen Gott zurückkehren und gerettet werden wird. Iesaia war ein vornehmer Mann, vielleicht ein Prinz aus dem königlichen Hause Davids, und hat mehr als 40 Jahre, bis nach der Jahrhundertwende, die Geschichte Jsrael/JudaS (seit

722 bloß JudaS) mit seinem prophetischen Wirken begleitet. Er hat Einfluß auf den König HiSkia gehabt und diesen Einfluß (ohne Er­ folg) dafür eingesetzt, daß Juda im Vertrauen auf Jahve allein sich dem Machtkampf zwischen den Großmächten Assyrien (dessen Vasallen­ staat Juda geworden war) und Ägypten fernhielt. (Im Stillehalten und Vertrauen liegt eure Kraft ^Jes. 30, 13]. Vgl. auch schon Jes. 7,9: Glaubet ihr nicht, so bleibt ihr nicht.) DaS will nicht im Sinn kluger Einsicht in die politische Lage gewertet werden: Juda soll sich

nicht auf außenpolitische Machenschaften einlassen, nicht weil eö sie bei der Kleinheit des Staates doch nicht erfolgreich durchführen kann, sondern weil sein Beruf anderöwo zu suchen ist, im Dienst JahveS, des Heiligen in Israel. JesaiaS Vertrauen auf Jahve hat dann eine glänzende äußere Bestätigung dadurch erhalten, daß der Assyrerkönig die Belagerung von Jerusalem, zu der er wegen des Abfalls HiSkiaS geschritten war, wegen einer in seinem Heer ausgebrochenen Seuche unverrichteter Sache aufheben mußte (701). Das hatte freilich zur Folge, daß sich in Juda die Überzeugung festsetzte, Jerusalem als

Stadt des Tempels Jahves könne nicht zugrunde gehen. Bei Iesaia

selbst hat die Zuversicht zur Bewahrung Jerusalems im Vertrauen auf die Allmacht Gottes nicht diese äußerlich politische Färbung ge­ habt, sondern ist rein im Gebiet deö Glaubens geblieben. Auch das, was er hoffend von dem herrlichen Reich des Friedens und der Ge­ rechtigkeit unter dem Sproß aus dem Hause Davids zu sagen weiß, trägt nicht den Charakter nationalpolitischer Hoffnung (Jes. 9. 11). DaS Wirken IesaiaS ist dadurch von besonderer geschichtlicher Bedeutung geworden, daß der Grundgedanke seiner prophetischen Verkündigung: der gläubige Gehorsam gegen Jahve ist allein JudaS Heil, der Ungehorsam gegen ihn das Verderben, bei vielen gezündet hat auch unter den Priestern, den berufsmäßigen Wahrern des Gottes­ dienstes und des gottgewollten Rechts. Es entstand eine prophetische Partei, die in dem — offenbar an Märtyrern reichen — Abwehr­ kampf gegen die Maßnahmen von HiSkiaS Nachfolger Manaffe (691 bis 638) fest zusammengeschweißt und innerlich gestählt wurde. Nach der Thronbesteigung von ManasseS Enkel Josta (636 — 608, bei der Thronbesteigung 8 Jahre alt) haben dann die Männer der prophetischen Partei zielbewußt daran gearbeitet, den Gottes­

dienst von heidnischen Greueln zu säubern und das Recht Jahves im Sinn der Propheten zur Geltung zu bringen. Ja, 622 hat unter ihrem Einfluß der junge König Josia (auf Grund der Auffindung einer Sammlung von Gesetzen, die unter die Autorität des Mose gestellt war — 5. Mos. 12-26) sich im Namen des ganzen Vol­ kes in feierlicher Bundesschließung vor Jahve zur Beobachtung der Vorschriften der aufgefundenen Gesetze verpflichtet und den bis­ herigen Gottesdienst gründlich und z. T. recht gewalttätig reformiert. (2. Kön. 22. 23.) Aber prophetische Verkündigung kann nicht zur Grundlage von gesetzlichen Vorschriften und Verpflichtungen gemacht werden, ohne in ihrem Wesen beeinträchtigt zu werden. Der Gehorsam gegen Jahve wird zur peinlichen Beobachtung von Gesetzesvorschriften, die Verheißung des Heils wird zur Erwartung des Lohnes, der der ge­ wissenhaften Beobachtung des Gesetzes gebührt. Josia selber ist das Opfer dieser gesetzlichen Veräußerlichung der prophetischen Verkün­ digung geworden. Im Vertrauen auf Jahveö Beistand, dessen er wegen seiner untadeligen Gesetzestreue gewiß war, ist er bei Megiddo 608 dem übermächtigen Pharao Necho von Ägypten entgegengetreten

und hat in der Schlacht den Tod gefunden.

Der Endkampf der großen Propheten der heiligen Allmacht, Ge­ rechtigkeit und Güte Gottes gegen die Unbußfertigkeit des Volkes und seiner Führer ist verkörpert in der Person und im Wirken des ProphetenIeremia (wirkt von 626 bis etwa 580). Er ist zugleich der unter den Propheten, der uns durch das, was wir von seinen Kämpfen und Schicksalen erfahren, menschlich am meisten nahegerückt ist. Schon seine Berufung zum Prophetendienst, gegen die er sich sträubt („ich bin zu jung"), ist von ungeheurer dramatischer Lebendigkeit und Wucht. (Jer. 1, 4— 19.) Er hat durch all die Einsamkeit und erbitterte Gegnerschaft hindurchgehen müssen, die dem zuteil zu werden pflegt, der den Menschen ein Höchstes zu bringen hat, das sie aus ihrer All­ täglichkeit aufscheucht, aus der sie nicht herauswollen. Man höre die Klage (Jer. 20, 7ff.): „Herr, du hast mich überredet, und ich habe

mich überreden lassen. Du bist mir zu stark geworden und hast ge­ wonnen. Aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jeder­ mann verlacht mich. Da dachte ich: wohlan, ich will seiner nicht mehr gedenken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es war in meinem Herzen, wie ein brennend Feuer in meinen Gebeinen ver­ schlossen, daß ich es nicht ertragen konnte, und war schier vergangen." Der Gegensatz gegen alle um ihn her kommt auf seinen Höhepunkt, wie er dem Volke sagen muß, daß auch der heilige Tempel sie nicht vor dem Gericht retten kann, wenn sie von ihrem bösen Leben und Wesen nicht lassen, als Diebe, Mörder, Ehebrecher, Meineidige und Götzendiener. Es gibt kein anderes Band mit Gott, als das Rechte tun und das Unrecht lassen. (Jer. 7, 1 — 15.) Sehr merkwürdig ist, daß man Ieremia auf diesen unerhörten Angriff gegen den aller­ heiligsten Tempel nicht zum Tod zu verurteilen wagt, weil er im Namen Jahves geredet habe. (Jer. 26, 16.) — Ieremia hat auch das Furchtbarste, den Untergang Jerusalems und die Wegführung des Volkes in die Verbannung, überlebt, hat den Kelch der Leiden bis auf die Neige auStrinken müssen. Irgendwo in Ägypten, wohin ihn

vor der Rache der Babylonier flüchtende aufständische Volksgenossen mitgeschleppt hatten, ist er gestorben. Ieremia hat sein Volk heiß geliebt, trotz deS Unheils, das er ihm verkündigen mußte, ja gerade wegen der Notwendigkeit, ihm dies Unheil zu künden. „Ach, daß ich Wasser genug hätte in meinem Haupt, und meine Augen Tränenquellen wären, daß ich Tag und Nacht beweinen möchte die Erschlagenen in meinem Volk!" (Jer.9,1.)

Aber in das Grauen des Unterganges und der Zerstörung fällt der Strahl der Hoffnung; denn Gott straft nicht rachsüchtig zur Ver­ nichtung, sondern heilsam zur Umkehr und zur Besserung. „Ich weiß wohl, was für Gedanken ich über euch habe, Gedanken des Friedens und nicht des Leides, um euch eine Zukunft und Hoffnung zu ge­ währen. Denn so ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen." (Ier. 29, 11. 13.) Und in der Ferne steht er den Neuen Bund, wo sie Gott nicht mehr auö Angst und Zwang gehorchen, wo Gottes Gesetz ihnen inS Herz geschrieben ist und ihre Schuld vergeben. (Ier. 31,31 —34.) Wir haben Belege dafür, daß Ieremia nicht ohne Verbindung mit den nach Babylonien Weggeführten geblieben ist. Unter diesen wirkt auch schon als Vertreter prophetischer Frömmigkeit der bereits 597 mit weggeführte Priester Hesekiel. DaS Gedankenerbe der Propheten blieb so in der Verbannung unter den Juden bewahrt, ja unter der furchtbaren Bekräftigung durch das tatsächliche Herein­ brechen des von den Propheten angekündigten Gerichts wurde es erst recht lebendig. Die Frommen unter den Juden fühlten sich jetzt erst recht verpflichtet, dem Gott, der sich so furchtbar als Herr der Ge­ schichte der Völker erwiesen hatte, den Gehorsam zu halten. Und ihr Einfluß auch auf die weltförmigeren Volksgenossen war so stark, daß auch diese sich der Bindung an den Gott des Gerichts und der Ver­ heißung nicht zu entziehen wagten. So bildet sich jetzt die Judenschaft als religiöse Gemeinschaft auf völkischer Grundlage, die mitten im fremden Land und Volk ihr eigenes religiöö-volklicheS Sonder­ leben führt. Ein entsetzliches Schicksal für die davon Betroffenen, die nirgends wirklich zu Hause sind. Denn zu gesundem Volkstum gehört der Boden, auf dem es seine Heimat hat. Zugleich eine ver­ hängnisvolle Verbiegung und Verkehrung des Gedankens der Offen­ barung des heiligen allmächtigen, guten Gottes, die diesen heiligen allmächtigen, guten Gott, im Widerspruch gegen die Predigt der Pro­ pheten, zum Sondergott eines bestimmten Volkstums macht. Zunächst gelangt ein Teil der Judenschaft, und zwar der religiös lebendigste, noch einmal dazu, auf dem Boden der alten Heimat, in und um Jerusalem, ein eigenes Gemeinwesen zu gründen. Dieses war zwar staatspolitisch völlig unter der Hoheit der Perser und ihrer politischen Nachfolger — später kam eine kurze Zeit der Selbständig­ keit und dann die Herrschaft der Römer —; aber eS wurde ihm

religionö- und kulturpolitisch von den politischen Machthabern große Selbständigkeit gelassen. Das war die jüdische Gemeinde mit dem Tempel in Jerusalem als ihrem religiösen Mittelpunkt, dem Hohenpriester als ihrem geistlichen Oberhaupt und mit ihrem Schrift­ gelehrtentum und ihrem Synagogenwesen als den Trägern der religiös­ sittlichen Erziehung und Führung des Volkes. Hier ist noch einiges für das Verständnis des Alten Testaments herauszustellen. Am Anfang treten noch einzelne als Propheten auf, aber das sind mehr Nachklänge. Im allgemeinen gilt mit etwa 500 v. Chr. die Zeit der Propheten als abgeschlossen: man hat die Bücher, in denen ihre Verkündigung und Weissagung geschrieben steht, und die es zu studieren gilt. Nur ganz an der Schwelle des neuen Zeitraums steht ein Mann, der die Befreiung aus der Gefangenschaft (durch den König Kyros von Persien) und die Rückkehr zur Heiligen Stadt mit Klängen prophetischer Höhenlage begrüßt*). Er ist wahrscheinlich auch der Dichter der wunderbaren Lieder vom Knecht Gottes, in denen die Christenheit von Anfang an eine Weissagung auf den gefunden hat, der durch sein Leiden und Sterben die Erlösung bringt. (Be­ sonders Jes. 53?) Die Botschaft des 2. Jesaia ist ganz auf den Ton erfahrener Errettung und hoffender Verheißung gestimmt. Auch ist daö Buch ganz frei von engem jüdischem Geist. Der Perserkönig Kyros (hebräisch: Koresch), als der zum Befreier Erkorene, wird un­ bedenklich Jahves Gesalbter genannt. (Jes. 45, 1.) Wohl ist Israel Jahves auserkorenes — aber wegen seiner Missetaten hart gezüch­ tigtes — Volk, das er errettet hat, dessen Hilfe und Trost er ist, das den andern Völkern das Licht des Rechts und der Wahrheit Gottes zu bringen berufen ist. (Jes. 42, 1.) Aber das alles ohne jeden Ein­ schlag von Überheblichkeit und ohne partikularistische Abkapselung.

Gott hat endgültig alle Züge eines Gottes eines einzelnen Volkes neben den Göttern anderer Völker verloren. Er ist der Gott des Himmels und der, der die Erde geschaffen hat, und was die Heiden für Götter halten und als solche anbeten, sind Nichtse, Holz und Stein und Erz. (Besonders Jes. 40, 12 — 31; 41.) Das Verhältnis i) Das Buch des großen Unbekannten steht Jes. 40 — 55. Deshalb heißt

man ihn den zweiten Jesaia. Man hat im Buch Jesaia noch andere Prophetenworte zu den Worten des alten, großen Jesaia hinzu ausgenommen, so daß das Buch ein Sammelbecken von Prophetenworten verschiedener Her­ kunft geworden ist.

der Gläubigen zu dem Heiligen, Allmächtigen, Gütigen ist restloses Vertrauen. „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen, daß sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen." (Jes. 49, 15.) Die Hauptlinie des geschichtlichen Werdegangs der jüdischen Ge­ meinde verläuft in der Linie der immer stärkeren Vergesetzlichung des Verhältnisses zu Gott, deren Anfänge wir schon bei Josia be­ obachtet hatten. Nur wird die Linie jetzt weiter ausgezogen mit recht bedenklichen Folgen für das Verständnis der Beziehungen zwischen Gott und Mensch. Die alten Propheten hatten dem Volk mit dem Gericht gedroht und dem sich bekehrenden Volk Heil verheißen. Jetzt in der Fremde wurde jeder einzelne vor die Entscheidung gestellt, ob er Gott gehorchen will oder nicht. Dementsprechend traf jetzt auch die Drohung und Verheißung Gottes den einzelnen. Soweit ist das ein in der veränderten Lage wohl begründeter Gedankenfortschritt gegenüber dem Früheren. Aber nun kommt das Verhängnisvolle: Lohn und Strafe Gottes werden darin gefunden, daß eö einem äußerlich gut oder schlecht geht, und weil man aus dem Gesetz genau weiß, was man vor Gott zu tun hat, so kann man sein Leben so führen, daß man* sich den Lohn GotteS in Gestalt eines äußerlich glücklichen Lebens verdienen kann. So tritt an die Stelle des Gehorsams gegen Gott der Gehorsam gegen das Gesetz mit seinen einzelnen Forderungen, deren sorgfältige Erfüllung einen Anspruch an Gott begründet, der ihn, sowenig man die unermeßliche Überlegenheit Gottes vergißt, doch schließlich mit unö insofern auf eine Ebene stellt, als wir mit ihm abrechnen können. Gottes Tun mit uns wird berechenbar, und wenn dann sein Tun nicht dem entspricht, was der Mensch auf Grund seiner treuen Gesetzeserfüllung sich ausgerechnet hat, dann kommt die Rat­ losigkeit bis zum Irrewerden an Gottes Gerechtigkeit, wenn nicht gar an Gott selbst. Gott aber ist viel zu groß und erhaben, als daß wir mit ihm rechnen könnten, und dazu steckt noch in der Rechnung ein grundlegender Fehler, weil kurzerhand der Lohn Gottes im äußeren

Glück, die Strafe Gottes im äußeren Unglück gefunden wird. Und die Tatsachen des wirklichen Lebens schlagen der Behauptung, daß es dem Frommen äußerlich gut gehe, dem Gottlosen äußerlich schlecht, auf Schritt und Tritt ins Gesicht. Man kann wohl diese Betrachtung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott im Sinn einer äußerlich gefaßten Vergeltungslehre das eigentümliche Jüdische — im Gegen-

satz zum Offenbarungsmäßigen — an der jüdischen Frömmigkeit nennen. Aber man darf nicht vergessen, daß diese „jüdische" Ver­ biegung der Offenbarung des heiligen gerechten Gottes etwas ist, was Menschen aller Rassen in ihrem Verkehr mit Gott zu begehen von Natur geneigt sind, und daß Millionen zu allen Zeiten sich daran zermartert haben, daß Gott, der doch gerecht sein soll, eS ihnen ganz anders ergehen läßt, als es ihren Maßstäben von Gerechtigkeit ent­ spricht: Womit habe ich das verdient? Wir werden später sehen, was Jesus darüber zu sagen hat. Der ganze Ansatz ist falsch und im Wider­ spruch mit dem, waS Gottes Gerechtigkeit in Wahrheit ist und mtt1). Die wirklich Frommen in der jüdischen Gemeinde haben selbst­ verständlich viel zu stark unter der Gewalt der heiligen Hoheit Gottes gestanden, um zu selbstbewußter Rechthaberei gegenüber Gottes Schicksalsführung geneigt zu sein. Sie fragen ihn oft: Warum? Aber bezeichnenderweise macht ihnen das Glück der offensichtlich Gottlosen mehr zu schaffen als das eigene Unglück. Sie fügen sich auch der unverstandenen Schickung Gottes, schweren Herzens, aber doch nicht bloß in stumpfer Ergebung. Eine wichtige Rolle spielt für Aufrecht­ erhaltung ihres Gottglaubens die Erwägung, daß Gott den Frommen das Unglück zur Prüfung und Bewährung auflegt. Auch hat den aufrichtig Frommen gerade das Unglück Anlaß gegeben, nach den verborgenen Fehlern bei sich zu forschen (Psalm 19, 13), sie also zur Vertiefung der Selbstprüfung getrieben. Und ganz auf die Höhe kommt der Sänger des 73. Psalms, dem Gott selbst erst recht alles wird, wenn alles um ihn her im Dunkeln liegt: „Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du, Gott, doch allezeit meines Herzens Trost und mein Teil." (Psalm 73, 23 — 26.) So ist bei den wirklich für Gott Offenen die Schädigung der Beziehung zu Gott durch die äußerliche Vergeltungslehre nicht allzu groß geworden, und manche haben sie ganz überwunden. Aber gelitten haben auch sie darunter, und Ungezählte sind durch sie an Gott irre geworden wie !) Das Buch Hiob zeigt die Not, in die der jüdische Fromme durch die äußerliche Vergeltungslehre gerät, in erschütterndster Gestalt. Es weist auch den Weg, auf dem ihr auf dem Boden des Alten Testaments allein begegnet werden kann. Es ist die Beugung vor Gottes unermeßlicher und undurch­ dringlicher Macht und Größe, die Hiob sich angemaßt hat, verstehen zu wollen. „Darum gebe ich mich schuldig und tue Buße in Sack und Asche." (Hiob 42,6.)

Hiobs Frau: „Gib Gott den Abschied und stirb!" (Hiob 2, 9.) Auch hat es nicht an selbstgerechten Klüglingen gefehlt, die dem, der im

Unglück saß, vorrechneten, durch wie großes Unrecht er sein großes Unglück verdient haben müsse — so machen eS Hiobs Freunde —, und an selbstzufriedenen Oberflächlingen, wie uns Jesus einen in der Ge­ stalt des Pharisäers im Tempel zeichnet. (Luk. 18, 11.12.) Es ist noch etwas in der Zeit der jüdischen Gemeinde geworden, was über die Gedankenwelt der prophetischen Zeit hinausführt, wenn es auch mit gewissen Zügen der prophetischen Verkündigung zusammen­ hängt. Die Propheten hatten nach dem Einbrechen des Gerichts eine Zeit des Heils erwartet, in der Gottes Wille in Israel vollkommen herrschen werde, ein Reich deS Friedens und der Seligkeit. Der sog. zweite Jesaia hat, wie eS scheint, zeitweise die Hoffnung gehabt, daß diese herrliche Zeit der Gerechtigkeit und deS Friedens mit der Rückkehr nach Jerusalem anbrechen werde. (Jes. 40; 43.) Aber das war ein Traum, dem die tatsächlichen Verhältnisse der Zurück­ gekehrten gar nicht entsprachen. Je bescheidener, gedrückter die Ver­ hältnisse waren, unter denen man leben mußte, während man sich um die Beobachtung deS göttlichen Gesetzes mühte und an den Ver­ heißungen der Propheten erquickte, desto mehr hielt der Gedanke des Jenseits und des Durchbruchs der Herrschaft Gottes vom Jenseits her seinen Einzug in die Judenheit. Wahrscheinlich unter dem Ein­ fluß persischer Glaubensvorstellungen, die aber deshalb so leicht und allgemein Boden fanden, weil eine gewisse sachliche Verwandtschaft vorlag. Die persische Religion deS Zarathustra trug auch prophetisches Gepräge; auch in ihr handelte es sich um die Durchsetzung von Recht, Wahrheit und Gerechtigkeit, wenn auch in Form eines Kampfes zwischen dem guten, göttlichen Prinzip und bösen Geistermächten. Je nachdem das Gute oder das Böse beim Menschen zu Lebzeiten über­ wogen hat, wird über seine Seele nach dem Tod Gericht gehalten. Dem Eindringen dieses Gedankens waren durch das Einwurzeln der früher beschriebenen äußerlichen Vergeltungslehre im Judentum die Wege geebnet. In der Verkündigung der alten Propheten hatte der Gedanke an die Herrschaft Gottes über das Volk so sehr im Vorder­ grund gestanden, daß die Gestaltung deS Schicksals des einzelnen darüber durchaus in den Hintergrund trat, und daß die Frage nach der Gestaltung dieses Schicksals des einzelnen über den Tod hinaus überhaupt nicht aufbricht. Wohl dachte man im alten Israel die Ab-

geschiedenen keineswegs als einfach ausgelöscht — daß die Abgeschie­ denen irgendwo weiterexistieren, ist, wie wir gesehen haben, uralter Menschheitsglaube. Aber mit Gott bringt man die zur Unterwelt Hinabgestiegenen im alten Israel überhaupt nicht in Verbindung. DaS ändert sich jetzt, wo der Gedanke an die sittliche Verantwortung und die sittliche Leistung des einzelnen vor Gott so stark betont wurde. Jetzt bietet sich die Möglichkeit, scheinbare Ungerechtigkeiten deS Erden­ schicksals im Jenseits auszugleichen, wo der Mensch nach vollster Ge­ rechtigkeit die Frucht seiner Werke effen wird, sie seien gut oder böse. Wir werden uns mit dem Gedanken der Vergeltung Gottes im Jen­ seits später noch auseinandersetzen müssen — hier handelt es sich um das Eindringen dieses Gedankens in die jüdische Glaubenswelt. In den im Alten Testament aufgenommenen Schriften findet er sich erst in ganz vereinzelten Spuren (besonders Daniel 12, 2; Daniel ist ein ganz spätes Buch, um 160 v. Chr.). Zur Zeit Jesu ist er aber ganz allgemein verbreitet, allerdings von den sog. Sadduzäern abgelehnt. Dabei hat deutlich nicht der Gedanke die Führung, daß erst in der Ewigkeit der Mensch zu vollendetem Glück gelange, vielmehr der der unbedingt gerechten sittlichen Vergeltung, die mit dem pro­ phetischen Gedanken der Vollendung der Herrschaft Gottes in ver­ schiedenen Formen zusammengedacht wird.

* Wir müssen uns noch fragen, was nach dem bisher Dargelegten das Alte Testament für uns Christen von heute noch neben dem Neuen Testament als Buch der Offenbarung Gottes zu bedeuten hat. Es ist klar, daß die Beziehung Jahve/Israel in der prophetischen

Linie Mose-Jeremia eine Beanspruchung deS Volkes durch Gott bedeutet, eine Erwählung zur Bewährung, nicht eine Erwählung um besonderer völkischer Verdienste und Werte willen. Wohl vollzieht sich die prophetische Verkündigung auf dem Boden deS israelitischen VolkStumö, weil sie ohne solchen Boden gar nicht hätte ausgesprochen und vernommen werden können, da es keine Menschen an sich gibt, sondern immer nur Menschen als Glieder einer gegebenen naturhaft geschichtlichen Gemeinschaft. Aber überall tritt die Sonderart der Offenbarung gegenüber der Umwelt und dem Stoff, in der und an dem sie wirksam wird, mehr oder weniger deutlich heraus. Am hand­ greiflichsten darin, daß die Verkündigung der Propheten in der An-

kündigung deö Gerichts über das halsstarrige und unbußfertige Volk gipfelt, von dem nur ein Rest durchs Gericht hindurch Rettung finden wird. Man hat nicht ohne Grund gesagt, daß es keine schärferen Gegner des israelitischen Volkes in seinem naturhaften Sosein ge­ geben hat als die Propheten. In der jüdischen Gemeinde nach der babylonischen Gefangenschaft rückt, wie wir gesehen haben, das Volkliche und daS Religiöse, das sich auf Gottes Offenbarung stützt und beruft, so eng aneinander und verbindet sich so sehr miteinander, daß daö Offenbarungsmäßige selbst durch das Volksmäßige stark beeinflußt und gefärbt wird. So daß sich dagegen gerade von der prophetischen Gottesoffenbarung aus schon in Johannes dem Täufer der schärfste Widerspruch erhebt, der in Jesus und seinem Gang zum Kreuz gipfelt. Doch ist auch in der jüdischen Gemeinde die Stimme der Offenbarung nicht verstummt und hat die Menschen in ihrem Herzen und Gewissen unter den Gott der Offenbarung gestellt, so daß auch aus ihr Klänge der Offenbarung des heiligen guten, allmächtigen Gottes wirksam zu uns reden. (Be­ sonders in den Psalmen!) Jesus weiß sich als den, der nicht gekommen ist, Mose und die Propheten aufzulösen, sondern die von ihnen gebrachte Gottesoffenbarung zu erfüllen, d. h. zu vollenden. (Matth. 5, 17.) Deshalb gebraucht die Christenheit in Jesu Nachfolge das Alte Testa­ ment als das Buch, aus dem der Gott des heiligen guten, allmächtigen Willens auch heute noch vernehmlich zu ihr redet, so selbstverständlich sie eS nur von der Vollendung in Christus aus wertet und benutzt.

Daö ITeue Testament Das Wesentliche im Neuen Testament ist, auf den kürzesten Aus­ druck gebracht, Jesus Christus. Er ist auch das völlig Neue gegenüber dem Alten Testament. Jesus hat — soweit wir uns durch das Zeugnis der Seinen hin­

durch an ihn selbst Herantaften können — in voller Unbefangenheit und Ursprünglichkeit im Alten Testament als im Buch der Offen­ barung Gottes gelebt. Die Offenbarung Gottes im Alten Testament war der geschichtliche Ort, an dem er stand, und an das Volk der Offenbarung Gottes wußte er sich mit seiner Botschaft wie mit seinem Werk gewiesen. Aber er hat nicht von dem Offenbarungsbuch gelebt,

ein neuer, besonders tiefer und feinsinniger Schriftgelehrter, sondern von dem, was der heilige allmächtige, gute Gott ihm unmittelbar zu sagen hatte. So steht er in der Schrift in königlicher Freiheit, die doch nirgends Willkür wird, und nie die Ehrfurcht vor dem, was Gott Mose und den Propheten gegeben hat, verleugnet. Jesus kann diese Stellung zu den heiligen Schriften seines Volkes einnehmen, kann auf dem Boden der Schrift im Namen Gottes Neues sagen von unerhörter Tiefe und von unerhörter Kraft über die Gemüter, weil er gänzlich in der Gewißheit des Vaters lebt. Sein Wort ist nie etwas anderes als der Ausdruck des eigenen an Gott Gebunden- und von Gott Getragenseins. Die Wirklichkeit des leben­ digen Gottes als des heiligen allmächtigen, guten, barmherzigen Willens, die hat Jesus in sich selber getragen. Ostern bedeutet, daß seine Jünger in all ihren Ängsten, ihrer Verschuldung und Schwach­

heit durch seinen Tod hindurch dieser Wirklichkeit Gottes in ihm, dem Lebendigen, gewiß geworden sind. Und Pfingsten bedeutet, daß sie von dieser Gotteswirklichkeit in dem lebendigen Herrn nun auch den anderen Zeugnis geben durften und mußten. So ist das Christentum nicht als Religion einer neuen Lehre oder eines neuen Buches in die Geschichte der Menschheit eingetreten, sondern als die Botschaft und daö Zeugnis der Jünger Jesu von der lebendigen Wirklichkeit des heiligen allmächtigen, guten Gottes in ihrem lebendigen Herrn, das Zeugnis durch Wort und Tat. Vom Geist getrieben haben Apostel und (christliche) Propheten dies Zeugnis weitergetragen, mit Einsatz ihres ganzen Wesens, oft genug ihres Lebens, und in den Gemeinden hat man davon gelebt. Dabei hat man das Alte Testament als heiliges Buch weiter gebraucht, aber im Lichte Jesu als des Herrn und in der inneren Freiheit gegenüber dem Buch­ staben, die damit gegeben war. Trotzdem ist aus dieser Bewegung heiligster Begeisterung keine halt- und uferlose Schwärmerei ge­ worden. Das hat darin seinen Grund, daß man sich in allem an Jesus als den Herrn gebunden wußte, daß man sich dem Gott, den Jesus ihnen gezeigt hatte, zum Gehorsam und zum Dienst verpflichtet wußte, jenseits aller bloß schwärmerischen Gefühle. Von Jesu Worten und Taten, vor allem von seinem Leiden und Sterben, gab man in der Verkündigung Bericht. Außerdem liefen die Briefe, die Paulus an die von ihm begründeten Gemeinden und an die Gemeinde von Rom geschrieben hatte, bei diesen Gemeinden um und wurden bei den

gottesdienstlichen Versammlungen vorgelesen. Aber nicht als „heilige" Briefe und Schriften, sondern als Briefe des großen Apostels, aus deren Belehrungen, Ratschlägen, Mahnungen man sich Weisung holte. Allmählich machte sich daS Bedürfnis geltend, die längere Zeit bloß mündlich weitergegebene Überlieferung der Worte, Taten, der Passion Jesu schriftlich festzuhalten, um sie sicherer im Gedächtnis zu bewahren. Das geschah wohl zunächst bloß mit einzelnen Stücken. Dann folgten größere Zusammenstellungen, der Taten Jesu einschließ­ lich der Passion im Markusevangelium, daneben (wahrscheinlich schon früher) der Worte Jesu, die dann im Matthäusevangelium mit dem Bericht über die Taten Jesu (in freier Weise) zusammengearbeitet sind. Dazu haben wir eine weitere Zusammenstellung der „Geschichten, so unter unS geschehen sind" im Lukasevangelium. Es steht weithin in sachlicher Übereinstimmung mit dem Markus- und MatthäuS-

bericht, zieht aber auch andere Quellen mit heran. LukaS erwähnt, daß sich schon andere mit ähnlicher Arbeit beschäftigt haben und daß er sich um möglichst sorgfältige Berichterstattung bemüht habe: „auf daß du gewissen Grund erfahrest der Lehre, in der du unterrichtet bist." (Luk. 1, 1-4.) Den drei ersten Evangelien ist eS wesentlich darum zu tun, daS zusammenzustellen, was man von Jesu irdischem Wirken und seinen Worten noch zu berichten wußte. Dagegen hat eS der Verfasser des 4. Evangeliums, das nach Johannes genannt wird, unter sehr freiem Schalten mit der geschichtlichen Einzelüberlieferung, darauf abgesehen, daS Ganze des Erdenwerkes Jesu unter dem Gesichtspunkt darzu­ stellen, wie Jesus sich in diesem seinem Erdenwort und -werk als Sohn Gottes offenbart und erwiesen hat, „auf daß ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen." (Joh. 20, 31.) Daß

der Verfasser in so großer Freiheit mit dem in den drei ersten Evangelien (den „Synoptikern") überlieferten Stoff (den er gekannt hat) schalten konnte, hat man längere Zeit durch einen sehr erheblichen zeitlichen Abstand von den Synoptikern erklären zu sollen geglaubt (Synoptiker etwa 60 — 90, Johannes etwa 130). Aber neuerdings ist ein Papyrus mit einem Stück aus dem 4. Evangelium aus dem Anfang des 2. Jahrhunderts gefunden worden: später als etwa um 100 kann man eö also kaum ansetzen. Auch bringt daS Johannes­ evangelium gelegentlich geschichtliche Einzelangaben, die bei den Sy­ noptikern fehlen, und die in ihrer Unabsichtlichkeit ganz den Eindruck 4

Eger, Evangelischer Glaube

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einer selbständigen geschichtlichen Überlieferung machen. Wir werden

unS mit der Einsicht zufrieden geben müssen, daß das Johannes­ evangelium kein geschichtlicher Bericht sein, sondern unS an Hand frei benutzten geschichtlichen Stoffes ein Bild Jesu als des OffenbarerS des Vaters voller Gnade und Wahrheit (Joh. 1, 14) vorhalten will, mit einer Tiefe des Verständnisses der Person und des Werkes Jesu, die ganz unvergleichlich ist. Ob der Mann, der dies Bild Jesu zu zeichnen vermochte, der Jünger Johannes gewesen ist, wie uralte kirch­ liche Überlieferung sagt, werden wir geschichtlich nicht mehr ausmachen können. Es liegt auch sachlich nicht allzuviel daran. Daß die werdende christliche Kirche in die allgemein anerkannte Sammlung von Schriften, die nachher als Kanon des Neuen Testaments bezeichnet wird, neben die drei Synoptiker mit ihrer Erinnerung an Jesu Wort und Werk noch das Johannesevangelium mit seiner Einführung in das innere Verständnis Jesu ausgenommen hat, zeugt von feinem Gefühl für daS sachlich Notwendige. Noch mehr bewundern wir das Feingefühl der Kirche bei der Auswahl der als maßgebend zu be­ wertenden und zu bewahrenden Evangelien, wenn wir unsere vier Evangelien mit den uns noch zugänglichen vereinzelten Bruchstücken anderer Evangelientexte vergleichen, denen man die Aufnahme in den Kanon versagt hat. Es hat übrigens bis tief ins 2. Jahrhundert hinein gedauert, ehe man dazu kam, aus den bis dahin entstandenen christlichen Schriften eine Reihe von solchen auszuwählen, die als für den Glauben der Christenheit maßgebend galten. Bezüglich der großen Mehrzahl dieser Schriften zeigt sich von Anfang an eine bemerkenswerte Einmütigkeit: die vier Evangelien, die Apostelgeschichte, die Briefe des Paulus, 1. Petrus-, 1. Johanneöbrief. Bezüglich der übrigen blieb die Ent­ wicklung noch länger im Fluß. Interessant ist, daß man mit der Auf­ nahme des Buches der Offenbarung, das sich in kühnen Schauungen mit dem Geschehen der Endzeit beschäftigt, lange geschwankt hat, ob­ gleich es den Namen des Johannes trug. — Erst im 4. Jahrhundert stand der Kanon der heiligen Schriften des Neuen Testaments fest. Die Entstehung des Kanons heiliger Schriften des Neuen Testa­ ments kann in ihrer Bedeutung für die Geschichte der Christenheit nicht leicht überschätzt werden. In ihm hatte die Kirche in all den Jahrhunderten ihres geschichtlichen Werdegangs die Sammlung von Schriften aus ihren ersten Anfängen, an deren Hand sie sich immer

wieder auf ihren Ursprung zu besinnen in der Lage war. Zur Abwehr von Elementen der Fehlentwicklung, zu immer neuer Vertiefung in das, was nach dem Zeugnis der ältesten Christenheit mit Jesus Christus als der vollkommenen Offenbarung Gottes als des Heiligen, Guten, Allmächtigen in die Geschichte der Menschheit hineingetreten ist. Dabei ist eö für die Sammlung der heiligen Schriften des Neuen Testaments kennzeichnend, daß dies Zeugnis von Christus in ihnen nicht in eintöniger Gleichförmigkeit erscheint, sondern bei vollster Ein­ heitlichkeit der Beziehung zu dem einen Herrn in der Abwandlung verschiedener Typen, die gerade durch ihre Verschiedenheit in den Reichtum dessen einzuführen geeignet ist, was in Jesus Christus der Menschheit als Gottes Offenbarung zugänglich geworden ist. Als Haupttypen des neutestamentlichen Zeugnisses von Christus treten heraus: der synoptische, der paulinische, der johanneische. Erst in ihrem Zusammenklingen erschließen sie den ganzen Reichtum des neutesta­ mentlichen Zeugnisses. — Wir beschränken uns auf das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns einerseits die Synoptiker, andererseits das Johannesevangelium bieten, und auf die Person und die Ver­ kündigung des Paulus.

Jesus Christus (nach Matthäus, Markus, Lukas) Im palästinensischen Judentum zur Zeit Jesu hat die Sorge um den Dienst Gottes eine Rolle gespielt wie wohl selten zu einer anderen Zeit und bei einem anderen Volk. Die Schriftgelehrten, die sich um die Auslegung des Gesetzes Gottes mühten, standen beim Volk im höchsten Ansehen, und ihre Weisungen wurden willig befolgt. Natür­ lich war der Eifer um Gott und sein Gesetz nicht bei allen gleich groß; eö gab auch Laue und Gleichgültige genug. Aber die Gesetzestreuen, die Pharisäer (= die Abgesonderten, weil sie den Verkehr mit den Weltförmigen, den Zöllnern und Sündern, mieden) hatten maß­ gebenden Einfluß. Der Hintergrund all dieses Bemühens war, daß man den Tag des Anbruchs der Herrschaft Gottes, den die Propheten verheißen hatten, herbeisehnte und durch die fromme Beobachtung der Gesetzesvorschriften herbeizuführen hoffte. („Wenn Israel nur einen Sabbat richtig hielte, würde der Tag Gottes kommen.") Bei nicht wenigen trug diese Erwartung des Tages Gottes das Gepräge un-

gestümer Leidenschaft mit starkem Einschlag des Dranges nach natio­ naler Befreiung vom Joch der Heiden (Zeloten = Eiferer). Die Stillen im Lande, die in schlichter, an Propheten und Psalmen ge­ nährter Frömmigkeit des Tages Gottes warteten, machten naturgemäß nach außen wenig von sich reden. In diese mit höchster Spannung geladene Zeit hinein ertönt der Ruf Johannes des Täufers: „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!" Das heißt: der ersehnte Anbruch der Herrschaft GotteS steht unmittelbar bevor. Soweit wir nach dem Evangelienbericht (Matth.?, 1 — 12; £t.3, 1 - 18) das Besondere der Predigt des Täufers erkennen können, handelt es sich bei ihr in der Hauptsache um folgendes: Gottes Herrschaft kommt von Gott her, nicht durch menschliche Bemühungen, sondern durch GotteS Tat. Sie kommt zu den Bußfertigen, das heißt zu denen, die sich von ihrem Unrecht ab und zu Gott hinkehren; das äußere Zeichen solcher Umkehr ist die Taufe zur Vergebung der Sünden. Die Echtheit der Umkehr wird erkannt an ihren Früchten, das heißt aber nicht an besonders auffälligen Leistungen, sondern an schlichter Übung der Barmherzigkeit, an Meidung von Unrecht und Gewalttat. Der Ruf zur Umkehr gilt allen, auch den Musterfrommen. Jede nationale oder sonstige Bevor­ zugung fällt weg; auch Zöllner und Kriegsknechte dürfen und sollen

zur Taufe kommen. Zu dieser Predigt des Täufers bekennt sich Jesus, indem er sich selbst von Johannes taufen läßt. Dabei hat er das Erlebnis, auf Grund dessen er sich von nun an zum Wirken in der Öffentlichkeit

berufen weiß. (Matth. 3, 13 — 17.) Was bedeutet dieses Erlebnis? Der Täufer hatte die Bedingungen der Hinnahme der kommenden Gottesherrschaft von allem Äußerlichen, selbstisch Verdienstlichen, national Eingekapselten befreit. Jesus stimmt damit überein; vgl. seinen eignen Ruf zur Umkehr. (Matth. 4, 17.) Über die Art des

Kommens der Gottesherrschaft selbst weiß aber der Täufer nichts weiter zu sagen, als daß sie Gericht und Vollendung durch den sein wird, der nach ihm kommen soll. Durch das Erlebnis bei seiner Taufe weiß sich Jesus dazu von Gott berufen, Gottes Herrschaft nicht nur anzukündigen, sondern selbst zu bringen. Wir können uns selbstverständlich nicht anmaßen, in daö ein­ dringen zu wollen, was Jesus damals erlebt hat. Aber die Tatsache

steht vor uns, daß Jesus von der Zeit seiner Taufe ab als der wirkend auftritt, der sich vom Vater zum Bringer der Herrschaft Gottes be­ rufen weiß und an die Ausrichtung dieser seiner Berufung sein Leben zu sehen hat. Man hat dem Ungeheuren eines solchen BerufungöbewußtseinS dadurch die Spitze abbrechen wollen, daß man annahm, die Jünger hätten eö Jesus erst später auf Grund des Eindrucks, den sie von seinem Leben und Sterben erhalten hatten, zugeschrieben. Daß sie dazu gekommen sein sollen, ohne daß er selbst ihnen durch die ganze Art seines Auftretens und Wirkens Anlaß dazu gegeben hat, macht das Rätsel wohl noch wesentlich größer. Es hilft auch sehr wenig, wenn man das Ganze dadurch verständ­ licher zu machen sucht, daß man, bei Anerkennung eines von Anfang an bestehenden Sendungsbewußtseins Jesu, wenigstens in der Fär­ bung dieses Bewußtseins zwei Phasen unterscheiden will, in deren erster er, von der begeisterten Ergriffenheit des Volkes getragen, durch Galiläa zog und die Menschen zur Herrschaft Gottes rief („die Frühlingszeit in Galiläa")» Dann die, wo ihm durch den Widerstand der führenden Schichten der irdische Erfolg seines Wirkens mehr und mehr fraglich wird, die Todesahnung sich verstärkt bis zur Gewißheit, und damit der Gedanke der Wiederkunft in Herrlichkeit bei ihm leben­ dig wird. Dieser Versuch, die Höchststeigerung deS BerufungSbewußtseinS Jesu aus dem Kampf mit den sich erhebenden Widerständen und den eintretenden Enttäuschungen zu erklären, hat keinerlei Anhalt an den neutestamentlichen Quellen selbst. In der Versuchungs­ geschichte (Matth. 4, 1 — 11) erhalten wir einen Einblick in die Ge­ danken Jesu über die Art der Ausrichtung seines Berufs. Sie zeigt, wie Jesus von Anfang an zum Verzicht auf alle Wirkungsmittel gekommen ist, die ihm einen Massenerfolg hätten verschaffen können. Weder dadurch, daß er den Menschen Brot bringt, noch dadurch, daß er vor ihnen das Schauwunder des Absprungs von der Tempelzinne vollzieht, will er die Massen gewinnen. Weil das, was er zu bringen hat, mit solchen Mitteln gar nicht gebracht werden kann. Am deut­ lichsten zeigt die dritte Versuchung, worauf eS ankommt. Hier be­ schäftigt Jesus der Gedanke, ob etwa die im Volk vorhandene leiden­ schaftliche Sehnsucht nach Aufrichtung der Weltherrschaft Gottes als Mittel zur Erreichung seines Zieles verwandt werden könne. Und er erkennt, daß solche Benutzung menschlicher Leidenschaft und mensch­ lichen Rachebedürfnisses, auch wenn dem damit zu Erreichenden die

Bezeichnung Herrschaft Gottes beigelegt wird, nichts anderes heißt, als dem Satan dienens. Die Entscheidung, die Jesus trifft: „Du

sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen", ist die Entscheidung für den Weg der Einsamkeit, des Kampfes bis aufs Blut, der Aufopferung, des Kreuzes. Und diese Entscheidung haben die Evangelien an den Anfang des irdischen Werkes Jesu gestellt. ES muß aber noch anderes ins Auge gefaßt werden, um den Schritt von Johannes (die Gottesherrschaft ist in nächster Nähe) zu Jesus (die Gottesherrschaft ist durch ihn im Anbruch) innerlich ver­ ständlich zu machen. Wohl hat Johannes den Zusammenhang zwischen der nahen Gottesherrschaft und dem inneren Verhalten der Men­ schen, zu denen Gottes Herrschaft kommen soll, aufs stärkste heraus­ gestellt. Aber der wirkliche Anbruch der Gottesherrschaft ist ihm doch, nicht anders als denen, zu denen er redet, wesentlich äußere Machttat Gottes. Wenn Jesus sich als Bringer der Gottesherr­ schaft weiß, während er mitten in den Nöten, Kämpfen, dem Un­ recht und der Tücke der Menschen drin steht, wird das Wesentliche der Gottesherrschaft, der grundsätzliche Schnitt zwischen dem Alten und dem Neuen, nicht mehr in dem gefunden, was äußerlich anders wird, sondern darin, daß Gottes heilige Wahrheit, Gerechtigkeit und Güte jetzt in einer Mächtigkeit offenbar wird, daß denen, die sich von ihr ergreifen lasten, die Gottesherrschaft sich jetzt schon erschließt. Der aber, der diesen Anbruch der heiligen rettenden, erneuernden, beseligen­ den Gottesherrschaft mitten in die gegenwärtige Welt mit ihrem Kummer und mit ihrer Not, mit ihrem Hader und Streit, mit ihrer Lüge und Bosheit hineinzuwirken hat, ist für Jesus niemand anders als er selbst, Jesus von Nazareth. Und er hat zum Hinein­ wirken dieser Herrschaft Gottes in die Menschen dieser Welt kein anderes Mittel, als daß er ihnen Gottes Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte, Barmherzigkeit durch sein eigenes Tun darstellt, im eigenen Angriff auf Irrtum, Bosheit, Härte, Heuchelei, im eigenen Trösten, Helfen, Zurechtweisen für die, die in Not, Irrtum und Sünde Gott und sich selber zu verlieren drohen, im eigenen Mitleiden und Leiden bis zum Äußersten und Letzten. Deshalb stellt er sich mitten unter die, *) Dostojewski hat in seinem Großinquisitor in aufwühlender Weise gezeigt, wie die Kirche, die sich nach Christus nennt, immer wieder der Ver­ suchung erliegt, statt Gott den „Fürsten der Welt" anzubeten, nicht aus ge­ meiner Herrschsucht, sondern zum vermeintlichen Besten der Menschheit.

die sich von Johannes mit der Taufe der Umkehr zur Vergebung der Sünden taufen lassen. Nicht als ob er selber der Umkehr bedürfte (er läßt sich taufen, um „alle Gerechtigkeit zu erfüllen" — Matth. Z, 15 —, also um den Willen Gottes ganz zu tun), sondern in solidarischer Mit­ haftung mit den der Umkehr Bedürftigen, um ihnen mit dem, was er selber vom Vater hat, zu Gott zu helfen. Wer ist dieser Jesus von Nazareth, daß er sich zum Träger dieser Offenbarung der Herrschaft Gottes durch die Hülle eines Wirkens in

äußerer Niedrigkeit, durch Kampf und Leiden hindurch vom all­ mächtigen Gott berufen und bevollmächtigt weiß? Es haben neuer­ dings manche ihren Scharfsinn daran in der Richtung versucht, daß sie Spuren krankhafter Übersteigerung des Selbstbewußtseins bei Jesus aufweisen zu können meinen. Die Jünger haben anders ge­ urteilt. Wohl haben auch sie völlig aus allem Vergleich mit gewöhn­ licher Menschenart Herausfallendes an ihm gefunden, aber im Sinn des göttlich Mächtigen, Überwältigenden, Erneuernden. Wer die

Evangelien ohne Voreingenommenheit liest, der wird aufs stärkste beeindruckt durch die ungemeine Nüchternheit und illusionslofe Klar­ heit, mit der Jesus die Dinge und die Menschen um sich her sieht und beurteilt, mit der er auch den Leiden und Nöten des Lebens, auch den eigenen, gegenübertritt. Freilich begleitet ihn in allem eine wandel­ lose, unüberwindliche Gottesgewißheit; er steht alles, Arbeiten und Denken, Gelingen und Mißlingen, Leben und Sterben im Licht der Beziehung zu Gott. Wer das für krankhaft hält, der mag selber zusehen, wohin er auf diesem Weg kommt. Er darf aber nicht ver­ langen, daß wir ihm sein Urteil abnehmen, wenn er an die Wirklich­ keit des heiligen allmächtigen, guten Gottes den Maßstab psychia­ trischer Theorien anlegen will, statt sich ihr seinerseits im Licht der Verantwortung für das, was an ihm recht und unrecht ist, zu stellen. Wie es möglich ist, daß Jesus diese völlige Gewißheit Gottes und seiner stetigen Beziehung zu ihm in sich trug, das ist Gottes Geheimnis. Jesus drückt es so aus, daß er sich den Sohn seines himmlischen Vaters nennt. Das ist aber der Ausdruck für etwas, was uns schlecht­ hin unbegreiflich ist. Man hat freilich in der Kirche Jesu Christi dem Unbegreiflichen immer wieder nachgegrübelt und eö auf Formeln zu bringen versucht, statt sich an Jesu Wort genug sein zu lassen (Matth. 11, 27): „Niemand kennt den Sohn, denn nur der Vater." Wir müssen später noch einmal darauf zurückkommen, wenn wir zu

überlegen haben, was Jesus Christus unserm Glauben bedeutet. Hier ist eS mit der Feststellung genug, daß Jesus mit der völligen Gewiß­ heit GotteS als dessen, den er als den Vater kennt, in die Geschichte der Menschheit hineingetreten ist.

* Nur anhangsweise gehe ich auf die Frage ein, ob Jesus raffenmäßig „Jude" gewesen ist oder nicht. Aber die Frage spielt eben in der öffentlichen Aussprache eine so große Rolle, ist für viele von so großer Bedeutung, daß wir ihr nicht aus dem Wege gehen dürfen. — Bis an die Schwelle der Gegenwart hat man nicht das geringste Bedenken dagegen gehabt, daß Jesus geburtsmäßig Jude gewesen ist. Die Bedenken sind erst lebendig geworden mit dem Auf­ kommen eines geradezu religiös empfundenen deutschen bzw. ger­ manischen RaffenbewußtseinS mit stark judengegnerischem Einschlag. Für manche hat das genügt, den „Juden" Jesus, trotz einiger bei ihm vielleicht anerkannten guten Eigenschaften, kurzerhand als irgendwie für den germanischen Menschen maßgebend abzulehnen. Andere haben ihn für die Verehrung, mit der sie an ihm hingen, dadurch zu retten versucht, daß sie die Tatsache unterstrichen, daß Galiläa zur Zeit Jesu von einer gemischten Bevölkerung bewohnt war, unter der die Juden­ stämmigen nur eine Minderheit bildeten. Jesus sei nach seiner ganzen Haltung und Verkündigung zweifellos Arier gewesen. Die Quellen, auf die sich diese Behauptungen stützen, können aber das Behauptete nicht tragen, weil man sich damals überhaupt noch nicht um die Raffe in unserem heutigen Sinn gekümmert hat. Auch der Jude von damals begründete seinen Nationalstolz nicht lediglich mit den Vorzügen seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Raffe, sondern damit, daß er zum Volk der Berufung und Verheißung GotteS gehörte. Mit dieser göttlichen Erwählung und Verheißung glaubte er sich allerdings aufs engste durch seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk verbunden. Wir haben schon durchs Alte Testament die Linie verfolgt, auf der die Pro­ pheten die Behauptung einer naturhaften Zusammengehörigkeit deS Volkes mit Jahve bekämpft haben, und haben herausgehoben, wie an diesem Punkt die Judenheit nach der babylonischen Gefangenschaft eine gewisse Verbiegung der Linie, auf der die Propheten ihr Wirken auögeübt haben, vorgenommen hat. Schon Johannes der Täufer tritt aber mit dem allergrößten Nachdruck wieder in die prophetische Linie

ein: „Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu er­ wecken." (Matth. 3, 9.) Abraham wird gewertet wegen seines Gehor­ sams und seines Glaubens gegenüber den Weisungen und Ver­ heißungen Gottes, nicht wegen irgendwelcher naturhaft rassischen Qualitäten. Und der Zusammenhang mit ihm, auf den es ankommt, ist die Gemeinschaft dieses Glaubens, nicht die leibliche Abstammung von ihm. Das ist bei Jesus selbst erst recht deutlich. Israel ist für ihn ein religiöser, kein naturhafter Begriff: das Volk, dem Gott seine Verheißung und seinen Anspruch hat kundwerden lasten, und das er durch Mose und die Propheten zu seinem Dienst berufen hat. Deshalb hat Jesus seinen Beruf als Bringer der Herrschaft Gottes auf dem Boden des Volkes auszuüben, an das dieser Ruf und diese Ver­ heißung nach Gotteö Willen geschichtlich ergangen ist. (Matth. 13,24.) Er schickt auch die Zwölfe mit ihrer Reichspredigt nicht auf der Hei­ den Straße (Matth. 10, 5), weil er sich innerhalb der Grenzen des ihm gewordenen Auftrages halten muß. Aber nirgends trägt seine Verkündigung, auch nicht der seinen Jüngern erteilte Auftrag, Züge, die zu dem nationalen Ehrgeiz und der nationalen Sehnsucht des Volkes irgendwelche Beziehung haben. Auch daß er die Zwölfe nach der Zahl der 12 Stämme Israels — die eS geschichtlich damals gar nicht mehr gab — erwählt, trägt religiösen, nicht nationalen Cha­ rakter, und das gleiche gilt von der Erwähnung der Erzväter Abra­ ham, Isaak und Jakob (der Hauptmann von Kapernaum, Matth. 8, 10. 11). Die Teilnahme an der Herrschaft Gotteö, die Kindschaft Gotteö, bestimmt sich lediglich nach dem Gesichtspunkt der Buße und des Glaubens. Und je deutlicher sich herauöstellt, daß das Iudenvolk mit seinen geistlichen Führern Jesu Ruf nicht hören will und ihn selbst verwirft, desto stärker löst sich der ihm vom Vater gewordene Auftrag von der Beziehung auf daS halsstarrige und unbußfertige Volk. Jesu Verurteilung ist nicht nur die Verwerfung Jesu durch daS jüdische Volk, sondern auch die Verwerfung deö Volkes als des auserwählten durch Gott selbst. Im Taufbefehl ergeht die Sendung der Jünger nicht mehr an Israel, sondern an alle Völker. (Matth. 28, 19.) — Die Christenheit ist diesen Weg von ihren An­ fängen an weitergegangen, nicht erst unter der Führung deö Paulus. Man ist überraschend schnell dazu fortgeschritten, auch von einem nur zeitlichen Vorrang deö Volks der alttestamentlichen Gottesbotschaft vor den Nichtjuden bei der Verkündigung deS Evangeliums abzusehen und

eS unmittelbar denen zu bringen, die von Mose und den Propheten noch nichts gehört hatten. Dabei hat man aber sich selbst als Israel, als das Volk der Verheißung, bezeichnet, aber als Israel nach dem Geist im Unterschied vom Israel nach dem Fleisch, daS den Bringer der Herrschaft Gottes ans Kreuz geschlagen hat. Zugleich hat man dem Judentum sein heiliges Buch, das Alte Testament, aus den Händen genommen und es im Licht der Erfüllung durch Christus verstanden. Die geborenen Griechen unter den Gliedern der paulinischen Ge­ meinden würden eS sich sehr verbeten haben, wenn man bei ihnen eine besondere Vorliebe für daS blutmäßig Jüdische hätte vermuten wollen. — Jesus von Nazareth wird wohl geburtSmäßig Jude ge­ wesen sein — feststellbar ist weder dies noch das Gegenteil —; aber auftragsmäßig war er der, der die Herrschaft des heiligen all­ mächtigen, gerechten, guten, barmherzigen Gottes zu bringen hat zu allen Völkern. Und Millionen aus allen Völkern haben bis auf diesen Tag an sich selbst erfahren, daß er der Bringer dieser GotteSherrschaft ist.

Dem, was wir vorhin über die Art der Sendung Jesu durch Gott gesagt haben, entsprechend hat Jesus diese seine Sendung dadurch auögerichtet, daß er die Menschen, mit denen er in Beziehung tritt, zum Gehorsam gegen den Vater ruft. Er gibt kein neues Gesetz an Stelle des durch Mose gegebenen; er bringt im Ruf zum Gehorsam gegen Gott zugleich den Ruf zum Leben durch Gottes Wahrheit, Gerechtig­ keit und Güte. Das ist der Sinn der Worte Jesu, die Matthäus Kapi­

tel 5 — 7 zusammengestellt hat, der sogenannten Bergpredigt. Es sind Kernworte, die Jesu Hörern besonders fest in der Erinnerung geblieben sind. Man soll die Worte der Bergpredigt nicht in größeren Abschnitten lesen, sondern sich mit den einzelnen Worten nachdenklich auseinandersetzen. Denn eS sind durchweg Tiefen Worte, oft ab­ sichtsvoll zugespitzter Form, die ihren Sinn erst dem Besinnlichen er­ schließen. Die Bergpredigt beginnt bei Matthäus mit den Selig­ preisungen (5, 3—12) und Worten über den Zeugenberuf der Jünger in der Welt (5, 13 — 16). Dann kommen die Worte, durch deren Zu­ sammenstellung Matthäus beleuchten will, wie Jesus im Gegensatz zu dem ungenügenden Verständnis des göttlichen Gesetzes durch Schriftgelehrte und Pharisäer das Gesetz erfüllt (= vollendet) hat.

(5, 17 — 48.) Wir muffen uns hier darauf beschränken, die Art der Verkündigung Jesu an den Seligpreisungen und an den Worten über die Erfüllung des Gesetzes zu beleuchten, und die Worte aus Kapi-

til 6 und 7 beiseite lassen. Die Seligpreisungen beschreiben die Art derer, die den Ruf zur Herrschaft Gottes durch Jesus vernommen haben, und die im Hören dieses Rufes die beseligende Kraft dieser Gottesherrschaft an

sich erfahren dürfen. Vor Gott geistlich arm sein (1. Seligpreisung, Matth. 5, 3) ist die innere Haltung, die für Erfahrung der Herrschaft Gottes die unerläßliche Voraussetzung ist. Selbstverständlich ist damit kein de­ mütiges Getue vor Gott, zumal in Gegenwart anderer, gemeint, das sehr eitel sein kann. Aber auch ohne solches eitle oder schwächliche Demütigtun liegt uns die Seligpreisung, so wie wir von Natur sind, recht wenig. Wir neigen alle miteinander dazu, uns auf uns selbst allerlei einzubilden — zum wenigsten sind wir besser als viele andere. So wie eö der Pharisäer im Tempel macht, der sich mit Dieben, Mördern, Ehebrechern vergleicht und dann Gott dafür dankt, daß er nicht auch „so einer" ist. Dieses sich vor Gott (und den Menschen) in Positur Setzen führt aber nur zum Selbstbetrug, macht unfähig, unter dem heiligen Auge Gottes zu erkennen, wie es wirklich in uns aussieht, und nimmt die Möglichkeit, sich von Gott das Gute, Wahre, Treue schenken zu laffen, das unser wahres Leben auömacht. — Die 1. Seligpreisung ist die erste nicht nur der Reihenfolge nach, sondern auch in dem Sinn, daß in ihr die Grundhaltung dessen aus­ gesprochen ist, der die Art der Herrschaft Gotteö nach Jesu Weisung überhaupt verstanden hat. Wenn in der 2. Seligpreisung (Matth. 5, 4) die selig gepriesen werden, die leiden müssen, so ist das der direkte Widerspruch gegen die äußerliche Vergeltungslehre, die im Unglück das Zeichen des von Gott Verworfenseins steht. Auch im Leid, ja gerade durch das Leid kann Gott zum Menschen reden — wie viele sind schon durch Krank­ heit und Siechtum zu Helden des Glaubens, der Geduld, der Liebe erzogen worden, weil sie es aus Gottes Hand hingenommen haben und sich durch es zu Gott führen ließen. Freilich muß das Leid, um so

gebraucht werden zu können, ernst genommen werden; man darf sich nicht aus Weichlichkeit oder Oberflächlichkeit an eigenem und an fremdem Leid vorbeidrücken. Man soll aber auch nicht im Leiden

schwelgen, auch nicht künstlich Leid aufsuchen über daS hinaus, was Schicksal oder Pflicht leiden heißt. — Ob Jesus bei dem Wort auch an die gedacht hat, die leiden unter dem Schmerz, den tiefe Reue über begangenes Unrecht mit sich bringt, ist nicht sicher auszumachen. Jeden­ falls kann gerade dieses Leid besonders fruchtbar sein und einen Trost mit sich bringen, von dem die keine Ahnung haben, deren Gewissen so stumpf geworden ist, daß ihnen das Unrecht, das sie begangen haben, überhaupt nicht mehr leid tut. Denn hinter dem Leid echter Reue steht Gott mit dem Trost seiner Vergebung, während dem, der nicht mehr begangenes Unrecht schmerzlich bereuen kann, das Trostlose der Gott­ losigkeit zuteil wird — Gott ist tot! Hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit (4. Seligpreisung, Matth. 5, 6) heißt nicht bloß, eifrig darauf bedacht sein, daß in den Ordnungen des menschlichen Gemeinschaftslebens Recht und Billig­ keit immer mehr zum Sieg kommen. Wenn man es allein darauf be­ zieht, dann verliert man sich regelmäßig darin, daß man sich über das Unrecht anderer aufhält und entrüstet. Nach der Gerechtigkeit hun­ gert einer wirklich erst dann, wenn für ihn selbst oberstes Lebensziel und höchster Lebensinhalt wird, das Rechte zu tun und das Unrecht zu lassen — wie Jesus das Tun des Willens Gottes seine Speise ge­ nannt hat. (Joh. 4, 34.) Es gibt kein köstlicheres Sattwerden als das Bewußtsein, daß es einem mit Gottes Hilfe gelungen ist, seine Pflicht und Schuldigkeit auch durch Schwierigkeiten und Anfechtungen hin­ durch zu tun. Von den Barmherzigen, die Gottes Barmherzigkeit erfahren sollen, wird später die Rede sein. Dagegen muß das Wort von den reinen Herzen (6. Seligpreisung, Matth. 5, 8) etwas genauer überdacht werden. Wer kann sich rein nennen angesichts all der Trü­ bung und Befleckung, von der im Licht der lauteren Wahrheit Gottes sich auch der beste nicht freisprechen kann? — Das Wort Jesu von den „reinen Herzen" geht auf die Lauterkeit und Ehrlichkeit des Ur­ teils über sich selbst, den Kampf gegen Heuchelei und Lüge nicht

bloß gegenüber anderen, sondern, was sehr viel schwerer ist, gegen­ über unS selbst, gegenüber der Selbsttäuschung und dem Selbstbetrug, denen wir unablässig verfallen. Denen wir verfallen bis in unser Beten hinein, so daß sie als Scheidewand zwischen uns und Gott stehen. Denn nur der Wahrhaftige vernimmt den wahrhaftigen Gott ungebrochen. Auf der anderen Seite gibt es aber keinen anderen Weg

zum völligen Wahrhaftigwerden, als sich dem wahrhaftigen Gott zu stellen, der nicht betrogen werden, der auch den, der sich ihm ehrlich stellt, vom Selbstbetrug befreien kann. Am Ende rundet sich der Kranz der Seligpreisungen wieder zum Anfang: Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist die Herrschaft Gotteö. (8. Seligpreisung, Matth. 5, 10— 12.) Das ist wohl die schwerste Anfechtung für den, der ernstlich den Willen Gottes tun will. Nicht daß er dabei durch allerlei Not und Drangsal hindurch muß, daß sein Hunger nach Glück und sein Dienst Gottes oft so gar nicht im Einklang miteinander stehen. Das Schwerste, was dem aufrichtigen Diener Gottes begegnet, ist das, daß gerade, wo er sich bewußt ist, das zu wollen, was vor Gott recht und gut ist, die anderen fein gutes Meinen nicht nur nicht anerken­ nen, sondern ihm dafür Schmach und Schande antun. Ein schweres Schicksal tragen — nun, wie Gott will. Aber unter dem Unverständnis, ja der gehässigen Gegnerschaft der anderen, vielleicht der am aller­ nächsten Stehenden, leiden müssen — darunter ist schon bei manchem das gute Wollen selbst zerbrochen, und er ist an Gott irre geworden. Und doch kommt es erst hier zur letzten, schweren Entscheidung, ob es unö wirklich um den Dienst Gottes zu tun ist oder schließlich doch nur um uns selbst, wenn sie uns an die Ehre greifen. — Deshalb wird das Wort vom Verfolgtwerden um der Gerechtigkeit willen noch einmal mit Nachdruck auf die Jünger zugespitzt und ihnen ausdrücklich gesagt, daß sie dem nicht entrinnen werden. Aber dabei wird ein wichtiger Satz hinzugefügt: „so sie daran lügen." Es bildet sich mancher ein, um der Gerechtigkeit willen verfolgt zu werden — und er findet Ab­ lehnung und Gegnerschaft vielmehr um der Menschlichkeiten willen, mit denen er sein vermeintliches Eintreten für die Sache Gottes be­ fleckt. Nirgends tritt unö die nüchterne, unbestechliche Wahrhaftigkeit Jesu überwältigender entgegen als in diesem Satz. Aber auch die Wahrhaftigkeit, die Jesu Jünger von ihm gelernt haben, indem sie den Satz behalten und weitergegeben haben.

(Die Erfüllung deö Gesetzes.) Gegen die Frömmigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer (Matth. 5, 20) hat sich schon die erste Seligpreisung grundlegend abgesetzt. Sie löst das Verhältnis des Men-

schen zu Gott völlig von dem Grundsatz der menschlichen Leistung und gött­ lichen Gegenleistung, der deren ganze Frömmigkeitsübung beherrscht, und stellt es statt besten auf den Boden, daß wir der gebenden und vergebenden Wahrheit und Güte Gottes inne werden und uns dem guten und gnädigen Gott von Herzen hingeben. — WaS Matthäus unter dem Stichwort: Erfüllung (Vollendung) deS (alttestamentlichen) Ge­ setzes an Worten Jesu zusammenstellt, bezieht sich bemerkenswerter­ weise durchgängig auf das, wie wir uns gegenüber den Menschen zu verhalten haben, wenn wir an ihnen Gottes Willen tun wollen. Den Menschen neben uns können und müssen wir allerhand leisten, wäh­ rend jede Leistung an Gott schon dadurch ausgeschlossen ist, daß wir alle Kraft und allen Trieb zum guten Werk von niemand anderem als von Gott empfangen. Aber auch das, was wir den Menschen zu leisten haben, wird von Grund auf gegen das schriftgelehrte Verständnis des göttlichen Gebotes geändert. Statt durch die äußere, unter Straf­ androhung einzuhaltende Satzung wird unser Verhalten gegen den Menschen neben uns durch die Tatsache bestimmt, daß dieser von Gott aus gesehen unser Bruder ist. Hier erscheint das gewaltige: „Ich aber sage euch!" Jesu in erfüllender Vertiefung dessen, was zu „den Alten" gesagt ist. Wir greifen aus den Beispielen der Erfüllung deS Gesetzes durch Jesus, die Matthäus bietet, die Erfüllung des 5. Ge­

botes (5, 21 — 24), des Vergeltungsgebotes (5, 38 — 42) und das heraus, was Jesus über die Feindesliebe sagt (5, 43 — 48), weil hier ganz besondere Schwierigkeiten vorliegen. Aus dem Verbot des Totschlags (5. Gebot) wird die Weisung, in dem Menschen, mit dem wir zusammenleben oder zusammenkommen, im Licht der gemeinsamen Vaterschaft Gottes den „Bruder" zu sehen, auch wenn er uns durch sein Verhalten gegen uns in unguter Weise zu schaffen macht. (Matth. 5, 22 — 24.) Durch das, was uns am Weggefährten unwillkürlich gefällt oder mißfällt, anzieht oder abstößt, gilt es zu dem durchzudringen, was sein Sein und Werden vor dem Auge deS heiligen, barmherzigen Gottes bedeutet. DaS können wir aber gar nicht, wenn wir nicht uns selbst in der Hand Gottes und in der Verantwortung vor ihm wissen. Nur aus der Erkenntnis unserer eigenen mangelhaften und fehlsamen Menschlichkeit heraus, in der wir Gott verhaftet sind, wächst uns der Antrieb und die Fähigkeit, den

anderen in seiner fehlsamen Menschlichkeit zu verstehen, die nicht nur sein Unrecht, sondern auch seine Not ist. Nur dann werden wir nicht

im entrüsteten Zorn gegen ihn hängen bleiben, wenn er sich irgend

etwas gegen uns hat zuschulden kommen lassen, wodurch wir die Kluft zwischen ihm und unS nur weiter aufreißen. Mit der Schuld vor Gott auf der Seele, daß wir einem fehlenden Mitmenschen zur Verhärtung im Bösen verholfen haben. Wieviel zerrüttete Ehen, wie­ viel zerbrochene Freundschaften, wieviel menschenverächterische, miß­ trauische Vereinsamung mit all dem inneren und äußeren Elend, das sie im Gefolge haben, predigen in erschütternder Weise von der zer­ störenden Wirkung deö „wer mit seinem Bruder zürnet". Damit ist natürlich etwas Tieferes gemeint als nur eine vereinzelte ärger­ liche Regung, die über uns kommt, obgleich auch die verheerend genug wirken kann, wenn wir ihrer nicht Herr zu werden vermögen und sie nach außen im zornigen oder verächtlichen Wort ausbrechen lassen. Dem richtigen Verhalten gegen den „Bruder", der uns etwas zuleide tut, stehen so viel Hemmungen im Weg, die sich aus unserer natürlichen Art und Neigung ergeben, daß Matthäus in der Berg­ predigt noch zwei Worte Jesu bringt, die sich mit diesem Verhalten beschäftigen. DaS eine ist das Wort vom Backenstreich, in seinem Widerspruch gegen das uralte Gesetz der gerechten Vergeltung der bösen Tat: „Auge um Auge, Zahn um Zahn", wie eS natürlichstem menschlichen Empfinden entspricht. (Matth. 5, 38-42.) Durch die aus­ drückliche Bezugnahme auf das Wort von der gerechten Vergeltung nimmt Jesus absichtlich unserem naturhaften Widerspruch gegen daS Wort vom Backenstreich die Trübung durch das persönliche Rache­ bedürfnis. DaS Wort vom Backenstreich steht vielmehr im Wider­ spruch gegen elementare Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit, ohne deren Aufrechterhaltung daS menschliche Gemeinschaftsleben, so wie die Menschen wirklich sind, gar nicht bestehen kann. Leo Tolstoi hat wegen deö Grundsatzes „nicht widerstehen dem Bösen" den Staat mit seiner Zwangsgewalt in Krieg und Strafvollzug überhaupt ver­ neint und hat dadurch an seinem Teil dem scheußlichen Überwuchern des Bösen die Bahn ebnen helfen, dessen Zeugen wir heute in Ruß­ land sind. Hat Tolstoi Jesus richtig verstanden? War Jesus solch wirklichkeitsfremder und darum gefährlicher Schwärmer? — Wir dürfen nicht versuchen, der Schärfe des Jesuswortes durch allerhand Künsteleien aus dem Weg zu gehen. Aber Jesu eigenes Verhalten, als ihn der Knecht des Hohenpriesters schlug (Joh. 18, 22 — 23),

zeigt, daß er das „nicht widerstehen dem Bösen" nicht im Sinn Tolstois verstanden hat. Es wäre ja nicht nur strafwürdige Schwäche, ein schweres Unrecht gegen die durch die Gewalttat Verletzten, eine Preisgabe Unschuldiger an üble Missetäter. Es wäre darüber hinaus eine Unbarmherzigkeit gegen den Missetäter selbst, wenn man ihn durch Straflosigkeit dazu verlocken wollte, seinem verbrecherischen Hang immer mehr nachzugeben und ihn sich auswachsen zu lassen. Traut man Jesus zu, daß er das nicht gesehen hat? Jesus hat den Grundsatz „nicht widerstehen dem Bösen" in dem

Wort vom Backenstreich absichtlich auf eine überspitzte Form gebracht, um durch das zum unwillkürlichen Widerspruch Reizende dieser Form die Jünger zu besonderem Aufmerken zu bringen. Ohne Bild ge­

sprochen, handelt eS sich bei dem Satz darum, daß der Jünger Jesu auch auf elementare Rechte der Abwehr durch Wiedervergeltung soll

verzichten können. Es ist also kein Grundsatz für menschliche Rechts­ ordnung, der Jesus nie die Strafgewalt bestritten hat, sondern eine

Weisung für ganz persönliches Verhalten des Jüngers Jesu gegenüber einem, der ihn persönlich geschädigt und verletzt hat. Da kann es für

ihn unter Umständen Pflicht werden, je enger die natürlichen persön­ lichen Beziehungen zwischen beiden sind, desto mehr, daß er, anstatt sich durch Gegenhieb von dem anderen auf die Ebene deö sich zu Leid

Lebens herabziehen zu lassen, ihn durch Nichtvergeltung fühlen läßt,

wie er die innere Kraft hat, ihm nicht auf diese Ebene zu folgen. Der Verzicht auf Abwehr durch Vergeltung erfolgt also, um durch

das fremde Unrecht nicht in eigenes Unrechttun hineingezogen zu werden. Das ist etwas ganz anderes als Verzicht auf Widerstand aus Feigheit, der leider viel häufiger ist und gar nicht dazu angetan, das Böse beim anderen zu dämpfen. Aber wo das Nichtwiderstehen in dem Sinn geübt wird, den Jesus meint, da wird die Erfahrung oft genug gemacht, daß der andere sich der Größe solchen Tuns innerlich nicht entziehen kann. Ist das „Vater, vergib ihnen", das Jesus am Kreuz für feine Mörder betet, ein Zeichen der Schwäche oder der Hoheit Jesu? Die Menschheit hat immer in scheuer Ehrfurcht davor ge­ standen. — Gibt eS irgendeine engere Lebensgemeinschaft zwischen Menschen, in der das Wort vom Backenstreich, vom Überwinden des

Bösen durch Verzicht auf Vergeltung, nicht hundertmal zur Anwen­ dung kommt? Das, was Jesus verlangt, ist gar nicht so ungeheuer-

lich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Wohl mutet er uns sehr Schweres zu, zumal da das Nichtwiderstehen aus Feigheit und Schwäche und das Nichtwiderstehen um Gottes und des „Bruders"

willen mit oft sehr fließenden Grenzen nebeneinander stehen. Aber es ist das Zeichen der Größe und nicht der Jämmerlichkeit, das im Nicht­ widerstehen zum Ausdruck kommen soll und kann. Jesus stellt den Grundsatz, den eS gilt, noch unter einem anderen Gesichtspunkt auf, wodurch der Grundsatz zu seiner letzten Höhe kommt. (Matth. 5, 43 — 48.) Gegenüber dem unS von Natur einfach selbstverständlichen Satz, daß man den Freund lieben und den Feind Haffen soll, stellt er den anderen unerhörten Satz: „Liebet eure Feinde!" An diesem Wort Jesu haben sich schon Ungezählte gestoßen, nicht bloß unter den Gegnern, sondern auch unter den allerehrlichsten Freunden des Christentums. — Aber auch da, wo Jesus dies höchste Hochziel für das Verhalten der Seinen aufstellt, zeigt er die volle Nüchternheit, in der all fein Reden und Tun sich hält, auch wo er Höchstes aussagt und Höchstes verlangt. Einmal: Er erkennt an, daß

wir Feinde haben können, daß wir von manchem wissen, daß er uns feindlich ist, daß wir nicht einfach imstande sind, den Feind zum

Freund zu machen. Und weiter weiß er, daß er ein Hochziel auf­

stellt, das nur im Blick auf Gott und Gottes eigenes Tun überhaupt vor uns aufsteigen kann: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater

im Himmel vollkommen ist!" Einem, dem die Liebe des himmlischen Vaters, der regnen läßt über Gerechte und Ungerechte, nicht im Blick­

feld erscheint, Feindesliebe zumuten, ist Torheit. Denn nur am Vater

selber lernen wir, was Liebe im letzten und tiefsten Sinn ist. Die

letzte, tiefe, göttliche Liebe gibt sich nicht dem anderen, um wieder von ihm zu empfangen; sie gibt, um zu geben, dem anderen zu helfen, ihn zum Leben zu bringen und darin zu fördern. — Können wir etwas dazu tun, um solcher Liebe fähig zu werden? Jesus gibt ein Mittel an:

„Bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen." Natürlich nicht nur die Bitte für die „Feinde" ins Gebetsformular aufnehmen — die

bloß ausgesprochene Bitte für die Widersacher kann sehr leicht Selbst­ betrug werden, ja zum Hochmut führen. Für einen Menschen bitten, der uns das gebrannte Herzeleid angetan hat, ist ein schwerer Kampf mit uns selbst, mit unseren unwillkürlichen Trieben und Neigungen. Aber unmöglich ist e6 nicht, daß wir von Gott die Kraft zum Sieg

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Eger, Evangelischer Glaube

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über uns selbst geschenkt bekommen, auch dem Feind Gutes zu sinnen und zu wünschen im ehrlichen Verzeihen deffen, was er uns Böses

sinnt und tut?) *

Das Schriftgelehrtentum hatte sich schon Gedanken darüber ge­

macht, ob ein Unterschied zwischen den vielen Einzelgeboten deS Ge­ setzes gemacht werden könne und müffe, und war zu dem Ergebnis

gekommen, daß die Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten

(5. Mos. 6, 4 — 5; 3. Mos. 19, 18) die obersten seien. Jesus bestätigt dem ihn befragenden Schriftgelehrten (Luk. 10, 28) die Richtigkeit

dieses GesetzeSverständniffeS. Auf den Einwand des Schriftgelehrten, er könne doch im einzelnen Fall nicht wiffen, auf wen er das Gebot der Nächstenliebe anzuwenden habe —

der Schriftgelehrte braucht

nach seiner ganzen Schulung bestimmte Einzelweisungen für sein

Handeln, Gesetzesparagraphen —, zeigt ihm Jesus am Beispiel des barmherzigen Samariters (Luk. 10, 31 —37), daß ihm das

die Bewegtheit des eigenen Herzens sagen müffe. („Da er ihn sah,

jammerte ihn sein".) Dadurch wird der Samariter dem, der unter die Mörder gefallen ist, der Nächste, daß ihm die Not des

Menschen, der da vor ihm liegt, zu Herzen geht. — Dadurch erst wird aus dem Zusammengeführtwerden von Menschen wirkliche Gemein­

schaft, daß wir im Herzen den Anspruch, den der andere an uns hat, vernehmen und diesen seinen Anspruch der Sorge für das eigene

Wohlergehen überordnen. Das ist das Verständnis der Barmherzig­ keit, das Jesus bringt, nicht äußerliche, oft eitle, selbstgefällige Wohl­ täterei, auch nicht schlappe Weichlichkeit, sondern verstehendes Mit­

fühlen mit dem, wie es dem Menschen, der uns in unseren Weg ge­ führt wird, zumute ist, was er von uns braucht. Die Erzählung vom barmherzigen Samariter wird mißverstanden, wenn der Ton darauf

gelegt wird, daß der Samariter und der unter die Mörder Ge­ fallene, der doch vermutlich ein Jude war, einander äußerlich gar

*) Das, worum es bei Jesu Wort von der Feindesliebe geht, wird ver­ dunkelt, wenn man dabei wesentlich an die denkt, die uns aus politischen Gründen als „Feinde" unseres Volkes erscheinen. Die schwierigen ethischen Fragen, die sich dabei erheben, gehören nicht hierher. Der Feind, den Jesus im Auge hat, ist der, der uns persönlich feindselig gesonnen ist und uns das spüren läßt.

nichts angingen. Der Ton liegt darauf, daß das verstehende Mit­ fühlen den Samariter an den Zerschlagenen innerlich bindet. Und es

soll damit wahrhaftig nicht ausgeschlossen werden, daß der, der unser verstehendes Mitfühlen beansprucht, mit uns durch natürliche Schick­ salsgemeinschaft schon sowieso verbunden ist. Je näher uns einer schicksalsmäßig steht, desto häufiger und unwillkürlicher wird sich der Anruf an uns, das äußerliche Zusammensein zur inneren Verbunden­ heit werden zu lassen, zur Geltung bringen. Den Menschen unseres engeren und engsten LebenSkreiseS gegenüber werden wir am unmittel­ barsten zum verstehenden Mitfühlen aufgerufen (Mutter — Kind!) und haben wir täglich und stündlich Gelegenheit, helfende Barm­ herzigkeit zu üben. Nur daß das äußerliche Aufeinanderangewiesen­ sein allein nie genügt, uns zu wirklicher Gemeinschaft mit ihnen zu bringen; die entsteht nur, wenn das innerliche Aufgerufenwerden dazu kommt. — Noch ein anderer Zug will an der Erzählung vom barmherzigen Samariter beachtet sein. Jesus malt einen Menschen in äußerer Not, in unmittelbarer Lebensgefahr. Da regt sich in uns, vom Schöpfer in uns hineingelegt, unwillkürlich das Mitgefühl, der Trieb zu helfen — wenn auch dem Helfertrieb die Sorge um unser eigenes Wohlsein sich wieder hindernd in den Weg stellt und in tau­ send Fällen daS Mitgefühl zum schwächlichen Bedauern macht. Aber an sich entspricht tatbereites Mitgefühl mit der äußeren LebenSnot des anderen ursprünglichem Empfinden. Und Jesus hat das in seinem Wert voll anerkannt, wenn er dem Schriftgelehrten sagt: „So gehe hin und tue desgleichen!" Wie er ja auch im Gleichnis vom Jüngsten Gericht (Matth. 25, 31 —46) die zu seiner Rechten stellt, die die Hungrigen gespeist, die Kranken besucht haben, zu den Gefangenen gekommen sind, ohne auch nur darüber nachzudenken, ob sie damit etwas besonders Löbliches getan haben. Aber den Seinen gegenüber hat Jesus den Anspruch an ihre Fähigkeit, verstehend und hilfsbereit mit der Not der anderen mit­ zufühlen, nicht auf den Anblick äußerster Not beschränkt. Er hat ihn ausgeweitet nach der goldenen Regel (Matth. 7, 12): „Was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen (d. h. worin ihr nach eurem eigenen Bedürfen euch von den anderen äußerlich und innerlich geholfen haben

möchtet: daß sie euch beistehen, euch Gerechtigkeit widerfahren lassen, euch gütig und hilfsbereit die Hand reichen), — das tut ihr ihnen." Statt dessen stellen wir an das Verhalten der anderen gegen uns

regelmäßig ganz andere Anforderungen als an unser Verhalten gegen sie, nehmen ihnen sehr übel, wenn sie unö aus Rücksichtslosigkeit oder Übelwollen verletzen, und haben einen Haufen von Entschuldigungen

bei der Hand, wenn wir vor uns selber zugestehen müssen, daß wir ele­ mentare Grundsätze der Gerechtigkeit, des Anstands usw. ihnen gegen­ über außer acht lassen. So machen wir es von Natur alle, die einen gröber, die anderen feiner, die einen mit robusterem, die anderen mit zarterem Gewissen, weil wir als naturhafte Ichmenschen immer geneigt sind, unser Verhältnis zu den anderen von dem aus zu sehen, was wir von ihnen zu beanspruchen haben, nicht von dem aus, was wir ihnen sein und geben können. Gottlob wehrt sich dagegen bei uns schon ein natürliches Gerechtigkeitö- und Billigkeitsgefühl („Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem andern zu")» Aber es hält uns doch nur zur Einschränkung rücksichtsloser Selbstsucht, zur Vermeidung himmelschreiender Ungerechtigkeiten an. Während eS Jesus nicht um Einschränkung unserer Selbstsucht in dem Sinne des noch Erträglichen, sondern um ihre Besiegung durch die Erkennt­ nis geht, daß unser Leben nicht unö selbst, sondern dem Herrn gehört, der uns an den Menschen an unserer Seite als an unseren „Bruder" weist, daß wir ihm zum Leben helfen und nicht zu Leid, Neid und Streit. Die Regungen unseres natürlichen Helfertriebs, natürlichen GerechtigkeitS-, Anstands- und Billigkeitsgefühls, die Einschränkung nackter Selbstsucht von uns fordern, gehen eine weite Strecke neben den Ansprüchen der goldenen Regel Jesu, sie unterstützend, einher, wenn sie auch nicht in ihre Tiefe reichen. An einem Punkt aber erhebt sich der Anspruch Jesu an unser Verhalten gegen den „Bruder" zu einer Höhe, daß er in offenen Zwiespalt mit unserem natürlichen Empfinden tritt: wo es sich um das handelt, was der andere uns zu­ leide tut. Davon war schon beim „Backenstreich" und bei dem „Lie­ bet eure Feinde" die Rede, und wir haben uns dort das Ungeheure des Anspruchs nicht verhüllt. Es ist kein Zufall, daß für unser Ver­ halten gegen den Nächsten in leiblicher Not Jesus uns den barm­ herzigen Samariter zum Beispiel gibt, während er für das „Liebet eure Feinde" auf die Tat Gottes selber Hinweisen muß. Der An­ spruch beschäftigt uns jetzt noch einmal in der besonderen Form, daß er auf unsere Fähigkeit bezogen wird, dem „Bruder" zu verzeihen, waS er uns zuleid getan hat und noch tut. Unter die goldene Regel

fällt der Anspruch auch; denn wir wollen selbstverständlich, daß die anderen uns das Unrecht verzeihen, das wir ihnen angetan haben — und nehmen es ihnen oft bitter übel, wenn sie es nicht tun. Aber hier möchte ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, daß Jesus den Knecht, der seinem Mitknecht die Schuld nicht erlassen will, unbarm­ herzig nennt. (Matth. 18, 21—35.) Wo der, der unser „Bruder" sein sollte, uns schädigt, beleidigt, kränkt, da schwindet unsere natürliche Fähigkeit, den anderen mit­ fühlend zu verstehen, von Ausnahmen abgesehen, die in besonderen schöpfungsmäßigen Tiefen ihren Ursprung haben (Mutter — Kind u.ä.), im allgemeinen ganz dahin. WaS er anderen zuleid tut, dafür können wir unter Umständen nicht allzu schwer ein gewisses Verständ­ nis aufbringen, wenn uns auch im allgemeinen von Natur näher liegt, uns auch deshalb schon über ihn zu Gericht zu setzen: „Gott sei Dank, daß ich nicht bin wie andere Leute." DaS Pharisäergebet sprechen sehr viele, die sich über das Pharisäertum heftig entrüsten. Aber wenn das Unrecht gegen uns selber geht, da bekommt unsere Fähigkeit, dem anderen mitfühlend mildernde Umstände zuzubilligen, oder gar seine Schuld als seine Not zu verstehen, den härtesten Stoß. Da beherrscht uns ganz das Gefühl: „Bezahle mir, was du mir schuldig bist!" — das erscheint als die allereinfachste Forderung der Gerechtigkeit. Dem begegnet Jesuö mit dem Gleichnis vom Schalksknecht. Denn Gott, der heilige, gerechte Gott, der heilig und gerecht ist und bleibt, handelt mit uns, wenn wir zu ihm kommen, nicht nach dem Gesetz rechnerischer Vergeltung, sondern nach dem des Erbarmens. So muß sich für uns, wenn wir das Wesen dieser Erbarmung Gottes begriffen haben, daraus mit Notwendigkeit ergeben, daß wir dem, der sich an uns versündigt hat, mitfühlend vergeben können. Der Gedanke wird aufs nachdrücklichste unterstrichen in der 5. Bitte des Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." Es ist wohl gerade in der heutigen Lage, wo so viele erklären, sie wollten von dem Sündengewinsel und dem Vergebungsgeschwätz, das in der Kirche im Schwang gehe, nichts wissen, besonders wichtig, daß Jesus an das Verständnis dessen, was eS mit unserer Schuld vor Gott auf sich hat, von der Seite aus heranführt, daß er von dem redet, womit andere sich gegen uns versündigen. Daß Sünde und Unrecht nicht Lappalien sind, die man mit dem Handrücken wegwischen

kann, merken wir sehr deutlich, wenn eS sich um das Unrecht handelt, das uns angetan wird. Und ich habe immer die Erfahrung gemacht, daß man einem redlichen, aufrechten Menschen die Wahrheit des Wortes: „Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?" (Matth. 7,3 — 5) ohne allzu große Schwierigkeit einleuchtend machen kann. Wohl kaum das Verhältnis Splitter/Balken, wohl aber das, daß von dem, was

uns an anderen entrüstet, auch bei uns selbst allerlei zu finden ist. Ist so erst ein Verständnis dafür angebahnt, daß keiner sich völlig von dem freisprechen kann, was in der Beziehung von Mensch zu Mensch als Unrecht und Sünde bezeichnet wird (wenn da auch Unterschiede genug vorhanden sind), so ist der Möglichkeit, in glatter Selbst­ gerechtigkeit sich vor Gott im Pochen auf die eigene Leistung auf­ zupflanzen, schon ein Riegel vorgeschoben. Zunächst vielleicht erst in der Form: ja, ohne Fehler ist kein Mensch, auch ich nicht, aber —. Und nun hat der Pharisäer in uns wieder freies Feld. Aber wenn dann Jesus vor uns steht, in der lauteren Wahrheit und Gerechtigkeit und Gütigkeit seiner Worte und seines ganzen Wesens, da wird's doch manchem ergehen wie Petrus im Kahn: „Herr, gehe von mir hinaus; ich bin ein sündiger Mensch." (Luk. 5, 8.) Nicht ein Lump, ein Ver­ brecher nach dem Maßstab äußerer Gerechtigkeit vor den Menschen, sondern schuldig vor dem Auge desien, von dem niemand anders als Jesus selbst zum reichen Jüngling sagt: „WaS heißest du mich den Guten? Niemand ist gut, denn allein Gott." (Mark. 10, 18.) Auch was er selbst an reiner Güte in sich trägt, wird ihm lediglich von dem zuteil, der der Maßstab und die Quelle alles Guten ist. So, nicht als Sündengerede, das wohl gar noch nicht einmal vollkommen wahr­ haftig ist, sondern als Beugung wegen dessen, was uns vor dem Gott der heiligen Wahrheit und Gerechtigkeit und Güte fehlt und uns vor ihm verklagt, ist die innere Haltung dessen zu verstehen, dem Jesus als geistlich Armem den Anteil an der Herrschaft Gottes zuspricht: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben." (Mark. 2, 5.) Ver­ geben nicht deshalb, weil er sich vor Gottes gerechtem Gericht an­ klagt und schuldig gibt, sondern weil er bereit und willig ist, die Gnadenhand, die Gott ihm in seiner Vergebung reicht, zu ergreifen und im Licht seiner Wahrheit, Treue und Barmherzigkeit zu leben in Gotteö Dienst. Schon unsere Kinder verstehen an der Geschichte vom verlorenen Sohn, was es mit der Heimkehr des Sohnes auf

sich hat, den der Vater verzeihend in seine Arme nimmt, nicht damir er wieder zu seinen Schweinen und ihren Trabern zurückkehre, sondern damit er beim Vater bleibe und ihm diene, weil er erfahren hat, wo seine Heimat ist. (Luk. 15, 11 —32.) Es liegt eine Gefahr in der Geschichte vom verlorenen Sohn, wenn sie nicht in ihrer Tiefe, in ihrem furchtbaren Ernst verstanden wird. Es scheint alles so sonnig und so selbstverständlich zuzugehen; es ist, als ob der Sohn nur von einem törichten Irrtum geheilt worden sei, wie ihn der Vater wieder zu sich nimmt. Aber die Erzählung ist ernst genug; man muß nur mit seinen Gedanken gründlich bei dem verweilen, was den Sohn aus der Fremde nach Hause treibt, und wie er nach Hause kommt. Schuld ist Schuld, schon Schuld gegenüber Menschen ist Schuld, über die man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen kann, sondern die vergeben werden muß von dem, an dem man sich versündigt hat. Deshalb hat Jesus als das Größte angesehen, was ihm der Vater anvertraut und befohlen hatte, daß er das Wort von der Vergebung der Schuld im Namen und Auftrag Gottes zu bringen imstande ist. (Mark. 2, 10.) Wer in dem Wort von der Ver­ gebung nur eine schöne Formel sieht, und nicht das, was ihn wirkungs­ mächtig von seinem Unrecht scheidet und an Gott bindet, für den ist und bleibt daö Wort von der Vergebung ein leeres Wort, das ihn nicht anders macht, als er vorher gewesen ist. Und weil man an denen, denen das Wort von der Vergebung zugesprochen ist, oft so wenig von solcher Wirkung merkt, ist das Mißtrauen, das heute viele dem Wort gegenüber haben, zum nicht geringen Teil durch die ver­ schuldet, die von der erneuernden Kraft des Wortes andere so wenig an sich selber spüren lassen. „Gott läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte." Also macht Iesus doch einen Unterschied zwischen den Menschen nach gut und böse? DaS tut er allerdings. ES ist ein schlimmes Mißverständnis des Wortes von der Vergebung, wenn man unter Berufung darauf, daß alle der Ver­ gebung Gottes bedürfen, die Unterschiede, die tatsächlich zwischen Tu­ gend und Laster, Rechtschaffenheit und Verdorbenheit, Güte und Gehässigkeit usw. bei der Lebenshaltung und Lebensführung der Men­ schen bestehen, übersehen will. Jesus hat den Pharisäern nie einen Vorwurf daraus gemacht, daß sie sich eifrig um einen tadellosen Lebenswandel bemühten, und ebensowenig hat er die Zöllner und

Dirnen deshalb gelobt, weil sie sich allerlei Schlechtigkeiten haben zuschulden kommen lassen. Was er den Pharisäern vorwarf, das war, daß sie auf ihre äußere Rechtschaffenheit stolz waren und die anderen verachteten, dadurch für das blind wurden, was sie selbst vor Gott verklagte, und wie sehr sie selbst der Umkehr und der Vergebung be­ durften. Und der Zöllner und Sünder hat er sich angenommen, weil sie wirklich auf seinen Ruf zu Gott hörten, nach Gottes Gnade Verlangen trugen und willig waren, ihr Leben zu bessern. Nicht über den Sünder ist Freude im Himmel, sondern über den Sünder, der von der Sünde sich zu Gott kehrt. (Luk. 15, 10.) Wie sagt Jesus zu der Ehebrecherin, die sie ihm zuführten, daß er das Urteil über sie spreche? „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr!" Das heißt aber ganz konkret: gib deinen schlechten Lebenswandel auf! (Ioh. 8, 11.) — Wer genauer zusieht, der erkennt, daß Jesus das Wort von der Vergebung, deren wir alle bedürfen, nie dazu benutzt hat, den Ernst unserer Verant­ wortung für unsere Lebensführung abzuschwächen, die Vergebung als einen Freibrief für unsere Bequemlichkeit und für unsere Unlust zur Arbeit an uns selbst erscheinen zu lassen. Das Gegenteil ist der Fall. Es kehrt sich keiner wahrhaftig zu Gott, der sich nicht ernstlich gegen das stellt, was schlecht und unrecht an ihm selber ist. Dabei macht aber Jesus den Schnitt zwischen gut und böse, gerecht und ungerecht an anderer Stelle, als er von der bequemen Durchschnittsmoral gemacht wird, weil er uns vor die Majestät des heiligen Gottes selber stellt und uns dadurch den Ausweg abschneidet, unser Gewissen damit zu beruhigen, daß wir besser sind als soundso viel andere.

*

In den Evangelien nehmen die Berichte über die wunderbaren Helfertaten Jesu einen breiten Raum ein. Sie haben auf uns als Kinder einen besonderen Eindruck gemacht, sind aber vielen später eine Quelle von allerlei Schwierigkeiten geworden. Es drängen sich in der Frage nach der rechten Würdigung der biblischen Wunder­ berichte wie in einem Brennpunkt all die Schwierigkeiten zusammen, die die für eine glaubwürdige Verkündigung des biblischen Evan­ geliums bei den Menschen von heute unbedingt erforderliche Aus­ einandersetzung deö biblischen Weltbildes mit dem uns heute selbstverständlich gewordenen naturwissenschaftlichen Weltbild mit sich bringt. Über die grundsätzliche Seite der Wunderfrage wird später

zu handeln sein (Seite 160). Über die alttestamentlichen Wunder­ erzählungen ist oben (Seite 32) das Nötigste gesagt. Hier haben wir uns mit dem zu befassen, was uns im Neuen Testament über Wundertaten Jesu berichtet wird. Was uns im Neuen Testament von wunderbaren Taten Jesu erzählt wird, sind Berichte über Erlebnisse, die Menschen in der Be­ gegnung mit Jesus gehabt haben. Da weder die, die jene Be­

gegnungen selbst erlebt haben, noch die, die davon weiter berichtet haben, unseren heutigen Begriff naturgesetzlicher Zusammenhänge kannten, haben sie auch nie von Wundern im Sinn einer „Durch­ brechung" dieses naturgesehlichen Zusammenhangs gesprochen, son­ dern immer im religiösen Sinn der Erfahrung außerordentlicher Geschehnisse, an denen sie der Führung und der Hilfe Gottes besonders eindrücklich inne geworden sind. Da die Menschen, mit denen Jesus zu tun hatte, alle an den allmächtigen Gott glaubten, der nicht nur einzelne außerordentliche Geschehnisse, sondern alles Geschehen im Himmel und auf Erden mit seiner Allmacht lenkt, war für sie das Wirken Gottes nie auf solche ungewöhnlichen Geschehnisse beschränkt, wie die Heidengötter ihre Macht, die nicht Allmacht war, durch solche ungewöhnlichen Geschehnisse ihren Gläubigen beweisen mußten. Auf dem Boden des Glaubens an den allmächtigen Gott kann eö sich bei dem, was man als Wunder Gottes erlebt, immer nur darum handeln, daß man bei gewissen Ereignissen des Wirkens des allmächtigen Gottes mit ganz besonderer Eindrücklichkeit inne wird. Das tritt in den neutestamentlichen Wunderberichten sehr deutlich hervor. Von Jesus selbst wird dieser Zusammenhang zwischen dem Erlebnis eines Geschehens als Wunder Gottes und dem Glauben dessen, der dies Er­ lebnis hat, mit allem Nachdruck in der Richtung verfestigt, daß er aufs entschiedenste ablehnt, durch Wundertaten den Glauben an seine göttliche Sendung hervorzurufen. (Jesu Versuchung, Matth. 4, 5 — 7; Ablehnung der Zeichenforderer, Matth. 12, 39; vgl. auch sein

Verhalten in Nazareth, Mark. 6, 5 - 6.) Seine Helfertat setzt den Glauben an seine Sendung voraus. Von besonderer Wichtigkeit ist, daß er für sich selbst nie eine besondere Tat Gottes erbeten hat. Er legt eö völlig in des Vaters Hand, ob und wie er ihm helfen oder aber auch die äußere Hilfe versagen will. (Gebet in Gethsemane, Matth. 26, 39.) Vgl. auch die Verhöhnung unterm Kreuz, Matth. 27, 42 f. Wir dürfen daö, was uns von Jesu Wundertaten

berichtet wird, nie außer Zusammenhang sehen mit seinem Gang zum Kreuz. Aber so völlig Jesus es ablehnt, seinen oder anderer Glauben an Gottes allmächtiges Walten auf Wunder und Zeichen zu gründen, ebenso selbstverständlich ist eS ihm, daß der Allmächtige wirken kann, was er will. Daß ihm kein Mensch, auch Jesus selbst nicht, vorschrei­ ben kann, innerhalb welcher Grenzen er seine Wirkensmacht auSzuüben vermag (vom Berge versetzenden Glauben, Matth. 21, 21; Mark. 11, 23). — Und eS ist eine völlig gesicherte geschichtliche Tat­ sache, daß Jesus sich vom Vater bevollmächtigt wußte, als Zeichen der in ihm angebrochenen Gottesherrschaft kranken Menschen, die im Glauben an seine Sendung zu ihm kamen, im Namen Gottes Hei­ lung zu bringen (Matth. 12, 28), und daß er von dieser Vollmacht reichlich Gebrauch gemacht hat. Wir haben heute ziemlich reiche, auch wissenschaftlich nachgeprüfte Kenntnis von der ungeheuren Macht, die ein starker, überlegener Wille auf die Heilung von Kranken auSzuüben vermag, besonders wenn sie ihm mit gläubigen Verlangen ent­ gegenkommen. Und wir wissen, daß die Religionsgeschichte aller Zeiten von solchen seelisch bedingten Krankenheilungen voll ist — freilich auch von sehr viel Schwindel auf diesem Gebiet. Es hindert nichts, die Heiltaten Jesu nach feiten ihrer naturhaft seelischen Vermittlung in einer gewissen Analogie mit solchen unö anderweit bekannten Krankenheilungen zu sehen. Ebenso einleuchtend ist eS, daß bei der Einzigartigkeit Jesu sein Heilungswille im Auftrag des Vaters von einer Stärke der Wirkung auf die Kranken war, die über das von anderen auf diesem Gebiet Geleistete und Erfahrene bis zum Unver­ gleichlichen hinausliegt. Aber das betrifft alles nur die zu vermutende naturhaft seelische Vermittlung der Heiltaten Jesu, nicht daö, worauf es ihm gerade auch für die, denen er half, angekommen ist. Er handelt nicht zauberhaft mit geheimnisvollen Kräften, die er in sich spürt (er hat solche Kräfte gehabt, Mark. 5, 30), sondern im Gebet zum Vater, damit er den Glauben an den Vater stärke. Wie weit ihm das bei denen, denen er geholfen hat, gelungen ist, ist eine Frage für sich; eS sind wohl viele zu ihm gekommen, denen mehr am Gesund­ werden lag als an der Herrschaft GotteS, und er hat barmherzig ge­ holfen, auch wo der Glaube noch nicht reif und rein geworden war. Um so wichtiger ist, daß wir Erzählungen haben, wo die Beziehung der Heiltat auf den Glauben an den heiligen allmächtigen guten Gott

deutlich herausgestellt wird. Bei den ausführlicheren Berichten über Jesu Heiltaten ist das, was er dabei gesagt hat, den Berichterstattern offenbar die Hauptsache gewesen, weil erst von hier seine Tat in die richtige Beleuchtung tritt. So stehen auch seine Taten im Dienst dessen, was er denen, die zu ihm kommen, von Gott zu sagen hat. Vgl. die Schilderung des Glaubens des Hauptmanns von Kaper­ nau m und die Verheißung, die ihm Jesus gibt, neben der das Ge­ sundwerden des Knechts wie beiläufig berichtet wird. (Matth. 8, 10— 13.) Besonders wichtig ist der Bericht über die Heilung des Gichtbrüchigen. (Mark. 2, 1 — 12.) Jesus hat den Mann an­ scheinend ursprünglich nicht heilen wollen (warum, wissen wir nicht), sondern ihm statt dessen die Vergebung der Sünden zugesprochen. Erst als durch die Zweifel der Schriftgelehrten an der Vollmacht Jesu, die Vergebung der Sünden wirkungskräftig auszusprechen, der Glaube des Kranken erschüttert zu werden droht, erfolgt die Heilung: „Auf daß ihr wisset, daß des Menschen Sohn Macht habe, Sünden zu ver­ geben auf Erden!" (Mark. 2, 10.) Sehr lehrreich ist auch die Er­ zählung von der Heilung der zehn Aussätzigen, Luk. 17, 11 — 19 (ob eö gerade zehn waren? Zehn ist eine runde Zahl), wo zwar alle Heilung finden, aber nur dem einen, der umkehrt, um durch den Dank an Jesus Gott die Ehre zu geben, gesagt wird: „Dein Glaube hat dich gerettet!" Daß manche Taten beim Weitererzählen ausgeschmückt worden sind, indem ihre auffällig verwunderlichen Züge in der Überlieferung eine größere oder geringere Steigerung erfahren haben, ist selbstverständ­ lich nicht ausgeschlossen; es ist mehr als wahrscheinlich. Deshalb soll man nicht an etwa hier entstehenden Schwierigkeiten mit seinen Ge­ danken hängen bleiben. — Wie steht eö nun aber mit den durch oder an Jesus geschehenen wunderbaren Vorgängen, von denen berichtet wird, die nicht im Dienst seiner Helfertätigkeit an Kranken standen? Es sind ihrer nicht viele, wenn auch z. T. besonders bekannte und beachtete. Wenn man einigermaßen darin Bescheid weiß, wie die damalige Zeit im Orient und Okzident voll war von Erzählungen wunderbarer Geschehnisse, in denen die Grenzen des Möglichen und Unmöglichen völlig verschwunden scheinen, staunt man über die keusche Zurückhaltung, mit der in unseren evangelischen Berichten von diesen Dingen die Rede ist. Man hat stark den Eindruck, wie sehr hier der natürliche Wunsch und Trieb, die Herrlichkeit Jesu schon während

seines Erdenwandels in erstaunlichen Geschehniffen sichtbar aufleuchten zu lassen, gezügelt wird durch das Gefühl der Verantwortung unter dem Einfluß der Haltung Jesu selbst. Auf der anderen Seite ist eö selbstverständlich, daß hier der Versuch, in daö einzudringen, was hinter dem uns vorliegenden Bericht an ursprünglich geschichtlich Gegebenem steht, in ganz besonderem Maß unter dem Vorzeichen des bloß Wahrscheinlichen steht, wobei der persönlichen Entscheidung deS Lesers naturgemäß ein weiter Spielraum bleibt. Unter allen Um­ ständen gilt auch hier der Grundsatz, den Jesus bezüglich seiner wun­ derbaren Heilungstaten ausgesprochen hat: daß sie nie den Glauben an seine göttliche Sendung begründen sollten, sondern dem vor­ handenen Glauben zuteil geworden sind. Man darf jene Wunder­ berichte deshalb auch heute nicht als Beweismittel für die göttliche Sendung Jesu verwerten. Deren sind die Jünger auf ganz andere Weise inne geworden, als dadurch, daß sie merkwürdige Dinge mit ihm erlebten. Man kann manchmal noch mit großer Wahrscheinlich­ keit feststellen, wie aus dem übergewaltigen Eindruck der Haltung Jesu der Bericht von dem Wundergeschehen herausgewachsen ist, wie bei der Stillung des Sturmes. (Mark. 4, 36 — 41.) Die Vermutung ist nicht zu gewagt, daß Ähnliches auch dem Bericht von der Speisung der 3000 (Mark. 6, 35 — 44) zugrunde liegt. (Andere wollen letztere vielmehr auf die geistliche Speisung der Tausende deuten; das ist mir wenig wahrscheinlich, obgleich die Speisung der 5000 offenbar schon früh mit dem christlichen Abendmahl zusammengebracht worden ist.) Um ein visionäres Erlebnis des Petrus handelt es sich wohl auf dem Berg der Verklärung (Matth. 17, 1 — 6), um die äußere Ein­ kleidung inneren Erlebens in der Erzählung vom sinkenden Petrus. (Matth. 14, 25 — 33.) Umsetzung von Worten Jesu in ein äußeres Ereignis scheint vorzuliegen in der Erzählung von der Verfluchung des Feigenbaumes. (Mark. 11, 13f., 20 f.; vgl. das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum, Luk. 13, 6 — 9.) Aus inneren Gründen fragwürdig ist der Bericht, daß Jesus die Tempelsteuer mit dem Geld­ stück bezahlt haben will, das Petrus im Maul eines von ihm zu fangenden Fisches finden soll. (Matth. 17, 24 — 27.) Auf der anderen Seite ist dieser Wunderbericht so eng mit einem Wort Jesu ver­ bunden, das alle Züge der Echtheit an sich trägt, daß man hier sicher mit einer Übersteigerung eines ursprünglich einfacheren Sachverhaltes zu tun hat. Das ist zweifellos noch öfter der Fall. - Ich muß mich

auf diese Andeutungen beschränken, die nicht mehr als Winke sein sollen, wie man die an den sogenannten Herrlichkeitswundern entstehenden Fragen zu beantworten suchen kann. Den Glauben an Jesu göttliche

Sendung begründen können und sollen sie nicht; sie können nur im Zusammenhang mit der Gesamthaltung und dem Gesamteindruck der Person Jesu recht gewürdigt werden. ¥

Der Heiland, der den Kranken und Bresthaften im Zeichen der angebrochenen Herrschaft Gottes auf wunderbare Weise hilft, ge­ hört unablösbar zu dem Jesusbild der Evangelien. Aber daö Wesent­ liche seines Wirkens besteht in der Verkündigung des Wortes, das ja auch sein Helfertun fortwährend deutend begleitet und ihm erst seinen vollen Sinn gibt. Die Gleichnisse, die Mattth. 13 zu­ sammengestellt sind, beschäftigen sich mit der Bedeutung des „Wortes" für das Wachstum der Herrschaft Gottes. „Wort" ist mehr als bloßes Reden; es kann einer sehr viele Worte machen, und es ist doch keine Spur von „Wort" drin. „Wort" ist das, was aus der innersten Seele deffen, der das Wort zu sagen vermag, herauötritt, um die Seele des Hörers zu finden und zu treffen. Das ist dann das, was den Hörern den Eindruck weckt, daß da einer spricht, der Voll­ macht hat (Matth. 7, 29) und nicht wie die Schriftgelehrten bloß Worte sagen kann, vielleicht recht gute und wahre Worte, die aber doch nicht das Innerste treffen. Wir haben in unseren Tagen hoch entwickelten künstlerischen Empfindens ein sehr feines Gefühl für diesen Unterschied von „Wort" und Worten und bloßem Gerede. Um zu verstehen, was Jesus mit dem „Wort" meint, müssen wir aber zu dem bisher Gesagten noch daö andere hinzunehmen, daß er sein Wort im Namen und Auftrag Gottes spricht, als Ruf zur Buße und zum Glauben. Jesus redet nicht bloß zum Herzen, sondern auch zum Gewissen der Hörer, sein Wort wird nur vernommen, wo eö das Gewissen trifft und Glauben (im Sinn der Antwort auf den Ruf Gottes) weckt. Was Jesus über das Wesen des „Wortes" zu sagen hat (er spricht nicht viel darüber, sondern verkündet es meist ein­ fach), kleidet er gern in die Form des Gleichnisses, damit man an Hand des Gleichnisbildes darüber nachdenken kann.

Das Sagen des Wortes vergleicht er mit dem Ausstreuen der Saat, und das wirkliche Hören des Wortes mit dem Keimen und

Aufgehen der Saat. Im Gleichnis vom Säemann (Matth. 13, 3 - 8), schildert er die verschiedene Art der Aufnahme des Wortes vom bloß äußerlichen Hören, bei dem das Herz gar nicht wirklich bewegt wird, zum flüchtigen, nur stimmungsmäßigen Bewegtwerden, das in der Anfechtung nicht standhält, zum Ersticktwerden des Wortes durch das Verstricktwerden in andere, stärkere Wünsche, Sorgen, Jntereffen, bis zum Fruchtbringen, das auch wieder abgestuft wird. — Das stille Wachstum der Gottesherrschaft von innen heraus, wie es Gott gibt und werden läßt, und das man nicht von außen her mit menschlichen Mitteln machen kann, schildern die Gleichnisse von der still wachsen­ den Saat (Mark. 4, 26 — 29), vom Senfkorn und vom Sauerteig. (Matth. 13, 31—33.) — Von der gegenwärtigen Phase der in lebendiger Bewegung wachsenden Herrschaft Gottes ist die Phase der Vollendung, der Ernte, klar zu unterscheiden, wo offenbar werden wird, was bis dahin — im guten oder im bösen Sinn — in den Menschen, die zur Herrschaft Gottes gerufen sind, gewachsen ist. (Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, Matth. 13, 24-30, vom Fischnetz 13, 47 — 30.) Damit, daß das Offenbarwerden der vollendeten Gottesherrschaft noch aussteht, sind wir aber keineswegs auf den Standort Johannes des Täufers zurückgeworfen, der nur Wegbereiter für die kommende Gottesherrschaft war. Die Herrschaft Gottes ist da, ist im Anbruch, damit, daß in Jesus der da ist, der in Vollmacht des Vaters Gotteö Herrschaft wirksam bringt. (Luk. 17, 20 — 21. — Die Übersetzung Luthers „inwendig in euch" ist sprachlich nicht falsch, trifft aber nicht daS Wesentliche deS Ausspruchs Jesu. „Mitten unter euch" ist die Herrschaft GotteS, weil Jesus in ihrer Mitte ist.) DaS Ver­ hältnis zwischen dem Kommen der Herrschaft GotteS und dem Offen­ barwerden der richtenden Allmacht Gottes hat sich nicht bloß gegen­ über dem jüdisch-pharisäischen, sondern auch gegenüber dem alttestamentlich-prophetischen Denken, wie eS der Täufer vertritt, umgekehrt. Die Offenbarung der richtenden Allmacht des heiligen GotteS steht nicht mehr am Anfang des Kommens der Gottesherr­ schaft, sondern bildet den Abschluß ihres Kommens in der Welt „nicht mit äußerlichen Gebärden", das durch Jesus schon im Gange ist. — Der Maßstab, nach dem am Ende das Offenbarwerden der richtenden Allmacht GotteS sich vollzieht, ist nicht der Anschluß an Jesus als solcher, mit welcher Inbrunst und mit welcher Begeisterung er sich

vollziehen mag, sondern ganz schlicht und einfältig das Tun des Willens des Vaters im Himmel. (Matth. 7, 21 —23.) Denn das ist das, wozu Jesus die Jünger im Namen des Vaters gerufen hat und wozu er ihnen helfen will. *

Er kann ihnen aber dies Wesen der Herrschaft Gottes, die mit ihm mitten in der Welt des Unrechts, der Gewalttat, der Lüge, der frommen Heuchelei, der Herabwürdigung Gottes zu einem Werkzeug menschlichen GlückSbedürfnisieS und menschlicher Selbstsucht an­ gebrochen ist, — er kann den Jüngern das Wesen dieser Herrschaft Gottes auf gar keine andere Weise verständlich machen als so, daß er selber den Weg deö unzerbrechlichen Gehorsams gegen den Vater in Dienst und Opfer mit allen sich daraus ergebenden Not­ wendigkeiten geht. Sein Wort ist wirkungskräftiger Ruf zu Gott nur als seine eigene Tat. Jesus hat gar nichts von dem an sich, was man einen Asketen nennt, d. h. einen, der sich durch allerlei gewollte Entsagungen und Selbstquälereien von der Welt lösen und zu Gott erheben will. Er ißt und trinkt (Matth. 11, 19), freut sich an den Vögeln unter dem Himmel und an den Lilien auf dem Felde (Matth. 6, 26 — 28), ist gütig und freundlich gegen die Kinder, die sich zu ihm drängen (Mark. 10, 13 — 16; Kinder lieben Asketen nicht, sie sind ihnen umheimlich); richtet Kranke und Betrübte durch gütigen Zuspruch und tätige Hilfe auf, wirkt überall wie ein Abbild des Vaters der Barmherzigkeit. Aber wo es sich um die Ausrichtung seines Berufs handelt, ist er mit voller Selbstverständlichkeit zu jedem Verzicht und zu jedem Opfer bereit und fordert es auch von denen, die zu ihm gehören wollen. Nicht als ob sie sich dadurch irgend etwas Besonderes von Gott verdienen könnten und wollten, sondern weil es einfach so sein muß, wenn der Gehorsam gegen den Vater das Höchste und Letzte ist. — Und wir können noch erkennen, daß Jesus unter den Erfahrungen, die er an den Menschen machte, mit denen er zu tun hatte, sehr früh gewiß geworden ist, daß er die Herr­ schaft des heiligen gerechten, guten Gottes nicht anders in diese Welt der Sünde und der Ungerechtigkeit hineinwirken kann als so, daß er dafür das Letzte einsetzt, sein Leben. Wir können nicht in die Geheimniffe deS inneren Lebens Jesu einzudringen versuchen und die Ge­

danken, die ihn bewegt haben, nach unserem eigenen Denken und

Empfinden modeln wollen. Aber wir haben Spuren genug davon in den Evangelien, daß der Gang nach Jerusalem und ans Kreuz für Jesus nicht eine seine früheren Gedanken und Hoffnungen er­ schütternd umwälzende Katastrophe gewesen ist, sondern mit dem, was er von Anfang an gewollt und verkündigt hat, im innersten Einklang steht. Die drei ersten Evangelien geben keine zusammenhängende Dar­ stellung des Lebens und der Schicksale Jesu während der Zeit seines öffentlichen Wirkens. Sie bieten einzelne Worte und Ereignisse aus dieser Zeit, die sie auch mehr oder weniger in einen größeren Zusammenhang zu bringen versuchen, doch ohne sonderliches Be­ mühen. Aber ein Geschehnis tritt aus den Berichten mit Deutlichkeit hervor: daß er seinen Jüngern die Notwendigkeit seines Sterbens in voller Klarheit gezeigt hat im Zusammenhang damit, daß Petrus sich im Namen der Zwölfe zu ihm als dem Christus bekannt hat. (Christus, hebräisch Messias, ist die Bezeichnung des von den Pro­ pheten erwarteten Bringers der Herrschaft Gottes.) Es scheint so, als ob Jesus den Christustitel zunächst nicht von sich gebraucht hätte*), ja daß die Anwendung des Titels auf ihn von Petrus (namens der Jünger) ausgegangen ist. Auch beim Einzug in Jerusalem und bei den Streitgesprächen der letzten Tage wird die Verwendung des Christustitels durch Jesus selbst nicht berichtet. Erst vor dem Hohenpriester antwortet er auf dessen Beschwörung, „daß du unö sagest, ob du seist der Christus, der Sohn Gottes", bejahend: „Du sagst es". (Matth. 26, 63 - 64.) Nicht als ob Jesus sich nicht schon längst für den Christus gehalten hätte — wir haben uns ge­ nügend überzeugt, daß alles, was er sagt und tut, von dem Bewußt­ sein der vollkommenen Bevollmächtigung durch den Vater getragen ist. Er sagt und tut unzweifelhaft Dinge, die nur der Christus als Bringer der Herrschaft Gottes sagen und tun kann. Aber er sagt und tut eS in einer Form, die dem landläufigen Bild des Christus, der der äußerlich mächtige, siegreiche Erretter des Volkes sein soll, schnur­ stracks widerspricht. Und er will nicht durch Gebrauch des ChristuSnamenS teils falsche Erwartungen, teils entrüsteten Widerspruch wecken, was beides von dem, worauf es ihm ankommt, ablenken muß. *) Am Johannesevangelium ist es anders. Aber wir haben gesehen, daß es Johannes nicht um geschichtliche Berichterstattung zu tun ist.

Er tritt auf als schlichter Wanderprediger, allerdings mit dem un­ geheuren Anspruch, daß mit seinem Auftreten die Herrschaft GotteS, auf die man wartete, angebrochen sei, daß er wirksam zu dieser Herrschaft einladen könne, daß er in Vollmacht Sünden zu vergeben vermöge, daß er den Kranken Heilung und den Blinden das Gesicht im Namen Gottes zu bringen imstande sei. Aber das ist alles noch etwas anderes als der Gebrauch des Christuötitels selbst: es lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was er wirkungsmächtig vollbringt, gibt aber dem, der das alles kann, noch keine Gesamtbezeichnung. Matth. 16, 13 — 20 führt in die Möglichkeiten hinein, die für diese Gesamtbezeichnung bestehen. Die einen halten ihn für den wieder­ gekommenen Johannes den Täufer, andere für einen Propheten, dessen Wiederkunft man als Vorläufer des Messias erwartet. Die Schätzung der Leute geht also sehr hoch: der wiederkommende Pro­ phet muß der größte in der Reihe der Propheten sein. Aber Petrus, der im Namen der Jünger spricht, geht höher: „Du bist der Chri­ stus", der, in dem die Gottesherrschaft selber zu uns kommt! Die völlige Umwertung aller im Judentum landläufigen Werte: der ChristuSname auf das gegründet, was der so Angeredete von der Wahrheit und Kraft des heiligen allmächtigen, gütigen Gottes den Jüngern erschlossen hat. Ihnen, die mit ihm in seiner äußerlich völlig anspruchslosen Menschlichkeit Tage und Nächte zusammengelebt, die seinen Hunger und Durst, seinen Kummer und seine Freude, die den Schweiß auf seiner Stirn und den Staub an seinen Füßen gesehen haben. Für uns ist der ChristuSname, den wir von Kind auf gehört haben, eine ganz geläufige, ja abgegriffene Bezeichnung, von der die meisten nicht mehr wissen, daß sie eigentlich ein Titel ist, der Titel eines Herrschers und Königs. In der Lage der Jünger war er etwas schlechthin Unerhörtes. So erklärt sich auch das Lob, das Petrus aus dem Munde Jesu zuteil wird: „denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel". DaS war die Bekennertat des Petrus. Und weil er das Bekennt­ nis im Namen der Jünger spricht, ist mit seinem Bekenntnis die Bekennergemeinde geworden, die kein Widerspruch und kein Widerstand wird zerstören und vernichten können. (Matth. 16, 18.) Aber wohl gemerkt, daS Bekenntnis des Petrus heißt nicht: Wir er­ kennen dir jetzt den Ehrentitel des Christus (Messias) zu und werden dich damit von nun ab vor den Menschen preisen. Die Überlieferung 6

Eger, Evangelischer Glaube

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weiß, daß Jesus nach dem Petrusbekenntnis den Jüngern ausdrücklich verboten hat, den Leuten zu sagen, daß er, Jesus, der Christus wäre. (Matth. 16, 20.) Das Bekenntnis heißt: Wir haben an dem, was du uns von Gott gebracht und was du aus uns gemacht hast, erlebt und erfahren, daß du, Jesus von Nazareth, der Christus Gottes bist. Nur, wer davon selber im Gehorsam gegen den Ruf Jesu etwas erfahren hat, kann das Petrusbekenntnis wahrhaftig nach­

sprechen. Nun sind die Jünger weit genug gebracht, um zu erfahren, daß der Erdenweg des Christus ihn zum Kreuz führt, daß er jetzt nach Jerusalem gehen und die letzte Entscheidung herbeiführen muß, in der er sein heimliches Königtum durch sein Sterben nach dem Willen des Vaters zu bewähren hat. (Matth. 16, 21.) Warum das so sein muß, sagt Jesus ihnen nicht. Wenn sie den Kampf gegen Unverstand und Bosheit, Gewalttat und Betrug, den er bislang vor ihren Augen hat führen müssen, wenn sie die unheimliche Macht menschlicher Sünde und Selbstsucht, die sich dabei enthüllt hat, nur einigermaßen verstanden haben, müssen sie ohne weitere Belehrung wissen, warum der Weg des Bringers der Herrschaft des heiligen guten, barm­ herzigen Gottes in dieser Welt der Weg des Verstoßen- und Ver­ achtet- und Getötetwerdens sein muß. Daß in Jesu Gang zum Kreuz noch anderes liegt als der Zeugentod des Kämpen der Wahr­ heit, Lauterkeit, Gerechtigkeit, das ist den Jüngern erst später auf­ geschlossen worden. UnS ist von diesem anderen schon so oft gesprochen worden, daß wir darüber, wie beim Christustitel, in Gefahr sind, es zur bloßen Formel zu machen. Jesus stirbt, weil er die Allmacht der heiligen Liebe des Vaters in dieser Welt der Sünde und des Todes nur dadurch an sich zeigen kann, daß er sein Leben hergibt zur Er­ rettung derer, die sich an Gott und an ihm selber versündigen, damit sie sich versöhnen lassen mit Gott. Davon muß später noch die Rede sein; denn dies Geheimnis des Kreuzes ist gerade heute vielen ein schier unauflösliches Rätsel, weil frühere Geschlechter sich die Lösung

dieses Rätsels oft zu leicht gemacht haben. Bei Matthäus geht die Einführung der Jünger in das Ver­ ständnis des Kreuzes Jesu nach einer anderen Seite. Es ist das Verständnis des Kreuzes Jesu, das einem aufgehen kann und soll im Tragen des eigenen Kreuzes in Jesu Nachfolge. (Matth. 16, 24-26.) Was eS mit Jesu Gang zum Kreuz für ihn selber auf

sich hat, wird uns, wenn überhaupt, nur von da aus einigermaßen faßlich, was unser eigenes Kämpfen und Leiden als Tragen unseres Kreuzes bedeutet. Es bedeutet nicht, daß man das, was man irgendwann und irgendwie an Unglück und Enttäuschung, an Krankheit oder Not durchzumachen hat, als sein „Kreuz" neben das Kreuz Jesu stellt und sich als Kreuzträger bezeichnet. Wohl gehört auch das Durch­ fechten solchen Leidens zu dem, was der Jünger Jesu in der Nachfolge

des Meisters zu lernen und zu leisten hat, und wir wissen, daß das oft schwer ist bis zur Unerträglichkeit. Aber im Sinn, den Jesus hier meint, ist unser Kreuz das, was an Hartem, Bitterem, Schwerem für uns daraus erwächst, daß wir uns nicht von dem abdrängen lassen, was Gott nach Pflicht und Gewissen von uns fordert. Es handelt sich für Jesus hier nicht um Beschreibung der Kreuzeslast und um Angabe der Mittel, wie wir sie uns erträglicher machen können, sondern um Bekämpfung der Kreuzes scheu. Da erscheint als letzter Grundsatz des Ganges Jesu zum Kreuz, den wir von ihm lernen müssen: „Wer sein Leben erhalten will, der wird eS verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird eS finden." In ganz gewöhnliches Deutsch übersetzt: Wer nur an sich denkt, an daö, was er zur Sicherung und zur Bereicherung seines Lebens tun kann, der bringt sich selber um das, was in Wahrheit sein Leben ausmacht, und wenn er dabei an Gütern und Erfolgen überreich wird und die anderen ihn darum noch so sehr preisen und beneiden. Nur wer sein Leben aufzubrauchen und einzusetzen und, wenn'S sein muß, hinzugeben willig und bereit ist im Dienst der Treue, der Wahr­ haftigkeit, der Gerechtigkeit, der Güte, der Barmherzigkeit, der kommt zu dem, was wirklich Leben ist, Leben aus Gott und in Gott, Leben, das eS wert ist, gelebt zu werden. In d e m Sinn ist Jesus ans Kreuz gegangen, und in dem Sinn sollen wir unser eigenes Kreuz auf uns

nehmen. So ist Jesus mit seinen Jüngern nach Jerusalem hinaufgezogen, in voller Klarheit darüber, daß dort die letzte Entscheidung fallen mußte. Sein Gang zum Kreuz wird nicht verstanden, wenn man ihn nicht begreift als seine eigene freie Tat, im Gehorsam gegen das, was er als das von Gott her Notwendige erkannt hat. Es entspricht der ungeheuren Bedeutung, die der Kreuzeögang Jesu von allem Anfang an für die Christenheit gehabt hat, daß die Leidensgeschichte offenbar zu den ältesten Stücken der Gemeindeüberlieferung gehört. Wer weiß,

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welche Rolle in katholischen Ländern heute noch der KreuzeSweg Jesu mit seinen sieben Stationen spielt, der erkennt, welche Bedeutung nicht nur daS Kreuz als solches, als RettungS- und Gnadenzeichen, sondern auch das Leiden Jesu als sein menschliches Erdulden und Er­ leiden für die Frömmigkeit des katholischen Volkes hat. Freilich tritt dabei das tathaft Starke dieses Leidens gegenüber dem Mitleiden mit dem Mann der Schmerzen völlig zurück. Aber das tiefe Leiden und bittere Sterben, in dem Jesus untertaucht, und die Art, wie er dies bittere Leiden auf sich nimmt, hat eö gerade den Unverbildeten,

Ursprünglichen immer aufs nachhaltigste angetan. Wir brauchen nur an unsere Kinder zu denken. - Der Heiland, der zum Kreuze geht, gehört allen christlichen Sonderbekenntnissen gemeinsam. Für den evangelischen Menschen ist aus der Leidens­ geschichte von besonderer Bedeutung, wie Jesus beim letzten Mahl mit seinen Jüngern ihnen durch Wort und Zeichen den Sinn und die Frucht seines Sterbens deutet. (Matth. 26, 26 — 28; Mark. 14, 22 — 25; Luk. 22, 15 — 20.) Die Hingabe seines Leibes

und Blutes im Tode geschieht für sie (Matthäus fügt beim Kelch noch hinzu: und für viele) als das Opfer des Neuen Bundes zur Ver­

gebung der Sünden. Die Beziehung auf das Passahlamm und den

Neuen Bund zeigt, daß Jesus in seinem Sterben das vom Vater geordnete Mittel erkennt, durch das für die, die die Frucht dieses

Sterbens sich im Glauben aneignen (essen und trinken), der Fluch der Schuld weggenommen und die Macht der Sünde, die Jesus bei seinem

Gang zum Sterben in vollendeter Greulichkeit erlebt, gebrochen sein soll. Im Essen und Trinken liegt außerdem noch, daß die Jünger in die engste persönliche Gemeinschaft mit dem treten sollen, der sich

für sie dahingegeben hat, daß die Kraft dieser seiner Hingabe die Kraft ihres eigenen Lebens werde. Und daß sie alle essen und alle

aus dem Kelch trinken sollen, das ist das Bild der Gemeinschaft

untereinander, die zwischen ihnen dadurch hergestellt wird, daß sie

alle von dem einen ihr inneres Leben nähren, der sich für sie ge­ geben hat. — Es ist die völlige Vereinigung dessen, was Jesus ihnen von der heiligen Gerechtigkeit und von der gebenden und

vergebenden Güte des Vaters verkündigt hat, mit dem Dienst seines eigenen Lebens und Sterbens. Geheimnisvoll furchtbar und gnaden­ reich zugleich sind die Hintergründe dieses seines Opfertodes. Das

Grauenhafte menschlicher Schuld, menschlicher Bosheit, menschlicher Jämmerlichkeit enthüllt sich nirgends greller als in der Hinrichtung deffen, der nur deshalb sterben muß, weil er diesen Menschen die Herr­ schaft des Vaters der heiligen Gerechtigkeit und Güte zu bringen gekommen ist. Und die Macht der Gnade Gottes erscheint nirgends gewaltiger als darin, daß er den, in dem er den Menschen sein väter­ liches Herz erschlossen hat, für diese Menschheit der Schuld und der Bosheit in den Tod gehen läßt. Aber so geheimnisvoll furchtbar und gnadenreich zugleich die Hintergründe des Opfertodes Jesu sind: eS ist im letzten Mahl Jesu doch keine Spur von heiliger Magie, alles ganz Personhaft und willensmäßig. Und ebensowenig ist Jesu Sterben darin von seinem Leben losgelöst — es ist der folgerechte Abschluß dieses Lebens, das er dazu gelebt hat, den Kampf der heiligen Liebe Gottes mit der menschlichen Schuld und Bosheit durchzukämpfen bis zu ihrer Überwindung.

Manche haben schon gemeint, Jesus könne bei seinem letzten Mahl den Sinn und die Frucht seines Sterbens noch nicht so klar gesehen haben, wie die Überlieferung eö darstellt. Sonst hätte er nicht unmittelbar nachher in Gethsemane zittern und zagen und den Vater bitten können, daß er den Kelch an ihm vorübergehen lasse. (Matth. 26, 36 —46.) Die Dinge sehen vom sicheren Hafen aus sich etwas anders an als für den, der draußen vom Sturm verschlungen zu werden droht. Das Ringen Jesu in Gethsemane ist der Christenheit von jeher so besonders teuer gewesen, weil in ihm zum Ausdruck kommt, wie menschlich wahrhaftig Jesus der Furchtbarkeit der letzten Sterbensnot sich ausgeliefert hat. Denn der Sinn und der Ertrag des Gethsemanegebets ist ja, daß Jesus nicht etwa der Gefahr der Ver­ haftung sich durch die Flucht entzieht (Jesus weiß, daß Judas ihn im Garten sucht), sondern, nachdem ihm das Gebet gezeigt hat, daß er den Kelch trinken soll, den Häschern entgegengeht. Der Gethsemane­ bericht ist gerade an dieser Stelle von einer Wucht, die an Eindrücklichkeit nicht überboten werden kann: „Stehet auf, lasset uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät!" Von den sieben Kreuzesworten haben Matthäus und Markus nur das eine: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich ver­ lassen?" (Matth. 27, 46; Mark. 15, 34), das als ganz ursprünglich schon dadurch gesichert ist, daß eS in hebräischer Sprache überliefert ist. ES ist der Ausdruck namenloser Qual, vor dem die Christen aller

Zeiten in tiefster Erschütterung gestanden und angebetet haben. Zu­ mal daS Wort verspüren läßt, daß eS sich nicht sowohl um die körper­ liche als um die seelische Qual handelt. Natürlich ist eS auch hier wieder oberflächliche Torheit, wenn man das Wort als Beweis dafür verwertet, Jesus sei schließlich doch an seiner Sendung und an Gotte irre geworden. Als ob der Notschrei eines leiblich und seelisch aufS äußerste Gemarterten unter die Lupe genommen werden könnte, um daran seinen Glaubensstand zu prüfen. Das kann man sagen: Jesus hat Gott auch jetzt nicht losgelassen: „Mein Gott, mein Gott"; dazu ist das Wort der Anfang eines Psalms (Psalm 22). Aber an dem Grauenvollen der Tatsache soll man sich nicht vorbeidrücken, daß er sich von dem verlassen fühlt, von dem er sich sein Leben lang ge­ halten und getragen weiß. DaS Wort sollten sich alle die immer wieder vorhalten, die mit dem Grausigen, Widernatürlichen des Kreu­ zes Jesu so leicht fertig werden, weil sie zu rasch durch Jesu Kreuz hindurch auf seinen Sieg blicken. AufS bloß Gedankliche gesehen ist freilich sein Kreuz sein Sieg — nicht bloß der Sieg seiner Sache, der Sieg Jesu selber. Schon die Abendmahlsworte haben Jesu Sterben als die Vollendung seines Werkes gedeutet. Aber es handelt sich um mehr als bloß Gedankliches, und auch unsere Kreuzeögedanken erhalten erst dann die notwendige Tiefe, wenn das Grauen der KreuzeSnot Jesu dabei nicht übersehen wird. Allerdings ist es ebenso verkehrt, diese KreuzeSnot sentimental zu verweichlichen und die harte Männlichkeit und den gestählten Gottesgehorsam dessen, der am Kreuz stirbt, aus dem Auge zu lassen. LukaS bringt aus einer ihm verfügbaren besonderen Quelle zwei Worte, die die Hoheit und Größe des Erbarmens Jesu auch am Kreuz leuchten lassen. DaS Gebet für seine Peiniger: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Luk. 23, 34), und das Wort des Trostes und der Verheißung an den Schächer: „Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein." (Luk. 23, 43.) Hier hat wohl fromme Ehrfurcht zum mindesten ausgestaltend mit­ gewirkt, so sehr gerade daS erste Wort der Haltung Jesu, wie wir sie sonst kennenlernen, in wunderbarer Weise Ausdruck gibt. Ebenso ist die Ausgestaltung des letzten Schreies Jesu in den Stoßseufzer„Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände" (Luk. 23, 46), wohl auö dem geformt, was der frommen Ehrfurcht als dem Sterben des

Gottessohnes entsprechend schien.

Dem Johannisevangelium ist es, wie bei der ganzen Leidens­ geschichte, darum zu tun, die Hoheit Jesu auch am Kreuz ins Helle Licht treten zu lassen. Deshalb das Wort an Mutter und Lieblings­ jünger, durch das er die beiden zueinander weist. (Ioh. 19, 26 — 27.) Das Wort der Gottverlaffenheit wird durch das in Beziehung auf ein wesentlich abgemildertes Psalmwort (Psalm 22, 16) gesprochene „Mich dürstet!" ersetzt (Ioh. 19, 28) und dieses damit begründet, Jesus habe die Schrift erfüllen müssen. Und das letzte Wort „Es ist vollbracht!" (Ioh. 19, 30) ist das Wort der Krönung des Werkes, das er mit seinem Sterben nach dem Willen des Vaters auSgerichtet hat. *

Das, was die Evangelien von Jesus zu berichten haben, ist mit den Berichten über Jesu Sterben, Tod und Begräbnis nicht ab­ geschlossen. Sie schließen alle damit, daß sie uns von der Auf­ erstehung Jesu Kunde geben. Auch Paulus bezeugt (l.Kor. 15, 3 — 4), daß die Verkündigung von Jesu Auferstehung zu der ältesten Form der christlichen Botschaft gehört hat, die ihm überliefert worden ist. Und zwar verzeichnet er mit offensichtlicher großer Sorgfalt die einzelnen Erscheinungen des Auferstandenen, von denen ihm berichtet worden ist: Petrus, die Zwölfe, mehr denn 500 Brüder auf einmal, Jakobus (der Bruder des Herrn), alle Apostel (im weiteren Sinn) haben den Herrn gesehen. Als letzten ordnet er sich selbst mit dem, was ihm bei Damaskus widerfahren ist, in die Reihe ein. (1. Kor. 15, 5 — 8.) Die Nachricht des Paulus ist von größter Wichtigkeit für uns, weil sie uns bis an die Augenzeugen der Geschehnisse selbst heran­ bringt; denn Paulus hat mit den Männern, von denen er berichtet, persönlich verkehrt. Es geht daraus hervor, daß die älteste Christen­ heit es sehr genau mit dem genommen hat, was ihr mit den Er­ scheinungen des Auferstandenen widerfahren war, und was sie den anderen darüber zu bezeugen hatte. Man kann also ihren Bericht von diesen Ereignissen nicht dadurch in seiner Glaubwürdigkeit be­ anstanden, daß man ihn mit unerhörten Geschehnissen, Toten­ erweckungen, Geistererscheinungen und dergleichen, von denen die Ge­ schichte anderer Religionen reichlich zu erzählen weiß, in eine Linie stellt und entweder das eine mit dem anderen als frommes Phantasie­ gebilde verwirft oder eins mit dem anderen als halluzinatorisches Er-

lebnis beurteilt. Den Auferstehungsberichten der Evangelien gegen­ über, die Jahrzehnte von den Geschehnissen abliegen, wäre eine solche Zusammenstellung mit dem aus anderer religiöser Umwelt Erzählten eher möglich, zumal wir innerhalb der uns vorliegenden Evangelien­ berichte gewisse Ausgestaltungen selber feststellen können. Aber auch unsere Evangelienberichte schneiden beim Vergleich mit jenen anderen Erzählungen durch ihre keusche Zurückhaltung hinsichtlich der Äußer­

lichkeiten deS unerhörten Geschehens, von dem sie berichten, sehr zu ihrem Vorteil ab. Es zeigt sich auch hier, daß eS die älteste Christen­ heit — im Unterschied von der auch auf christlichem Boden bald einsetzenden Phantasiegestaltung — mit dem, was in ihr von den Er­ scheinungen deS Auferstandenen berichtet worden ist, sehr ernst ge­ nommen hat. AuS dem einfachen Grunde, weil die ersten Christen auf die Tatsache der Selbstbezeugung Christi als des durch sein Sterben hindurch Lebendigen ihre eigene Lebenshaltung und Lebensführung bis ins Sterben hinein gegründet haben. Bei dem von Paulus weitergegebenen allerältesten Bericht tritt diese Beziehung dessen, was die Augenzeugen der Erscheinungen des Auferstandenen über ihre Erlebnisse zu sagen haben, auf ihr eigenes Leben und Sterben mit der allergrößten Schärfe heraus, indem der Bericht unter Beiseitelassung alles Beiwerks lediglich auf die nackte Tatsache beschränkt wird, daß sie den Gekreuzigten als den Lebendigen gesehen haben. Ein äußerst kritischer Historiker hat den hier vor­ liegenden geschichtlichen Tatbestand einmal auf den Ausdruck ge­ bracht: Daß die Jünger gewiß waren, den Auferstandenen gesehen zu haben, ist eine der gesichertsten Tatsachen der Weltgeschichte. Die Jünger waren also völlig dessen gewiß, mit dem, was sie von den ihnen zuteil gewordenen Erscheinungen deS Auferstandenen verkündigten, die lautere Wahrheit zu sagen, für die sie zu leben und zu sterben bereit waren. Aber könnte man sich nicht vielleicht doch der Anerkennung eines dadurch beglaubigten Geschehens ent­ ziehen, das aus der Linie des uns sonst Zugänglichen gänzlich heraus­ fiele? Besteht nicht für einen, der gegen die Anerkennung eines solchen Geschehens unüberwindliche Bedenken hat, vielleicht die Möglich­ keit, die Erlebnisse der Jünger aus dem zu erklären, was innerlich in ihnen unter dem Eindruck des Lebens und des Todes Jesu lebendig geworden war, und was sich ihnen unter der ungeheuren Erregtheit jener Tage, die wir uns gar nicht aufwühlend und erschütternd genug

denken können, zu Schauungen verdichtet habe? Man kann dieser Meinung ernste psychologische Erwägungen entgegenhalten. Man kann sagen, für die Jünger sei der Zusammenbruch ihrer Hoff­ nungen durch den Tod Jesu so furchtbar gewesen, daß die Vor­ bedingungen für eine solche Schauung des Lebendigen von innen heraus völlig gefehlt hätten. Dem wird der andere aber entgegnen, daß wir das nicht wissen könnten; Jesus habe einen solchen Eindruck auf die Jünger gemacht, daß sie an seinen Untergang im Tod schlechter­ dings nicht glauben konnten; Jesus habe ja auch selber von seinem Wiederkommen gesprochen usw. Es handelt sich hier um eine Ent­ scheidung, die nicht aus Erwägungen allgemeiner Art getroffen werden kann, sondern nur unter gleichzeitiger Beachtung der Tatsache, daß die Jünger auf Grund dessen, was sie an Jesus als dem Leben­ digen erlebt haben, völlig andere Menschen geworden sind. Diese Seite des „Sehens" des Auferstandenen wird vielfach auch von denen, die an den Auferstehungsberichten keinen Anstoß nehmen, nicht genügend beachtet. Und dadurch entgeht ihnen das, was für diese Berichte selbst das Wesentliche ist. Die Jünger sind durch jene Er­ lebnisse nicht davon überzeugt worden, daß Jesus irgendwie weiter existiert, sondern ihr „Sehen" hat auf sie die Wirkung gehabt, daß Jesus als ihr lebendiger Herr ihrer mächtig geworden ist. Das war ihr Ost er erleb niS, das aufs engste mit dem bald darauf folgenden PfingsterlebniS zusammenhängt, in dem die Jünger Mut und Kraft gewannen, von dem, was ihnen widerfahren war, vor denen draußen Zeugnis zu geben. Eö ist gar nicht zu sagen, noch weniger aus Ähnlichkeiten allgemeiner Erfahrung zu begreifen, was

das Häuflein ganz einfacher Menschen, die offenbar der großen Mehrzahl nach an ihren menschlichen Qualitäten gemessen ziemlich unbedeutend waren, unter der Gewalt deS lebendigen Herrn, den sie bei sich wußten und in sich wirksam spürten, an Ungeheurem geleistet hat, daS in der Geschichte nachwirkt bis auf diesen Tag. DaS ist die Seite des OstererlebnisseS, die auch uns Heutigen noch innerlich zu­ gänglich ist, während die äußere Seite der Vorgänge, durch die die Jünger solchen Durchbruch zu neuer Lebensgewißheit und neuer Ziel­ setzung ihres Lebens und Sterbens erfuhren, der geschichtlichen Ver­ gangenheit angehört. Man macht sich oft ein Bild zurecht, nach dem erst Paulus dem Christentum die Gestalt gegeben habe, in der es fähig gewesen wäre, die Welt zu erobern. Paulus selber aber be-

zeugt zur Genüge, daß er nichts anderes als das Grundlegende und Entscheidende weitergegeben hat als das, was ihm die ersten Jünger bezeugt haben: daß der am Kreuz für sie in den Tod Ge­ gangene der lebendige Herr der Gemeinde sei! Der Gekreuzigte ist der Auferstandene und der Auferstandene ist der Gekreuzigte; Karfreitag und Ostern bilden eine untrennbare Einheit, wie auch anfangs das christliche Paffahfest in dieser Ein­ heit gefeiert worden ist. Am Kreuz bewährt sich die völlige Einheit Jesu mit dem heiligen väterlichen Willen Gottes, die macht, daß er zum Kreuz gehen und am Kreuz sterben kann als Lösegeld für die vielen. Und in den Ostergeschehniffen wird seine Macht als die des lebendigen Herrn den Seinen offenbar zum Wirken bis an der Welt Ende. (Matth. 28, 20.) Das ist Gottes Werk in Jesus Christus in der Geschichte der Christenheit, trotz aller Verhüllung und durch alle Verhüllung hindurch, die ihm in der Geschichte der „christlichen" Menschheit durch all die Jahrhunderte widerfahren ist und widerfahren wird bis an der Welt Ende.

Jesus nach Johannes Hier dürfen wir uns nach früher Gesagtem kürzer fasten. Das vierte Evangelium will nicht Geschichtsdarstellung sein und kommt nur gelegentlich als Geschichtsquelle für uns in Betracht. Aber eS zeigt uns, was ein besonders Begnadeter in Jesus gefunden und wie er sein Wesen und Wirken verstanden hat. Schon der Eingang gibt uns Gedanken an die Hand, die uns in das Wesen und Werk Jesu den tiefsten Einblick gewähren. (Joh. 1, 14. 17 — 18.) Er bezeichnet Jesus als das Fleisch gewordene Wort Gottes. „DaS Wort" bezeichnet in der damaligen philosophischen Ausdrucksweise daö, wodurch Gott, aller Dinge Urgrund, die Welt gestaltet und durchwaltet. Johannes verwendet diesen Ausdruck aber so, daß er ihm durch die Beziehung auf Person und Werk Jesu von Nazareth einen ganz neuen Inhalt gibt. In ihm ist Gottes Wort, Gottes Offenbarung, Fleisch (= Mensch) geworden, d. h. so in seinem ganzen Sein und Wesen verkörpert, daß wir an seiner Art und seinem Wesen Gottes Art und Wesen sehen können. Er redet nicht bloß von Gott wie ein gewaltiger Prophet, sondern als der

Sohn (der eingeborene = der eine Sohn) zeigt er in allem, was er selber ist, redet und tut, Gottes Wahrheit und Güte in ihrer vollen Herrlichkeit, gleichsam in leibhaftiger Gestalt. (Ioh. 1, 14.) Diese in Christus in die Menschheit gekommene Offenbarung Gottes wird

noch verdeutlicht durch ihren Unterschied von dem, was Mose von Gott gebracht hat. Mose hat im Namen Gottes Gesetz gegeben, mit Strafe und Lohn, zur Zucht der Gewissen. In Jesus Christus wird uns die heilige Wahrheit und Güte Gottes wirklich, die nicht nur die Gewissen treffen, sondern die Herzen bewegen und mit reiner, wahrhaftiger Güte erfüllen will und kann. Niemand hat Gott je gesehen; dafür ist Gott viel zu groß und zu tief. In dem einen Sohn aber, der den Vater kennt („dem Vater an der Brust liegt", Ioh. 1, 18), ist uns Gottes Wahrheit und Güte durch alle dunklen Rätsel des Schicksals und der Sünde der Menschheit hindurch kund und offenbar geworden. Besonders kennzeichnend für die Art des IohanneöevangeliumS sind die Sätze mit „Ich bin", in denen es das Wesen Jesu und unsere Beziehung zu ihm in mehr oder weniger bildhafter Form zur Dar­ stellung bringt. ES wird deshalb zur Einführung in das johanneische Christusverständnis am einfachsten sein, wenn wir die sieben „Ich bin"-Worte auf uns wirken lassen. Ich ordne dabei in sachlicher Reihenfolge. Ioh. 14, 6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich." Das Wort steht in einem eigentümlichen Zusammenhang. Jesus spricht von den vielen Wohnungen in seines Vaters Hause und schließt (in ge­ nauer Übersetzung): „Und wo ich hingehe — den Weg dahin kennt ihr." Der Ausdruck, den Luther in der Übersetzung zu sehr verein­

facht hat, zeigt schon, daß hier eine Frage kommen muß. Die kommt auch: Thomas meint, man müsse erst genau das Ziel kennen, ehe man den Weg kennen könne. Und darauf antwortet Jesus mit seinem: „Ich bin der Weg..." Die Sache ist also so alt wie daö Christentum: die Menschen wollen zuerst Klarheit darüber haben, wie eö bei Gott auSsteht, ehe sie sich auf den Weg zu ihm machen wollen. Nach Jesu Wort ist eS umgekehrt: Man muß sich unter dem Einfluß der Wahrheit und deö Lebens, die uns in Jesus er­ greifend und überwältigend entgegentreten, auf den Weg machen; so nur kann, so aber wird man auch zum Vater kommen.

Wahrheit und Leben — das sind die beiden Seiten dessen, was Jesus in sich trägt und zu bringen hat. Deshalb nennt er sich (8, 12) das Licht der Welt und fordert Nachfolge auf dem Weg, den er im Gehorsam des Vaters geht im Kampf gegen die Finsternis. Zu­ gleich aber (6, 35) nennt er sich das Brot des Lebens als der, der denen, die zu ihm kommen und an ihn glauben, den Hunger der Seele stillen kann. Ioh. 10, 12 — 15 („Ich bin der gute Hirte") stellt Jesu Leiden und Sterben unter den Gesichtspunkt seiner Hingabe für die Seinen. Auf diese seine Hingabe gründet sich seine unwiderstehliche Gewalt über sie und das restlose, unerschütterliche Vertrauen, mit dem sie an ihm hängen. Die Kraft und Selbstlosigkeit seiner Hin­ gabe ruht aber lediglich in der Innigkeit seines Verhältnisses zum Vater. Das Bild vom Weinstock und den Reben (15, 1—8) hebt neben der Innigkeit des Verhältnisses zwischen Jesus und den Seinen das WachStümliche und zugleich Verpflichtende dieses Ver­ hältnisses heraus. Sie wachsen an Jesus, um Frucht zu bringen; wer nicht in ihm bleibt (hier wird das Naturhafte des Ver­ gleichs unzulänglich), geht in unerbittlicher Folgerichtigkeit innerlich zugrunde. Die Innigkeit des Verhältnisses tut also dem Ernst der Verantwortung keinen Eintrag. Ioh. 11, 25 — 26: „Ich bin die Auferstehung und das Leben." Das Leben der Gotteswahrheit und Güte, das Jesus in sich trägt und den Seinen zu bringen hat, ist seiner Art nach etwas anderes als das bloß naturhafte Dasein, das mit der Geburt anhebt und mit dem natürlichen Sterben endigt. Wer an Jesus glaubt — das heißt aber nicht: wer irgendeine Glaubensformel über ihn nach­ spricht —, in dem hat damit ein Leben ewiger, unzerstörbarer Art angefangen, das auch dann nicht aufhören kann, wenn das natürliche irdische Dasein zu seinem Ende kommt. Ewiges Leben ist also ein Leben inhaltlicher Bestimmtheit, etwas ganz anderes als bloß ein Existieren, das kein Ende nimmt. Um das zu fassen, muß man aber an Jesus glauben, d. h. die Kräfte des in ihm sich erschließenden gott-vollen Lebens in sich aufnehmen. Und nun noch das letzte: „Ich bin ein König." (Ioh. 18, 37.) Jesu Königtum ist keine Herrschaft mit äußeren Machtmitteln (Vers 36). Es beruht darauf, daß der Mensch, der „aus der Wahr-

heit" ist, d. h. in dem das Gewissen sich noch regt und der Sinn für das, was über uns ist, noch nicht abgestorben ist, sich der Gewalt der Wahrheit, die in Jesus an ihn heran- und in ihn hineintritt, inner­ lich nicht entziehen kann. Aus dieser Art seines Königtums erklärt sich zweierlei: Millionen von Menschen können fortwährend an Jesus Vorbeigehen, ohne daß sie mit äußeren Mitteln gezwungen werden, auf ihn zu hören. Über die aber, bei denen das Gewissen wach wird

und der Hunger nach Wahrheit lebendig, ist Jesu Königsmacht als eine Macht des Gemüts und des Gewissens viel größer und stärker als alle Gewalt, die ein äußerer Weltherrscher je besessen hat und je besitzen wird. ES ist für das Johannesevangelium eigentümlich, daß es alles, was es über das Wesen Gottes und über unser Verhältnis zu Gott sagt, durch die Beziehung zu Jesus hindurch sieht. Statt von der Herrschaft Gottes spricht eö von Jesu Königtum, statt von Gott, der da nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebendigen ist, von JesuS, der die Auferstehung und das Leben ist, usw. Damit wird aber keineswegs Jesus an die Stelle Gottes gesetzt. Der Jesus des Johannesevangeliums will nichts neben dem Vater sein, sondern lediglich der, durch den hindurch der Vater seine heilige Wahrheit und seine lebendige Güte in die Menschheit hineinscheinen und hinein­ wirken läßt. Sowie man Worte wie: „Wer mich sieht, der sieht den Vater" (Joh. 14, 9) oder: „Ich und der Vater sind eins" (Joh. 10, 30) so versteht, als ob Jesus irgend etwas für sich neben dem Vater zu sein beanspruchte, hat man sie völlig mißverstanden. Jesus will uns nichs anderes bringen als des allmächtigen Vaters Wahrheit und Güte, von der er selber gänzlich erfüllt ist. Er will nicht von sich selbst reden, sondern von dem zeugen, der ihn gesandt hat. Deshalb wird auch das, was er uns zu sagen hat, nur von dem verstanden, der Gottes Willen tun will. (Joh. 7, 16— 17.)

Auch das Johannesevangelium redet, und zwar besonders nach­ drücklich, davon, daß das Verhältnis zu dem Vater, der die heilige barmherzige Liebe ist, nicht echt und wahr sein kann, wenn es sich nicht in einer tatkräftigen, dienst- und hilfsbereiten Liebe zu den Brüdern äußert. Das Besondere der johanneischen Fassung deS LiebeSgebotS liegt darin, daß sie die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Liebe richtet, die die Jünger Jesu als solche untereinander zu bewähren haben. Diese echte Bruderliebe der Jünger Jesu unter-

einander soll für die Draußenstehenden gerade das Kennzeichen dafür sein, daß sie seine wahren Jünger sind. (Joh. 13, 34 — 35.) Der erste JohanneSbrief geht dem Verhältnis dieser Bruderliebe zur GotteSliebe mit besonderem Ernst und besonderer Eindringlichkeit nach: „Wir wissen, daß wir aus dem Tod in das Leben gekommen sind; denn wir lieben die Brüder. Wer seinen Bruder nicht liebt, der bleibt im Tode." (1. Joh. 3, 14; vgl. auch 1. Joh. 4, 16-20.) Es ist eine grobe Verzerrung dieser Aussagen über die christliche Bruder­ liebe, wenn diese in Gegensatz gebracht wird zu der verstehenden, barmherzigen, helfenden Liebe, die wir anderen schuldig sind. Die Liebe will im engen Kreis derer, mit denen wir schicksalsmäßig und führungsmäßig zusammengebunden sind, gelernt und bewährt sein; dann kann und soll sie auch in die Weite gehen. Wenn sie zur ver­ härteten Abkapselung gegenüber den anderen führt, so ist eS gar keine echte Liebe, der eS umS Geben und Helfen und Dienen zu tun ist und nicht um die Erhöhung des eigenen Lebensgefühls im Kreis von Vertrauten. Aber Johannes hat das Wort von der christlichen Bruderliebe nicht im letzteren Sinn gemeint, so gewiß er das, was Liebe ist, von dem gelernt hat, der den Dienst seiner Liebe ausgerichtet hat an einer Welt, die ihn ans Kreuz geschlagen hat.

Paulus Wir haben schon früher gelegentlich davon gesprochen, daß eS verkehrt ist, Paulus, wie eS manchmal, namentlich von christentums­ gegnerischer Seite, geschieht, als den eigentlichen Gründer des Chri­ stentums in seiner kirchlichen Form anzusehen. Die Christenheit, die Christusgemeinde, ist ohne besonderes Zutun eines einzelnen heraus­ gewachsen aus dem Oster- und PfingsterlebniS der Jünger in Jeru­ salem, und wir haben gesehen, wie nachdrücklich sich Paulus gerade bezüglich seiner Kreuzes- und Osterbotschaft auf daö beruft, was er empfangen hat. (1. Kor. 15, 1—4.) Aber allerdings ist Paulus sowohl durch den Umfang wie durch die Art seiner Wirksamkeit für die äußere und innere Geschichte der ersten Christenheit von ein­ schneidender Bedeutung gewesen. Daß ein Mann von diesem Ausmaß der Glaubenskraft und der geistigen Begabung am Anfang der Geschichte der Christenheit steht, daß wir von ihm eine ganze An-

zahl eigener Briefe haben, also Geschichtsquellen allerersten Ranges, die einen unmittelbaren Einblick in sein Innenleben gewähren, und daß er durch diese Briefe über die Jahrhunderte hinweg heute noch zu unS spricht, erscheint als ganz besondere Fügung Gottes. Paulus ist geschulter Theologe. Aus der außerpalästinischen Iudenschaft stammend (seine Heimat ist TarsuS im Süden Klein­ asiens), hat er in Jerusalem eine gründliche Ausbildung in der jüdischen Schriftgelehrsamkeit erhalten. Er verleugnet auch in seinen Briefen die theologische Schulung nicht, so daß seine Ausführungen, namentlich im Vergleich mit der kristallklaren (wenn auch abgründig tiefen) Schlichtheit der Rede Jesu, manchmal nicht leicht zu lesen und noch weniger leicht zu verstehen sind. Er hat aber auf der anderen Seite eine Fähigkeit, dem, was in ihm lebt, Ausdruck zu geben, die ihn immer wieder in unmittelbare Verbindung mit dem innerlich verstehenden Leser zu bringen geeignet ist. Der Theologe Paulus mit seiner nicht selten rabbinisch anmutenden SchriftauSlegung und mit seinen theologischen Sätzen ist durchaus in den Dienst des Jüngers Jesu getreten, der mit den Tönen unmittelbarster Er­ griffenheit und letzter Erfahrung von dem Leben zu zeugen vermag, das ihm in seinem Herrn Jesus Christus geschenkt worden ist. Des­ halb tut man dem Paulus unrecht, wenn man ihn als den rabbinistischen Verderber des schlichten Evangeliums Jesu verlästert und bekämpft. Ein Mann, der Röm. 8, 31—39 und der das hohe Lied von der Liebe (1. Kor. 13) hat schreiben können, sollte vor dem Vorwurf, ein geriffener, listiger, kleinlich denkender Jude zu sein, wirklich bei allen, denen es um die Sache selbst zu tun ist, geschützt sein. Dem wirklichen Tatbestand entspricht es vielmehr, daß wir in Paulus das lebendige Beispiel der erneuernden, umwandelnden, er­ höhenden Macht des Evangeliums von Jesus Christus vor uns haben, das dem Juden wie dem Griechen — auch dem Germanen! — ein Leben in der Kraft und Wahrheit Gottes zu erschließen imstande ist. In der Person wie in dem Werk des Paulus tritt es über­ wältigend in die Erscheinung, daß das Evangelium von Jesus Chri­ stus nichts menschlich Artgebundenes ist, sondern daß es Menschen jeder Art und jedes Standes und Geschlechtes im Innersten zu treffen, vor den heiligen allmächtigen, lebendigen Gott zu stellen und zu ihm zu bringen vermag. (Gal. 3, 28.) Deshalb war Paulus durch seine

innere Haltung, und auch durch seine Herkunft aus dem außer­ palästinischen Judentum (er schreibt Griechisch wie seine Mutter­ sprache und zeigt auch Berührungen mit der griechischen volkstüm­ lichen Philosophie), vor anderen geeignet, das Evangelium von dem jüdischen Boden, auf dem Jesus gelebt hatte und gestorben war, auf dem die Urgemeinde gewachsen war, ohne Zerspaltung der Ge­ meinde Jesu Christi zu den Griechen zu tragen, so daß diese eS auf­ nehmen konnten als ihr eigenes. Daß dieser Übergang des Evan­ geliums zu den Griechen schon in der ersten Generation der jungen Christenheit erfolgt, ehe der jüdische Hintergrund des Evangeliums es vermochte, sich auf das Christentum entstellend auszuwirken, ist ein ebenso erstaunliches Zeichen für die Eigenart und Eigenkraft des Evangeliums als der Offenbarung Gottes, wie für die Tiefe des EvangeliumSverständniffeS, das Gott dem Paulus erschlaffen hat. Der Kampf für die Freiheit des Evangeliums von jüdischer Art und jüdischer Satzung ist dem Paulus nicht leicht gemacht worden (man lese den Galaterbrief). Aber wenn Paulus bei Durchführung dieses Kampfes manchmal eine Leidenschaft zeigt, die man als jüdisches Erbe in Anspruch nehmen möchte, so soll man nicht vergessen, daß Paulus mit dieser Leidenschaft gegen die Verkehrung des Evan­ geliums durch Jüdisches kämpft. Deshalb war er auch der bei den Juden bestgehaßte Mann, und sie wollten ihn umbringen, als er es wagte, nach Jerusalem zu kommen. (Apg. 23.) Man muß zum Verständnis deffen, was Paulus war und als Jünger Jesu Christi geworden ist, von der Gewalt Jesu auSgehen. Denn sein Leben als Jünger Jesu beginnt mit dem Ereignis vor Damaskus, wo Jesus ihm erscheint: „Es wird dir schwer werden, wider den Stachel zu löcken!" (Apg. 9, 5.) Ob Paulus Jesus wäh­ rend seiner irdischen Wirksamkeit überhaupt gesehen hat, wie man aus 2. Kor. 5, 16 hat schließen wollen, ist zweifelhaft. Jedenfalls hat er nichts von ihm wissen wollen und findet sich nachher unter den erbitterten Gegnern der Christengemeinde. (Steinigung des Stepha­ nus, Apg. 7, 57.) Nach Damaskus war er als Verfolger der Christen gegangen. Alle Versuche, den Vorgang bei Damaskus als Ergeb­ nis einer inneren Krise zu verstehen, ähnlich wie sie Luther mit seiner katholischen Frömmigkeit durchmachen mußte, schweben in der Luft. DaS Erlebnis bei Damaskus tritt in sein Leben hinein in voll­ ständigem Bruch mit dem, was ihn bisher erfüllt und getrieben

hat. So hat Paulus es selbst empfunden. Natürlich hat sich das Erlebnis innerlich vorbereitet: was Paulus bei den von ihm ver­ folgten Christen an Kräften des Glaubens, der Liebe, der Geduld sah, das Zeugnis von Jesus, das er von ihnen hörte, hat ihm wohl immer mehr zu schaffen gemacht („wider den Stachel löcken!")- Aber der Durchbruch des Neuen in der Christuserscheinung wird doch von ihm als ganz plötzlich empfunden, der Schnitt zwischen dem Alten und dem Neuen als ganz scharf: er ist eine neue Kreatur geworden. (2. Kor. 5, 17.) So steht das neue Leben des Paulus ganz und gar darauf, daß Christus über ihn Gewalt gewonnen hat. Der entscheidende Punkt, an dem ihm das Wesen und die Kraft Christi aufgegangen ist, ist für ihn Jesu Kreuzestod. Es war ihm ursprünglich der stärkste An­ stoß am Christentum gewesen, daß der, in dem die Christen den Messias Gottes ehrten, den schimpflichen Verbrechertod am Kreuz gestorben war. Jetzt versteht er diesen Kreuzestod als die Offen­ barung des Wesens Gottes selbst, der nichts anderes ist als die rettende, erneuernde, beseligende Liebe. Er setzt der von den Gegnern behaupteten Torheit des Kreuzes die an ihm erfahrene Gotteskraft entgegen: die göttliche Schwachheit des Kreuzes ist stärker als alle menschliche Stärke, und seine göttliche Torheit weiser als alle Menschenweisheit. (1. Kor. 1, 18 — 25.) So wird in ihm Christus lebendig, der all sein Denken, Fühlen und Tun beherrscht. (Gal. 2, 20.) Zwar ist der neue Mensch hier auf Erden noch nicht fertig. Er muß immer weiter nach Vollkommenheit streben. Das ge­ schieht aber auf der festen Grundlage der Tatsache, daß er von Chri­ stus ergriffen ist. (Phil. 3, 12 — 14.) Die Leiden, die Paulus als Apostel Jesu Christi durchzumachen hat, sind ihm so wenig ein Grund, an der Kraft Gottes in Christus zu zweifeln, daß er vielmehr gerade in seiner Schwachheit die Gotteskraft in der Nachfolge Jesu er­ fährt. (2. Kor. 4, 7 — 10.) Wohl leidet er schwer unter dem, was er durchzumachen hat; er scheint an Nervenanfällen gelitten zu haben, die er als Boten des Satans, der ihm sein Wirken unmöglich machen will, empfindet. Aber gerade seine körperliche Schwachheit muß denen, denen er das Evangelium verkündigt, ein Zeichen dafür sein, wie Gottes Kraft sich in dem Schwachen mächtig erweist. (2. Kor. 12, 7 — 10.) Seine Gemeinschaft mit Christus ist so fest und unzerreiß­ bar, daß sie auch den Tod überdauern muß. Aber Paulus will so lange 7

Eger, Evangelischer Glaube

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hier auf Erden leben und wirken, wie Gott ihn braucht. (Phil. 1, 21. 23 — 24.) Durch den lebendigen Christus zu neuem Leben er­ weckt, hat er fein Lebensziel nicht in dem, was er hier erraffen und erringen kann, sondern in dem, was droben ist, in der Wahrheit, der Güte, der Gerechtigkeit Gottes. Er ist dem alten, auf sich selbst bezogenen Wesen abgestorben und lebt bei allem, was er durchmachen muß, sein heimliches Leben mit Christus in Gott, das am Ende herr­ lich offenbar werden wird. (Kol. 3, 1 —4.) Das war der Boden, auf dem Paulus innerlich lebte; von dieser seiner stetigen Beziehung zu Christus aus hat er seine Arbeit angefaßr (als Apostel, als Gesandter Jesu Christi), seine Kämpfe gekämpft, auch seine theologischen Gedanken gedacht. Dabei hat die Verbunden­ heit des Paulus mit Christus gar nichts weichlich Sentimentales an sich, ist Gehorsam des Glaubens, nicht Schwelgerei in frommen Gefühlen, ist männlich und stark. Von der Lehrbildung des Paulus ist durch den Einfluß, den sie auf Luther und die Reformation auSgeübt hat, am bekanntesten die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben, nicht aus Wer­ ken geworden. Sie ist heute der Gegenstand heftiger Angriffe, weil man in ihr etwas ausgeprägt Jüdisches findet. Wir haben von der Rechtfertigung eingehender erst bei Luther zu reden, weil sie in der Form, in der Luther sie erlebt hat, ihre Bedeutung für die evan­ gelische Kirche gewonnen hat. Einiges muß aber hier schon gesagt wer­ den, soweit eS den Zusammenhang der Lehre von der Glaubens­ gerechtigkeit mit der Persönlichkeit deS Paulus anlangt. Die Lehre ist nämlich nichts anderes als die Form, in der Paulus sich von seiner eigenen jüdisch-pharisäischen Vergangenheit lossagt. WaS Jesus bei seiner Auseinandersetzung mit der Frömmigkeit der Schrift­ gelehrten und Pharisäer gesagt hat, dem begegnen wir der Sache nach auch bei Paulus wieder: daß kein Mensch kraft eigener Leistung vor Gott bestehen kann, nicht nur, weil eS keinen gibt, der nach Gottes Maßstab völlig rein ist, sondern weil das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen überhaupt auf einer ganz anderen Grundlage zu­ stande kommen muß als auf der der Abrechnung zwischen dem Men­ schen und Gott. Weil alles Gute, was der Mensch leisten kann, ihm von Gott gegeben werden muß und gegeben wird, wenn er eS sich von ihm geben und sich von Gott zum Dienst annehmen läßt. Das ist alles der Sache nach bei Paulus gerade so wie bei Jesus selbst. In der

Form, in die der gleiche Grundgedanke sich einkleidet, bestehen zwischen der Lehre des Paulus und der Verkündigung Jesu wesentlich zwei Unterschiede. Einmal: Jesus redet unmittelbar von dem gebenden, vergebenden, annehmenden, erneuernden Vaterwillen Gottes, den er im Auftrag des Vaters den Menschen zu verkündigen hat. Paulus nimmt auf das Werk der Erlösung durch den gekreuzigten Christus bezug. Darin ist ihm erst der väterliche Wille Gottes offenbar und zugänglich geworden. Weiter: Jesus hat wesentlich gegen die Selbst­ gerechtigkeit der Pharisäer zu kämpfen, die im Unterschied von den Zöllnern und Sündern der Buße, der Umkehr zu Gott nicht zu be­ dürfen glauben. Paulus muß sich gegen das gesetzeseifrige und auf sein Gesetz stolze Judentum überhaupt wenden, das im Besitz des gött­ lichen, durch Mose gegebenen Gesetzes und in seiner Beobachtung (in „den Werken des Gesetzes") seinen Vorzug vor den Heiden und die Grundlage seiner Gerechtigkeit vor Gott zu besitzen glaubt. Dadurch kommt Paulus dazu, dem Ausdruck „Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes" den Ausdruck „Gerechtigkeit aus Glauben" gegenüber­ zustellen. Er führt zwar mit aller wünschenswerten Deutlichkeit aus, daß es sich bei der Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes um eine Gerechtigkeit handelt, die man vor Gott kraft der eigenen Leistung zu haben glaubt, während die Gerechtigkeit aus Glauben eine von Gott geschenkte Gerechtigkeit ist, die man nicht vor Gott, sondern von Gott hat. Aber der Ausdruck „Gerechtigkeit" führt leicht zu dem Mißverständnis, als ob es sich dabei um irgend etwas handle, durch das der Mensch von sich aus vor Gott bestehen könne. Während in Wahrheit der Glaube nur das ist, wodurch der Mensch zu der ihm aus gnädigem Erbarmen dargebotenen Annahme durch Gott „ja" sagt. Wenn dann auch noch die Wendung gebraucht wird, der Glaube werde „zur Gerechtigkeit gerechnet" (Röm. 4, 3), so ist dem Mißverständnis, der Mensch gelte durch seinen Glauben etwas vor Gott, erst recht die Tür geöffnet. Dem Mißverständnis schließt sich dann noch leicht das weitere an, wenn man den Glauben habe, brauche man sich um „Werke", d. h. um das Tun des Guten, nicht mehr be­ sonders zu bemühen. Gegen dies Mißverständnis hat schon der Jakobuöbrief sich wenden müssen: „Der Glaube, wenn er nicht Werke hat (nicht zum Tun des Guten treibt), ist tot an ihm selber." (Jak. 2, 17.) In Wirklichkeit bedeutet das „Werk des Gesetzes", dem Paulus die vor Gott rechtfertigende Kraft abspricht, nicht das Tun des Guten

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als solches, sondern daS Werk, durch das man einen Anspruch an Gott erwerben zu können glaubt. Und von Gott im Glauben angenommen werden heißt für Paulus selbstverständlich nichts anderes, als unter das Wirken der erneuernden und heiligenden Wahrheit und Güte Gottes treten. Er behauptet mit Nachdruck, daß durch das „Gesetz des Glaubens", nach dem wir uns Gott überlasten, damit er alles Gute in uns schaffe, daS „Gesetz", das uns den heiligen, guten Willen Gottes zeigt, nicht nur nicht aufgehoben, sondern erst recht fest und wirksam gemacht wird. (Röm. 3, 31.) Aber die Geschichte der Chri­ stenheit zeigt, daß jene Mißverständniffe der „Gerechtigkeit auS Glauben" sich immer wieder einstellen, weil der Trieb, vor Gott etwas zu gelten, tief im Menschen drinsteckt. Ich habe immer Bedenken gehabt, den Spruch Röm. 3, 23: „Es ist hier kein Unterschied; sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten", von Kindern lernen und hersagen zu lasten, zumal wenn man den folgenden Vers („und werden ohne Verdienst gerecht"), der die Hauptsache ist, wegläßt. Von unmündigen Kindern gelernt und hergesagt, hinterläßt der Spruch den Eindruck: „Alle Menschen tun Sünde; da ich auch ein Mensch bin, ich natürlich auch. Das ist also nicht so schlimm." Wir werden auf die Schwierigkeiten und Gefahren, die hier vorliegen, später noch genauer einzugehen haben. Hier soll nur darauf hin­ gewiesen werden, daß der Spruch nach seinem Zusammenhang nicht im allgemeinen von der sündigen Verderbnis der Menschheit handelt, sondern davon, daß der Jude in bezug auf die Stellung zu Gott vor den anderen keinen Vorrang hat. So steht die viel verlästerte jüdische Art des Paulus aus. Ein anderer Satz des Paulus, an dem häufig Anstoß genommen wird, ist Röm. 3, 20: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde." Als ob das Gesetz nicht dazu da wäre, um getan zu werden, sondern damit man sich an Hand des Gesetzes über seine Sünden zergrüble! Was Paulus wirklich meint, ist das: So wie die Menschen erfahrungsmäßig tatsächlich sind, ist die Wirkung des Ge­ setzes bei ihnen, wenn sie mit seinen Forderungen Ernst machen, nicht ihre Rechtfertigung vor Gott, sondern die Erkenntnis ihres Unrechts. Paulus hat Röm. 7, wo er von seiner jetzt gewonnenen Erkennt­ nis aus auf seinen früheren Zustand „unter dem Gesetz" zurückblickt, ergreifend und jeden, der es mit sich selbst ehrlich nimmt, überzeugend ioo

geschildert, wie auch der redlich nach dem Guten strebende Mensch an der bloßen Forderung deö Gesetzes innerlich zerbricht: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich." (Röm. 7, 19.) So furchtbar ernste, schwere Dinge wollen nicht mit ein paar oberflächlichen selbstzufriedenen Redensarten abgetan, sondern in gewissenhafter Selbstprüfung durchlebt sein. Was Paulus Röm. 7 schreibt, steht übrigens nicht unter dem Gesichtspunkt der Rechtfertigung aus Glauben, nicht aus Werken, bei der es sich um die Frage handelt, ob wir durch unsere eigene Lei­ stung vor Gott bestehen können. Es steht vielmehr im Zusammenhang mit dem, was Paulus über das im Christen wach und wirksam ge­ wordene neue Leben zu sagen hat. Darüber hat sich Paulus sehr viel ausgiebiger ausgesprochen als über die Rechtfertigung aus Glau­ ben, die auf Luther wegen der Lage, in der er selber sich befunden hat, besonders tiefen Eindruck gemacht hat. Was Paulus über das neue Leben des Christen sagt, steht in ebenso deutlichem innerem Zusammen­ hang mit dem PfingsterlebniS der ältesten Gemeinde wie mit dem, was er selber an Christus erfahren hat und fortwährend erfährt. Paulus ist nicht als einzelner zu Christus gekommen, so eng die ganz persönliche Beziehung zu Christus bei ihm von Anfang an ge­ wesen und bis ans Ende geblieben ist. Aber all seine Beziehung zu Christus hat er in der Gemeinde und mit der Gemeinde, in der der Geist Gottes lebendig wirksam ist, zum Dienst ihres Herrn (dessen lebendige Nähe ihr im Herrenmahl, das ebenso das Mahl brüder­ licher Gemeinschaft ist, besonders spürbar wird, 1. Kor. 11) und der Brüder. Seine Briefe sind, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, Briefe an die Gemeinden, wollen Gemeindefragen beantworten, Ge­ meindeangelegenheiten regeln, den Gliedern der Gemeinde Anweisung geben, wie sie sich vor Gott und den Brüdern zu erweisen und zu bewähren haben. Von Paulus stammt das Bild von der Gemeinde als dem Leib Jesu Christi, in dem die einzelnen Glieder zu­ sammengebunden sind zu gegenseitigem Dienst, jedes nach seiner Art und besonderen Aufgabe. (1. Kor. 12, 12 - 30.) Daö macht die bei­ den Briefe an die Korinther so lehrreich, daß sie uns in ganz be­ sonderem Maß in daö hineinsehen lassen, wie eS in den ältesten Christengemeinden tatsächlich zuging, welcher Belehrungen, Mah­ nungen, Weisungen und Zurechtweisungen sie bedurften. Aber auch die anderen Briefe sind voll davon. Der Blick in das Leben der neuIOI

testamentlichen Gemeinden und in die dies Leben tragenden und ge­ staltenden Kräfte ist gerade in unseren Tagen so wertvoll und wichtig, weil diese Menschenhäuflein (mehr waren sie, auf die Zahl ihrer Glieder gesehen, nicht) mitten in einer gärenden, unruhigen Zeit des Umbruches und der damit verbundenen Unsicherheit auf ewigen Grund gestellt und nach ewigem Ziel ausgerichtet worden sind. Und nicht zum wenigsten liegt der Wert des Einblicks, den die Briefe des Paulus uns in das Leben der ersten Christengemeinden gewähren, darin, daß die Menschen, aus denen die Gemeinden sich zusammensetzen, so rück­ haltlos wie nur möglich in all ihrer menschlichen Fehlsamkeit und Unzulänglichkeit angefaßt werden. Aber gerade die Art, wie Paulus seine Gemeinden zurechtweist, oft genug mit sehr scharfen Worten, gewährt uns einen Einblick in daS, was durch Christus mitten in der ungeschminkten Lebenswirklichkeit seiner Bekenner neu geworden ist. Man muß die Scheltreden alttestamentlicher Propheten und die Zu­ rechtweisungen deS Paulus, auch wo er zürnt und schilt, neben­ einander lesen, um deS Neuen inne zu werden. Der ist da, der die Gnade und Wahrheit des heiligen allmächtigen Gottes in seinem Erlösungswerk mitten in diese Welt der Sünde und deS Todes hineingestellt hat. Und der als der lebendige Herr derer, die ihn als ihren Herrn im Glauben bejahen, unablässig in der Gemeinde wirk­ sam ist, zu retten, zu trösten, zu warnen, die Gewissen zu treffen, zu erneuern. Weil Christus lebendig da ist, und das Amt da ist, das an Christi Statt unablässig ruft und bittet: „Lasset euch versöhnen mit Gott!", hat Neuschöpfung angefangen (2. Kor. 5, 17 — 20), sind die

Gemeindeglieder, die den Ruf Christi vernommen haben, berufene „Heilige", und eS kann die gute Zuversicht ausgesprochen werden, daß der, der in ihnen daS gute Werk angefangen hat, es auch vollführen wird bis an den Tag Jesu Christi. DaS heißt aber bis an den Tag der Vollendung durch die große Sichtung des Gerichts hindurch. (Phil. 1, 6.) Denn dem Ernst der Verantwortung vor Gott wird durch das, was die Gläubigen von ihm aus Gnaden empfangen, bei Paulus so wenig abgebrochen wie bei Jesus selbst. Und der Maßstab, nach dem sich das göttliche Gericht vollzieht, ist das, was der Mensch Gutes oder Böses getan hat. Dieses Gutes- oder BöseStun natür­ lich nicht in äußerlicher Oberflächlichkeit der einzelnen Tat oder Untat, sondern im Zusammenhang mit der ganzen inneren Hal­ tung deö Menschen. Aber diese innere Haltung wirkt sich im Handeln

(im „Werk", das etwas anderes ist als das Gott vorgehaltene „Werk des Gesetzes") aus und wird in ihrer Beschaffenheit daran erkennbar. (Röm. 2, 5 —10.) Diesem Gericht sind auch die, die sich Jünger Christi nennen, nicht entnommen. Auch sie werden vor den Richt­ stuhl Christi gestellt, damit ein jeglicher empfange, nach dem er gehandelt hat bei Leibes Leben, es sei gut oder böse. (2. Kor. 5, 10; Röm. 14, 10.) Noch schärfer drückt Paulus diesen Gedanken aus durch das Bild von der Ernte, die dem entspricht, was der Mensch durch sein Verhalten gesäet hat. (Gal. 6, 7 — 8.) Ich weiß noch aus meiner Jugend, wie mir die Tatsache, daß der Apostel der Gerechtigkeit aus Glauben, nicht aus des Gesetzes Wer­ ken, die letzte Entscheidung Gottes doch nach dem Tun des Menschen gefällt werden läßt, Schwierigkeiten gemacht hat. Der Widerspruch ist aber nur scheinbar. Im Glauben nimmt der Mensch die unbeschreib­ liche göttliche Gnade auf, daß Gott nicht wegen dessen, was er Un­ recht getan hat, ihn in seinem Zorn einfach weiter dahin laufen und immer tiefer in Sünde und Schuld hineingeraten läßt, sondern daß er vergebend sich seiner annimmt, indem er ihn unter daö Wirken seines Geistes stellt. Aber der Geist Gottes erzwingt beim Menschen nicht die Früchte des neuen, guten, gottgemäßen Lebens, sondern wirkt nur, allerdings mit Macht, die Kräfte neuen Lebens in den Menschen hinein. Dieser hört jedoch damit, daß er diese Kräfte in sich spürt, nicht auf, auch noch unter dem Einfluß der Kräfte zu stehen, die in seinem Fleisch sich regen als Selbstsucht und Sinnlichkeit. Derselbe Galaterbrief, der neben dem Römerbrief am nachdrücklichsten die Ge­ rechtigkeit aus Glauben ohne des Gesetzes Werke vertritt, endet mit ebenso nachdrücklichem Aufruf dazu, daß die Galater die Freiheit von der Satzung, die ihnen durch Christus gewonnen ist, nicht dazu mißbrauchen, daß sie dem Fleisch Raum geben: „Sondern durch die Liebe diene einer dem andern. Denn alle Gesetze werden in einem Wort erfüllt: Liebe deinen Nächsten als dich selbst." (Gal. 5, 13 — 14.) Da sind wir wieder ganz auf der Linie Jesu, auch in der Hinsicht, daß das Leben im Geist sich im rechten Verhalten gegen die Brüder auöwirken muß. Gottes Gnade zieht den W o l l e n d e n: im Geist leben kann man nicht in bloßen hohen Gefühlen, sondern nur so, daß man im Geist wandelt, die Früchte des Geistes hervorbringt. (Gal. 5, 17-25.)

In dem, was er seinen Gemeinden über diesen Wandel im Geist

zu sagen hat — er sagt ihnen viel darüber — zeigt sich nun noch eine besondere Gabe deS Paulus. Er hat eine hohe Meisterschaft in der Durchleuchtung des menschlichen Seelenlebens nach der Seite des Sittlichen hin. Man braucht sich nur an 1. Kor. 13 zu erinnern, mit welcher Feinheit Paulus die einzelnen Züge und Äuße­ rungen echter Liebe herausstellt. Wie Ungezählten hat er damit schon die Augen geöffnet und das Herz bewegt. Wir können leider hier auf Einzelheiten nicht eingehen, weil feinste Feinheiten sittlicher Erkennt­ nis nicht im Flug aufgewiesen werden können. Ich will mich mit einem begnügen: „Die Liebe höret nimmer auf!" (1. Kor. 13, 8.) Das Wort hat, wie es zum erstenmal aufklingt (das Bleibende der Liebe wird VerS 13 nochmals betont), nicht den Charakter hoffenden Aus­ blicks über die Grenzen der Zeit, sondern beschreibt als beobachtbaren Teil echter Liebe ihre immer neu quellende, durch Widerstände nicht zu erschütternde, in der Müdigkeit nicht abebbende Kraft, die sie fähig

macht zu geben, auch wo sie nicht wieder empfängt, zu tragen, auch wo eS ihr durch das, was der andere ihr antut, noch so schwer gemacht wird, die Spuren des Guten zu sehen, auch wo dem Menschen ohne Liebe alles nur Unrecht scheint, für den, den sie lieb hat, zu hoffen, auch wo die anderen nicht mehr zu hoffen wagen. Weil Frauen von Natur stärker lieben können als die Männer, finden wir unter alternden Frauen so viel mehr als unter alternden Männern solche, die im Herzen jung geblieben sind, und die nicht abgelebt und ab­ gestorben, sondern mitten aus lebendigem Geben herausgehen, wenn der Tod kommt. Es ist alles gelebte Kraft, wirkender Trieb, be­ wegter Dienst; nicht starrer Gehorsam gegen etwas, was einem als äußerer Anspruch aufgelegt wird. So versteht Paulus überall die Äußerungen dessen, was gut und Gott gefällig ist, in ihrer Lebendig­ keit und in ihrem lebendigen Zusammenhang untereinander zu schildern, und gibt deshalb nirgends trockene Moralvorschriften, sondern immer Aufruf zu Lebendigem auö gelebtem Leben heraus. Nur daß dieses Leben nie bloß triebmäßig nach irgendeiner Richtung sich auSwirkt, sondern immer gehalten und bestimmt ist von dem, was der heilige gute, barmherzige Gott selber ist und will. Was die älteste Christenheit, auch Paulus, auch die Glieder der paulinischen Gemeinden, in der Lebensstimmung von uns heutigen Menschen am meisten unterscheidet, ist die Stärke der Hoffnung,

mit der sie der baldigen Offenbarung der Herrlichkeit Gottes ent­ gegensetzen und entgegentzarren. Auch der Tag Jesu Christi ist für sie, trotz deS Gerichtes, das er auch mit sich bringt, doch vor allem ein Tag der Hoffnung und Erwartung. — Ist nicht durch die Tatsache, daß diese Hoffnung auf die nahe Vollendung sich als irrig erwiesen hat, die ganze fromme Gedankenwelt der ältesten Christenheit für uns fragwürdig geworden? Man darf sich an der Frage nicht so rasch vorbeidrücken, indem man allerhand von anderer Zeitlage und der­ gleichen redet. Dafür ist die Hoffnung für die innere Haltung der ältesten Christenheit zu wesentlich gewesen. Es ist kaum ein Zweifel, daß die ersten Christen die ungeheure Leistung, die in der Einbürge­ rung des Glaubens an die angebrochene Herrschaft des heiligen all­ mächtigen, guten Gottes in dieser Welt der Lüge, der Bosheit, der Gewalttat vorliegt, nicht hätten vollbringen können, wenn die ge­ wisse Hoffnung auf die nahe Offenbarung der Herrlichkeit Christi nicht die Herzen erfüllt und sie über tausend Schwierigkeiten hinweg­ getragen hätte, denen sie sonst vielleicht erlegen wären. Wir haben auch Spuren davon im Neuen Testament, wie schwer viele unter der Verzögerung der Erfüllung der Hoffnung gelitten haben. Um so bemerkenswerter ist, daß unter dieser Verzögerung der Glaube nicht zusammengebrochen ist, daß sich vielmehr nur ein anderes Verhältnis zwischen Glaube und Hoffnung hergestellt, dazu die Hoffnung zu einem wesentlichen Teil aus dem Zeitbild ins Raumbild (Himmel) hinüber­

gewechselt hat. Wir können auf die Frage nur so die Antwort finden, daß wir uns klar werden, wie Glaube und Hoffnung der ältesten Christenheit innerlich miteinander Zusammenhängen. Hat die Hoffnung den Glau­ ben getragen, oder aber der Glaube die Hoffnung? Daß die Hoffnung dem Glauben den Schwung gegeben hat, über tausend Schwierig­ keiten und Hemmungen hinwegzukommen, ist eine Tatsache, die wir schon erwähnt haben. Aber getragen hat nicht die Hoffnung den Glauben, sondern der Glaube die Hoffnung. Weil das, was einem von Gott und Christus zuteil geworden ist, in seiner Lebensmacht und Lebenskraft so überwältigend, so sieghaft wahrhaftig, so gütig ist, dabei in seinem Anspruch an uns im Gewissen so ernst genommen sein will, muß eS bald aus der Verborgenheit, in der der Herr jetzt seine Herrschaft auöübt, heraustreten und öffentlich erscheinen. (Vgl. die früher angeführte Stelle Kol. 3, 1 —4.) Wie daS ganze Leben und

Streben deö Christen auf dem ruht, was er von Christus erfährt und erlebt (vgl. Phil. 3, 12 —14), so ruht die Hoffnung auf demselben Grunde. „Der Herr ist nahe" hat einen doppelten Sinn, indem es einmal die wirksam gegenwärtige Nähe des Herrn zum Ausdruck bringt, dann wieder die Nähe der Offenbarung seiner Herrlichkeit. (Phil. 4, 4-5.) Das Wesentliche an der Christenhoffnung auch in ihrer ältesten Gestalt ist nicht ihre Form, sondern die Hoffnung auf die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes selbst. Deshalb hat Paulus nie den Versuch gemacht, seinen Gemeinden daS äußere „wie" der Erfüllung der Hoffnung zu schildern. Die einzige Stelle, wo etwas derartiges gestreift wird (1. Theff. 4, 13—18), ist ein Trostwort für die, die sich Kummer darüber machen, daß einige von ihren Brüdern gestorben sind, ohne die Ankunft des Herrn miterlebt zu haben. Dabei endet sie mit dem ganz bildlosen, aber sachlich um so tieferen: „und werden also bei dem Herrn sein allezeitI"1) Aus diesem Verhältnis zwischen erfahrenem Glauben und darauf sich gründender Hoffnung erklärt sich auch, daß die junge Christenheit um des nahen Endes willen die Aufgaben, die ihr hier auf Erden zugewiesen sind, keineswegs vernachlässigt. In Theffalonich (besonders 2. Theff.) hat es Leute gegeben, die glaubten, wegen der Nähe des Endes sich der ordentlichen Arbeit entschlagen zu können und zu sollen. Aber dem ist Paulus mit dem größten Nachdruck entgegengetreten. Die Christen sind auch nicht aus ihren natürlichen Lebens- und Berufs­ zusammenhängen herausgetreten und haben einen geistlichen Orden i) Am eingehendsten hat Paulus seine Glaubensgedanken von der christ­

lichen Hoffnung 1. Kor. 15 entwickelt. Er zeigt hier eine ebenso große Ener­ gie und Tiefe wie Zucht und Nüchternheit theologischen Denkens. Alles bloß

Phantasiemäßige ist abgestreift und alles auf das abgestellt, worauf die sach­ lichen Zusammenhänge und Notwendigkeiten hinführen. Dabei ruht alles auf der erfahrenen Tatsache, daß Jesus als der Auferstandene jetzt schon

bei den Seinen und in den Seinen lebendig ist. Daraus ergibt sich alles

Weitere. — Sehr wichtig ist das, was Paulus über den Auferstehungsleib

sagt, der etwas völlig anderes ist als der wiederbelebte, ins Grab gelegte natürliche Leib. Auferweckt werden (wo? wie?) wird ein „geistlicher Leib",

ein „Leib" völlig anderer Daseinsweise, als die ist, die unser irdischer Leib

hat. Darunter kann man sich natürlich nichts vorstellen, soll eS aber auch gar nicht. Es handelt sich lediglich um das „ganz andre" dessen, was sein

wird, im Verhältnis zu dem, was hier gewesen ist. (Vers 35 — 40.)

gebildet. Paulus weist vielmehr darauf hin, daß jeder seinen Christen­ stand in dem Beruf zu bewähren habe, in dem er sich befinde. (1.Kor.7, 20 — 24.) Er dehnt das auch (1. Kor. 7, 12) auf das Verbleiben in der Ehe mit einem nichtchristlichen Mann oder einer nichtchristlichen Frau aus. Was die Ehe als solche betrifft, so wird ihre Heilighaltung als einer Gottesordnung den Verheirateten 1. Kor. 7 nachdrücklich eingeschärft, während Paulus im übrigen in diesem Kapitel dem ehe­ losen Stand vor dem ehelichen den Vorzug gibt. (1. Kor. 7, 31 — 35?) Auf der anderen Seite ist aber die Ehe die einzige geschlechtliche Ver­ bindung, die gestattet ist; hier ist Paulus ganz unerbittlich, wie der Kampf gegen den freien Verkehr der Geschlechter für die alte Christenheit überhaupt kennzeichnend ist. — Im allgemeinen reicht die Wertung der Ehe durch Paulus gerade 1. Kor. 7 nicht an die Tiefe des Wortes Jesu heran (Matth. 19, 6): „So find sie nun nicht zwei, sondern ein Fleisch." Ein tieferes Verständnis für das Verhältnis der Eheleute zueinander zeigt Eph. 5, 22 — 23. Auch das Verhältnis der Eltern zu den Kindern wird hier gestreift, aber nur kurz. Sehr wichtig ist, daß Paulus unter den damaligen Verhältnissen zu einer so positiven Wertung des (heidnischen!) Staates gekommen ist, wie sie Röm. 13, 1—7 vorliegt. Durch die schweren Mängel der tatsächlichen Wirklichkeit (Brutalität, Rechtsbeugung) hindurch fleht er den göttlichen Auftrag der Staatsgewalt, das Recht zu handhaben zur Strafe der Bösen und zum Schutz der Rechtschaffenen. Dazu führt sie das Schwert und soll es kräftig führen. ¥

Paulus war, rein auf seine natürliche Ausstattung gesehen, ein ganz ungewöhnlicher Mensch, von schärfstem Verstand, weitem Um­ blick, von ungemeiner Fähigkeit, in der Seele anderer Menschen zu lesen und auf sie Einfluß zu gewinnen. Dabei trotz gebrechlichen Kör­ pers von einer geradezu unerhörten Leistungsfähigkeit, ja Leistungs­ leidenschaft, die ihre Wurzel aber nicht im Geltungsbedürfnis hat, sondern in dem Drang zum Wirken aus letzter Verantwortung gegen Gott und die Brüder. Davon, daß er nach dem Ort seiner Ge­ burt einerseits (Kleinasien!), nach der schriftgelehrten Schulung, die er in Jerusalem erhalten hat, andererseits für die Hinausführung des jungen Christentums aus der Enge seines jüdisch-palästinensischen Ur­ sprungslandes in die Weite der griechischen Kulturwelt auch schick-

salSmäßig in einzigartiger Weise geeignet war, war schon früher die Rede. Aber waS ihn zu dem Apostel gemacht hat, dessen Einfluß bis auf den heutigen Tag lebendig ist, ist die Bindung aller ihm ge­ gebenen naturhaften Anlagen und schicksalsmäßigen Gegebenheiten in dem einen und durch das eine, daß Gott in Jesus Christus über ihn die letzte Gewalt gewonnen hat, daß er ihn mit all seinen Gaben und Kräften in seinen Dienst genommen hat. Daß eS „Gott wohlgefiel, seinen Sohn in ihm zu offenbaren" (Gal. 1, 15 — 16), das steht an der Schwelle seines apostolischen Wirkens. Und daß „Gott sei alles in allen" (1 Kor. 15, 28) — das ist das, was er über das letzte Ziel alles Geschehens zu sagen hat. Aber dieser Anfang und dieses Ende in Gott macht das, was dazwischenliegt, nicht gleichgültig und inhaltlos, sondern gibt der Geschichte der Menschheit wie seiner eige­ nen Lebensgeschichte ihre ungeheure Lebendigkeit und ihren tiefsten Ge­ halt. Denn Gott ist nicht der hinter dem Geschehen Ruhende, sondern der lebendig Wirkende, von dem und durch den und zu dem alles Ge­ schehen ist. (Röm. 11, 36.) Deshalb ist Paulus kein Büßer und kein Schwärmer geworden, auch keiner, der sich in die Einsamkeit zurück­ zieht, um mit Gott allein zu sein. Sondern der Apostel Jesu Christi, der Länder und Meere durchzogen hat, Gott den Völkern zu ver­ kündigen durch das Evangelium. Nicht zum eigenen Ruhm und zur eigenen Ehre, sondern zur Ehre dessen, der ihn in Gnaden zu seinem

Werk bereitet und zu seinem Dienst angenommen hat.

Luther — Die Wiederentdeckung des Evangeliums Von Paulus zu Luther — der Schritt vom einen zum anderen erscheint reichlich groß. Zwischen beiden liegen P/2 Jahrtausende Kirchengeschichte, in denen doch allerlei im Christentum und am Christentum geschehen ist, das auch für den evangelischen Glauben

wichtig geworden ist. Die Reformation wäre schließlich nicht mög­ lich — und nicht nötig — gewesen, wenn es keine Kirche gegeben hätte, die zu reformieren war. Aber Luther hat seine Aufgabe immer dahin verstanden, die Kirche aus ihrer gegenwärtigen Verirrung wie­ der zum biblischen Evangelium zurückzurufen, und er betont, daß Pau­ lus ihm der Führer zum Verständnis des Evangeliums geworden ist. 108

Man begeht bei Betrachtung und Beurteilung der Person und des Werkes Luthers sehr häufig den Fehler, daß man beides zu sehr von vornherein im Rahmen der gesamten damaligen Zeitbewegung vollzieht und darüber das Besondere der Haltung und der Leistung Luthers nicht klar genug erkennt und es nicht genügend auf sich wirken läßt. Gewiß war die Zeit, in der Luther auftrat, eine nach den ver­ schiedensten Richtungen hin ungemein bewegte, staats- und kirchen­

politisch, national, geistig, wirtschaftlich, sozial, und all die Strö­ mungen, die durch die Zeit hindurchgingen, sind irgendwie mit der von Luther ausgehenden Bewegung zusammengekommen. Auch Luther selbst hat in der ihm eigenen Gradheit und Offenheit zu ihnen Stel­

lung genommen. Aber es ist die Quelle von vielen Unklarheiten und schiefen Ur­ teilen, wenn man übersteht, daß Luther bei dem allem und durch das alles hindurch seine eigene Aufgabe zu erfüllen und seinen eigenen Weg zu gehen hatte. Daö Ungeheure, das er geleistet hat, konnte er nur leisten, weil er die ihm gestellte Aufgabe von vornherein klar erkannte und ihr durch Lob und Tadel, durch Freundschaft und Feind­ schaft, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte unentwegt treu geblieben ist. Die Aufgabe, vor die er sich durch persönliche Lebensführung wie durch den Ort, an dem er stand, gestellt sah, war aber keine andere als die, das Evangelium wieder auf den Leuchter zu stellen, daß es hell ins deutsche Land und daüber hinaus in die ganze Christenheit leuchte. Wohl hat Luther denAnstoß zu seinem Auftreten in der Öffentlich­ keit dadurch erhalten, daß er einem groben Mißbrauch entgegentreten mußte, dessen die Gewissen verwirrende Folgen er im Beichtstuhl kennenlernte. Der Ablaßhandel, wie Tetzel ihn betrieb, war auch vom ernsthaften katholischen Standpunkt aus gesehen ein Unfug. Aber TetzelS Treiben wurde Luther Anlaß, sich mit einer Einrichtung der katholischen Kirche auseinanderzusetzen, die im Mittelpunkt ihrer Seelsorge stand, und auf die ihre Macht über die Gemüter mit in erster Linie begründet war: mit dem Bußsakrament (Ohren­ beichte). Da erkannte er mit Schrecken, daß das Bußsakrament, ge­ rade wie es ernsteste Lehrer der Kirche auffaßten und zu handhaben lehrten, im Widerspruch mit dem Evangelium stand, wie eS ihm schon seit einer Reihe von Jahren bei seinen GewiffenSkämpfen im Kloster durch das Studium der Schrift aufgegangen war. Schon, daß mehrere Jahre vergangen sind, ehe er aus der ihm zuteil gewordenen Erkennt-

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niö Anlaß nahm, eine Einrichtung der Kirche öffentlich zu beanstanden, zeigt, daß Luther alles andere eher war, als ein kampflustiger Wider­ sacher der Papstkirche um der zahlreichen und schweren sittlichen Schäden willen, die in ihr aufgebrochen waren. Er hat diese Schäden

auch gesehen und mit unter ihnen gelitten, auch gewünscht, daß die Schäden abgestellt würden. Aber er war ein viel zu treuer Sohn seiner Kirche, als daß er sich für berechtigt gehalten hätte, von sich aus zur Abstellung dieser Schäden aufzutreten. Das war Sache der Prä­ laten, die von Gott mit der Leitung der Kirche betraut waren, in manchem auch Sache einer frommen christlichen Obrigkeit. Erst als er merkte, daß auch diese sittlichen Schäden im Zusammenhang damit standen, daß die Papstkirche als solche von der Grundlage der wahren Kirche Christi, vom Evangelium, abgewichen war — erst dann hat er seine Stimme vor aller Öffentlichkeit erhoben, nicht um deö Kampfes willen, sondern aus der letzten Not seines in Gottes Wort gebundenen Gewissens heraus. Dann freilich auch mit einer Kühnheit und Un­

erschrockenheit, die ihm lediglich daraus zufließen konnte, daß er im Gehorsam gegen die Wahrheit des Evangeliums, die ihm aufgegangen war, von aller Menschenfurcht frei geworden war. Dabei ist eö un­ gemein spannend zu sehen, wie Luther zu jeder neuen Auseinander­

setzung und dem sich daraus entwickelnden neuen Angriff nie von sich aus und nach vorbedachtem Plan geschritten ist. Er ist zu jedem weiteren Fortschreiten auf der einmal betretenen Bahn getrieben

worden, weil ihm ein neuer — innerlicher, nicht bloß äußerlicher — Schaden der Kirche sichtbar geworden ist. Er hat niemals bloße Theo­ rien aufgestellt und ausgebaut, sondern stets nur das gesagt und ge­ tan, was nach der Forderung der Stunde gesagt und getan werden mußte. Dann aber auch mit dem Einsatz seines ganzen Wesens, ja des Lebens selbst. ¥

Luther ist in ehrlicher mittelalterlicher Frömmigkeit ins Kloster

gegangen und ist ein sehr frommer Mönch gewesen. Er hatte die Ab­ sicht, selbst ein heiliges Leben zu führen und durch die Überschüsse der Verdienste, die er als Mönch erwerben konnte, seinen Eltern aus dem Fegefeuer zu helfen. Weil er es mit dem Gehorsam und dem Ungehor­ sam gegen Gott sehr ernst nahm, auch mit den Sünden der Gedanken, wurde er mit immer steigendem Erschrecken gewahr, daß von überIIO

schlissigen Verdiensten bei ihm gar nicht die Rede sein konnte, daß er vielmehr selber immer von neuem in Sünde geriet. Auch die Beichte mit ihrer Absolution half ihm nicht, weil er merkte, daß die Reue, mir der er zur Beichte ging, nicht auö der wahren Liebe zu Gott, sondern auö der Angst vor Gotteö Strafe floß, also letzten Endes aus der Selbstsucht geboren war. So zergrübelte und zerquälte er sich immer mehr, nicht immer in gleichem Maß, sonst wäre er rasch zu­ grunde gegangen, sondern mit Zwischenpausen einer gewissen Erleichte­ rung, weil ihm von Staupitz und anderen immer wieder vorgehalten wurde, er solle sich an Christi Verdienst und Gnade halten und da­ durch der Anfechtung durch seine Puppensünden Herr werden. Aber die Anfechtungen kamen immer wieder und ließen ihn Seelenqualen durchmachen, von denen er später sagt, er habe erfahren, wie e6 in der Hölle aussähe. Zum wirklichen Frieden kam er erst, als ihm an Röm. 1, 17: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben", die Er­ kenntnis aufging, daß er mit seinem ganzen Bemühen, sich durch seine eigene Leistung der Gnade Gottes würdig zu machen, auf falschem Weg war. Die von ihm selbst erworbene Gerechtigkeit konnte nie vor dem durch und durch heiligen Gott bestehen, weil auch dem besten „Werk", das er aus sich selbst hervorzubringen versucht, daö fehlt, waS eö in Gottes Augen wirklich gut machen könnte: die reine, völlig von der Rücksicht auf Vorteil oder Schaden des eigenen Ich absehende Liebe zu Gott. Nur Gott selbst, der sich unser mitsamt unserer Sünde gnädig vergebend annimmt, kann unö gerecht machen. Und er nimmt den an, der seiner Gnadenzusage in Christus ohne Drum und Dran einfach glaubt. Auch dieser Glaube selbst ist nicht etwa ein Werk, das wir von uns aus vor Gott aufbringen können, sondern ein Ge­ schenk der Gnade Gotteö. Aber wem dieses Geschenk Gotteö, daß er dem in Christus gnädigen Gott glauben kann, zuteil wird, der hat es auch. Auch darum handelt es sich nicht, daß man diesen Glauben haben möchte, um dadurch die Seligkeit für sich zu gewinnen. Das wäre ja wieder Ichsucht. In der Römerbriefvorlesung von 1515/16, die erst am Anfang unseres Jahrhunderts wieder aufgefunden worden ist, und die uns den tiefsten Einblick in das Innenleben Luthers zu jener Zeit gewährt, ist es erschütternd ausgesprochen, wie der, dem im Glauben zuteil geworden ist, zu wollen, was Gott will, zu diesem Willen Gottes mit ihm auch „ja" sagt und sagen kann, wenn Gott ihn in die tiefste Hölle hinabstürzen wollte. Später ist ihm freilich klar-

geworden, daß dies Wollenkönnen, was Gott will, die Seligkeit selber ist. — Solches Geschehen nennt Luther mit dem Ausdruck des Paulus Gerechtwerden aus Glauben, in dem das von Gott Angenommen­ werden und das durch Gottes Gerechtigkeit Neuwerden aufs engste miteinander verbunden sind. Diese Erkenntnisse waren herausgewachsen aus den Erfahrungen und Kämpfen des frommen Mönches und Bibellesers, der in dem ver­ geblichen Ringen, nach der Vorschrift seiner Kirche durch die eigene Haltung und Lebensführung sich Gottes Gnade zu verdienen, das Vertrauen zu sich selbst verloren und dafür gelernt hatte, sich ganz dem Gott zu überlassen, dessen begnadigende und neuschaffende Ge­ rechtigkeit in Jesus Christus erschienen ist, auch für ihn. Daß er da­ durch in Widerspruch mit maßgebenden Grundsätzen der Kirche ge­ raten war, deren treuer Sohn er immer noch zu sein glaubte, wird ihm klar im Streit über das Bußsakrament, der aus seinem Protest gegen den Ablaßunfug TetzelS entstand, und der im weiteren Verlauf zum Irrewerden an den letzten Grundlagen des römischen Systems führte. Ich habe vorhin erwähnt, daß das Ablaßtreiben TetzelS auch an den strengeren Maßstäben der Kirche selbst gemessen ein Unfug war. Wenn Luther sich verpflichtet fühlte, gegen diesen Unfug zum Schutz der verführten und betrogenen Gewissen mit seinen 95 Thesen einzuschreiten, so glaubte er sich im Einklang mit der wahren Meinung der Kirche und des Papstes selbst. Aber ehe noch durch die Bannbulle entschieden war, daß auch der Papst gegen Luther Partei nahm, war der Ablaßstreit zu einem grundsätzlichen Kampf um daö Buß­ sakrament geworden, die Einrichtung, auf der die Herrschaft der Kirche über die Gewissen letzten Endes ruhte. Durch das Bußsakra­ ment wurden die Gläubigen angeleitet, zunächst ihr Gewissen nach den begangenen Sünden zu durchforschen und diese ihre Sünden in zer­ knirschter Reue vor dem Priester zu bekennen. Dieser hatte dann die Echtheit dieser Reue festzustellen, wobei er durch die Beichtfragen die Erkenntnis der begangenen Sünden und damit die Reue vertiefte. Darauf hatte er den als wahrhaft reuig Erkannten kraft seiner prie­ sterlichen Vollmacht von seinen Sünden loszusprechen, wodurch dieser von der ewigen Verdammnis gerettet wurde. Danach legte er noch in der sogenannten Genugtuung bestimmte Leistungen auf, die ihm zur Abbüßung der verwirkten zeitlichen Strafen (bis ins Fegefeuer hinein) erforderlich schienen. Das war das kirchliche Bußsakrament in seiner

reinen Gestalt, abgesehen von den Mißbräuchen und Unzulänglich­ keiten, die sich beim Beichtenden wie beim Priester daran anhängen mochten. Und in dieser seiner reinen Gestalt erkennt Luther daS kirch­ liche Bußsakrament als das Widerspiel desien, was ihm aus der Hei­ ligen Schrift über das wahre Verhältnis zwischen Gott und Mensch aufgegangen war. Einmal, weil eS der Inbegriff schlimmster Werk­ gerechtigkeit ist, wenn der Mensch durch die Echtheit seiner Reue sich der Vergebung Gottes würdig machen will, wobei dann durch die Genugtuungsleistungen der Werkdienst auch in das zukünftige Ver­ halten des Losgesprochenen hineingeleitet wird. Dann, weil die Los­ sprechung selber nicht um Gottes willen, sondern wegen der Errettung von der Höllenpein, also auö selbstischem Grunde, begehrt wird. Und schließlich, weil die Lossprechung nicht im schlichten Glauben in die durch den Mund deS priesterlichen Menschen ausgesprochene Zusage der Gnade Gottes hingenommen, sondern an die sachliche Vollmacht deö geweihten Priesters als des Stellvertreters Gottes gebunden wird. Man kann die einzelnen Stücke des Bußsakraments auch im Sinn des Evangeliums verstehen und handhaben. Der Ruf zur Buße gehört zur Heilsbotschaft ebenso wie der Ruf zum Glauben; die Buße, die Reue und Abkehr vom Bösen, ist nur die andere Seite der Hinwendung zum heiligen, gnädigen Gott. Und man kann das Be­ dürfnis und Verlangen haben — Luther selbst hat eS sein Lebenlang sehr stark gehabt —, sich unter den Anfechtungen deS Gewissens die Gnade und Vergebung Gottes ausdrücklich in Gottes Namen zufprechen zu lassen. Und wenn das durch einen geschieht, der von Amts und Berufs wegen das Wort Gottes den anderen öffentlich zu ver­ künden hat, so ist das eine Verstärkung deö Eindrucks des zugesproche­ nen Wortes, obgleich das Wort der Vergebung im Namen Gottes an sich auch von einem anderen Christen zugesprochen werden kann. Und die Mahnung zum Vorsatz, sein Herz und Leben zu bessern, ist jedem nützlich und tut jedem not. Deshalb hat die lutherische Kirche die Pri­ vatbeichte noch jahrhundertelang beibehalten, und in abgewandelter Form übt sie die Beichte bis heute. Aber das Bußsakrament der römischen Kirche ist Luther schlechterdings untragbar; eö ist ihm eine Verwirrung und Knechtung der Gewissen und zerstört den Glauben, statt ihn zu stärken. Damit war aber das römisch-kirchliche System an dem Punkt ge­ troffen, wo eS mit der Frömmigkeit des einzelnen am unmittelbarsten 8

Eger, Evangelischer Glaube

HZ

in Beziehung trat und wo seine Macht über die Gewissen ihren wichtigsten Anhalt hatte. Und nun geht eS Schlag auf Schlag, in unheimlicher Folge­ richtigkeit der Gedanken, die alle Taten waren. Dem Beichtpriester als Stellvertreter Gottes in der Beichte folgt der Papst als Stell­ vertreter Christi auf Erden. Einen Vorrang in der äußerlichen Christenheit will Luther dem Papst aus menschlichem, geschichtlichem Recht noch jahrelang zugestehen; eS ist ihm gar nicht um anti­ autoritäre revolutionäre Auflehnung zu tun. — Der Herr der Kirche, der wahren innerlichen Christenheit im Unterschied von der gemalten äußerlichen Christenheit, ist Christus selbst, der durch sein Wort, daS in seinem Auftrag verkündigt wird, über die Herzen und Gewissen derer herrscht, die an ihn glauben, in denen sein Geist lebendig und wirksam ist. — Mit dem Fall der geistlichen Vorrechte des Papstes fallen die geistlichen Vorrechte deö Priesterstandes überhaupt, der sich zwischen Gott und den Gläubigen eingeschoben hat und den Zugang zu Gott an den Gehorsam gegen den Priester bindet, während doch alles, was „aus der Taufe gekrochen" ist, schon zum Bischof und Priester geweiht ist und unmittelbaren Zugang zu Gott hat, in der Verant­ wortung vor ihm, im Hören auf die Stimme Gottes im Evangelium, im Gebet (Allgemeines Priestertum der Gläubigen). Wohl gibt es ein Amt in der Kirche, aber nicht im Sinne eines bevorrechtigten Standes, sondern lediglich in dem des Dienstes an der Gemeinde durch öffentliche Verkündigung des Evangeliums auf Grund ordent­ licher Berufung, also um der guten Ordnung willen. Denn Luther ist schon in den Tagen der mit stürmischer Kraft aufbrechenden Be­ wegung aller Geister der Unordnung, Gewalt und Neuerungssucht von Herzen feind, da sie nur den Lauf des Evangeliums schädigt, den unruhigen Köpfen Freude macht und die wirklich Frommen ver­ wirrt. — Nicht nur das Vorrecht der alleinigen Auslegung der Schrift wird Papsttum und Priestertum aus der Hand genommen und die Menschenherrschaft über die Gewissen: daS ganze SakramentSwesen der Kirche wird beseitigt, vom Meßopfer bis zur letzten Ölung, wobei der Priester durch Hantierung mit heiligen Dingen den

Seelen übernatürliche heilige Kräfte kraft priesterlicher Vollmacht einflößt. Was von den Sakramenten als biblisch begründet bleibt, Taufe und Abendmahl, und mit einem gewissen Vorbehalt auch die Lossprechung in der Beichte, hat seine Wirkung lediglich in dem Wort

der göttlichen Gnade, das dabei nicht ins allgemeine hinein, sondern dem einzelnen verkündigt wird, nicht zur Einflößung wunderbarer Gnaden, sondern als Zusage des gnädigen Willens Gottes, die im Herzen und Gewiffen ausgenommen wird, durch Glauben allein. Die bei den Sakramenten zu dem Wort hinzutretenden äußeren Mittel, Waffer bei der Taufe, Brot und Wein als Zeichen von Leib und Blut Christi im Abendmahl, Handauflegung bei der Lossprechung, sind nichts weiter als Zeichen und Siegel, durch die das Wort für den Glauben bekräftigt wird, und sie empfangen ihre Deutung lediglich durch das dem Glaubenden zugesprochene Wort. Das eigentliche Sakrament (= Heiligtum) ist also das Wort. — Bei der Messe wird noch besonders daran Anstoß genommen, daß der Priester durch Opferwerk Gott gnädig zu machen unternimmt, während Gott in Christus gnädig ist und diese seine Gnade lediglich zur Aneignung durch den Glauben dargeboten wird. Was von der Messe bleibt, ist das Abendmahl Jesu Christi. Das war kein Angriff auf einzelne Schäden und Mißbräuche des seitherigen KirchentumS. Das war der Stoß ins Herz für dieses ganze Kirchentum selbst, das Millionen von Gemütern durch Jahrhunderte hindurch geistliche Heimat gewesen war, und das immer noch als solche, trotz allem Anstoß, den man an den Schäden und Mißbräuchen bei seinen einzelnen Vertretern nahm, fromm verehrt wurde. Und der diesen Angriff in täglicher und stündlicher Gefahr des Todes unter­ nahm, war kein aufrührerischer Neuerer, sondern ein tief frommer Mönch, der alles, was er im Ansturm gegen die Heiligtümer der Christenheit, die auch seine eigenen Heiligtümer gewesen waren, tat, auS letzter Verantwortung heraus und oft genug unter Zittern und Zagen tun mußte, weil Gott ihn dazu nötigte im Glauben an sein heiliges Evangelium. Luther schreibt selbst, wie oft er sich bangend die Frage vorgelegt hat: Bist du allein klug? Aber Gott hat ihn nicht nur aufrecht stehen lassen, sondern ihn immer weiter zu gehen ge­ zwungen, bis alles auf nichts anderem stand als auf Christus und seinem Evangelium. Bis auch all das Beiwerk weggeräumt war, das sich um den Mittelpunkt des in seinem Kern als falsch und seelen­ verderblich erkannten Systems herum angesiedelt hatte. Das Bild hat eö nicht nur den Zeitgenossen angetan, es ist ein bildhaftes Zeichen geworden für alle nachher Kommenden: Der eine Mönch von Wittenberg, aus der Einsamkeit seines Klosters heraus

dem Reichstag zugereist, wohl auf der Reise von Tausenden geehrt und angehört als der, der Gottes Wort wieder auf den Leuchter ge­ stellt, auch nicht ohne den Zuspruch treuer Freunde. Aber jetzt, in der Stunde der Entscheidung, als einzelner, unter keinem anderen Schutz als unter dem seines Gottes, dem er im Glauben gehört und ver­ pflichtet ist, vor der Versammlung der geistlichen und weltlichen Machthaber der Zeit: der finstere Kaiser aus Spanien, in dessen Reich die Sonne nicht unterging, neben ihm der päpstliche Legat, die Kurfürsten, Erzbischöfe, Bischöfe und Reichsfürsten alle, unter denen er wohl manchen hatte, der es mit ihm gut meinte, aber in der Stille und zaghaft, — der eine Mönch vor Kaiser und Reich: „Es sei denn, daß ich durch Zeugnis der heiligen Schrift oder Helle Gründe überwiesen werde, so bin ich überwunden durch die von mir angeführten Heiligen Schriften, und mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort. Widerrufen kann ich nicht und will ich nicht, dieweil wider das Ge­ wissen zu handeln unsicher und gefährlich ist. Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir!" Was war das für ein Tag! Was war das für ein Mann! Individualismus? Subjektivismus? Niemand war weniger individualistischer Subjektivist als Martin Luther. Und am aller­ wenigsten am Tag von Worms. Er hat dem Papst an die Krone ge­ griffen nicht kraft des in ihm mächtig sich regenden frommen Gefühls, auch nicht aus verstandesmäßigem Widerspruch gegen die Lehren der Papstkirche, sondern im einfachen Gehorsam des Glaubens und Ge­ wissens gegen Gottes Wort, wie es in der Heiligen Schrift zu seinem Glauben geredet und ihn bezwungen hat. Vielleicht sagen wir noch besser und deutlicher: im Gehorsam gegen seinen Herrn und Meister Jesus Christus, zu dem er durch die Schrift den Zugang gefunden und der ihn die Schrift im Glauben hat verstehen lehren. Jesus Christus der Gekreuzigte und Auferstandene, der für ihn Gekreuzigte und Auferstandene: weil er dem zu eigen geworden war, konnte ihn kein Papst und Kaiser schrecken. Es war noch eine Auseinandersetzung mit dem bisherigen Kirchen­ wesen nötig, die in ihren einzelnen Zügen schon längst nebenher erfolgt war, aber jetzt grundsätzlich zum Abschluß gebracht werden mußte: die Auseinandersetzung mit dem Mönchtum. Luther war in der Mönchskutte nach Worms gegangen, und er hat auch nachher noch länger gewartet, ehe er den Orden äußerlich verließ. Das Äußerliche

hat für ihn immer nur am Rande gelegen. Aber innerlich war er längst von dem frei, was ihn vor zwei Jahrzehnten ins Kloster ge­ führt hatte. Beim Mönchtum handelte eö sich um die besondere Heilig­ keit der christlichen Lebensführung. Dadurch, daß man aus der argen Welt herauSging und neben den für alle geltenden Geboten noch die besonderen „Räte" für die, die ein vollkommenes Leben führen wollten, den Rat der völligen Armut, der Ehelosigkeit und des un­ bedingten Gehorsams gegen die Ordensoberen befolgte, erwarb man das besondere göttliche Wohlgefallen. Die darin liegende Höchststeige­ rung des Verdienstgedankens war Luther schon längst vor allem zuwider gewesen; sie war der vollendete Widerspruch gegen die Recht­ fertigung durch Gotteö Gnade aus Glauben, nicht kraft der eigenen Gott geleisteten Werke. Jetzt wird neben dieser stolzen Werkgerechtig­ keit noch der im Mönchswesen liegende Ungehorsam gegen die natür­ liche Lebensordnung, in die Gott uns hineingestellt hat als Vater, Mutter, Kind, als Schuster oder Bauer, als Fürst oder Untertan, als Knecht oder Magd, und die darin liegende Lieblosig­ keit ins Auge gefaßt. So wenig es besonders heilige, vor Gott ver­ dienstvolle Werke gibt, so wenig darf eS neben den Werken, die wir in dem uns durch Gottes Ordnung und Fügung zugewiesenen natür­ lichen Beruf auszurichten haben, selbst erwählte Werke geben. Wir sollen nicht aus der Welt gehen und uns nur mit unserem eigenen Seelenheil beschäftigen. Gott hat unS mitten in die Welt hinein­ gestellt und uns hier unsere Aufgabe gegeben. Diese Aufgabe besteht aber darin, daß wir in gewiffenhafter Ausrichtung unseres Berufs, an welchen Ort immer uns Gottes Führung gestellt hat, in Liebe den Brüdern dienen. Gott selber können wir nichts geben, er hat alles; wir können von ihm nur im Glauben nehmen. Aber den Menschen können und sollen wir nach Gottes Willen geben, nicht für uns, son­ dern für die Brüder leben; der Glaube muß in der Liebe tätig sein. Nicht bloß in Werken der Barmherzigkeit im engeren Sinne gegen­ über besonders Hilfsbedürftigen, Kranken, Armen. Luther hat ein­ mal sehr schön ausgeführt, daß die Liebe des Schusters zu seinem Nächsten sich zunächst einmal darin zu zeigen hat, daß er die Schuhe, die er dem Kunden zu machen hat, gut macht. Dieser Gedanke, daß die sorgfältige Arbeit im Beruf die nächste und wichtigste Form ist, in der wir unsere Liebe zu dem Nächsten zu betätigen haben, ist bei dem, was Luther später von den natürlich gottgegebenen Ständen

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und Berufen sagt, mehr in den Hintergrund getreten, aber nie ver­ schwunden. Die Liebe geht durch alle verschiedenen Berufsaufgaben als das sie innerlich Belebende hindurch. Im übrigen ist der Gedanke, daß Gott uns in unseren Stand und Beruf hineinstellt, daß der einzige wirkliche Gottesdienst der ist, daß wir unseren Beruf in der mensch­ lichen Gemeinschaft, in die Gott uns gestellt hat, im Gehorsam gegen ihn treulich ausrichten, der für das menschliche Gemeinleben aller­ wirksamste Gedanke der Reformation geworden. Der andere in Luthers Lehre vom natürlichen gottgegebenen Beruf liegende Gedanke, daß es vor Gott keinen hohen oder niederen Stand gibt, daß das einzige, was dem Beruf vor Gott den Wert gibt, die Treue ist, mit der er ausgeübt wird, steht selbstverständlich auch heute noch in fort­ währender tatsächlicher Spannung mit dem Hochmut und Gel­ tungsbedürfnis des von Natur selbstischen Menschen. Aber grund­ sätzlich ist auch er heute im allgemeinen Bewußtsein anerkannt. Und dann kam die Herausgabe des ins Deutsche übertragenen Neuen Testaments, der eigentliche Ertrag der Wartburgzeit Luthers. Wir haben über Luthers Stellung zur Bibel schon früher gesprochen. Hier sei nur noch einmal das Wichtigste herausgehoben: Was Luther in der Bibel gefunden hat, daö war das Wort Gottes, das zum Glauben spricht. Dieses Wort Gottes ist aber, auf den kürze­ sten Ausdruck gebracht, Jesus Christus, sein Wort und seine Tat, sein Kreuz, sein Wirken als lebendiger Herr. Dies Wort ist nicht Lehre, obgleich auch die Lehre sich damit zu befaffen und daran auszurichten hat; es geht nicht auf den bloßen Verstand, sondern auf den ganzen Menschen in Herz und Gewissen und wirkt das sich Auftun für Gott im Glauben. Wo das Wort nicht diesen Glauben trifft und weckt, da ist eö nicht wirksames Wort Gottes; Wort Gottes und Glaube ge­ hören zuhauf. Es hört nicht auf, objektiv Gottes Wort zu sein, wenn ihm der Glaube versagt wird. Aber als Gottes Wort erfahren wird es nur im Glauben, der sich durch es zu Christus rufen läßt. Auf der anderen Seite kann der Glaube Gott nur finden im Wort. Wo er abseits davon, in allerlei eigentümlichen inneren Erlebnissen, Gottes inne zu werden versucht, wird er Schwärmerei. — Das sind die Ge­ danken, die Luther im Kampf gegen die sogenannten Schwarmgeister herausgestellt und mit ungeheurer Wucht vertreten hat. Denn hier kam zu dem Zorn über die Entleerung und Verkehrung des Wortes und die dadurch verursachte Verwirrung der Gewissen noch die Entrüstung

über den Tumult und Aufruhr, der durch die Schwärmer hervor­ gerufen wurde. Das ist das wunderbare Ineinander des Objektiven und Subjektiven in Luthers Gedanken von dem den Glauben treffen­ den und von ihm aufgenommenen Wort, gleich weit entfernt von der Starrheit des bloß Gegenständlichen wie von der Willkür bloßer Sub­ jektivität, das die Kirche der Reformation gleichermaßen in fester Gründung wie in lebendiger Bewegtheit hält.

Damit hätten wir im wesentlichen beisammen, was Luther nach seinem gläubigen Verständnis des Evangeliums der Christenheit seiner Zeit zu bringen hatte. Was er aus diesem Verständnis heraus beim Aufbau der Kirche des Evangeliums geleistet hat, hat uns hier nicht zu beschäftigen. Hier wäre nur noch ein Wort zu sagen über Luthers Auseinandersetzung mit einem moralistisch abgeflachten Christentum, wie es ihm in Erasmus, dem berühmtesten Humanisten seiner Zeit, gegenübertrat. Die Schrift gegen EraömuS „Vom unfreien Willen" gehört zu dem Leidenschaftlichsten, was Luther geschrieben hat, und er scheut in Abwehr des Irrtums auch vor zugespihtesten Aussagen nicht zurück. Sie ist deshalb nicht leicht zu lesen und noch schwerer in dem, waS sie meint und will, richtig zu verstehen. Die Frage, um die eS in ihr geht, ist die Verborgenheit Gottes, die damit nicht aufhört, daß er uns durch seine Offenbarung in Christus seinen gnädigen, guten Willen gegen uns kundtut. Daß alles, was über Gott auf Grund seiner Offen­ barung in Christus gedacht und gesagt wird, gedacht und gesagt werden muß auf dem Hintergrund eines abgründigen, in seinen Abgründen vielfach nicht nur unbegreiflichen, sondern furchtbaren Geheimnisses, das bringt die Schrift mit all dem Unheimlichen, das in dieser Hinter­ gründigkeit Gottes als des Heiligen, Allmächtigen liegt, zum Ausdruck. Wenn der Ton in unseren Kirchen früher kräftiger angeschlagen wor­ den wäre, wäre die Erschütterung deö Glaubens an Gottes väter­ lichen Willen durch das Kriegsgeschehen kaum so furchtbar und all­ gemein gewesen, wie eS tatsächlich der Fall war. Nur darf nicht vergessen werden, daß Luther gerade in unserer Schrift verlangt, sich auch auf diesem Hintergrund der Verborgenheit Gottes im Glauben an das zu halten, was Gott uns in Christus von sich offenbar ge­ macht hat. Der Hintergrund der Verborgenheit Gottes darf nicht zum Vordergrund gemacht werden, hinter dem der Vater Jesu Christi, der auch unser Vater sein will, am Ende ganz verschwindet, so daß nur der Gott der allmächtigen Willkür übrigbleibt. Sich diesem 119

Gott der allmächtigen Willkür an Händen und Füßen gebunden aus­ zuliefern, ist schließlich auch Frömmigkeit, aber nicht die Frömmigkeit Luthers. *

Bei dem ungeheuer starken Auftrieb nationalen Empfindens, den wir gegenwärtig erleben, ist vielen die Frage nach Luther als deutschem Mann von ganz besonderer Wichtigkeit geworden. Luther ist in seiner ganzen Art und Haltung, in der Weise seines Denkens, Fühlens und Wollens ein kerndeutscher Mann, genauer Mittel­ deutscher, thüringisch-mainfränkischen Stammes. Und er hat sich seinem deutschen Volk aufs engste zugehörig und verpflichtet gefühlt. Auch in der Färbung seiner Frömmigkeit finden sich Züge, die man als eigentümlich deutsch bezeichnen kann: die Neigung zum gemütötief Grüblerischen, wie sie in seinen GewiffenSkämpfen zum Ausdruck kommt; das persönliche TreueverhältniS gegenüber Gott und Christus, als das sein Glaube sich darstellt. Deutsch ist daS Innige und Sinnige, harmlos Humorvolle, und daneben wieder das derb Zufaffende, stür­ misch Polternde seines Wesens. Echt deutsch an ihm ist auch, daß er über nichts mehr in Harnisch geraten kann als über Lüge und Tücke, wie er sie bei den „Welschen" fand. Ein lauterer, aufrechter, gerader Mann, der auch ehrlich eingesteht, wenn er einmal einen Fehler ge­ macht hat. DaS alles ist gut deutsch; allerdings ist die Grenze zwischen dem „Deutschen" an Luther und dem, was bei ihm persönliche Veranlagung und Ausstattung war, nicht immer leicht zu ziehen. Aber man braucht nur neben den Deutschen Luther den Franzosen Calvin zu stellen, um sofort dessen inne zu werden, wie sehr jeder von beiden zu seinem Volke gehört. Am deutschesten erscheint Luther als Meister der deutschen Sprache. Seine Bibelübersetzung ist eine Ver­ deutschung, das heißt eine Eindeutschung im vollsten Sinn des Wor­ tes. Wir haben durch ihn eine deutsche Bibel bekommen. — So hat denn auch das deutsche Volk von jeher empfunden, daß der Mann in ganz besonderer Weise zu ihm gehört, daß nichts Fremdländisches und Fremdartiges an ihm ist. Aber all das Gesagte gilt doch nur in dem Sinn, daß deutsch der Boden war, in dem bei Luther daS Evangelium Wurzel schlug, und deutsch die Form, in der er eS seinen Deutschen kündete. Dagegen kam ihm der Inhalt dessen, was er als Evangelium zu verkünden

hatte, nicht aus seinem Deutschtum: den empfing er in gehorsamem Glauben aus der Offenbarung Gottes in Jesus Christus durch den Dienst der Männer, die das Zeugnis von Christus in der Bibel schriftlich niedergelegt hatten. - Luther hat einmal in der ihm eigenen Bildhaftigkeit und Treffsicherheit das Verhältnis des Evangeliums zum deutschen Volk dadurch veranschaulicht, daß er daS Wort Gottes mit einem „fahrenden Platzregen" verglichen hat. „Bei den Juden ist er gewesen. Aber hin ist hin; sie haben nun nichts. Paulus brachte ihn nach Griechenland. Hin ist auch hin; nun haben sie den Türken. Rom und Lateinischland haben ihn auch gehabt. Hin ist hin; sie haben nun den Papst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, daß ihr ihn ewig haben werdet.. Faule Hände müssen ein böses Jahr haben!" — Es ist ganz ähnlich wie bei den Propheten des Alten Testaments, die sich auch zum Volk Israel gesandt wissen, aber als Beauftragte Gottes dem Volk gegenüber stehen, ja dem ungehor­ samen Volk im Namen Gottes das Gericht ankündigen müssen. Und es ist wie bei Jesus selbst mit seinem Weheruf über Jerusalem. Der Allmächtige ist Schöpfer und Herr aller Völker; er hat sie ins Leben gerufen und läßt sie ihre Geschichte leben, jedes nach seiner Art. Aber sein Wort spricht er zu allen, daß alle eS hören und annehmen. Natürlich jedes nach seiner Art. Und wir danken Gott, daß er es uns durch Luther deutsch hat sagen lassen, daß wir Deutsche eS ver­ stehen und zu Herzen nehmen können. Aber im schlechthinnigen Gehor­ sam gegen das, was Gott in Jesus Christus uns geben, von uns haben und aus uns machen will.

II. Evangelischer Glaube Glaube Ich werde das, was ich über Wesen und Inhalt evangelischen Glaubens auszuführen habe, im Anschluß an die Auslegung der drei Glaubensartikel bringen, die Luther im Kleinen Katechismus bietet.

Das hat neben anderem den Vorteil, daß meine Darlegungen sich im engsten Zusammenhang mit dem halten, was evangelischer Gemein­ glaube ist. Der Kleine Katechismus gehört zu den Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Auch ist Luthers Auslegung zu den drei Glaubensartikeln etwas von dem der Form und dem Inhalt nach Meisterhaftesten, was er geleistet hat. Die Umsetzung der Aussagen Luthers aus der Lage seiner Zeit in die der unsrigen nehme ich im all­ gemeinen gelegentlich der Besprechung der Aussagen Luthers selbst vor. Nur beim Artikel von der Schöpfung habe ich einen besonderen Abschnitt „Auseinandersetzungen" beigefügt, sowie am Schluß des dritten Artikels nähere Ausführungen über „Tod und Ewigkeit". ¥

Wenn man Luthers Auslegung zu den drei Glaubensartikeln mit den Artikeln selbst vergleicht, kann man wichtige Beobachtungen machen. Der beinahe wichtigste Unterschied zwischen den Artikeln und der Auslegung ist freilich für uns heute verwischt, weil wir auch die Artikel selbst nur in der Dreizahl kennen. Zu Luthers Zeiten zer­ legte man aber das sogenannte Apostolische Glaubensbekenntnis, weil es nach der kirchlichen Überlieferung von den 12 Aposteln gesprochen

sein sollte, in 12 Sätze. Und diese 12 Sähe mußte man als katho­ lischer Christ glauben, d. h. für wahr halten. Daß Luther aus diesen 12 Sätzen wieder die drei Artikel her­ gestellt und sie so ausgelegt hat, wie es geschehen ist, gewährt den besten Einblick in den Unterschied zwischen katholischer und evangelischer

Auffassung dessen, was Glaube ist. Nach katholischer Auffassung ist Glaube das Fürwahrhalten der Sätze, die die Kirche zu glauben vorgeschrieben hat, im Gehorsam gegen die Autorität des kirchlichen Lehramts. Für Luther ist Glaube nicht das bloße Fürwahrhalten bestimmter Glaubenssätze: man glaubt nach Luthers Erkenntnis nicht Sätze, man glaubt an Gott, d. h. man hört auf Gott, man verläßt sich auf ihn, man gehorcht und vertraut ihm. Man glaubt an Gott den Vater, an Jesus Christus, unsern Herrn, an den Heiligen Geist. Zu solchem persönlichen GlaubenSverhältniS Gott gegenüber kann ich aber nicht auf Vorschrift und Befehl anderer kommen: es muß eigene Erfahrung, und zwar überzeugungsmäßige, Herzens- und gewissens­ mäßige Erfahrung dabei sein. Damit ist selbstverständlich nicht aus­ geschlossen, daß einem zunächst einmal gewisse Glaubenssätze vor­ gehalten werden — Luther tut das ja im Katechismus selbst. Aber nicht als Vorschrift, sondern als Ausdruck der Glaubenserkenntnis anderer, damit wir daraus Anreiz und Aufforderung empfangen, gleich­ falls in solche Glaubenserkenntnis und Bewegung des eigenen Herzens und Gewissens hineinzuwachsen. Daraus ergibt sich, daß Glaube in Luthers Sinn auch nicht bloß irgendeine fromme Gemütsbewegung ist, sondern daß gewisse Grundgedanken dazu gehören, um einer Glaubensaussage das Ge­ präge christlichen Glaubens zu geben. Der Christ glaubt nicht im allgemeinen an Gott, wobei im Dunkeln bleibt, was dieser „Gott" ist und will. Er hält sich daran, daß Gott, so gewiß er uns Menschen, weil er Gott ist, letztlich unbegreiflich bleibt, uns etwas von seinem Wesen und Willen zugänglich gemacht hat. Und zwar das von seinem Wesen und Willen, was für unsere eigene Lebenshaltung und Lebens­ führung entscheidend ist. Mit anderen Worten: christlicher Glaube ruht auf Gottes Offenbarung, wie sie uns in Jesus Christus zuteil geworden ist. Und das sogenannte Apostolikum, in seiner ursprünglichen Form das Taufbekenntnis der abendländischen Christenheit, das bis ins 2. Jahrhundert zurückreicht, hat die Grund­ sätze des auf dieser Offenbarung ruhenden christlichen Gemeinglaubens zusammengefaßt. So wertvoll das ist, so ist damit doch die Gefahr verbunden, die wir im katholischen Begriff des Glaubens zur Wirklichkeit geworden sahen: daß „Glauben" mit der Anerkennung bestimmter Glaubens­

sätze verwechselt wird. Luther hat uns aber in seiner Auslegung der I2Z

drei Glaubensartikel in einzigartiger Weise das Mittel an die Hand gegeben, uns der Gefahr dieses Mißverständnisses zu entziehen. Denn er schreibt die Auslegung in der Form ganz persönlichen Be­ kennens: Ich glaube, daß Gott mich geschaffen hat, mich erlöset hat, mich geheiligt hat. Den Satz, daß Gott der Schöpfer des Him­ mels und der Erde ist, den kann man wohl nachsprechen, wenn man den darin ausgedrückten Gedanken für richtig hält. Den Glauben, daß Gott mich geschaffen hat, mich erhält usw., kann ich im Ernst nur bekennen, wenn ich innerlich etwas von dem gespürt habe, was hier in Worten zum Ausdruck kommt. Wenn ich das Bekenntnis Luthers mit dem „mich geschaffen, mich erlöset, mich geheiligt hat" höre und etwa auch im Wortlaut mir einpräge, so kann das gar keinen anderen Sinn haben als den eines ständigen Anrufs an mich, mich darauf zu prüfen, ob und wie weit ich zu diesem Bekenntnis Luthers in innerlicher Wahrhaftigkeit „ja" sagen kann, und mich von neuem in das zu vertiefen, was Luther hier als seinen Glauben bekennt. Ge­ wiß hat Luther, als er die Worte der Auslegung schrieb, daran gedacht, daß diese Worte anderen, und zwar jungen und einfachen Menschen, vorgehalten werden sollten, und sich im Ausdruck deren Bedürfnis und Verständnis angepaßt. Aber er hat kein Wort geschrieben, das nicht für ihn selber vollste persönliche Wahrheit gewesen wäre. Er redet aus seinem persönlichen Glauben heraus zum persönlichen Glau­ ben der andern, damit auch für sie die von ihm gebrauchten Worte innerlich bejahtes Bekenntnis werden. So macht uns Luthers Aus­ legung zu den drei Glaubensartikeln nicht nur den gedanklichen In­ halt evangelischen Glaubens klar, sondern stellt uns auch vor die Frage, wie weit wir innerlich in der Lage sind, Luthers Glaubens­ bekenntnis als unseren Glauben zu bekennen. Luthers Glaubens­ bekenntnis ist mir so wenig vorgeschriebenes Glaubensgesetz, daß eS vielmehr eine ständige Frage zur eigenen innerlichen Beantwortung vor mir selber ist. Es führt in Tiefen und auf Höhen, die nicht mit bloßen Gedanken, sondern im Gemüt, im Herzen und Gewissen durch­ messen sein wollen. Wir werden unö öfter, angesichts der Verände­ rung unserer inneren und äußeren Lage gegenüber der Zeit, in der Luther sein Glaubensbekenntnis ausgesprochen hat, mit Fragen be­ schäftigen müssen, die Luther nicht in gleicher Weise zu schaffen ge­ macht haben wie uns. Aber das gehört gerade dazu, daß wir unseren Glauben in der gleichen inneren Haltung aussprechen lernen,

in der Luther seinen Glauben bekannt hat. Luther hat nichts ferner

gelegen, als Herr über unseren Glauben sein zu wollen. Denn wir muffen selbst im Glauben stehen. (Vgl. 2. Kor. 1, 24.) Auf etwas muß noch aufmerksam gemacht werden, um unsere Aus­ führungen über evangelischen Glauben in Luthers Sinn zum Abschluß zu bringen. Das alte Glaubensbekenntnis erscheint in 3 Artikeln unter den Stichworten des Glaubens an Gott, den allmächtigen Vater, an Jesus Christus, unsern Herrn, an den Heiligen Geist. Das ist auch Luthers Glaube. Aber als Überschriften der einzelnen Artikel setzt er:

Von der Schöpfung. Von der Erlösung. Von der Heiligung. Was hat das zu bedeuten? Luther will damit zum Ausdruck bringen, daß Gott nie so von uns erkannt werden kann, daß wir uns Gedanken darüber machen, wie Gott an und für sich in seinem göttlichen Wesen ist. Daö geht nicht in unsere Menschengedanken hinein. Wir können Gott gar nicht auf andere Weise erkennen als an dem, was er an uns wirkt, was er von uns haben und aus uns machen will. Der Gott, der uns durch Jesus Christus zu sich ruft, ist kein ruhender Abgrund, sondern ein wirken­ der Wille, der uns das Leben gibt, uns vom Verderben erlöst und ein geheiligtes neues Leben in uns schafft. Das alles kann und soll man an sich selbst erfahren, damit sich auseinandersetzen, darum kämpfen, darauf sich verlassen, darin ruhen. - Zugleich kommt in den von Luther gewählten Überschriften zum Ausdruck, daß die drei Artikel des Glaubens nicht nebeneinander stehen, sondern eine Ein­ heit bilden. Denn Gottes Schöpfung lernen wir nie ohne seine Erlösung kennen, und die Erlösung wird nicht wirklich ohne die Neu­ schöpfung in der Heiligung. Darin hat unser Glaube seine Lebendig­ keit, daß er in dem lebendigen schaffenden, errettenden, erneuernden Gott seinen Grund, seine Kraft und sein Ziel hat. In dieser inneren Haltung machen wir uns an die Betrachtung deffen, was Luther uns in seiner Auslegung der drei Glaubensartikel zu sagen hat. Ich habe die Artikel zwar mit abdrucken lasten, halte mich aber lediglich an Luthers Auslegung, die ja die Artikel selbst im evangelischen Verständnis erklären will.

Von der Schöpfung Ich

glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer Himmels und der Erde.

Was ist das? Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen; mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Esten und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter; — mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit be­ schirmt, und vor allem Übel behütet und bewahret — und das alles

aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit. Des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.

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Den Schöpfer Himmels und der Erde des Artikels hat Luther umschrieben durch „mich samt allen Kreaturen geschaffen hat". DaS ist kein unziemlicher Individualismus. DaS „Ich" wird nicht als etwas Besonderes aus der Gesamtheit der Geschöpfe, in der ich doch nur ein winziges, nach allen Richtungen hin abhängiges, im Nu ver­ wehendes Stäubchen bin, herausgehoben und das Ganze der Geschöpfe daneben gestellt. Es heißt „samt allen Kreaturen", nicht „und alle Kreaturen". Ich bin mitten drin im Ganzen der Schöpfung wie ein Staubkorn im Meeressand, wie die Welle im Strom. Und ich bin doch kein Staubkorn und keine Welle; denn ich kann und soll besten inne werden, daß ich samt allen Kreaturen von Gott ge­ schaffen bin, daß ich mit der ganzen Schöpfung Gott gehöre. Was heißt das: Schöpfung Gottes? — Erschaffen im Unterschied vom bloßen Machen geht auf etwas, was dauernd die Züge des Schöpfers trägt und in seiner Hand ist; im Unterschied vom bloßen

Gestalten darauf, daß nicht ein schon vorher vorhandener Stoff bearbeitet wird, wie es die sonstigen Schöpfungsmythen der Völker häufig darstellen. Als im Verlauf der Geschichte des Christentums eine Zeit kam (im 18. Jahrhundert), wo man weithin den Schöpfer mit dem Macher verwechselte, der die Welt zwar gemacht habe (wunderbar gemacht und mit Kräften ausgestattet!), sie aber jetzt sich selbst überließe, da war dem Schöpfungsglauben der Nerv durch­ schnitten. Er war zum blaffen, unlebendigen Schöpfungsgedanken geworden. Wo man wirklich an den Schöpfer glaubt, da sieht man den Schöpfer immerdar am Werk, zu allen Zeiten und an allen Orten, im Größten und im Kleinsten, in jedem Pulöschlag, in jedem Atemzug. Aber erschaffen ist auch wieder etwas anderes als durchdringen und durchfluten, daß Gott in der Welt wäre wie das Salz im Meerwaffer, wie der elektrische Strom im Leitungsdraht, wie die Seele im Menschenleib. Der Gedanke von Gott als der alles erfüllenden, alles durchflutenden Weltseele ist heute bei vielen lebendig und erfüllt ihr Gemüt mit frommer Verehrung, im Hingegebensein an das „Ganze, das im Unendlichen sich wiederholend ewig fließt". Hier ist man in größerer Nähe des christlichen Schöpfungsglaubens als da, wo man den Schöpfer neben seine Schöpfung aufs Altenteil gesetzt hat. Man hat sich aber mit Recht bei dieser Fassung Gottes als der Weltseele häufig mehr oder minder stark im Gegensatz zum christlichen Glauben an den Schöpfergott gefühlt. Denn die Weltseele, die man Gott (oder beffer das Göttliche oder das All) nennt, ist zwar lebendig, ungeheuer lebendig, stark, unerschöpflich. Aber sie ist doch schließlich nur eine Seite der Welt selbst, wenn auch ihre Tiefe, ihre Hintergründigkeit, ihr Geheimnis. Der Schöpfergott dagegen im Sinn des Christen­ glaubens steht zwar nicht irgendwo jenseits der Welt; er wirkt in der Welt und kann von uns an gar nichts anderem erkannt werden als an diesem seinem Wirken in der Welt und an uns selbst. Aber er verliert sich nicht in der Welt, sondern beherrscht sie als der, der mit seinem lebendigen Willen das Größte und das Kleinste wirkt und lenkt. Dessen werden wir aber dadurch inne, daß sein Wille uns Menschen mit bestimmten Ansprüchen an unseren Willen begegnet, durch die wir ihm verantwortlich werden. Der Mensch des christ­ lichen Glaubens weiß sich in des Schöpfers Hand auf zweierlei Art: einmal als Stück der Schöpfung überhaupt mit Geborenwerden und

Sterben und allem, was zwischen beidem liegt. Dann aber als der, der von Gott angeredet und ihm verantwortlich ist. Ist der Gedanke von Gott als dem Macher der Welt eine Sache unseres Denkens, die Er­ fassung Gottes als der Weltseele eine Ahnung unseres Gefühls, so ist der Schöpfergott des christlichen Glaubens der allmächtige Herr unseres Willens. Dabei hat der Gott des allmächtigen, heiligen Willens all das in sich, was einerseits der Machergott, andererseits Gott als Weltseele gedanklich oder gefühlsmäßig dem frommen Ge­ müt zu bieten haben. Aber er läßt sich weder aus der von ihm er­ schaffenen Welt abschieben, noch geht er in der Welt, die er durch­

wirkt, auf. ES tut mir leid, daß ich dies alles nicht einfacher habe sagen können. Aber die Sache, um die es geht, ist ungeheuer groß und tief. Auch sind die Gottesauffassungen, die ich neben dem christlichen Glau­ ben an den Schöpfer erwähnt habe, heute so weit verbreitet, daß ich mich notwendigerweise mit ihnen befassen mußte. Es ist schon kurz genug geschehen. Es ist uns aber aus dem bisher Gesagten vielleicht klar geworden, welche Meisterschaft in der Art liegt, wie Luther die Gedanken seiner Auslegung geordnet hat. Nämlich so, daß er zuerst unseren Blick in die Weite lenkt, auf alles, was Gott in seiner Schöpfung mir samt allen Kreaturen gegeben hat und immerdar gibt. Dann erst redet er davon, aus welchem Willen heraus er das alles tut. Und das Ganze schließt mit dem ab, was wir diesem Gott zu

tun schuldig sind. Ehe wir ans einzelne gehen, ist noch eine allgemeine Bemerkung nötig. Wir müssen uns, wenn wir von Gott reden, heute stärker als frühere, unbefangenere Zeiten dessen bewußt bleiben, daß Gott nicht nach Menschenmaß gedacht werden darf, wenn wir über ihn nach­ denken. Das einzige von ihm, worüber wir auf Grund dessen, was er uns von sich hat kund werden lassen, etwas Bestimmtes sagen können und dürfen, ist die Art seines Willens. Bei allem anderen reden wir von Dingen, die vom Geheimnis umwittert sind. Denn sowie wir „Gott" sagen, sagen wir etwas seinem Wesen nach Un­ begreifliches. Wir können von ihm reden immer nur in Ähnlichkeit menschlichen Denkens, Fühlens, Wollens. Wenn wir von seiner Schöpferallmacht reden, so deuten wir damit nur an, machen nichts klar. Denn Allmacht ist etwas anderes als sehr große Macht. Am ehesten erreicht unsere Sprache Gotteö Wesen, wenn wir von ihm

als dem Lebendigen reden. Aber deshalb, weil das Leben selbst das unbegreiflichste Geheimnis ist. Dabei fehlt aber dem Begriff des Lebendigen an sich das für den Gott unseres Glaubens wesentliche Moment, das wir bei den Menschen mit dem Begriff Persönlichkeit bezeichnen, der dann auch auf Gott anzuwenden ist. Dem wird öfter unter dem Gesichtspunkt widersprochen, daß Gott damit zu menschlich klein und eng gemacht werde. Jedenfalls gibt der Begriff aber an, daß Gott nicht unpersönlich, wie eine bloße Naturkraft, wirkt. Wir wer­ den darauf später noch einmal zurückkommen. Es muß aber hier schon auf daS Unzulängliche, nur Hinweisende aufmerksam gemacht werden, das alles menschliche Denken und Reden von Gott notwendig an sich hat. Unsere wirkliche Begegnung mit Gott vollzieht sich nicht in unserem Denken, sondern in unserem Herzen und Gewissen. Und noch etwas anderes: Auf der Oberfläche des Geschaffenen liegt Gottes Schöpfung nicht. Wir werden ihrer inne in der Glau­ bensbeziehung zu Gott. Die Oberfläche des Geschaffenen zeigt un­ geheuer Widerspruchsvolles. Die wunderbare Ordnung der Welt von der Sternenwelt bis zu den Mikroben - und die sinnlosen Katastrophen, die mit einem Schlag vernichten, was für die Ewig­ keit gegründet schien. Die Schönheit, die Fülle, den Reichtum des Lebens — und hinter dem allem Tod und Verwesung. Denn Geboren­ werden heißt nichts anderes als früher oder später Sterbenmüffen. Man kann also die Welt sehr verschieden ansehen. Wie des Menschen Gott ist, so schaut der Mensch in die Welt. Hier liegt die Wichtigkeit und Richtigkeit des Ansatzes Luthers: „mich samt allen Kreaturen." — Der Satz hat für uns heute einen einigermaßen veränderten Inhalt bekommen. Aber Luthers Ausführungen über das, was Gott uns alles gegeben hat, können gut als Anhalt für unser Nachdenken darüber dienen. ¥

Gott hat mich geschaffen; jeder Mensch ist etwas für sich, womit nicht gesagt ist, daß er etwas für sich allein ist. Er lebt aus mensch­ licher Gemeinschaft heraus und auf menschliche Gemeinschaft hin, aber immer als er selbst, in eigener Beziehung zu Gott und Verantwortung vor Gott. Jeden Menschen gibt es so, wie er ist und werden soll,

nur einmal, mit all den Wundern seiner leiblich-seelischen Aus­ stattung, mit seinem Jungsein und Heranreifen und Altwerden, mit 9

Eger, Evangelischer Glaube

seinem Hungern und Sattwerden, mit seinen Freuden und seinem Schmerz. Erst recht mit dem, was ihn als Menschen von den anderen Lebewesen unterscheidet, mit seiner Fähigkeit, die Welt und sich selber denkend zu betrachten, sich als „Ich" zu erfassen gegenüber den anderen und dem anderen, Zwecke zu verfolgen und Arbeit zu leisten nach Pflicht und Gewissen, im Vernehmen dessen, was unserem Leben und Wirken, aber auch unserem Leiden und Erdulden Sinn und Richtung gibt. Wir wissen, was es bedeutet, wenn das Kleinkind sich nicht mehr mit seinem Namen nennt, sondern „Ich" sagt. Wir wissen auch, welche Gefahren, Nöte, Versuchungen und Verirrungen mit dieser „Ichheit" deS Menschen — mit meiner Ichheit! — gegeben sind. DaS hindert nicht, daß wir in dieser unserer Ichheit von Gott

geschaffen und in die Welt hineingestellt sind. „Samt allen Kreaturen" (Geschöpfen). Mitten in die Welt hinein, mitten unter die anderen Menschen. Wenn Luther heute lebte, würde er wahrscheinlich auch einiges von der ungeheuren Größe und Weite der Welt, in die der Schöpfer uns hineingestellt hat, sagen: Von den Sternen, die uns Welten geworden sind, und von dem über­ quellenden Reichtum des Lebens auf dieser kleinen Erde. Denn all das hat nach unserem heutigen Lebensgefühl für unsere Beziehung zu Gott mehr zu bedeuten als für die Zeit, in der er lebte. Obgleich man schon damals fromm in der Naturwelt gestanden hat — man denke nur an den 8. und den 104. Psalm, wie feinfühlig Luther die über­ setzt hat. Aber auch heute würde für ihn die Hauptsache bleiben, was er vom Menschen und von der Menschen Gemeinschaft an sich und um sich steht. In der Erklärung zur 4. Bitte des Vaterunsers gibt er uns für diesen Blick auf die Menschen neben uns mehr an die Hand als in der Auslegung des 1. Artikels, wo davon nur das Allernächste und Wichtigste genannt ist: Weib und Kind. Dort heißt es unter der Frage: „Was heißt denn täglich Brot?" von den Menschen an unserer Seite neben Frau, Kindern und Gesinde: „fromme und ge­ treue Oberherren, gut Regiment, Friede, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen." Auch hier ist unser Gesichtskreis in manchem ein anderer geworden, als der Luthers war in seinem abgelegenen Landstädtchen Wittenberg unter dem patriarchalischen Regiment deS sächsischen Kurfürsten. Von VolkStum und Volksgemeinschaft würde Luther heute sicher reden. IZ0

Aber die Hauptsache bleibt dieselbe: Weib und Verbundenheit mit denen, mit denen wir in Haus, Volk zusammengehören — die naturgewachsenen ten, in denen wir stehens. Und warum nennt

Kind und unsere Gemeinde, Staat, Lebensgemeinschaf­ er das alles und

kann er sich mit der Aufzählung von einzelnem gar nicht genug tun? Weil er in dem allen die kostbaren Gaben des Schöpfers sieht, ehrt und liebt. Und dann sagen sie heute, das Christentum sei weltfremd und lebensfremd und volksfremd. Es hat schon Formen des Christentums gegeben, denen man solches mit Grund nachsagen konnte. Menschen, die in die Einöde gingen, um dort mit Gott allein zu sein und dem sündigen weltlichen Wesen inmitten der anderen Menschen abzusagen und dergleichen. Dem Christentum, das wir von Luther gelernt haben,

kann man so etwas nur nachsagen, wenn man sich nicht scheut, dem *) Da über Volkstum usw. eben sehr viel geschrieben und gesprochen wird,

beschränke ich mich auf ein paar Worte über „Weib und Kind", Ehe und Familie. Die Polarität der Geschlechter, die Grundlage alles über die nieder­

sten Stufen hinausgewachsenen animalischen Daseins, nimmt beim Menschen sehr früh, im Zusammenhang mit der enormen Bedeutung der Familie für die größeren sozialen Verbände, die Form der Ehe an, der dauernden gegen­ seitigen Verbundenheit von Mann und Weib zu vollkommener Lebensgemein­ schaft und zur Erziehung des nachwachsenden Geschlechts. Die höchste Form der Ehe ist die Einehe, in der Mann und Weib ausschließlich zu solch

vollkommener Lebensgemeinschaft verbunden sind. Jesus hat der Einehe die

höchste Weihe und das höchste Ziel zugleich gegeben, indem er die zwei zur Ehe Verbundenen als nicht mehr zwei, sondern eins bezeichnet, wodurch die Ehe ihrem Wesen nach unlöslich wird. (Matth. 19, 6.) Wo ihre Lösung

doch eintritt, da ist nach Jesu Wort der Grund dafür „des Herzens Härtigkeit", d. h. der Umstand, daß die zwei zur Ehe Verbundenen nicht soweit ge­ kommen sind, in ihrer Ehe das Wesen der Ehe zu verwirklichen. Die mittel­ alterliche Kirche hat eS unternommen, die grundsätzliche Unlösbarkeit des Ehebandes als tatsächliche, rechtliche Unlösbarkeit zu fasten — die katholische Kirche tut das noch heute —, und hat dadurch einerseits dem sittlichen Leben der Menschheit einen ungeheuren Dienst geleistet, andererseits aber an­

gesichts der tatsächlich vorhandenen „Herzenöhärtigkeit" der Menschen viel Not und Verwirrung der Gewissen und viel böse Heuchelei verursacht. Um so mehr, als sie — unter Einflüffen, die von außerhalb des Christentums kamen — trotz des behaupteten Sakramentscharakters der Ehe den Ver­ zicht auf die Ehe als die höhere Form christlicher Lebensführung empfahl.

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wirklichen Tatbestand ins Gesicht zu schlagen. Er ruft uns nicht aus

der Welt heraus, um Gott in der Einsamkeit zu begegnen, sondern stellt uns mitten unter die Menschen unseres Hauses, unseres Volkes, unseres Blutes, damit wir in treuer Übung unseres Berufes und in tatkräftiger Liebe zu den Haus- und Volksgenoffen Gottes Willen tun. Denn an unsere Brüder weist uns Gott, wenn wir ihm dienen

wollen. DaS haben unsere Kinder seit vier Jahrhunderten auö Luthers Katechismus gelernt (nicht bloß aus ihm), und es ist uns evangelischen Deutschen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß eS unö einfach selbstverständlich ist. Wer anderes von unS sagt, der

irrt sich, wenn er nicht lügt.

¥ DaS sind die GotteSgaben, auf die Luther hinweist. Wie aber ist's

mit diesen Gaben im Schicksal unseres eigenen Lebens? Luther

sagt davon: „Mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorget, wider alle Fährlichkeit beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt." Hat Luther hier nicht Luther hat die Ehe alö d i e gottgewollte Form der Beziehung zwischen Mann und Weib wieder zu vollen Ehren gebracht, nicht bloß für das GeschlechtSverhältnis im engsten, rein naturhaften Sinn des Wortes, sondern auf dieser Grundlage für das gesamte miteinander und füreinander Leben der beiden in vollkommener Lebens- und Schicksalsgemeinschaft, einschließlich des gemein­ samen Dienstes der beiden an den aus der Ehe hervorgehenden Kindern. Er hat das Naturhafte des Verhältniffes Mann/Weib als köstliche Gabe Gottes gewürdigt, aber als die Gabe Gottes, nach der aus dem naturhaften Zueinandergezogensein der beiden Menschen ein gegenseitiges Treu- und Dienst­ verhältnis entspringt, der Ehestand, in dem das bloße Wohlgefallen an­ einander zur Liebe und Treue wird, „bis daß der Tod euch scheidet", und über den Tod hinaus in Gottes Ewigkeit hinein. Daß die Ehe ein Stand ist, in den die beiden Eheleute miteinander treten, um miteinander in täglicher gemeinsamer Arbeit und Sorge, im einander Helfen und Tragen (auch Er­ tragen) in Freud und Leid, in jungen und in alten Tagen zur höchsten Leistung heranzuwachsen, die der Mensch dem Menschen leisten kann, das hat Luther uns gezeigt. Wo die Ehe von dieser Höhe wieder herabgesetzt wird zu einem bloßen Vertragsverhältnis zwischen zwei Menschen, mit dem man Schluß machen kann, wenn man auf Enttäuschungen und Schwierigkeiten stößt, da geht Wertvollstes verloren, das gerade auch in seinen Wirkungen auf die größere Gemeinschaft unersetzlich ist.

den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen verloren, auf den er uns vorher so fest gestellt hatte? In Wahrheit stellt Luther uns nie fester auf den Boden der Wirk­ lichkeit als mit den angeführten Worten. Freilich muß man sie so lesen, wie sie von Luther geschrieben sind, im Zusammenhang mit dem Glauben daran, daß Gott mich geschaffen hat, daß ich ihm gehöre und in seinen Händen bin. Wenn die Worte ohne diesen Hintergrund ge­ lesen werden, kommt selbstverständlich der reine Unsinn heraus, über den man sich dazu noch ärgern kann. Bebel hat seinerzeit vom Stand­ punkt seines reinen Materialismus aus Luthers Erklärung zum 1. Ar­ tikel einen rechten Bourgeoisartikel genannt, den er einem von all den Gütern, die Luther aufzählt, ausgeschlossenen Proletarier nie vorzusetzen wagen dürfe. Luther ist aber wirklich kein satter Bourgeois gewesen, der sich zufrieden gemästet hätte, während tausende neben ihm darbten. Er hat selber keine leichte Jugend gehabt und hat auch später viel Elend aus nächster Nähe gesehen, hat fast jeden Tag Menschen, die um ihres Glaubens willen verjagt waren, an seinem Tisch gehabt und hat auch sonst geholfen, wo er konnte. Er hat gegenüber fremder Not ein sehr weiches Herz gehabt. — Neben diesem Einblick in fremde Not: er selber war seit Mitte der zwanziger Jahre ein kranker Mann, der mit seinem Steinleiden oft Furchtbares durchzumachen hatte. Er hat also aus eigener Erfahrung gewußt, warum er unter das „täg­ liche Brot" der 4. Bitte auch die Gesundheit setzt. Aber weil er an den Schöpfer glaubt, dem er zu eigen ist und dem er nicht vorschreiben kann, was er ihm geben soll, sondern aus dessen Hand er Geben und Versagen nehmen muß — deshalb konnte er die Worte schreiben, die Bebel so schwer gekränkt haben, und die wohl auch schon manchem anderen verwunderlich gewesen sind. Das „Ich" Luthers, das weiß, daß Gott der Herr es geschaffen hat und führt nach seinem Rat und Willen, daS ist nicht wie ein Stück Kork, das auf einer Wasserfläche vom Wind einmal dahin, einmal dorthin getrieben, vielleicht irgend­ wohin weggespült wird. Er steht als ein Mann seinem Schicksal gegenüber, daß er'S mit Gott trage und an seinem Teil mitgestalte. Von dieser Erkenntnis aus bekommen Luthers Worte erst ihr wahres Gesicht. Dabei wird gleich das erste: „mit aller Notdurft und Nahrung dieses LeibeS und Lebens reichlich und täglich versorget", besonders bedeutsam. Es sagt unS nämlich, daß wir die Augen auf­ machen sollen für daö, womit uns Gott in Erhaltung und Führung

unseres Lebens reichlich und täglich begabt. Das war mit das Schlimmste an dem, was die marxistische Bewegung sich hat zu schulden kommen lasten: daß sie die natürliche Neigung deö ichischen Menschen, immer nur auf daö zu sehen, was ihm fehlt, während es andere haben, statt an das zu denken, was ihm selber gegeben ist, planmäßig großgezüchtet und dadurch die Menschen namenlos unglück­ lich gemacht hat. (Die „verdammte Zufriedenheit!") Was Luther mit dem „reichlich und täglich versorget" meint, das ist mir aufgegangen am Beispiel der Frau, die 14 Jahre lang, mit vielen körperlichen Schmerzen, ans Bett gefestelt war. Ich hatte ein paar Worte des Bedauerns darüber gesagt, daß sie es so schwer hatte. Darauf sie: „Die Menschen sind alle so gut zu mir." Und beim Blick auf die Nöte des Lebens selbst: „wider alle Fährlichkeit beschirmt." DaS heißt nicht, daß die Not aufhören wird — vielleicht hört sie ja auf, und wir können wieder nach bangen, schweren Tagen aufatmen. Aber auch wenn die Not anhält: wir sind nicht allein; so können und sollen wir tapfer der Not die Stirn bieten, unS gegen sie stark machen nicht nur zur Abwehr, sondern auch zum Ertragen. Und vor allem können und sollen wir unS von Gott dazu helfen lasten, daß uns die Not nicht zum „Übel" wird, zur Versuchung, zur Ver­ zweiflung an Gott und zur Bitterkeit und Härte gegen die Menschen. Die bösen Tage kommen nicht über unS wie ein fertiges, unwandel­ bares Schicksal; es hängt sehr viel von unserer Art sie aufzunehmen ab, ob eS für uns böse Tage werden oder aber solche, die vielleicht sehr schwer und dunkel für unS sind, aber unter denen wir doch nicht er­ liegen, sondern unS hämmern und schmieden lasten zu einem Leben des Glaubens und der Liebe. Das Sprichwort sagt: „Jeder ist seines Glückes Schmied." Man kann auch sein Unglück schmieden — ent­ weder eS erst zu seiner vollen greulichen Größe bringen (wie mancher wirft dann dieses Leben von sich, das ihm nichts mehr wert ist), oder aber es umschmieden mit Gottes Hilfe, daß aus uns etwas wird, was wir in lauter sonnigen Tagen nie geworden wären. — Das sind alles keine Uberstiegenheiten oder bloß schöne Worte. So ist das Leben

wirklich; ein „Glückspilz" ist immer in Gefahr, sich selber zu ver­ lieren. Es ist klar, daß Luther das alles von keinem anderen gelernt hat als von dem, dessen Lebensweg auf Erden sein Ende gefunden hat am Kreuz von Golgatha. Aber dies sein Kreuz war sein Sieg: „Es

ist vollbracht!" Dabei war auch Jesus kein grämlicher Trübling, der daö Leben dunkel machte, wo der Vater die Sonne scheinen ließ — wie haben sie ihn deshalb gescholten! Aber wo der Vater ihn ins Dunkel führte, da ist er im Gehorsam des Vaters auch diesen Weg ge­ gangen: „Ja, Vater!" Und hat sein Leben dem Vater als Opfer dargebracht, zur Errettung für viele. ¥ Damit sind wir an der Schwelle dessen, was Luther nun weiter zu sagen hat: „Und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit." Das ist die entscheidende Offenbarung Gottes, die Luther in Jesus Christus aufgegangen ist, der feste Punkt für all unser Sein, Wandeln, Tun und Leiden in der Welt: Der Vater — Gott unser Vater. Hier können wir an einem besonders wichtigen Beispiel beobachten, wie die Anwendung menschlicher Bilder auf Gott zu Unzuträglichkeiien führen kann, weil sie immer etwas Unzulängliches an sich haben. Auf der anderen Seite sind sie doch wieder unentbehrlich, wenn daö Wesen Gottes bestimmt werden soll. Daß Gott, der Allmächtige, der Vater sei, nicht nur sein Vater, sondern auch unser Vater, daö steht im Mittelpunkt dessen, was Jesus von Gott verkündigt hat. Das Inein­ ander von Überlegenheit und Güte, von Leitung und Fürsorge, daö

wir in Gott erkennen und an ihm erfahren sollen, kann gar nicht besser verdeutlicht werden als durch den Vaternamen. Aber alsbald droht das angewandte Bild Gott in den Raum menschlicher Maß­ stäbe hineinzuziehen, daß wir seine Vatergüte nach dem Maß mensch­ licher Vatergüte verstehen, ebenso seinen väterlichen Zorn. So ist der Vatergott weithin zu dem als freundlicher alter Mann vorgestellten Kinderstubengott geworden, an dem Ungezählte, nicht erst unter und nach dem Kriegsgeschehen, mit ihrem Glauben zusammengebrochen sind. In der Kinderstube muß der Kinderstubengott bleiben; sonst ver­ stehen die Kinder nichts von ihm. Aber früh muß man auch die Kinder schon daran gewöhnen einzusehen, daß Gott wohl väterlich gegen uns gesinnt, aber doch etwas ganz anderes ist als ein menschlicher Vater. Weder hat er Launen wie ein menschlicher Vater, noch Grenzen seines

allmächtigen Wirkens, noch können wir verstehen, warum er so han­ delt und nicht anders. Seine Gedanken sind nicht unsere Gedanken, und unsere Wege sind nicht seine Wege, weil Gottes Walten und

Menschentun der Art nach unvergleichlich sind. Sowie wir uns etwas von seinem verborgenen Wesen klarmachen wollen, geraten wir in lauter Unbegreiflichkeiten, vor denen uns der Verstand stillsteht. Wie kann Gott zugleich an allen Orten und Enden sein und doch in jedem einzelnen? WaS ist es um Gottes Ewigkeit? Das sind alles Ausdrücke, mit denen wir nur uns Unfaßliches andeuten, es aber nicht erfassen können. Und wie unbegreiflich ist nicht nur er selbst, sondern auch sein Walten in Natur und Menschenleben? Da läßt er uns ins Leben hineingeboren werden, fühlend, wollend, hoffend, strebend — und dann läßt er uns zermalmt und zermahlen werden von Mächten der Natur, die doch auch von ihm erschaffen und beherrscht sein soll — und wo von Erbarmen nichts zu spüren ist. Von all dem hat schon Luther erschütternd zu sagen gewußt, von dem verborgenen Gott, vor dem wir Staub und Asche sind. Und er hat doch zugleich gewußt, aus dem, was dieser allmächtige Gott aus seinem verborgenen Wesen heraus uns von sich offenbar gemacht hat, daß wir im Glauben Gott Vater, unseren Vater nennen und zu ihm kommen sollen. Deshalb schreibt er nebeneinander: „aus väter­ licher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit", wie Jesus die Jünger beten lehrt: „Unser Vater in dem Himmel." Nur auf dem Hintergrund dieser Verborgenheit Gotteö, im Stillestehen und in der Beugung vor dem verborgenen Gott, sollen und dürfen wir Gott Vater nennen. Wo dieser Hintergrund vergessen wird, da ist das Reden von Gottes Vatergüte eine gefährliche Sache. Es kann nur an Gott irre machen, wenn erst die Zeit kindlicher Harmlosigkeit vorüber ist. Aber man soll auch nicht in den entgegen­ gesetzten Fehler verfallen und den Hintergrund zum Vordergrund machen, wodurch man nur die Menschen scheu macht und ihnen Gott verleidet. Vor Oberflächlichkeit und Übermut sollen wir bewahrt wer­

den, aber wir sollen Gottes Güte trauen, auch wo er uns ins Dun­ kel führt und wir seine Wege nicht verstehen können. Hiob hat nicht mehr gekonnt als verstummen vor der Rätselhaftigkeit des Waltens Gottes. Jesus hat zum Vater gebetet: „Jst'S möglich, so gehe dieser Kelch von mir. Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst." Und als eö nach des Vaters Willen nicht möglich war, ist er an des Vaters Hand ans Kreuz gegangen. Luther hat bei dem „göttlich" in „väterlicher, göttlicher Güte" eigentlich in anderer Richtung gedacht, als wie wir sie eingeschlagen 136

haben. Das, was wir herausgehört haben, hat er an anderen Stellen zur Sprache gebracht. Hier denkt er daran, daß Gottes Vatergüte unermeßlich viel größer ist als menschliche Vatergüte. Gott ist nicht nur größer als unser Verstand, er ist auch größer als unser Herz. Er ruft uns, ehe wir ihn suchen, und laßt uns nicht aus seiner Güte fallen, wenn wir nicht nach ihm fragen. Das meint Luther mit den Worten: „aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzig­ keit, ohne all mein Verdienst und Würdigkeit."

¥ Diesen Glauben an den Schöpfergott hat man aber nur in der lebendigen Beziehung zu dem lebendigen Gott: „Des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin." Alles, was uns Gott schenkt und gibt von unserer Geburt ab bis dahin, wo es auch von uns heißt: „du mußt sterben!", soll uns nicht auf uns selber stellen, daß wir uns vor uns selber und vor anderen groß machen mit dem, was wir doch nicht von unS selber haben, son­ dern nur als Geschenk und anvertrautes Gut. Es verpflichtet uns mit allem, was wir sind und haben, dem, der uns in'S Leben gerufen, beschenkt und begnadet hat. Wir gehören nicht uns selber, sondern ihm. Gott ist nicht für unS da, daß wir immer neu von ihm verlangen

können und darüber murren, wenn wir nicht erhalten, was uns nach unserem Wunsch und Meinen zum Leben nötig ist und unS gebührt. Wir sind für Gott da, der uns geschaffen und bis hierher erhalten hat,

damit wir mit dem uns geschenkten und anvertrauten Gut unsere Pflicht und Schuldigkeit tun. Pflichttreue und gewisienhafte Men­ schen macht der Schöpferglaube aus uns, wenn er echt und wirklich ist, nicht gröbere oder feinere Genießer oder selbstsüchtige und üble Streber, die zwar sich rühren und regen, schaffen und leisten, viel­ leicht viel leisten, aber letzten Endes doch nur, um für sich zu haben und sich des gewonnenen Reichtums oder der errungenen Macht und Ehren zu erfreuen. Der Mensch der Pflicht und des Gewissens fleht

alles, was er ist und hat, genau von der entgegengesetzten Seite an wie der Mensch des Genusses und des Trachtens nach dem eigenen Glanz und Ruhm. Aber dem Menschen der Pflicht und des Gewissens, der weiß, daß er nichts kann und hat, was er nicht empfangen hätte, ist das,

was er zu geben und zu leisten schuldig ist, nicht lästiger Frondienst. Auch hier, wo Luther von unserer Pflicht und Schuldigkeit redet, klingt bei ihm zuerst der freudige Ton auf: Gott sei Lob und Dank, der mir alles um mich her und an mir selbst gegeben hat, daß ich's freudig nehme aus seiner Hand und treulich brauche in seinem Dienst! DaS ist aber der Dienst und der Gehorsam, den wir ihm schuldig sind, daß wir den Menschen zu Nutz und Dienst leben, mit denen Gott unö zusammengesellt hat, an dem Ort, an dem wrr stehen, und auf dem Boden, auf dem wir wachsen, mit den Kräften und Gaben, die uns verliehen sind. Wir haben früher gesehen: Gott selber können wir nichts geben und leisten als unseren Dank für seine Güte. Denn wir haben alles von ihm. Aber den Menschen neben uns, unseren Brüdern und Schwestern in HauS, Land und Volk können und sollen wir geben und leisten, ihnen können und sollen wir mit unseren Gaben dienen und für sie unsere Kräfte gebrauchen und verbrauchen bis zum letzten, bis zum Opfer des Lebens selbst. Das ist der Dienst im Gehorsam dessen, der unö geschaffen hat und der uns zu sich ruft, nicht zu fauler, träger Ruhe in ihm, sondern zum lebendigen Wirken und Schaffen in seiner Kraft. Wer anderes bei ihm sucht als solchen treuen, tätigen Dienst an den Brüdern im Gehorsam gegen den, der ihr und unser Schöpfer ist, der weiß nicht, was es heißt, Gottes gehorsames, fröhliches Kind fein. Und ebensowenig heißt es, Jünger dessen sein, dessen Speise eS war, deö Vaters Willen zu tun und sein Werk auszurichten bis ans Ende. (Joh. 4, 34.) Und da sagt man nun, das Christentum mache die Menschen schlaff, feige, unlustig zum Kampf, zur Arbeit und zum Schaffen, daß man nur in einer Ecke für sich die Seligkeit in Gott genieße. Evan­ gelischer Glaube ist das sicher nicht, der an den lebendigen, wirkenden, schaffenden Schöpfer glaubt und sich dazu berufen weiß, dieses Gottes Kind zu sein und immer völliger zu werden.

Auseinandersetzungen Wir haben schon seither öfter im einzelnen Umsetzungen auö der Lage Luthers in unsere heutige Lage vorgenommen, weil die Ände­

rung der Verhältniffe das nötig machte. Aber der Wandel unserer Gesamtlage gegenüber der Zeit Luthers ist so groß — eS liegen vier Jahrhunderte eines ungeheuer reichen Geschehens dazwischen —, daß wir uns den Wandel der Zeiten einmal im Zusammenhang klar­ machen und uns überlegen müssen, was dieser Wandel für unseren Glauben zu bedeuten hat. Viele meinen heute, das Christentum im allgemeinen und das evangelische Christentum im besonderen seien früher etwas sehr Gutes und Zeitgemäßes gewesen und hätten viel zum Fortschritt der Menschheit beigetragen. Aber in unsere Zeit paffe ein Glaube nach der Weise Luthers nicht mehr hinein. Man müsse bei aller Hochschätzung für Luther, ja bei aller Verehrung für Jesus selbst in einer neuen Zeit ein Neues Pflügen. — Das können wir nicht mit­ machen, weil wir damit unseren Glauben selbst nicht etwa der ver­ änderten Lage anpaffen, sondern aufgeben müßten. Wir werden den Einblick in die Lage der Gegenwart natürlich nur unter dem Gesichtspunkt unternehmen, wie unser evangelischer Glaube als solcher von den Wandlungen betroffen wird, die in den letzten Jahrhunderten vor sich gegangen sind. Wir wollen uns auf gar keine Glaubensauseinandersetzungen mit Andersgläubigen einlaffen. Aber wenn wir mit unserem evangelischen Glauben in der Gegenwart leben und wirken sollen, brauchen wir für uns selbst den Blick für daS, was da an Wandlungen vor sich gegangen ist, und Einsicht in das, was diese Wandlungen für unseren Glauben bedeuten. Wir be­ schränken unS dabei darauf, aus der Fülle des Zeitgeschehens das für unseren Zweck Wichtigste herauszugreifen. Zuviel würde die grundsätzliche Einsicht nur erschweren. ES ist eine Tatsache von schicksalhafter Bedeutung, daß Koper­ nt kuS ein Zeitgenosse der Reformatoren war, der Mann, der die Erde aus dem Mittelpunkt des Sonnensystems und damit der Welt

verwiesen hat. Gewiß ist die Welt des Kopernikus gegenüber dem, was wir heute unter „Welt" verstehen, nach Maß und Art daö reinste Waisenkind. Aber der Anfang war gemacht. Damit, daß die Erde in Bewegung gekommen ist, ist alles in Bewegung gekommen. Zumal da auch die Kenntnis der Erde selbst im Zeitalter der großen Ent­ deckungen in ungeahntem Maße wuchs. So trat unter der Führung des scharfen, beobachtenden, messenden und wägenden, nachdenkenden Verstandes der Mensch von sich aus (nicht auf Grund überlieferter Weisung) an die Welt heran, zuerst an die Welt um sich herum, bald auch an die Welt, die er in sich selbst entdeckte, um sich der darin gegebenen Tatbestände und der durch sie hindurchgehenden festen Zusammenhänge beobachtend und denkend zu bemächtigen. Das Ganze nannte man die „Natur", die erkennbaren Regeln der stetigen Zusammenhänge die „Naturgesetze". Der Aus­ druck „Gesetz" ist dem menschlichen Gemeinschaftsleben entnommen und in der Anwendung auf die Natur nicht ganz unbedenklich, weil hier von etwas, was gesetzmäßig geschehen soll, natürlich nicht die Rede sein kann, sondern nur von dem, was auf Grund des bisher beobachteten Ablaufs des Geschehens zu erwarten ist. Er ist aber oft genug im ersteren Sinn verstanden worden.— Weil der Mensch nicht nur ein denkend erkennendes, sondern auch ein wollendes und fühlendes Wesen ist, haben sich auch weiterhin in sein Erkennen immer auch Momente seines Fühlens und Wollens eingemischt und es in seinen Ergebnissen zum Teil sehr wesentlich mitbestimmt. Aber die Führung hatte bei der jetzt einsetzenden wissenschaftlichen Weltbeobachtung der reine ErkenntniStrieb, der sich, unter möglichster Ausschaltung subjektiver Fehlerquellen bei dem Erkennenden selbst, lediglich durch die Beobach­ tung der Tatsachen und die verständige Erfassung der erkennbaren gesetz­ lichen Zusammenhänge bestimmen lassen will. Ihre größten, für Men­ schen der früheren Geschlechter geradezu märchenhaft erscheinenden Er­ folge hat die unter dem Zeichen dieses reinen Erkenntnistriebes ar­ beitende Wissenschaft erzielt in der reinen Naturwissenschaft. Zumal seit sie vom bloßen Messen und Wägen und Jn-Beziehung-setzen größter und kleinster Massen zur Erkenntnis der Kräfte (Energien) als des letztlich in Frage Kommenden fortgeschritten ist. Sie beherrscht — in ihren tiefsten Erkenntnissen nur wenigen bekannt und in ihren Einzel­ ergebnissen stark vergröbert - mit ihren Grundgedanken deS Un­ ermeßlichen (im Größten und im Kleinsten) und der durchgehenden

Gesetzmäßigkeit alles Geschehens die Menschheit von heute in allen Schichten, von den geistig Anspruchsvollsten bis zum schlichten Mann aus dem Volke, und hat das Weltbild der Gegenwart unwiderruf­ lich geformt. — Je mehr die vom reinen Erkenntnistrieb geleitete Wissenschaft an die Gebiete des Lebendigen und zumal des Mensch­ lichen kommt, wo neben der Beobachtung, Zergliederung, in Be­ ziehungsetzung, Einordnung des Gegebenen die Einfühlung zum unentbehrlichen Mittel des Erkennens selber wird, desto deutlicher zeigen sich die Grenzen der Wissenschaft im Sinn der reinen Natur­ wissenschaft. Übrigens zeigt heute die Naturwissenschaft selbst gerade in ihren fortgeschrittensten Vertretern ein steigendes Verständnis da­ für, daß auch die sogenannte unbelebte Natur nicht nur eine unermeß­ liche Größe, unheimliche Kräfte, sondern auch eine Tiefe hat, die ins

Unbegreifliche hinunterreicht. Wir werden später noch einmal darauf zurückkommen. — Daß auch die naturwissenschaftliche Forschung an sich, wie sie mit ihren erstaunlichen bisher erzielten Ergebnissen heute vor uns steht, ihre Wurzel darin hat, daß Menschen mit der inner­ sten Leidenschaft ihres Wollens sich dem hingeben und ihre letzte Kraft an das setzen, was sich ihnen als gegebene und zur denkenden Be­ arbeitung aufgegebene Wirklichkeit aufnötigt, einerlei, ob ihnen das, was sie finden, lieb ist oder leid, sei hier nur angemerkt. Alles unsagbar groß und zugleich wieder unaussprechlich klein, alles in festem, gesetzmäßigem Zusammenhang miteinander, nichts in starrer Ruhe für sich, sondern in unaufhörlichem Fluß und im Verhältnis zueinander: mit all dem wirkt die Naturwissenschaft unwiderstehlich auf die Gemüter der Menschen von heute ein. Es gilt aber noch anderes ins Auge zu fassen, ehe wir zur Auseinandersetzung unseres evangelischen Glaubens mit der Geisteslage der Gegenwart schreiten können, und zwar entscheidend Wichtiges. Am Ende des 18. Jahrhunderts steht in überragender Größe Kant. Seine Entdeckung ist, daß bei allem Erkennen das „Ich" der Welt gegenübersteht, daß die Welt immer nur von mir erkannt werden kann, und daß hier die Grenzen alles menschlichen Erkennens liegen. Das „Ding an sich" bleibt mir als Menschen immer unerkennbar; ich erfahre nur seine Wirkung auf mich. In dem, was er als die Tätigkeit der lediglich aufs Erkennen des Gegenständlichen ausgehenden „reinen Vernunft" beschreibt, ist Kant entschlossener Vertreter dessen, was wir als die Grundhaltung der Naturwissenschaft beschrieben haben. 141

Aber nun erhebt sich in ihm, indem er s i ch s e l b st zum Gegenstand des Erkennens macht, neben (hinter? über?) der Welt der Erscheinungen eine andere, nicht gegebene, sondern aufgegebene Wirklichkeit, deren wir im „Du sollst" unseres GewiffenS inne werden. Sich über diese Wirklichkeit denkend klar zu werden, ist die Aufgabe der „praktischen Vernunft". Wohl ist der Mensch, wie er vor unS steht, auch ein Stück Natur. Aber er hat etwas in sich, was über die Gegebenheiten der Welt der Erscheinungen hinausweist und ihn nötigt, in sittlicher Frei­ heit (= Verantwortung) nicht seiner Neigung nachzugehen, sondern dem kategorischen (unbedingten) Imperativ des „Du sollst" ge­ horchend seine Pflicht zu tun. Nicht der Erfolg macht eine Handlung gut oder schlecht, sondern der Wille, mit dem sie vollbracht wird. „Nichts ist gut als ein guter Wille." — Mit alledem ist erreicht, daß durch die Betrachtungsweise, die für die Welt der Sinnenerfahrung gilt, das „Ich" des Menschen nicht mit eingewalzt wird, sondern im Unterschied von ihr erst recht zu seiner wahren — der sittlichen — Würde kommt. DaS verpflichtende „Du sollst" des GewiffenS gilt so unbedingt, daß eS die praktische Vernunft nötigt, denkend über die Grenzen der Erfahrungswelt hinauszugreifen und neben der Idee der sittlichen Freiheit als der unentbehrlichen Voraussetzung unserer Verantwortungsfähigkeit noch die Ideen Gott und Unsterblichkeit als „Postulate" (Forderungen) der praktischen Vernunft aufzustellen. Nicht im Sinn eines verstandesmäßigen Beweises, den eS nur inner­ halb der Grenzen der Erfahrungswelt geben kann, sondern als ein sich mit Notwendigkeit einstellender Gedanke, wenn eS sittliches Sollen, die Grundtatsache unseres GewiffenS, gibt. Wenn sittliches Sollen zum sittlichen Handeln soll werden können — und ohne das schwebt eö in der Luft —, dann muß die Welt dafür irgendwie, wenn auch für uns verstandesmäßig undurchschaubar, die Möglichkeit geben. DaS ist dadurch der Fall, daß die Welt Gottes ist, als dessen Ge­ bote wir auch die Forderungen unseres GewiffenS vernehmen. Und da unsere sittliche Aufgabe eine unendliche ist, kann sie auch nicht durch das Ereignis unseres natürlichen Todes zum Abbruch gebracht wer­ den. — Man kann nicht sagen, daß das ein lebendiger Gott wäre, mit dem wir eS nach Kant zu tun haben. Es ist eine reichlich blaffe Gottesidee, die ganz im Dienst der Erfüllung unserer sittlichen Auf­ gabe steht. DaS „Heilige" Gottes hat sich Kant ganz in die Unbedingtheit des sittlichen „Du sollst" zurückgezogen. DaS hängt

mit der Geisteslage der Zeit zusammen, in der Kant gelebt und

gedacht hat. Kants Schriften sind auch nach der formalen Seite hin nicht „leicht" geschrieben, und inhaltlich sind sie so reich und so tief, daß eö bis auf den heutigen Tag eine eigene Kantforschung gibt. Aber mit seiner grundlegenden Erkenntnis der Unabdingbarkeit der Forderung des „GewiffenS", der „Pflicht" als des Kernes wahren Menschen­ tums, ist er Tausenden und aber Tausenden ein Wecker und Mahner, ein Halt und Führer geworden, auch wenn sie seinen Namen gar nicht kennen. Daß der Mensch nicht dazu da ist, in Erfüllung seiner Wünsche und Neigungen glücklich zu werden, sondern seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun, daö sagt uns heute noch Kant. Es hat's vor ihm freilich schon ein Größerer gesagt: „Wer sein Leben lieb hat, der wird eS verlieren." Gleichzeitig mit Kant, neben ihm, zum Teil im scharfen Wider­ spruch gegen ihn, ist das andere aufgebrochen, was dem Leben der Menschen von heute einen unerhört reichen, mannigfaltigen, tiefen Inhalt gegeben hat: die das Leben um uns her und in uns selbst in seiner Fülle und Tiefe erfassende und erfühlende und eS aus der eigenen Lebendigkeit heraus gestaltet darstellende Kunst. Kunst hat eö natürlich immer gegeben; die Kunst ist so alt wie die Menschheit. Aber jetzt wird die Kunst — mit größerer oder geringerer Klarheit — als der Ausdruck des eigenen Innenlebens empfunden, das den Stoff, den eS durch den Eindruck von außen her oder aber aus der Tiefe des eigenen Wesens empfängt, durch daö eigene Menschentum gestaltet herausstellt. Es gibt nichts im Himmel und auf Erden, was nicht Gegenstand künstlerischer Erfassung und Gestaltung werden kann, vom Stilleben bis zum Weltuntergang, von der hehren Him­ melskönigin bis zum Säufer in der Dorfschenke, von der tiefsten Trauer bis zur überschwänglichen Freude. Und ebenso mannigfaltig wie die Gegenstände künstlerischer Gestaltung sind ihre Mittel in Ton, Farbe, Bild, Wort. Und ebenso mannigfaltig und oft grund­ verschieden sind die Menschen, die künstlerischen Gestaltens fähig sind — oder doch meinen, eö zu sein. Und ebenso mannigfaltig und verschieden sind die Menschen, auf die daö Kunstwerk wirkt, und die Art, wie es auf sie wirkt. — Die Kunst braucht ihren Gegenstand nicht „schön" zu gestalten, obgleich eS ein Abweg sein dürfte, wenn man an dem „Schönen" des Gegenstandes und der Gestaltung ab-

sichtlich vorbeigeht und Häßliches und Gemeines recht häßlich und schmutzig schildert oder malt, oder eine Reihe von die Nerven peinigen­ den Dissonanzen für Musik hält. Aber auch das Erhabene, das Er­ schütternde, das Ergreifende, das Besinnliche und Beschauliche, das Starke, Anfaffende sind berechtigtermaßen Gegenstand wie Mittel künstlerischen Gestaltens. Ich breche hier ab. Das Gesagte dürfte genug sein, um einen Eindruck von dem ungeheuren Reichtum und der unübersehbaren Mannigfaltigkeit dessen zu geben, was es mit dem Stichwort „Kunst"

auf sich hat. Uns kommt es hier darauf an, uns darüber klar zu werden, wie ungemein viel reicher und bewegter die Lebensinhalte, mit denen wir uns beschäftigen, durch das künstlerische Schaffen und Ge­ stalten der letzten anderthalb Jahrhunderte geworden sind. — In welcher Weise aber nimmt unö das Kunstwerk in Anspruch? Von der Oberflächenkunst ist abzusehen, die nur der Unterhaltung und ähnlichem dient und gar nicht wirklich Kunst ist. Ich meine die Kunst, die wirk­ lich als Kunst zu uns redet. Für den von uns verfolgten Zweck ist da nun besonders wichtig: Die künstlerische Gestaltung kann

wohl auch belehrenden, mahnenden, religiösen und anderen Zwecken zur Erhöhung der Eindrücklichkeit dienen. Da ist sie dann Mittel für andere Zwecke. Aber das Wesentliche an der Kunst als Kunst ist, daß durch die künstlerische Gestaltung der künstlerische Mensch zum anderen Menschen spricht, sein Gemüt bewegt, eS zur Spannung oder zur Lösung bringt. Sie gibt Lebensbereicherung, Lebenserhöhung, Lebensvertiefung, nicht Lebensnorm und Weisung, wenn der den Ein­ druck des Kunstwerkes Empfangende ihm nicht unwillkürlich solche Weisung für sich entnimmt. Auch wenn die Kunst sich mit den Idealen ringender Menschen oder auch mit religiösen Stoffen beschäftigt, ver­ folgt sie nicht unmittelbar weisende Zwecke (sofern es sich nicht um die vorhin erwähnte, anderen Zwecken dienende künstlerische Gestaltung handelt), wenn auch das künstlerisch Dargestellte unter Umständen großen Einfluß auf die innere Haltung der Kunstempfänger auSübt, meist um so stärkeren, je weniger eine Absicht bemerkbar ist. — Wo ausgesprochen Religiöses dichterisch zum Ausdruck gebracht wird (am entsprechendsten in Form der Lyrik), so geschieht daS vorwiegend im Sinn einer Stimmungsreligion (Mystik), die entweder das Göttliche im Weltgeschehen erfühlt, oder aber (was heute seltener ist als früher) sich aus der Welt, sie hinter sich lassend, zum Göttlichen

flüchtet, um in ihm zu ruhen. Ich sage absichtlich „das Göttliche", nicht Gott: die Gottheit der Mystik hat mchtS willentlich Bestimmtes an sich, ist ein „Abgrund", kein „Ich". Man heißt es gern auch das Ewige, das Ganze, daö All und dergleichen. Wenn auch dem künstle­ risch gestaltenden und empfindenden Menschen die Mystik aus Grün­ den, die sich nach dem früher Gesagten von selbst ergeben, besonders nahe liegt, so braucht seine Frömmigkeit doch nicht mystisch zu sein. Sie kann ebensogut auch auf den Gott des heiligen Willens be­

zogen sein Es ist kein Zufall, daß der bedeutendste Vertreter künstlerischen Menschentums in dem von uns herausgestellten Sinn, Goethe, sich während eines langen Lebens eigentlich mit allem beschäftigt hat,

was den Menschen überhaupt angehen kann, bis ins hohe Greisen­ alter hinein offen für Eindrücke verschiedenster Art, und immer be­ reit, sich innerlich in sie zu vertiefen. Dabei braucht man nur Goethes

Naturbetrachtung neben die oben gekennzeichnete naturwissenschaft­

liche Naturforschung zu stellen, um den Unterschied naturwissenschaft­

licher und künstlerischer Haltung greifbar vor sich zu haben. Dort Beobachtung — hier Einfühlung. — Goethe hat auch naturwissen­ schaftlich gearbeitet und hier manches gesehen (erfühlt), was der so­

genannten exakten Naturwissenschaft nicht zugänglich geworden war. Je mehr die Wissenschaft mit der wissenschaftlichen Erfassung deS Lebendigen zu tun bekam, desto mehr ist ihr selber die Fähigkeit

zur Einfühlung unentbehrliches Arbeitsmittel geworden, am unent­ behrlichsten beim Eindringen in die menschliche Geschichte. Die Philosophie deö ersten Drittels des 19. Jahrhunderts ist be­ herrscht von der gewaltigen Geistesarbeit des deutschen Idealis­ mus (Fichte, Schelling, Hegel). Der deutsche Idealismus hat in titanischem Bemühen den großartigen Versuch gewagt (besonders in Hegel), alles Geschehen in Natur und Menschenleben unter dem Blick deS zu sich selbst Kommens des Geistes, der Gott selber ist, in der Geschichte deS menschlichen Geisteslebens denkend zu erfassen und zu werten. Von dem, was da an Umschau und Tiefenschau zu­ gleich gewonnen worden ist, zehren wir noch heute. Am nachhaltigsten hat Hegel gewirkt durch den von ihm herausgestellten Entwicklungs­ gedanken (vom Niederen zum Höheren in Satz, Gegensatz, Ausgleich), der später freilich vielfach übel verbogen worden ist. ip

Eger, Evangelischer Glaube

145

Unter dem Einfluß des deutschen Idealismus hat die Geschichts­ wissenschaft (£. v. Ranke), und die sogenannte Geisteswissenschaft überhaupt, einen ungeheuren Aufschwung genommen. DaS wirklich Geschehene (auch durch Kritik hindurch) zu erfassen, eS einfühlend zu verstehen und es in eine große Linie des Werdens einzuordnen: das wird jetzt die klar erkannte Aufgabe des Geschichtsforschers, zumal des Geschichtsschreibers. Wir haben früher einen Eindruck davon be­ kommen, wie lebendig uns durch Anwendung dieser Grundsätze die Bibel Alten und Neuen Testaments geworden ist. Was früher nur vor uns stand, ist alles in Fluß gekommen, ist alles bewegtes, lebendig zu uns sprechendes Leben geworden. Was Hegel in den Mittelpunkt von allem stellte, war der den­ kende Geist. Der war reicher als die „Vernunft" der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, weil er überall zum Leben Bezug hatte und

selbst von Leben erfüllt war. Aber der höchste Typ des Menschen war der Denker. — Schopenhauer sieht, daß das, was die Welt und das Leben schafft und erhält, der Wille ist, der durch alle Sinn­ losigkeit und alles Leiden hindurch das Leben will und sich ans Leben klammert. Schopenhauer sagt aber zu diesem Lebenswillen „nein"; die Erlösung kommt (indisch-buddhistisch) dadurch, daß der Mensch den Lebenswillen in sich verlöschen läßt. Abgesehen von dieser verneinenden Wendung ist die Entdeckung deö Willens als der bewegenden Macht alles Lebendigen von größtem Wert und später sehr wirksam geworden. Was wir bisher beobachtet haben, das war alles die Arbeit des Forschers, des Denkers, des Gelehrten, des Künstlers, die in der Stille geschieht und auch da, wo das herkömmliche Weltbild und das bis­ herige Lebensgefühl von Grund aus umgestaltet wird, doch das alles im Aufbau tut. Man kann das alles aber auch unter dem Zeichen der Verneinung des Herkömmlichen und Überlieferten betreiben, und dadurch bekommt alles ein ganz anderes Gesicht. Ich habe es immer als besonderen Vorzug der deutschen Geschichte empfunden, daß die verneinenden Wirkungen der französischen Revolution in Deutschland erst dann in weiterem Maß zur Auswirkung gekommen sind, als Kant, Goethe, Hegel (ich nenne die Namen statt der in ihnen verkörperten Bewegungen) ihr Werk getan hatten. Dadurch hatte die Verneinung des Überkommenen, die jetzt auf den Plan trat, nicht bloß die starren Vertreter des Alten sich gegenüber, sondern Menschen hohen, weiten, freien Geistes im besten Sinn deö Wortes, die das

beste Erbe der Vergangenheit umgeformt in die neue Zeit hinein­

getragen hatten. Seit den ZOer Jahren des 19. Jahrhunderts bricht das um­ stürzlerische „Nein" mit Macht in das deutsche Geistesleben ein, zunächst in einzelnen Vorläufern, sehr bald in engster Verbindung mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen Wandlungen der Zeit. Die verschiedenen „Nein" zum Alten, die jetzt hörbar werden, decken sich nicht, sie gehen in den einzelnen Vertretern recht verschiedene Kreuzungen ein und stehen zum Teil in Spannung miteinander. Aber in der schroffen, abschätzigen Verneinung des Alten laufen sie alle in gleicher Richtung. — Wir haben es hier natürlich nur mit der weltanschaulichen Seite der Vorgänge zu tun. Die Welt­ anschauung wird nicht mehr in der stillen Stube des Forschers, des Denkers, des Dichters erarbeitet und wirkt dann allmählich in die Breite. Sie geht von vornherein auf die Gaffe und arbeitet mit dem massiven Schlagwort. Mit dem Ablauf der Vorherrschaft des Idealismus im deutschen Geistesleben kommt die Zeit, wo die Naturwissenschaft die Führung übernimmt. Aber nicht mehr bloß zur Erweiterung und Ver­ tiefung deS Weltbildes — natürlich geht die stille Forschung weiter ihren Weg —, sondern mit dem Anspruch, von sich aus für die ge­ samte Weltanschauung maßgebend zu sein. Es ist alles Natur, Kraft und Stoff, alles von den gleichen, ewig unveränderlichen Natur­ gesetzen durchwaltet, die auch den Menschen, nicht nur in seinen körper­ lichen Funktionen, sondern auch in seinem Denken, Fühlen, Wollen restlos bestimmen. (Das Mißverständliche des Ausdrucks „Natur­ gesetz", von dem wir früher sprachen, als ob das Naturgesetz vor­ zuschreiben hätte, waS sein darf und was nicht, kommt jetzt stark zur Geltung.) Das Denken ist lediglich eine Gehirnfunktion, und von einem sittlichen „Du sollst" im Sinne Kants zu reden, ist eitel Selbst­ täuschung. In Wirklichkeit gibt eö für den Menschen nur ein Müssen, zu dem er durch das, was in seinem Triebleben am stärksten ist, getrieben wird. Den Gesellschaftöschädling zur Verantwortung zu ziehen, Sühne von ihm zu verlangen, ist eine Komödie, die listige Staatsleiter erfunden haben, um den einzelnen zugunsten der Gemein­ schaft besser bändigen zu können. Man kann den Menschen mit gesell­ schaftsschädlichen Trieben nur etweder unschädlich machen, wie man einen Tiger einsperrt oder totschießt. Oder aber, wenn man humaner

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ist, kann man versuchen, ihn zu erziehen, das heißt ihm andere, der Gesellschaft nützlichere Triebe beizubringen — waö freilich sehr schwer ist. Schuld gibt eS nicht, sondern nur Verstoß gegen das, waö nach all­ gemeiner Meinung alö angemessen und richtig gilt. Der Mensch ist nicht etwas Andersartiges als ein Tier, sondern nur das höchste bisher entstandene in einer in unermeßlichen Zeiträumen sich vollziehenden Entwicklung vom Niederen zum Höheren. Das ist freilich ein aus

idealistischer Betrachtungsweise übriggebliebener Rest, wie die ganze Fortschrittgläubigkeit, der man huldigte. Wo ist in einem rein in Druck und Stoß und Gegenstoß sich vollziehenden Wirksamwerden der Naturgewalten ein Maßstab, nach dem Niederes und Höheres unter­ schieden werden kann? Aber die Ahnenreihe vom Spulwurm bis zum Menschen wird ja nicht aufgestellt, um den Menschen als Krone der Schöpfung erscheinen zu lassen, sondern um ihn mit dem Tier in eine Reihe zu bringen. — Daß für „Gott" in irgendwelcher Form in dieser Welt ewigen Aufeinanderwirkens der Massen und Natur­ gewalten kein Raum bleibt, ist selbstverständlich. Aufs Ganze gesehen ist diese naturalistische Betrachtungs­ weise — das ist die zutreffendste Bezeichnung — der Welt und des Lebens, auch des Menschengeistes, so oberflächlich, drückt sich an so vielen unleugbaren Tatsachen und tieferen Lebensfragen so hilflos vorbei, daß es keinen Anhänger des Naturalismus gegeben hat und gibt, der nach den naturalistischen Grundsätzen wirklich gelebt hat — kein Mensch kann danach leben. Viele theoretische Natura­ listen haben in ihrer praktischen Lebensführung durch Gewissenhaftig­ keit, Wahrhaftigkeit, Güte manchen „Idealisten" und auch manchen „Christen" beschämt. Man hat schließlich auch statt der früher üblichen Bezeichnung „Materialismus" zur Bezeichnung „Monismus" ge­ griffen, um das Höhere des Menschenlebens mit einzubegreifen. Aber dieser naturalistische Monismus (eS gibt auch einen idealistischen Monismus, der den Geist zur letzten Wirklichkeit macht) ist theoretisch wenig besser als der frühere massive Materialismus, weil auch für ihn das Geistige schließlich nur ein Stück Natur ist und keine Normen und Ziele kennt, nach denen es sich auszurichten hätte. Nicht mit seinen einzelnen Verflachungen und Übertreibungen,

wohl aber mit seiner Gesamtstimmung, daß der Mensch nichts anderes ist als ein bloßes Naturwesen, wenn auch ein besonders kluges und begabtes, daß von Gut und Böse nur im ganz uneigentlichen Sinn ge-

redet werden kann, weil der Mensch ja doch tun muß, wozu er ge­ trieben wird, auch mit seiner Oberflächlichkeit gegenüber den letzten und tiefsten Lebensfragen, hat der Naturalismus einen ungeheuren Einfluß auf viele Gemüter geübt und übt ihn noch aus bis auf den heutigen Tag. Elemente naturalistischer Weltanschauung und Le-

bensauffasiung find auch heute bei Ungezählten wirksam, die den Naturalismus entschieden ablehnen, und machen sie mehr oder weniger hemmungslos gegenüber ihren Trieben und schlaff zu entschlossener Meisterung ihres Lebens in Erfüllung ihrer Lebensaufgaben. Ein Schiff ohne Steuer ist den Winden hilflos preisgegeben, und der Naturalismus verneint Steuer und Steuermann. Am verhängnisvollsten für die Geschichte der Seele des deutschen Volkes ist der Naturalismus dadurch geworden, daß er durch Karl Marx mit der infolge der wirtschaftlichen Entwicklung aufkommen­ den deutschen Arbeiterbewegung zusammengebracht worden ist. Richtig gesagt, nicht mit der deutschen Arbeiterbewegung, sondern mit der klaffenkämpferischen proletarischen Bewegung, zu der die — zeit­ geschichtlich notwendige — Arbeiterbewegung in Deutschland durch Karl Marx weithin entstellt worden ist. An sich könnte eS merkwürdig erscheinen, daß Marx gerade den Naturalismus zum Bundesgenossen einer Bewegung erwählt hat, die unter der Flagge marschierte: Be­ freiung der Unterdrückten! Denn in der Natur schiebt immer der Stärkere den Schwächeren beiseite, wenn er ihn nicht auffrißt. Aus der Natur ist viel eher Nietzsches Herrenmensch abzulesen als die Befreiung des Proletariats. Aber der Naturalismus war für Marx brauchbar als Mittel zur Lösung des Proletariers von allen innerlichen Bindungen an ideale Mächte und zur Konzentrierung aller Energien auf Gewinnung der Macht durch das Proletariat im rücksichtslosesten Kampf gegen die ausbeuterische Kapitalistenklasse zwecks Erlangung der Verfügungsgewalt über die materiellen Lebensgüter. So wurde hier der Naturalismus zum Mittel des organisierten Klaffenkampfes und Klaffenhasses. Wie hat die Marxsche Ideologie einen so dämonischen Einfluß auf die innerlich doch so ganz anders geartete deutsche Arbeiterschaft gewinnen können? Denn der Deutsche ist kein Mensch des reinen HaffeS, der bloßen Verneinung — er will bauen, vielleicht umbauen,

aber nicht zerstören. Marx hat auch in der Seele des deutschen Arbei­ ters Widerstände genug gefunden und hat ihr wohl Gift einträufeln,

sie aber nicht vergiften können. Daß er Erfolge so großen Ausmaßes erzielte, hängt damit zusammen, daß seine Ideen einen Anhaltspunkt fanden in der mit unheimlicher Schnelligkeit vor sich gehenden Um­ gestaltung aller wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. England hat über ein Jahrhundert Zeit gehabt, aus der bürgerlich-agrarischen Daseinsform mit frühkapitalistischem Einschlag zum HochkapitaliSmuö zu gelangen. In Deutschland hat sich das in wenigen Jahrzehnten vollzogen. Alles wurde zu Geld, und die Maschine wurde über Nacht aus der Dienerin und Helferin des Menschen zu seiner Herrin, der er äußerlich und innerlich hörig wurde. Die Menschen strömten in den Städten zusammen; daö Land wurde trotz Zunahme der Bevölkerung nicht menschenreicher, sondern menschenärmer. Dabei hatten viele, die noch auf dem Lande wohnten, nichts mehr mit Grund und Boden zu tun, der ihnen gehörte oder den sie bearbeiteten, sondern gingen irgendwohin in die Fabrik. Der Zusammenhang der Familie lockerte sich oder löste sich ganz auf, weil von Bodenständigkeit und Seßhaftig­ keit für Zahllose keine Rede mehr war. So wurde der einzelne äußer­

lich und innerlich entwurzelt, auf sich selbst gestellt, obwohl — oder weil! — er auf der anderen Seite doch wieder nur ein Stück der Masse war. Denn nirgends ist der einzelne, der sich seiner selbst be­ wußt wird, einsamer als in der Masse. So erklärt es sich, daß die Zeit der Maffewerdung der vielen zugleich die Zeit wurde, wo sich das Einzelgängertum des einzelnen (Individualismus) bis zu seinen äußersten Folgerungen auswuchs. An Stelle der blut- und schicksals­ mäßigen Bindungen trat der (mehr oder weniger) freigewollte Zu­ sammenschluß der einzelnen im Verein, in den Parteien, die dann freilich wieder ihrerseits den einzelnen oft sehr tyrannisch banden. — Dabei kam Deutschland seit den 90er Jahren zu einer beispiellosen wirtschaftlichen Blüte, die eS selbst den Anhängern von Karl Marx schwer machte, dessen Verelendungstheorie aufrechtzuerhalten. Deutschland wurde in kürzester Frist aus einem Land recht bescheidenen Wohlstands und dem entsprechender Lebensführung zu einem reichen Land — und mit dem äußeren Wohlstand wuchs das Streben, das Leben in gröberer oder feinerer Form gründlich zu genießen. Wir wollen nicht schwarz in schwarz malen. Es waren Gegenkräfte genug vorhanden, die sich dagegen wehrten, daß das Ganze und die einzelnen von der Flut des praktischen Materialismus, die über sie hinging - und der praktische Materialismus, die Habgier, die Macht-

gier und die Genußsucht, ist viel schlimmer als der theoretische — ver­ schlungen wurden. Auch war ja vieles an den neuen Zuständen zwangs­ läufig aus wirtschaftlichen Gegebenheiten (Maschine, Großbetrieb) und Notwendigkeiten erwachsen, deren man nicht anders Herr zu werden wußte. Sollten doch auf demselben Boden 1914 rund 65 Millionen ernährt — und bei den gestiegenen Ansprüchen bester ernährt werden statt 40 Millionen 1871. So war es — aufs Ganze gesehen — bei aller äußeren Scheinblüte eine Zeit der innerlichen Verarmung, der Zersplitterung, deö haltlos Umgetriebenwerdens, deren verheerende Wirkungen nur dadurch verdeckt wurden, daß das Staatsgefüge als solches nicht erschüttert war, ja mächtiger dazustehen schien als je zuvor. Da kam der Weltkrieg und damit das Gericht über die Er­ rungenschaften der hochgerühmten abendländischen Zivilisation. Wenn die damaligen Machthaber eine Ahnung davon gehabt hätten, was dieser Krieg werden würde: er wäre niemals ausgebrochen. Die Fort­ schritte der Wiffenschaft und Technik waren ja auch eigentlich nicht dazu gemacht worden, um statt der Gütererzeugung der Mastenver­ nichtung von Gütern und Menschenleben zu dienen. 20 Millionen Tote — die Verkrüppelten oder sonst dauernd an ihrer Gesundheit Geschädigten nicht gerechnet. Auch nicht die Greise, Frauen, Kinder, die durch den Hungermord der Feinde hingestecht oder doch verelendet sind. Und die Gemeinheiten, Grausamkeiten und Quälereien, von denen unsere in Kriegsgefangenschaft geratenen Brüder zu erzählen wiffen. Die Abgründe des Menschenherzens haben sich aufgetan, da die Tünche der Zivilisation abgefallen war. — Und die Fortsetzung deS Krieges mit anderen Mitteln, die die sogenannten Sieger ersonnen und jahrelang geübt haben, nachdem das deutsche Volk unter der zehn­ fachen Übermacht und durch den Hunger und das Versagen der Wider­ standskraft im eigenen Lande zu Boden gerungen war — mit 7 Mil­ lionen Arbeitslosen, mit den Familien mehr als ein Drittel des Volkes, und all der Unsumme von Not, Entbehrung, innerer Qual, die in dem Wort Arbeitslosigkeit liegt, als Endergebnis. Das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen hat zunächst einmal bei Ungezählten die Wirkung gehabt, daß ihnen alles, schlechthin alles frag­ würdig geworden ist, woran sie bisher noch geglaubt hatten. Gott, Wahrheit, Treue, Redlichkeit, Liebe, Barmherzigkeit, Autoritäten — eS war alles ein großer Trümmerhaufen geworden. Es war wie ein 151

von Granaten und Fliegerbomben zusammengeschossenes, von Gift­ gasen erfülltes Haus, aus dem es nur das nackte Leben zu retten galt. Wenn es sich überhaupt lohnte, dies nackte Leben zu retten, weil es selbst wertlos geworden war. — In dieser Stimmung sind viele noch lange nach dem Zusammenbruch einhergegangen. Andere haben alsbald versucht, aus der Trümmerwelt möglichst viel für sich herauszuschlagen, ohne viel danach zu fragen, waö aus dem Ganzen würde. Die eng­ stirnigste und engherzigste Selbstsucht feierte Triumphe. DaS Kriegs- und Nachkriegsgeschehen hat aber noch eine ganz andere Wirkung auögeübt, ein Beweis dafür, daß der Mensch etwas anderes ist als sein Schicksal. Es kam das „große Wunder" vom August 1914: daß Millionen mit unwiderstehlicher Gewalt getrieben wurden, alles, sich selbst hinzugeben, damit Volk und Vaterland ge­ rettet wurden. „Deutschland muß leben, auch wenn wir sterben müssen!" — DaS wollte aber jetzt aus der Wallung eines großen Augenblicks in der Wirklichkeit des Alltags in die Tat umgesetzt sein, und die Wirklichkeit, in der gehandelt, gekämpft, gelitten, geopfert werden mußte, war hart, grausig, oft öde und jammervoll bis zum Unsagbaren. An der Front selbst (was „Schützengraben" ist, weiß nur der, der selber drin gelegen hat), hinter ihr (die Lazarette) und in der Heimat (Todesnachrichten, Hungerblockade — die Kinder langsam verhungern sehen). Tausende haben versagt. Und auch denen, die auögehalten haben, sind oft sehr schwere Stunden gekommen, wo sie mein­ ten, eS geht nicht mehr. Aber zerbrochen hat sie's nicht. Je dunkler und äußerlich aussichtsloser die Lage wurde, desto zäher haben sie eS fest­ gehalten: „Deutschland muß leben, auch wenn ich sterben muß!" (DaS ist noch etwas anderes als bloß das „wir" so ins allgemeine hinein.) Und wie dann der äußere und innere Zusammenbruch kam mit all seiner Flut von Feigheit, Schmutz, Gemeinheit und jämmerlichem Eigennutz, da haben sie Tritt gefaßt und sich zusammengetan zum Kampf gegen die Kräfte, die Deutschland von innen heraus verdarben und zerstörten. Zuerst die alten Frontsoldaten im „Stahlhelm". Aber viele haben neben ihnen den Kampf mit Wort und Tat geführt. Dann sammelten sich zunächst einige, dann immer mehr um einen Mann, der die äußere und innere Befreiung Deutschlands zum Mittelpunkt seines Lebens und seines Lebenswerks gemacht hat. Unter seiner Füh­ rung erstand die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei als politische Partei. Nicht als Partei neben Parteien im alten Sinne,

sondern als in sich festgefügte Trägerin einer Bewegung, die auf Ge­ winnung nicht nur der politischen Macht, sondern darüber hinaus auf Gewinnung der Seele des deutschen Volkes ausging. Das Programm der NSDAP, ist kein Parteiprogramm im früheren Sinne des Wortes, sondern der Ausdruck einer in sich ge­ schlossenen Weltanschauung, und zwar einer Weltanschauung durchaus politisch willensmäßigen Charakters. Gegeben ist das deutsche Volk und seine Heimat („Blut und Boden"). Aufgegeben ist, daß auS diesem Volk eine in ihrem politischen Wollen einheitliche Nation werde, die von dem einen Leitgedanken beherrscht ist: Deutschland! An die Stelle des Gesichtspunktes der Nützlichkeit tritt als oberster Gesichtspunkt der der Pflicht und des Dienstes, der Bereitschaft zum Opfer bis zur Hingabe des Lebens. Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Darin liegt aber zugleich, daß die Glieder des Volkes ohne Unter­ schied des Standes und Berufs einander gegenseitig zu dienen haben, statt die anderen für sich selbst auszunutzen und zu verbrauchen. Das ist das Sozialistische des Programms, das nicht wie der marxistische Sozialismus das Volk in Klaffen auseinanderreißt und diese im Klaffenkampf gegeneinanderstellt, sondern alle, jeden nach seiner Fähigkeit, zu einer gegenseitigen HilfS- und Dienstgemeinschaft im gemeinsamen Dienst des Volkes verbinden will. Und die einheitliche Richtung dieses gemeinsamen Wollens wird bestimmt durch den einen Führer. — So stark der Schwung dieser das ganze Wollen des deutschen Menschen als Glied seines Volkes beanspruchenden Welt­ anschauung ist, so setzt sie ihrem Totalitätsanspruch doch die Grenze bei der religiösen Überzeugung der Volksgenossen. Sie ist betont gott­

gläubig, und die Partei als solche steht auf dem Standpunkt deö posi­ tiven Christentums, ohne konfessionelle Sonderung. Aber die Freiheit der religiösen Überzeugung ist gewährleistet, auch ihre Vertretung nach außen hin gestattet, soweit sie dem sittlichen Empfinden deö deut­ schen Menschen und dem Gemeinwohl nicht widerspricht. *

Ehe wir fragen können, wie unser evangelischer Glaube an den Gott des heiligen allmächtigen, guten Willens sich der so geschilderten Lage der Gegenwart gegenüber verhält und wie er sich in ihr bewegt und auswirkt, müffen wir zunächst noch ins Auge faffen, wie das geschichtlich gewachsene evangelische Christentum deS 18. Iahr-

Hunderts mit dem vor ihm aufsteigenden naturwissenschaftlichen Weltbild der ungeheueren Größe und der naturgesetzlichen Zusam­ menhänge zurecht gekommen ist. Denn das gehört auch zur Geisteslage der Gegenwart. Man kann nur sagen: im allgemeinen sehr leicht, indem man das Wesentliche des Christentums in dem fand, worin das Christen­ tum mit dem neuen Weltbild zusammenzustimmen schien, und die Züge am überlieferten kirchlichen Christentum, bei denen das nicht der Fall schien, entweder als überlebt beiseite legte, oder aber in den Hinter­ grund schob. DaS Wesentliche des Christentums erschien in der Drei­ heit: Gott, Freiheit (^ Tugend), Unsterblichkeit, die so selbstverständlich feststand, daß man sie als der menschlichen Vernunft natürlich angeboren ansah. Auch Jesus hat seinen Platz in diesem aufgeklärten Christentum, als der vollkommene Lehrer und gütige Menschenfreund, der sich als Mär­ tyrer derWahrheit am Kreuz aufgeopfert hat. — Auch die Bibel wurde unter dem Gesichtspunkt ihrer Übereinstimmung mit der wahren ver­

nünftigen Religion gelesen und gebraucht. Was in ihr dieser Religion nicht entsprach, wurde auf die Rückständigkeit der Menschen der Bibel geschoben, der auch Jesus und die anderen Gottesmänner sich bis zu gewissem Grad anpaffen mußten, um überhaupt verstanden zu werden. Oder es ist in die Bibel gekommen durch Fälschung und Priestertrug. Schwierigkeiten machten die biblischen Wunderberichte, auch die Wunder Jesu. Hier teilten sich die Meinungen. Die einen versuchten auch sie in natürliche Geschehnisse umzudeuten, wobei man oft recht sonderbare Wege ging. Andere sahen gerade in den biblischen Wundern das besonders Auszeichnende der biblischen Offenbarung und den Be­ weis für ihren göttlichen Ursprung. Die ersteren waren die folge­ rechten rationalen (vernünftigen) Aufklärer, später Rationalisten; die anderen hieß man die Supranaturalisten, weil sie das Übernatürliche

der Offenbarung anerkannten. Doch waren Supranaturalisten und fromme Rationalisten (es gab auch unfromme Rationalisten, die alles herunterrissen) in ihrer praktischen Frömmigkeit auf der Grundlage: Gott, Tugend, Unsterblichkeit wesentlich einer Meinung. Gottver­ trauen, Pflichterfüllung, Nächstenliebe, Hoffnung auf ein ewiges Leben — darin fanden sich alle miteinander. Besonders gern erbaute man sich an den Wundern Gottes in der Natur. An den Dunkelheiten und Furchtbarkeiten im Naturgeschehen sah man in naivem Optimis­ mus vorbei. Deshalb hat das Erdbeben von Lissabon (1755) der Auf-

klärung so schwer zu schaffen gemacht. Ebensowenig Blick hatte man für das Abgründige der Heiligkeit Gottes, auch nicht für die Abgründe im menschlichen Herzen. Deshalb hat man mit Paulus wenig an­ zufangen gewußt und sich vielfach geradezu ablehnend gegen ihn gestellt. An die Stelle des Erschüttertwerdens durch den heiligen Gott setzte man eine milde Rührung. Die frommen Menschen der Aufklärung haben bei den Gottesdiensten und besonders bei den heiligen Hand­ lungen viel und gern geweint. — Aufs Ganze gesehen ist zu sagen, daß die Aufklärung mit ihren frommen Gedanken und Gefühlen in naivem Optimismus überall an der Oberfläche geblieben ist. Sie wird richtig gekennzeichnet als völlige Vermenschlichung des Christentums. Humanität (Menschlichkeit) und Philanthropie (Menschenfreundlich­ keit) sind ihre Lieblingsworte. Aber in dieser vermenschlichten Form hat sie in der Dreiheit: Gott, Tugend, Unsterblichkeit wichtige Stücke des Christentums bewahrt. Und sie ist damit ungeheuer volkstümlich geworden und bis auf den heutigen Tag geblieben, so daß man die von ihr aufgenommenen und weitergegebenen Stücke des Christentums: Gottvertrauen, Pflicht­ treue, Nächstenliebe, Hoffnung des ewigen Lebens vielfach geradezu als die der deutschen Seele eingeborenen Stücke gottgläubiger Sitt­ lichkeit ansieht. Aber sie stammen aus dem Christentum, das ja das Menschentum keineswegs verneint — im Gegenteil! Freilich er­ schöpfen die von der Aufklärung aufgenommenen Elemente des Christentums dieses durchaus nicht. Wichtiges am Christentum bleibt beiseite liegen. Neuerdings ist das dritte Stück der Aufklärungsdrei­ heit: Unsterblichkeit bei vielen Anhängern aufgeklärter Frömmigkeit infolge der durch den Naturalismus erweckten Zweifel ins Wanken gekommen. Da aber, wie wir in vertiefter Form bei Kant gesehen haben, die Dreiheit Gott, Tugend, Unsterblichkeit in einem ganz festen inneren Zusammenhang steht, muß das zur Erweichung auch der bei­ den anderen Stücke der Dreiheit führen. Sie büßen an Kraft und Sicherheit des Anspruchs erheblich ein. — Überhaupt verlangt die neueste Gegenwart, in der das Hintergründige unseres Daseins namentlich durch das Kriegsgeschehen so unheimlich aufgebrochen ist, auch ein tieferes Verständnis des Christentums, als es die Aufklä­ rungsfrömmigkeit bieten konnte, wenn der christliche Glaube den Men­ schen von heute lebendig bleiben soll.

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Nun die Auseinandersetzung des Glaubens an den heiligen all­ mächtigen, guten Schöpfergott, wie er uns an Luther wieder deutlich geworden ist, mit den in der heutigen Geisteslage wirksamen Mächten. Wir beginnen bei den Fragen der Weltanschauung, die in unser Blick­ feld getreten sind, und stellen die Auseinandersetzung mit dem Welt­ bild der Gegenwart an den Schluß. Ablehnen muß der Glaube an den heiligen allmächtigen, guten Gott alle Weltanschauung mit rein verneinendem Vorzeichen, allen Pessimismus weltverneinender oder gehässiger Form, und allen theoretischen und praktischen Materialismus, der die Selbständigkeit menschlichen Geisteslebens und damit auch die Mög­ lichkeit einer Beziehung des Menschen zu Gott leugnet, insbesondere von der Unbedingtheit unserer sittlichen Verantwortung nichts wissen will. Unser Glaube ist nicht blind für die Dunkelheiten deS Daseins und für die unheimliche Macht deS Bösen in der Welt und im eigenen Herzen. Wozu brauchten wir sonst einen Artikel von der Erlösung? Hier liegt der große Mangel, ja der grobe Fehler der Aufklärungs­ frömmigkeit und -sittlichkeit. Aber der evangelische Glaube läßt Gott nicht vor den bösen und dunklen Mächten kapitulieren, sondern weiß, daß er trotz alledem und durch daö alles hindurch im Regiment sitzt. Mit allem anderen, was die Umgestaltung und Vertiefung deS Weltbildes sowie die Wandlungen der Geisteshaltung und des LebenSgefühlS in den letzten IV2 Jahrhunderten weltanschaulich und stim-

mungSmäßig mit sich gebracht haben, kann der Glaube an den heiligen allmächtigen, guten Gott in positive Auseinandersetzung treten und sich dadurch den Blick in Welt und Leben schärfen, weiten und vertiefen, sowie sich in seiner lebendigen Bewegtheit stärken lassen. Er darf den mächtigen Strom des Lebens nicht an sich vorüberfließen lassen und sich auf eine stille Insel zurückziehen, um mit seinem Gott, vielleicht im Bund mit ein paar Glaubensgenossen, allein zu sein. Denn der Gott,

an den wir glauben, steht nicht irgendwo im Winkel, sondern wirkt durch alles hindurch. — Es ist die große, unerschöpflich reiche Aufgabe der evangelischen Theologie, neben der wissenschaftlichen Besinnung auf das, was evangelischer Glaube in sich selber ist und worauf er sich gründet, daß sie sich mit dem Gesamtleben der Zeit ständig in Fühlung und in Auseinandersetzung hält. Der Nichtfachmann kann sich an dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung natürlich nur in bescheide­ nem Maß beteiligen. Im allgemeinen wird er sich mit der Rolle deS

aufmerksamen, auch kritischen, Lesers begnügen muffen. Leider fehlt es sehr an gemeinverständlich geschriebenen Büchern, namentlich an solchen, die weder „apologetisch" (als ob das Christentum auf der An­ klagebank säße; Apologie heißt Verteidigung), noch „polemisch" (als ob wir fremde Weltanschauung als solche zu bekriegen hätten) gehalten find, sondern im Ton schlichter Auseinandersetzung. Bedauerlicherweise haben sich viele (vielleicht aus Mangel an Zeit oder innerer Muße, vielleicht aber auch aus einer gewissen Ängstlichkeit heraus) darauf zurückgezogen, ihr Glaubensleben und ihren Anteil am Leben der Ge­ samtkultur gewissermaßen in getrennter Buchführung zu betreiben, was selbstverständlich die Quelle von viel Halbheiten und innerer

Unsicherheit ist. So notwendig aber die Beziehung unseres Glaubens auf die Lebensmächte der Gegenwart ist, und so reichen Gewinn er daraus für seine eigene lebendige Bewegtheit wie für die innere Einheit der Lebenshaltung und Lebensführung gewinnen kann — er darf dabei doch nie der Gefahr erliegen, über der Einbettung des Glaubenslebens im Leben der Gesamtkultur Wesentliches seines eignen Inhalts zu ver­

kürzen oder gar preiszugeben, wie es der AufklärungSfrömmigkeit er­ gangen ist. Glaube an den heiligen allmächtigen, guten Gott ist nie bloß ein Stück menschlicher Gesamtkultur. Er stellt mich vor das Letzte und den Letzten — im ganzen meiner menschlichen Beziehungen mit all ihren Gütern, Werten und Aufgaben —, aber doch mich mit allem, was ich bin und habe und was mir hier aufgegeben ist, vor das Letzte und den Letzten: Ich glaube, daß Gott mich geschaffen hat, und daß ich ihm Rechenschaft schuldig bin. Deshalb kann es bei aller grund­ sätzlichen Kulturoffenheit evangelischen Glaubens nie ohne Kultur­ kritik abgehen, und eS können Zeiten kommen, wo es nötig wird, auf diese kulturkritische Seite des Glaubens besonders zu achten. Nur muß man sich dabei bemühen, sich aus dem Stil streitiger Aus­ einandersetzung nach Möglichkeit herauszuhalten. Sonst droht die Gefahr, daß man die eigene Glaubenserkenntnis dadurch groß zu

machen sucht, daß man das, wogegen man sich absetzen will und muß, herabsetzt. Dann aber überzeugt man nicht, sondern verbittert. Auch zieht man so den Glauben in seine eigenen Menschlichkeiten hinein, statt sich von ihm stetig aus sich selbst heraus in die Höhe rufen zu lassen. Die richtigste und auch nach außen wirksamste Form der Ver­ tretung der eigenen Glaubensweise vor dritten ist durch Jesu Wort

gewiesen: „Lastet euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen (d. h. was der Glaube aus euch selber macht) und euren Vater im Himmel preisen" (also nicht um selbstgefällig vor anderen zu glänzen). (Matth. 5, 16.) *

Und nun: der Glaube an den Gott des heiligen allmächtigen, guten Willens und das nach Raum und Zeit so völlig schrankenlos gewordene Weltbild der heutigen Naturwistenschaft, das den in das Spiel der in der Welt wirkenden Kräfte eingespannten Menschen einfach über­ wältigt. Wo bleibt in diesem ehernen Zusammenhang alles Geschehens Raum für ein Walten Gottes? Wo bleibt noch Raum für eine Ver­ antwortung des Menschen für sein Tun und Lasten? Denn beides

gehört untrennbar zusammen. In der Welt des Messens und Wägens und Zählens, der Beob­ achtung und Berechnung gibt es allerdings keinen Raum für Gott; wenn Gott erwogen, ermessen, errechnet werden könnte, wäre er nicht Gott. Es gibt nur einen Ort, wo wir Gott wirklich begegnen: das ist des Menschen Herz und Gewiffen. Wo Gott zum Gewiffen spricht, da steht der Mensch auf einer anderen Ebene als auf der, wo er Vor­ teil und Nachteil berechnen, Folgen abwägen und unangenehmen Ver­ pflichtungen aus dem Weg gehen kann. Da gibt es nur das Ent­ weder-Oder: Recht oder Unrecht, Gut oder Schlecht. Wohl ent­ scheidet der Mensch sich sehr häufig nicht nach dem reinen Anspruch Gottes im Gewissen, sondern verbiegt ihn mit allerhand ihm oft kaum bewußten Listen so, bis er ihm paßt oder doch weniger unbequem ist. Aber er tut es mit» wundem Gewiffen. Bei dem heute so weit ver­ breiteten Mißtrauen gegen das, was von Theologen kommt, ist eö gut, daß diese Herausnahme der sittlichen Entscheidung und Verant­ wortung aus dem naturgesetzlichen Ablauf der Erfahrungswelt am nachdrücklichsten von dem Denker vorgenommen worden ist, dessen un­ erbittlicher kritischer WahrheitSstnn von keinem bestritten wird: von Kant. Ich habe die Gedanken Kants, soweit sie mir besonders wichtig

scheinen, früher etwas genauer wiederzugeben versucht und verweise nochmals auf den Satz, den ich dort geschrieben habe: daß nach Kant die Welt irgendwie in der Hand Gottes sein muß, wenn das sittliche Sollen überhaupt zum sittlichen Handeln soll werden können. Darauf kommt eS hier an, wenn wir auch den Tatbestand vom Boden unseres

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Glaubens an Gottes Offenbarung in Christus aus anders formulieren würden, als eö Kant getan hat. Ich habe schon früher erwähnt, daß die heutige Naturwissenschaft gerade in manchen Spitzenvertretern ein starkes Empfinden für das Geheimnisvolle zeigt, in das sich unser Naturerkennen nach allen Seiten hin verliert. Je mehr wir von der Welt erkennen und je größer und tiefer sie uns wird, desto mehr merken wir, wie wenig wir in Wahrheit von ihr wissen. Was wir sehen und worüber wir uns Gedanken machen können, das sind immer Vorgänge, Verhält­ nisse, Beziehungen zu und Wirkungen aufeinander. Woher das alles kommt und wie das alles vor sich geht, wissen wir nicht. Wir können nur feststellen, daß Dinge und Lebewesen in dem und dem Zustand und in dem und dem Augenblick ihres Werdens sich uns so und so zu verhalten scheinen — nach den uns bis jetzt zugänglichen Erkenntnis­ mitteln. Wie eS möglich ist und was es zu bedeuten hat, daß irgendein Denkakt, eine Empfindung, ein Willensentschluß mit gewissen Gehirn­ oder Nervenvorgängen offenbar unlöslich zusammenhängt — das werden wir niemals wissen können. Denn unser Denken, Fühlen, Wollen ist nun einmal vor aller Einsichtnahme leibgebunden. Unser Erkennen und Denken kann die Welt nicht machen; wir können auch nicht von dem aus, was wir seither erkannt haben, festsetzen, was ge­ schehen kann und waS nicht. Es bleibt immer weitere Erkenntnis auf Grund neu aufgenommener Tatbestände vorbehalten. So ist die Naturwissenschaft in ihrer neuesten Phase trotz — oder wegen — ihrer geradezu ungeheuren Erfolge sehr viel anspruchsloser geworden in bezug auf den Beitrag, den sie zur Lösung der „Welträtsel" leisten kann. Wenn sie eins „gelöst" (d. h. aber: einen Tatbestand festgestellt und eine Formel dafür gefunden) hat, stehen aus dem „gelösten" Rätsel gleich wieder soundso viel neue auf. „JnS Jnn're der Natur dringt kein erschaffner Geist." So ist auch in der Naturwissenschaft von heute wieder Raum für daS Geheimnisvolle, Unergründliche — die Zeit des glatten Ober­

flächenbetriebs ist grundsätzlich vorbei. Aber daß aus dieser Ahnung des „Göttlichen", das alles Geschehen umwittert und umspült, der Glaube an daS Walten des Gottes des heiligen allmächtigen, guten Willens werde, der die Welt fortwährend schöpferisch werden läßt,

gestaltet, lenkt: daS ist nur von der Tatsache auS möglich, daß der Mensch in seinem Herzen und Gewissen den Anspruch Gotteö,

der ihn in die unentrinnbare Verantwortung stellt, vernimmt, ihm stille hält, ihm glaubt. Dann vermag er aber auch alles Geheimnis der Welt und des Lebens im Größten und im Kleinsten, im Zartesten und im Furchtbarsten in die Hand dieses heiligen allmächtigen, guten Gottes zu legen. Dieser Glaube weiß, daß Gott uns so geschaffen hat, daß wir in der Welt, in die er uns hineingestellt hat, denkend, fühlend, wollend unö regen und bewegen, arbeiten und wirken, daß wir unsern Verstand und unsere Vernunft brauchen sollen bis an die Grenze des uns Erreichbaren. Denn das Geheimnis ist nicht der Vor­ dergrund, sondern der Hintergrund. Er weiß aber auch, daß es eitel Einbildung und Selbsttäuschung ist, die Welt und das Geschehen in ihr, die Welt um uns her und in uns selbst, in die Grenzen des von unö Erkannten und uns Erkennbaren einzuschließen. Denn sie ist nicht unser, sondern GotteS. Von hier aus bekommt auch die Wunderfrage ein anderes Gesicht. Das Wunder hört auf, ein naturwiffenschaftlicheS Rätsel zu sein, waS es zwar für den frommen Menschen niemals war, aber heute für viele geworden ist, die das Wunder von außen ansehen und nicht vom Glauben an das Walten Gottes aus. „Wunder" ist ein Geschehen, an dem der glaubende Mensch des Waltens Gottes in besonders eindrucksvoller Weise inne wird. Das hat mit naturgesetz­ lichem Zusammenhang oder Durchbrechung des naturgesetzlichen Zu­ sammenhangs schlechterdings nichts zu tun. Es liegt auf einer ganz anderen Ebene. Wohl läßt das Außerordentliche, Unerklärliche eines Ereignisses unter Umständen besonders darauf achten, daß Gott am Werke ist. Insofern sind solche außerordentlichen Geschehnisse den Frommen aller Zeiten besondere Zeichen des göttlichen Wirkens gewesen bis auf diesen Tag. Aber der Allmächtige, der alles in der Hand hat, das Außerordentliche wie das Alltägliche, braucht keine besonderen „Wunder", um seine Allmacht zu erweisen, wie die Heiden­ götter solche Erweise ihrer Macht nötig hatten, da sie nur sehr mächtig waren. Man kann wohl sagen: je mehr einem Menschen der heilige allmächtige, gute Gott Lebenswirklichkeit geworden ist, desto mehr wird ihm sein ganzes Leben voller Wunder Gottes. Das eigentliche Wunder Gottes, das, von dem alle anderen Wunder und der ganze Alltag des Menschen ihr Licht bekommen, ist dem evan­ gelischen Glauben Jesus Christus, weil uns in ihm der Allmächtige als unser Vater offenbar geworden ist und wird. 160

Aus dem allen aber folgt, daß der, der den Fragen und Rätsel­ fragen der Welt und des Lebens in heißem Bemühen nach allen Seiten hin nachgeht und an die Beantwortung dieser Fragen und die Lösung der Rätselfragen seine Denk- und Willenskraft setzt, durchaus im Sinn des christlichen Schöpferglaubens handelt. Denn er soll die Gaben brauchen, die ihm Gott gegeben hat. Aber in bezug auf seinen Glauben an den heiligen allmächtigen, guten Gott ist er schließlich nicht anders dran als der schlichte Mann, die einfache Frau und Mutter, die über der Arbeit und den Plagen ihres Tageswerks keine Zeit haben, den Fragen und Rätseln denkender Erkenntnis der Welt und des Lebens nachzugehen, und die von all den Fragen unbeschwert in einfältigem Gottvertrauen ihre Pflicht und Schuldigkeit vor Gott und an den Menschen zu tun sich bemühen. „So jemand will des Willen tun" (Ioh. 7, 17) - nur auf diesem Weg will uns der Gott des heiligen allmächtigen, guten Willens wirklich begegnen. Unsere Gedanken über Gott, auch fromme Stimmungen und Gefühle: das ist alles schön und gut. Aber sie sind nur um das herum, worauf es zwischen uns und Gott in Wahrheit ankommt.

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Eger, Evangelischer Glaube

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Von der Erlösung Ich glaube an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage wieder auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Him­ mel, sitzend zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.

Was ist das?

Ich glaube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott, vom Vater in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jung­ frau Maria geboren, sei mein Herr; der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, er­ worben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben;

auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleichwie er ist auferstanden von den Toten, lebet und regieret in Ewigkeit. ¥

Bei der Auslegung des 2. Artikels hat Luther nicht nur an ge­ staltender Gedankenarbeit, sondern auch rein sprachkünstlerisch etwas selbst für ihn Ungewöhnliches geleistet. Er erläutert nicht etwa die

einzelnen Sähe des Artikels, sondern schaut das in den Sätzen AuS-

gesagte zum in sich einheitlichen Gesamtbild der Person und des Werkes Jesu Christi zusammen und setzt dann alles zu mir und meinem Glauben in Beziehung. Hier erscheinen nicht noch andere neben mir, wie in dem „mich samt allen Kreaturen" des 1. Artikels: das Verhältnis zu Christus geht zunächst einmal mich ganz allein an (Artikel selbst: unsern Herrn, Luther: mein Herr). Die anderen kommen auch noch, als etwas sehr Wichtiges, im 3. Artikel: in der Christenheit. Aber zunächst habe ich es mit meinem Herrn allein zu tun, zu erkennen, was ich ihm verdanke und was er aus mir machen will. Dabei werden — mit zwei Ausnahmen — alle Aussagen des Artikels verwertet, aber gewissermaßen in eingeschmolzenem Zustande. Die Umschreibung des „empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria", rückt als Beifügung zu dem, der mein Herr ist. Dann wird das Erlösungswerk an Hand der Sätze des Artikels beschrieben nach seinem Mittel und nach seinem Ziel. Aber darüber hinaus braucht Luther noch eine Aussage über das, wovon er sich durch Christus erlöst weiß: wovon, wodurch, wozu hat Christus mich erlöst? Das „wovon" schießt also über das, was der Artikel selbst enthält, hinaus. Dagegen läßt Luther nicht nur das „niedergefahren zur Hölle" auf der Seite liegen*), sondern auch den ganzen, im Artikel selbst sehr wichtigen Satz von der Wiederkunft Christi zum Gericht. Letzteres hat seinen Grund darin, daß der Gedanke des Endgerichts mit seinem persönlichen Glaubensverhältnis zu Christus nichts zu tun hat; er spricht darüber im 3. Artikel.

Bei der Besprechung selbst wird sich herausstellen, wie sehr die Behandlung der beiden Beifügungen „wahrhaftiger Gott, vom Vater !) Der Ausdruck hat schon vielen Schwierigkeiten gemacht, zumal der griechische Text selber mehrdeutig ist. Die „Hölle" ist hier nicht der Ort der Verdammten, sondern Übersetzung des griechischen Hades, Totenreich. Und

auch bei Einsetzung dieser richtigen Übersetzung fragt sich, ob damit — gegen­ über gewissen im 2. Jahrhundert umlaufenden Meinungen — bloß gesagt

sein soll, daß Jesus wirklich und wahrhaftig gestorben sei, oder ob dabei an ein Hinabsteigen Jesu zu den Geistern der Abgeschiedenen im Sinn von

1. Petr. 3, 19.20 gedacht ist. Mit dem „niedergestiegen zu den Toten" hat sich schon früh der fromme Mythus zu schaffen gemacht.

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in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jung­ frau Maria geboren" erleichtert wird, wenn wir sie nach Betrachtung des Werkes Jesu zur Sprache bringen.

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Wovon hat Christus mich erlöst?

Es war lange üblich, das Christentum überhaupt als „Erlösungs­ religion" zu bezeichnen. Heute weiß man, daß der Begriff für das Christentum zu eng ist. Schöpfung und Neuschöpfung (Heiligung) gehören so notwendig dazu wie die Erlösung. Aber allerdings ist dem Christentum die Erlösung unentbehrlich. Wir wollen sehen, in welchem Sinn. Die ausgesprochenste Erlösungsreligion, die es gibt, ist der Buddhismus. Er ist ganz daran ausgerichtet, daß die Welt vom Leiden voll ist, von dem loszukommen sein ganzes Sinnen und Trach­ ten ist. Hier tritt das Verneinende, das im Wort „Erlösung" liegt, voll heraus, weil es gar kein positives Ziel der Erlösung gibt, sondern das Loskommen vom Leid des Lebens im Loskommen vom Lebens­ hunger und schließlich vom Leben selbst, im Verlöschen (Nirväna) liegt. — Bei allen kräftigeren Völkern und in allen kräftigeren Religionen ist daS Ziel der Erlösung ein positives, die Erlösung ein Durchgang zu neuem, besserem Leben. DaS gilt erst recht von der willenskräftigsten Religion, dem Christentum, dem es sich nicht um Erlösung vom Leben, sondern um die zu wahrem, vollkommenem, ewigem Leben handelt. Der wichtigste Unterschied zwischen buddhistischer und christlicher Erlösungslehre liegt aber darin, daß die Erlösung bei beiden inhalt­ lich etwas völlig Verschiedenes ist. Dem Jünger des Buddha ist das mit dem Lebenshunger unlöslich verbundene Lebensleid die Last, die er loswerden will, dem Jünger Jesu dagegen das Böse, das Unrecht, die Schuld. Deshalb kann sich der Buddhajünger selbst erlösen, ja er muß eS tun; denn die Last des Lebensleides wird man schließlich nur so los, daß man den Lebenshunger selbst abwirft. Schuld kann man nicht sich selbst abnehmen, weder Schuld vor Gott, noch solche gegen­ über Menschen. Sie will vergeben sein. Christlicher Glaube kennt auch die Not des Lebensleides und weiß, daß es Not ist, und daß wir Recht und Pflicht haben, diesen Nöten

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nach Kräften zu begegnen. Aber er weiß, daß die Not der Ungerechtig­ keit, der Sünde, der Schuld die viel schlimmere ist, daß sie auch aller übrigen Not erst ihr Gift und ihre Bitterkeit gibt, auch wenn viele sich gar nicht deffen bewußt sind, wie elend diese Not sie macht: „Der

mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, ge­ wonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels." Ich habe daö Wort des Katechismus vor Kindern immer mit sehr großer Vorsicht und Zurückhaltung behandelt; hier streift das, was Luther auf Grund des eigenen Erlebnisses auszusagen hat, die Grenze deffen, was Kindern in Wahrhaftigkeit zugänglich ist. Welches nor­ male Kind von 14—15 Jahren fühlt sich denn wirklich als „ver­ lorener und verdammter" Mensch? Und wenn man in ihnen das Ge­ fühl der Verlorenheit und Verdammtheit künstlich zu erwecken sucht, so ist das einfach nicht wahr. Daß man oft hier ungeschickt verfahren ist, hat mit Anlaß dazu gegeben, daß viele später von dem „Sünden­ getue" und „Sündengewinsel" deö Christentums nichts mehr haben wissen wollen. Bei Kindern muß mit unserem Satz besonders behut­ sam und verantwortungsbewußt umgegangen werden. Man wird ver­ suchen, ihnen einiges von dem Satz schon ein wenig verständlich zu machen — das ist durchaus möglich, ohne daß dabei die jugendliche Frische und Tatfreudigkeit beeinträchtigt wird -, und ihnen sagen,

daß sie ihn in seiner vollen Tiefe und seinem ganzen furchtbaren Ernst noch nicht verstehen. Luther hat das Wort aus dem heraus gesprochen, was bei ihm selbst erfahrene, furchtbare Wirklichkeit geworden war. Es ist der Ertrag seiner Klosterkämpfe, von denen er sagt, er hätte in ihnen erfahren, wie eö in der Hölle auSsieht. Man hat schon gesagt, Luther wäre der richtige Melancholiker gewesen, der sich mit Kleinigkeiten quälte und darüber allen Lebensmut verlor. Sie hätten ihm im Kloster mit Recht gesagt, er solle sich nicht immer mit seinen „Puppensünden" zu schaffen machen. Aber mit diesen „Puppensünden" hat es eine ganz eigne Bewandtnis. Luther ist im Kloster aufgegangen, daß nicht erst die Tat den Menschen gut oder schlecht macht, sondern das Herz, aus dem die Tat entspringt. Und so sehr er sich mühte, auch seine Gesinnung ganz rein zu machen, auf einen letzten Schaden stieß er immer wieder: er tat, was er tat, nicht aus wirklicher Liebe zu Gott, sondern aus Angst vor Gottes Gericht, also schließlich um seiner selbst willen. Daß

immer er selbst im Mittelpunkt seines Wollens stand, und nicht das, was Gott von ihm haben und aus ihm machen wollte, das vergiftete all sein Tun, auch das nach außen hin beste und frömmste, um das er sich abmühte, und verdarb es in seiner Wurzel. Ist das eine „Puppen­ sünde", wenn dem Menschen klar wird, daß seine natürliche Ich­ sucht, die alles, was er anfaßt, leistet und unternimmt, letzten Endes immer auf sich selbst bezieht, auf seinen Nutzen, auf seinen Ruhm, auf seine Geltung, auf seine Ehre unter den Menschen, ja auf seine Gerechtigkeit vor Gott, — daß eben diese natürliche Ichsucht ihn von dem Gott trennt („verloren") und ihn vor dem Gott schuldig macht („verdammt"), dem er im Grunde seines Wesens gehört, und der ihn zum Werkzeug seiner heiligen Güte brauchen will? Wir heben uns für später auf, wenn wir beim 3. Artikel von der Sündenvergebung reden, ausführlicher darauf einzugehen, daß Luther nichts ferner liegt als die Neigung, das, was der Mensch im Verkehr mit den anderen Gutes, Rechtschaffenes, Treues, Wahrhaftiges, Auf­ opferungsvolles zu leisten vermag, gering zu schätzen. Hier kommt es darauf an einzusehen, daß, wenn wir uns in rücksichtsloser Gewisienhaftigkeit prüfen, wie Luther sie gegen sich selbst geübt hat, durch alles, was wir tun und leisten, doch schließlich die Liebe zum eigenen Ich, durch alle Tünche und alle Selbsttäuschung hindurch, uns als das an­ grinst, worum sich letzten Endes all unser Treiben und Tun dreht. Nur muß diese Erkenntnis zur Verzweiflung führen, wenn nicht noch etwas anderes hinzukommt. Deshalb ist es kein Wunder, daß die, die von diesem anderen nichts wissen, sich entschlossen von der Selbstpein dieser Selbstprüfung abwenden und sie für eine Torheit halten. An den anderen fällt ihnen der selbstsüchtige Einschlag unwillkürlich auf und wird sehr unangenehm empfunden, namentlich wenn er sich zu unseren Ungunsten auswirkt. Bei uns selber sehen wir nicht so scharf und urteilen nicht so streng. — Ein sehr törichtes Gerede meint, solcher Ernst der Selbstprüfung und die daraus folgende Schonungslosigkeit gegen sich selbst sei jüdisch. Jesus hat sich bei den Juden gegen das selbstgerechte Pharisäertum wenden müssen, nicht gegen die Er­ kenntnis der Sünde und der Schuld. Es mit sich selber streng nehmen, statt bloß über die anderen sich aufzuhalten, steht wahrlich gerade dem aufrichtigen deutschen Manne wohl an. Und Luther deutet mit keinem Worte an, daß wir die Mängel, die wir an uns vor Gottes Auge finden, vor den anderen ausposaunen sollen. Was wir mit Gott auS-

zumachen haben, das soll zwischen Gott und unö bleiben - wie Jesus will, daß wir beim Fasten nicht sauer sehen wie die Heuchler. (Matth. 6, 16.)

„Vor den Menschen ein Adler, vor Gott ein Wurm" - so hat Ernst Moritz Arndt Luther verstanden. Aber Luther will nicht, daß

wir so im allgemeinen uns dem Gefühl hingeben: wir sind mit dem Einschlag von Selbstsucht, den wir an uns haben, nicht, wie wir sein sollen. DaS ist bloß Stimmung, bei der für ein wirkliches Erlöst­ werden nichts herauskommt. Wir müssen sehen, wo es uns fehlt,

sonst kann uns nicht geholfen werden. Wir werden dabei nicht Zeit

haben, alles so bis ins einzelne aufzuspüren, wie'ö der Mönch Luther getan hat. Davon hat gerade e r uns für die Zukunft freigemacht. Aber

wir sollen die Augen für das aufmachen, was wir an Unrecht gegen Gott und die Menschen bei uns finden. Deshalb gebraucht Luther die Mehrzahl „von allen Sünden", damit wir es mit dem genau nehmen, was wir von einem Tag zum andern Böses denken, reden und tun — vielleicht aber auch Gutes tun. Wir dürfen beim Blick in uns selbst auch Gott danken, wenn er'S uns einmal hat gelingen lassen, über unsere Selbstsucht hinaus und von uns selbst loszukommen.

Aber nun kommt schier das Wichtigste: „Vom Tod und von der Gewalt des Teufels." Es handelt sich nicht bloß um das, was wir im einzelnen Gutes unterlassen und Unrecht getan haben. Es handelt sich darüber hinaus darum, daß wir gegen das stumpf werden, womit Gott zu unserm Herzen und Gewissen redet. Natürlich meint Luther mit dem „vom Tode" nicht bloß diesen „geistlichen" Tod. Aber er ge­ hört ihm zum natürlichen Tod wesentlich hinzu. Und eS ist eine furcht­ bare Sache, wenn man merkt, wie man gröber und stumpfer wird gegen das Unrecht um uns her und bei uns selbst, wie wir härter werden gegen die Menschen an unserer Seite und gleichgültiger gegen ihr Weh. — „Von der Gewalt des Teufels" - das ist das Er­ schreckendste, daß wir so leicht Handlanger und Werkzeug des Bösen werden, wenn es uns erst einmal an irgendeiner Stelle gepackt hat. Das erfährt man immer wieder an sich selbst, sobald man erst darauf achten gelernt hat, wie man sogar da, wo man für Recht und Wahr­ heit eintreten will, Knecht der Leidenschaft, der Erbitterung, des Hasses wird. „So du niederfällst und mich anbetest" — das hat der Versucher zu Jesus gesagt. Aber Jesus hat ihn abgewiesen.

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Luther weist auf all das hin, nicht um sich und andere damit zu quälen — die Selbstquälerei der Zeit, wo er das Evangelium noch nicht verstand, hatte er längst von sich getan, als er den Katechismus schrieb. Sondern es sollen uns dadurch die Augen geöffnet und das Herz empfänglich gemacht werden für das, was der Glaube am Er­ löser erfahren kann. Ehe Luther das „von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels" schreibt, ist vorher das Wort ge­ schrieben: „erlöst, erworben, gewonnen". Im Licht der Erlösung selbst wird uns die Not, aus der uns Erlösung kommen muß, erst völlig klar. Luther hat deshalb das Hineinfahren des richtenden An­ spruchs Gottes in unsere satte Selbstbetrügerei als ersten Zug seiner Gnade bezeichnet. Denn ohne Gottes unerbittliches Gericht über unser

eigenes natürlich-selbstisches Wesen gibt eö keine Erlösung im Sinne deS Evangeliums. ¥

Wodurch hat Christus mich erlöst? „Nicht mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen, teuren Blut und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben." Wir lassen selbstverständlich alle Auseinandersetzungen mit den Theorien beiseite, in die man im Lauf der Geschichte der Christen­ heit das Erlösungswerk Christi durch seinen Kreuzestod einzufaffen

versucht hat. Wir werden uns auch nicht bemühen, eine eigene Theorie über die Bedeutung des Kreuzes Christi aufzustellen. Wir versuchen lediglich, uns darüber klar zu werden, ob jeder einzelne von uns in Wahrhaftigkeit den Satz Luthers nachsprechen kann: daß Jesus Christus mich erlöset hat mit seinem unschuldigen Leiden und Ster­ ben. Ein Mensch, den sie vor beinahe 2000 Jahren in Palästina zu Tode gemartert haben, wie schon vor und nach ihm mancher treffliche Mensch schmählich umgebracht worden ist — was hat das für mich zu bedeuten? Natürlich kann es für mich nur dann etwas bedeuten, wenn ich mich persönlich um daS kümmere, was da geschehen ist. Es kann keiner über das Kreuz Jesu wirklich ein Urteil abgeben, der dabei an dem vorbeisteht, wie Jesus ans Kreuz gegangen ist. Das gilt nicht nur von den vielen, die heute abschätzig vom Kreuz reden. Es gilt auch von sehr vielen, die sich zu Jesu Kreuz bekennen, indem sie irgendeine

Lehre über die Erlösungsmacht des Kreuzes Christi nachsprechen. Es ist ebenso wie mit dem Unterschied zwischen Schöpfungsgedanken und SchöpfungSglaub en, von dem wir früher geredet haben. Er­ lösungsgedanken können an sich recht gut und richtig sein; aber ErlösungSglaube kann nur bei dem wachsen, der sich mit dem, den er Erlöser nennen soll, selbst zu schaffen macht. Wir haben früher gesehen, wie Jesus an sein Werk gegangen ist, um den Menschen aus Sünde, Schuld und Verderbnis heraus zu Gott zu helfen. Und zwar so, daß er ihnen nicht bloß sagt, waö Gott ist und was er von ihnen haben will, sondern so, daß er in der Menschen Schuld, Schicksal, Not mit hineingeht, barmherzig mit unter dem leidet, was sie von Gott fernhält und sie zu Gottes Feinden macht. Denn die unheimliche Macht des Bösen und der Schuld kann auf gar keine andere Weise offenbar und (eben in diesem ihrem Offenbar­ werden) gebrochen werden als dadurch, daß der Kampf gegen die Sünde und ihre Macht im Namen und Auftrag Gottes von einem lebendig wollenden, fühlenden Menschen ausgenommen und bis zu Ende durchgeführt wird. Von einem Menschen, der alle Bos­ heit und Hinterlist, alle Gewalt und Härte des Bösen in ihrem An­ sturm gegen ihn selbst hat erfahren müssen, um durch das alles hin­ durch Gottes unwandelbare Wahrheit und Treue zu dem Sieg zu bringen, der die Menschen ergreift und bezwingt. Man kann das Furchtbare der Sünde, der Ichsucht und der Bosheit, nicht dadurch wegschaffen, daß man sich mit dem Gedanken beruhigt, die Sünde sei gar nicht so schlimm. Gott selber nehme eS damit nicht so genau, er sei geduldig und langmütig und wolle die Menschen nicht zugrunde gehen lassen in seinem Zorn. Wohl ist Gott geduldig und langmütig ohne Maß; er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten, und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte. Aber zum Leben Gottes, das das Leben der Wahr­ heit, der Gerechtigkeit, der Treue, der Liebe ist, kommt man nur so, daß einem das Verkehrte, Verderbliche, Schuldhafte unseres selbst­ süchtigen und lieblosen Wesens und Treibens ohne Beschönigung und Selbsttäuschung auf die Seele fällt, indem der im Gehorsam und in der Vollmacht des heiligen allmächtigen, guten Gottes vor uns steht und nach uns greift, der die Treue hält durch alle Untreue hindurch, der lieben kann durch allen Haß hindurch, der in der Liebe Gottes und der Menschen bleiben kann durch alle Greulichkeiten eines grausamen

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Todes hindurch. Dazu ist Jesus in des Vaters Auftrag an das Kreuz gegangen, sein Leben hinzugeben zu einem Lösegeld für die vielen. So hat er seinen Jüngern beim letzten Mahl den Sinn seines Sterbens gedeutet: sein Sterben das Opfer, daß sie durch dies sein Sterben das neue, wahre Leben finden*). Das ist die Erfahrung, die im Angesicht des Gekreuzigten durch die Jahrhunderte hindurch Millionen gemacht haben und immer von neuem machen bis auf diesen Tag. Das ist die Erfahrung, zu der auch wir immer wieder aufgerufen werden, indem wir unter daö Kreuz Jesu treten. Jesu Kreuz schwächt den fürchterlichen Ernst der Sünde, der Ich­ sucht und der Lieblosigkeit, so wenig ab, daß unter seinem Kreuz das alles erst recht in seiner vollen Greulichkeit und Verworfenheit er­ scheint. Aber um so Heller leuchtet durch das Dunkel die unüberwind­ liche, unwiderstehliche Macht einer aus Gott geborenen Liebe, die ihr Leben läßt, nicht nur für ihre Freunde, sondern für eine Welt, die sie nicht kennen will. Freilich ist das Kreuz Jesu für viele nur ein inhaltloses Sym­ bol, die Erlösung durch den Gekreuzigten nur eine Lehre. Oder es ist, was sie unter dem Kreuz erleben, eine Sache bloßer Stim­ mung, die nicht bis an ihr Letztes greift. Ja, eine Bachsche Passion,

das läßt man sich gefallen, da geht man schon mit, wenn man so durch Tiefen und auf Höhen geführt wird. Aber Bachs PassionSmusik ist sein Bekenntnis; sie spricht aus, was er selber unterm Kreuz wahr­ haftig, nicht bloß stimmungsmäßig, durchgemacht hat. Und deshalb greift sie ans Gemüt. Paulus kommt 1. Kor. 1, 18-25 darauf zu reden, daß der Kreuzestod dessen, der für sich in Anspruch nahm, von dem allmäch­ tigen Gott gesandt zu sein, auch damals von vielen sehr abschätzig beurteilt worden ist. Den Griechen ist es törichtes Gerede gewesen, daß das gequälte Sterben eines armen Wanderlehrers für das große Weltgeschehen irgend etwas bedeuten solle. Und die Juden, die von dem Gottgesandten den äußeren Erweis der Macht Gottes erwarteten, haben das Wort vom Kreuzestod des Gottgesandten für Gottes­ lästerung gehalten. Wir wissen, daß dem Paulus selbst Jesu Kreuzes­ tod zuerst ein Gegenstand stärksten Anstoßes gewesen ist. Bis er am

*) Um Wiederholungen zu vermeiden, verweise ich auf das S. 84 über das letzte Mahl Jesu Gesagte.

Kreuz Christi die GotteSkraft erfahren hat, die das Leben der Er­ lösung bringt. Denn als der auch für ihn Gekreuzigte hat Jesus über ihn Gewalt gewonnen, ist er der Herr geworden, dem er mit all seinem Leben, mit seinem Wirken und Leiden gehört: „Ich lebe aber, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben." (Gal. 2, 20.) Zweck und Ziel der Erlösung durch Christus besteht nicht bloß darin, uns irgend etwas abzunehmen, was uns quälend und peinlich war, sondern uns zu neuem Leben zu bringen. Das weiß auch Luther aus eigener Erfahrung. * Wozu hat Christus mich erlöst?

„Auf daß ich sein eigen sei, und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit, gleich­ wie er ist auferstanden von den Toten, lebet und regieret in Ewigkeit." Wir haben früher (S. 89) gesehen, daß die Bedeutung des Ostererlebniffes für die Jünger nicht sowohl darin lag, daß sie Unerhörtes er­ lebt haben, als vielmehr darin, daß sie vermittels jener unerhörten Ge­ schehnisse Jesu als ihres lebendigen Herrn inne geworden sind. Unter seiner Herrschaft und unter seiner Führung hat für die Seinen ein neues Leben angefangen, ein Leben mit weltgeschichtlichen Leistungen, die schlechterdings erstaunlich sind, bis auf den heutigen Tag. Wir werden von dem Leben der Christenheit beim 3. Artikel eingehend zu reden haben. Hier hebt Luther aus dem, was dort zu sagen ist, das eine, Grundlegende heraus: daß Jesus Christus für mich und in mir

lebendig ist, daß ich ihm gehöre. „Auf daß ich sein eigen sei." Ich habe doch neulich tatsächlich irgendwo gelesen: in aller scheinbaren Bescheidenheit sei Jesus un­ geheuer anspruchsvoll und herrschsüchtig gewesen, habe von den Men­ schen verlangt, daß sie sich ihm unterwerfen sollten. Man sieht, auf was für Ungereimtheiten die Menschen verfallen, wenn sie über Dinge des Glaubens von außen, wo möglich von vorgefaßten Meinungen aus, urteilen wollen, statt aus der Erfahrung des Glaubens selber heraus. Als ob schon einer wirklich Jesu eigen geworden wäre wegen der Herrschaftsansprüche, die Jesus an ihn stellt, und nicht vielmehr dadurch, daß er sich hier einem gegenüberfindet, der nichts für sich will, 171

sondern alles für Gott und für die Brüder. So unzulänglich hier Vergleiche sind, sei doch auf etwas wenigstens einigermaßen Ähnliches

hingewiesen: wodurch gewinnt denn die Mutter oder sonst ein ge­ liebter Mensch den Einfluß auf unö, von dem wir unser Leben lang nicht loskommen? Die Ansprüche, die sie für sich selbst an uns stellen, beeinträchtigen höchstens die Stetigkeit und Reinheit deö Ein­ flusses, den sie auf unö auöüben. Wo immer einer wirklich in Jesus seinen lebendigen Herrn gefunden hat (viele sagen eö bloß; was Jesus von dem Herr, Herr-Sagen denkt, hat er Matth. 7, 21 deut­ lich genug ausgesprochen), da hat Jesus ihm Herz und Gewissen ab­ gewonnen in der Beugung vor der heiligen Wahrhaftigkeit und in der Ergriffenheit durch die reine Güte seines Wesens, seines Lebens und Sterbens. Waö „Jesu eigen Sein" ist, darüber läßt sich zu anderen nicht viel sagen, weil eö eine Sache innerster Bewegtheit ist und sich deshalb in verschiedenen Formen auöwirkt je nach der Art dessen, der Jesu eigen geworden ist. Vom schlichten, redlichen Gehorsam deö Jüngers Jesu gegenüber den Weisungen, die er von ihm empfängt, biö zur innigen, gefühlswarmen Hingabe an den, der der Seele Licht und Reichtum geworden ist. Wir sollen uns deshalb auch nicht zu Gericht setzen über die Art, wie andere Jesus begegnen. Daö aller­ dings kann und muß gesagt werden, daß die Begegnung und Aus­ einandersetzung mit Jesus sich nicht vollziehen darf in Form gefühliger Tändelei, die der Ehrfurcht vor Jesus als unserm Herrn Eintrag tut. Das wirkliche Einöwerden mit Jesus als unserm Herrn vollzieht sich so, „daß wir in seinem Reiche unter ihm leben und ihm dienen in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit". Sein Reich ist nichts anderes als daö Reich, in dem Gottes Wille herrscht. Und diesem Willen Gottes will gehorcht werden in gewissenhaftem Dienst, im Trachten nach Gerechtigkeit, im Meiden der Schuld, der Ichsucht, der Lieblosigkeit, der Boshaftigkeit. Daö heißt unter Jesus leben. Daö heißt Jesu eigen sein! Eö ist mit dem durch die Zeiten hindurchschreitenden Werk deö lebendigen Herrn nicht anders als mit dem Werk, daö Jesus auf Erden auözurichten hatte. Eö muß in einer Welt voll Sünde und Ungerechtigkeit seinen Weg gehen, und der Kampf mit dem Bösen hört nicht auf: daö Licht scheinet in der Finsternis. Der König des Reiches der Wahrheit und der Barmherzigkeit hat kein anderes Mit­ tel seiner Herrschaft als daö deö Zeugnisses von der Wahrheit und

dem Leben Gottes, des Zeugnisses seines Wortes und seiner Tat. Der lebendige Herr ist ja kein anderer als der, der durch die Fluren Galiläas gewandert ist und auf Golgatha am Kreuz gehangen hat. Aber kraft der Wahrheit und Mächtigkeit seines Wortes und seiner Tat übt er seine Herrschaft durch alle Weiten der Völkerwelt und ihrer Geschichte: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme." (Joh. 18, 37.) Die Christenheit, in der er sein Werk hat und durch die er sein Werk führt, ruht auf keinem anderen Grund als auf dem einen: Jesus Christus, unser Herr. ¥ Aber wie kann man von einem Menschen der Geschichte auSsagen, daß er in dieser Weise der Menschheit Gottes Erlösung ge­ bracht hat und immer noch bringt? Bedarf eS dazu nicht gewisser Voraussetzungen, die ihn aus der Reihe der der Sünde und dem Tod verfallenen Menschen herausheben? Das, was die Christenheit von ihren Anfängen an im Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes zum Ausdruck gebracht hat? — Ist nicht die Anerkennung der Gottessohnschaft Jesu die Voraussetzung jedes Erlösungsglaubens, der nicht in der Luft schweben soll? In Wahrheit liegt die Sache umgekehrt. An dem, was Jesus als Erlöser wirkt und gibt, wird dem Glauben klar, wer da bei uns am Werke ist. Ein Mensch in allerechtester Menschlichkeit in Freude und Trauern, in Arbeit und Kampf, in Leiden und Mitleiden: unser Bruder, unser Mitgenoß, daß jeder Versuch, in vermeintlicher Wah­ rung seiner göttlichen Ehre das Menschhafte an ihm abzuschwächen, seiner Ehre als des Erlösers der Menschen zu nahe treten würde, die

von ihm menschlich ergriffen und gewonnen werden. Und doch wie­ der bis ins Letzte hinein der, in dem Gottes Wahrheit, Gottes Güte, Gottes heilige Gerechtigkeit allen Widerständen und Anfech­ tungen zum Trotz ins Dunkel der Sünde und des Todes übermächtig hereinbricht und hineinwirkt. Mehr, ganz anderes als nur Prophet, der allerlei Wahres und Gutes und Tiefes von Gott zu sagen weiß. Der, in dessen Art und Wesen wir, um Luthers Ausdruck zu ge­ brauchen, „dem Vater ins Herz sehen". „Wer mich sieht, der sieht den Vater" (Joh. 14, 9) antwortet Jesus bei Johannes dem Phi­ lippus auf seine Bitte, daß er ihnen den Vater zeigen solle. Wer ihn

sieht, der bekommt zu erfahren, was der Vater ist und mit uns will. Das menschgewordene Wort Gottes an die Menschheit, an dich, an mich - das ist der, zu dem sich der Glaube als zu seinem Herrn und Erlöser bekennt. Wie er das sein kann, daö ist GotteS Geheimnis: „Niemand kennt den Sohn, denn nur der Vater." (Matth. 11, 27.)1) Freilich hat der Menschengeist in seinem Drang, auch die Geheimnisse des Wesens GotteS zu ergründen, sich nicht an die Warnung gehalten, die damit ausgesprochen ist. Die Griechen, denen „Erkenntnis" das Oberste und Höchste war, haben erkennend das Wesen Gottes und Jesu Christi als des Sohnes GotteS, der doch nach dem biblischen Bericht wahrhaftiger Mensch war und eS auch bleiben sollte, auf allerlei Formeln gebracht und haben damit das Verhältnis der göttlichen und menschlichen „Natur" in Jesus Christus zu bestimmen versucht. (Die Bibel redet nicht von GotteS „Natur", sondern von seinem heiligen allmächtigen, guten Willen.) Dabei war aber das biblische Zeugnis von Jesus so mächtig in der alten Kirche, daß man schließlich lediglich zu der Formel kam, daß göttliche und menschliche Natur in Jesus Christus gegeben seien, die beide nicht miteinander vermischt, auch keine um der anderen willen verkürzt werden dürfe. Luther, der nie von Gott anders gedacht hat als von dem Gott des heiligen all­ mächtigen, guten Willens, hat auch die Formeln der alten Kirche nie anders verstanden als von dieser Willenhaftigkeit GotteS aus. So hat er auch das Wort von den zwei Naturen Christi nicht anders auf­

gefaßt, als daß darin von seinem wahrhaft göttlichen und zugleich wahrhaft menschlichen Willen die Rede sei, und hat in diesem Sinn die alten Sätze ohne Schwierigkeit übernommen: „wahrhaftig Gott und wahrhaftig Mensch". Wahrhaftiger Gott ist mißverständlich, weil man darunter verstehen könnte, Jesus sei ein wahrhaftiger Gott neben dem Vater, woran in der Kirche, von vereinzelten Entgleisungen abgesehen, nie jemand gedacht hat: Gott ist einer in Zeit und Ewig­ keit. Daß Jesus Christus wahrhaftig Gottes Art und Wesen an sich hat und uns offenbar macht (der eingeborene, d. h. eine, Sohn vom Vater, voller Gnade und Wahrheit), davon werden wir durch das, was die Schrift uns von ihm zeigt, ebenso im Glauben über­ zeugt, wie diese seine wahrhaftige göttliche Art der Wahrhaftigkeit

*) Vgl. auch S. 53-55.

seiner Menschlichkeit nicht den geringsten Eintrag tut. Er beruft uns ja auch dazu, daß wir Söhne Gottes werden. Allerdings mit dem ungeheuren Unterschied, daß er die Gottessohnschaft schlechthin, die völlige Einheit mit dem Vater, in allem und jedem ungebrochen und unerschüttert zeigt, während wir durch ihn zur Kindschaft Gottes berufen und gebracht werden sollen. Der Hebräerbrief (4, 15) drückt daS, um was es sich handelt, einfacher aus: „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleid haben mit unseren Schwach­ heiten, sondern der versucht ist allenthalben gleichwie wir, doch ohne Sünde." „OhneSünde" ist wohl zu sehr nur verneinend ausgedrückt; wir möchten es gerne bejahend haben. So halten wir es lieber mit Paulus (2. Kor. 5, 19-21): „Gott war in Christus und ver­ söhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu, und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung ... Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde ( = Opfer für die Sünde) gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (= Menschen, die durch Gott erlöst und neu geworden sind)."

Von der Heiligung Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christ­ liche Kirche, die Gemeine der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung deö Fleisches und ein ewiges Leben. Was ist das?

Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesum Christum, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und er­

halten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, er­ leuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben. Im welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt, und am jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird, und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird. ¥

Warum brauchen wir überhaupt noch einen 3. Glaubens­ artikel? Man sollte denken, mit dem, was wir vom Schöpfer und vom Erlöser gesagt haben, hätten wir eigentlich genug: „Des alles ich ihm zu danken und zu loben, und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin." „Auf daß ich sein eigen sei, und in seinem Reich unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Selig­ keit." Das genügt doch. Es ist tatsächlich so, daß viele auf evan­ gelischem Boden mit dem 3. Artikel nichts Rechtes anzufangen wissen. Nachdem Luther die zauberhafte Wunderwirkung des katholischen Priestertums und seines Sakramentswesens abgetan und alles auf daö

klare Verhältnis von Wort und Glaube abgestellt hat, scheint das Reden vom Heiligen Geist eigentlich mehr ein Überlebsel aus ver­

gangenen Zeiten zu sein. Luther selbst hat anders gedacht und empfunden. — Wohl hat er dem ein Ende gemacht, daß das „Heilige" irgendwie in magischer Weise

mit sachlichen Mitteln verbunden gedacht und den Menschen ein­

geflößt wird. Dafür hat der evangelisch erzogene und gewöhnte Mensch kein Verständnis mehr; er kann sich höchstens stimmungsmäßig in eine solche Art von Frömmigkeit hineinversetzen und nachfühlend verstehen, daß anders Gewöhnte auch daran etwas haben können, so daß er sie des­ halb nicht gering achten wird. Aber die „Heiligkeit" Gottes selbst hat Luther so stark empfunden wie irgendeiner. DaS Übergewaltige, Un­

aussprechliche, Geheimnisvolle, das alles Verstehen und Begreifen Übersteigende, dem gegenüber dem staubgeborenen Geschöpf des Augen­

blicks nichts anderes übrigbleibt, als davor in Ehrfurcht stillezustehen. Und dies Stillestehen vor dem heiligen Geheimnis Gottes beschränkt

sich nicht auf die Dunkelheiten und Rätselhaftigkeiten im Natur­ geschehen und in der Gestaltung unseres Lebensschicksals —

davon

haben wir unter dem Stichwort „Schöpfung" geredet. Das Geheim­

nis Gottes ist auch da, wo es sich um das handelt, was wir von seinem allmächtigen, guten Willen zu vernehmen imstande sind. Auch da ist alles ins Unbegreifliche des Geheimnisses eingetaucht. Wie Jesus bei Johannes sagt: „Es kann niemand zu mir kommen, eö sei denn, daß ihn ziehe der Vater." (Joh. 6, 44.) Daß auf Grund dessen, was Jesus Christus zur Erlösung der Menschheit gelehrt, getan, gelitten hat, Menschen geworden sind und immer wieder werden, die Jesu Ruf hören, ihn in sich aufnehmen, unter ihm leben, durch ihn neu werden — da ist immer Gottes Geheimnis dabei. Und das Geheimnis dieser Neuschöpfung Gottes bringen wir zum Ausdruck, wenn wir vom „Heiligen Geist" reden. Es ist ein Unterschied zwischen den Rätselhaftigkeiten der Schöp­ fung und dem Geheimnis der Neuschöpfung Gottes durch den Heiligen Geist. Hier hat das Geheimnis einen festen Kern und Mittelpunkt in dem, was durch Jesus Christus vom heiligen allmächtigen, guten Willen Gottes offenbar und zugänglich gemacht ist. — Die Aus­ wirkungen des Heiligen Geistes beziehen sich nicht in erster Linie auf die Gemütsbewegungen und Erschütterungen bis zum Außersichsein 12

Eger, Evangelischer Glaube

(Ekstase), in denen andere Religionen daö von der Gottheit Ergriffen­ werden vor allem finden und verehren. In der ältesten Christenheit

machte sich auch anfangs die Ergriffenheit durch das Neue, Unerhörte, daö für sie aufgebrochen war, in Zuständen höchster Erregtheit und

Bewegtheit geltend (man denke an die Pfingstgeschichte, Apg. 2, 1 ff.). Aber von allem Anfang an (vgl. den Fortgang der Pfingstgeschichte,

Apg. 2, 38) erscheinen als das Wesentliche nicht solche Erregungs­

zustände, sondern die bußfertig glaubende Anerkennung Jesu als des lebendigen Herrn. Nur im Gehorsam gegen ihn hat man das neue Leben. Gegenüber der Neigung, die namentlich in Korinth groß ge­ wesen zu sein scheint, Äußerungen absonderlicher seelischer Erregung

als Zeichen des Besitzes besonderer Geisteskräfte zu schätzen, hat Pau­

lus Glaube, Hoffnung, Liebe als das einzige eingeschärft, was bleibt, wenn all die außerordentlichen Gaben vergangen sind. (1. Kor. 13.)

Bloße Begeisterung, mag sie sich noch so bewegt und aufs höchste ge­

steigert zeigen, ist immer nur Strohfeuer, wenn sie nicht in den Dienst eines klaren, zielbewußten, zum Dienst und Opfer bereiten Wollens tritt. Das erfahren wir auch sonst; der jungen Christenheit ist die nüch­ terne Dienstbereitschaft und Opferwilligkeit von allem Anfang an als daö Wesentliche des Glaubens an Jesus als den Herrn eingehämmert worden. Deshalb zeichnet sich die junge Christenheit, die den Geist Christi in sich lebendig fühlt, bei aller Höchstspannung des GemütSlebenS, von der wir in den Schriften reichlich Spuren finden, doch vor allem aus durch die nüchterne Gewissenhaftigkeit und den ungeheuren Ernst, dazu durch die erstaunliche Tapferkeit, mit der sie in den Dienst und die Gefolgschaft dessen tritt, der für sie ans Kreuz gegangen

und als der Auferstandene ihr lebendiger Herr geworden ist. Die ersten Christen sind mit dem allen keine reinen Engel geworden. Sie trugen ihres Menschentums Menschlichkeiten weiter an sich auch in der neuen Zeit. Das Neue Testament kennt gar nichts von Schön­ färberei in bezug auf den tatsächlichen Zustand der Gemeinden. Aber sie haben etwas bekommen, was sie trotz alledem, was sie noch vom „alten Menschen" an sich tragen, auf einen neuen Boden stellt. Der Herr, der der Geist ist (2. Kor. 3, 17), wirkt in ihrer Mitte, ruft durch treuer Zeugen Wort und Tat fortwährend auf zum Kampf zwi­ schen Geist und Fleisch, zum Wandel in dem Geist, der als die Kraft ihres wahren Lebens an sie heran und in sie hinein getreten war. —

Aber wie kommen wir dazu, wo wir doch vom Heiligen Geist reden wollen, noch einmal ein Bild neutestamentlichen Gemeindelebens zu zeichnen? Weil daS, was der christliche Glaube „Heiliger Geist" nennt, nicht ein starrer Begriff ist, sondern glutvoll Lebendiges. Als bloßer Begriff ist es um den „Heiligen Geist" eine recht fragwürdige Sache. Wo man weder bei dem, der vom „Geist" redet, noch bei sich selber etwas vom Wehen des Geistes spürt, da weiß man nichts Rechtes damit anzufangen, wie leider mehr als eine Pfingstpredigt beweist. Deshalb ist es gut, wenn man sich da, wo vom Heiligen Geist zu reden ist, wieder einen Eindruck von dem verschafft, was für die junge Christenheit der Heilige Geist gewesen ist. Denn etwas haben die Menschenhäuflein, die die ersten christlichen Gemeinden bildeten, vor allen späteren Geschlechtern vorausgehabt. Sie standen unter dem unmittelbaren Eindruck dessen, was ihnen die Männer zu bezeugen hatten, denen Jesus von Nazareth durch Tod und Auferstehung hin­ durch der sie völlig bezwingende und neuschaffende Herr geworden war. Der Jesus von Nazareth, mit dem die Jünger gegessen und getrunken, den sie schmählich im Stich gelassen hatten, als es zur letzten Entscheidung ging. Es ist wie der Frühling mit seiner über­ quellenden Blütenpracht und all den ungeheuren Lebensenergien, die darin spürbar werden. Der Frühling, der s o nicht wiederkehrt. Wenn man auch hier und da auf dem MissionSgebiet, und gottlob nicht so ganz selten auch auf dem Boden der altgewordenen Christenheit solch frühlingshaftes Sprießen und Blühen finden kann, wo alles ver­

dorrt und erkaltet schien. Und wie eS den einzelnen immer wieder erfahrbar wird, vielleicht wo keiner eö gesucht und geahnt, wie die Christrose aufblüht mitten im kalten Winter. ¥

Luther weist unö in unserem Artikel einen anderen Weg, wenn wir unö über daS Wirken des Geistes Gottes klar werden wollen — denn anders als an seinem Wirken kann man seiner nicht inne werden. Sonst sind eö bloße Geistesgedanken, und das gibt keinen Geist­ gauben. Luther schickt uns mit unserem Nachdenken in uns selbst hinein, ob wir da etwas finden, woran uns das Wirken des Geistes

verständlich werden kann. 12

179

„Sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten." Luther beschränkt das, wodurch wir den Ruf des Geistes Gottes vernehmen und fein Ziehen an uns spüren sollen, auf das Evan­ gelium. Er ist dabei in Übereinstimmung mit dem, was wir vorhin von der ältesten Christenheit erfahren haben. Das war die wichtige Erkenntnis, die Luther im Kampf mit den Schwärmern aufgegangen ist: Glaube und Wort Gottes gehören zusammen. Glaube: das sind nicht irgendwelche Stimmungen und Gefühle, seien sie mystischer oder pathetischer oder sentimentaler Art, vielleicht mit irgendwelchen Phantasiegebilden, die man aus diesen Stimmungen herauswachsen läßt. Weil Gott der heilige allmächtige, gute Wille ist, muß der Glaube sich an das halten, was nach Gottes Willen gut ist, und was der Herr von uns fordert. Das muß dem Glauben gesagt werden. Dadurch aber wird erst das, was uns über Gott und seinen Willen gesagt wird, Wort Gottes an uns, daß es uns im Innersten, im Her­ zen und Gewissen berührt, uns nicht zu allerlei Gedanken über Gott, sondern zu Gott selber ruft. — ES drohen immer die beiden Abwege. Auf der einen Seite bleibt es bei der bloßen Lehre von Gott, die nur unser Denken beschäftigt, aber uns nicht wirklich anspricht und bewegt. Auf der anderen Seite bleibt eS bei dem schwebenden, frommen Gefühl: „In Gott ein sel'ger Untergang." Nur dem Glauben wird daö Wort lebendig, und nur durchs Wort wird der Glaube klar und zielbewußt. „Durch das Evangelium berufen." Berufen ist mehr als bloßes Rufen. Berufung ist da, wo der Ruf nicht nur die Ohren oder aber auch den kühlen Verstand trifft, sondern zum Herzen geht und das Gemüt bewegt. Daß uns das Evangelium in solcher Weise Ruf zu Gott wird, lebendiger Ruf zum lebendigen Gott, daö können wir von uns aus nicht machen, das ist das Werk des Heiligen Geistes. Am deutlichsten hören wir den Ruf

meistens dann, wenn er plötzlich über uns kommt: ein Aufgerüttelt­ werden unserer Seele aus trägem Dahindämmern durch irgendeine Begegnung, durch irgendein Schicksal, sei eS erfreuender und beglücken­ der, sei eö erschütternder Art. Aber daö stete, stille Rufen der gleich­ laufenden Tage hat auch seine Wirkung, deren wir uns dann vielleicht auf einmal bewußt werden: was will Gott von mir, mit mir? Wir

wissen ja meist gar nicht, was wir alle dem verdanken, daß wir als Kinder getauft worden sind, als Kinder von der Weihnachtsgabe Gottes gehört und gesungen haben, daß das Kreuz des Karfreitags schon in unser Kinderleben hineingetreten ist. Was wir von uns aus dazu tun können, daß Gottes Ruf im Evangelium zu uns dringt, das beschränkt sich darauf, daß wir nicht leichtfertig an Gottes Ruf, äußerlich oder innerlich, vorübergehen, daß wir es mit unserm Tun wie mit unserm Schicksal ernst nehmen, daß wir wahrhaftig sind. DaS ist auch das einzige, worauf es bei uns ankommt, wenn aus dem Rufen Gottes Erleuchtung wird. Daß uns ein Licht aufgeht über unS selbst, über daö, was wert, und das, was unwert ist, obgleich es uns vielleicht lange ergötzt und gefallen hat. Ist das mein Leben, was ich bisher daraus gemacht habe? Auch die Erleuchtung über das, was wir den Menschen an unserer Seite zu sein und zu geben haben, und was wir ihnen oft auf so unverantwortliche Weise schuldig ge­ blieben sind. — Auch hierüber läßt sich so inö allgemeine hinein nicht viel sagen, weil das jeder in sich selber durchmachen muß. Und wenn eS dann wirklich dahin kommt, daß in dem gedanken­ losen oder stumpfsinnigen oder genießerischen oder leidenschaftlichen Dahingetriebenwerden durch Arbeit, Lust, Sorgen und Leiden unserer Tage die Seele zu sich selber kommt und Gott in unser Leben hinein­ tritt, nicht der Gott, den wir uns wünschen, sondern der, der wirklich Gott ist, dem unser Glück und Leid, unsere Arbeit und Sorge, unser Leben und Sterben gehört — da hebt sich dann das andere an bis zum Ende unserer Erdentage: „Im rechten Glauben geheiligt und er­ halten". Rechter Glaube, das ist etwas völlig Andersartiges als Rechtgläubigkeit. Rechtgläubigkeit geht auf richtige Gedanken über Gott — die wollen wir wahrlich nicht gering achten; aber davon allein lebt man nicht. Rechter Glaube, das ist das, was uns mit dem Gott, der uns gerufen und an sich gebunden hat, innerlich vereint, daß wir ihn nicht wieder loSlaffen im Kampf mit den Anfechtungen und Versuchungen des Lebens und unseres eigenen Herzens. Rechter Glaube ist kein ruhender Besitz, sondern etwas, um das wir immer von neuem kämpfen müssen, aus dem wir immer wieder zu fallen drohen, und zu dem wir immer wieder zurückfinden dürfen, weil Gott barmherzig ist. Rechter Glaube hat auch immer die Buße bei sich, die Hinkehr zu Gott in Abkehr von dem, was verkehrt und unrecht ist. Denn man kann zu Gott nicht „ja" sagen, wenn man zu seinem Unrecht

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nicht „nein" zu sagen willig ist. Wie bei alledem Gottes vergebende Gnade Grundlage, Tragkraft und Triebkraft ist, davon wird später zu reden sein. Luther hat eS noch besonders herausgestellt, obgleich es

genau besehen mit hierher gehört. Man hat ein gutes Werk zu tun gemeint, indem man Stufen der Heilsordnung von der Wiedergeburt bis zur vollendeten Heiligung aufstellte. Luther weiß davon nichts. Die Aufstellung einer „Heils­ ordnung" ist einerseits unmöglich, weil Gottes Wege mit den Men­

schen, die er ruft und die ihn suchen, viel zu mannigfaltig sind, als daß wir sie in eine Schablone pressen könnten. Sie ist aber auch gefährlich, weil sie menschlichem Meinen und Bemühen einen Spiel­ raum zuweist, der allein Gottes Walten und Führung zusteht. Es könnte sein, daß einer auf der letzten Station angekommen zu sein meint, der wieder ganz von vorn anfangen muß. Es geht in Gottes Neuschöpfung so reich und mannigfaltig zu wie in seiner Schöp­ fung. — Am allerwenigsten haben wir über andere das Urteil ab­ zugeben, wieweit sie in der Heiligung im rechten Glauben gekommen sind. Wir sollen auch nicht von unseren Auseinandersetzungen mit Gott im Ringen um den rechten Glauben und in den Kämpfen des Glau­ bens selbst zu anderen reden, es sei denn, daß wir einem, der uns helfen kann, das Herz auszuschütten das Bedürfnis haben, oder aber unserseits einem andern wirklich damit helfen können. Im allgemeinen droht allem Reden zu anderen über das, was wir mit Gott durchleben, die Gefahr, daß wir uns selbst damit herausstellen wollen. Von dem, was wir mit Gott durchmachen und an ihm erfahren, sollen die anderen dadurch etwas merken, daß wir treuer im Dienst, zuverlässi­ ger in der Pflichterfüllung, wahrhaftiger, gerechter, hilfreicher, barm­ herziger werden. Im Sinn des PauluSworteS: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Herrschaft über sich selbst." (Gal. 5, 22.) ¥

„Gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiliget und bei Jesus Christus erhält im rechten einigen Glauben." Nachdem wir uns einigermaßen klarzumachen versucht haben, was es mit dem Wirken des Geistes Gottes an uns selbst auf sich hat, sind wir in der Lage, an den Zusammenhang heranzugehen, der zwischen

dem Wirken des Geistes Gottes und der sogenannten Christenheit, der Kirche bzw. den Kirchen, besteht. — Was mit Jesus Christus in

die Welt gekommen ist, das konnte geschichtlich nur so wirksam werden, daß Menschen, die sich zu Jesus Christus als dem Bringer des Heils bekannten, dies ihr Bekenntnis zu Christus zu anderen weitertrugen und sich mit diesen in einer Bekennerschaft ver­ banden. In den Anfängen der Christenheit wird dieser Tatbestand in

den Hintergrund geschoben, weil man sich so stark unter dem unmittel­ baren Bewegtwerden durch den Geist Gottes fühlte, daß man von eigenem Anschluß an die Gemeinde gar nicht sprach (Apg. 2, 41: „wurden hinzugetan an dem Tag bei 3000 Seelen")» Daß ein solcher Anschluß doch vorlag, ergibt sich daraus, daß die „Hinzu­ getanen" sich taufen ließen. Aber in der Taufe selbst wird wieder die Tat Gottes erfahren. Es bleibt kennzeichnend auch für die weitere Geschichte der Chri­ stenheit, daß die Kirche sich nie als bloße Religionsgesellschaft im Sinn des freien Zusammenschluffes solcher, die dieselbe religiöse Überzeugung haben, gefühlt hat. Derartige Gedanken tauchen erst unter Einflüffen von außen her im 17./18. Jahrhundert auf, haben aber regelmäßig

den Glaubensgedanken der „unsichtbaren Kirche Christi" zur Er­ gänzung bei sich — wenn man überhaupt noch im Zusammenhang mit der „Christenheit" bleibt. Der Werdegang der jungen Kirche in den Katholizismus hinein ist dadurch gekennzeichnet, daß das die göttliche Wahrheit und die Wirksamkeit der göttlichen Gnadenkräfte verbürgende und spen­ dende kirchliche Amt je länger je mehr den Mittelpunkt des KirchenwesenS bildete. Die Bekennerschaft des einzelnen spielte dabei zunächst noch eine sehr wichtige Rolle, bis zum Martyrium hin. Mit dem Übergang zum VolkSkirchentum im Mittelalter versteht sich die Zu­ gehörigkeit zur Kirche für die Glieder des Volkskörpers von selbst (Kindertaufe). Die kirchliche Anstalt mit ihren Ämtern, AmtSgnaden

und Amtögerechtsamen war die irdische Erscheinung der Kirche Jesu Christi. — Zwischen diesen beiden Polen der Vergöttlichung der Kirchenanstalt im Sinn des Katholizismus und der Vermenschlichung der Kirche zur bloßen Religionsgesellschaft steht das lutherische (über­ haupt reformatorische) Verständnis der Kirche (der „Christenheit") mitten inne, indem im äußeren Kirchenwesen zwischen dem unter­ schieden wird, waS Gott darin tut und wirkt, und dem, wie die Men-

schen der Kirche dies Wirken Gottes in ihrem Menschlichen erfassen und einfassen, es auch mit ihrem Menschlichen verengern, verhärten und verderben. Die Christenheit ist unserem Glauben so wenig in ihrer äußeren Daseinswirklichkeit das Leib gewordene Volk Gottes, wie der einzelne Christ in seiner äußeren Daseinswirklichkeit das Leib gewordene Kind Gottes ist. Es handelt sich im einen wie im anderen Fall um die Beziehung des Menschen zu Gottes Ruf und Tat, um das von Gott in Anspruchgenommenwerden und zu seinem Dienst Verpflichtetwerden. DaS alles gibt dem reformatorischen Verständnis der Kirche seine Wahrheit, aber zugleich eine Tiefe, die das volle Verständnis erschwert, ja für innerlich Unbeteiligte fast unmöglich macht. Daraus erklärt sich, daß so viele mit dem evangelischen Kirchentum nichts Rechtes anzufangen wissen, weil sein Wesentliches nicht auf seiner Oberfläche, sondern darunter in der Tiefe liegt. Die Frage der äußerlich rechtlich verfaßten und geordneten Kirche deS Evangeliums ist gerade heute so wichtig geworden, daß sie einer eingehenderen Behandlung bedarf, die über den Rahmen dessen hinauS-

geht, womit wir uns hier zu beschäftigen haben. DaS deutsche evan­ gelische Kirchentum ist nur im Zusammenhang mit seinem geschicht­ lichen Werdegang zu verstehen und paßt in kein Kirchenschema hinein, daö man von außen her an eS heranbringen will. Gerade wie unser deutsches Volk selbst nicht nach von anders woher genommenen Maß­ stäben politisch schematisiert werden darf. Hier geht eS uns um die Betrachtung des kirchlichen Wesens und Lebens vom Standpunkt des Glaubens aus, unter dem Gesichtspunkt, wie darin durch menschlichen Dienst und in menschlicher Einfassung Gottes Wirken spürbar wird. Der Dienst der Christenheit, die sich zum Evangelium bekennt, spitzt sich darauf zu, daß sie die Wahrheit und die LebenSmacht des Evangeliums vor den Menschen zu bezeugen hat. Vor allem durch die Verkündigung des göttlichen Wortes, aber auch durch die Tat, und mitten durch alle menschliche Schwachheit und Un­ zulänglichkeit hindurch. Immer in der Verantwortung vor Gott selbst und getragen und getrieben von seiner vergebenden und erneuernden Gnade, aus Glauben zum Glauben. Ob berufsamtlich oder als nicht beamtetes Glied der Christenheit, ist eine (natürlich an sich sehr wichtige) Sache der Ordnung, von der hier nicht geredet werden kann. Zweifellos tut eine Mutter, die zum erstenmal ihr Kind die Händchen zum Gebet falten läßt, an diesem ihrem Kind einen Dienst,

wie ihn kein Pfarrer und kein Bischof in gleicher Eindrücklichkeit zu leisten vermag. (Allgemeines Priestertum der Gläubigen!) So wiederholt Luther, wenn er von der Christenheit redet, all die Ausdrücke, die er vorher vom Wirken des Geistes an dem einzelnen gebraucht hat. Ein Doppeltes fügt er hinzu: „sammelt" und „bei Jesu Christo erhält im rechten einigen Glauben". WaS bedeutet das? — Luther weiß, daß das Verhältnis zum lebendigen Gott keine Privatsache des einzelnen ist, daß wirklicher evangelischer Glaube, wie er in der Gemeinde entsteht, auch zur Gemeinschaft führt, zur Ge­ meinde der Gläubigen, damit aber zum Dienst deS Bruders an den Brüdern. Das hat den Heiden an der ältesten Christenheit neben ihrem Zeugenmut den stärksten Eindruck gemacht: „Sehet, wie lieb fle einander haben!" Und eö gehört wohl zu den schlimmsten Schäden des landläufigen Christentums, daß die Verbindung unserer Be­ ziehung zu Gott mit dem, was wir unserm Nächsten in der Christen­ gemeinde, in HauS, Beruf, Volk an Liebe und Treue in Helfen und Heilen, in Tragen und Mittragen schuldig sind, oft so stark gelockert ist, daß man kaum mehr etwas davon merkt. Man darf Glaube und Liebe nicht voneinander scheiden; sonst verkümmert der Glaube, und auch der Liebe geht verloren, waö sie zu ihrem Letzten und Tiefsten bringt. Dasselbe meint das „einigen" beim Glauben. Der Glaube ist kein rechter Glaube, wenn er sich darin erschöpft, sich um der Wahrheit willen gegen andere abzusetzen. Wohl können wir nicht wider die Wahrheit, sondern nur für die Wahrheit. Aber wenn die Wahrheit die Liebe vergißt, ist eS nicht mehr die Wahrheit Jesu Christi. Zu JesuS Christus uns durch alles hindurch zurückzurufen, was uns vom Wirken des Geistes in der Christenheit gesagt worden ist: das zeigt uns Luther als die Krönung des Ganzen, zugleich als das Band, das alle Einzelaussagen zusammenhält, ihnen ihr letztes Ziel und die Richtung weist. ¥ „In welcher Christenheit er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt."

Auch bei dem, was er über die Sündenvergebung zu sagen hat, hält Luther uns in der Gemeinschaft der Gläubigen. Gewiß han­ delt eö sich dabei um etwas, was letzten Endes jeder für sich in der unmittelbaren eigenen Verantwortung vor Gott erleben muß. DeS-

halb heißt e6 nicht: „mir samt allen Gläubigen", sondern „mir und allen Gläubigen" — die einzelnen werden als solche nebeneinander­ gestellt, jeder vor Gott. Eine allgemeine Amnestie ist bloßer Straf­ erlaß; wenn e6 sich bei der Sündenvergebung nur um Erlaß göttlicher Strafen handelte, könnte sie auch inö allgemeine hin aus­ gesprochen werden, und dann brauchte im einzelnen nicht mehr davon die Rede zu sein. Aber was uns von Gott vergeben werden muß, das ist die Schuld unserer falschen inneren Stellung zu Gott und damit unmittelbar zusammenhängend unseres gottwidrigen Verhältnisses zu den Menschen, mit denen wir zusammen sind. Und die Vergebung der Schuld bedeutet für uns, daß der heilige Gott trotzdem noch uns in seiner Gemeinschaft haben will, so daß wir von neuem mit ihm anfangen dürfen. Deshalb soll daö Wort von der Vergebung in der Christenheit im Schwange gehen und den erschrockenen Gewissen immer wieder zugesprochen werden. Im öffentlichen Gottesdienst wie in der Beichte und nicht zum wenigsten im Heiligen Abendmahl, ver­ stärkt und versiegelt durch das Mahl der Gemeinschaft mit dem, der auch für uns gestorben ist und in uns lebendig sein will. Das ist daö Wort von der Vergebung der Sünden, wie es Jesus gehandhabt hat: „Sei getrost, deine Sünden sind dir vergeben!", und wie er es seinen Jüngern weiter zu verwalten befohlen hat. Das Wort war für Luther das Kleinod, das ihm immer von neuem den Mut und die Kraft gegeben hat, eö auf Gottes gnädiges Erbarmen zu wagen, seines Lebens Nöte und Anfechtungen zu ertragen und die ungeheure Arbeit zu tun, die er zu leisten berufen ward. Aber Luther hat selbst bitter darüber geklagt, daß die Predigt von der Vergebung der Sünden schmählich mißbraucht werde, indem die leichtfertigen Gesellen sich leichten Herzens auf sie verließen und die zarten, feinen Gewissen sie nicht auf sich zu beziehen wagten. Es ist mit dem Wort von der Vergebung ein sehr ernsthaftes, innerliches Ding, mit dessen Verwaltung die Kirche des Evangeliums sehr verantwortungs­ bewußt umgehen muß. Es kann ebensowohl mißbraucht werden im Sinn der Abstumpfung der Gewissen wie im Sinn der GewiffenSängstigung, zu der man greifen zu müssen glaubt, um einen leicht­ fertigen Gebrauch des Wortes zu verhindern. Daß heute so viele gerade an dem Wort von der Vergebung An­ stoß nehmen, ob in der groben Form des Hohnes über das Sünden­ getue und Sündengewinsel der Christen, oder aber so, daß sie für sich

nichts Rechtes damit anzufangen wissen, hat zum Teil seinen Grund darin, daß das Wort tatsächlich oft, wenn auch in bester Meinung, nicht richtig gehandhabt oder gebraucht wird. Von solchen Mißständen abgesehen, hat die Abneigung gegen das Wort, die heute sehr weit verbreitet ist, im wesentlichen zwei Gründe. Einmal: Man glaubt, die Vergebung nicht zu brauchen, weil man von einer Verantwortung vor Gott gar nichts mehr weiß. Entweder läßt man die Dinge überhaupt ohne Gott laufen und ist höchstens darauf bedacht, unter den Menschen ein anständiger Kerl zu sein. Auch nach der Tiefe deS Kantschen kategorischen Imperativs, der von einer unbedingten Verpflichtung zur Entscheidung für das Gute weiß, versteht man die Regungen des GewiffenS, soweit sie überhaupt vorhanden sind, nicht mehr. Es ist mehr ein gewisses Unbehagen über Mißachtung sozialer Verpflichtungen, mit dem man meistens nicht allzu schwer fertig wird. Der Mönch Luther mit seiner Klage: „meine Sünde, meine Sünde!" erscheint wie eine Gestalt aus einer fremden Welt. — Andere, die noch an eine Verantwortung vor Gott glauben, denken sich das Verhältnis Gottes zu den Menschen etwa im Sinn des ganz oberflächlich verstandenen IesuSworteS, daß Gott seine Sonne aufgehen läßt über die Bösen und Guten und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte. Über die Gewissensregungen, die hier

oft stärker sind als im ersten Fall, kommt man meist auch verhältnis­ mäßig leicht hinweg, indem man sich vornimmt, sich künftig vor dem Unrecht, dessen man sich jetzt schämt, zu hüten. — Wenn die Leiden­ schaft zu stark ist, die unS auf Wege treibt, die wir selbst an anderen nicht billigen würden — Gott wird schon ein Einsehen haben. Von einer „Beleidigung" Gottes durch unser Verhalten (die Beleidigung GotteS denkt man sich dabei sehr nach menschlichem Muster) kann natürlich keine Rede sein — dafür ist Gott viel zu groß und erhaben,

und auch viel zu gütig. Der andere Grund der Abneigung gegen das Wort von der Sündenvergebung liegt darin, daß man in dem Wort eine Ab­ schwächung oder gar Zerstörung der sittlichen Energie und Leistung deö Menschen sieht. Daß alle vor dem heiligen Gott der Vergebung der Schuld bedürfen, daS scheint den Unterschied zwischen anständigen und unanständigen, rechtschaffenen und liederlichen, gütigen und bos­ haften Menschen in unerträglicher Weise zu verwischen. Luther hat darüber ganz anders gedacht. Er hat die bürgerliche Rechtschaffenheit,

die Weisheit des tüchtigen Fürsten, die Gerechtigkeit des Richters, die pflichttreue Tapferkeit des Soldaten immer sehr hoch gehalten, den rechtschaffenen, treuen, tüchtigen Mann als solchen als eine köst­ liche Gabe Gottes gepriesen. Und die Rechtsbrecher und Lumpen sollte die gerechte Strafe des Gesetzes treffen. Denn in der Welt muß Recht und Ordnung fein. Das ist Gottes Wille. Das vor Gott Schuldig­ sein hat mit der bürgerlichen Rechtschaffenheit oder Verworfenheit nur insofern etwas zu tun, als die Verachtung menschlichen Rechts auch zur Verachtung Gottes selber führt. Das evangelische Wort von der Vergebung der Sünden kann überhaupt nur von denen verstanden werden, die wissen, was es mit der reinen Heiligkeit des allmächtigen, guten Gottes und mit der Gemeinschaft mit ihm auf sich hat, zu der wir im Glauben von Gott berufen werden. Deshalb ist es klar, daß bei streitigen Auseinander­ setzungen über das Wort von der Sündenvergebung nichts heraus­ kommen kann, da ein gemeinsamer Boden, auf dem der Streit von beiden Parteien geführt werden könnte, nicht vorhanden ist. Da diese meine Ausführungen schwerlich den Weg zu denen finden werden, die vom evangelischen Glauben und seinen Lebensäußerungen über­ haupt nichts wissen wollen, hat es kaum Zweck, nach dieser Seite hin die Bitte auszusprechen, man möchte doch darauf verzichten, über Dinge abzuurteilen, die einem selbst unzugänglich, dagegen anderen von größter Lebenswichtigkeit sind. Dagegen muß für die, die das Wort von der Vergebung im Sinn des Evangeliums ernst nehmen, noch einiges Wichtige gesagt werden. So wichtig es ist, daß der Ruf zur Buße und im Zusammenhang damit das Wort von der Vergebung in der Kirche des Evangeliums nicht verstummt, so dürfen wir doch nie anderen vorschreiben, in welcher Weise sie die Wirkung des Wortes an sich erfahren müssen. Alle Methode, alle künstliche Bußquälerei u. dgl. ist ein Eingriff in das souveräne Wirken des Geistes Gottes. Deshalb soll man auch mit den Erfahrungen, die man selber hier gemacht hat, nicht auf den Jahrmarkt gehen und sie vor den anderen zur Schau stellen, wie es in besonders auffälliger Form in der Heilsarmee geschieht. Das ist nicht nur unkeusch; es droht auch sehr die Gefahr pharisäischer Über­ heblichkeit. DaS Wort von der Vergebung wird schädliches Gerede, wenn man eS nur zur Beruhigung des Gewissens bei sich und anderen

braucht. Es ist nicht bei allen, auch ernsten und gewissenhaften Men­ schen die Angst und die Unruhe deS Gewissens so groß, wie sie bei Luther nach seiner persönlichen Veranlagung und Führung war. Für viele wird eS vielmehr notwendig sein, daß sie die Seite deS Wortes von der Vergebung besonders in acht nehmen, wonach das Wort zu gestärkter Entschlossenheit im Dienste Gottes und an den Brüdern ruft. Denn ohne das ist der Trost des Wortes bare Selbsttäuschung. Bei vielen ist der Aufruf des Paulus zum Kampf des Geistes wider das Fleisch der geeignetere Ausdruck für das mit dem Wort von der Vergebung Gemeinte. In der Sache kommt es auf dasselbe heraus. Aber viele brauchen mehr Antrieb als Beruhigung. Sonst werden sie faul. Das Wort von der Vergebung ist nicht die Sache irgendwelcher Stimmung, sei es verzagter, sei eS getrösteter, sondern ein Wort neuen Lebens!

Tod und Ewigkeit Bei Luther geht es in der Auslegung des 3. Artikels nach dem Wort von der Vergebung der Sünden ohne einen Einschnitt weiter: „und am jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird, und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird." —

Hat für Luther der Tod wirklich so wenig bedeutet, daß er das, was nach dem Tode kommt, in alle Ewigkeit hinein, einfach mit „und" an

das anknüpft, was wir in unserer winzig kurzen Erdenzeit an Wir­ kungen des Gottesgeistes erfahren haben?

Für unser allerunmittelbarstes Empfinden wird doch alles da­ mit völlig anders, daß der Tod kommt und uns alle nimmt, die seither mit uns gingen, und alles, was wir bisher unser eigen nannten — und uns selbst das liebe oder müde Leben. Wir machen alle ganz unwillkür­ lich mit dem Tode den Strich unter unser Leben, oder unter das der

Unseren, die im Tode von uns gehen, daß wir nie mehr ein Wort mit ihnen reden können. Das ist alles dahin und vorbei, mögen wir uns

dagegen sperren oder uns ihm fügen, weil doch nichts dagegen zu machen ist. — Dann ist der Unterschied, daß die einen für den, der ihnen gestorben ist, und für sich selber noch allerlei jenseits des Todes erwarten, während für die anderen hinter dem Tod das große Nichts steht. Es ist nicht zu verkennen, daß die Zahl derer, für die mit dem Tode alles aus ist, heute größer ist als früher. Krieg und Nachkriegs­

geschehen haben mit ihren Hekatomben von Menschenopfern daS Men­ schenleben so wohlfeil gemacht, daß man wenig Mut und Neigung hat,

ihm einen Wert zuzuschreiben, der über daS Sterben hinausreichen könnte — es sei denn im Nachruhm. Kein Wunder, daß man sich das ganze unheimliche Gefühl des Todes und dessen, was nach dem Tode kommen mag, möglichst aus dem Gesichtskreis rückt, sein Leben lebt, solange die Sonne scheint, und über das, was kommen oder nicht kommen mag, mit ein paar entsagenden oder tröstenden oder auch heldenhaften Worten möglichst geräuschlos hinwegzugleiten versucht.

Die eben weitverbreitete Stimmung, daß mit dem Tod alles aus ist, ist übrigens keineswegs ohne weiteres das Normale. Hundert Jahre früher hielt man die Unsterblichkeit der Seele für eine selbstverständ­ liche Wahrheit der natürlichen Vernunft. Und jene andere Stim­ mung ist bei uns im engen Zusammenhang mit der materialistischen Grundhaltung gewachsen, die, wie wir gesehen haben, im kapita­ listisch-antikapitalistischen Maschinenbetrieb und „Maffe"werden in weitesten Kreisen Wurzel geschlagen hat, und aus der wir uns eben erst wieder herauszuarbeiten beginnen. — Wie der Mensch zum Tode und zu dem, was jenseits deö Todes seiner wartet, steht, das hängt wesentlich davon ab, worauf er sein Leben stellt. Wer aufgeht in den Sorgen und Plagen und in der stetig dahinrollenden Arbeit wie in der kurzen Freude seiner Tage, für den heißt eS entweder, wenn er genießerisch eingestellt ist: Lastet uns effen und trinken; denn morgen sind wir tot! Oder, wenn er es ernster nimmt: Nach mir ein anderer! Wem etwas von der Blüte, dem Reichtum, der Feinheit und Tiefe menschlichen Daseins aufgegangen ist, der spricht vom Wieder­ aufgehen im All, aus dem wir hervorgegangen sind. Wer etwas von der Eigenart, der Eigenaufgabe des „Ich" begriffen hat, von Plato bis zu Kant, denkt den Gedanken der Unsterblichkeit. Und wer etwas von einer Verantwortung vor Gott weiß, vor dem steht der Gedanke deö Gerichts, durch das er nach dem Tod hindurch muß, in die Ewigkeit hinein, zu dem Herrn der Ewigkeit. Es muß aber noch etwas ins Auge gefaßt werden, um die Lage, in der sich die Menschen von heute dem Gedanken an das, was jenseits des Todes liegt, gegenüber befinden, richtig zu sehen. Alle Jenseitögedanken gehen, da der Tod unserm leiblich-seelischen Dasein unerbitt­ lich und unwiderruflich ein Ende macht, über die Grenzen aller irdischen Erfahrung hinaus. Wir können vom „Jenseits", wenn überhaupt, immer nur in Vorstellungen oder auch in Grundsätzen reden, die von dem aus gestaltet sind, was wir hier erlebt und erfahren haben. Frühere, unbefangenere Zeiten hatten keine Schwierigkeit, das, was sie vom „Jenseits" glaubten und dachten, in zum Teil sehr anschau­ lichen, lebensvollen Bildern zum Ausdruck zu bringen, deren Stoff den Formen unseres irdischen Daseins entnommen war. Diese Bilder wurden als vollgültiger Inhalt für den Jenseitsglauben gewürdigt. Dieser unbefangenen Verwendung irdisch bildhafter Ausdrucksmittel für das Jenseitige hat nicht erst die ungeheure Ausweitung unseres

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Weltbildes ein Ende gemacht. Man war sich bei weniger Naiven des Unzureichenden aller solcher Bilder schon längst bewußt. Aber die Entschränkung deS Weltbildes ins räumlich und zeitlich völlig Grenzenlose hinein scheint sehr vielen heute nicht nur Jenseitsbilder, sondern auch Jenseitsgedanken bildlosester Art unmöglich zu machen. ES erscheint als reine Vermessenheit, von dem winzigen Pünktlein menschlichen Erdendaseins aus in die Unermeßlichkeiten eines nach Raum und Zeit unausdenkbaren Geschehens hinein überhaupt denken zu wollen. — Dazu kommt noch der enge Zusammenhang des Leiblichen und See­ lischen, den uns die Naturwissenschaft immer eindrucksvoller hat sehen lehren. Es gibt heute Menschen genug, die bei freundlichster Gesamt­ einstellung zum Christentum doch erklären, sie könnten wegen dieses unlöslichen Zusammenhangs zwischen Leiblichem und Seelischem den Gedanken irgendeines jenseitigen Daseins, wie immer er begründet

werde, einfach nicht denken. Es wird auch hier wieder das Geratenste sein, sich an die Haltung Kants zu erinnern. Kant war, wie wir gesehen haben, in bezug auf die Erkenntnis der Erfahrungswelt ein Vertreter der strengsten naturwissenschaftlichen Methode, dazu ein scharfer Denker rücksichts­ losester Art. Aber er kommt um die Idee eines Wirkens des „Ich" über den zeitlichen Tod hinaus nicht herum, weil die sittliche Aufgabe, die der kategorische Imperativ des „du sollst" dem Ich deS Menschen stellt, in ihrer Unendlichkeit im Ablauf deS irdischen Menschenlebens nicht verwirklicht werden kann. Und die Möglichkeit der Verwirk­ lichung gehört zur Unbedingtheit der sittlichen Forderung, die doch als Tatsache erfahren wird, notwendig hinzu. Es bleibt das unzerstörbare Verdienst KantS, wie immer man die von ihm geprägten Formeln ab­ wandeln mag, daß er die Unmöglichkeit aufgewiesen hat, die Erkenntnisse unserer Sinneserfahrung und verstandesmäßigen Bearbeitung und die Erkenntnis, die sich uns aus der Tatsache des unbedingten sittlichen „du sollst" ergibt, aufeinander zurückzuführen. Zweifellos steht Kant mit seiner Lehre vom kategorischen Im­ perativ aufs stärkste im Zusammenhang mit dem Christentum. Aber gerade hier zeigt sich, wie das Christentum Antwort auf Fragen bringt, die die Menschheit seit uralten Zeiten bewegt haben, und zwar ent­ scheidend bewegt haben. Es ist von allergrößter Bedeutung, zu sehen, wie früh sich die in der Menschheit seit den ältesten Zeiten vorhandenen Vorstellungen von einem Fortleben der Seelen im Jenseits mit dem IY2

Gedanken der sittlichen Vergeltung verbunden haben. Dabei ist wichtig, daß aus dem Schattenleben, das die Abgeschiedenen im all­ gemeinen im Jenseits führen, die Bilder von den Strafen der Frevler sich sehr früh mit besonderer Schärfe herausheben. Das ist ein Zeichen dafür, daß hier nicht das menschliche Wünschen bildnerisch am Werke ist, sondern daß eS sich um die Anerkennung von „gut" und „böse" als des für den Menschen endgültig Entscheidenden handelt. Natürlich ist sowohl die Strafe wie die Belohnung im Jenseits als­ bald wieder ichisch gefaßt und verwertet worden. Aber der Ursprung liegt nicht im unstillbaren Lebenshunger des natürlichen Menschen, sondern in der unentrinnbaren Majestät des „Guten". Das ist selbstverständlich alles, von den Jenseitsbildern der uralten Menschheit bis zu den scharfgeschliffenen Gedanken KantS, kein ver­ standesmäßiger Beweis gegen den Satz, daß mit dem Tode alles aus ist. Aber das beweist es allerdings, daß der Satz nicht das einzige ist, was die Menschheit aus dem im Sterben des Menschen vorliegen­ den Tatbestand abgelesen hat. — Daö Phantastische der alten Jen­ seitsbilder ist für den Menschen unseres heutigen Weltbildes selbst­ verständlich dahin und abgetan. Kant selbst hat ja auch nicht nur alles Phantasiemäßige, sondern alles Vorstellungsmäßige überhaupt vom Gedanken der Unsterblichkeit deö „Ich" abgestreift. Eö bleibt nur die Idee der praktischen Vernunft in Form des Postulats. Das ist weder Jenseitshoffnung noch Jenseitsfurcht, hat mit unserm Wünschen oder Nichtwünschen nichts zu tun — es hängt alles lediglich an der Tat­

sache unserer unbedingten sittlichen Verantwortlichkeit. Deshalb stehen die schweren Erschütterungen des sittlichen Lebens und sittlichen Emp­ findens, durch die wir in den letzten Jahrzehnten hindurchgegangen sind, mit der Erschütterung der Ewigkeitsgedanken im unmittelbarsten Zusammenhang. — Wenn unser Auge im Tod gebrochen ist und wir den letzten Seufzer ausgehaucht haben, muß sich zeigen, ob das Gute, dem wir in letzter Verantwortung verpflichtet waren, nur ein Mittel zur Förderung, Erhöhung und Veredlung unseres natürlichen Lebens gewesen ist, oder aber das, was menschlichem Leben überhaupt seinen letzten Sinn gibt. Ob wir über das Gute von uns aus verfügen können, oder ob wir für das Gute (wir Christen sagen: für den Guten) da sind im Leben und im Sterben. * 13

Eger, Evangelischer Glaube

Wir haben bis jetzt das, was das Christentum zur Frage nach Tod und Ewigkeit zu sagen hat, absichtlich beiseite gelassen, weil eS sich bei der Frage um etwas handelt, dem überhaupt kein Mensch sich entziehen kann. Und was uns Gottes Offenbarung in Christus bringt, vollzieht sich auf dem Boden der Tatsachen unseres schöpfungömäßigen Menschentums. Nur daß alles nicht mehr im Menschen, seinen Be­ strebungen, seinen Wünschen, seinen Befürchtungen, seinen Hoff­ nungen seinen Mittelpunkt hat, sondern in dem, von dem und durch den und zu dem alle Dinge sind. Das geht bis in unser Sterben und bis in die Ewigkeit hinein. Jesus hat den Gedanken der Verantwortung des Menschen für die Art seiner irdischen Lebensführung mit großer Schärfe betont (Matth. 12, 36), dabei hervorgehoben, daß nicht die Bekennerschaft oder Nichtbekennerschaft Jesu den Maßstab des göttlichen Gerichts abgeben wird, sondern das Tun des Willens Gottes. (Matth 7, 21 — 23.) Im übrigen hat er keine Belehrungen darüber gegeben, wie eS im „Jenseits" aussieht oder auösehen wird. Dazu ist er nicht ge­ kommen. In der Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus (Luk. 16, 19 — 31) bejaht er in bildhafter Form den Gedanken, daß der Mensch nach seinem Tode dessen inne werden muß, was er aus seinem Leben hier gemacht hat. Aber der Mensch hat sein Leben richtig einzurichten nicht wegen dessen, waS ihm über das Jenseits durch Wiederkehr eines ins Jenseits Gegangenen äußerlich beglaubigt wird, sondern weil ihm (durch Mose und die Propheten) gesagt ist, waS Gott als recht und gut von ihm fordert. - Sehr bedeutsam ist auch die Art, wie Jesus die im Volk umlaufenden Vorstellungen von der Auferstehung der Toten zurechtstellt, mit denen ihn die Sadduzäer in die Enge treiben wollen. Der Gedanke, daß das Leben nicht mit dem irdischen Tod zu Ende ist, wird nachdrücklich bejaht. Er beruht aber nicht auf irgendwelchen äußerlichen Auferstehungserwartungen, sondern darauf, daß Gott nicht von Toten, sondern von Lebendigen Gott ist, daß die, die Gott im Glauben gehören, ihm leben. (Luk. 20, 27 — 38.) Das Wesentliche, waö Jesus für die Frage nach Tod und Ewigkeit zu bringen hat, liegt in dem, was er als Herrschaft des lebendigen Gottes in die Menschheit hineingewirkt hat und lebensmächtig hinein­ wirkt bis an der Welt Ende. Das Judentum hatte das Endgericht Gottes lediglich als Abrechnung darüber verstanden, was die Men­ schen von sich aus in ihren Erdentagen Gutes oder Böses geleistet

hatten. Jetzt bricht in dieses Gedankengefüge das überwältigend Neue hinein, daß das Leben des heiligen allmächtigen, guten Gottes hier auf Erden schon wirksam da ist, rettend, vergebend, erneuernd. DaS Ende wird darin bestehen, daß das, was hier in Verhüllung und Ver­ borgenheit angefangen hat, in Herrlichkeit in die Erscheinung treten wird. DaS OstererlebniS aber war für die Jüngerschaft Jesu das Siegel darauf, daß Jesus als ihr lebendiger Herr dies Werk der Rettung, Vergebung, Erneuerung in göttlicher Vollmacht weiter­ führen wird bis ans Ende der Tage — zur Vollendung. DaS sind die ebenso einfachen wie gewaltigen Grundtatsachen, an denen sich mit den Glaubensgedanken auch die Ewigkeitsgedanken der ältesten Christenheit ausgerichtet haben. Aber nun galt es für sie diese Glaubens- und Ewigkeitsgedanken mit dem Lauf der Welt auSeinanderzusetzen. Wir haben früher (Seite 104 ff.) ausführlicher davon gesprochen, wie das, was die älteste Christenheit an Jesus und an den Wirkungen seines Geistes erfahren hat, so übermächtig war, daß sie der Überzeugung waren, die äußere Vollendung stehe unmittelbar bevor. Daß man sich darüber hinaus auch stark Gedanken darüber gemacht hat, wann und wie das Ende kommen werde, ist menschlich nur zu verständlich, und das Buch der Offenbarung des Johannes ist dafür das eindrucksvollste Beispiel. Um so bedeutsamer ist die zuchtvolle Zurückhaltung, mit der Paulus, so lebhaft auch bei ihm die hoffende Erwartung deS nahen Endes ist, 1. Kor. 15 von diesen Dingen spricht. Er beschränkt sich auf die erfahrene Tatsache der Herrschaft deö lebendigen Herrn, aus der er Folgerungen zieht, ohne diese Folge­ rungen in Hoffnungsbilder einzukleiden. Am Ende seiner Gedanken über die Vollendung steht das Wort, das auf jegliche menschliche Durchleuchtung des Waltens Gottes verzichtet, und doch ein Wort letzter Zuversicht ist: „auf daß Gott sein wird alles in allen". (1. Kor. 15, 28.) Und in bezug auf das Schicksal des einzelnen heißt eS: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesus Christus." (1. Kor. 15, 55- 57.) Vgl. dazu auch 1. Theff. 4, 17: „Wir werden bei dem Herrn sein allezeit", und in bezug auf sein persönliches Geschick: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christus zu sein." (Phil. 1, 23.) — Übrigens hört auch in der Offenbarung des Jo­ hannes hinsichtlich der Beschreibung der Herrlichkeit selbst daS bild­ hafte Denken auf. Wohl bringt das Buch am Schluß leuchtende 13

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Bilder des himmlischen Jerusalem. Aber das Wesentliche bleibt der eine, in kein Bild zu fastende Gedanke: „Gott wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein." (Offenb. 21, 3.) Man braucht diesen neutestamentlichen Vollendungsgedanken bloß die Jenseitsphantasten nicht nur anderer Religionen (Islam!), sondern auch des Mittelalters gegenüber­ zustellen, um einzusehen, wie völlig verschiedenartig beides ift1). — Dem Ernst der Verantwortung wird damit nichts abgebrochen, daß die hoffende Erwartung der Vollendung bei Gott und in Gott das letzte Wort hat. Denn der Gedanke der Vollendung durchs Gericht hindurch wird auch für den Christgläubigen mit Nachdruck aufrecht erhalten, auch betont, daß als Maßstab dieses Gerichts kein anderer gilt als der des „gut" oder „böse" der eigenen Lebenshaltung. (2. Kor. 5, 10.) Besonders wirkungsvoll ist die Fastung, die Paulus dem Gedanken der Verantwortung Gal. 6, 7 — 8 gibt: „Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, daS wird er ernten." Luther führt aus all den mittelalterlichen Jenseitsbildern mit Himmel und Hölle und Fegefeuer zu den schlichten Grundtatsachen zurück, von denen die Ewigkeitsgedanken des Neuen Testaments be­ stimmt sind: „und am jüngsten Tag mich und alle Toten auferwecken wird, und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird". Darin ist dreierlei gegeben: 1. Es geht alles Geschehen dem Ziele zu, das der heilige allmächtige, gute (Sott ihm setzt. Das ist „der jüngste Tag". Wann? wo? wie? der jüngste Tag kommt, weiß Gott allein. Wir können uns darüber noch nicht einmal Gedanken machen. 2. Es steht nicht in unserem Belieben, ob wir in die Ewigkeit hineingehen wollen oder nicht. Wir werden der Verantwortung für das, was wir aus unserem Erdendasein gemacht haben, nicht entrinnen, i) Übrigens wollen auch diese phantastischen Jenseitsbilder nicht nach ihrer äußeren Phantastik gewürdigt werden, sondern danach, welche Grund­ einstellung gegenüber Leben und Sterben darin zum Ausdruck kommt. Man fühlt sich für daS verantwortlich, was man aus seinem irdischen Dasein im Guten oder im Bösen gemacht hat, und erwartet danach Strafe oder Lohn

in einer andern Welt. Daß hier höchst ernsthafte Anliegen menschlicher sitt­ licher Selbstbeurteilung und Zielsetzung hineinspielen, ist ebenso klar wie daö andere, daß diese Anliegen in stark veräußerlichter, ja ins Selbstische um­ gebogener Form zur Auswirkung kommen.

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ob's uns lieb ist oder leid. 3. Wir sollen durch Christus zum ewigen Leben Gottes kommen dürfen. — Dabei beschränkt Luther seine und unsere Gedanken bewußt auf das, was in Gottes Ewigkeit unser wartet. Er geht gar nicht auf daö ein, was aus den anderen in der Ewigkeit werden mag. Das geschieht nicht aus engherziger Gleich­ gültigkeit gegen daö Geschick der anderen, sondern aus selbstverständ­ licher Selbstbescheidung gegenüber dem, was nicht unsere, sondern GotteS Sache ist. Wir sitzen nicht mit auf Gottes Richterstuhl; wir wissen nur, daß wir uns vor Gott zu verantworten haben. Das andere liegt in Gottes Hand. — Das ist alles sehr bescheiden; wenn man will, sehr nüchtern. Aber es sind Gedanken, auf denen man stehen kann.

Unser christlicher Ewigkeitsglaube verliert dadurch nichts, daß wir uns keine Vorstellung davon machen können, wie das Ende kommen und wie es „drüben" aussehen wird*). Natürlich möchten wir gerne manches davon wissen, und des­ halb finden die, die meinen, Näheres darüber sagen zu können, immer wieder willige Hörer. Wir erinnern uns an den Abschnitt Ioh. 14, 1 — 6, wo Thomas auch erst über des „Vaters Haus" Bescheid wissen will, ehe er glaubt, sich dahin auf den Weg machen zu können. Jesus sagt ihm, daß er eö umgekehrt anfangen muß: er muß sich in der Richtung auf den Weg machen, die Jesus weist — dann wird er zum Vater kommen. Wie, das wird er schon erfahren, wenn er unterwegs ist. — Und in der Richtung dessen, was wir vom Vater durch Christus erfahren, dürfen wir dann auch wagen, da und dort ins Jenseits hinein zu denken. Natürlich in aller Bescheidenheit, als unser Meinen, wenn wir auch für diese unsere Meinung unsere guten Gründe haben. So macht sich Paulus (1. Kor. 15) Gedanken darüber, !) Es sei noch angemerkt, daß Luther dem Ausdruck „Auferstehung des Fleisches", der im Artikel selbst steht, sehr gram war. „DaS Fleisch gehört auf den Scharren" sagt er im Großen Katechismus. Er will statt dessen

„Auferstehung des Leibes", in dem Sinn, in dem Paulus 1. Kor. 15 das Wort gebraucht. Davon wird gleich noch zu reden sein. Übrigens hat auch der Ausdruck „Auferstehung des Fleisches" im Artikel selbst nicht die massive

Bedeutung, die ihm das Mittelalter beigelegt hat. Es ist im Gegensatz zum griechischen Gedanken von der Unsterblichkeit der Seele gemeint, der der tat­ kräftigen, wirkungsfähigen Lebendigkeit zu entbehren scheint. Auch weist die

„Auferstehung" auf Gottes Tat, während die „Unsterblichkeit" eine ur­ sprüngliche Veranlagung der Seele zu ewigem Leben zum Ausdruck bringt.

wie wir „drüben" existieren werden, und findet dafür den Ausdruck „geistlicher Leib" - ein „Wesen" nicht von Fleisch und Blut, auf Gott gerichtet und von ihm bewegt, mit der Fähigkeit, zu wirken. Aber

wie soll man sich so etwas vorstellen? Man soll eS gar nicht. — So ist mir für meine Jenseitsgedanken ein Zustand dämmernden, taten­ losen „TodeSschlummerS" unerträglich. Viele glauben davon reden zu müssen, weil im Neuen Testament vom „Schlafen" die Rede ist. Als man zwischen dem eigenen Tod und dem Aufgewecktwerden zum Leben der Vollendung höchstens ein paar Jahre warten zu müssen glaubte, konnte man gerne so lange schlummern. In unmeßbare Zeit­ räume hinein schlummern erscheint mir aber als Widerspruch gegen die Lebendigkeit Gottes. Gott wird uns weiter brauchen — er hat Raum

und Zeit genug dafür. Irgendwo, irgendwie. — Das andere ist mir persönliche Gewißheit: Das Band zwischen uns und den Menschen, die uns Gott hier gegeben hat, hört nicht auf, uns zu binden, weil sie an einen anderen Ort gegangen sind. Wir werden drüben wieder mit ihnen zu tun haben — vielleicht zur Wonne, vielleicht zum Gericht wegen dessen, was wir an ihnen versehen und verfehlt haben*). Das aber ist uns jetzt und hier gesagt und gewiesen: daß wir ihnen die Treue halten über den Schnitt des Todes hinweg. Denn in dieser Treue sieht das Ewige mitten in unsere Zeit hinein und gibt unserem Dasein hier einen Hintergrund und eine Tiefe, von denen alle zu sagen wissen, die diese andere Art deS Verkehrs mit ihren Ab­ geschiedenen selber kennengelernt haben. Hier handelt eS sich aber nicht um Jenseitsgedanken, sondern einfach umS Treu sein. Ich glaube, daß ich mit dem Ausgeführten Gedankenwege ins Jenseits hinein angedeutet habe, auf denen manche von denen, die dies lesen, schon gegangen sind. — Aber ich weiß auch, daß eS andere gibt, die, ob sie wollen oder nicht, mit ihren Gedanken an der Pforte des Todes stehenbleiben müssen; sie können nicht über den Tod hinaus denken. Wohl fehlt dem Glauben etwas, wenn er nicht über die Schwelle des Todes in Gottes Ewigkeit hinein zu schauen und zu gehen sich getraut. Aber Gottes Ernte vollzieht sich nicht nach unseren Jenseitsgedanken so oder so, sondern danach, ob einer in seinem Tun und Lassen auf den Geist gesät hat oder auf das Fleisch. DaS übrige muß Gott befohlen sein. i) Vgl. auch Paulus Philemonbrief Vers 15: „Vielleicht ist er (der Sklave OnesimuS) darum von dir gekommen, daß du ihn ewig wieder hättest." 198

Raum und Zeit sind unö heute grenzenlos geworden, so daß unsere Gedanken sie niemals fassen und ermessen können. Aber an den können und sollen wir uns im Gehorsam des Glaubens halten, der uns in dieser seiner unermeßlichen Welt in sein Leben hineinzieht, an den heiligen allmächtigen, guten lebendigen Gott! DaS ist das „Ende" in der Endlosigkeit alles Geschehens in Raum und Zeit: „daß Gott sein wird alles in allen". Die „alle" werden damit nicht aufhören, das Gott alles in ihnen ist. JmGegenteil!

Vom Beten Daö Vaterunser ist schon sehr früh in der Christenheit besonders wert gehalten worden. Auch später hat man eS stets als besonderes Heiligtum der Kirche angesehen und weiter überliefert. Ob eS immer im Sinn Jesu verstanden und gebraucht worden ist, ist eine Frage für sich. Jedenfalls ist das Vaterunser heute noch der allen christ­ lichen Kirchen ohne Ausnahme gemeinsame Besitz. — Es kommt darin zum Ausdruck, daß die Christenheit von ihren Anfängen an besonderen Wert darauf gelegt hat, daß sie von Jesus richtig beten gelehrt worden ist. Das rechte Verständnis des Betens gehört zum rechten Verständnis des GlaubenSverhältnisieS zu Gott notwendig mit hinzu. Freilich hat gerade hier von jeher viel im Argen gelegen, und heute ist die Frage des Gebets von ganz ungeheurer Schwierigkeit und gerade deshalb von ganz besonderer Bedeutung. Es sind heute sehr viele, die überhaupt nicht mehr beten können, weil alles Beten seinen Sinn für sie verloren hat. Es wird auch hier wieder das Richtige sein, daß wir uns zuerst darüber klarwerden, was eigentlich christliches Beten ist, ehe wir uns mit dem beschäftigen, was heute für viele das Beten überhaupt gefährdet oder ganz in Frage stellt. Trotz aller Zurückhaltung der evangelischen Berichte wissen wir, daß Jesus selbst in ständigem Gebetsverkehr mit dem Vater gelebt hat, und die Weisungen, die er seinen Jüngern für ihr Beten gibt, lassen unö in die Art seines eigenen GebetSumgangS mit dem Vater einigermaßen hineinsehen. Es sind vor allem drei Stellen, an denen Jesus die Jünger über das rechte Beten belehrt: Matth. 6, 6 (das Gebet im Kämmerlein), 7, 7 — 11 (bittet, so wird euch gegeben) und das Vaterunser, Matth. 6, 9-13. Matth. 6, 6 (Gebet im Kämmerlein) stellt das rechte Beten in Gegensatz zu allem Beten, durch das der Mensch etwas vor Gott leisten oder auch etwas für sich von Gott erschleichen will. Das Gebet kommt erst dann zu seinem Wesen, wenn eS uns dabei um nichts

anderes zu tun ist als um unser Verhältnis zu Gott. Deshalb gehört's ins Kämmerlein, d. h.: alles, was uns von unserer Beziehung zu Gott ablenken will, Menschen und Dinge, Äußeres und Inneres, muß

draußen bleiben. Mit Gott allein sein, in der tiefsten Tiefe der eigenen Seele Gott gegenüberstehen. Aber das heißt doch wieder nicht, gänz­ lich leer, gedankenlos, willenlos in den Abgründen und Hintergründen unseres Daseins zerfließen, die wir „Gott" nennen. So betet der Mystiker, aber so betet Jesus nicht. Beten heißt: mit dem Vater reden. Gott ist nicht bloß das abgründig Letzte hinter aller Ober­ fläche und allen Bewußtheiten der Welt und unseres eigenen Lebens: er ist der Herr und Schöpfer unseres und alles Lebens, der heilige Wille, der Vater. Vor ihm sollen wir im Gebet ausschütten, was uns die Seele bewegt in der Arbeit und in der Anfechtung, in der Freude und im Leid unserer Tage. Wohl darf nichts zwischen uns und dem Vater stehen, aber alles soll ins Licht seiner heiligen Wahrheit, Ge­ rechtigkeit, Güte gestellt werden. Und da der Vater, zu dem wir in der Stille beten, kein anderer ist als der Herr unseres tätigen Lebens, Arbeitens und Wirkens, soll das der Ertrag unseres Betens sein, daß der, in den wir uns betend eingesenkt haben, nun mit uns hineingeht in die Arbeit, die Aufgaben, das Schicksal unserer Tage: „Dein Vater, der inS Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffent­ lich." Matth. 7, 7 („Bittet, so wird euch gegeben") behandelt die Erhörung des Gebets im Sinn Jesu. Wenn man von Gebetserhörung spricht, beschäftigt man sich gewöhnlich mit der Frage, wie Gott, und damit unser Lebensschicksal, durch unser Beten be­ einflußt werden könne. Wie kann an so etwas überhaupt gedacht werden, wenn Gott die Welt und unser Leben wirklich nach seinem heiligen Willen lenkt, wenn er nach Jesu eigenem Wort weiß, waS wir bedürfen, ehe denn wir ihn bitten? (Matth. 6, 8.) Jesus ist es um diese Frage gar nicht zu tun. Er fragt nicht, welchen Einfluß wir durch unser Beten auf Gott gewinnen können, sondern waS uns unter unserm Beten zuteil wird. Dabei ist aber noch einiges zu beachten. „Bittet" — das bezieht sich nicht darauf, daß wir da und dort einmal, wenn wir nicht mehr aus noch ein wissen, ein Stoßgebet zum Himmel schicken. Das „Bittet" ohne weiteren Zusatz heißt, das ganze Leben mit all seinen Aufgaben, Sorgen und Nöten nicht allein leben, sondern alles, was das Leben bringt, Großes und Kleines, Frohes

und Trauriges, Leichtes und Schweres aus Gottes Hand hinnehmen. Das kann der Mensch, das kann schon das Kind; wir werden darauf

noch zu reden kommen. Aber warum soll gerade durch das Bitten zum Ausdruck kommen, daß wir uns bewußt sind, alles von Gott zu empfangen? Das Dankgebet scheint für Weckung jenes Bewußtseins die viel angemessenere Form zu sein. Es ist eine der feinsten Bemerkungen Luthers (im Großen Katechismus), daß wir am meisten anerkennen, daß wir alles von Gott haben, wenn wir ihn darum bitten. Beim Danken bringen wir ihm irgend etwas von uns aus dar: beim Bitten nehmen wir von ihm, weil wir wissen, daß uns alles von ihm kommt. Damit soll das Dankgebet selbstverständlich nicht gering geachtet sein.

Aber ist daö auch wirklich so, daß unser Bitten die allerunmittel­ barste und ungesuchteste Huldigung vor Gottes Gebermacht und Helferwillen darstellt? Darauf will Jesus gerade hinaus, wenn er sagt: „bittet!" Der Kern wirklichen Bittens ist das Bewußtsein,

daß der Gebetene es in der Hand hat, zu geben und zu versagen, wie er will. Wenn wir dem Gebetenen übelnehmen, daß wir das Erbetene nicht bekommen, so ist das nicht mehr wirklich gebeten, sondern ver­ langt. Und wie unzählig viele sogenannte Bittgebete an allen Orten

und zu allen Zeiten sind in Wahrheit solche Forderungsgebete, bei denen man Gott den Bettel vor die Füße wirft, wenn er unseren

Wünschen nicht gefügig ist. Gerade deshalb heißt es mit solchem Nach­ druck: „bittet", bei dem das „nicht wie ich will, sondern wie du willst" ausgesprochen oder unausgesprochen selbstverständlich mit drin steckt. ES ist mir immer aufgefallen, wie wenig ein betendes Kind auf den Gedanken kommt, Gott übelzunehmen, wenn es das von ihm Erbetene nicht bekommt. Ihm versteht es sich von selbst, daß Gott machen kann, was er will.

„Bittet, so wird euch gegeben." Wenn daö „Bittet" mit Jesus so verstanden wird, wie eö uns klargeworden ist, dann ist das „so wird euch gegeben" ganz sicher keine Formel mehr, nach der berechnet werden könnte, wie die Welt und unser Schicksal durch unser Beten nach unseren Wünschen gelenkt werden kann. Bittend erfahren wir, daß Gott dem Bittenden alles gibt, was gut ist nach seinem Rat. — „Wer da bittet, der empfängt" — eben dadurch empfängt er, daß er bittet.

Dem „bittet" fügt Jesus noch das „suchet" und „klopfet an" bei, damit unser Bitten nicht doch wieder statt auf Gott bezogen ich­ bezogen wird. Wie oft suchen wir wirklich Gott im Gebet und nicht vielmehr bloß das, was wir für uns brauchen können? Gott suchen, d. h. sich in Gott hineinbeten, daß unser Wille eins wird mit dem seinen, wie Jesus in dem zweiten Gethsemanegebet: „so geschehe dein Wille!" (Matth. 26, 42.) Und das „klopfet an" läßt daran denken, daß eS nicht immer so leicht und rasch geht, mit Gottes Willen betend eins zu werden, wenn er mit uns und anderen, die wir lieb haben, es so ganz anders gehen läßt, als wir meinen, ja als uns recht erscheint. Alle großen Beter aller Zeiten haben gewußt, daß Beten in harter Schule gelernt sein will, und daß dies Lernenmüffen kein Ende hat, solange wir auf Erden leben. *

Zum Verständnis des Vaterunser ist eS nützlich, uns darüber klar zu sein, daß die 7 Bitten nicht einfach in ihrer Siebenzahl neben­ einander gestellt werden dürfen. Wir dürfen neben der Vertiefung in den Reichtum der einzelnen Bitten die Zusammenschau deö Ganzen nicht unterlassen; sonst geht uns etwas von dem Eindruck ver­ loren, den wir gerade durch die Kürze des Vaterunser empfangen können und sollen. Matthäus hat nicht ungeschickt das kurze, knappe Vaterunser unmittelbar auf das Wort Jesu folgen lassen, in dem er sich gegen das viele Wortemachen des heidnischen Betens wendet. (Matth. 6, 7 - 8.) Die 3 ersten Bitten gehören als Einheit zusammen. Dein Name, dein Reich, dein Wille — unser Gebet soll nicht wie daS der Heiden in erster Linie an dem ausgerichtet sein, was wir bedürfen (Matth. 6, 8), sondern an dem, was Gott der Herr von uns und mit uns will. Es ist die kopernikanische Entdeckung auf dem Gebiet unseres inneren Lebens, daß Gott nicht für uns da ist, sondern wir für Gott. Aber jeder muß diese Entdeckung für sich selbst immer von neuem machen; eS dauert unser ganzes Leben lang, uns in das hineinzubeten, daß das „dein" (Gottes) vor dem „unser" steht. Im einzelnen möchte ich zu den 3 ersten Bitten nur das eine sagen, daß das „dein Wille geschehe" nicht, wie eS gewöhnlich verstanden wird (nicht von Luther!), auf Gottes rätselvollen Schicksalswillen geht, in den wir uns zu fügen haben, sondern auf daS, was wir im Gehorsam gegen

Gottes heiligen, guten Willen zu tun haben, und daß wir den Gehor­ sam gegen das, was Gott von uns fordert, nicht durch die tausend Hemmnisse unseres Erdendaseins und unseres begehrlichen und wankelmütigen Herzens zerbrechen lassen („auf Erden wie im

Himmel"). Zu den 3 ersten Bitten stehen die 3 letzten (5 - 7) in voller Entsprechung. „Vergib uns unsere Schulden." Die Mehrzahl ist wichtig, wird nur sprachlich schlecht verstanden. Wir sollen nicht mit einem allgemeinen, gar weichmütigen Schuldgefühl vor Gott stehen, das schließlich zu nichts verpflichtet, sondern uns über einzelnes klar­ werden, was uns vor Gott belastet und verklagt. Aber auch hier uns nicht in wehleidigem „Sündengetue" zergrübeln — die Augen hin zu dem, was anders werden muß und kann: „wie wir vergeben unsern Schuldigem!" Daß diese 2. Hälfte der 5. Bitte auch von sehr ernsten Menschen immer wieder übergangen wird, wenn sie das Vaterunser beten! Jesus hat gewußt, warum er bei allem Bedacht­ sein auf Kürze die 5. Bitte so lang gemacht hat. — Die 6. und 7. Bitte gehören als eine zusammen: „führe uns nicht in Ver­ suchung, sondern errette unS vom Bösen". Der Versuchung, die in der mannigfachsten Form von außen und von innen immer wieder an uns herantritt, muß fortwährend der Wille entgegengesetzt werden, dem Bösen Widerstand zu leisten — mit Gottes Hilfe. Wichtig ist noch, daß von den Versuchungen die Rede ist, nachdem wir unS in den 3 ersten Bitten in die Heiligkeit, Wahrheit und Güte der Herr­ schaft Gottes hineingebetet haben. Nicht vom Sumpf zu Gott mehr oder weniger sehnsüchtig hinaufschauen — er ist da und will nicht, daß wir im Sumpf untergehen. Aber nun steht zwischen den 3 ersten und den 3 letzten Bitten, bei denen allen eö sich lediglich um Gottes Verhältnis zu uns und unser Verhältnis zu Gott handelt, die 4. Bitte: „unser täglich Brot gib uns heute". Wenn Jesus auch vielleicht daö „täglich" absichtlich in sehr bescheidenem, anspruchslosem Sinn gemeint hat (der griechische Ausdruck ist in seiner Bedeutung nicht ganz sicher), so hat er doch die Bitte um das, was wir zu unseres Leibes Nahrung und Notdurft brauchen, ins Vaterunser hineingenommen. Gott gibt uns das, was wir hier zum Leben nötig haben, und wir sollen ihn auch darum bitten. Und Luther hat sich gar nicht darin genug tun können, auf­ zuzählen, was wir alles als unser täglich Brot Gott verdanken. Es ist

ja nicht an dem, was ich schon einmal gelesen habe: Jesus habe die Bitte umS tägliche Brot in die Mitte des Vaterunser gesetzt, weil sie die wichtigste von allen sei. Für viele ist sie freilich die wichtigste, so daß sie sich um die übrigen Bitten wenig kümmern. Iesuö hat daS nicht so gemeint. Aber daS zeigt er durch die Bitte, daß wir das, was wir zur Erhaltung und Ausstattung unseres leiblich-seelischen Lebens hier brauchen, nicht gering achten sollen und dürfen. Denn eS ist Gabe dessen, der uns so geschaffen und unS damit ausgerüstet hat. — Nicht übel ist der Vergleich des Vaterunser und seiner 7 Bitten mit dem Bilde eines Schmetterlings mit seinen beiden Flügelpaaren. Die 4. Bitte vergleicht sich dem Leib des Falters, die anderen Bitten den Flügelpaaren zu beiden Seiten, mit denen der Falter sich in die Höhe schwingt. — So hat die 4. Bitte im Vaterunser ihr volles Heimat­ recht, aber das, was unserm Leben Ursprung, Richtung und Ziel weist, ist in den anderen Bitten gegeben. ¥

Jesus hat zu Menschen gesprochen, die ans Beten gewöhnt waren, denen er bloß zu sagen hatte, wie sie richtig beten sollen. Das ist ja wohl zum Teil Umwälzendes gewesen gegenüber der Art, wie sie seit­ her gebetet hatten. Aber daß man beten könne und solle, mit Wirkung auf Gott, das war nicht streitig. Heute gibt es viele, die gar nicht mehr wissen, was Beten ist. Obgleich man natürlich bei einer so zarten, innerlichen Sache, wie eS daS Beten ist, schwer darüber urteilen kann, was tatsächlich in anderen vorgeht. Aber es war ein trefflicher Mann, für den ich die größte Verehrung hatte, ein mir befreundeter Arzt, der mir, als seine Enkeltochter in den Konfirmandenunterricht gekommen war, sagte: „Vor allem sorge dafür, daß sie beten lernt; ich selber kann eS nicht mehr." Als ob sich daS so leicht machen ließe. Die sittlichen Grund­ sätze des Christentums sind den Menschen von heute, wenn auch in einer nicht unerheblichen Verkürzung und Vergröberung, in Fleisch und Blut übergegangen, so daß sie meinen, das hätten sie von Natur mitbekommen: Pflichttreue, Ehrlichkeit, Aufopferungsfähigkeit, Liebe und Hilfsbereitschaft gegen den Nächsten. Aber die betende Be­ ziehung zu Gott ist ihnen weithin abhanden gekommen. Es wäre un­ recht, wenn wir das auf bösen Willen zurückführen und eS ihnen als

schwere Verschuldung anrechnen wollten. Für viele ist eS einfach Schicksal, auö dem sie nur dann Unrecht machen, wenn sie die, die beten können, zum Gegenstand des Spottes und der Verunglimpfung

machen. Aber auch da wird man in weitem Umfang sagen muffen: „Sie wissen nicht, was sie tun." Es ist, wie wenn Stocktaube sich über die andächtigen Mienen derer lustig machen wollten, denen ein Werk Beethovens die Herzen bewegt und erschüttert. Aber laffen wir einmal alle unerfreulichen Begleiterscheinungen beiseite, die bei der GebetSunfähigkeit vieler vorkommen. Uns liegt hier vielmehr daran, daß wir uns klarzumachen suchen, wie sich die Gebetsunfähigkeit vieler treff­ licher Menschen von heute erklären läßt. Dabei muß man sie natür­ lich zunächst selbst nach ihren Gründen fragen. Sie sagen, eS wäre kindliche Torheit oder aber Vermeffenheit, wenn der Mensch sich mit seinem Wünschen und Wollen in den stetigen, geregelten Ablauf der Dinge nach dem alles durchziehenden Gesetz der Ursache und Wirkung einschalten wolle. Der Mensch könne sich da einschalten nur durch seine Tat, die in der Kette von Ursachen und Wirkungen weiterwirke. Wir brauchten Täter und nicht Beter, wenn wir weiterkommen wollten. — Aber auch solche, die daS ver­ borgene und unbegreifliche Wirken des allmächtigen Gottes in der Welt nicht leugnen, wiffen häufig mit dem Gebet nichts anzufangen, von dem sie sagen, es träte der Allwirksamkeit Gottes zu nahe, die der Glaube bejahe. Es wäre Unsinn anzunehmen, der heilige All­ mächtige ließe sich in seinem weisen Walten durch die Wünsche törichter, beschränkter Menschenkinder irgendwie beeinfluffen. (Vgl. auch Matth. 6, 8!) Die einzige Form des Betens, die überhaupt in Frage

kommen könne, findet man sowohl auf dem ersten, wie auf dem zweiten Standpunkt in der bewundernden, ehrfürchtigen Andacht vor dem übergewaltigen Geschehen, in daS wir uns in Natur- und Menschen­ leben eingespannt finden, in der Besinnung auf uns selbst in unserem Tiefsten und Letzten, und in der inneren Sammlung der Kräfte, mit denen wir dann um so tatfreudiger neu an die Arbeit

gehen. WaS wir über das Beten und die Gebetsweisung Jesu gehört haben, zeigt, daß darin auch reichlich ehrfürchtige Andacht, vertiefte Selbstbesinnung, innere Sammlung enthalten ist, wenn auch alles um den Gott des heiligen allmächtigen, guten Willens kreist und da­ durch sein besonderes Gepräge erhält. Wir werden uns hüten, solche

Andacht, Selbstbesinnung, innere Sammlung gering zu schätzen, auch wenn ihr die Beziehung auf den lebendig wirkenden Gott fehlt. Sie steht sicher höher als manches selbstsüchtige, engstirnige, verant­ wortungslose Gebet, durch das einer Gott für seine Zwecke gebrauchen will. — Wenn bloß die armen Menschen von heute in dem Lärm der Arbeit und der sogenannten Freude, der sie umtobt, wo ein Reiz dem andern, eine Auspeitschung der andern folgt und sie nicht zur Ruhe und zu sich selbst kommen läßt, für solche Andacht, Selbstbesinnung, innere Sammlung mehr Zeit und Kraft fänden! Es wäre eine große Wohltat für sie nach Leib und Seele. Vielleicht auch für manchen ein Boden, auf dem die Stimme des heiligen allmächtigen Gottes ihm einmal unversehens vernehmlich würde. Aber was ist zu jenen Bedenken gegen ein sinn- und wirkungs­ volles Gebet im Verkehr mit Gott zu sagen, die auch bei solchen vorhanden sind, die an den lebendig wirkenden, wollenden Gott glau­ ben, aber für unmöglich halten, daß wir von uns aus Gottes Walten auch nur im geringsten zu beeinfluffen versuchen? Je größer und herr­ licher der Allmächtige vor unserer Seele steht, desto mehr vergeht einem die Lust, sich in Gottes Regiment in irgendeiner Weise bittend und wünschend einzumischen: „seine Gedanken sind nicht unsere Ge­ danken". Aber weil wir als denkende, fühlende, wollende, sollende Geschöpfe in seiner Hand sind, sollen wir ebensowenig darauf ver­ zichten, unS ihm mit unseren Bitten und Wünschen ans Herz zu legen, wie wir um seines allmächtigen Waltens willen darauf verzichten, im Aufblick zu ihm und im Gehorsam gegen ihn unsere Arbeit zu tun. Da rühren wir an letzte Geheimnisse unseres Menschendaseins, die auflösen zu wollen reinste Torheit ist. Luther hat hierzu ein pracht­ volles Wort gesagt: „Bete, als hülfe kein Arbeiten! Arbeite, als hülfe kein Beten!" Und den letzten Grund alles Betens hat er darin ge­ funden, daß Gott von uns gebeten sein will. Unser Beten steckt in Gottes Willen drin. Was Gott aus unserm Beten werden läßt, ist seine Sache. Den Vater bitten ist nicht Vermessenheit, sondern Ver­ trauen. Und dazu tritt die Weisung Gottes, die unserem Beten die Richtung gibt: daß durch uns sein guter, gnädiger Wille getan werde. So betend mit Gott reden, uns vor ihm ausschütten, uns an ihn klammern, ihn fragen, mit ihm ringen, das gibt ein ganz anderes Zu­ sammensein mit Gott als die frömmsten, ernstesten, tiefsten Gedanken, die wir uns über Gott zu machen imstande sind. Nur so wird uns

Gott kein bloßes Gedankending, keine höchste Idee, kein tiefster Hintergrund, kein letztes Ziel, sondern der lebendige Herr und Halt und Führer, der Trost und die Kraft unseres Lebens. In dem Sinn hat es Ernst Moritz Arndt gemeint: „Wer ist ein Mann? Der beten kann!" Es ist für jeden Sehenden klar, daß Luther das, was er ge­

wesen ist und geleistet hat, nur dadurch gewesen ist und geleistet hat, daß er ein Beter war. Er hat wirklich „ohne Unterlaß" gebetet (1. Theff. 5, 17), mit welchem Wort Paulus natürlich nicht gemeint hat, man solle unablässig Gebete heruntersagen. Man kann auch ohne Worte beten. Dabei gilt für ein Beten, das wirklich helfen kann: Nicht beten, damit wir von den Leuten gesehen werden. (Matth. 6, 5.) Von solchem Gebet gilt im allerunmittelbarsten Sinn des Wortes: „sie haben ihren Lohn dahin". Denn es bringt gar nicht wirklich zu Gott, lenkt eher von Gott ab, gerade während man seinen Namen im Munde führt. — Das bringt sogar für das gemeinsame Gebet Gefahren, obgleich das ja an sich nicht geschieht, um von den Leuten gesehen zu werden, sondern um mit anderen zusammen vor Gott zu treten und einer den anderen im Eifer, der Lebendigkeit, der Kräftigkeit des Betens zu fördern. Aber Jesus hat gewußt, warum er seine Weisung für die rechte Art des Betens auf das Gebet des einzelnen im Kämmer­ lein abgestellt hat. Mit dem Vater im Verborgenen reden und nicht für andere Leute — das muß für jeden einzelnen Mitbeter die Wei­ sung bleiben, auch wenn Hunderte gemeinsam beten. Und das ist nicht

leicht. Wir wisien von keinem anderen mit Bestimmtheit zu sagen, ob er in dem Sinn, der uns aufgegangen ist, wirklich mit dem Vater redet.

Aber dankbar sollen wir sein, wenn wir von einem, der mit unS geht, unwillkürlich das Gefühl haben: da ist einer, der betet. Sie werden es uns nur ausnahmsweise, ganz bei Gelegenheit sagen — sonst kann eS bedenklich werden. Aber man merkt eS ihnen an, und es tut einem wohl. — Aber wenn eS um das wirkliche Betenkönnen so etwas Köst­

liches ist, und wenn uns das Beten vielleicht schwer fällt oder ganz fremd geworden ist: Können wir etwa von unö aus etwas dazu tun, daß wir — wieder — beten lernen? Wir können eö, und wir sollen eS. Nicht, indem wir uns allerlei Gedanken über das Beten oder Nichtbeten machen, wie wir sie uns hier ja haben machen müssen, um Klarheit zu gewinnen. Aber damit

kommt man noch nicht zum Beten selbst. Beten lernt man — wie alles andere, was man lernt — nur durchs Tun, dadurch, daß man betet und sich ans Beten gewöhnt. Viele können nicht — oder nicht mehr —

beten, weil sie es nie gelernt, oder aber wieder verlernt haben. Hier ist die ungeheure Verantwortung der Mutter, ob sie ihr Kind beten lehrt oder nicht. Erfahrungsmäßig betet schon das junge Kind sehr gerne, wenn es ihm nicht durch irgend etwas verleidet wird: es ist beni Kind etwas Natürliches, zum lieben Gott zu beten. Die protestantische Ehrlichkeit hat Anstoß daran genommen, daß man noch Unreife ans Beten gewöhnen will. Das ist sehr ehrenwert gedacht, übersieht aber, daß man Höhen nicht erfliegen, sondern nur schrittweise ersteigen kann. Wovor man sich hüten muß, das ist, daß aus der Gewöhnung äußerlicher, seelenloser Drill wird. Sowie das Kind merkt, daß es den Erwachsenen selbst mit dem Beten nicht ernst ist, wird eS miß­ trauisch und verliert die Lust dazu. — Eine große Lücke wird in der GebetSerziehung oft dadurch gelaffen, daß man sich nicht genug darum bemüht, oder auch sich nicht genug darauf versteht, den Übergang vom völlig naiven Kindeögebet zum besinnlichen Jugend- und ManneSgebet zu ermöglichen und zu erleichtern. Das hat oft die allerverhäng­ nisvollsten Folgen für die ganze weitere Entwicklung des jungen Menschen. Im Zeitalter des Sports und der Sportserziehung wird es unserer Jugend von früh auf eingehämmert, daß jedes Können durch Schulung, Übung, Anstrengung erarbeitet sein will. Und wir wissen,

daß es dabei anfangs recht mangelhaft und stümperhaft zugeht. Ein Organ, das nicht geübt wird, verkümmert. Nur beim Größten und Höchsten, beim Umgang mit Gott, soll alles von selber gehen, und man soll sich gleich mit Leichtigkeit und Anmut im Höchsten bewegen. Und dann wundert man sich, daß hier wie überall bei der Faulenzerei nichts herauskommt. Aber so sehr hier vieles anders und besser werden kann, wenn wir uns erst wieder entschlossener auf unsere Pflicht und Aufgabe und auf die vorhandenen Möglichkeiten besinnen — viele redliche, treue, wackere Menschen, denen eö nicht an Ernst und gutem Willen fehlt, finden vielleicht trotz aller Bemühung im Alter nicht mehr den Weg zum Beten, den sie in ihrer Jugend nicht geführt worden sind. Dann sollen sie dadurch Gott die Ehre geben, daß sie im Dienst der Wahrheit, Gerechtigkeit, Güte, Barmherzigkeit nach Gottes Willen 14

Eger, Evangelischer Glaube

an ihren Nächsten nach Kräften ihre Pflicht und Schuldigkeit zu tun sich bemühen. Das ist der Weg des Dienstes Gottes, der uns ge­ wiesen ist. Aber das Mittel, das Gott uns darreicht, mit ihm zu leben, von ihm zu nehmen, durch ihn geleitet, gereinigt, erquickt, gestärkt zu werden, besteht darin, daß wir betend mit ihm reden. „Wenn aber du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen. Und dein Vater, der in daS Verborgene sieht, wird dirs vergelten öffentlich." (Matth. 6, 6.)

Druck: Bibliographisches Institut AG., Leipzig